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German Pages 356 [357] Year 1983
Grundlagen der Sprachkultur 2
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR SPRACHWISSENSCHAFT
Reihe Sprache u n d Gesellschaft B a n d 8/2
Grundlagen der Sprachkultur Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege • Teil 2 In Zusammenarbeit mit Karel Horälek und Jaroslav Kuchar herausgegeben und bearbeitet von Jürgen Scharnhorst und Erika Ising
AKADEMIE-VERLAG 1982
• BERLIN
Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 L e k t o r : Stephan Ploog © Akademie-Verlag Berlin i 9 8 2 Lizenznummer: 202 • 100/155/82 Umschlaggestaltung: Rolf K u n z e Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen: 5957 Bestellnummer: 753 158 9 (2161/8/2) • L S V 0805 P r i n t e d in G D R DDR 28,- M
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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K a r e l Horälek Die E n t s t e h u n g der funktionalen Sprachwissenschaft u n d ihr Beitrag zur Theorie der S p r a c h k u l t u r I. Alois Jedliöka Theorie der Literatursprache
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I I . FrantiSek DaneS Dialektische Tendenzen in der E n t w i c k l u n g der Literatursprachen III.
.
Miloä Dokulil u n d J a r o s l a v Kuchaf Zur N o r m der L i t e r a t u r s p r a c h e u n d ihrer Kodifizierung
92 114
IV. FrantiSek Danes Zur Theorie des sprachlichen Zeichensystems
132
V. Josef Filipec S p r a c h k u l t u r u n d Lexikographie
174
V I . Milan R o m p o r t l Gesprochene Sprache u n d Sprechkultur VII.
11
203
Miloä Dokulil Grundsätzliches zur Verwendung von Großbuchstaben in Orthographiesystemen
234
VIII. Jiri Kraus Zu eoziolinguistischen Aspekten der Sprachkultur in der Tschechoslowakei
256
I X . A n t o n i n Tejnor u n d Kollektiv Soziolinguistische Untersuchungen zur Sprachkultur
272
X . Alexander Stich Der Stil der Publizistik XI.
303
Der Muttersprachunterricht an den tschechischen Schulen
Sachregister zu Teil 1 u n d 2
'
. . . .
334 350
Vorwort
Der zweite Teil der „Grundlagen der Sprachkultur", den wir hiermit vorlegen, behandelt den gegenwärtigen Stand von Theorie und Praxis der Sprachkultur, wie er sich insbesondere in den siebziger Jahren herausgebildet hat. Dabei knüpfen die Beiträge an die „klassische Zeit" der Prager Schule an,' die im ersten Teil unserer Publikation behandelt ist. Aber es geht in diesem Band nicht nur um die Weiterführung eines bedeutenden wissenschaftlichen Efbes unter neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern es geht auch —' und in nicht geringem Maße — darum, die Erkenntnisse, die die internationale Linguistik in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat, von den Grundpositionen der Prager Theorie aus schöpferisch zu verarbeiten. Die Theorie der Sprachkultur hat die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher, kultureller, und sprachlicher Entwicklung durch-» sch'aubar zu machen und ihre Ergebnisse, die stets im Zusammenhang mit der gesamten Linguistik wie auch mit anderen Wissenschaften zu sehen sind, für die Praxis zu erschließen. Dabei erweist sich die Praxis — insbesondere die Praxis in den sozialistischen Ländern — immer wieder als Anreger für die Theorie. Dieses Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis gilt es. für Fortschritte der Sprachkultur auch weiterhin fruchtbar zu gestalten. Damit ist bereits gesagt, daß die Theorie der Sprachkultur nichts Fertiges, Abgeschlossenes ist. Im Gegenteil, ebenso wie die Sprachwissenschaft insgesamt entwickelt sie sieh dynamisch und steht gegenwärtig an der Schwelle zu einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Der vorliegende Band versteht sich als ein Schritt auf dem Wege zu einer systematischen Darstellung der Theorie der Sprachkultur. Nicht alle Gebiete, auf denen in den letzten Jahrzehnten von der Prager Linguistik theoretische und praktische Arbeit geleistet worden ist, konnten einbezogen werden. Dennoch schien es wünschenswert, die Aufsätze, die zur Veröffentlichung in diesem Band zur Verfügung standen, nicht in der Art eines Sammelbandes einfach locker nebeneinander zu stellen, sondern sie stärker miteinander zu verzahnen. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Bearbeitung bestand also vor
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Vorwort
allem in dieser koordinierenden Funktion. Außerdem waren bestimmte Passagen der Beiträge in gemeinsamer Arbeit von Autor und Herausgeber inhaltlich zu ergänzen oder neu zu formulieren. Die Bearbeitung des einleitenden Aufsatzes und der Beiträge I , I V , V , V I I , X , X I lag in den Händen von JÜRGEN SCHARNHORST, die der Beiträge I I , V I und I X in den Händen von ERIKA ISING. A n der Bearbeitung der Beiträge I I I und V I I I sind beide Herausgeber beteiligt. Die Beiträge I , I V , V und V I wurden von den Autoren in deutscher Sprache verfaßt. Den Fragen der Terminologie wurde ebenso wie im ersten Teil auch in diesem Band große Aufmerksamkeit gewidmet. Die terminologischen Entscheidungen, die für den ersten Teil getroffen wurden und in der „Einführung" (Teil 1, S. 21) begründet sind, wurden beibehalten. Als sehr günstig erwies sich, daß inzwischen das „Slovnikslovansk^ lingvisticketerminologie" erschienen ist, das neben den Äquivalenten in elf slawischen Sprachen auch Vorschläge für die entsprechenden englischen, französischen und deutschen Termini enthält. Für diesen zweiten Teil gilt das gleiche, was für den ersten Band gesagt wurde: Er ist in enger und fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen Sprachwissenschaftlern in Prag und Berlin entstanden. Akademiemitglied BOHTJSLAV HAVRJLNEK, der trotz seines hohen Alters am ersten Teil noch tätig Anteil genommen und auch die Konzeption für den zweiten Teil gebilligt hatte, konnte die Fertigstellung dieses Bandes allerdings nicht mehr erleben. Er verstarb 1978 im Alter von 85 Jahren. Der hohe Anteil, den er an der Entwicklung von Theorie und Praxis der Sprachkultur hat, und zwar nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch international, wird unvergessen bleiben. Noch sein letztes öffentliches Auftreten galt der Sprachkultur: Als 1976 in Liblice die erste gemeinsame Tagung der Sprachwissenschaftler sozialistischer Länder „Zu aktuellen Fragen der Sprachkultur in der sozialistischen Gesellschaft" 1 stattfand, ließ er es sich nicht nehmen, die Teilnehmer auf das Thema einzustimmen. Unser Dank gilt der Leitung des Instituts für tschechische Sprache der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften: Prof. Dr. KAREL HORXLEK, Prof. Dr. JAN PETR und insbesondere Dr. JAROSLAV KUCHAS, der das Unternehmen über viele Jahre hin durch R a t und Tat unterstützte. Herzlicher Dank gebührt allen Autoren, die ihre Arbeiten entweder selbst in deutscher Sprache verfaßten oder sie für diese Publikation neu bearbeiteten. Dank gilt ferner allen Mitarbeitern der unter Leitung von Dr. JAROSLAV 1
Die Materialien der Tagung sind veröffentlicht in dem Band „Aktuälni otäzky jazykovö kultury v socialistickö spoleönosti". Praha 1979 (mit deutschen und russischen Resümees). Man vergleiche auch die Materialien einer im gleichen. Jahr in der Slowakei abgehaltenen Konferenz zur Theorie der Literatursprache: „Z teörie spisovn&io jazyka". Bratislava 1979.
Vorwort
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KITCHAÜ stehenden Abteilung für Sprachkultur und Stilistik des Instituts für tschechische Sprache, die auf vielfältige Weise den Fortgang der Arbeiten förderten. Stellvertretend für sie sei hier MILOSLAV SEDLXÖEK genannt. In Berlin waren es wieder vor allem Mitarbeiter des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft, die die Arbeiten unterstützten. Besonders hervorzuheben sind die Leistungen von Dr. K U R T G Ü N T H E R und E V E L Y N K N O R R als Übersetzern. Auch C H R I S T E L M Ü L L E R - R O E W E R (ebenfalls ZISW) und Dr. F R I D E R U N S C H R E I B E R (Potsdam) stellten sich als Übersetzer zur Verfügung. A N N E M A R I E K L E I N F E L D beteiligte sich an der Herstellung des Sachregisters. Begutachtet wurde das Manuskript wiederum von Akademiemitglied W O L F GANG F L E I S C H E R und Prof. Dr. G Ü N T E R F E U D E L , die die Endredaktion durch ihre Hinweise unterstützten. Um die gewissenhafte Herstellung des oft schwierigen Druckmanuskripts hat sich I N G R I D S P I E L B E R G wieder besonders verdient gemacht. Sie wurde unterstützt von C H R I S T A - M A R I A E B E L T und V E R O N I K A F R E I G A N G . Als Lektoren des Akademie-Verlages förderten S T E P H A N P L O O G und E I I K E H A R T N E R das Unternehmen. Ihnen allen danken wir für die an diesem Band geleistete Arbeit herzlich. J Ü R G E N SCHARNHORST
ERIKA ISING
Die Entstehung der funktionalen Sprachwissenschaft und ihr Beitrag zur Theorie der Sprachkultur Versuch einer historisch-kritischen Wertung KABEL HORÄLEK
1. Die wissenschaftsgeschichtliche Situation 1.1. Die Entstehung der funktionalen Sprachwissenschaft fällt in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg (vgl. Teil 1, S. 11 f., 25f.). Die Bildung eines eigenen tschechoslowakischen Staates hatte neue Bedingungen für die Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens geschaffen; Ausdruck dessen war zum Beispiel die Gründung von zwei neuen Universitäten (in Brno und Bratislava). Die neue wissenschaftliche Entwicklung hatte anfangs zwar mehr quantitativen Charakter, aber bald zeigten sich in einigen Wissenschaftszweigen auch Merkmale einer allmählichen qualitativen Veränderung. Dazu trug unter anderem auch der Umstand bei, daß sich die innere Situation der tschechoslowakischen Wissenschaft geändert hatte, neue wissenschaftliche Kontakte geknüpft wurden und sich deutlich eine Orientierung auf internationale Zusammenarbeit abzeichnete. Das machte sich innerhalb der philologischen Disziplinen besonders in der Slawistik bemerkbar. I m Rahmen der Sprachwissenschaft erkannte als erster V I L Ä M M A T H E S I U S die Notwendigkeit einer neuen Orientierung. Dabei konnte er an seine Arbeiten aus der Vorkriegszeit, in denen er bereits den systemhaften und funktionalen Charakter der Sprache hervorgehoben hatte, anknüpfen. Er ging damit methodisch neue Wege und wurde so zu einem der Wegbereiter der synchronischen Sprachwissenschaft. Die neue Richtung mußte sich gegen die Anschauung durchsetzen, nach der die vorrangige oder sogar ausschließliche Aufgabe der Sprachwissenschaft die Erforschung der Sprachgeschichte sei. Auf dieser Anschauung basierte auch das Studium der Sprachen an den Universitäten. Das einseitige Interesse an der Sprachgeschichte war in der sogenannten junggrammatischen Richtung ausgeprägt vertreten, die besonders in der deutschen Sprachwissenschaft dominierte und unter deren Einfluß sich damals auch die tschechische Sprachwissenschaft befand. M A T H E S I U S fand f ü r seine Gedanken die Unterstützung einiger junger Slawisten, und sie beschlossen, der neuen Richtung eine organisatorische Grundlage zu geben. So kam es 1926 zur Gründung des Prager Linguistenkreises. Bereits 1928 traten die wichtigsten Mitglieder des Kreises
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K . HOBÄXEK
auf dem Internationalen Linguistenkongreß in Den Haag mit Referaten an die Öffentlichkeit, in denen sich die Gesamtorientierung, die M A T H E S I U S in seinem Artikel „New Currents and Tendencies in Linguistic Research" (1927) angedeutet hatte, schon deutlich abzeichnete. M A T H E S I U S (1927a) gibt einen gedrängten Überblick über die Entwicklung der Sprachwissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts an und bestimmt darin seinen eigenen Standort und somit gewissermaßen auch das Arbeitsprogramm des Prager Linguistenkreises, dessen Vorsitzender er vom Anfang bis zu seinem Tode 1945 war. In der Entwicklung der Sprachwissenschaft zeichnen sich für M A T H E S I U S zwei dominierende Richtungen ab : die historisch-vergleichende und die analytisch-vergleichende. Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft erforscht genetisch verwandte Sprachen und will ihre Ähnlichkeit von einem angenommenen gemeinsamen Ausgangspunkt her ableiten. Hauptziel ist die Rekonstruktion dieses Ausgangspunktes und die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der allmählichen Veränderungen der rekonstruierten Formen. Die historisch-vergleichende Richtung erlangte ihre dominierende Stellung bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde zumeist als die einzig wissenschaftliche angesehen. 1.2. Die Vertreter der analytisch-vergleichenden Richtung, deren erster bedeutender Vertreter W I L H E L M VON H U M B O L D T war, interessierten sich vor allem für das System der Sprachen. Ihre vergleichende Sicht hatte universalen Charakter. Zur analytischen Richtung gehört auch die sogenannte Sprachtypologie, deren Grundlagen bereits die romantische Sprachwissenschaft (die Brüder S C H L E G E L u. a.) geschaffen hatte und auf die sich H U M BOLDTS Nachfolger S T E I N T H A L , M I S T E L I und N. F I N C K stützten. An der Peripherie der analytischen Sprachwissenschaft stand im 19. Jahrhundert auch die Erforschung der grammatischen Struktur der Sprachen, wobei praktische Gesichtspunkte überwogen, besonders die der Pflege der Nationalsprachen und der Erlernung von Fremdsprachen. Die Unterschätzung der analytischen Sprachbetrachtung hatte zur Folge, daß sich hier ein unerwünschter Dilettantismus breitmachte. Hervorragender Vertreter der analytischen Richtung war der polnische Linguist B A U D O U I N D E COURTENAY (1845—1929), der längere Zeit auch an russischen Universitäten wirkte und Mitbegründer der Phonologie wurde, ferner der deutsche Orientalist G. VON D E R G A B E L E N T Z . Vom Beginn des 20. Jahrhunderts an wuchs die Opposition gegen die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, in der die junggrammatische Richtung vorherrschte. Durch F E R D I N A N D D E S A U S S U R E erlangte die analytische Richtung wieder volle Gleichberechtigung. Sein postum erschienenes Buch „Cours de linguistique générale" (1916) beeinflußte nach und nach die Entwicklung der Sprachwissenschaft auf der ganzen Welt wesentlich. An seine Theorie knüpften zunächst einige seiner Schüler an, die die
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Genfer Schule bildeten ( S E C H E H A Y E , B A L L Y , F R E I U. a.), und bald darauf auch die Prager Schule. Der wichtigste Beitrag SAUSSUKES besteht darin, daß er die Sprache (franz. Langage) als Regelsystem (Normen) und als aktuelle sprachliche Tätigkeit unterscheidet, die sich nach diesem Regelsystem richtet. Das ist die bekannte SAUSSUBEsche Dichotomie von Langue und Parole. Die Erforschung des Sprachsystems (der Langue) stellt nach S A U S S U B E den eigentlichen Gegenstand der Sprachwissenschaft dar. Daraus ergibt sich für S A U S S U R E notwendigerweise der Vorrang der synchronischen (statischen) Sprachwissenschaft vor der diachronischen (historischen). Aus dem synchronischen Herangehen ergaben sich für M A T H E S I U S wiederum, Vorteile bei der Erforschung der funktionalen Seite sprachlicher Erscheinungen. Zur Bedeutung des synchronischen Herangehens äußerte sich M A T H E S I U S in seinem Artikel aus dem Jahre 1927 wie folgt: „Der gegenwärtige Stand der Sprachwissenschaft zeugt zur Genüge davon, daß die Zeit gekommen ist, der statischen Methode einen ausdrücklicheren Anteil an der linguistischen Forschung einzuräumen. Die expressive und kommunikative Funktion der Sprache rückt in den letzten Jahren immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der modernen Sprachwissenschaft, aber die Probleme, die mit dieser Seite des sprachlichen Materials verbunden sind, lassen sich nicht einfach mit der historischen Methode lösen. Die fundamentalen grammatischen Funktionen, wie z. B. die Funktion von Subjekt und Prädikat, das Problem der Funktion und Existenz des Wortes, die wirklichen Prinzipien der Bildung von Sätzen, kann man nur mit Hilfe der statischen Methode gründlich untersuchen und analysieren, weil sie nicht gestattet, die sprachlichen Erscheinungen vom Sprechakt zu isolieren. Auch die Analyse der emotionalen Elemente in der Sprache, die Prof. C H . B A L L Y SO sorgfältig untersucht, und ebenso alle feinen Bedeutungsanalysen können sich einzig und allein auf die statische Methode stützen." (Ausgabe 1972, S. 7). Die Durchsetzung der statischen Methode war bei M A T H E S I U S keineswegs mit einer Unterschätzung der historischen Methode verbunden. Er rechnete damit, daß die Ergebnisse der synchronischen Forschung auch eine Neuorientierung in der historischen Sprachwissenschaft zeitigen würden. „Wer sich hinter die dynamische Methode stellt, braucht die Konkurrenz der anderen Methode nicht zu fürchten, denn bei der Anwendung der statischen Analyse ergeben sich neue linguistische Probleme, die eine weitere Untersuchung mit Hilfe der historischen Methode erfordern" (ebenda). Bald zeigte sich, daß eine wirklich wissenschaftliche Erforschung der sprachlichen Entwicklung ohne Einbeziehung des statischen (synchronischen) Prinzips überhaupt nicht möglich ist. Das hatte M A T H E S I U S übrigens schon in seiner Abhandlung „ 0 potencialnosti jevü jazykovych (Über die Potentialität sprachlicher Erscheinungen)" (1911)
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K . HORALEK
angedeutet. Daß man bei der Erforschung der sprachlichen Entwicklung von den Systemzusammenhängen der einzelnen Erscheinungen auszugehen hat, gilt heute als völlig selbstverständlich. 1.3. Das wichtigste Novum der modernen Sprachwissenschaft sah M A T H E S I U S in der Orientierung auf die funktionale und die semantische Seite der Sprache, wobei er Funktion und Bedeutung selbst nicht genügend klar unterschied. Als negativen Zug der traditionellen Sprachwissenschaft betrachtete er das vorrangige Interesse an der sprachlichen Form und die sieh daraus ergebende Untersuchungsmethode „von der Form zur Bedeutung". In seinem Artikel von 1927 heißt es dazu: „Die traditionelle Methode der sprachwissenschaftlichen Forschung kann man in dem Sinne als formal bezeichnen als sie immer von der Form als einer bekannten Größe ausgeht, während Bedeutung oder Funktion dieser Form als das eigentliche Ziel der Untersuchung angesehen wird. Das ergab sich naturgemäß aus der Tatsache, daß die Sprachwissenschaft lange Zeit auf der Interpretation alter Texte basierte und daß sie deshalb alles mit den Augen des Lesers betrachtete. Bei der Übertragung auf aktuelle Erscheinungen ist die formale Methode mit der Methode des Hörers identisch, der die Bedeutung der Wörter und Sätze, die er hört, ausfindig machen muß. Demgegenüber wendet sich die moderne Sprachwissenschaft gegen die traditionelle Interpretation der Formen und geht immer mehr von der Bedeutung oder Funktion aus und sucht festzustellen, mit welchen Mitteln diese zum Ausdruck kommt. Das ist der Standpunkt des Sprechers oder Schreibers, der die sprachliche Form für das, was er ausdrücken will, finden muß." (Ausgabe 1972, S. 12). Diesen neuen Gesichtspunkt brachte M A T H E SITJS selbst vor allem in seinen Betrachtungen über das Wesen des Satzes zur Geltung. 1.4. Mit diesen Anschauungen hängt bei M A T H E S I U S auch sein Interesse am konfrontativen Aspekt bei der sogenannten „sprachlichen Charakteristik" zusammen. In seinem Überblick über die neuen Richtungen in der Sprachwissenschaft (1927a) geht er nur am Rande darauf ein und verweist auf seine anderen Arbeiten. E r hatte dabei offensichtlich vor allem seinen Artikel „Lingvisticka Charakteristika a jeji misto v modernim jazykozpytu (Die linguistische Charakteristik und ihr Platz in der modernen Sprachwissenschaft)" (1927b) im Auge. Unter linguistischer Charakteristik versteht M A T H E S I U S die Beschreibung von Sprachen auf der Grundlage ihrer dominierenden Züge und deren Wechselbeziehungen. Zu einer solchen Beschreibung gelangt man nach M A T H E S I U S auf zwei Wegen: einmal über die analytische Sprachwissenschaft und die Typologie ( H U M B O L D T , STEESTTHAL, M I S T E L I , F I N C K ) , zum anderen über die vorwiegend praktisch orientierten Stilistiken, zunächst die des Lateinischen und später auch die der lebenden Sprachen, die die Charakteristika
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einer Sprache auf Grund systemhafter Mittel zu erfassen suchen. Methodisch geht es hier wieder um die Anwendung des synchronischen (statischen) Prinzips, denn nur so lassen sich die charakteristischen Züge einer Sprache in ihren Wechselbeziehungen eruieren. Die vergleichende Methode hat hierbei nur analytische Funktion, denn ihr Ziel ist nicht die Feststellung genetischer Zusammenhänge, sondern die von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Sprachbaus. „Die linguistische Charakteristik ist folglich keine SpezialWissenschaft, die einen besonderen Platz unter den wissenschaftlichen Disziplinen beanspruchen müßte, sondern nur die Anwendung eines speziellen Prinzips der linguistischen Forschung, eines Prinzips, das beim heutigen Stand der Sprachwissenschaft verdientermaßen neue Bedeutung gewinnt." ( V . M A T H E SIUS 1927b; Ausgabe 1947, S. 16). 1 . 5 . Ähnlich wie M A T H E S I U S umriß B. H A V B A N E K die damalige Situation der Sprachwissenschaft im Einleitungskapitel seines Werkes „Genera verbi v slovanskych jazycich" ( 1 9 2 8 , S. 3—4). Zu den Wegbereitern der neuen Richtung, die der diachronischen (historischen) Methode als notwendiges Pendant die synchronische (statische) Methode gegenüberstellen, zählt H A V B A N E K auch einige slawische Forscher, wie Z U B A T Y , P O T E B N J A , B A U D O U I N D E COUKTENAY u. a.; die größte Bedeutung mißt er freilich SATTSSUKE und seinen Fortsetzern bei. Ebenso wie M A T H E S I U S erachtet er als wichtige Neuerung das Interesse an affektiven Prozessen und an individuellen Besonderheiten literarischer Texte, wobei er in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten der russischen Formalisten verweist. Auch HAVBAITEK spricht sich für ein Vorgehen „von der Bedeutung zum Ausdruck" aus. „Die gleiche Sprachanalyse und dieselben Fragen — wenn wir das Verhältnis zwischen dem sprachlichen Ausdruck und seiner Bedeutung, zwischen der Bedeutung und ihrer Aufgabe verfolgen — haben zu der Forderung geführt, anstelle des traditionellen Vorgehens vom Ausdruck zur Bedeutung vielmehr von einer bestimmten Aufgabe der Sprache, von der Bedeutung auszugehen und danach die sprachlichen Erscheinungen zu klassifizieren." Als Bahnbrecher dieser Richtung nennt er S E C H E H A Y E , B R U N O T und J E S P E E S E N . Positiv wertet er J E S P E R S E N S Unterscheidung der drei Ebenen: der Form (des Ausdrucks), der syntaktischen (grammatischen) Kategorien und der begrifflichen Kategorien. Diese Triade hilft bei der Unterscheidung der begrifflichen Kategorien, die in der Sprache ihren formalen Ausdruck finden, und derjenigen, die ihn nicht finden. Grammatische Kategorien müssen keinen speziellen formalen Ausdruck haben. Ebenso wie M A T H E S I U S sieht H A V R A N E K den Vorteil der neuen Strömungen der Linguistik in der Abkehr vom psychologischen Ausgangspunkt. Ablehnend verhält er sich auch gegenüber der Möglichkeit, sprachliche Formen und Kategorien a priori aufzustellen, wie es einige Linguisten und Philosophen wie H U S S E E L und C A S S I R E B versuchten.
