Grenzen der Religion: Säkularität in der Asiatischen Religionsgeschichte [1 ed.] 9783666500374, 9783525500378


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Grenzen der Religion: Säkularität in der Asiatischen Religionsgeschichte [1 ed.]
 9783666500374, 9783525500378

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Max Deeg / Oliver Freiberger / Christoph Kleine / Karénina Kollmar-Paulenz (Hg.)

Grenzen der Religion Säkularität in der Asiatischen Religionsgeschichte

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Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft (CSRRW)

Herausgegeben von Oliver Freiberger, Bettina Schmidt, Michael Stausberg Band 17

Vandenhoeck & Ruprecht

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Max Deeg / Oliver Freiberger / Christoph Kleine / Karénina Kollmar-Paulenz (Hg.)

Grenzen der Religion Säkularität in der Asiatischen Religionsgeschichte

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Giuseppe Castiglione / National Museum of Asian Art, Smithsonian Institution, Freer Collection, Purchase — Charles Lang Freer Endowment and funds provided by an anonymous donor, F2000.4 (Detail). Der Qing-Kaiser Qianlong, hier als Bodhisattva Mañjuśrī im Zentrum eines tibetischen Thangkas von dem italienischen Hofmaler Giuseppe Castiglione portraitiert, repräsentiert in seiner Person das komplexe Zusammenspiel von Religion und Säkularität in Asien. Er inszenierte sich als buddhistischer Herrscher und machte sich als Literat und Förderer der schönen Künste und Wissenschaften einen Namen. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-2230 ISBN 978-3-666-50037-4

Vorwort

Mit dem Erscheinen dieses achten Tagungsbandes begeht der Arbeitskreis Asiatische Religionsgeschichte (AKAR) zugleich sein 25-jähriges Bestehen. Zu einer Zeit, in der Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) zwar in der Satzung vorgesehen waren, aber in der Realität nicht existierten, gründeten wir den Arbeitskreis, um ein Austauschforum für diejenigen zu schaffen, die im deutschsprachigen Raum die asiatische Religionsgeschichte erforschen. Wir waren erfreut zu sehen, dass sich in der Folge zahlreiche weitere Arbeitskreise bildeten (zurzeit sind es elf), die unterschiedlich strukturiert sind und sich wichtigen Themen widmen.1 Die Arbeit von AKAR besteht primär in der Durchführung von Arbeitstagungen, bei denen Expert:innen für Südasien, Zentralasien, Ostasien und Südostasien konkrete Fallbeispiele vorstellen, auf deren Grundlage theoretische Fragen zu einem bestimmten religionswissenschaftlich relevanten Thema diskutiert werden, sowie in der Publikation der Tagungsbeiträge und -ergebnisse. Die Themen der ersten sieben Bände waren: Religion und Staat, Orientalismus und Okzidentalismus, Norm und Praxis, Kanonisierung und Kanonbildung, Historiographie und Hagiographie, die Anwendbarkeit des Religionsbegriffs in Asien und das Konzept der Religionsbegegnung in der asiatischen Religionsgeschichte.2 Der vorliegende Band enthält die Ergebnisse der 8. AKAR-Tagung mit dem Thema „Ansätze von Säkularität in vormodernen Gesellschaften Asiens“, die vom 20. bis 23. August 2018 an der Universität Bern stattfand und in Kooperation mit der Kolleg-Forschungsgruppe „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“3 der Universität Leipzig durchgeführt wurde. Neben den Autor:innen der hier veröffentlichen Aufsätze nahm auch Jens Schlieter an der Tagung teil. Zusätzlich konnten wir Monika Wohlrab-Sahr, Co-Direktorin der KollegForschungsgruppe in Leipzig, dafür gewinnen, einen Reflexionsbeitrag zu den vorgestellten Forschungen zu verfassen, der diesen Band abschließt. Wir bedanken uns herzlich bei dem Team des Instituts für Religionswissenschaft an der Universität Bern für die Gastfreundschaft und die reibungslose Organisation hinter den Kulissen, die es uns ermöglichte, lange stimulierende Diskussionen in einer überaus angenehmen Atmosphäre zu führen. Besonders hervorheben möchten

1 Für eine Übersicht siehe https://www.dvrw.uni-hannover.de/de/. 2 Zu Details der Tagungen und den bibliographischen Angaben der Tagungsbände siehe hier: https:// www.dvrw.uni-hannover.de/de/arbeitskreise/ak-asiatische-religionsgeschichte-akar/. 3 Siehe https://www.multiple-secularities.de/.

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Vorwort

wir die Institutssekretärin, Anita Dähler, die für Hotelbuchungen, Reiseabrechnungen etc. verantwortlich war, und die Studierenden Jana Lehmann, Naranjargal Oyunbaatar und Michaela Wisler, die alle logistischen Aufgaben während der Tagung hervorragend meisterten. Max Deeg Oliver Freiberger Christoph Kleine Karénina Kollmar-Paulenz

Inhalt

Vorwort................................................................................................

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Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine, Karénina Kollmar-Paulenz Einleitung .............................................................................................

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Oliver Freiberger Haus versus Hauslosigkeit. Eine buddhistische Bestimmung von Säkularität? .. 19 Peter Schalk „Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“. Skizze einer nicht-religiösen kriegerischen Ideologie der tamilischen Tigerbewegung ...... 37 Karénina Kollmar-Paulenz „Säkulare“ Wissenschaften und „religiöse“ Interessen. Der mongolische Gelehrte Gombojab (ca. 1692 – ca. 1750) und sein wissenschaftliches Werk ................................................................... 85 Ayur Zhanaev The Nonreligious Orders in the Buddhist Didactic Literature of the Buryat-Mongols (19th – early 20th c.)......................................................... 121 Nikolas Broy Herrschen als Weg der Götter? Bemerkungen zur Säkularität des spätkaiserzeitlichen chinesischen Staates anhand von Rechtstexten und Beamtenhandbüchern...................................................................... 139 Max Deeg Innerhalb und jenseits der Welt. Kritische Überlegungen zum buddhistischen Begriffspaar laukika/lokottara im Verhältnis zu säkular/religiös ...................................................................................... 173 Hubert Seiwert Säkularisierung und Säkularität im chinesischen Altertum .......................... 197