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K . HOBÄLEK
2. Zu den Auffassungen von Mathesius 2.1. Welche Ergebnisse und Vorzüge die neue linguistische Richtung für die Schulpraxis mit sich bringen kann, versuchte M A T H E S I U S in seinem Vortrag „Funköni linguistika (Funktionale Linguistik)" zu zeigen, den er auf dem ersten Kongreß der tschechoslowakischen Professoren (d. h. Gymnasiallehrer) für Philosophie, Philologie und Geschichte 1929 hielt. Der Funktionsbegriff ergibt sich nach seiner Ansicht aus der Orientierung auf den Sprecher, auf den Sinn der sprachlichen Äußerung. Dadurch kommt das Prinzip „von der Funktion zur Form" zur Geltung. 2.1.1. Als Beispiel führt er zunächst seine Satzdefinition an, wobei er sich auf seinen Artikel „Nökolik slov o podstatö vöty (Einige Worte zum Wesen des Satzes)" (1924) stützt. E r ist der Überzeugung, daß von der Satzdefinition nicht nur die Darstellung der Syntax, sondern der ganzen Grammatik abhängt. Nachdem er die schwachen Seiten der bisherigen Versuche von Satzdefinitionen, insbesondere der vonWüNDT und PAUL, aufgedeckt hat, empfiehlt er, von der Tatsache auszugehen, daß die menschliche Rede vor allem der Kommunikation dient: „Auf kommunikativer Basis entwickelten sich Sprachtypen, wie wir sie heute kennen." Auch der Satz sei seinem Wesen nach eine Einheit der sprachlichen Kommunikation, die man auch als kommunikative Äußerung definieren könne, in der der Sprecher zu einem Wirklichkeitsausschnitt aktiv Stellung nimmt. Das formale Merkmal des Satzes bestehe darin, daß er den Eindruck des Usuellen und der subjektiven Vollständigkeit erwecke. In den indoeuropäischen Sprachen ist der normale Satz zweigliedrig; das Prädikat kommt durch ein Verb zum Ausdruck, die anderen Satzglieder haben nur Randbedeutung, aber auch diese sind durch die Definition nicht ausgeschlossen. Deshalb kann M A T H E S I U S von seiner Definition sagen, daß in ihr in bezug auf die Satzgliederung keine Einschränkung vorkommt, daß sie sowohl für zweigliedrige als auch für eingliedrige Sätze gilt und daß sie deshalb das Wesen des Satzes besser erfaßt als eine Definition, die sieh nur an die formale Seite hält. 2.1.2. Einen weiteren Beweis für die Fruchtbarkeit des Funktionsbegriffs in der Sprachwissenschaft lieferte M A T H E S I U S anhand der tschechischen Wortstellung, deren wichtigste Besonderheiten vorher V . E B T L in seiner Bearbeitung von G E B A U E R S „Tschechischer Grammatik für Mittelschulen" darzulegen versucht hatte. E B T L S Darstellung war nach M A T H E S I U S ' Meinung fehlerhaft, da sie zu sehr von der Form ausging. Das Grundprinzip der Wortstellung im Tschechischen sieht M A T H E S I U S in den Regeln der aktuellen Gliederung. Das Wesen der aktuellen Gliederung besteht in der Unterscheidung der sog. Basis (Thema) des Satzes und seines Kerns. 1 Für einen normal, ohne 1
Der K e r n der aktuellen Gliederung des Satzes wird heute meist „ R h e m a " ge-
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Emphase vorgetragenen tschechischen Satz gilt die Regel, daß das Thema vor dem Kern steht (objektive Folge); bei emphatischer, gefühlsbetonter Äußerung ist die Reihenfolge umgekehrt. In beiden Fällen wird die inhaltliche Seite des Satzes berücksichtigt. I n einigen Sprachen führt die vorherrschende Übereinstimmung zwischen grammatischem Subjekt und Satzthema zum Festwerden der Wortstellung. U m den Satzkern genügend vom Thema abheben zu können, kommen andere sprachliche Mittel zur Anwendung, z. B. der Artikel. Für das Tschechische ist charakteristisch, daß der grammatische Faktor verhältnismäßig schwach ist und daß der aktuellen Gliederung demzufolge größere Geltungsmöglichkeit zukommt als z. B. im Englischen. Mit der Problematik der Wortstellung und der aktuellen Gliederung befaßte sich MATHESIUS bereits zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn, genaue Studien über die Verhältnisse im Tschechischen publizierte er jedoch erst Ende der dreißiger Jahre. 2.1.3. MATHESIUS' drittes Beispiel für die Fruchtbarkeit der funktionalen Auffassung bezieht sich auf die lautliche Seite. In knapper Form umreißt er die Grundlagen der Phonologie (der Phonetik), der Theorie, die die Funktionen der Laute zum Gegenstand hat. Damit stieß MATHESIUS ZU einer Problematik vor, die zum Kern der modernen Sprachwissenschaft gehört. Später befaßte er sich systematisch mit der Phonologie des Tschechischen, und einige Studien, die der postum erschienene Band „Öestina a obecny jazykozpyt (Tschechische Sprache und allgemeine Sprachwissenschaft)" (1947) enthält, sind bahnbrechend geworden. 2.2. Bei seinem Versuch einer Satzdefinition stützt sich MATHESIUS nicht auf eine These der modernen Linguistik. Überraschenderweise stellt er sich nicht die Frage, in welchem Verhältnis der Satz als kommunikative Einheit zum Sprachsystem (Langue) steht. Nur in dem Hinweis auf das Formal-Usuelle scheint der Gedanke an die Systemdeterminiertheit des Satzes als eines grammatischen Gebildes anzuklingen. Es ist auch verwunderlich, daß er in seiner Definition keinen klaren Unterschied macht zwischen Sätzen, die eine selbständige kommunikative Einheit sind, und solchen, die nur Teil einer Äußerung sind. Man könnte es damit erklären, daß MATHESIUS die Bezeichnung „Äußerung" speziell nur auf Sätze beziehen wollte. In seinem Artikel „Nékolik slov o podstaté v é t y " (1924; Ausgabe 1947, S. 227) fügte er der Wortverbindung „kommunikative Äußerung" noch das Attribut „elementar" hinzu, und zwar mit der Erläuterung, daß Äußerungen auch mehrere Sätze umfassen können, daß in der Definition aber gerade diejenigen Fälle gemeint seien, in denen die Äußerung aus einem Satz besteht oder wo es sich um einen nannt. Früher gebrauchte man für das Thema des Satzes meist die Bezeichnung „psychologisches Subjekt", für das Rhema „psychologisches Prädikat". 2
Scharnhorst II
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Teil der Äußerung mit den Merkmalen eines selbständigen Satzes handelt. Aber auch in Verbindung mit dem Attribut „elementar" bleibt die Definition „kommunikative Äußerung" strittig. Man müßte eher von einer „kommunikativen Einheit" oder einem „kommunikativen Gebilde" sprechen. Der Hinweis auf den „Eindruck subjektiver Vollständigkeit", der in die Definition eingegangen ist, bezieht sich nur auf die formale Seite — gemeint ist vor allem die Intonation —, nicht direkt auf den Inhalt. In der Definition kommt also das Prinzip „von der Bedeutung zum Ausdruck" nicht mit aller Konsequenz zur Geltung. Auf das Problem des Verhältnisses von Inhalt und Form im Satz kommt M A T H E S I U S noch einmal zurück und stellt sich die Frage, wie der Sprecher eine konkrete sprachliche Äußerung vorbereitet. E r kommt zu dem Schluß, daß „die Vorbereitung jeder gegliederten Äußerung in einem doppelten Akt besteht: in der Zerlegung dessen, was wir zum Ausdruck bringen wollen, in Begriffselemente und im In-Beziehung-Setzen dieser Elemente auf die f ü r die betreffende Sprache übliche Art und Weise" (1929a, Ausgabe 1972, S. 33). 2.3. Die Gesamtbeschreibung der Sprache, wofür er konsequent den Ausdruck .Analyse' gebraucht, gliedert M A T H E S I U S in die Wissenschaft von der Benennung, in die Wissenschaft vom sprachlichen In-Beziehung-Setzen (Syntagmatik) und in die Wissenschaft von der lautlichen Seite der Sprache. 2.3.1. Die Grundeinheit der Sprache auf der Ebene der Benennung ist das Wort. Nach M A T H E S I U S kann man die Existenz des Wortes als selbständiger Einheit nicht in Frage stellen, auch wenn es sich nur um eine potentielle Einheit handelt, deren Selbständigkeit sich nur nach Bedarf durch objektive Merkmale realisiert. M A T H E S I U S ' Begründung einer Wissenschaft von der Benennung als eines selbständigen Teils der strukturellen Beschreibung war, wie sich gezeigt hat, richtungweisend. 1 Es besteht kein Zweifel, daß „jede Sprache ihr eigenes Benennungssystem h a t " (ebenda). Sie macht z. B. von der Ableitung, von der Komposition und von den Wortverbindungen spezifischen Gebrauch, hat ihre eigenen Regeln für den Ausdruck bestimmter semantischer Kategorien (z. B. der Nomina agentis) und f ü r die grammatische Zuordnung von Benennungseinheiten (z. B. nach dem Genus, nach der Art der durch das Verb ausgedrückten Handlung usw.). Das bedeutet, daß das Prinzip des Arbiträren auch auf der Benennungsebene deutlich zur Geltung kommt, was M A T H E S I U S allerdings nicht so ausdrücklich sagt. 2 . 3 . 2 . Die Wissenschaft vom In-Beziehung-Setzen ist nach M A T H E S I U S ' Vorstellung die Wissenschaft von den Wortverbindungen, im großen und ganzen also die traditionelle Syntax. „Das Ergebnis der Tätigkeit des InBeziehung-Setzens ist die freie, keineswegs aber die feste Verbindung von 1
Vgl. J . KUCHAÄ (1968); J a z y k o v a j a n o m i n a c i j a (1977a und b).
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Wörtern zu höheren Einheiten" (1929a, Ausgabe 1972, S. 34). Die festen Wortverbindungen gehören demnach zur Wissenschaft von der Benennung. Folglich hat auch die Benennungsebene ihre Syntagmatik, während die Morphologie nach M A T H E S I U S ' Ansicht quer durch die Benennungsebene und die syntagmatische Ebene geht. Die wichtigste syntagmatische Kategorie — M A T H E S I U S spricht von der wichtigsten syntagmatischen Tätigkeit — ist die Prädikation. Sie ist „der eigentliche satzbildende Akt". „Deshalb konzentriert sich die Wissenschaft vom In-Beziehung-Setzen oder die Syntax im funktionalen Sinne vor allem auf die Untersuchung der Formen der Prädikation, in welcher Sprache auch immer. Sie richtet ihr Augenmerk auch auf Form und Funktion des grammatischen Subjekts und damit eigentlich der wichtigsten Glieder des einfachen Satzes" (ebenda). Mit der Prädikation rechnet M A T H E SIUS nur bei zweigliedrigen Sätzen. Darauf bezieht sich auch seine Erläuterung zur Satzdefinition, wo er der Prädikation in zweigliedrigen Sätzen die einfache Thesis (Setzung) der eingliedrigen Sätze (z. B. prsi ,es regnet', bylo tma ,es war dunkel') gegenüberstellt. 2.4.1. Indem M A T H E S I U S den Satz als kommunikative Einheit auffaßte, kam er mit der sog. inneren Rede in Schwierigkeiten, deren Existenz er durchaus in Erwägung zog, wie aus seinen Überlegungen zur mentalen Vorbereitung des Kommunikationsaktes ersichtlich ist. Die sprachlichen Prozesse dienen jedoch keineswegs nur der Vorbereitung von realen (kommunikativen) sprachlichen Äußerungen; auch das Denken stützt sich auf die Sprache. Auf diese Tatsache wird mit Recht in den Thesen des Prager Linguistenkreises hingewiesen, die auf dem I. Internationalen Slawistenkongreß 1929 in Prag vorgelegt wurden und auf die wir noch zurückkommen werden. Welche Konsequenzen sich aus der Existenz der inneren Rede für die Auffassung vom Satz ergeben, darüber verlautet in den Thesen nichts, und auch M A T H E S I U S selbst hat sich mit dieser Frage nicht näher befaßt. Insgesamt kann kein Zweifel daran bestehen, daß die innere Rede ebenso grammatisch gegliedert und angeordnet ist wie die geäußerte und daß hier wie dort der Satz das wichtigste Ausdrucksmittel ist. In der inneren Rede spielt jedoch in der Regel der Adressat keine Rolle, es fällt also die sog. Appellfunktion weg, wie sie z. B. in Frage- und Befehlssätzen zum Ausdruck kommt. In der inneren Rede kommen dagegen auch Ausrufesätze vor, meist dann, wenn eine konkrete Äußerung, die an einen bestimmten Adressaten gerichtet ist, vorbereitet wird; jedoch ist das unter funktionalem Gesichtspunkt noch etwas anderes als die eigentliche Mitteilung mit Appellfunktion. 2.4.2. Es ist interessant, daß M A T H E S I U S die Appellfunktion nicht als konstitutives Element des Satzes betrachtete. Das steht eigentlich im Widerspruch zu seiner Auffassung vom Satz als kommunikativer Einheit, denn die Kommunikation setzt neben Sprecher und Adressaten auch die Mitteilung 2*
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selbst mit ihrem Inhalt sowie die Abhängigkeit vom sprachlichen Zeichensystem voraus. MATHESIUS hatte sich mit diesem Problem schon in seinem Aufsatz über das Wesen des Satzes ( 1 9 2 4 ) auseinandergesetzt. I n diesem Artikel nahm er zu BÜHLERS Auffassung vom Satz kritisch Stellung, wonach der Satz ein Gebilde sei, dessen funktionale Struktur von drei Grundkomponenten bestimmt werde: von der Darstellung, von der Kundgabe (dem Ausdruck, der Expressivität) und dem Appell. BÜHLER hatte seine Auffassung zum erstenmal in der Abhandlung „Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes" ( 1 9 1 8 / 1 9 2 0 ) dargelegt. 1 Ihre endgültige Gestalt erlangte BÜHLERS Konzeption der Funktionen erst in seiner „Sprachtheorie" ( 1 9 3 4 ) , an deren Formulierungen dann auch die Vertreter der Prager Schule anknüpften. In seiner Abhandlung über das Wesen des Satzes ( 1 9 2 4 ) gibt MATHESIUS die BÜHLERsche Auffassung nur in verzeichneter Form wieder. Einerseits grenzt er sich von BÜHLERS Überschätzung der Symbolfunktion, der „Abbildungsfunktion" („Darstellung") ab, indem er sie als konventionell auffaßt, und andererseits polemisiert er gegen BÜHLERS Unterschätzung der Ausdrucksfunktion, obwohl BÜHLER diese ebenfalls in Erwägung zieht, ja sie sogar zu überschätzen geneigt ist. MATHESIUS betont selbst, daß die Expressivität sprachlicher Äußerungen — „von den Ausnahmefällen rein sachlicher Rede abgesehen" — ständig zum Vorschein kommt und in Ausrufesätzen sogar dominiert. Nach seiner Ansicht kann man ohne Berücksichtigung der expressiven Komponente nicht zu einer richtigen Satzdefinition gelangen. In seiner eigenen Definition fehlt jedoch ein direkter Hinweis auf diese Komponente. 2 . 4 . 3 . MATHESIUS' Auffassung von der Grammatiktheorie als einer Wissenschaft von der Sprache, die eine lautliche Komponente, eine Benennungskomponente und eine syntagmatische Komponente hat, findet sich fast unverändert in den Thesen zum Slawistenkongreß 1929 wieder (vgl. Teil 1, S. 4 7 — 5 1 ) . Man kann nicht sagen, daß es gerade dieser Abschnitt war, der die Thesen zu einem Beitrag zur strukturellen Sprachtheorie machte. Auf einige Unklarheiten und Widersprüche in MATHESIUS' Theorie haben wir bereits hingewiesen. Unter dem Gesichtspunkt der weiteren Entwicklung der strukturellen Sprachwissenschaft mag MATHESIUS' Auffassung der Benennungsebene allzu einfach erscheinen, zumal ihr eine tiefere Analyse der semantischen Komponente fehlt. I n dieser Hinsicht ist man in der Prager Schule später viel weiter gekommen. Es erwies sich z. B. als notwendig, die semantische Komponente auch auf der syntaktischen Ebene herauszuarbeiten. Dabei zeigte sich, daß auch hier — ebenso wie auf der morphologischen Ebene — der asymmetrische Dualismus sprachlicher Zeichen gilt: ein formales Mittel hat mehrere Bedeutungen, und eine Bedeutung wird gewöhnlich durch verschie1
V g l . a u c h BÜHLERS A u f s a t z „ V o m W e s e n d e r S y n t a x " ( 1 9 2 2 ) .
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dene formale Mittel ausgedrückt. Bahnbrechend in dieser Hinsicht war vor allem K A E C E V S K I J S Abhandlung „Du dualisme asymétrique du signe linguistique" (1929). Zur Begründung einer grammatischen Semantik trug in den dreißiger Jahren neben R O M A N J A K O B S O N vor allem V L . SKALIÖKA bei. 2.4.4. M A T H E S I U S gelangte zu seiner Auffassung von der funktionalen Sprachwissenschaft, indem er von der an sich naheliegenden Voraussetzung ausging, daß die Sprache ein ihren Zwecken entsprechendes System von Ausdrucksmitteln ist und daß sie vor allem kommunikative Funktion hat. Eine solche Auffassung der funktionalen Seite der Sprache hatte schon nach dem ersten Weltkrieg reichlich Verbreitung gefunden, wozu auch K. B Ü H L E R wesentlich beitrug. Daß eine solche einfache Auffassung von der sprachlichen Funktionalität für den Aufbau einer funktional-strukturellen Sprachwissenschaft nicht ausreicht, erkannte M A T H E S I U S mit der Zeit selbst. Das geht z. B. aus den Korrekturen hervor, die er an seiner Satzdefinition aus den zwanziger Jahren in seinem Artikel „O soustavném rozboru gramatickem" (Über die Untersuchung der Grammatik als System) (1942) vornahm. Auch hier hält M A T H E S I U S die sprachliche Benennung und die Bildung von Sätzen aus Benennungseinheiten für zwei Kernstücke der sprachwissenschaftlichen Forschung. Gegenüber seiner früheren Auffassung betont er in diesem Artikel die unbedingte Notwendigkeit der Orientierung auf das sprachliche System. Man geht von der Rede (vom Text) als etwas Gegebenem aus und richtet sein Augenmerk „auf die Sprache, die als System nur eine ideale Realität ist". Mit anderen Worten, man schreitet von den funktionalen, den Ausdrucksbedürfnissen, zu den formalen Mitteln, die diese Funktionen befriedigen (1942, Ausgabe 1947, S. 161). Man muß unterscheiden zwischen der funktionalen Möglichkeit, die den sprachlichen Mitteln als Bestandteilen des Sprachsystems eigen ist, und der aktuellen Realisierung dieser Möglichkeit in der konkreten sprachlichen Äußerung. Das gilt sowohl für die benennenden als auch für die syntaktischen Mittel. Dementsprechend ist auch das Wesen des Satzes zu interpretieren. Auch hier muß zwischen den systemhaften Elementen des Satzes und denen der sprachlichen Aktualisierung in der Rede unterschieden werden. Das hatte M A T H E S I U S früher nicht getan, und deshalb ließen sich auch auf seine Satzdefinition seine eigenen kritischen Bemerkungen gegen die Satzauffassung A. H. G A R D I N E R S ( 1 9 3 2 ) beziehen: „Woran Gardiner tatsächlich denkt, wenn er vom Satz spricht, ist der Satz als individuelle Äußerung, denn nur so kann man überhaupt verstehen, was er vom Wesen des Satzes sagt. Sätze sind nach seinen Worten Konstruktionen, die wir immer nur für den Augenblick bilden und die wir gleich danach wieder vergessen; ihr Wesen ist notwendigerweise durch eine Doppelbeziehung gekennzeichnet ; einerseits die auf die Sache, die wir meinen, andererseits die auf den Hörer oder das Publikum. Das ist alles richtig, soweit es sich um Sätze als individuelle Äußerungen
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handelt. Wir müssen uns aber die Frage stellen: Gehört der Satz ganz u n d gar nur dem flüchtigen Augenblick der Rede an und bestimmt ihn als linguistisches F a k t u m ausschließlich die individuelle Situation, in der er geäußert wurde?" ( 1 9 4 2 , Ausgabe 1 9 4 7 , S. 1 7 1 ) . Die Antwort, die M A T H E S I U S auf diese Frage gibt, enthält auch die Korrektur seiner eigenen Satzdefinition. Der Satz ist für M A T H E S I U S kein Produkt des flüchtigen Augenblicks und wird nicht „in seinem Wesen völlig durch die individuelle Situation bestimmt". Auch G A B D I N E R kam einer solchen Auffassung nahe, denn er erkannte an, daß „die syntaktischen Formen und die Intonation zur Sprache gehören". Am Ende kam M A T H E S I U S zu dem Schluß, daß ebenso wie das Wort durch seinen begrifflichen Inhalt zur Sprache gehört auch der Satz als abstraktes Modell dazugehört, während das Wort als Bestandteil einer konkreten Äußerung und der Satz als aktualisierte Aussage zur Rede (Parole) gehört. M A T H E S I U S erkennt zwar an, daß es nicht leicht ist festzustellen, was in der betreffenden Sprache als Satzmodell anzusehen ist und was nicht. Er stimmt jedoch nicht der Ansicht zu, daß als eindeutiges Untersuchungsmerkmal das Verbum finitum zu gelten habe und daß Sätze ohne Verb als unvollständig anzusehen sind. „Wenn wir die Methoden des analytischen Vergleichs anwenden, gelangen wir leicht zu zwei wichtigen Erkenntnissen über die Aufgabe der nichtverbalen Sätze in den modernen europäischen Sprachen. I n einigen Sprachen gehört der Typ des nichtverbalen Satzes zum Wesen des grammatischen Systems. Man kann ihn nicht ohne weiteres durch einen anderen Typ ersetzen, und er kann deshalb niemals ganz verschwinden. Das trifft f ü r das Russische zu, wo die nichtverbalen Sätze ein normaler Typ zum Ausdruck von Prädikationen sind, die ein Eigenschaftsverhältnis oder ein possessives Verhältnis bezeichnen. In anderen Sprachen, z. B. im Tschechischen, gehören die nichtverbalen Sätze nicht zum Wesen des grammatischen Systems, sondern sind nur ein okkasioneller Typ. Sie lassen sich immer durch verbale Sätze ersetzen, und in einigen Stilen kommen sie gar nicht vor. Aber auch im Tschechischen sind die nichtverbalen Sätze keine reinen Ad-hoc-Bildungen, und sie lassen sich nicht einfach aus der Sprache ausschließen" ( 1 9 4 2 , Ausgabe 1947, S. 173). 2 . 4 . 5 . So gelangte M A T H E S I U S zu zwei wesentlichen Korrekturen seiner früheren Auffassung. Seine Satzdefinition sah er jetzt nur in bezug auf die Parole als gültig an, und gleichzeitig erkannte er die Notwendigkeit an, den Satz auch im Hinblick auf das Sprachsystem zu definieren. Eine umfassende Lösung gab er nicht, doch deutete er an, daß man den Satz als Systemeinheit mit Hilfe des Begriffs „Satzmodell" definieren könnte. M A T H E S I U S korrigierte auch seine frühere Ansicht hinsichtlich der Aufgabe, die in den indoeuropäischen Sprachen das Verbum finitum bei der Satzbildung hat. Man
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könnte noch weitere Beispiele f ü r derartige Korrekturen anführen, doch können seine Formulierungen aus den vierziger Jahren nicht als definitiv gelten. Der Begriff Satzmodell ist durch M A T H E S I U S in der wissenschaftlichen Synt a x des Tschechischen eingeführt worden; aber auch hier ist nicht alles so klar, wie man es sich wünschen würde. Man kann z. B. die Ansicht vertreten, d a ß die Syntax auch ohne den Begriff „Satzmodell" auskommt. Als Grundlage für den Satz auf der Ebene des Sprachsystems lassen sich die Regeln ansehen, die bei der Bildung konkreter Äußerungen angewandt werden. 2 . 4 . 6 . Ohne M A T H E S I U S ' Initiative wäre die Entwicklung der Syntaxtheorie in der ÖSSR nach dem zweiten Weltkrieg nicht denkbar. Ein wichtiger Beitrag zur Syntax des Tschechischen sind auch M A T H E S I U S ' Arbeiten über die aktuelle Gliederung, obwohl man auch hier nicht direkt auf seinen Ansichten aufbauen konnte. Seine Theorie der aktuellen Gliederung entstand nicht in einem Zuge, ohne alle Schwierigkeiten, und war auch in ihrer letzten Entwicklungsphase nicht ganz frei von Widersprüchen. Deshalb konnte F I R B A S der Ansicht sein, daß sich M A T H E S I U S ' Auffassung mit der von THÄVKIÖEK — wenigstens in einigen Punkten — kombinieren ließe. Auch andere Linguisten, die sich mit der Problematik der aktuellen Gliederung befaßten, nahmen einzelne Korrekturen an seiner Theorie vor. E B T L S Beitrag auf diesem Gebiet war größer, als M A T H E S I U S wahrhaben wollte. In Wirklichkeit hat E R T L große Verdienste um die systematische Erforschung der tschechischen Literatursprache. 1
3. Die „Thesen" des P r a g e r Linguistenkreises (1929) 3.1. Der dritte Teil der „Thesen" des Prager Linguistenkreises ist der allgemeinen Theorie der sprachlichen Funktionen gewidmet, an deren Formulierung neben B. H A V E A N E K maßgeblich J . MUKA&OVSKY beteiligt war (von ihm stammen die Ausführungen über die Dichtersprache). Im Mittelpunkt der Darlegungen der sprachlichen Funktionen steht die Problematik der sog. Funktionalsprachen (Funktionalstile). Gleich eingangs wird betont, daß sich „sowohl die lautliche als auch die grammatische Struktur wie auch der lexikalische Bestand der Sprache" entsprechend den verschiedenen Funktionen und Gebrauchsweisen ändert (Teil 1, S. 51). Eine klare Definition der funktionalen Auffassung von der Sprache findet sich auch hier nicht. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Absatz über die Notwendigkeit einer Unter1
Das deuten bereits die zahlreichen Hinweise an, die MATHESIUS auf EBTLS Arbeiten, insbesondere auf seine Bearbeitung von GEBAUEKS Schulgrammatik, in verschiedenen seiner Aufsätze gibt.