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Inhalt

Christoph Kleine Über Säkularität als Spezialtaxonomie und die Kontextabhängigkeit von Klassifikationssystemen. Eine Rekonstruktion vormoderner Wissensordnungen anhand japanischer Enzyklopädien und Wörterbücher ... 237 Katja Triplett Tradierung und Ausdifferenzierung religiösen und medizinischen Wissens im frühmodernen Japan am Beispiel der Ärzte Dōsan, Gensaku und Furusawa Gentai ................................................................ 281 Edith Franke Religion und Säkularität im modernen Indonesien .................................... 307 Monika Wohlrab-Sahr Differenzierungen, Deutungskonkurrenzen, alternative Sinnsysteme. Grenzen der Religion in der asiatischen Religionsgeschichte ....................... 335 Autor*innenverzeichnis .......................................................................... 349

Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine, Karénina Kollmar-Paulenz

Einleitung

Der vorliegende Band versammelt Beiträge zur 8. Tagung des Arbeitskreises Asiatische Religionsgeschichte (AKAR), die im August 2018 an der Universität Bern (Schweiz) stattfand und in Kooperation mit der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“ (Universität Leipzig) ausgerichtet wurde. Thematisch knüpfte die Tagung unmittelbar an die 6. AKAR-Tagung (Leipzig 2010) an, auf der die Frage nach etwaigen eigenen Religionskonzepten bzw. semantischen oder funktionalen Äquivalenten zum ‚modernen westlichen‘ Religionsbegriff in Gesellschaften Asiens erörtert und auf dieser Grundlage die Frage nach der transkulturellen Übertragbarkeit des Gattungsbegriffs ‚Religion‘ diskutiert wurde.1 Ziel der 8. AKAR-Tagung war es, aus einer eher differenzierungstheoretischen Perspektive die Frage nach Prozessen binnengesellschaftlicher Differenzierung aufzuwerfen, im Zuge derer sich möglicherweise soziale Handlungsfelder, Wertsphären, Lebensordnungen, Wissensordnungen, Sinnprovinzen oder Funktionssysteme ausdifferenziert haben, die im metasprachlichen Sinne als ‚religiös‘ qualifizierbar wären. Dabei sollte es nicht primär oder gar ausschließlich um die Beschreibung oder inhaltliche Bestimmung der als ‚religiös‘ oder ‚religioid‘ erscheinenden Kultursegmente bzw. Gesellschaftsbereiche gehen, sondern um eine Analyse der Grenzziehungsprozesse selbst, in deren Verlauf ‚Säkularitäten avant la lettre‘ erzeugt wurden, deren spezifische Konfiguration lokale und kulturspezifische Prozesse der Säkularisierung in der Moderne gefördert, behindert oder mitbestimmt haben. Der auf der Tagung als Orientierungshilfe zugrunde gelegte Begriff von ‚Säkularität‘ basiert in seiner allgemeinsten Fassung auf der Definition, die ursprünglich von Monika Wohlrab-Sahr und Marian Burchardt aufgestellt wurde. Demnach verweist der Begriff auf „die institutionell und kulturell-symbolisch verankerten Formen und Arrangements der Unterscheidung zwischen Religion und anderen gesellschaftlichen Bereichen.“2 In einem spezifischeren Sinne, der die Kontingenz

1 Schalk, Peter, Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine und Astrid van Nahl, Hrsg., Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs. Acta Universitatis Upsaliensis, Historia Religionum 32. (Uppsala: Uppsala Universitet, 2013). 2 Monika Wohlrab-Sahr und Marian Burchardt, „Vielfältige Säkularitäten: Vorschlag zu einer vergleichenden Analyse religiös-säkularer Grenzziehungen.“ Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Nr. 7 (2011): 53–71, 61.

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Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine, Karénina Kollmar-Paulenz

von ‚Säkularität‘ als Spezial-Taxonomie stärker in den Fokus rückt, wird ‚Säkularität‘ definiert als „interrelated epistemic and social structures in which given social configurations are conceptually cast into a binary taxonomy in terms of classifying things as either religious or nonreligious by relevant actors.“3 Die Definition verweist darauf, dass entsprechend vorgenommene Grenzziehungen wertbezogen und interessegeleitet und damit häufig gesellschaftlich umstritten und historisch reversibel sind. Darüber hinaus geht das der Tagung zugrunde liegende Verständnis von Säkularität von einer kulturabhängigen Vielfalt von ‚Säkularitäten‘ aus, womit bewusst an Shmuel Eisenstadts Konzept der „multiple modernities“4 angeknüpft wird. Anhand ausgewählter Fallbeispiele sollte auf der Tagung nach emischen Taxonomien, Formen sozialer Differenzierung und binnenkulturellen Grenzziehungen gefragt werden, die zumindest im Ansatz unter dem Gesichtspunkt der ‚Säkularität‘ analysiert werden können. In diesem Sinne sollten auch potenziell ethnozentrische und modernisierungstheoretische Ansätze kritisch hinterfragt werden, die den Prozess der Säkularisierung als bloße Folge oder Begleiterscheinung einer vom ‚Westen‘ ausgehenden Modernisierung betrachten und ‚Säkularität‘ in nicht-westlichen Gesellschaften stets nur als Produkt einer Diffusion westlicher Ordnungsvorstellungen konzeptualisieren. Dabei sollen kulturelle Differenzen in Bezug auf grundlegende Ordnungsvorstellungen und Episteme zwischen den zu untersuchenden Gesellschaften untereinander und in Relation zur ‚westlichen Moderne‘ hier keineswegs ignoriert oder geleugnet werden, sondern überhaupt erst im Detail sichtbar gemacht werden. Auf der anderen Seite soll aber auch ein eurozentrischer Exzeptionalismus vermieden werden, der von einer prinzipiellen Andersartigkeit europäischer Gesellschaftsformationen und -konzeptionen ausgeht und daher jedem interkulturellen Vergleich unter Anwendung (vermeintlich) im Westen entstandener Konzepte als tertium comparationis eine Absage erteilt. Der religionswissenschaftliche Diskurs schwankt hier zwischen den Polen einer Annahme der ewigen Existenz von Religion zu allen Zeiten und in allen Regionen als unverbrüchliches Element der menschlichen Kultur oder gar des menschlichen Wesens einerseits und der Annahme, ‚Religion‘ sei eine neuzeitliche Erfindung von Europäern, während das vormoderne Asien ein ungeheurer magischer Zaubergarten5 gewesen sei, innerhalb dessen Unterscheidungen zwischen religiösen

3 Christoph Kleine und Monika Wohlrab-Sahr, „Comparative Secularities: Tracing Social and Epistemic Structures beyond the Modern West.“ Method & Theory in the Study of Religion 32, Nr. 4 (2020): 1–30, 6. 4 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple modernities (New Brunswick, N.J: [u. a.] Transaction Publishers, 2002). http://www.gbv.de/dms/bowker/toc/9780765809261.pdf. 5 Max Weber und Marianne Weber, Hrsg., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II, 9. Aufl. Uni-Taschenbücher; 1489 (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1988 [1921]), 278.

Einleitung

und nicht-religiösen Handlungs- und Kommunikationsmodi, Rollen, Institutionen, Diskursen usw. nicht vorgenommen worden seien, andererseits. Wie bei jeder AKAR-Tagung wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten, sich bei der Ausarbeitung ihrer Beiträge an einigen thematischen Leitfragen zu orientieren. Die Leitfragen für diese Tagung waren die folgenden: 1. Welche emischen Taxonomien, Klassifikationen und Wissensordnungen sind in dem untersuchten historischen Kontext aufzufinden, die einen Hinweis auf eine Unterscheidung religiöser von nicht-religiösen Handlungen, Kommunikationen, Diskursen, Rollen, Institutionen, Normen, Ordnungsvorstellungen, Wissensordnungen usw. liefern könnten? 2. Lassen sich innerhalb der untersuchten Quellen kommunikative Codes oder Leitunterscheidungen auffinden, die auf konzeptuelle Grenzziehungen zwischen religiösen und nicht-religiösen Handlungsfeldern, Sinnprovinzen, Wertsphären oder Lebensordnungen hindeuten? 3. Werden von relevanten Akteuren spezifische Funktionserwartungen an Rollenträger und Institutionen gestellt, die aus heutiger Perspektive als ‚religiös‘ kategorisiert werden? 4. Wer sind die an den Aushandlungsprozessen über sozialstrukturell relevante Differenzierungen zwischen ‚Religiösem‘ und ‚Nicht-Religiösem‘ beteiligten Akteure? Von welchen Interessen sind sie geleitet? Auf welche Probleme reagieren sie mit ihren Grenzziehungen? Welche sozialen und kulturellen Folgen haben die Grenzziehungen? 5. Lassen sich in den untersuchten Kontexten Pfadabhängigkeiten ausmachen, die mitbestimmend waren für die Formen und Verläufe von kulturspezifischen Auseinandersetzungen mit modernen westlichen Ordnungsvorstellungen von ‚Säkularität‘? Die hier versammelten Beiträge behandeln das Thema aus unterschiedlichen historischen und theoretischen Perspektiven. Ausgehend von Monika Wohlrab-Sahrs und Marian Burchardts Feststellung, „the concept of secularity … also encompasses the at times latent, taken-for-granted forms of the distinction between the religious and the non-religious“,6 fragt Oliver Freiberger, ob sich solche „latenten Säkularitäten“ auch in normativen religiösen Texten der indischen Antike finden, und wenn dies der Fall sein sollte, inwiefern es gerechtfertigt sei, sie als Unterscheidung von ‚religiös‘ und ‚nicht-religiös‘ zu beschreiben. Freiberger geht diesen Fragen am Beispiel des indischen Buddhismus nach, wobei er sich auf die wohl ältesten Teile des Pāli-Kanons, die vier großen Nikāyas sowie einzelne Sammlungen aus dem Khuddaka-Nikāya beschränkt. Daher, so betont er, können die Resultate seiner

6 Wohlrab-Sahr/Burchardt, „Multiple Secularities“, 881.

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Analyse nicht auf den indischen Buddhismus in seiner Gesamtheit übertragen werden. Anhand der konzeptuellen Unterscheidung von Haus und Hauslosigkeit zeigt Freiberger auf, wie Säkularität in den oben genannten Texten bestimmt wird. Er arbeitet heraus, dass einer der drei in den Pali-Texten verwendeten Begriffe für ‚Haushalter‘, gahapati, in narrativen Zusammenhängen verwendet wird, die auf zwei unterschiedliche semantische Felder des Begriffs schließen lassen. Zum einen bezeichnet gahapati in seiner ‚säkularen‘ Variante eine gesellschaftliche Gruppe mit herausgehobenem wirtschaftlichem Status, jedoch unbekannten religiösen Vorlieben und Praktiken. Zum anderen bezieht sich der Begriff in seiner ‚religiösen‘ Variante auf Haushalter, die engstens mit dem buddhistischen Orden verbunden waren. Die Autoren der buddhistischen Texte, so Freibergers These, verknüpften die beiden semantischen Felder bewusst miteinander, um die buddhistische Lehre eben dieser gesellschaftlichen Gruppe näher zu bringen. Durch diese Aneignung eines Begriffs, der in jener Zeit eine latente, als selbstverständlich vorausgesetzte Form der Säkularität beschrieb, unterminierten sie zumindest auf der diskursiven Ebene eine sozial vorhandene Säkularität. Peter Schalk untersucht in seinem Beitrag den langwährenden, auch gewaltsamen Konflikt zwischen den staatlichen Kräften Sri Lankas und der tamilischen Minderheit auf der Insel, der oft auch als religiöser Konflikt zwischen singhalesischen Buddhisten und tamilischen Hindus verstanden wird. Er geht der Frage nach, ob oder inwiefern sich die Ideologie der militanten tamilischen Tigerbewegung religiöse Konzepte und Praktiken zugunsten einer religiösen Legitimation zunutze macht. Basierend auf jahrzehntelanger, intensiver Feldforschung in Sri Lanka zeigt Schalk an vielen Beispielen, dass es sich bei der Tigerbewegung um eine strikt säkular ausgerichtete Gruppierung handelt. Er skizziert ihre „nicht-religiöse kriegerische Ideologie“, indem er nach der individuellen Religiosität der Kämpfer, aber auch nach generellen Unterschieden zwischen der Bewegung der Kämpfer und der tamilischen Volksbewegung im Hinblick auf Religion fragt. Hier spielen vermeintliche, zuweilen mit der Tigerbewegung assoziierte religiöse Konzepte wie eine Heilsgeschichte, Entsagung, Totenkult, Martyrium, heiliger Krieg sowie religiös anmutende Begriffe eine Rolle. In seiner Analyse zeigt Schalk, dass in der Tigerbewegung für jeden dieser Aspekte eine Haltung der Nicht-Religion (auch im Unterschied zur Anti-Religion) vorherrschend ist. Dies trifft ebenfalls auf ihre Zukunftsvision zu, die einen pluralistischen Staat nach dem Modell Indiens zeichnet, in welchem der säkulare Staat religiösen Pluralismus unterstützt. Die Befunde zeigen konsistent, dass die Tigerbewegung eine säkulare, nicht religiös fundierte Ideologie besitzt, die jedem einzelnen Kämpfer private Religiosität freistellt. Zudem weist sie Unterschiede hinsichtlich ihrer religiösen Vorstellungen zu jenen der tamilischen Volksbewegung auf. Bisher wurde eine solche Differenzierung nicht vorgenommen, wohl auch aufgrund der Einstufung der Tigerbewegung als religiöser Terrorismus. Schalks Analyse zeigt eindrücklich, dass in einem stark