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Scheidung von innerer und äußerer Redetätigkeit. Das kann eine Reminiszenz an SAUSSURES „Cours de linguistique générale" (1922, S. 98; dt. Übers. S. 77) sein, doch blieb es leider beim isolierten Konstatieren: Die äußere Redetätigkeit „ist für die Mehrheit der Sprecher nur ein Sonderfall, denn die sprachlichen Formen werden viel häufiger beim Denken als beim Sprechen angewandt. Deshalb ist es falsch, allein die Bedeutung, die die äußere lautliche Seite für die Sprache hat, zu verallgemeinern und sie überzubewerten ; es sind gerade die potentiellen sprachlichen Erscheinungen zu berücksichtigen" (Teil 1, S. 51). Die Schlußfolgerung dieser Formulierung erinnert stark an M A T H E S I U S ; möglicherweise hat er selbst an ihr mitgearbeitet. Daraus, daß die innere Redetätigkeit stark hervorgehoben wird, kann man allerdings Einwände gegen M A T H E S I U S ' Auffassung herauslesen, der die sprachlichen Prozesse mit der Kommunikation identifiziert hatte. 3.2. An M A T H E S I U S ' Auffassung knüpft auch die These an, daß für die sprachliche Charakteristik das Verhältnis zwischen Intellektualität und Emotionalität sprachlicher Erscheinungen von Bedeutung ist. Die Formulierung „Die beiden genannten Merkmale durchdringen sich entweder gegenseitig, oder das eine herrscht gegenüber dem anderen vor" (Teil 1, S. 51—52) klingt heute banal. Man kann auch bezweifeln, ob es sich dabei um einheitlich erfaßte sprachliche Erscheinungen handelt. Für M A T H E S I U S floß der Begriff der emotionalen Redetätigkeit mit dem Ausdruck zusammen, und in der intellektuellen Äußerung sah er nur die reine Mitteilung (vgl. M A T H E S I U S 1947, S. 228). Einer solchen Auffassung kann man nicht zustimmen. Heute mißt man dem sprachlichen Ausdruck gewöhnlich Erscheinungen bei, die mit der emotionalen Rede nichts gemein haben. Es ist sehr fraglich, ob der Gegensatz zwischen dem intellektuellen und dem emotionalen Element als besonders wichtig für die Theorie der Literatursprache anzusehen ist. Über die emotionale Redetätigkeit wird in den Thesen gesagt, daß sie soziale Bestimmung haben kann, nicht muß (Teil 1, S. 52). Im ersten Fall hat sie die Funktion, bestimmte Emotionen beim Adressaten hervorzurufen (emotive Redetätigkeit), im zweiten handelt es sich einfach um eine „Entladung von Emotion, die ohne Beziehung auf einen Hörer erfolgt" (Teil 1, S. 52). Es ist sicher eine Streitfrage, ob man unwillkürliche Äußerungen überhaupt zu den funktionalen Erscheinungen der Sprache rechnen kann. 3.3. Aus dieser Unklarheit ergibt sich eine weitere Komplikation: Im folgenden Absatz wird nämlich mit dem Begriff der „sozialen Rolle" der Redetätigkeit operiert. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um die kommunikative Funktion (vielleicht sind damit die konkreten Äußerungen gemeint, die zum Unterschied von den „inneren Äußerungen" kommunikativen Wert besitzen). Die Bezeichnung „soziale Rolle" ergab sich daraus, daß die kommunikative Funktion nur den Äußerungen zugeschrieben wird, die auf das
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Bezeichnete, d. h. auf den Inhalt, orientiert sind, während Äußerungen, die auf das Zeichen selbst gerichtet sind, poetische Funktion haben. Poetischen Äußerungen kann man freilich den Charakter einer Kommunikation sui generis nicht absprechen, und darin kommt auch ihre „soziale Rolle" zum Ausdruck. Gleichzeitig wird angedeutet, daß es bei poetischen Äußerungen nicht um den Inhalt geht und daß sie deshalb den Äußerungen mit kommunikativer Funktion gegenübergestellt werden. Hierbei handelt es sich einfach um Anklänge an Gedankengänge der russischen Formalisten. Dieser Problematik ist im Abschnitt über die sprachlichen Funktionen noch ein besonderer Unterabschnitt gewidmet, den offensichtlich J. MUKAEOVSKY verfaßt hat und worin unter anderem vor einer Identifizierung der dichterischen und der kommunikativen Sprache gewarnt wird. MUKAÄOVSKYS Theorie der Dichtersprache ist zwar des öfteren kritisiert worden, doch erkennt man auch ihre positiven Seiten an. Auf sie werden wir im Zusammenhang mit dem Buch „Spißovna Ceätina a jazykovä kultura (Die tschechische Literatursprache und die Sprachkultur)" (1932) noch zurückkommen. 3.4. Bei der Redetätigkeit mit kommunikativer Funktion unterscheiden die Thesen zwei Hauptrichtungen: einmal die praktische, situationsgebundene Sprache, die der Ergänzung durch außersprachliche Elemente bedarf, und zum anderen die „theoretische Sprache oder Formulierungssprache", bei der die Sprache auf ein möglichst geschlossenes Ganzes mit der Tendenz zu Vollständigkeit und Genauigkeit zielt. Jede dieser verschiedenen Arten von funktionaler Redetätigkeit hat ihr eigenes System von Konventionen, die eigentliche Sprache (Langue). Deshalb ist es nicht richtig, die intellektualisierte Redetätigkeit mit der „Langue" und die emotionale Redetätigkeit mit der „Parole" zu identifizieren. I n den Thesen wird die Erforschung der verschiedenen Arten sprachlicher Äußerungen gefordert, wie z. B. von mündlichen und schriftlichen Äußerungen sowie der die mündlichen Äußerungen begleitenden Gesten u. ä. Empfohlen wird auch die Erforschung der Umgangssprachen, ferner die Untersuchung der Sondersprachen, der Sprachschichtung in den Städten usw. Es wird hier auch von der funktionalen Dialektologie gesprochen. Derartige Forderungen waren in der Sprachwissenschaft auch schon früher aufgestellt worden; sie sind keineswegs nur für die funktionale Sprachwissenschaft charakteristisch. 3.5. I n den Darlegungen über die Literatursprache wird betont, daß ihre Spezifik funktionaler Art ist. Das ist ganz natürlich, soweit es sich um den Wortschatz der Literatursprache handelt, der ständig erweitert und für den fachsprachlichen Gebrauch auch intellektualisiert werden muß. Die Tendenz zu genauer und abstrakter Ausdrucksweise kommt nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Entstehung spezifischer syntaktischer Formen zum Ausdruck. Die Literatursprache zeichnet sich auch durch einen höheren Grad
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der Normiertheit aus; die Norm wird hier in stärkerem Maße bewußt geschaffen. „Die Entwicklung der Literatursprache verstärkt die Rolle des bewußten Eingreifens" (Teil 1, S. 54). Dafür gibt es in der Geschichte jeder Literatursprache genügend Beispiele. Die Literatursprache hat auch ihre gesprochene Form, die der Volkssprache nahesteht. Im Tschechischen hat sich als besondere Übergangsform die sog. obecna cestina tschechische Umgangssprache (wörtlich: Gemeinsprache)' herausgebildet. Als Charakteristikum der Literatursprache gilt auch die „Tendenz, sich auszudehnen"; und zwar steht das im Zusammenhang sowohl mit ihrer Funktion, über den Dialekten zu stehen, als auch mit ihrer internationalen Funktion. Im Gegensatz dazu stehe die Tendenz, „Monopol und Charakteristikum der herrschenden Klasse zu werden" (Teil 1, S. 55). Diese erstaunliche Formulierung bezieht sich darauf, daß der Gebrauch einer internationalen Sprache mit einer gewissen sozialen Exklusivität verbunden ist, z. B. der Gebrauch des Französischen im 18. Jahrhundert. Daran hatten allerdings neben den herrschenden Schichten auch verschiedene professionelle Schichten, wie die Kaufleute, Anteil. Ganz eigenartige sprachliche Verhältnisse bilden sich mitunter auf religiösem Gebiet heraus. 3 . 6 . H A V R A N E K hatte Gelegenheit, seine Ansichten über das Wesen der Literatursprache in der Abhandlung „Vyvoj spisovneho jazyka öeskeho" (Die Entwicklung der tschechischen Literatursprache) darzulegen, die gemeinsam mit einem von V A Z N Y verfaßten Überblick über die Entwicklung des Slowakischen als ein Band in der zweiten Reihe der tschechoslowakischen Enzyklopädie „Ceskoslovenska vlastivöda" erschien. Die bahnbrechende Bedeutung dieser Arbeit H A V E A N E K S liegt vor allem darin, daß in ihr die funktionale Sprachbetrachtung angewandt wurde. Sie enthält deshalb viele Beispiele, weniger dagegen theoretische Darlegungen; Zitate, meist nur knapp kommentiert, nehmen einen breiten Raum ein. Allerdings finden sich in dem Buch zahlreiche improvisierte Formulierungen, die den Autor offensichtlich lange davon abhielten, eine neue Ausgabe in Angriff zu nehmen, obwohl es sich im Grunde um ein sehr wertvolles Lehrbuch handelt. 3.7. In der Theorie von der funktionalen Schichtung der Literatursprache, wie sie von der Prager Schule und insbesondere B. H A V R A N E K geschaffen wurde, fließen verschiedene Ströme des sprachwissenschaftlichen Denkens zusammen. Neben der funktional-strukturellen Betrachtungsweise kündigt sich hier das Interesse an sprachlichen Erscheinungen an, die in neuester Zeit Forschungsobjekt der Soziolinguistik geworden sind. Das kommt z. B. auch darin zum Ausdruck, daß die Sprache als Mittel der Kommunikation zwischen verschiedenen Völkern betrachtet wird. Gänzlich unangebracht ist es aber, der Sprache irgendwelche Bestrebungen oder Tendenzen, wie z. B. „die Tendenz, sich auszudehnen" oder „die Tendenz, Monopol und Charakteristi-
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k u m der herrschenden Klasse zu werden'j beizulegen. Es bleibt unklar, wer hier als Subjekt der sprachlichen Bestrebungen oder Bemühungen angesehen "wird. Auch darüber, daß die Sprache Instrument des internationalen Verkehrs ist, gehen die Meinungen auseinander.
4. „Die tschechische Literatursprache u n d die S p r a c h k u l t u r " (1932) 4.1. In erweiterter Form wurden einige Gedanken der „Thesen" in dem Sammelband „Spisovna öestina a jazykovä kultura (Die tschechische Literatursprache und die Sprachkultur)" (1932) wiederaufgenommen. Bei den Aufsätzen handelte es sich ursprünglich um einen Zyklus von fünf Vorträgen, deren Autoren V. M A T H E S I U S , B. H A V B Ä N E K , R. J A K O B S O N , J . M U K A B O V S K Y und M . W E I N G A R T waren. Damit wollte der Prager Linguistenkreis — auf der Grundlage tschechischen Sprachmaterials — zur Klärung einiger Probleme der Theorie der Literatursprache beitragen und gleichzeitig die Bemühungen um die Kultur der tschechischen Literatursprache unterstützen. F ü r d i e allgemeine Theorie der Literatursprache sind in dem Sammelband besonders die Artikel von V. M A T H E S I U S „ 0 pozadavku stability ve spisovnem jazyce (Über das Erfordernis der Stabilität in der Literatursprache)", von B. HAV E Ä N E K „Ükoly spisovneho jazyka a jeho kultura (Die Aufgaben der Literatursprache und die Sprachkultur)" und von J . M U K A B O V S K Y „Jazyk spisovny a jazyk basnicky (Die Literatursprache und die Dichtersprache)" wichtig, auf die wir im folgenden näher eingehen wollen. 1 Zuvor noch einige Bemerkungen zu den „Allgemeinen Grundsätzen der Sprachkultur", die den Sammelband beschließen (s. Teil 1, S. 74—85). 4.1.1. Die „Allgemeinen Grundsätze" bieten schon früher, besonders in den Thesen geäußerte Ansichten in durchgearbeiteter Form und mit einigen sehr wesentlichen Ergänzungen. Der These, daß der Pflege der Literatursprache „die theoretische Erforschung der bestehenden Norm der Literatursprache der Gegenwart" zugrunde liegen müsse, wird die Erläuterung hinzugefügt, was unter der tschechischen Literatursprache der Gegenwart zu verstehen ist, welche zeitliche Begrenzung zu wählen ist und welche Texte als Grundlage zu nehmen sind (vgl. Teil 1, S. 75). Empfohlen wird u. a. die Auswertung von Werken der schönen Literatur, jedoch ohne deren dichterische Aktualisierungen. Die theoretische Einwirkung auf die Literatursprache zielt vor allem 1
Z u m A u f s a t z v o n MATHESIUS v g l . T e i l 1, S . 86—102, z u d e m v o n HAVRÄNEK
Teil 1, S. 103—141. Der Beitrag von MUKA&OVSKY liegt in russischer Übersetzung vor in: Prazskij lingvistiöeskij kruzok. Moskva 1967, S. 406—431.
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auf die Festlegung der Norm. Das,Problem der Stabilität in der Literatursprache behandelt der einleitende Beitrag von V. MATHESIUS. Stabilität in der Literatursprache werde am ehesten dadurch erreicht, daß man die Entwicklungstendenzen berücksichtigt. So werde die Vertiefung der Unterschiede zwischen Buchsprache und Umgangssprache, besonders im grammatischen System, verhindert. Stabilität ist nicht mit Erstarrung gleichzusetzen, und die kodifizierte Norm muß mit gewissen Schwankungen rechnen. Auch die stilistische Differenzierung der literatursprachlichen Norm will berücksichtigt sein. Zur Sprachkultur gehört neben der in die gleiche Richtung gehenden Orientierung für grammatische, lexikalische und (ortho)graphische Erscheinungen auch die Pflege der Aussprache, wobei der funktionale Gesichtspunkt konsequent einzuhalten ist, nämlich das Kriterium der Deutlichkeit und der Ausdrucksdifferenzierung. 4.1.2. Die Anfang der dreißiger Jahre formulierten Grundsätze konnten in ausreichendem Maße erst in der sozialistischen Tschechoslowakei realisiert werden, wobei sich die Situation in der Slowakei nicht allzu sehr von der tschechischen unterschied. Wenn das aufgestellte Programm auch heute noch nicht vollständig realisiert ist, so erklärt sich dies hauptsächlich dadurch, daß in der theoretischen Forschung noch nicht alle Voraussetzungen geschaffen sind. Die Forderung, daß sich die Kodifizierung der literatursprachlichen Norm vor allem auf die systematische Untersuchung des Usus stützen sollte, konnte nicht nur in bezug auf den grammatischen Bau, sondern auch in bezug auf die lautliche Seite der Sprache, einschließlich der Orthoepie, nicht erfüllt werden. Erst in den letzten Jahren holt man auf diesem Gebiet die Versäumnisse auf (s. unten S. 36) und zieht neue Methoden für die Erforschung der geläufigen Aussprache in Betracht. Obwohl die Phonologie in der Tschechoslowakei in den dreißiger Jahren ein hohes Niveau erreicht hatte, gibt es zur Zeit zu wenig systematische Arbeiten zu dieser Disziplin (vgl. die in Teil 1, S. 28-30 genannten Arbeiten!). 4.2. HAVRÄNEK (1932) bietet in seinem Beitrag die Grundlagen seiner Theorie der Literatursprache und verweist dabei auf seine früheren Arbeiten. Die Kultur der Literatursprache definiert er als „bewußte theoretische Pflege der Literatursprache", als „das Bemühen der Wissenschaft von der Sprache, der Linguistik, um die Vervollkommnung und Entwicklung der Literatursprache" (Teil 1, S. 103). 4.2.1. In den Mittelpunkt der Theorie der Literatursprache stellt er den Begriff der sprachlichen Norm. Im Einklang mit seinen früheren Arbeiten verknüpft HAVRÄNEK die Schaffung der Norm der Literatursprache mit ihrer /
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Ergänzend sei hier auf das Werk eines ausländischen Wissenschaftlers hingewiesen: H. KUÖERA „The Phonology of Czech" (1961).
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sozialen Verbreitung. Er vertritt z. B. die Ansicht, daß „das Eindringen der Kenntnis der Literatursprache (zumindest der passiven Kenntnis) in immer weitere Schichten und der nationale Charakter der Literatursprache den Umfang ihres (geographischen und ethnischen) Gebietes" beschränken „und sie den Volkssprachen" annähern (Teil 1, S. 107). Gegen solche Verallgemeinerungen ließe sich einiges einwenden. Der Umstand, daß Nationalsprachen im internationalen Verkehr unserer Zeit durchaus zur Geltung kommen, beweist zur Genüge, daß ihre Bindung an eine bestimmte Nationalkultur kein Hindernis für ihre Ausbreitung ist. Die kulturelle Reife einer Nation trägt vielmehr offensichtlich zur Festigung des internationalen Prestiges einer Sprache bei. Einige strukturelle Eigenschaften einer Sprache können ihrer territorialen Ausbreitung bzw. ihrer Rolle als internationaler Sprache hinderlich sein, aber letztendlich entscheiden darüber Umstände ganz äußerer Art. Daraus muß man die Schlußfolgerung ziehen, daß sich eine Sprache auch dann im internationalen Verkehr durchsetzen kann, wenn zwischen dem internationalen und dem nationalen Element dieser Sprache Widersprüche bestehen. Eine theoretisch fundierte Sprachpflege kann zur Lösung dieser Widersprüche beitragen. 4.2.2. Die historischen Exkurse, mit denen H A V R Ä N E K seine Ansicht dokumentiert, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Herausbildung der Ansichten über die Literatursprache und auch direkt auf die Ausformung der literatursprachlichen Norm mit einwirken, sind sehr verschiedenartig und müßten noch weiter ausgeführt werden, um völlig zu überzeugen. Trotzdem kann man die Berechtigung der These, daß der Usus allein die Norm der Literatursprache nicht schafft, sondern daß hierbei auch theoretische Eingriffe mitwirken, nicht bestreiten. Denn die Tatsache, daß die Überführung der Sprache in die literatursprachliche Existenzform nicht ohne starken Druck von Seiten der Theorie vor sich geht, ist evident. Diese selbst hat keine feste Gestalt, sondern kommt in verschiedenen Modifikationen zur Geltung, die auch ziemlich mechanisch übernommen werden können. Eingehendere Erläuterung verdiente das Problem, inwieweit auch unrichtige Lehrsätze, die mitunter von außersprachlichen Voraussetzungen abgeleitet sind, auf den Prozeß der Stabilisierung der Norm der Literatursprache Einfluß gewinnen können. Selbstverständlich trägt auch der bloße Gebrauch der Literatursprache schon zu ihrer Differenzierung in bezug auf Ausdruck und Semantik bei. Das wichtigste Problem, vor dem der Theoretiker der Literatursprache und der Sprachpfleger stehen, der sich nach seinen Ratschlägen richtet, liegt darin, in welchem Maße man in diesen Prozeß fördernd eingreifen kann und soll. Der Band „Spisovna öestina a jazykovä kultura" führt reichlich Belege dafür an, daß die Sprache oft ihren „Willen" auch gegen eine organisierte Beeinflussung durchsetzt. Auch damit muß man immer rechnen. Die Schluß-
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folgerung liegt nahe, daß es die Hauptaufgabe einer wissenschaftlich betriebenen Pflege der Literatursprache ist, den Entwicklungstendenzen den Weg freizumachen. Diese könnten sich auch selbst durchsetzen, aber langsamer, unter Überwindung von Hindernissen, die sich durch rechtzeitige Belehrung am rechten Ort aus dem Wege räumen ließen. Solche Ziele hat sich die funktionale Sprachwissenschaft tatsächlich selbst gestellt, und die Theorie von der Kodifizierung der Norm liefert dafür überzeugende Beweise. Leider haben sich in der Theorie der Literatursprache einige Komplikationen ergeben, ohne die man die gesteckten Ziele schneller und leichter erreicht hätte. Das gilt z. B. für den Begriff „Aktualisierung", der das Pendant zum Begriff „Automatisierung" bildet. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als handele es sich um zwei korrelative und gleichberechtigte Begriffe, aber dem ist nicht so. 4.2.3. Unter Automatisierung versteht man den Prozeß der Umwandlung eines ungewöhnlichen sprachlichen Mittels in ein gewöhnliches, das d a s Merkmal des Ungewöhnlichen infolge wiederholten Gebrauchs verloren hat. Die Automatisierung verläuft spontan und in gewissem Grade gegen die Absicht des Sprachbenutzers. Das läßt sich leicht an sprachlichen Mitteln beobachten, die aus ästhetischen Gründen gebraucht werden. Sie behalten nur solange ihre Wirkung, wie sie ihre Frische und ihren Neuheitswert nicht einbüßen. Häufige Verwendung aber führt dazu, daß der betreffende Ausdruck bald banal und abgedroschen klingt und damit seinen positiven Stilwert verliert. Bei der Aktualisierung könnte man eine allmähliche Veränderung in umgekehrter Richtung annehmen: vom Gewöhnlichen zum Ungewöhnlichen, von der Farblosigkeit des Ausdrucks zu höherer Wirksamkeit. Bei der Aktualisierung geht es jedoch um etwas anderes. Es handelt sich nicht um den Erwerb einer bestimmten Eigenschaft infolge häufigeren Gebrauchs, sondern um eine Verwendung sprachlicher Mittel, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht und als ungewöhnlich aufgefaßt wird. Als Aktualisierung bezeichnet man gewöhnlich sogenannte Poetismen, die von der literatursprachlichen Norm abweichen. Jeder ungewöhnliche Gebrauch eines sprachlichen Mittels, jede Abweichung von der Norm kann als Aktualisierung gelten, wenn es sich um eine bewußte Anwendung handelt. Mitunter kann sich die Sprache freilich selbst „reaktualisieren" und aus einem unwillkürlichen Fehler einen Poetismus oder ein Wortspiel machen, aber das sind Ausnahmen. Andererseits können bewußt gestaltete stilistische Aktualisierungen, darunter auch Poetismen, eine negative Wertung erhalten und als Fehler oder als Zeichen der Unbildung aufgefaßt werden. 4.3. Der literaturwissenschaftliche Formalismus 1 erhob die Aktualisierung 1
Gemeint ist der sog. „russische Formalismus". Vgl. dazu Teil 1, S. 37, Anmerkung.