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religiös aufgeladenen Konflikt – wohl auch entgegen der üblichen religionswissenschaftlichen Erwartung – eine militaristische Bewegung existieren kann, die bewusst und reflektiert auf eine religiöse Legitimation verzichtet und stattdessen auf eine konsequent säkulare Begründung ihres Kampfes setzt. Der Beitrag von Karénina Kollmar-Paulenz geht den Aushandlungsprozessen der Grenzen zwischen religiösen und nicht-religiösen Wissensordnungen im Kontext der sozio-kulturellen und politischen Rahmenbedingungen des Qing-Reichs (1644–1911) nach. Die spezifischen Konfigurationen des Verhältnisses von Religion und Säkularität in den tibetischen und mongolischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts werden anhand des Œuvres des mongolischen Gelehrten Gombojab (ca. 1692–1750) untersucht, der während der Regierungszeit des QianlongHerrschers als leitender Beamter der „Schule für die tibetische Sprache“ tätig war. Kollmar-Paulenz arbeitet heraus, dass in Gombojabs Schriften die epistemische Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Wissensbereichen zur Anwendung kommt, die auf der bekannten buddhistischen Unterscheidung zwischen laukika/lokottara beruht. In seinem Werk stehen tradiertes religiöses und neues Wissen insbesondere dann in einem Spannungsverhältnis zueinander, wenn das neue Wissen traditionelle buddhistische Deutungen herausfordert. Die Zuordnung solchen Wissens zum weltlichen Bereich ermöglicht es Gombojab, die buddhistische Deutungshoheit nicht in Frage zu stellen. Darüber hinaus betont Kollmar-Paulenz, dass die Analyse der Grenzziehungen zwischen dem Säkularen und dem Religiösen auch eine positive Identifikation des Säkularen einschließt. In einem ersten Schritt zur Untersuchung der spezifischen säkularen Logikregimes und konkreten säkularen sozialen Praktiken stellt sie anhand von Gombojabs Œuvre ausgewählte weltliche Wissensbereiche als autonome und gesellschaftlich relevante Handlungsfelder der tibetischen und mongolischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts vor. Ayur Zhanaev diskutiert in seinem Beitrag die diskursive Ausdifferenzierung zwischen religiösen und nicht-religiösen Bereichen der buryat-mongolischen Gesellschaft in der vorsozialistischen Periode des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Als Quellenmaterial dient ihm ein umfangreiches Korpus buddhistischer didaktischer Literatur (yosun-u šastir, surγal, bičig, üge), die in der Buryat-Mongolei der vor-sowjetischen Zeit in Handschriften, aber auch in gedruckten Texten unter der Laienbevölkerung zirkulierte. Ausgehend von der Annahme, dass soziale Unterscheidungen diskursiv konstruierte Taxonomien sind, die nicht unbedingt eine ‚tatsächliche‘ gesellschaftliche Differenzierung widerspiegeln, untersucht er die didaktischen Texte auf ihre nicht-religiösen Aspekte, und es gelingt ihm aufzuzeigen, dass, zumindest auf der diskursiven Ebene, Religion nicht sämtliche Bereiche des sozialen Lebens durchdrang. In der didaktischen Literatur der Zeit werden einige Dimensionen der sozialen Ordnung durch eine weltliche Rechtsordnung (qauli), die sich durch eine starke weltliche Führerschaft auszeichnet, und durch

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die Tradition (jangsil) geregelt. Diese beiden taxonomischen Ordnungen werden in Beziehung zur religiösen Ordnung gesetzt: Sie unterscheiden sich von Religion, stehen jedoch in einem komplementären Verhältnis zu ihr. Der religiösen und der als Recht und Tradition ausdifferenzierten säkularen Sphäre gemeinsam ist ein gesellschaftsimmanentes Ziel, das in den Begriffen ‚Glück‘, ‚Frieden‘ und ‚Harmonie‘ gefasst wird. Die drei Begriffe sind buddhistisch konnotiert und definieren den nicht-religiösen Bereich aus buddhistischer Perspektive zwar als temporär, zugleich aber als notwendig auf dem Weg zur buddhistischen Befreiung. Zhanaev schließt aus diesem Befund, dass vergleichbare Konzepte zu ‚Religion‘ und ‚Säkularität‘ in der buryatischen emischen Taxonomie vor der Zeit der sowjetischen Modernisierung vorhanden waren. Nikolas Broy untersucht in seinem Beitrag die Dichotomie von religiös und säkular in den späten imperialen Rechtstexten und Beamtenhandbüchern aus der Zeit der beiden letzten Dynastien in China, der Ming und der Qing. Davon ausgehend, dass in einem traditionellen chinesischen Staatsapparat durchaus eine religiöse ‚Sphäre‘ angenommen wurde, die sich nicht nur in normativen Texten, sondern auch in der in den Quellen zutage tretenden offiziellen Praxis wiederfindet, fasst Broy Religion/religiös – mit Bezug auf Searle und Schatzki – als ein kumulatives Phänomen oder Arrangement von untereinander in verschiedener Weise in Beziehung stehenden Praktiken, Dingen und Entitäten, ohne dafür notwendigerweise das Vorhandensein eines objektsprachlichen Begriffs einzufordern. Staatliche Säkularität äußert sich in offiziellen Stellungnahmen zu religiösen Praktiken und Institutionen und in regulativen Eingriffen in dieselben, aber auch im gegenseitigen Verhältnis von Staat und religiösen Institutionen. Dabei bestimmt sich das Verhältnis der staatlichen Akteure zum Religiösen einerseits durch regulative Maßnahmen, andererseits durch ihre Teilnahme an religiösen Akten und Diskursen. Während die Rechtstexte mit ihrem normativen Regelsystem Religionen in orthodox und heterodox einteilen und somit keine klare säkulare Abgrenzung vom Religiösen suggerieren, zeigt gerade die Definition von Heterodoxie ein Konzept von Säkularität – heterodoxe Institutionen oder Personen werden etwa als „weder Mönch (monastisch) noch Laie (weltlich)“ gekennzeichnet. Dem gegenüber steht jedoch auch die Auffassung, dass staatliche Institutionen und deren Akteure durchaus eng mit dem religiösen Bereich verbunden sind, wie Broy anhand ausgewählter Beispiele darlegt. Aus dem von ihm bearbeiteten Quellenmaterial schließt er, dass „nicht von einer eindeutigen Form von Säkularität gesprochen werden [kann]“, sondern dass „normative und praktische Artikulationen mitunter stark voneinander ab[wichen]“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine konzeptionelle und normative Trennung des säkularen und religiösen Bereichs gibt. Stattdessen zeigt sich eher eine Tendenz, den religiösen ‚Raum‘ von „anderen Bereichen fernzuhalten“. Broy benennt hier den „intermediären Bereich zwischen Individuum und Familie auf

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der einen Seite und Staat auf der anderen“, die durchaus als säkular gefasst werden können. Max Deeg behandelt in seinem Beitrag buddhistische objektsprachliche binäre Taxonomien wie laukika/lokottara (wörtlich: ‚weltlich-überweltlich‘) und die entsprechenden Begriffspaare in anderen, v. a. ostasiatischen Sprachen, in ihrem Verhältnis zu säkulär/religiös. Auf der Grundlage einiger ausgewählter buddhistischer Texte (Mahāsattārīsaka-sutta, Śrāvakabhūmi), in denen laukika und lokottara thematisiert bzw. kommentiert werden, arbeitet er heraus, dass lokottara mit dem identifiziert wird, was hochtranszendent genannt werden könnte: weite Bereiche dessen, was durchaus im religiösen Feld verortet werden könnte (z. B. der Bodhisattva-Pfad), gehören danach zum Weltlichen. Ein weiteres dichotomisches Konzept, das der Unterscheidung in säkulär-religiös entsprechen könnte, ist das zwischen einem weltlichen und einem religiösen ‚Gesetz‘ (rājadharma / buddhadharma). Hier zeigt sich, dass die Grenzlinien zwischen den beiden dharmas oft unkonkret und vom jeweiligen Kontext abhängig sind. Sie lassen keine eindeutige Differenzierung zu, die auf eine klare Abgrenzung zwischen religiös und säkular verweisen. Ein weiteres objektsprachliches Begriffspaar, das Deeg diskutiert, ist das von ‚Welt‘ (Skt. loka) und ‚Himmel‘ (Skt. svarga). Letzteres verweist auf konkret kosmologisch verortbare weltliche und religiöse Sphären. Im ‚mikrokosmischen‘ Kontext werden mit ihnen auch heilige (Pilger-)Stätten, die ihre religiöse ‚Aura‘ aus ihren postulierten Verbindungen mit Ereignissen im Leben des Buddha beziehen, in Relation zu anderen, profanen Orten unterschieden. Eine weitere binäre Distinktion, der Deeg im ostasiatischen Buddhismus nachgeht und die die Ausführungen in Oliver Freibergers Beitrag gewissermaßen komplementiert, ist die zwischen der Gemeinschaft der Ordinierten (Skt. bhiks.u, bhiks.uṇī) oder Asketen (Skt. śramaṇa) und den Laien (Skt. upāsaka, upāsikā). Mit Blick auf die verschiedenen buddhistischen objektsprachlichen binären Taxonomien, die ihre Begriffspaare durchaus je nach konkretem oder historischem Kontext unterschiedlich voneinander abgrenzen, plädiert Deeg für die Untersuchung von Begriffs- oder Konzeptionsfeldern, die sich nicht notwendigerweise und vollständig mit einer Distinktion von religiös und säkular decken mögen, jedoch gerade in ihrer diskursiven Komplexität die multiplen Säkularitäten des Leipziger Forschungsprojektes reflektieren. Ausgehend von der Feststellung des Widerspruchs, Säkularität als modernes Phänomen und Konzept in vormodernen Gesellschaften verorten zu wollen, unternimmt Hubert Seiwert in seinem Beitrag eine tour de force durch die antike, vormittelalterliche chinesische Religionsgeschichte von der Zhou-Zeit (ca. 11. Jh. v. Chr.) bis zum Ende der Han Dynastie (Beginn des 3. Jh. n. Chr.) mit Blick auf die Frage, ob es im antiken China Säkularisierung und Säkularität gegeben hat. Seiwert legt für seine Analyse der Frühzeit der chinesischen Religionsgeschichte eine substanzielle Religionsdefinition und ein offenes Konzept von Säkularität zugrunde, verstanden als Ergebnis von Säkularisierung und gekennzeichnet