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zum wichtigsten Merkmal dichterischen Ausdrucks. Wenn man in der Theorie der funktionalen Stile zu der Erkenntnis gelangte, „daß es unmöglich und unrichtig ist, eine funktionale Sprache bzw. einen funktionalen Stil zum Kriterium für die übrigen zu erheben", so war es ganz natürlich, diesen Grundsatz auch auf dichterische Äußerungen anzuwenden. Im Band „Spisovna öestina a jazykova kultura" findet sich diese Auffassung im Artikel von J . M U K A E O V S K Y . Für ihn ist Dichtersprache jedoch nicht eine funktionale Schicht der Literatursprache, wie H A V B X N E K meint, sondern ein selbständiges funktionales Gebilde, das sich nicht nach der literatursprachlichen Norm richtet, sondern nur auf ihrem Hintergrund funktioniert. Die Dichtersprache faßt MuKA&ovsKi als einen Komplex sprachlicher Mittel auf, die dazu dienen, poetische Wirkung hervorzurufen. Wenn seine Formulierung richtig ist, daß „die Funktion der Dichtersprache in der maximalen Aktualisierung sprachlicher Äußerungen besteht" ( 1 9 3 2 , S. 1 2 7 ) , dann besteht das Wesen des poetischen Ausdrucks in der Ungewöhnlichkeit. Die Funktion dichterischer Äußerungen besteht darin, daß die Art des Ausdrucks die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Die Aktualisierungen haben oft die Form von Verstößen gegen die literatursprachliche Norm, und gerade das Recht auf diese Verstöße ist nach MUKAÜOVSKY ( 1 9 3 2 , S. 1 3 1 ) die unabdingbare Voraussetzung für das dichterische Schaffen. Dennoch gibt M U K A E O V S K Y ZU, daß es dichterische Werke gibt, die nur den Inhalt und nicht den Ausdruck aktualisieren, in denen die poetische Funktion nicht in der Orientierung auf den Ausdruck besteht. Diese Beschränkung gilt nach MUKAEOVSKY besonders f ü r die epische Prosa. Hier wird die ästhetische Wirkung nicht durch Aktualisierung erreicht, die „die Mitteilung als Zweck des Ausdrucks in den Hintergrund drängt" und Selbstzweck wird, so daß „der Akt des Sich-Ausdrückens, des Sprechens" selbst in den Vordergrund rückt ( 1 9 3 2 , S. 1 2 7 ) . Bei der epischen Prosa erfolgt die künstlerische Umsetzung auf der Inhaltsebene, die Aktualisierungen gehören hier also nicht der Ausdrucksebene an, sondern spielen sich auf der Inhaltsebene ab. Folglich lassen sich die künstlerischen Qualitäten des dichterischen Schaffens nicht durch rein linguistische Analyse erschließen. Der Begriff der Dichtersprache verliert somit seine Schlüsselstellung, die ihm einst die russischen Formalisten und auch MUKA&OVSKY selbst auf Kosten offensichtlicher Inkonsequenzen zusprachen. Obgleich nicht frei von offensichtlichen Diskrepanzen und verschiedenen Unklarheiten, muß die Theorie der Dichtersprache, wie sie von der Prager Schule ausgearbeitet worden ist, im Hinblick auf die heutige Situation in der Literaturwissenschaft als anregend und positiv angesehen werden. Wenn man verschiedene einseitige und übertriebene Formulierungen auf ihren rationalen Kern reduziert, so hat sich die Theorie der Dichtersprache insgesamt als lebensfähig erwiesen, so daß auch eine marxistisch orientierte Poetik und
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Stilistik auf diese Theorie zurückgreifen und ihr verschiedene nützliche Erkenntnisse entnehmen kann. Auch eine positive Wirkung auf die dichterische Praxis ist nicht auszuschließen. Verhältnismäßig klar ist in dieser Hinsicht die Situation der Verstheorie und ihrer Anwendung in den Arbeiten MUKAÜOVSKYS und anderer Forscher. Ihr wissenschaftliches Gesicht erhält sie in nicht geringem Maße dadurch, daß sie eine Grenzdisziplin zwischen Sprachund Literaturwissenschaft ist. Gewisse kritische Korrekturen wird man auch hier vornehmen müssen. So ist vom heutigen Standpunkt die Ansicht unhaltbar, daß man durch Versanalyse das Wesen der Poesie erfassen und die Geschichte der Lyrik direkt auf der Entwicklung der Versformen aufbauen kann.
5. Phonologie, S y n t a x u n d Sprachkultur 5.1. Die positiven Ergebnisse bei der Erforschung der Versformen beruhen zu einem nicht geringen Maße auf der Tatsache, daß man sich auf eine entwickelte Phonologie stützen konnte, die zu den wertvollsten Errungenschaften der Präger Schule gehört. Nicht zufällig wird manchmal der theoretische Beitrag der Prager Schule geradezu mit der Phonologie identifiziert. 1 Um die Entwicklung der phonologischen Theorie haben sich besonders die russischen Mitglieder der Prager Schule große Verdienste erworben. TBUBECKOJS „Grundzüge der Phonologie" (1939) gelten noch immer als das klassische Werk. Auch um die Anwendung der phonologischen Prinzipien bei der Darstellung von Entwicklungserscheinungen haben sich die Angehörigen der Präger Schule verdient gemacht. Zu beachtlichen Ergebnissen gelangte man zuerst in der historischen Phonologie des Urslawischen und der ostslawischen Sprachen (TEUBECKOJ, JAKOBSON), später auch in phonologischen Arbeiten ü b e r d a s S l o w a k i s c h e (NOVAK, PAULINY) u n d d a s T s c h e c h i s c h e (VACHEK,
LAMPBECHT, KOMÄREK). Eine Theorie der Dynamik phonologischer Systeme w u r d e v o n J . VACHEK ( 1 9 6 8 ) e r a r b e i t e t u n d a u f d i e t s c h e c h i s c h e L i t e r a t u r -
sprache der Gegenwart angewendet. Die von ihm entwickelte Auffassung ist auch für die Theorie der Sprachkultur von Wert. Auch MATHESIUS leistete einen besonderen Beitrag zur phonologischen Beschreibung der tschechischen Literatursprache. Wie in seinen Arbeiten zur Onomatologie (Benennungslehre) und zur Syntax wandte er auch hier die Grundsätze des analytischen Vergleichs an, die es gestatten, verschiedene Sprachen ohne Rücksicht auf ihre genetische Verwandtschaft miteinander zu vergleichen, was heutzutage als Konfrontation bezeichnet wird. 1
Vgl. z u m Beispiel das der Prager Schule u n t e r der Ü b e r s c h r i f t „L'école p h o n o logique de P r a g u e " g e w i d m e t e K a p i t e l bei B . MALMBERG (1966).
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Die Prinzipien dieser Methode umriß M A T H E S I U S in seinem Aufsatz „Ziele und Aufgaben der vergleichenden Phonologie". Die Beispiele, mit denen er seine theoretischen Darlegungen untermauert, sind ein wertvoller Beitrag zur phonologischen Charakteristik einiger Sprachen, vor allem des Englischen, Deutschen und Tschechischen. In seiner Abhandlung „La structure phonologique du lexique tscheque moderne" (1929) versuchte er, die Systembeziehungen zwischen den tschechischen Phonemen und gleichzeitig ihre Verwendung beim Bau lexikalischer Einheiten zu erfassen und darzustellen. Zu erstaunlichen Ergebnissen gelangte M A T H E S I U S auch bei der Untersuchung von phonologischen Adaptionen, die bei der Entlehnung von Fremdwörtern auftreten. Prinzipielle Bedeutung hat in dieser Hinsicht seine Studie „ 0 vyrazove platnosti nekterych öeskych skupin hläskovych (Über den Ausdruckswert einiger tschechischer Lautgruppen)" (1947). In allen diesen Arbeiten zur Phonologie zeigt sich auch sein Interesse für die Sprachkultur. 5.2. Direkten Bezug zur Sprachkultur haben auch einige Studien von MAT H E S I U S über den Satzbau, in denen er auch auf die praktische Stilistik eingeht. Zu ihnen gehört seine Arbeit „Cesty k jasnemu vykladovemu slohu v cestine (Wege zu einem klaren Darstellungsstil im Tschechischen)" (1941). M A T H E S I U S vertrat darin den Standpunkt, daß sich aus der Struktur der tschechischen Literatursprache bestimmte Beschränkungen für den Gebrauch von komplizierten Satzkonstruktionen ergäben. Demgegenüber vertrat H A V R A N E K die Ansicht, daß die Verwendung von komplizierten Satzkonstruktionen in wissenschaftlichen Texten geradezu unerläßlich sei. Auch M U K A E O V S K Y meinte, daß die tschechische Literatursprache ohne komplizierte Satzkonstruktionen nicht auskommen könne, und verwies auf entsprechende Tendenzen in der modernen tschechischen Literatur, besonders in der epischen Prosa. M A T H E S I U S ' Standpunkt ist in folgender Formulierung gut zu erkennen: „Wir werden einen klaren Stil im Tschechischen vor allem dadurch erreichen, daß wir möglichst in einfachen Sätzen — auch vom Inhaltlichen her — und in solchen Satzgefügen schreiben, in denen die Nebensätze nur den Inhalt des Hauptsatzes ausführen" (1947a, S. 369). In seinen Studien mit praktischer Zielstellung richtete M A T H E S I U S sein Augenmerk auch darauf, wie die einzelnen Sätze aneinander anknüpfen und höhere semantisch-syntaktische Ganzheiten bilden. Er gehört also zu den Wegbereitern einer die Satzgrenzen überschreitenden Syntax. 6. Vom Forschungsprogramm zu seiner Realisierung 6.1. Mit der Gesamtproblematik der Pflege der tschechischen Literatursprache hat sich M A T H E S I U S in seiner Abhandlung „Probleme der tschechischen Sprachkultur" (1933) befaßt. Nachdem er sich zunächst mit der Ge3
Scharnhorst I I
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schichte des Englischen unter dem Aspekt der Sprachkultur beschäftigt hat, weist er anhand eines Überblicks über die Entwicklung der tschechischen Literatursprache seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach, wie wenig wirksam die Pflege der Literatursprache war, soweit sie in der Form der „Sprachreinigung" auftrat. Sie zog die Kommunikationsbedürfnisse, die die gesellschaftlichen Veränderungen und die Entwicklung der Nationalkultur mit sich brachten, überhaupt nicht in Betracht. Die negative Wirkung des Purismus versuchte G E B A U E R in seinen Lehrbüchern und auch durch seine Mitarbeit an den Rechtschreibregeln von 1902 abzuschwächen. Nach G E B A U E R S Tod verstärkten sich in den „Pravidla" die archaisierenden Tendenzen, deren Hauptbeförderer E. S M E T A N K A , G E B A U E R S Nachfolger an der Universität, war. 1916 begann unter der Obhut der Böhmischen Akademie für Wissenschaften und Künste die Zeitschrift „Nase fec" zu erscheinen. Ihre sprachpuristische Orientierung wurde durch die Mitarbeit der bedeutenden Linguisten J . Z U B A T T und V. E R T L gemildert. Letzterer hatte seine fachliche Qualifikation durch die gründliche Bearbeitung von G E B A U E R S „Mluvnice spisovne öestiny (Grammatik der tschechischen Literatursprache)", die bereits 1914 erschienen war, unter Beweis gestellt. E r gelangte allmählich zu einem recht fortschrittlichen Standpunkt, und deshalb war sein frühzeitiger Tod im J a h r e 1929 ein schwerer Verlust für die tschechische Kultur. Nach E R T L S Tod verstärkte die Zeitschrift Nase feö ihren puristischen Kurs, wogegen der Prager Linguistenkreis in einer organisierten Aktion auftrat (vgl. Teil 1, S. 13f.). In ihrer Polemik gegen die puristische Sprachpolitik der Zeitschrift Nase feö konnten sich die Mitglieder des Kreises auf die dem I. Internationalen Slawistenkongreß 1929 in Prag vorgelegten „Thesen" (vgl. Teil 1, S. 43-73) sowie auf ihre früheren Aktivitäten stützen. M A T H E S I U S erwähnt, daß er selbst schon 1912 über Probleme der Sprachkultur geschrieben hat. Die Hauptprinzipien, die in der Polemik angeführt und in den wichtigsten Beiträgen des Bandes „Spisovna öeStina a jazykovä kultura" (1932) veröffentlicht wurden, ergeben sich aus der funktionalen Konzeption von der Sprache. M A T H E S I U S faßte sie folgendermaßen zusammen: „Die puristische These von einem Verfall der tschechischen Literatursprache wird zurückgewiesen und die Tatsache dargetan, daß eine solche Annahme auf einem optischen Irrtum beruhe. Es wird bewiesen, daß die gewaltsame Einführung von archaistischen Neologismen die zu erwünschende Stabilität der Sprache zunichte mache, wie übrigens das Prinzip der historischen Reinheit und dasjenige der linearen Regularität an sich in der Sprachkultur keine praktische Berechtigung haben. Die Norm, welche die Linguistik in Zweifelsfällen für die Literatursprache feststellen kann, darf nur in dem literarischen Usus der letzten Jahrzehnte gesucht werden. Die Dichtersprache kommt dabei nicht in Betracht, da der Dichter regelmäßig die erwünschte Aktualisierung der Sprachform durch ihre
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Deformation erzielt. Von den Germanismen, die das Hauptziel der puristischen Angriffe waren, wird gezeigt, daß sie manchmal gar keine Germanismen sind, da sie in allen slawischen Sprachen vorkommen, und das in solchen Perioden, in denen die Möglichkeit eines Germanismus ausgeschlossen war, und daß sie das andere Mal wieder unentbehrliche Ausdrücke darstellen, durch deren Proskribierung der Wortschatz an Reichtum und logischer Freiheit verlieren würde. Eingebürgerte und funktional bewährte Germanismen werden also als berechtigtes Sprachgut anerkannt. Die Literatursprache wird in ihren verschiedenen Stilformen analysiert, und es wird gezeigt, daß jede von diesen speziellen Stilformen andere Forderungen an die Sprache stellt. Alle diese Thesen werden auch — besonders im Nachwort — in ihren praktischen Konsequenzen verfolgt, und es wird ein Programm für eine zielbewußte und methodische Vertiefung der Sprachkultur aufgestellt. Für die tschechische Linguistik folgt daraus die Pflicht, den modernen literarischen Usus eifrig und systematisch zu studieren" (1933, S. 84).i M A T H E S I U S konnte schon 1933 davon sprechen, daß die Polemik des Prager Linguistenkreises gegen den Sprachpurismus der Zeitschrift „Nase feö" gewisse Erfolge zeitigte. Als er seinen Artikel von 1933 später nochmals überarbeitete, erschien ihm die Situation noch erfreulicher: „Es mehren sich die Anzeichen dafür, daß der Prager Linguistenkreis rechtzeitig in den Streit um die tschechische Literatursprache eingegriffen hat und daß sich durch sein Eingreifen die Situation grundlegend geändert hat. Verstummt sind die Klagen über den allgemeinen Verfall der Literatursprache, und letztlich erkennt man auch im Lager der Puristen an, daß das Tschechische selten so in Blüte stand wie in unserer Zeit. Man verzichtet allmählich darauf, archaische Neologismen mit Gewalt einzuführen . . . Der Kampf ist noch nicht zu Ende, aber sein schroffer Charakter hat sich gemildert, und es besteht die Hoffnung, daß der gesunde Menschenverstand endgültig siegen wird. Dadurch werden auf beiden Seiten Kräfte frei für eine richtige Pflege der tschechischen Literatursprache, deren Aufgabe nicht darin bestehen kann, die sprachliche Entwicklung künstlich aufzuhalten oder sogar umzukehren, sondern darin liegen muß, sich um die ständige Bereicherung und Verfeinerung der sprachlichen Mittel und um die Verbreiterung der praktischen Kenntnisse der Sprache in immer breiteren Schichten des Volkes zu bemühen." (1947a, S. 457—58). 6.2. Die Bedingungen für die Beschleunigung dieses Gesundungsprozesses haben sich nach der Erneuerung der tschechoslowakischen Selbständigkeit, nach dem Sieg der Sowjetunion über das faschistische Deutschland grundlegend verbessert. Eine wichtige Maßnahme war die Umwandlung der ehemali1
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Das Zitat wurde entsprechend den in Teil 1, S. 21 dargelegten Editionsprinzipien bearbeitet.
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gen akademischen Kanzlei des Wörterbuchs der tschechischen Sprache in das „Institut für tschechische Sprache (Üstav pro jazyk öesky)", das dann unter Leitung von Akademiemitglied B. H A V R A N E K in die neugegründete Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde. Gestützt auf die neu eingerichteten Lehrstühle oder Abteilungen für tschechische Sprache, konnte die Bohemistik an den Hochschulen in größerem Maße als früher die Arbeit auf dem Gebiet der Sprachkultur beeinflussen. 6.3. Daß die Norm der Literatursprache auch heute noch nicht in dem Umfang stabilisiert ist, wie es wünschenswert wäre, kann man nur zum Teil mit den umwälzenden gesellschaftlichen Veränderungen erklären, die in der Literatursprache ihren Niederschlag finden mußten. Als negativ in dieser Hinsicht erwiesen sich vielmehr organisatorische Mängel bei der Erforschung der tschechischen Literatursprache. Die Untersuchungen erfolgten nicht mit der genügenden Systematik und Ausgeglichenheit. Am Institut für tschechische Sprache war bis zur Mitte der 60er Jahre nur die Untersuchung des Wortschatzes, einschließlich der Wortbildung, befriedigend gesichert . Wenig Beachtung schenkte man der Erforschung des literatursprachlichen Usus in der Morphologie und in der Syntax. Erst in letzter Zeit zeichnet sich in dieser Hinsicht eine Wende zum Besseren ab, nachdem mit der systematischen Vorbereitung einer Akademiegrammatik des Tschechischen begonnen wurde. 1 Wenn es bei dieser Arbeit nicht zu einem unerwünschten Aufschub kommen sollte, so mußte ein Teil der Grundlagenforschung, z. B. die Untersuchung der Schwankungen in der Morphologie, parallel mit der Abfassung einiger theoretischer Teile erfolgen. Zuerst war mit der Ausarbeitung der grammatischen Kategorien, insbesondere der Morphemik, zu beginnen. Dabei konnte man sich auf Forschungsergebnisse stützen, die anhand der slowakischen und anderer slawischer Literatursprachen gewonnen worden waren. Auch mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Wortschatzes, einer funktionalen Onomatologie, müßte so bald wie möglich begonnen werden. Hier bieten sich sowjetische Arbeiten als Muster an. 6.4. Mit diesem kurzen Hinweis auf zukünftige Forschungsaufgaben schließen wir unseren Versuch, die Entstehung der funktionalen Sprachwissenschaft und ihren Beitrag zur Theorie der Sprachkultur historisch-kritisch zu werten. Es kam uns dabei vor allem darauf an zu zeigen, daß von der funktio1
Zur Konzeption einer solchen Grammatik vgl. F. DANE§/M. KOMÄREK U. a. (1975a; 1975b). Als Beispiel für eine konfrontative Grammatik sei auf die von Mitarbeitern des Instituts für Fremdsprachen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften erarbeitete zweibändige russische Grammatik verwiesen, in der das russische grammatische System mit dem tschechischen verglichen wird. Autoren dieser „Russkaja grammatika" (Praha 1979) sind V. BARNETOVÄ, H . BiüiiöovÄ-KAiiKovÄ, O. L E S K A , Z. S K O U M A L O V A , V. S T R A K O V Ä .
E n t s t e h u n g der funktionalen Sprachwissenschaft
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nalen Sprachwissenschaft zu b e s t i m m t e n Problemen der Sprachkultur bereits in der „klassischen" Zeit der Prager Schule Lösungen vorgeschlagen wurden, die auch heute noch bedenkenswert sind. Überhaupt meinen wir, daß ein intensives Studium des linguistischen Erbes für die weitere Entwicklung der Theorie der Sprachkultur dringend notwendig ist. D a ß die internationale Linguistik der Gegenwart im Hinblick auf die Theorie der Sprachkultur ausgewertet wird, ist eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus müssen aber viele Aspekte in ihr Programm einbezogen werden, die nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit zu lösen sind. Übersetzt v o n K u r t Günther
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I. Theorie der Literatursprache ALOIS JEDLIÖKA
1. Zur Geschichte der Forschung 1.1. In der gegenwärtigen Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen kann man einerseits die Tendenz zur Integration, andererseits die zur Spezialisierung beobachten. Die Tendenz zur Integration zeigt sich in der Entstehung solcher Disziplinen wie der Soziolinguistik, Psycholinguistik, Pädolinguistik sowie darin, daß die linguistische Problematik im Rahmen solcher allgemeiner Disziplinen wie der Informationstheorie, der Kommunikationstheorie, der Semiotik usw. behandelt wird. Als Ergebnis der Tendenz zur Spezialisierung konstituieren sich innerhalb der Linguistik auch diejenigen Disziplinen, die die wissenschaftliche Untersuchung der Literatursprache zum Gegenstand haben. Die Benennung des Phänomens „Literatursprache" ist in den einzelnen Sprachen unterschiedlich motiviert. Teilweise gibt es innerhalb einer Sprache auch synonyme Benennungen. So wird oder wurde die „Literatursprache" im Deutschen auch als Schriftsprache, Hochsprache, Gemeinsprache, Standardsprache 1 bezeichnet. Den verschiedenen Benennungen, wie sie im Deutschen auftreten, entsprechen parallele Benennungen in anderen Sprachen. Zum Beispiel : Literatursprache
1
franz. langue littéraire russ. literaturnyj jazyk serbokroat. knjizevni jezik
Das „Kleine Wörterbuch sprachwissenschaftlicher Termini" (1975) führt als gemeinsame Bedeutung dieser Termini an : „höchstentwickelte schriftliche und mündliche F o r m einer Nationalsprache". Außerdem haben diese Termini weitere spezielle Bedeutungen, die auf die begrifflichen Unterschiede im R a h m e n der Literatursprachlichkeit hinweisen : „schriftliche F o r m einer Nationalsprache" (Schriftsprache); „der Norm weitestgehend entsprechende, einheitlich gesprochene F o r m einer Nationalsprache" (Hochsprache); „die von einem Volk gemeinsam gesprochene, ihm gemeinsam gehörende Nationalsprache [etwa im Sinne von Luthers ,gemeinem Deutsch']" (Gemeinsprache); „Sprache der schönen Literatur" (Literatursprache).
Theorie der Literatursprache Schriftsprache
tschech. spisovny j a z y k
Gemeinsprache
franz. langue commune
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poln. j ç z y k o g ó l n y Standardsprache
engl, standard language serbokroat. standardni jezik
D i e wichtigsten Benennungen in den slawischen Sprachen sind im „ S l o v n i k slovanske lingvisticke terminologie" (1977—79) angeführt. Zur Analyse der verschiedenen Termini vergleiche man M. M. GUCHMANN (1970, S. 503—504; dt. Übersetzg. 1973, S. 4 1 2 - 4 1 4 ) ; D . BKOZOVIC (1970, S. 1 4 f f . ) ; A . JEDLIÖKA (1974, S. 4 9 - 5 0 ; dt. Übersetzg. 1978, S. 5 8 - 6 0 ) . Schon hier sei darauf hingewiesen, daß der Begriff „Literatursprache" in einem engeren und einem weiteren Sinne gebraucht wird ( v g l . Abschnitt 3.1.). 1.2. D i e Untersuchung der Literatursprachen entwickelt sich heute in drei Richtungen: a ) Allgemeintheoretische Richtung b) Monolinguale Richtung, d. h. einzelne Literatursprachen werden in synchronischer oder diachronischer Sicht beschrieben bzw. charakterisiert c) Polylinguale Richtung, d. h. zwei oder mehr Literatursprachen werden konfrontativ und typologisch untersucht, und zwar ebenfalls in synchronischer oder diachronischer Sicht. Auf diese Weise werden v e r w a n d t e Sprachen (z. B . slawische, germanische, romanische), aber auch nicht eng verwandte Sprachen (z. B . slawische im Vergleich mit germanischen und romanischen) untersucht. Entsprechend den drei Richtungen entwickeln sich neue Teildisziplinen und zwar a ) D i e Theorie der Literatursprache in der allgemeintheoretischen Richtung b) Die Geschichte der Literatursprachen in der monolingualen Richtung c) Die konfrontative und typologische Untersuchung der Literatursprachen in der polylingualen Richtung. D i e einzelnen Teildisziplinen haben sich von den traditionellen sprachwissenschaftlichen Disziplinen, die die Sprache als Ganzes zum Gegenstand hatten, gelöst: die Theorie der Literatursprache v o n der allgemeinen Linguistik, die Geschichte der Literatursprache v o n der historischen Grammatik und der historischen Lexikologie und die vergleichende (konfrontative) Untersuchung der Literatursprachen v o n der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. 1.3.1. Chronologisch gesehen, hat sich zuerst die Geschichte der Literatursprachen als selbständige Forschungsrichtung herausgebildet. Das hängt mit der historischen Orientierung der älteren Sprachwissenschaft, die weit bis ins 20. Jahrhundert hineinreicht, zusammen. Die traditionellen historisch orientierten Disziplinen, besonders die historische Grammatik, untersuchten die
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innere Entwicklung der Sprache, ihre Substanz, und zwar ohne Rücksicht auf einzelne Existenzformen, aber mit besonderer Berücksichtigung der natürlichen Sprache, die besonders im Dialekt gesehen wurde. Demgegenüber trat in der Geschichte der Literatursprachen das Interesse für die äußere Geschichte hervor; es wurden die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen hervorgehoben, unter deren Wirkung sich die einzelnen Literatursprachen in verschiedenen historischen Epochen entwickelten. 1 . 3 . 2 . Die Konstituierung der Theorie der Literatursprache hängt mit dem Auftreten einer neuen Methodologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zusammen, und zwar mit der funktionalen Sprachwissenschaft, die zugleich eine Abkehr von der einseitig historisch orientierten älteren Philologie bedeutete (vgl. B. HAVEÄNEK 1969). Die funktionale Sprachwissenschaft richtete ihr Hauptinteresse auf die Aufdeckung des Systemcharakters der Sprache. Die allgemeine Linguistik beschäftigt sich bekanntlich mit theoretischen Fragen der natürlichen Sprache überhaupt, und zwar als sozialer Erscheinung historischen Charakters, weiter mit den Eigenschaften der Sprachstruktur und mit dem Charakter des Funktionierens von Sprache in der Gesellschaft. Die spezielle Problematik der Literatursprache wurde nun auch in allgemeinlinguistische Kompendien eingeführt, und zwar als selbständiger Bestandteil (vgl. z. B. M. M. GUCHMANN in dem sowjetischen Werk „Allgemeine Sprachwissenschaft" 1970, dt. Übers. 1973), wobei denjenigen Erscheinungen große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die zwar nicht auf die Literatursprache beschränkt sind, sich in ihr jedoch besonders deutlich und differenziert zeigen, z. B. der grundlegenden Problematik der Norm und der mit ihr eng verbundenen Problematik der Kodifikation (letztere ist auf die Literatursprache beschränkt; vgl. N. N. SEMENJUK 1 9 7 0 ; dt. Ubers. 1973).