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durch „Bedeutungsverlust von Religion und soziale Differenzierung“. Während ihm zufolge die Periode der Westlichen Zhou (ca. 11.–8. Jh. v. Chr.) durchaus als vorsäkulare Gesellschaft verstanden werden kann, zeichnet sich die Östliche ZhouDynastie nicht durch einen Bedeutungsverlust von Religion aus, sondern durch die schwindende Relevanz überweltlicher Akteure, was er am Beispiel von Divinationspraktiken aufzeigt. In der Periode der ‚Streitenden Reiche‘ werden Macht und sogar die Existenz der Gottheiten mehr und mehr in Zweifel gezogen. Philosophische Deutungsmuster humanistischer (Mozi) und rationalistischer (Xunzi) Form treten hervor, und Religion wird bis zu einem gewissen Grad optional und begründungsbedürftig. Säkularisierungstendenzen sieht Seiwert auch in der Ausdifferenzierung von Politik (Legalisten) und Wirtschaft als autonome Handlungsfelder. Diese Tendenzen erreichen ihren Höhepunkt im ersten imperialen Staatsgebilde der Qin (221–207 v. Chr.). Während Seiwert bestehende Unterschiede zwischen den Entwicklungen im antiken China und in westlichen, christlich bestimmten Gesellschaften anerkennt, widerlegt er die in Säkularisierungstheorien enthaltene Meistererzählung einer Singularität der westlichen Entwicklung, die vormodernen, nicht zuletzt nicht-abendländischen Kulturen und Gesellschaften die Option einer solchen Entwicklung abspricht. Zugleich betont er aber, dass unsere Interpretation vormoderner Gesellschaften stets von unseren theoretischen Positionen zu Religion und Säkularität abhängig sei: Ob und in welchem Maße eine Gesellschaft als säkular (oder religiös) zu bewerten ist, hängt letztlich von den zugrunde gelegten Definitionen von Religion, Säkularisierung und Säkularität ab. Ausgehend von der These, dass Enzyklopädien und nach Sachgebieten thematisch geordnete Wörterbücher entscheidende Hinweise auf relevante Klassifikationspraktiken und Taxonomien liefern, widmet sich Christoph Kleines Beitrag der Frage, ob in vormodernen japanischen Enzyklopädien und Wörterbüchern so etwas wie ‚Religion‘ (etwa als shūshi 宗旨, shūkyō 宗教 o. ä.) als distinktes Wissensoder Sachgebiet definiert und womöglich gar in einem binären Schema von einer ‚säkularen‘ sozialen Umwelt unterschieden wird. Weitere potenzielle Indikatoren für eine spezifische Wissensordnung sucht Kleine im Fächerkanon an vormodernen Bildungseinrichtungen Japans. Er kommt zu dem Schluss, dass weder Enzyklopädien und Wörterbücher noch der Fächerkanon vormoderner Bildungsinstitutionen darauf hindeuten, dass ‚Religion‘ als eigenständiges „Kultursachgebiet“ ‚säkularen‘ Kultursphären, Handlungsfeldern oder sozialen Systemen gegenübergestellt worden wäre. Auf den ersten Blick scheint dieses Ergebnis den in früheren Publikationen geäußerten Thesen Kleines zu widersprechen, dass es bereits seit dem 11. Jahrhundert mit der Unterscheidung zwischen einer mit weltlichen Dingen befassten ‚Nomosphäre des Herrschers‘ (ōbō 王法) und einer auf außerweltliche Heilsgüter konzentrierten ‚Nomosphäre des Buddha‘ (buppō 仏法) ein binäres Klassifikationsschema gab, dass eine starke Nähe zum Idealtyp der Säkularität aufweist. Allerdings sieht Kleine sich eher in der mehrfach geäußerten Auffassung bestätigt, dass Säkula-

Einleitung

rität – oder strukturell analoge und funktional äquivalente Unterscheidungsfiguren – eine Spezialtaxonomie ist, die nur in bestimmten diskursiven Kontexten zur Anwendung kommt, vornehmlich in machtpolitischen, etwa wenn zwei Ordnungsmächte wechselseitig ihre Geltungsansprüche anmelden. Japanische Enzyklopädien und Wörterbücher der Vormoderne richteten sich demgegenüber vor allem an Dichter und Literaten und standen ebenso wie die Bildungseinrichtungen in starker Abhängigkeit von chinesischen Vorbildern – sie repräsentieren ihrerseits kontextabhängige Spezialtaxonomien, die keine Rückschlüsse auf eine allgemeingültige Klassifikation von Kultursachgebieten und sozialen Domänen zulassen. Katja Triplett wendet sich in ihrem Beitrag dem Problem der Anwendung des Idealtypus Säkularität auf die vormoderne japanische Gesellschaft zu, indem sie die Unterscheidung zwischen Religion und Medizin in einer Zeit des Umbruchs ab dem späten 16. Jahrhundert untersucht. Dieser Umbruch war geprägt vom Ringen um eine neue Gesellschaftsordnung nach verheerenden Bürgerkriegen, der Begegnung mit europäischen Händlern und Missionaren sowie einem allmählichen Verlust des Bildungsmonopols des Buddhismus zugunsten des ‚Neo-Konfuzianismus‘. Anhand des Fallbeispiels zweier Ärztefamilien und deren schriftlicher Hinterlassenschaft zeigt sie auf, welche Auswirkungen dieser Umbruch auf die Grenzziehungen zwischen den retrospektiv als ‚Religion‘ und ‚Medizin‘ definierten, aber durch das gemeinsame Ziel der Krankenheilung verbundenen Handlungsfeldern, hatte. Dabei fragt sie nach der Motivation der Akteure, der Funktion ihrer Handlungen, den beteiligten Institutionen und nach ihren Handlungen, Praktiken und Deutungen, um die These einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Religion und Medizin als unabhängige Handlungsfelder in der Edo-Zeit (1603–1868) zu überprüfen. Triplett zeigt auf, dass sich die Beziehung von religiöser und säkularer Heilkunst durch Unschärfen, Ambivalenzen, Grauzonen, aber auch gemeinsame Schnittmengen auszeichnet. Manche Unschärfen sind rein institutionengeschichtlich bedingt, da noch in der frühen Edo-Zeit ein großer Teil der Ärzte formal den Status buddhistischer Mönche hatte. Da eine klare Grenzziehung zwischen religiösen und nicht-religiösen Theorien und Methoden der Heilkunst kaum nachweisbar ist, schlägt Triplett ein Modell gradueller Abstufung vor. Zu fragen wäre demzufolge nach dem Intensitätsgrad der Modi Säkularität und Religiosität in den jeweiligen Traditionen. So betrachtet suggerieren die behandelten Fallbeispiele tatsächlich eine allmähliche Ausdifferenzierung der im späten 16. Jahrhundert noch ein gemeinsames Repertoire bildenden Geistestraditionen und Wissensordnungen. Die zunehmend dominierende ‚konfuzianische Medizin‘ und die daoistisch beeinflusste Lebenspflege erscheinen nun als eher säkular, d. h. in erster Linie unabhängig von der buddhistischen Tradition und ihren Institutionen, deren primäre Funktion eben nicht in der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit bestand, sondern in der Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod.

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Edith Franke untersucht in ihrem Beitrag die historischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Verhältnisbestimmung von Religion und Säkularität im gegenwärtigen Indonesien, wobei der geographische Schwerpunkt auf Java liegt. Dabei nimmt sie auch religionspolitische Maßnahmen und Akteure im Spannungsfeld der Grenzziehungen zwischen Religion und Säkularität in den Blick. An ausgesuchten Beispielen entfaltet sie die historische Entwicklung der Verbindung religiöser und säkularer Zuständigkeiten, deren Referenzsystem die javanische Tradition der Harmonisierung unterschiedlicher Interessen und Anliegen (kejawen) ist. Sie zeigt auf, dass im modernen Indonesien die Relationalität zwischen Religion und Nicht-Religion im Spannungsfeld von kejawen und unterschiedlichen, sowohl inklusivistischen als auch normativ-sunnitischen islamischen Strömungen ausgehandelt wird. Ausgehend vom Konzept der „Islamicate Secularities,“7 welches die Komplexität und Diversität in der Verhältnisbestimmung von Religion und Säkularität in islamisch geprägten Gesellschaften in den Blick nimmt, arbeitet Franke heraus, dass sich das relationale Verhältnis von Religion und Säkularität in Indonesien besser als eine ‚religionicate secularity‘ beschreiben lässt, in der nicht nur der Islam, sondern auch andere Religionen eine wichtige Rolle spielen. Ausdruck dieser spezifischen Form von Säkularität ist die indonesische ‚semi-säkulare‘ Verfassung mit ihrem Konzept vom Glauben an eine höchste Gottheit (Ketuhanan Yang Maha Esa), dem ersten der in der Verfassung verankerten fünf Prinzipien (Pancasila). Das Verhältnis zwischen Religion und Säkularem wird im modernen Indonesien damit nicht als binäre, sich gegeneinander positionierende und einander ausschließende Ordnung bestimmt, sondern als relational und flexibel. Wir hoffen, mit diesem Band ein historisch und quellenbasiert differenzierteres Bild über Konzeptualisierungen von sozialer Differenz in Gesellschaften Asiens vorzulegen, die als Ressourcen für kulturspezifische Ausformungen von ‚Säkularität‘ in der globalen Moderne potenziell wirksam waren. Dabei waren wir bemüht, weder der Versuchung nivellierender Generalisierung (Universalismus) noch der eines westlichen Exzeptionalismus (Partikularismus) zu erliegen. Ob das gelungen ist, mögen die Leser:innen entscheiden.

7 Markus Dressler, Armando Salvatore und Monika Wohlrab-Sahr, „Islamicate Secularities: New Perspectives on a Contested Concept,“ Historical Social Research 44(3) (2019): 7–34.

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Haus versus Hauslosigkeit Eine buddhistische Bestimmung von Säkularität? Der für die Fragestellung des vorliegenden Bandes zentrale Begriff, Säkularität, wird hier mit Monika Wohlrab-Sahr und Marian Burchardt als „institutionell und kulturell-symbolisch verankerte Formen und Arrangements der Unterscheidung zwischen Religion und anderen gesellschaftlichen Bereichen, Praktiken und Deutungen“ verstanden.1 In ihrem einschlägigen Aufsatz zu „multiple secularities“ von 2012 stellen sie die These auf, dass Säkularität in bestimmten Situationen als Antwort auf bestimmte gesellschaftliche Probleme erscheint.2 Soziale Akteure unterscheiden zwischen religiösen und nicht-religiösen Gesellschaftssphären, um auftretende soziale Probleme zu lösen. Wohlrab-Sahr und Burchardt betonen, dass es verschiedene Arten von Säkularität gebe, und unterscheiden vier Formen (oder Idealtypen) der Unterscheidung von religiös und nicht-religiös, die auf jeweils unterschiedliche Ziele gerichtet sind: (1) (2) (3) (4)

secularity for the sake of individual rights and liberties; secularity for the sake of balancing/pacifying religious diversity; secularity for the sake of societal or national integration and development; and secularity for the sake of the independent development of functional domains of society.3

Dieser Ansatz ermöglicht nicht nur die Ergänzung durch weitere Formen, sondern auch die Anwendung des Begriffs Säkularität auf nicht-westliche Gesellschaften und vor-moderne Epochen. Entscheidend ist, dass hierbei nicht Forscher:innen zwischen religiösen und nicht-religiösen Sphären unterscheiden, sondern die sozialen Akteure in den betreffenden historischen Kontexten selbst. Ein solches Vorgehen kann durchaus auf Kritik stoßen, ist doch die Kategorie „religiös“ schillernd und analytisch unpräzise. Die Frage, ob man den (westlichen) Begriff Religion

1 „The culturally and symbolically as well as institutionally anchored forms and arrangements of differentiation between religion and other social spheres.“ Monika Wohlrab-Sahr und Marian Burchardt, „Multiple Secularities: Toward a Cultural Sociology of Secular Modernities“, Comparative Sociology 11 (2012): 875–909, hier: 881. 2 Wohlrab-Sahr/Burchardt, „Multiple Secularities“, 887. 3 Wohlrab-Sahr/Burchardt, „Multiple Secularities“, 889.

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überhaupt auf nicht-westliche, womöglich vor-moderne Kulturen anwenden kann, ohne diese gewaltsam in ein ihnen fremdes Schema zu pressen und damit ihre einzigartige Identität zu entstellen, ist ausführlich auf der 6. AKAR-Tagung und im Tagungsband diskutiert worden.4 Die Einleitung des Bandes fasst das Ergebnis u. a. so zusammen: Es hat sich anhand der diversen historischen Beispiele gezeigt, dass sich in asiatischen vorund frühmodernen Diskursen zwar kaum exakte Äquivalente für den Begriff „Religion“ finden lassen, daraus aber nicht automatisch zu folgern ist, dass es im vormodernen Asien kein Bewusstsein und somit Konzept für einen spezifischen Kulturbereich gegeben hätte, den man mit einem immer wieder neu zur reflektierenden Begriff „Religion“ bezeichnen könnte.5

Den Vorgang der Unterscheidung dieses „spezifischen Kulturbereichs“ – den eine verantwortlich verwendete Kategorie „Religion“ präzise bezeichnet – von anderen Kulturbereichen oder Gesellschaftssphären nennen Wohlrab-Sahr und Burchardt „Säkularität“. Sie weisen aber auch darauf hin, dass „the concept of secularity … also encompasses the at times latent, taken-for-granted forms of the distinction between the religious and the non-religious“.6 Hier möchte ich mit der vorliegenden kleinen Studie ansetzen. Meine Fragen lauten: Lassen sich solche „latenten Säkularitäten“ in normativen religiösen Texten der indischen Antike finden? Wenn ja, welche Gestalt haben sie? Inwiefern ist es gerechtfertigt, von „religiös“ und „nicht-religiös“ zu sprechen? Und wie gehen die Verfasser mit dieser Unterscheidung um?