Die Literatursprache ist unter den Existenzformen der Nationalsprache die wichtigste. Deshalb steht sie heute auch im Mittelpunkt des Interesses der sich entwickelnden Soziolinguistik, besonders in den sozialistischen Ländern. Untersucht wird das Funktionieren der Literatursprache im Rahmen der sprachlichen Kommunikation innerhalb der Gesellschaft, seine Abhängigkeit von sozialen Bedingungen und sein Verhältnis zu den kommunikativen Bedürfnissen der Gesellschaft. Das geschieht im Zusammenhang mit der äußerst bedeutsamen Problematik der Sprachsituation; aber in die soziolinguistischen Untersuchungen gehen unter speziellem Aspekt auch die Fragen der Norm und der Kodifikation, der sog. Standardisierung, der Terminologie, der Sprachkultur und des funktionalen Stils ein. Die Soziolinguistik bemüht sich dabei, an die Lösung dieser Probleme auf die ihr eigene Weise heranzugehen. Man vergleiche z. B. den Versuch von A. D. SVEJCBB ( 1 9 7 6 , S. 100), das spezifische Herangehen der Soziolinguistik und der Stilistik an die gemeinsamen
Theorie der Literatursprache
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Probleme abzugrenzen. In keinem Falle jedoch bleibt die Soziolinguistik auf •die Probleme der Literatursprache beschränkt. 1.3.3. Die vergleichende Untersuchung der Literatursprachen (konkret der slawischen Literatursprachen) wurde zunächst auch diachronisch betrieben, wobei die Geschichte einzelner Literatursprachen das Material lieferte. In der •ersten Phase wurden besonders die gegenseitigen Beziehungen und Einflüsse der Literatursprachen in der historischen Entwicklung untersucht, z. B. der Einfluß der tschechischen Literatursprache im 15. und 16. Jahrhundert auf •die polnische, im 19. Jahrhundert auf die südslawischen Literatursprachen, in der Zeit der Wiedergeburt im 19. Jahrhundert umgekehrt der Einfluß besonders der russischen und polnischen Literatursprache auf die tschechische (vgl. B. HAVBANEK 1963, S. 291, 322; im Bereich der Terminologie A. JEDXIÖKA 1948). Nach und nach, je mehr die Methodologie ausgearbeitet wurde, wurde es das Ziel dieser vergleichenden Untersuchungen, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Literatursprachen aufzudecken. Meistens handelte es sich um Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens der Literatursprachen. In einzelnen Arbeiten (z. B. in der Geschichte der slowakischen Literatursprache von E. PAULINY, 1948) konzentrierte sich die Geschichte der Literatursprache auf die Geschichte einzelner Funktionalstile. Die vergleichende Untersuchung der Struktur der slawischen Literatursprachen wurde mit B. HAVEAUEKS Referat auf dem Slawistenkongreß in Sofia (1963) eingeleitet. Dabei unternahm er den Versuch, die strukturellen Elemente der slawischen Literatursprachen vom synchronischen Standpunkt aus zu vergleichen, und belegte einzelne Erscheinungen durch Sprachmaterial aus der Gegenwart. 1.4. In der tschechischen Linguistik sind seit den dreißiger Jahren alle drei Richtungen der Untersuchungen zur Literatursprache vertreten, und besonders im Werk von B. HAVRXNEK sind sie eng verbunden. Die grundsätzlichen Beiträge von B. HAVRÄNEK zur Theorie der Literatursprache wurden in den •ersten Teil der „Grundlagen der Sprachkultur" (1976) aufgenommen; seine Aufsätze zur vergleichenden Untersuchung der slawischen Literatursprachen, die meistens progammatischen Charakter haben, enthält der Band „Studie o spisovnem jazyce (Studien über die Literatursprache)" (1963). Als zusammenfassende Darstellung der Entwicklung der tschechischen Literatursprache wurde bahnbrechend sein Werk „ V y v o j spisovneho jazyka öeskeho" (1936). Alle drei genannten Richtungen der Untersuchungen zur Literatursprache hängen eng zusammen. Gegenwärtig ist die Problematik der synchronischen Untersuchung der heutigen Literatursprachen unter monolingualem sowie polylingualem Aspekt aktuell. Die monolinguale Untersuchung der Literatursprachen der Gegenwart wird meistens in Arbeiten der beschreibenden Linguistik realisiert. Esgibt monolinguale Beschreibungen des grammatischen
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Baus und des Wortschatzes der Gegenwartssprachen; im Unterschied zu historischen Grammatiken und Wörterbüchern, in denen die Nationalsprache als Ganzes aufgefaßt wurde, beschränken sie sich gewöhnlich auf die literatursprachlichen Elemente und Erscheinungen. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der grammatischen Struktur der Literatursprachen; in manchen neueren Arbeiten kommt jedoch außerdem programmatisch noch die Aufdeckung der inneren synchronischen Dynamik und die Charakteristik der stilistischen Differenzierung der sprachlichen Mittel hinzu. Man vergleiche z . B . : „Grammatika sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka" (1970), „Russkaja grammatika" (1980), „Morfologia slovenskeho jazyka" (1967), „ D y n a m i k a f o n o l o g i c k e h o s y s t e m u s p i s o v n e c e s t i n y " ( J . VACHEK 1 9 6 8 ) .
Neben diesen Arbeiten aus dem Bereich der beschreibenden Linguistik entstehen neue Arbeiten, die an die Bearbeitung und Untersuchung der gegenwärtigen Literatursprache anders herangehen. Sie konzentrieren sich auf das Funktionieren der Literatursprache und stützen sich auf die Begriffe, die die neue Theorie der Literatursprache ausarbeitet. Oft wird die Bezeichnung „Charakteristik" der Literatursprache benutzt (so z. B. auch bei dem kollektiven Vorhaben der „Internationalen Kommission für die slawischen Literatursprachen"). Es sei daran erinnert, daß wir diese Bezeichnung als Terminus bei dem Begründer der tschechischen funktionalen Linguistik V . MATHESIUS ( 1 9 4 7 , S . 9) f i n d e n . B e i d e r l i n g u i s t i s c h e n C h a r a k t e r i s t i k s p i e -
len (im Unterschied zur linguistischen Beschreibung) die sprachlichen Äußerungen und besonders die Wertung der sprachlichen Elemente im Hinblick auf ihre Wichtigkeit die Hauptrolle. Die linguistische Charakteristik verwendet nach V. MATHESIUS zwei für sie typische Methoden: die sogenannte „statische" Methode, bei der die Sprache im gegebenen Zeitabschnitt nach allen Seiten charakterisiert wird (heutzutage würden wir von der synchronischen Methode sprechen) und die Methode des analytischen Vergleichs von Sprachen, „die darauf abzielt, die Besonderheiten des sprachlichen Usus plastisch hervortreten zu lassen" (heute würden wir vom konfrontativen Aspekt bei der Untersuchung von Sprachen sprechen, der die Aufdeckung der „Besonderheiten", der spezifischen Erscheinungen einzelner Sprachen ermöglicht). 1 Im allgemeinen stimmt die Bezeichnung Charakteristik in der Bedeutung, in der wir sie heute benutzen, mit der von MATHESIUS überein. In heutiger Terminologie ausgedrückt, handelt es sich bei der Charakteristik von Literatursprachen um die Darstellung ihres Funktionierens bei der Erfüllung der kommunikativen Bedürfnisse der Gesellschaft unter den sozialen und kommunikativen Bedingungen der Gegenwart auf der Grundlage der syn1 Z u r B e z e i c h n u n g „ a n a l y t i s c h e r V e r g l e i c h v o n S p r a c h e n " v g l . a u c h B . TRNKA (1929) S. 35.
Theorie der L i t e r a t u r s p r a c h e
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chronischen (jedoch nicht statischen, sondern dynamischen) Methode; dabei wird die konfrontative Methode ausgenutzt, um die spezifischen Züge der einzelnen Literatursprachen auf dem Hintergrund der gemeinsamen Entwicklungstendenzen hervortreten zu lassen. Die spezielle Untersuchung der Probleme der Literatursprache nimmt seit den dreißiger Jahren, seit dem Auftreten der funktionalen Linguistik in der tschechoslowakischen Sprachwissenschaft einen bedeutenden Platz ein.1 Ausgewählte Arbeiten aus der klassischen Periode enthält der erste Teil der „Grundlagen der Sprachkultur" (1976). Jedoch ist an der Klärung dieser Probleme kontinuierlich weitergearbeitet worden. Zu den Begründern dieser Richtung sind jüngere tschechische Forscher hinzugetreten, besonders Schüler v o n B . HAVRANEK u n d V . MATHESIUS: K . HOEALEK, A. JEDLIÖKA, J . BELIÖ, F . DANKS, K . HAUSENBLAS, V . BARNET, V . KKISTKK, J . KUCHAE, A. STICH, M. JELINEK, J. CIILOUPEK, I . KEATJS U. a. Dazu kommen die Namen slowakischer Linguisten wie E. PAULINY, J. RUZICKA, J. HOEECKY, S. PECIAE, L'. NOVAK, J. MISTRIK, F. MIKO, J. KAÖALA U. a. Für sie steht selbstver-
ständlich die Beschäftigung mit solchen Problemen im Vordergrund, die speziell für die slowakische Sprachsituation aktuell sind. 1.5. Seitdem die tschechische Linguistik begann, die Problematik der Literatursprache wissenschaftlich zu untersuchen, sind rund fünfzig Jahre vergangen. Sie legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie rasch sich neue Disziplinen, die sich mit Fragen der Literatursprache beschäftigen, entwikkelt haben. Zwar war das wissenschaftliche Interesse an der Klärung dieser Probleme in den einzelnen Ländern und wissenschaftlichen Zentren ungleichmäßig. Und auch der Kreis von Fragen, die behandelt wurden, war unterschiedlich. Unbestreitbar ist jedoch, daß bereits in den Anfängen manche Fragen gestellt wurden, die die Grundpositionen der neuen Richtung markieren und zu denen die Linguistik zurückkehrt, um sie tiefschürfender zu bearbeiten. Dabei werden neue Methoden angewandt und der Versuch unternommen, die Erscheinungen neu zu systematisieren. Wir wollen im folgenden die wichtigsten Problemkreise skizzieren, die während der sogenannten klassischen Periode der Prager Schule in den Anfängen der Theorie der Literatursprache in den Vordergrund traten und an 1
D e r begriffliche u n d terminologische A p p a r a t a u s der klassischen P e r i o d e der P r a g e r Schule ist i m „Dictionnaire de linguistique de l'Ecole de P r a g u e " (J. VACHEK 1960) verzeichnet. A u s b e s t i m m t e n Bereichen (z. B . G r a m m a t i k , W o r t b i l d u n g u. a.) sind auch Termini a u s der neueren P h a s e der P r a g e r Linguistik berücksichtigt. D a s t r i f f t jedoch n i c h t auf T e r m i n i a u s der Theorie der L i t e r a t u r s p r a c h e zu. E i n G r u n d liegt d a r i n , d a ß z u s a m m e n f a s s e n d e A r b e i t e n zu dieser T h e m a t i k erst seit den 60er J a h r e n e n t s t a n d e n sind.
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denen dann in der tschechischen und slowakischen sowie auch in der ausländischen Linguistik weitergearbeitet wurde. Zunächst stellte sich die Frage, wie unterscheidet sich die Literatursprache von der sogenannten Volkssprache (lidovy jazyk), d. h. von den nichtliteratursprachlichen Existenzformen der Nationalsprache? Anfangs wurde die Literatursprache scharf gegen diese Existenzformen abgegrenzt, und zwar durch ihre spezifischen Funktionen. Es wurde das Merkmal der Autonomie der Literatursprache hervorgehoben, das später von B. HAVRAJSTEK selbst abgeschwächt wurde, von einigen jüngeren Linguisten jedoch wieder voll aufgenommen wurde (vgl. D. BROZOVIC 1970, S. 18). Die Literatursprache wurde in der neuen Auffassung nicht mehr auf die sogenannte „Buchsprache" beschränkt, sondern als Bestandteil der Literatursprache wurde nach und nach auch diejenige Form angesehen, die die eigentlichen Träger der Literatursprache im Alltag verwenden (die sog. Alltagsliteratursprache, tsch. hovorovy j a z y k ; vgl. A. JEDLICKA 1964, S. 49).
Als Grundbegriff wurde in die neue Theorie der Begriff der Sprachnorm und zwar in Beziehung und im Gegensatz zum Begriff Kodifikation aufgenommen. Es war von Anfang an klar, daß man die Norm nicht auf die Literatursprache beschränken kann, während die Kodifikation mit Recht als kennzeichnendes Merkmal der Literatursprache angesehen wurde. Die Norm wurde auch gegen den Usus abgegrenzt. Dagegen wurden über die Beziehung der Norm zum System keine klaren Feststellungen getroffen. Der Versuch von E. COSERIU (1970), die Begriffe Norm und System zu differenzieren, hat relativ große Resonanz gefunden und steht weiter in der wissenschaftlichen Diskussion. Die spezifische tschechische Sprachsituation und die aktuellen Probleme der damaligen tschechischen Sprachpraxis trugen dazu bei, daß die Widersprüche zwischen der gültigen Kodifikation und der realen, lebendigen literatursprachlichen Norm von den Vertretern der neuen Theorie offen und in scharfer Polemik aufgedeckt wurden. Es wurde auch der Weg zur Beseitigung dieser für die Sprachpraxis schädlichen Widersprüche gezeigt. Es war nötig, mit Hilfe einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung die real existierende Norm festzustellen und auf Grund dessen die notwendigen Veränderungen in der Kodifikation vorzunehmen. Man kann heute konstatieren, daß dieses Aufdecken der Widersprüche bahnbrechend wirkte und daß die Linguistik in vielen anderen Ländern erst später an die Lösung dieses ernsten Problems der Sprachkultur herangegangen ist, dann selbstverständlich von einem neuen, auch methodologisch bedingten Standpunkt aus (s. unten S. 57f.). Breite Zustimmung fand der von V. MATHESIUS (1932) in diesem Zusammenhang geprägte Begriff „elastische Stabilität". Die Norm wurde zwar synchronisch aufgefaßt, zugleich wurden jedoch ihre Entwicklungstendenzen verfolgt und die Wirkung von oppositionalen Gegen-
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Sätzen festgestellt. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Tendenz zur Demokratisierung der Literatursprache gewidmet, ähnlich wie der zur Intellektualisierung, die man mit der Spezifik der Literatursprache in engen Zusammenhang brachte. Beide Begriffe gehören zum festen Begriffsapparat der sich entwickelnden Theorie, und sie werden weiter und tiefgründiger behandelt. 1 Vom Anfang an wurde auch das Prinzip der Variabilität der Norm proklamiert, das, wie schon erwähnt, zur breiteren Auffassung der Literatursprache beiträgt. Eine Quelle der Variabilität ist z. B., daß nicht nur die geschriebene Sprache, sondern auch die gesprochene Sprache zur Literatursprache gehört. Eine andere Quelle ist die historische Veränderlichkeit der Norm, die dazu führt, daß man bei den sprachlichen Mitteln zwischen einer älteren und einer neueren Schicht differenziert. Auch diese wichtige Problematik wurde bei der Entwicklung der Theorie in einzelnen wissenschaftlichen Zentren weiter bearbeitet und führte zu neuen theoretischen Aussagen. Als charakteristisches Merkmal der Literatursprache wurde die sog. Polyfunktionalität genannt (im Unterschied zur Monofunktionalität der Umgangssprache). Daraus ergab sich auch, daß das Problem der stilistischen Differenzierung der Literatursprache auf der Grundlage der funktionalen Stile bearbeitet wurde. Nach dem Versuch der Klassifizierung dieser Stile durch B. H A V R Ä N E K (S. Teil 1, S. 127ff.) wurde dieser Problemkreis in der tschechischen und slowakischen Linguistik weiter behandelt und stellt bis heute einen wichtigen Bestandteil der Theorie der Literatursprache dar. Wie schon gesagt, war die Klärung der theoretischen Probleme der Literatursprache, die mit einer neuen Methodologie zusammenhing, zugleich eng mit der Lösung konkreter Probleme der Sprachpraxis verknüpft. Als Orientierung wurden die „Allgemeinen Grundsätze der Sprachkultur" (s. Teil 1, S. 74—85) ausgearbeitet. Neu war daran u. a., daß die Linguisten mit Hilfe theoretischer Arbeiten zur bewußten Pflege der Literatursprache beitragen sollten. So stand die Theorie der Sprachkultur von Anfang an in engem Zusammenhang mit der Theorie der Literatursprache. I m Laufe der Entwicklung wurde die theoretische Problematik der Sprachkultur weiter ausgearbeitet, ihre verschiedenen Aspekte wurden auf der Grundlage einer neuen Methodologie differenzierter untersucht, so daß sie heute eine zentrale Stellung einnimmt und eine breite Palette von Problemen umfaßt (s. Teil 1, S. 330—357). Für die Tätigkeit der Prager Schule bei der Erforschung der Literatursprache ist charakteristisch, daß die allgemeintheoretischen Erkenntnisse unmittelbar für die Lösung von praktischen sprachlichen Problemen genutzt wurden. Das ist ein Beispiel für die Verbindung von Theorie und Praxis. Praktische Auswirkungen zeigten sich z. B. auf dem Gebiet der Terminologie, 1
Vgl. G.
FBOHNE
(1974),
H . FASSKE
(1977b),
J . KTJCHAÄ
(1980).
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des Sprachunterrichts und der Übersetzung. Erinnert sei daran, daß auf dem I. Internationalen Slawistenkongreß (Prag 1929) bereits Thesen über die Anwendung der neuen Richtungen in der Linguistik im Sprachunterricht an den Mittelschulen vorgelegt wurden (s. Teil 1, S. 68—73). Alle erwähnten Themenbereiche werden heute oft zur sogenannten angewandten Linguistik gerechnet. Die Tätigkeit der Prager Linguistik hat auch auf diesem Gebiet ihre Kontinuität und ist durch Arbeiten der führenden tschechischen Linguisten vertreten. Im Eröffnungsartikel der ersten Nummer der linguistischen Zeitschrift „Slovo a slovesnost" (1935, S. 1) stellte B. HAVRÄNEK die allgemeine Frage: „Was kann die Sprachwissenschaft, die Linguistik, der Literatursprache geben?", und ein J a h r später auf dem Linguistenkongreß in Kopenhagen formulierte er das Problem in Form einer rhetorischen Frage noch schärfer und konkreter: „Ist die Sprachnorm, die Normierung der Literatursprache und die Sprachkultur überhaupt ein Thema der Linguistik, gehört dies zu ihren wissenschaftlichen Aufgaben?" (Teil 1, S. 142). Seit dieser Zeit hat sich die wissenschaftliche Untersuchung der Probleme der Literatursprache allmählich entwickelt, wobei der tschechischen Linguistik Kontinuität in der Bearbeitung dieser Problematik zu bestätigen ist. In der Gegenwart sind wir jedoch Zeugen einer intensiven und raschen Entwicklung in diesem Bereich, so daß man von einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aktualität sprechen kann, die sich über viele Länder und Forschungszentren erstreckt. Wie oben gesagt, es entstehen neue Teildisziplinen, die methodologischen Grundlagen werden besser fundiert, und indem einzelne Literatursprachen unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen neuen kommunikativen Bedürfnissen angepaßt werden müssen, tauchen neue Probleme auf. 1.6. Der Katalog von Problemen, den wir im vorhergehenden skizziert haben, hat die tschechische Linguistik seit der Entstehung des Prager Linguistenkreises in den 20er Jahren beschäftigt. Auf dem Hintergrund dieses Problemkatalogs wollen wir in den folgenden Abschnitten überblickartig und in der gebotenen Kürze den heutigen Forschungsstand charakterisieren. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei den Arbeiten tschechischer Linguisten; jedoch sehen wir ihre Forschungen stets im Zusammenhang mit der Entwicklung, welche die Theorie der Literatursprache in den verschiedenen wissenschaftlichen Zentren, besonders in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern, genommen hat. Die moderne Entwicklung zeigt, daß die Prager Tradition wissenschaftlich lebendig ist, daß es jedoch notwendig ist, ihre bleibenden Erkenntnisse in den gegenwärtigen wissenschaftlichen Kontext aus neuer methodologischer Sicht fundiert einzuordnen und überhaupt an eine neue vertiefte Systematisierung und Klassifizierung heranzugehen.
Theorie der Literatursprache
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2. Soziolinguistischer R a h m e n : der Begriff Sprachsituation 2.1. Wir haben schon erwähnt, daß die Klärung der theoretischen Probleme der Literatursprache heute durch die soziolinguistische Orientierung beeinflußt wird. Das kommt z. B. in dem durch die Soziolinguistik eingeführten Begriff Sprachsituation zum Ausdruck, der in neuen Arbeiten zur Theorie der Literatursprache oft vorkommt. Konzentriert arbeiten mit diesem Begriff besonders die sowjetischen Soziolinguisten L. B. N I K O L ' S K I J , Y . A. AVBORUT, A. D. S V E J C E R und G. V . S T E PA2TOV. Die Definitionen des Begriffs Sprachsituation stimmen bei ihnen im allgemeinen überein, es treten nur unterschiedliche Aspekte und Ausgangspunkte in den Vordergrund. N I K O L ' S K I J (1976, S. 79) nimmt die sprachlichen Erscheinungen, selbstverständlich in enger Verbindung mit den sozialen und kommunikativen Bedingungen, als Ausgangspunkt: „Als Sprachsituation bezeichnen wir die Gesamtheit von Sprachen, Subsprachen und Funktionalstilen, die in einer administrativ-territorialen Einheit und in einer ethnischen Gemeinschaft der Kommunikation dienen." — Bei V. A. A V R O R I N (1975, S. 120) tritt der soziale und funktionale Aspekt in den Vordergrund. Unter Sprachsituation in einer einsprachigen Gemeinschaft versteht er „die Erfüllung der Funktionen aller vorhandenen Existenzformen der Sprache (kürzer: das Funktionieren der Sprache) in allen Milieus und Sphären der gesellschaftlichen Tätigkeit unter bestimmten sozialen Lebensbedingungen des betreffenden Volkes." — A. D. S V E J C E R (1977, S. 133) definiert die Sprachsituation unter Verwendung des Begriffsapparates, den er auf S. 69—86 vorstellt, folgendermaßen: „Die Sprachsituation kann als Modell der sozial-funktionalen Distribution und der Hierarchie der sozial-kommunikativen Systeme definiert werden, die im Rahmen einer bestimmten politisch-administrativen Einheit und eines kulturellen Raumes während eines bestimmten Zeitabschnitts nebeneinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen, und zugleich als Modell der sozialen Einstellungen, welche die Mitglieder der entsprechenden Sprach- und Kommunikationskollektive zu diesen Systemen und Subsystemen haben." Auch der sowjetische Romanist G. V. S T E P A N O V (1976, S. 31) verwendet den Begriff „Sprachsituation", wobei er zwischen den Begriffen „äußeres (funktionales) Sprachsystem", „Sprachsituation" und „Sprachzustand" differenziert. Unter Sprachsituation versteht er „die Beziehung der durch einen bestimmten Zustand charakterisierten Sprache (oder eines Teils von ihr) zu anderen Sprachen oder zu einem anderen Teil derselben Sprache, wobei diese Beziehung in verschiedenen Formen räumlicher und sozialer Wechselwirkung auftritt." Den Begriff Sprachsituation sieht er also als Ausdruck syntagmatischer Beziehungen zwischen Sprachen und ihren Teilen an, wäh4
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rend er den „Sprachzustand" (Gesamtheit aller Arten von Sprachvariabilität ) als Ausdruck paradigmatischer Beziehungen auffaßt. Sprachzustand und Sprachsituation sind die allgemeine Grundlage und Ursache f ü r die Organisation des „äußeren (funktionalen) Systems", das er folgendermaßen definiert: „Alle Arten der Differenzierung (Variabilität) von Sprache, die unter Einwirkung äußerer (zeitlicher, räumlicher, sozialer) Faktoren entstehen und diese oder jene Funktion in einem Sozium haben, bilden das äußere (funktionale) System einer bestimmten Sprache in einer bestimmten Periode" (ebenda S. 29). 2.2. In diesen Definitionen sind unter differierenden Bezeichnungen drei Grundkomponenten des komplexen Begriffs Sprachsituation enthalten, die von der heutigen tschechischen Theorie der Literatursprache hervorgehoben und bei der Arbeit mit diesem Begriff zueinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. A. J E D L I Ö K A 1975, 1976 und 1978a; V. B A E N E T 1977): (a) die Gemeinschaft der Sprachbenutzer (b) die Sprache (c) das Kommunikationskontinuum. Jede dieser Komponenten ist wiederum komplex und muß in sich differenziert werden: (a) Die Gemeinschaft der Sprachbenutzer ist die Gesamtheit der Bevölkerung eines Staates, einer politisch-administrativen Einheit oder eines Territoriums. Sie kann zu einer oder zu mehreren ethnischen Gemeinschaften gehören. Der Begriff Gemeinschaft der Sprachbenutzer ist dabei eine historische Kategorie, d. h. er bezieht sich auf eine Gemeinschaft von Menschen, die während eines bestimmten Zeitabschnitts in politische, soziale, ökonomische und kulturelle Integrationsprozesse einbezogen sind. Der Rahmen für diese Integrationsprozesse ist ein Staat, eine politisch-administrative Einheit oder ein Territorium. Die Gemeinschaft der Sprachbenutzer ist in sich sozial und regional sowie der Tätigkeit nach differenziert, auch die Generationsunterschiede spielen eine Rolle. Für die Gemeinschaft der Sprachbenutzer wird von einigen Sprachwissenschaftlern auch der Terminus Socium verwendet (vgl. G. V. S T E P A N O V 1976, S. 33). Entsprechend der Unterscheidung von Kommunikation und sprachlichem Zeichensystem (Kode) kann die Gemeinschaft der Sprachbenutzer unterschieden werden in „Kommunikationsgemeinschaft" und „Kodegemeinschaft". Bei dem Begriff „Kommunikationsgemeinschaft" wird betont, daß es sich um kooperativ verbundene Menschen handelt, die miteinander sprachlich kommunizieren, weil sie „etwas miteinander zu tun haben" (vgl. „Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft" 1974, S. 537— 46). Bei dem Begriff „Kodegemeinschaft" wird dagegen die Gemeinsamkeit des sprachlichen Zeichensystems hervorgehoben. Eine Kodegemeinschaft ist eine Gruppe von Menschen, die sich im wesentlichen des gleichen sprachlichen Zeichensystems (einschließlich seiner nationalen, funktionalen, sozialen etc.
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Varianten) bedient (vgl. J . SCHARNHORST 1980b). Beim Begriff „Kommunikationsgemeinschaft" wird also nichts darüber ausgesagt, ob diese Gemeinschaft sich eines oder mehrerer Kodes bedient, beim Begriff „Kodegemeinschaft" bleibt offen, ob die Gruppe, die über ein gemeinsames sprachliches Zeichensystem verfügt, auch tatsächlich miteinander kommuniziert. (b) Unter Sprache ist das sprachliche Zeichensystem einschließlich seiner Subsysteme zu verstehen, das von den Sprachbenutzern der betreffenden Gemeinschaft gebraucht wird. Mit „Sprache" meinen wir hier also sog. „selbständige Sprachen" (z. B. das Deutsche, Englische, Französische, Russische, Tschechische), mit „Subsystemen" vor allem Existenzformen, manchmal auch Funktionalstile. Sprachsituationen können durch eine Sprache charakterisiert sein (dann handelt es sich um eine „unilinguale" Sprachsituation), sie können aber auch durch zwei oder mehr Sprachen bestimmt sein (dann handelt es sich um eine „bilinguale" oder eine „multilinguale" Sprachsituation). Eine im wesentlichen unilinguale Sprachsituation besteht z. B. in Polen. Hier wird von der Gemeinschaft der Sprachbenutzer eine Nationalsprache verwendet, innerhalb derer verschiedene Existenzformen und Funktionalstile zu unterscheiden sind. Dagegen besteht in der Tschechoslowakei eine im wesentlichen bilinguale Sprachsituation, d. h. es werden in der Hauptsache zwei Sprachen verwendet: das Tschechische und das Slowakische. Eine multilinguale Sprachsituation besteht z. B. in Jugoslawien, wo das Serbokroatische, das Slowenische und das Makedonische nebeneinander bestehen. Gelten in einem Staat mehrere Sprachen, so entstehen in den einzelnen Sprachen Bedingungen für Kontakterscheinungen (,Kontaktvarianten'). Will man die gegenwärtige Sprachsituation in den Ländern Europas charakterisieren, so kommt dem Begriff der „Nationalsprache" hervorragende Bedeutung zu (natürlich trifft das zum Teil auch auf außereuropäische Sprachsituationen zu). Aber auch Begriffe wie Muttersprache, Fremdsprache; Mehrheitssprache, Minderheitensprache; Lokalsprache, Regionalsprache, Landessprache, Staatssprache; Nationalitätensprache, zwischennationale Verkehrssprache (Sprache f ü r den Verkehr zwischen Nationalitäten, russ. meznacional'nyj jazyk); internationale Sprache, Weltsprache sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. (c) Das Kommunikationskontinuum oder der „Kommunikationsraum" (nach V. BARNET) wird in einzelne Kommunikationssphären oder Kommunikationsbereiche gegliedert, denen unter sprachstilistischem Gesichtspunkt Funktionalstile entsprechen (Näheres dazu im Abschnitt 5). 2.3. Zu den Komponenten des Begriffs Sprachsituation werden von A. D. S V E J C E R auch die „sozialen Einstellungen, welche die Mitglieder der . . . Sprach- und Kommunikationskollektive zu . . . Systemen und Subsystemen haben" (s. oben S. 49), gerechnet. 4*
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Unter den Einstellungen der Sprachbenutzer zur Sprache sind solche im gesellschaftlichen Bewußtsein verbreiteten positiven oder negativen Bewertungen zu verstehen, die gegenüber bestimmten Sprachen oder Subsprachen bestehen. Diese Erscheinung hat für das Verhältnis der Gemeinschaften von Sprachbenutzern untereinander große Bedeutung. Eine positive Einstellung zu einer Sprache oder Subsprache fördert nicht nur die Kommunikation mit den Benutzern der betreffenden Sprache oder Subsprache, sondern wirkt sich auch günstig für die Übernahme von Ideen und Gedanken, die in der betreffenden Sprache verbreitet sind, aus. Zum Problem der Einstellungen und Bewertungen vergleiche man F. DANES in diesem Band S. 92f. Auch J. SCHARNHORST (1980a, S. 114) rechnet die Bewertungen zu den Merkmalen des Begriffs Sprachsituation. 2.4. Wenn man unter Sprachsituation die allgemeine gesellschaftliche Lage versteht, in der sich die Sprache in einem bestimmten Land oder Territorium während eines bestimmten Zeitabschnitts unter gegebenen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen befindet, so kann diese allgemeine Lage auf der Grundlage der oben behandelten Komponenten folgendermaßen präzisiert werden: Es handelt sich bei der Sprachsituation (a) lim Umfang und Art des Gebrauchs von Sprachen und Subsprachen durch die Gemeinschaft der Sprachbenutzer in verschiedenen Kommunikationsbereichen; ( b ) u m die Beziehungen zwischen den Sprachen und Subsprachen unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Hierarchie sowie ihrer Distribution und Konkurrenz in verschiedenen Kommunikationsbereichen; (c) um Art und Intensität der Einstellungen der Sprachbenutzer zu den Sprachen und Subsprachen (wenn diese Komponente zur Sprachsituation gerechnet wird). Der Begriff der Sprachsituation kann sich sowohl auf die Gegenwart als auch auf einzelne historische Entwicklungsperioden beziehen. Zum Beispiel läßt sich dieser Begriff auch bei der Analyse der Sprachverhältnisse in einem historischen Staatsgebilde wie dem ehemaligen Österreich-Ungarn anwenden. Besonders interessant ist — auf dem Hintergrund der politischen und sozialen Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts — die Charakteristik der slawischen Sprachen in der Zeit der nationalen Wiedergeburt. Es ist erwiesen, daß mit Hilfe dieser Konzeption, d. h. bei Berücksichtigung der Differenziertheit und der Hierarchie der genannten Erscheinungen sowie der Tatsache, daß zwischen ihnen vielfältige Beziehungen bestehen, die Möglichkeit gegeben ist, konkrete Sprachsituationen in ihrer Spezifik und in ihrer inneren Dynamik zu charakterisieren 1 . 1
Man vergleiche z. B. folgende Arbeiten für die Tschechoslowakei: F. DANE§ (1962); A . JEDLIÖKA
(1974, d t . 1978); f ü r d i e S o w j e t u n i o n : J . D . DESERIEV
(1976); f ü r die D D R : J. SCHARNHORST (1978) und (1979); f ü r einige r o m a n i s c h e
L ä n d e r : G. V . STEPANOV (1976).
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2.5. I n dem uns hier interessierenden Zusammenhang kommt es nun darauf an, die Literatursprache in den Rahmen der Sprachsituation einzuordnen. Das heißt, es besteht die Aufgabe, den Platz zu bestimmen, den die Literatursprache im System der Sprachgebilde, insbesondere der Existenzformen der Nationalsprache, einnimmt. Hinzu kommt die Notwendigkeit, die Beziehungen, die zwischen den Existenzformen bestehen, und den Einfluß, den sie aufeinander ausüben, zu untersuchen und dabei die Wirkung der sozialen und kommunikativen Faktoren zu berücksichtigen. Wie bereits oben angedeutet, wurde in den 30er Jahren, als die tschechische Theorie der Literatursprache im Entstehen begriffen war, der Gegensatz zwischen Literatursprache und Volkssprache, die die nichtliteratursprachlichen Existenzformen repräsentierte, in der Polemik sehr zugespitzt, wobei besonders die funktionalen Unterschiede zwischen beiden Existenzformen hervorgehoben wurden. In der heutigen Theorie ist dieser Gegensatz relativiert worden, weil man immer mehr erkannt hat, daß die Stellung der Sprachgebilde im System des Sprachganzen (der Nationalsprache) durch die Differenziertheit und Hierarchie der sozialen und kommunikativen Faktoren modifiziert wird. 3. D a s Wesen der Literatursprache u n d ihre T y p e n 3.1. Ebenso wie zu der Zeit, als das theoretische Interesse für die Literatursprachen erwachte, ist auch heute die Frage nach dem Wesen der Literatursprache1, nach ihrem Umfang und ihrer Abgrenzung gegen die anderen Existenzformen lebendig und aktuell. Das Problem der Abgrenzung der Literatursprache im allgemeinsten Sinne, d. h. einer Abgrenzung mit universaler Geltung, ist in bezug auf die Gegenwart angesichts der Mannigfaltigkeit der gegenwärtigen Sprachsituationen in den verschiedenen politischen, ökonomischen und kulturellen Sphären kompliziert. Und das gleiche trifft auf die Vergangenheit zu, da die historischen Realitäten sich von den heutigen wesentlich unterscheiden, obgleich sie oft mit demselben Terminus bezeichnet werden. 1
Von neueren Arbeiten, die die charakteristischen Merkmale der Literatursprache in ihrem Verhältnis zu anderen Formen der Nationalsprache ausführlich darstellen, sind besonders zu nennen: das die bisherigen Forschungsergebnisse zusammenfassende Kapitel „Die Literatursprache" von M. M. GUCHMANN in dem Werk „Allgemeine Sprachwissenschaft" (1970, dt. 1973); weiter das Buch v o n A . JEDLIÖKA (1974, d t . 1 9 7 8 ) ; die D a r s t e l l u n g der b e g r i f f l i c h e n u n d termin o l o g i s c h e n P r o b l e m a t i k bei D . BROZOVIÖ (1970), d i e A u f s ä t z e v o n F . P . FILIN (1973), (1975) u n d (1979) s o w i e d i e a n r e g e n d e n B e i t r ä g e v o n J . HORECKY ( 1 9 7 7 ) u n d V . KÄISTEK/J. KUCHAÄ ( 1 9 7 8 ) .
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Was den gegenwärtigen Zustand anbelangt, so kann man eine relative Übereinstimmung und Einigkeit in der Abgrenzung der voll entwickelten europäischen Literatursprachen feststellen. Als Literatursprache wird die kultivierte Form der Nationalsprache bezeichnet, die sowohl in geschriebener als auch in gesprochener Form verwendet wird und polyfunktional ist. Offen bleibt die Frage der Einbeziehung der sog. Alltagssprache 1 in die Literatursprache im weiteren Sinne des Wortes. Unter Alltagssprache versteht man in der tschechischen und sowjetischen Linguistik übereinstimmend dasjenige Sprachgebilde, das die eigentlichen Träger der Literatursprache in Äußerungen der einfach kommunikativen Sphäre benutzen, in Äußerungen also, die spontanen, nicht-formellen Charakter haben. Die Beschränkung auf die einfach kommunikative Sphäre ist also das Hauptmerkmal dieses Sprachgebildes, das in die Literatursprache im weiteren Sinne einbezogen wird. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um ein theoretisches Problem, sondern in konkreten Sprachsituationen geht es um die Frage, ob ein solches Gebilde existiert, ob man es objektiv ausgliedern und bestimmen kann. Bei der Bestimmung und Abgrenzung der Literatursprache im Hinblick auf historische Realitäten wird — besonders in der sowjetischen Sprachwissenschaft — der Typ der nationalen Literatursprache von dem Typ der Literatursprache, der vor der Konstituierung der Nation bestand, unterschieden, wobei diese Unterscheidung manchmal auch durch verschiedene Termini unterstrichen wird (vgl. F. P. F I L I N 1975; 1979). Daneben gibt es jedoch auch noch andere Typen von Sprachgebilden, die nur durch einige der Merkmale gekennzeichnet sind, die der Literatursprache der Gegenwart zugesprochen werden, diese Gebilde werden dann mit speziellen Termini bezeichnet, die oft auf eine bestimmte linguistische Tradition beschränkt sind. So wird z. B. der Terminus Kultur spräche oder Kulturdialekt besonders in der polnischen und tschechoslowakischen Linguistik verwendet; man versteht darunter die gesprochene Form der Sprache, die von einer Sprachgemeinschaft in der kulturellen Sphäre vor der Entstehung des Schrifttums benutzt wird (vgl. B. H A V B A N E K 1963, S. 91 ff. und 340). Auch die historischen Erscheinungen, die — besonders im Hinblick auf die historische Entwicklung der Sprachsituation auf dem Gebiet des heutigen Jugoslawien — als Literatur dialekt (engl, literary dialect) oder regionale Literatursprache bezeichnet werden (vgl. R. A U T Y 1978, S. 197), weisen nicht alle Merkmale auf, die der Literatursprache der Gegenwart zugesprochen werden. 1
Das zugrunde liegende tschech. hovorovy jazyk wird entsprechend der für diese Publikation festgelegten Terminologie (vgl. Teil 1, S. 21 u. 157) stets durch Alltags(literatur)sprache wiedergegeben. In anderen Übersetzungen erscheint dafür „Konversationssprache" (vgl. A. JEDLIÖKA 1978, S. 60).
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D. BBOZOVIC definiert die Standardsprache 1 als autonome Form der Sprache, die normiert und polyfunktional ist; sie entsteht, wenn eine ethnische oder nationale Gemeinschaft, die sich der internationalen Zivilisation angeschlossen hat, ihr Idiom, das bis zu dieser Zeit nur den Bedürfnissen der ethnischen Zivilisation gedient hat, umfunktioniert. J . HOHECKY hat in dem genannten Aufsatz versucht, die sog. Standardform von der traditionellen Literatursprache zu unterscheiden (der Terminus Standardform, Standardsprache wird bei ihm also mit anderer Bedeutung verwendet als bei BBOZOVIC). Die Standardform wird als ein Sprachgebilde charakterisiert, das sehr verbreitet ist und durch einen hohen Grad der Normiertheit gekennzeichnet ist, der Kodifizierung jedoch weniger zugänglich ist. I m Vergleich zur Standardform wird die Literatursprache als hochkultiviertes Sprachgebilde angesehen, das in der Bewertung den höchsten Rang einnimmt (vgl. unten S. 61). 3.2. Nachdem das Wesen der Literatursprache, ihre Eigenschaften und die charakteristischen Merkmale des Begriffs geklärt waren, wurde es möglich, den Begriff Typ der Literatursprache zu konstituieren. Um ihn bemüht sich eine neue Disziplin, die Typologie der Literatursprachen. Diese Disziplin beschränkt sich meist darauf, verwandte Sprachen (z. B. die slawischen, germanischen oder romanischen) zu untersuchen. Die Zugehörigkeit zu einem T y p der Literatursprache wird auf Grund funktionaler Merkmale bestimmt, während die klassische Typologie konkrete Sprachen den einzelnen Typen auf Grund von strukturellen Merkmalen zuordnete. In den letzten Jahren sind einige Versuche unternommen worden, Typen von Literatursprachen herauszuarbeiten. Sie unterscheiden sich hauptsächlich in der Zahl der charakteristischen Merkmale und ihrer Zusammenfassung zu Gruppen. Manche dieser Merkmale wurden bereits in den Arbeiten B. H A V B A N E K S ( 1 9 6 3 , S. 9 0 , 328, 337, 345), die der konfrontativen Charakteristik der slawischen Literatursprachen gewidmet sind, erwähnt. D. BBOZOVIC (1970, S.43ff.) arbeitet z. B . m i t 15 Merkmalen und auf Grund der Tatsache, daß ein bestimmtes Merkmal vorhanden ist oder fehlt, kommt er zu 30 Oppositionspaaren. Es handelt sich meistens um Merkmale diachronischen Charakters, wie Dauer der literatursprachlichen Tradition 2 , ununterbrochene Entwicklung oder unterbrochene Entwicklung der Literatursprache, Verhältnis der Literatursprache zur nichtliteratursprachlichen Grundlage (vom diachronischen Standpunkt aus handelt es sich darum, ob die Literatursprache auf dialektaler oder interdialektaler Grundlage ent1
2
Ähnlioh wie einige andere L i n g u i s t e n b e v o r z u g t er diesen T e r m i n u s w e g e n seiner angeblichen E i n d e u t i g k e i t . A u f Grund dieses Merkmals wird z. B . in der s o w j e t i s c h e n L i n g u i s t i k z w i s c h e n s t a r o p i s ' m e n n y e j a z y k i (Sprachen m i t alter Schrifttradition) und m l a d o p i s ' m e n n y e j a z y k i ( S p r a c h e n m i t junger Schrifttradition) unterschieden.
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standen ist, ob diese Grundlage homogen oder nicht homogen war) usw. Es sind jedoch auch synchronische (oder synchronisch-diachronische) Merkmale vertreten, wie das Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache, der Grad der Polyfunktionalität usw. Im Unterschied zu D. BROZOVIC, der sich auf die slawischen Literatursprachen beschränkt, setzt M. M. G U C H MANN (1970, S. 544f., dt. 1973, S. 452f.) auch solche Merkmale an, die es ermöglichen, Sprachen aus anderen Gruppen, und zwar auch aus der Periode vor der Konstituierung nationaler Literatursprachen, typologisch zu charakterisieren. A. J E D L I Ö K A (1975, S. 118f.) geht bei der Systematisierung der Typen von den Komponenten des Begriffs Sprachsituation aus. Auf dieser Grundlage kommt er bei den Literatursprachen der Gegenwart zu vier jeweils in Oppositionspaare gegliederten Haupttypen. Als Merkmale dieser vier Haupttypen fungieren: (1) Das Verhältnis der Literatursprache zu den nichtliteratursprachlichen Existenzformen. Dabei spielen auch deren Zahl und hierarchische Gliederung eine Rolle. (2) Die Zahl und hierarchische Stufe der selbständigen funktionalen Stiltypen und Stilschichten. (3) Das Verhältnis der Mitglieder der Sprachgemeinschaft und ihrer sozialen Schichten zur Literatursprache. Und (4) das Vorhandensein spezieller Kontaktbedingungen und der sich daraus ergebenden Kontaktvarianten. Einen anderen Ausgangspunkt wählt V. B A R N E T ( 1 9 7 6 , S. 6 2 ) . Er überträgt die soziologische Klassifikation der vier Typen des Standards auf die Klassifikation der Typen von Literatur- und Standardsprachen. So unterscheidet er den universalistischen, den integrativen, den intentionalen und den resistenten Typ der Literatursprache. Außer bei V. B A H N E T erfolgt bei allen erwähnten Klassifikationen die Zuordnung der Literatursprachen zu verschiedenen Untertypen nach dem Vorhandensein charakteristischer, für sie also spezifischer Merkmale. Im Gegensatz zur strukturellen Typologie, die mit einer geringen Zahl von Haupttypen von universaler Geltung arbeitet, ist es durch Kombination der Merkmale bei der funktionalen Typologie eher möglich, die Mannigfaltigkeit der Literatursprachen herauszuarbeiten und die Spezifik einzelner von ihnen festzustellen. Das erweist sich besonders bei der Klärung einiger aktueller Probleme der gegenwärtigen literatursprachlichen Norm und ihrer Kodifikation sowie bei deren konfrontativer Untersuchung als wichtig und nützlich. Die Eigenschaften und Merkmale der Literatursprache, die in die typologischen Klassifikationen eingegangen sind, bestimmen in hohem Maße auch die literatursprachliche Norm.
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4. Die literatursprachliche Norm 4.1. Der Begriff der Norm ist keinesfalls auf die Literatursprache beschränkt; jedoch wurde er im Zusammenhang mit der Klärung allgemeiner theoretischer Probleme der Literatursprache ausgearbeitet. In der tschechischen Linguistik geschah das gleich in den Anfängen der sich neu entwickelnden Theorie der Literatursprache, besonders in den Arbeiten von B. H A V K Ä N E K (1932, S. 33f.; deutsche Ubersetzung Teil 1, S. 104f.). Sein Verdienst ist es, daß diese Problematik 1936 auf dem höchsten sprachwissenschaftlichen Forum, dem Internationalen Linguistenkongreß in Kopenhagen zur Sprache kam (vgl. HAV B A N E K 1938; siehe Teil 1, S. 142f.). Seitdem ist die Normproblematik in verschiedenen linguistischen Zentren weiter bearbeitet worden, und es liegen viele zusammenfassende Arbeiten vor. Der Begriff Norm gehört heute zu den zentralen Begriffen der Theorie der Literatursprache, und allgemeine Probleme der Norm sind heute in der Linguistik ebenso aktuell wie die Charakteristik der Norm konkreter Literatursprachen. Schon B. H A V R A N E K hat mit Recht betont, daß man die literatursprachliche Norm nicht mit dem Usus identifizieren darf. Die Unterscheidung von Norm und Usus ist zwar prinzipiell klar, bis jetzt ist jedoch noch nicht befriedigend geklärt, auf Grund welcher objektiven Kriterien konkrete literatursprachliche Normen, die kodifiziert werden sollen, zu bestimmen sind. Daneben stand das Problem der Unterscheidung von Norm und System im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Inzwischen ist die allgemeine Problematik der Norm unter verschiedenen Aspekten weiter untersucht worden. Man vergleiche die Übersicht und die Literaturangaben bei A. J E D L I Ö K A (1974, S. 52; 1978, S. 62). 1 Es werden Begriffe und Termini wie reale Norm, Gebrauchsnorm, kodifizierte Norm, deskriptive, präskriptive Norm unterschieden (vgl. z. B. H. F A S S K E , D. B R O Z O V I C U. a. im Sammelband „Problemy normy v slavjanskich literaturnych jazykach v sinchronnom i diachronnom aspektach", 1976). Für die Prager Theorie der Literatursprache ist kennzeichnend, daß sie Norm und Kodifikation als korrelative Begriffe auffaßt. Die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen läßt sich folgendermaßen charakterisieren: (a) Die Norm ist eine sprachlich-soziale Kategorie, die jedem Sprachgebilde eigen ist; auch der Dialekt besitzt eine Norm. Die Kodifikation bezieht sich dagegen nur auf die Literatursprache; die Norm des Dialekts wird zwar wis1
Nachzutragen sind bei dieser Übersicht: die Arbeiten von D. NERITTS (1967) und (1975); die Ausführungen zur Norm in den „Theoretischen Problemen der Sprachwissenschaft" (1976) S. 451 f. und 6 4 6 f . ; der Band „Normen in der sprachlichen Kommunikation" (1977), darin insbesondere der Beitrag von W . HÄRTUNG; der Diskussionsbeitrag von P . SUCHSLAND (1978) sowie die Ausführ u n g e n bei D . NEBITJS/J. SCHARNHORST ( 1 9 8 0 ) .
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senschaftlich beschrieben, aber nicht kodifiziert. Die Kodifiziertheit ist eines der kennzeichnenden Grundmerkmale der hochentwickelten europäischen Literatursprachen der Gegenwart. Die Kodifikation der Literatursprache wird in Regeln u n d Vorschriften niedergelegt, die in H a n d b ü c h e r n enthalten sind; ihr Ziel ist es, den Gebrauch der Literatursprache in der K o m m u n i k a tionspraxis zu steuern. Die Tätigkeit des Kodifizierens ist d a r u m ein wichtiger Bestandteil der B e m ü h u n g e n der Linguisten um die Literatursprache; diese Tätigkeit gehört zur Sprachkultur. (b) Die Norm existiert objektiv im Sprachgebilde u n d ist mit dessen Gebrauch in der Gesellschaft v e r b u n d e n ; sie wird von den Sprachbenutzern als verbindlich e m p f u n d e n u n d akzeptiert. Die Kodifikation ist ein K o m p l e x von Regeln, die f ü r den Gebrauch der Literatursprache aufgestellt werden u n d deren E i n h a l t u n g von der betreffenden Sprachgemeinschaft gefordert wird. (c) Die Sprachnorm ist eine historisch veränderliche Größe, wobei die Veränderungen bei jeder lebendigen Sprache ununterbrochen vor sich gehen; der Charakter u n d das Tempo der Veränderlichkeit hängen von den sozialen u n d k o m m u n i k a t i v e n Bedingungen ab, unter denen die Literatursprache verwendet wird. U n t e r synchronischem Aspekt spiegelt sich diese Eigenschaft der Norm als dynamische S p a n n u n g innerhalb der Norm, als ihre synchronische D y n a m i k wider. Diese S p a n n u n g ist das Ergebnis von b e s t i m m t e n E n t wicklungsprozessen u n d -tendenzen; aus ihr ist auch ablesbar, welcher Art die Voraussetzungen sind, auf denen die weitere Entwicklung a u f b a u e n k a n n . — Die Kodifikation bleibt dagegen von ihrem I n k r a f t t r e t e n an f ü r bestimmte Zeit unveränderlich; Veränderungen werden von Zeit zu Zeit unter dem Druck der sich ändernden literatursprachlichen Norm vorgenommen. D a m i t diese unterschiedlichen Eigenschaften von Norm u n d Kodifikation, die sich aus ihrem Wesen ergeben — ununterbrochene Veränderlichkeit der Norm u n d etappenweise d u r c h g e f ü h r t e Änderungen in der Kodifikation — nicht in zu großen Widerspruch geraten, soll die Kodifikation die synchronische Dyn a m i k der Literatursprache erfassen. (d) W a s die Beziehung der literatursprachlichen Norm u n d ihrer Kodifikation in den entwickelten Literatursprachen der Gegenwart b e t r i f f t , so wird die Forderung erhoben, der Kodifikation solle eine umfassende u n d exakte wissenschaftliche Untersuchung der objektiv existierenden N o r m zugrunde gelegt werden. Die Kodifikation ist also von der literatursprachlichen Norm abhängig; von diesem S t a n d p u n k t aus ist sie eine abgeleitete Erscheinung. Aber f ü r jede Kodifikation ist auch die aktive Einwirkung auf die N o r m kennzeichnend. Die Kodifikation h a t immer zum Ziel, die natürliche Entwicklung der N o r m zu steuern u n d zur sog. elastischen Stabilität der Norm (vgl. V. MATHESIUS in Teil 1, S. 89) beizutragen; sie hat also eine regu-
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lierende und stabilisierende Funktion. In bestimmten Entwicklungsperioden konnte sich die Kodifikation nicht an die Norm anlehnen; sie hatte dann normbildende und unifizierende Funktion. 4.2. Immer wichtiger wird es heutzutage, die Einstellungen der Benutzer zur Literatursprache, zu deren Norm und zur Kodifikation sowie zu einzelnen Spracherscheinungen zu ermitteln. Als Kriterium dafür, ob sprachliche Mittel zur Norm der Literatursprache gehören, kann die Tatsache angesehen werden, ob diese Mittel von den Sprachbenutzern und insbesondere von den eigentlichen Trägern der literatursprachlichen Norm akzeptiert werden. Daher trägt die Untersuchung, welche Einstellungen die Sprachbenutzer haben, zur tieferen Erkenntnis der literatursprachlichen Norm und zu ihrer adäquateren Kodifikation bei. Die Einstellungen zu sprachlichen Fragen, d. h. die Ansichten über die Sprachsituation, die Literatursprache und ihre Norm und über verschiedene sprachliche Einzelerscheinungen, finden oft auch in der Öffentlichkeit ihren Ausdruck. Besonders sprachschöpferische Benutzer wie Schriftsteller oder andere Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens äußern sich zu diesem Thema. Zur wissenschaftlichen Erforschung der gegenwärtigen Norm werden jedoch die Einstellungen von Sprachbenutzern aus allen sozialen Gruppen herangezogen, wobei auch Generationsunterschiede und unterschiedliche regionale Herkunft berücksichtigt werden (vgl. z. B. die Monographie „Russkij jazyk po dannym massovogo obsledovanija", 1974). Das Spraehbewußtsein zu ausgewählten Erscheinungen der formalen Morphologie wurde von tschechischen Linguisten im Jahre 1955 bei verschiedenen Gruppen von Benutzern mit Hilfe der Fragebogenmethode untersucht. Umfangreiche Untersuchungen über die Ansichten der Benutzer der tschechischen Literatursprache zu Veränderungen in der Orthographie und zu Inhalt und Gestaltung normativer Sprachhandbücher wurden in den Jahren 1968— 1969 durchgeführt. Eine weitere Untersuchung zur öffentlichen Meinung 1 , die Fremdwörter betraf, folgte 1971 (vgl. dazu den Beitrag von A. T E J N O R in diesem Band). Analog wurde die soziologische Methode zur Feststellung der orthoepischen Norm von Fremdwörtern verwendet (vgl. M. R O M P O B T L 1
Für die Ansichten der Sprachbenutzer zu verschiedenen Fragen der Literatursprache und für ihre Einstellungen zu sprachlichen Erscheinungen habe ich schon vor Jahren die soziologisch motivierte Bezeichnung „öffentliche Meinung über die Sprache" gewählt, und zwar geschah das im Zusammenhang mit der Analyse der Ansichten, die die Hörer der „Sprachecke" des Tschechoslowakischen Rundfunks in ihren Briefen ausgedrückt hatten (vgl. A. JEDLICKA 1947/ 48, S. 143). Dabei habe ich auch darauf hingewiesen, daß es für die Spracherziehung (besonders im Bereich der Muttersprache) wichtig ist, diese Ansichten zu ermitteln.
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u. a. 1973, S. 237). Zur Systematisierung von Einstellungen vergleiche m a n F. DANES in diesem Band S. 93f. Vgl. ferner Teil 1, S. 340. 4.3. Aus dem unterschiedlichen Wesen von Norm und Kodifikation folgt, daß auch dann, wenn die Kodifikation zu der Zeit, da sie in K r a f t gesetzt wird, mit der literatursprachlichen Norm übereinstimmt, sich beide Erscheinungen allmählich auf natürliche Weise auseinanderentwickeln. Darum muß die Kodifikation etappenweise geändert werden. Wenn das jedoch nicht geschieht, häufen sich die unterschiedlichen Elemente an und die akkumulierten Widersprüche zwischen der gültigen Kodifikation und der realen Norm wirken sich negativ auf die Sprachpraxis aus und können zu Störungen im Gebrauch der Sprache führen. Wie schon erwähnt, haben tschechische Linguisten, die in den dreißiger Jahren bei der Geburt der Prager Theorie der Literatursprache Pate gestanden haben, in der damaligen Sprachsituation solche Widersprüche festgestellt und Wege zu ihrer Lösung angedeutet. Auf ähnliche Widersprüche haben später auch Linguisten in anderen Ländern und Forschungszentren hingewiesen und die Beseitigung dieses unerwünschten Zustandes verlangt. Die Anhäufung von Widersprüchen hängt sicherlich auch mit dem raschen Entwicklungstempo der gegenwärtigen Literatursprachen und mit den unter dem Einfluß der sozialen und kommunikativen Faktoren vor sich gehenden Veränderungen in ihrer Norm zusammen. Man denke z. B. an die Umschichtung in der sozialen Zusammensetzung der Träger der Literatursprache, an die wachsende Bedeutung gesprochener Äußerungen in der öffentlichen Kommunikation usw. Aber darin, daß die Linguisten diese Widersprüche feststellen, und in der Forderung, sie zu beseitigen, macht sich der Einfluß neuer Anschauungen auf die Literatursprache geltend. Die Ursachen dieser Widersprüche sind in einzelnen Sprachen verschieden, man kann sie auch in den spezifischen Eigenschaften der gegebenen Sprachsituation sehen. Es gibt jedoch auch Ursachen, die allgemeineren Charakter haben: Ähnlich wie es die tschechischen Linguisten getan hatten, wurde auch mit Bezug auf andere Sprachen darauf hingewiesen, daß sich die gültige Kodifikation nicht auf die wissenschaftliche Untersuchung der gegenwärtigen realen Norm stützt und daß die Kodifikatoren oft ungenaue oder einseitige Kriterien bei der Beurteilung der sprachlichen Mittel angewandt haben. Aisgemeinsamer Mangel vieler Kodifikationen wurde festgestellt, daß sie nicht genügend die Innovationen in der Norm berücksichtigen oder sie nicht richtig bewerten. Das zeugt davon, daß die Kommunikationsbedürfnisse der Gegenwart nicht in genügendem Maße beachtet wurden und daß der dynamische Charakter der Literatursprache und ihrer Norm vernachlässigt wurde. Weiter hat man darauf hingewiesen, daß bei der Untersuchung der Norm zum Zwecke der Kodifikation ein zu enger Kreis von Trägern der Literatursprache gewählt wurde und daß Texte aus einem relativ beschränkten Bereich
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zugrunde gelegt wurden, von dem man annahm, daß sich in ihm die Norm realisiere. Dabei wurde die gesprochene literatursprachliche Praxis oft überhaupt ignoriert. Wie schon gesagt, wurden diese Widersprüche dadurch beseitigt, daß die Kodifikation geändert wurde. Diese Widersprüche haben jedoch auch Versuche angeregt, auf Grund neuer Prinzipien einige Hauptprobleme der Theorie der Literatursprache neu zu lösen, z. B. das Problem von Norm und Kodifikation, die Fragen der Sprachsituation, besonders was das System der Existenzformen innerhalb der Nationalsprache anbelangt. Schon das Prinzip der Varianz der literatursprachlichen Norm, das von Anfang an in der Prager Theorie proklamiert wurde, bot die Möglichkeit, die Innovationselemente, die in die lebendige Norm eingedrungen sind, in stärkerem Maße in die Kodifikation aufzunehmen. Auch dadurch, daß die Alltagssprache als Schicht der Literatursprache aufgefaßt wurde, war die Möglichkeit gegeben, das Repertoire der kodifizierten sprachlichen Mittel zu erweitern, wenn auch ihr Anwendungsbereich stilistisch beschränkt ist. In den letzten Jahren sind weitere theoretisch interessante Vorschläge gemacht worden: Einige polnische Linguisten empfehlen, zwei Stufen der literatursprachlichen Norm zu unterscheiden : a) die rigorose Norm, die sich hauptsächlich auf die traditionellen Mittel der geschriebenen Sprache stützt, und b) die tolerantere Norm, in die in stärkerem Maße die Innovationselemente eingehen, die mit dem raschen Wandel der Literatursprache, besonders auch unter dem Einfluß der geläufig gesprochenen Sprache zusammenhängen. Dadurch hätte sich nach ihrer Meinung der Abstand zwischen der literatursprachlichen Norm — von unserem Standpunkt aus eher zwischen der gültigen Kodifikation — und dem Usus verringert; diejenigen sprachlichen Mittel würden sanktioniert, die im gegenwärtigen Usus zwar sehr verbreitet, bis jetzt jedoch noch nicht kodifiziert sind ( v g l . D . BUTTLEB 1979).
J. HOBECKY (1977,1979 und 1980) versucht, dieselben Probleme mit Hilfe seiner neuen Konzeption der Gliederung der Nationalsprache zu lösen. Von der traditionellen Literatursprache, die die kultivierte, in der Fachliteratur, im Unterricht und in der Belletristik fast ausschließlich verwendete Form der Nationalsprache umfaßt, unterscheidet er, wie oben bereits erwähnt, die sog. Standardsprache (Standardform). Diese Form weist folgende Merkmale auf: Sie unterliegt in geringerem Maße der Kodifikation, nichtkodifizierte Elemente aus Sprachgebilden der Nationalsprache, die unterhalb der Standardform liegen, oder aus fremden Sprachen (Kontaktvarianten) dringen leichter in sie ein. Die von HORECKY vorgeschlagene Lösung ist jedoch keineswegs zwingend. Die von ihm angeführten Beispiele könnte man auch innerhalb einer Norm interpretieren, und zwar als literatursprachliche Varianten. Allerdings beseitigt HOBECKYS Auffassung einige Schwierig-
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keiten, die mit der Breite der Varianzmittel im Rahmen der literatursprachlichen Norm, besonders mit der Wertung konkreter Mittel als alltagsspraehlich verbunden sind. 4.4. Im folgenden wollen wir ausführlicher zwei wichtige Fragen behandeln, die mit den Widersprüchen zwischen der gültigen Kodifikation und der entsprechenden literatursprachlichen Norm sowie mit den Ursachen dieser Widersprüche zusammenhängen: Wer sind die eigentlichen Träger der literatursprachlichen Norm und welche Textbereiche sind der Untersuchung der gegenwärtigen literatursprachlichen Norm zugrunde zu legen? Die Beantwortung beider Fragen hängt unter anderem auch davon ab, ob man den Bögriff der Literatursprache enger oder weiter faßt. 4.4.1. Der Kreis der eigentlichen Träger der literatursprachlichen Norm sowie der breitere Kreis von Benutzern der Literatursprache änderte sich im Laufe der Entwicklung. In der heutigen sozialistischen Gesellschaft werden eigentlich alle Mitglieder der betreffenden Sprachgemeinschaft zu passiven Benutzern der Literatursprache, also zu Empfängern von literatursprachlichen Äußerungen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei auch die Massenkommunikationsmittel. Die sozialistische Gesellschaft ist ständig bemüht, die sozialen oder regionalen Beschränkungen abzubauen, die ihre Mitglieder hindern können, zu aktiven Benutzern der nationalen Literatursprache zu werden. In dieser Richtung wurden bereits beachtliche Erfolge erzielt. Auf die Bildung und Umgestaltung der gegenwärtigen literatursprachlichen Norm üben jedoch einige Benutzergruppen, die zur Sprache vor allem eine berufliche Beziehung haben, entscheidenden Einfluß aus. Für die eigentlichen Träger der literatursprachlichen Norm, d. h. für diejenigen, die die Art und Weise dieser Norm entscheidend beeinflussen, werden vor allem schöpferische Benutzer der Literatursprache gehalten, also Autoren von fachlichen, publizistischen und künstlerischen Äußerungen, und andere Benutzergruppen, die von Berufs wegen eine bestimmte Beziehung zur Literatursprache haben (z. B. bedeutsame Persönlichkeiten des politischen Lebens, Lehrer Redakteure, Publizisten, Rundfunk- und Fernsehsprecher). Die soziale Zusammensetzung dieser eigentlichen Träger der literatursprachlichen Norm ändert sich allerdings heutzutage und spiegelt die soziale Bewegung in einer sozialistischen Sprachgemeinschaft wider. Die veränderte Auffassung von der sozialen Zusammensetzung der eigentlichen Träger der literatursprachlichen Norm macht sich besonders bei der Untersuchung der gegenwärtigen Aussprachenorm (Orthoepie) bemerkbar. Was das Tschechische angeht, so ist die Aussprachenorm nicht mehr ausschließlich an Prag als das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum gebunden, und es wird auch nicht mehr gefordert, wie es früher oft der Fall war, daß die Träger der Aussprachenorm einer ganz bestimmten sozialen
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Schicht angehören. Die Grundlage dieser Norm ist nicht mehr auf die Aussprache der Prager gebildeten Schichten beschränkt (vgl. Vyslovnost spisovne cestiny 1, Praha 1955, S. 10). 4.4.2. Auch hinsichtlich der Textbereiche (funktionalen Stilsphären), von denen man annahm, daß sich die literatursprachliche Norm hauptsächlich in ihnen realisiere, die also die Grundlage für ihre Untersuchung bilden konnten, hat sich ein Wandel der Anschauungen vollzogen. Für dominierend wurden in einigen historischen Etappen (mit Unterschieden in einzelnen Traditionen) künstlerische Texte gehalten, wenn auch teilweise andere, z. B. administrative oder wissenschaftliche Texte berücksichtigt wurden. Übereinstimmend verschiebt sich in den modernen europäischen Literatursprachen der Schwerpunkt bei der Untersuchung der Norm auf Fachtexte und publizistische Texte (vgl. z. B. H. E G G E R S 1969). Der Grund liegt darin, daß die Bedeutung der fachlichen Sphäre im Leben der Gegenwart wächst: Wissenschaft und Technik beeinflussen im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution alle Bereiche unseres Lebens. Ähnliches gilt für die Massenkommunikationsmittel, die mit ihrer immer breiteren und intensiveren Wirkung auch sprachlich einen bedeutenden Einfluß ausüben. Diese Wirkung ist keinesfalls auf Äußerungen der geschriebenen Publizistik (in Zeitungen) beschränkt, wie es früher der Fall war, sondern auch die gesprochene Publizistik (im Rundfunk, im Fernsehen und im Film) hat erheblichen Anteil daran. Deshalb geht man bei der Charakteristik von Literatursprachen der Gegenwart und bei der Untersuchung ihrer Dynamik immer mehr von Fachtexten, besonders auch von populärwissenschaftlichen, und von (schriftlichen wie mündlichen) Texten der Publizistik aus. Daß künstlerische Texte als Quelle bei der Erforschung der gegenwärtigen literatursprachlichen Norm nur in beschränktem Maße herangezogen werden, hängt auch mit dem Charakter der heutigen Belletristik zusammen, mit dem häufigen Vorkommen von umgangssprachlichen Ausdrücken und Slang in der Prosa der Gegenwart. Trotzdem darf die Wirkung, welche die Sprache der Belletristik von heute auf die Entwicklung der Literatursprache ausübt, nicht ignoriert werden. Die Sprache der künstlerischen Texte stellt die Verbindung zu den reichen sprachkulturellen Traditionen her und gleicht so eine gewisse sprachliche Einseitigkeit der Sachprosa aus. 4.5. Aus der Entscheidung, wer als eigentlicher Träger der literatursprachlichen Norm anzusehen ist und auf welche Textbereiche bei der Erforschung dieser Norm der Schwerpunkt gelegt wird, ergeben sich auch Konsequenzen f ü r den Charakter der Norm. 4.5.1. Als bestimmendes Merkmal der Literatursprache wird vielfach ihre Einheitlichkeit angesehen. Auch die Norm der Literatursprache gilt dann im Prinzip als einheitlich. Vorausgesetzt ist dabei, daß die betreffende Literatursprache innerhalb der Grenzen eines Staates, einer bestimmten nationalen
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Kommunikationsgemeinschaft als gesamtgesellschaftlicher Kode dient. Wenn man in diesem Sinne von einer Einheitlichkeit der Literatursprache und der literatursprachlichen Norm spricht, so handelt es sich dabei um eine relative Einheitlichkeit, bei der von funktional, regional und sozial bedingten Unterschieden und entsprechenden Varianzmitteln (Dubletten, selten Tripletten) abstrahiert wird. I n einigen Fällen kann man Sprachvarianten im Rahmen einer Literatursprache annehmen, d. h. diese Literatursprache hat sog. „nationale Varianten". 1 I m Laufe der historischen Entwicklung haben sich verschiedene Nationen herausgebildet, die sich einer ihrer historischen Grundlage nach gleichen Literatursprache bedienen. Und diese Literatursprache hat unter dem Einfluß unterschiedlicher politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Faktoren, die die Grundlage für die Entstehung unterschiedlicher Nationen bildeten, teilweise unterschiedliche Normen entwickelt. Das Besondere der literatursprachlichen Norm besteht in diesem Falle also darin, daß sie in verschiedene, relativ geschlossene Komplexe von Varianzmitteln gegliedert ist, von denen jeder eine spezifisch nationale Geltung hat. Als Beispiele sind z. B. die nationalen Varianten der deutschen Literatursprache 2 , der englischen und spanischen anzuführen. Im Bereich des Slawischen spricht man von zwei Varianten der serbokroatischen Literatursprache. 4.5.2. Einzelnen Varianzmitteln begegnen wir in der Norm aller Literatursprachen. Diese Varianz gilt sogar als konstitutives Merkmal jeder Norm. Zwischen den einzelnen Literatursprachen bestehen jedoch Unterschiede im Umfang der Varianz und in ihrem Charakter. Der Umfang der Varianz ist von vielen Faktoren abhängig; unter anderem hängt er auch mit dem Typ der Literatursprache und mit ihrer Abgrenzung zusammen (Wer sind die eigentlichen Träger der literatursprachlichen Norm und in welchen Textbereichen wird sie realisiert?). I n welchem Maße Varianzmittel in die Kodifizierung Eingang finden, hängt auch davon ab, wie sich die betreffende linguistische Theorie (speziell die Theorie der Literatursprache) zum Prinzip der Varianz in der literatursprachlichen Norm stellt. Wie bereits oben erwähnt, ist gerade die Durchsetzung des Prinzips der Varianz bei der Kodifizierung einer der Wege, auf denen die Widersprüche zwischen der realen Norm und der gültigen (oft veralteten) Kodifikation gelöst werden können. 1
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Zum Problem, „ob es sich um eine gemeinsame Literatursprache für zwei Nationen oder jeweils um zwei Varianten ein und derselben Literatursprache oder gar um zwei verschiedene nationale Literatursprachen handelt", vgl. M. M. GTJCHMAN- (1970) S. 541 f; dt. (1973) S. 449f. Mit Bezug auf Lateinamerika vgl. G . V. S T E P A N O V (1960). Vgl. E . R I E S E L (1970) S . 17f. ; R . B O C K u . a . (1973); G . L E B C H N E B (1974) S. 265; A . I. D O M A § N E V (1978) S. 21 f.; G. F E U D E L (1978) und (1979).
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Der Problematik der Varianten und der Varianz wird in der Linguistik und speziell in der Theorie der Literatursprache heute große Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. A. H E I N Z 1974; A. J E D L I Ö K A 1977; D. B B O Z O V I C 1969; K . S. G O B B A Ö E V T Ö 1975 u. a.). Der Terminus Variante bezeichnet einerseits einzelne Varianzmittel1, andererseits ganze Komplexe von Varianzmitteln.2 Die Komplexe von Varianzmitteln, die sog. Sprachvarianten, sind für die Soziolinguistik von besonderem Interesse. 4.5.3. Zwischen den Varianzmitteln innerhalb und außerhalb der literatursprachlichen Norm gibt es Beziehungen und Parallelen: Regional bedingte Varianzmittel der Literatursprache entstammen einem Dialekt, noch häufiger einem Interdialekt oder der regionalen Sprachvariante eines noch größeren Gebietes; sie werden meistens als regionale, territoriale bzw. lokale Varianzmittel der Literatursprache bezeichnet. Der Fachstilschicht angehörende Varianzmittel der Literatursprache haben in vielen Fällen ihren Ursprung und ihre Entsprechung in den sozialen Sprachvarianten (Soziolekten), z. B. in den Berufssprachen. Generationsbedingte Varianzmittel der Literatursprache haben ihre Parallele in den Sprachvarianten (Soziolekten) bestimmter Altersgruppen. Dazu sind zu rechnen die Sprache der jüngeren, der mittleren und der älteren Generation und auch die „Jugendsprache".3 Diesen Gruppen von Varianzmitteln, die von ihrem Ursprung her an bestimmte Gruppen von Sprachbenutzern gebunden sind, lassen sich auch die sog. Kontaktvarianten (Kontaktvarianzmittel) zuordnen. Sie sind durch den direkten Kontakt der Benutzer verschiedener Sprachen entstanden, unter bestimmten Kontaktbedingungen, zu denen vor allem der Gebrauch von zwei oder mehr Nationalsprachen in einem Staat gehört. Die vom genetischen Standpunkt aus innerhalb der Literatursprache erfolgende Unterscheidung zwischen historischen (chronologischen), regionalen und sozialen Varianten sowie die Annahme von Kontaktvarianten wurde in der Slawistik allgemein akzeptiert (vgl. z. B. den Sammelband „Wariancja normy we wspölczesnych slowianskich j§zykach literackich", 1977). Die ge1
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D. B R O Z O V I Ö (1969) bevorzugt für diese Bedeutung von Variante den Terminus Dublette. Wegen der Mehrdeutigkeit des Terminus Variante wird für diese Bedeutung auch der Terminus Sprachvariante gebraucht. Auch Variette wird — teilweise unter dem Einfluß der englischen Terminologie — in diesem Sinne verwendet ( v g l . J . V A C H E K 1977, S. 81).
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Anregungen dazu, die literatursprachliche Norm unter dem Gesichtspunkt der Generationsschichtung zu betrachten, gab schon V . M A T H E S I U S (1910, S. 258), der mit Bezug auf das moderne Englische von Generationsdialekten sprach. Dem Sprachbewußtsein der mittleren Generation von 35 bis 50 Jahren maß er die größte Bedeutung bei.
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n a n n t e n Unterscheidungen finden jedoch auch vom synchronischen S t a n d p u n k t aus ihre Widerspiegelung, und zwar in der Funktionalstilistik. Die historischen, regionalen, sozialen usw. Varianten der Literatursprache sind stilistisch merkmalhaltig, d. h. markiert. Historische, regionale, soziale usw. V a r i a n t e n sind unter stilistischem Aspekt sprachliche Mittel mit einer bes t i m m t e n Stilfärbung (vgl. unten S. 69) 1 Auch die K o n t a k t v a r i a n t e n können vom synchronischen S t a n d p u n k t aus ein spezifisches stilistisches Merkmal h a b e n ; sie werden oft als expressive Mittel oder als buchsprachliche Mittel bewertet, manche von ihnen sind auch für die publizistische Stilschicht charakteristisch (z. B . die Slowakismen im Tschechischen). 4.5.4. Die E x i s t e n z von Varianzmitteln in der literatursprachlichen Norm ist in hohem Maße Ausdruck der historischen D y n a m i k der Norm, j a m a n k a n n sagen, daß die Entwicklung der Norm mittels der Varianten verläuft. Varianzmittel treten meistens als D u b l e t t e n (als P a a r ) auf. Vom synchronischen S t a n d p u n k t aus ist das Verhältnis zwischen den D u b l e t t e n unterschiedlich. 2 Der F a l l , daß beide E l e m e n t e der D u b l e t t e völlig gleichwertig und überall austauschbar, also ohne irgendeinen stilistischen oder anderen Unterschied sind, begegnet selten; meist ist ein E l e m e n t grundlegend, zentral, das andere hingegen peripher (zu den Begriffen Zentrum und Peripherie vgl. F . DANE§ in diesem B a n d S . 132 f.). Vom diachronischen S t a n d p u n k t a u s dringt das periphere E l e m e n t entweder neu in die Norm ein, oder es schwindet allmählich, d. h. es hört auf, B e s t a n d t e i l der gegenwärtigen Norm zu sein. Neu in die Norm eindringende E l e m e n t e sind ebenso wie schwindende E l e m e n t e im Vergleich zum stilistisch neutralen Grundelement einer D u b l e t t e gewöhnlich stilistisch m e r k m a l h a l t i g ; eindringende E l e m e n t e haben m a n c h m a l das Merkmal „alltagssprachlich", schwindende das Merkmal „buch1
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Die Frage, ob Stilfärbungen sprachlicher Mittel, z. B. von Wörtern, absolut oder relativ sind, ist kompliziert. Die Erfahrung zeigt, daß aktive Benutzer der Literatursprache, die in bezug auf Alter, regionale Herkunft, soziale Charakteristik usw. übereinstimmen, auch in der stilistischen Bewertung sprachlicher Mittel weitgehend übereinstimmen. Wird also eine in sich homogene Schicht von Sprachbenutzern angenommen, kann man von einer absoluten Stilfärbung sprechen. Bei Sprachbenutzern, die z. B. eine unterschiedliche regionale Herkunft haben, kann die stilistische Bewertung differieren. In diesem Falle sprechen wir von relativer Stilfärbung. So werden regionale Varianten von den Sprachbenutzern, die diese Varianten aus dem Usus ihrer Heimatlandschaft nicht kennen, oft als buchsprachlich gewertet, während sie von anderen, denen diese Varianten aus dem Usus ihrer Heimatlandschaft bekannt sind, oft als neutral empfunden werden. Vgl. die Bearbeitung der Varianzmittel im Bereich der formalen Morphologie d u r c h B . HAVRÄNEK/A. J E D L I Ö K A ( 1 9 7 0 ) .
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sprachlich". Das Merkmal „alltagssprachlich" bei neu eindringenden Dubletten ist gewöhnlich dadurch bedingt, daß sie in die literatursprachliche Norm aus der Umgangssprache gelangen. Das Einwirken der Umgangssprache auf die Literatursprache auf breiter Front kann zur Zeit als allgemeiner Zug der Sprachsituation entwickelter Länder angesehen werden. Neu eindringende Elemente, deren Anwendung zunächst oft stilistischen Beschränkungen unterliegt, werden allmählich stilistisch neutralisiert. Das Ergebnis dieses Prozesses kann sein, daß die Dubletten eine bestimmte Zeit lang völlig gleichwertig nebeneinander stehen, d. h. sich weder in der Frequenz noch in der Stilfärbung unterscheiden, oder aber, daß das aus der Umgangssprache eingedrungene Element stilistisch neutral ist, während das ursprünglich neutrale Element in die buchsprachliche Schicht abgedrängt wird. Darin kommt die Tendenz zum stilistischen Gleichgewicht der sprachlichen Mittel zum Ausdruck. Das Prinzip der Varianz der literatursprachlichen Norm und ihrer Widerspiegelung in der Kodifizierung wird im allgemeinen heute in der Linguistik akzeptiert, auch wenn es Unterschiede zwischen einzelnen Schulen und Ländern gibt. Probleme treten jedoch auf, wenn es darum geht, Varianzmittel als Bestandteile der gegenwärtigen literatursprachlichen Norm konkret festzulegen, besonders wenn neu aufkommende Varianzmittel Eingang in die Kodifizierung finden sollen. Bei der Entscheidungsfindung bedient man sich auch statistischer Methoden (vgl. z. B. „Russkij jazyk po dannym massovogo obsledovanija" 1974). Dagegen stehen die Benutzer der Literatursprache der Varianz und der Kodifizierung der Dubletten bisher sehr oft ablehnend gegenüber. Eine Rolle spielt dabei manchmal auch die Befürchtung, die Linguisten seien in Fragen der Norm und der Kodifizierung zu nachgiebig. 1 Fest steht jedoch, daß die Varianzmittel in der literatursprachlichen Norm aufs Ganze gesehen eine Randerscheinung darstellen, denn die grundlegende Eigenschaft dieser Norm ist ihre Einheitlichkeit.
5. Die stilistische Differenzierung der Literatursprache 5.1. Die Unterscheidung von stilistisch merkmalhaften und stilistisch merkmallosen (neutralen) sprachlichen Mitteln, die wir besonders (z. B. im Tschechischen) bei den phonologischen, morphologischen und lexikalischen Mitteln feststellen, ist nicht der einzige Ausdruck der stilistischen Differenzierung der 1
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In der sowjetischen Sprachwissenschaft wird von einem „antinormativen" Verhalten der Linguisten gesprochen. Vgl. „Aktual'nye problemy kul'tury reöi" (1970).
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Literatursprache. Für die Literatursprache, die ihrem Wesen nach polyfunktional ist, ist gerade die Herausbildung funktionaler Stile charakteristisch. Sie bilden schon seit dem Auftreten der Prager funktionalen Linguistik einen wichtigen Bestandteil der Theorie der Literatursprache. In der ursprünglichen Klassifizierung von B. H A V R Ä N E K (1932, dt. Übers. Teil 1, S. 127f.) wurden funktionale Sprachen und funktionale Stile unterschieden. Unter der Bezeichnung funktionale Sprachen sind Kategorien aufgeführt, die heute als funktionale Stile ausgegliedert und bezeichnet werden: Alltags(Gesprächs-, Konversations-)sprache, Sach- (Arbeits-)sprache, Wissenschaftssprache, Dichtersprache. Die Bezeichnung funktionale Stile verwendete H A V R Ä N E K zur Klassifizierung von Erscheinungen anderer Art: Einmal benannte er damit Äußerungstypen, die nach dem konkreten Ziel der Äußerung klassifiziert sind (es handelt sich um solche Erscheinungen, die wir heute als Darstellungsarten, Texttypen, Texttypenstile bezeichnen, z. B. praktische Mitteilung, Nachricht, Aufforderung, fachliche Darstellung usw.), zum anderen Äußerungstypen, die durch die Situation und die Art der Äußerung konstituiert sind (er unterscheidet den Stil privater und öffentlicher sowie den mündlicher und schriftlicher Äußerungen, wobei auch einzelne Texttypen erwähnt werden, z. B. Rede, Diskussion, Verlautbarung usw.). K . H A U S E N B L A S (1963, S. 293) nimmt die Unterscheidung von funktionaler Sprache und funktionalem Stil wieder auf, faßt den Inhalt der beiden Termini aber anders und grenzt sie anders gegeneinander ab: z. B. unterscheidet er Fachsprache und Fachstil. Verallgemeinernd spricht er von stilistischen Modifikationen der Sprache, die für ihn systemhafte Gebilde, Varianten der betreffenden Sprache darstellen (z. B. Fachsprache, Amtssprache, Alltagssprache u. ä.), und von den sog. Ausdrucksstilen, die er als Arten des Textauf baus auffaßt. Die Problematik der funktionalen Stile und ihrer Klassifizierung wird heute in verschiedener Richtung bearbeitet. Als selbständig werden solche Stile ausgegliedert, die früher einem undifferenzierten Ganzen zugerechnet oder gar nicht erwähnt wurden. Auch die Systematik und die hierarchische Ordnung der funktionalen Stile wird behandelt (F. M I K O 1 9 7 0 unterscheidet z. B. primäre und sekundäre Stile, K . H A T X S E N B L A S 1 9 7 3 einfache und komplexe Stile). 5.2. Folgende Begriffe gehören heute zu den Grundbegriffen : Funktionalstil 1 : Sprachliches Subsystem, bei dem ausgewählte Mittel a u s allen Ebenen des sprachlichen Zeichensystems sich zu 1
Vgl. auch V. V. V I N O G R A D O V (1955) S. 73; Bol'saja sovetskaja enciklopedija Bd. 40 (1957) S . 643; B. H A V R Â N E K / K . H O B Ä L E K / V . S K A L I Ö K A / P . T R O S T (1958) S. 51; E. R I E S E L / E . S C H E N D E L S (1975) S. 7, 16; W. F L E I S O H E R / G . M I C H E L (1975) S. 2 3 - 2 7 , 243-267; M. N. K O Z I N A (1977); A. J E D L I Ö K A (1978c) S. 125 und (1980).
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einem spezifischen Ganzen verbinden, das mittels entsprechender Stilnormen die Produktion und Rezeption von Äußerungen und Texten mit einer bestimmten kommunikativen Grundfunktion regelt. Ein Funktionalstil wird von einem bestimmten gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsbereich getragen und dient der Erfüllung eines bestimmten Komplexes von Funktionen, wobei jeweils eine Funktion dominiert. Erläuterungen siehe unten S. 72 f. Stilsphäre:
Menge sprachlicher Äußerungen bzw. Texte, die unter bestimmten stilbildenden Faktoren und aufgrund bestimmter Stilnormen entstehen. Vgl. A. J E D L I Ö K A (1978C, S. 118). Eine Menge sprachlicher Äußerungen bzw. Texte, die zu dem gleichen Funktionalstil gehören, bezeichnen wir als Funktionalstilsphäre. Stiltyp: T y p sprachlicher Äußerungen bzw. Texte, deren Aufbau durch einen bestimmten Komplex von Stilnormen bestimmt wird (vgl. A. J E D L I Ö K A 1978C, S. 120). E . R I E S E L / E . S C H E N D E L S (1975, S . 7) sprechen in ähnlichem Sinne von einem funktionalen Substil (Gattungsstil oder Genrestil, Textsortenstil oder Texttypenstil). Stilschicht: Komplex sprachlicher Mittel (d. h. phonischer, graphischer Mittel sowie von Mitteln auf der morphematischen, lexikalischen u n d syntaktischen Ebene), die stilistisch in gleicher Weise merkmalhaft sind. Vgl. A. J E D L I Ö K A (1978c, S . 120); J . S C H A R N H O R S T (1974). Sprachliche Mittel, die f ü r einen bestimmten Funktionalstil typisch sind, bilden eine funktionale Stilschicht. Stilfärbung: Stilistisches Merkmal eines sprachlichen Mittels (d. h. eines phonischen oder graphischen Mittels sowie eines Mittels auf der morphematischen, lexikalischen oder syntaktischen Ebene). Vgl. E. R I E S E L / E . S C H E N D E L S ( 1 9 7 5 , S. 2 9 ) ; J . S C H A R N H O R S T ( 1 9 7 4 ) . Sprachliche Mittel, die f ü r einen bestimmten Funktionalstil typisch sind, haben funktionale Stilfärbung. Unter semantischem Aspekt wird die Stilfärbung oft als „Konnotation" bezeichnet (vgl. K . B O C H M A N N 1 9 7 4 ) . 5.3. Die Zahl der funktionalen Stile, die in den vorliegenden neuen Klassifizierungsvorschlägen ausgegliedert werden, stimmt nicht überein, aber im allgemeinen wächst sie. I n den stilistischen Arbeiten der Gegenwart werden
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von den meisten Autoren fünf selbständige Funktionalstile angenommen, und zwar: der Stil des öffentlichen Lebens, der Stil der Wissenschaft, der Stil der Publizistik, der Stil der Belletristik und der Alltagsstil. 1 Diese Klassifizierung stellt zweifellos das Grundmodell dar, das der heutigen sprachstilistischen Realität in vielen entwickelten Literatursprachen adäquat ist. Es gab jedoch auch Klassifizierungen, in denen der Stil des öffentlichen Lebens und der Stil der Wissenschaft unter dem Oberbegriff Fachstil zusammengefaßt wurden (z. B. bei B. H A V R A N E K 1 9 3 2 und 1 9 6 9 , dt. 1 9 7 1 ) , sowie Klassifizierungen, die bei der Aufzählung der Funktionalstile einen der angeführten Stile auslassen, und zwar entweder den Alltagsstil oder den Stil der Belletristik. Diese Tatsache deutet an, daß es bei der Zuordnung dieser Stile zu den Funktionalstilen bestimmte Probleme gibt. Das Wesen des Begriffs Funktionalstil ist nur verständlich, wenn man ihn im Zusammenhang mit den Funktionen sieht, die die sprachliche Kommunikation innerhalb der Gesellschaft hat. Sprachliche Kommunikation ist Tätigkeit, und diese Tätigkeit muß in ihrer Einbettung in die menschliche Tätigkeit überhaupt gesehen werden. Die Menschen kommunizieren primär nicht um der Sprache willen, sondern aus den Erfordernissen der gesellschaftlichen Praxis heraus. Nur in diesem Rahmen kann die sprachliche Kommunikation auch relative Selbständigkeit erlangen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft bestehen, die einen Staat darstellt, determinieren mehr oder weniger vermittelt die Funktion und Struktur von Kommunikationsgemeinschaften geringerer Komplexität. Da jede komplexe soziale Einheit in Untereinheiten gegliedert ist, kann m a n innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft Teilbereiche mit spezifischen Funktionen und Strukturen unterscheiden, die als Kommunikationssphären oder Kommunikationsbereiche bezeichnet werden. Solche Kommunikationsbereiche innerhalb einer staatlichen Kommunikationsgemeinschaft sind z. B. die politischen Parteien und Massenorganisationen, die staatliche Verwaltung, die Volksbildung, die Wissenschaft usw. Die Existenz und der Charakter solcher Kommunikationsbereiche sind für die Spezifik einer Sprachsituation von großer Bedeutung. Auch kleine soziale Gruppen wie das Arbeitskollektiv, die Familie und die Freizeitgruppen stellen Kommunikationsgemeinschaften dar. Da diese Gruppen Massencharakter haben, kann man sie im Rahmen der 1
Diese Bezeichnungen stimmen mit denen bei A. J E D L I Ö K A (1978C) S. 122 verwendeten nur teilweise überein. Auch von den deutschen Ä q u i v a l e n t e n im „Slovnik slovanske lingvisticke terminologie" (1977) S. 477—78 w e i c h e n sie teilweise ab. Die oben vorgeschlagene Terminologie ist ein Versuch, sie der in den Handbüchern der deutschen Stilistik (bes. W . F L E I S C H E R / G . M I C H E L 1 9 7 5 und E . R I E S E L / E . S C H E N D E L S 1 9 7 5 ) anzunähern. (Red.)
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Gesamtgesellschaft als Kommunikationsbereiche 1 auffassen. Jeder der genannten Bereiche übt im Rahmen der Gesamtgesellschaft im Sinne der Arbeitsteilung spezifische Funktionen aus, und deshalb hat auch die kommunikative Tätigkeit, die jeder Bereich zur Erfüllung dieser spezifischen Funktionen vollzieht, einen spezifischen Charakter. Die Kommunikation in den einzelnen Bereichen hat in bezug auf ihre gesellschaftlichen Funktionen unterschiedliche Schwerpunkte. Das heißt jedoch nicht, daß die Kommunikation in jedem Bereich nur eine gesellschaftliche Funktion hat. 5.4. Den komplizierten Zusammenhang, der zwischen Kommunikationsbereichen, gesamtgesellschaftlichen Funktionen der Kommunikation und Funktionalstilen besteht, kann man nach J . S C H A R N H O R S T (1981) in einer Tabelle veranschaulichen. Als gesellschaftlicher Hintergrund ist dabei an einen Staat mit entwickelter sozialistischer Gesellschaft gedacht, ohne daß auf ein bestimmtes Land und eine bestimmte Sprachsituation direkt Bezug genommen wird. I n der Einteilung der gesamtgesellschaftlichen Funktionen der Kommunikation, der sog. „Grundfunktionen", folgt die Tabelle dem Buch „Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft" (1974) S. 299—312. In der Tabelle wird eine Auswahl von Kommunikationsbereichen angeführt und dargestellt, welche Grundfunktionen für die Erfüllung der gesamtgesellschaftlichen kommunikativen Aufgaben des betreffenden Kommunikationsbereichs relevant sind. Damit die Relevanz der verschiedenen Grundfunktionen für die einzelnen Kommunikationsbereiche differenzierter dargestellt werden kann, wird eine Skala mit vier Werten benutzt. Die Zahlen bedeuten: die betreffende Funktion ist für die Erfüllung der gesamtgesellschaftlichen kommunikativen Aufgaben des betreffenden Kommunikationsbereiches 0 irrelevant 1 in einem nicht sehr hohen Grade relevant 2 relevant 3 in hohem Grade relevant Die Annahmen über den Grad von Relevanz, den die verschiedenen Grundfunktionen für die einzelnen Kommunikationsbereiche haben, stellen eine Hypothese dar. Welchen heuristischen Wert diese Hypothese hat, kann sich erst aus der Analyse zahlreicher Sprachsituationen ergeben. 1
Mit der hier im Anschluß an das Buch „Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft" (1974) und J. SCHARNHORST (1981) vorgeschlagenen Bestimmung des Terminus „Kommunikationsbereich" als Teilbereich einer „Kommunikationsgemeinschaft" beliebigen Umfangs wird versucht, die Verwendungsweise v o n Kommunikationsbereich bzw. Kommunikationssphäre, wie sie sich bei verschiedenen Autoren herausgebildet hat, auf einen Nenner zu bringen (vgl. V . B A H N E T 1 9 7 7 ; W . F L E I S C H E R / G . M I C H E L 1 9 7 5 , S. 2 4 6 ; E . R I E S E L / E . S C H E N DELS 1 9 7 5 , S . 7 ; L . B . N I K O L ' S K I J 1 9 7 6 , S . 3 7 ; V . A . AVBOBIIT 1 9 7 5 , S . 6 9 - 8 3 ) .
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5.5. Was die funktionalstilistische Differenzierung angeht, so vertritt die Auffassimg, daß die meisten der bekannten fünf Funktionalstile ihr Zentrum im Schnittpunkt von gesamtgesellschaftlich wichtigen Kommunikationsbereichen und Grundfunktionen der sprachlichen Kommunikation haben: Der Stil des öffentlichen Lebens hat seine soziale Basis in erster Linie in den Leitungsorganen innerhalb des Staates und der Verwaltung, der politischen Parteien und der Massenorganisationen; die Kommunikation ist in hohem Grade mit einem direkten gesellschaftlichen Auftrag verbunden; seine Hauptfunktion ist die Leitung und Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Der Stil der Wissenschaft hat seine soziale Basis in erster Linie in den wissenschaftlichen Einrichtungen; die Kommunikation ist in hohem Grade mit einem direkten gesellschaftlichen Auftrag verbunden; seine Hauptfunktion ist die Übermittlung von Erkenntnisgewinn im Interesse der Gesamtgesellschaft. Der Stil der Publizistik hat seine soziale Basis in erster Linie in der gesellschaftlich-politischen Tätigkeit, besonders in den Massenmedien (Presse, Rundfunk, Fernsehen); die Kommunikation ist in hohem Grade mit einem direkten gesellschaftlichen Auftrag verbunden; seine Hauptfunktion ist die Meinungsbildung im Interesse der Gesamtgesellschaft (vgl. den Beitrag von A. S T I C H in diesem Band). Der Stil der Belletristik hat seine soziale Basis in erster Linie bei den Künstlern, vor allem den Dichtern und Schriftstellern; die Kommunikation ist in unterschiedlichem Grade mit einem direkten gesellschaftlichen Auftrag verbunden ; die Hauptfunktion dieses Stils, bei dem Individualstile sowie Stile bestimmter Richtungen und Schulen große Bedeutung haben, ist die Widerspiegelung der Wirklichkeit in poetisch-fiktiven Bildern. Der Alltagsstil hat seine soziale Basis vor allem in den Arbeitskollektiven, in den Familien und Freizeitgruppen; die Kommunikation ist entweder mit einem direkten gesellschaftlichen Auftrag verbunden oder sie ist es nur in geringem Grade oder ohne einen solchen Auftrag; seine Hauptfunktionen sind der unmittelbare Bezug auf die gegenständlich-praktische Tätigkeit, die Herstellung und Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Kontakte und die sog. expressive oder Ausdrucksfunktion. Beim Alltagsstil ist der Zusammenhang zwischen Kommunikationsbereich und Grundfunktion also nicht so offensichtlich wie bei anderen Funktionalstilen. 1 J . SCHARNHORST (1981)
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Nach Auffassung von E. RIESEL (1970) ist der Zusammenhang deutlich genug, . um die Annahme eines Funktionalstils zu rechtfertigen. Allerdings bedarf er — wie die anderen Funktionalstile auch — differenzierter Betrachtung. Nach Auffassung von M. JELINEK (1969) könnte man von einer speziellen Funktion beim sog. Konversationsstil (konverzaöni styl) sprechen. Als kennzeichnende Merkmale des Alltagsstils werden Spontanität, Ungezwungenheit, privater und
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