Quellen Die Quellen meiner Untersuchung sind kanonische buddhistische Texte, die in der mittelindischen Sprache Pāli verfasst sind. Insbesondere für eine Diskussion über Säkularität scheint es mir nützlich, sich zunächst bestimmte Merkmale dieser Texte in Erinnerung zu rufen. Der Pāli-Kanon (Tipiṭaka) ist das Korpus autoritativer Texte einer Richtung im Buddhismus, die gewöhnlich als Theravāda-Schule bezeichnet wird und die heute mehrheitlich in Sri Lanka, Thailand, Myanmar, Laos und Kambodscha beheimatet ist. In der Standard-Edition der Pali Text Society umfasst der Pāli-Kanon 48 Bände, stellt also eine umfangreiche Sammlung dar. Ich 4 Peter Schalk, Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine, und Astrid van Nahl (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs (Uppsala: Uppsala University Press, 2013). 5 Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine, „Einleitung“, in: Schalk/Deeg/Freiberger/Kleine/van Nahl, Religion in Asien?, ix–xix, hier: xviii. 6 Wohlrab-Sahr/Burchardt, „Multiple Secularities“, 881.

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werde mich hier auf die vermutlich ältesten Teile beschränken, im Wesentlichen auf die vier großen Nikāyas sowie einzelne Sammlungen aus dem Khuddaka-Nikāya. Der Pāli-Kanon ist der einzige vollständig in einer indischen Sprache erhaltene Kanon einer Mainstream-Schule des indischen Buddhismus. Der Grund dafür ist, dass ein Vorläufer der Schule, die man heute Theravāda nennt, schon früh – wohl bereits im 3. Jh. v. Chr. – nach Sri Lanka gelangte, wo sie bis heute präsent blieb. Auf dem Festland des indischen Subkontinents sind Buddhisten nach dem 13. Jahrhundert nur noch sporadisch dokumentiert, und die kanonischen Texte anderer Schulen sind heute in ihren Originalsprachen zu großen Teilen verloren. Da sie auf Material wie Palmblättern geschrieben waren, das im südasiatischen Klima nur begrenzt haltbar ist, mussten sie immer wieder kopiert werden. Weil diese Kopiertätigkeit endete, zerfielen die bestehenden Manuskripte im Laufe der Jahrhunderte. Eine wichtige Ausnahme sind – neben Funden an der Seidenstraße in Zentralasien – Texte, die im trockenen und kühlen Nordwesten des Subkontinents erhalten geblieben sind und erst kürzlich gefunden wurden. Viele dieser Texte sind in der Sprache Gāndhārī verfasst, in der vor diesen Funden nur ein einziger Text erhalten war, und sie werfen ein neues Licht auf viele Fragen zum indischen Buddhismus. Sie werden zurzeit noch immer ediert und übersetzt. Viele kanonische Texte anderer Schulen als der Pāli-Schule wurden zudem schon ab den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ins Chinesische und dann auch ins Tibetische übersetzt. Um den indischen Buddhismus in seiner sozialen Realität so umfassend wie möglich darstellen zu können, muss man all diese Quellen berücksichtigen. Die frühe Forschung hat oft den Pāli-Kanon als älteste und autoritativste Quelle betrachtet, doch heute weisen Forscher immer öfter darauf hin, dass die Pāli-Schule in vielen Fragen, insbesondere im Ordensrecht, für den indischen Buddhismus jener Zeit eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Die Ergebnisse der folgenden Untersuchung, die sich auf kanonische Pāli-Texte als Quellen beschränkt, können daher nicht für den indischen Buddhismus verallgemeinert werden. Ob die Bestimmung säkularer Segmente, die sich in diesen Texten findet, so auch in den Texten anderer Schulen vorgenommen wurde, muss eine andere Studie untersuchen. Die kanonischen Pāli-Texte entstanden sehr wahrscheinlich in einem Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, wurden zuerst ausschließlich mündlich überliefert und dann vermutlich ab dem 1. Jh. v. Chr. auch niedergeschrieben. Sie haben den Anspruch, Wort des Buddha (buddhavacana) zu sein, das heißt, sie werden als autoritativ betrachtet und haben einen normativen Charakter. In der Forschung besteht weitreichender Konsens, dass historisch betrachtet die Behauptung der Theravāda-Tradition, dass Pāli die Sprache des Buddha gewesen sei, inkorrekt ist. Wenn überhaupt Originalworte des Buddha, der vermutlich Māgadhī gesprochen hat, die Lokalsprache seiner Region, in diese Texte einflossen, dann sind sie ins Pāli übersetzt worden. Die Verfasser dieser Texte sind anonym, aber man kann davon

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ausgehen, dass es sich um buddhistische Mönche (und vielleicht auch Nonnen) handelte. Trotz des Anspruchs, die Botschaft des Buddha kohärent zu entfalten, hat eine Reihe von Studien gezeigt, dass die Texte sehr heterogen sein können, was bei ihrem Umfang und der langen Entstehungszeit Historiker auch nicht weiter überraschen sollte. Dennoch ist die Perspektive der Texte doch wohl immer eine monastische und eine religiöse. Es liegt also in der Natur der Quellen, dass sie nicht danach streben, Religion als separates Kultursegment zu bestimmen, wie man es vielleicht von manchen historiographischen, juristischen, politischen oder literarischen Quellen erwarten mag, sondern dass sie allenfalls Nicht-Religion markieren und abgrenzen. Solchen Abgrenzungen möchte ich im Folgenden nachgehen.

Das Cakkavattin-Konzept Eine klare Unterscheidung von religiös und säkular scheint, zumindest auf den ersten Blick, das alte Konzept vom Cakkavattin (Skt. cakravartin) zu enthalten, dem gerechten Herrscher, der das „weltliche“ Pendant zum Buddha darstellt. Der amerikanische Gelehrte, Übersetzer und Mönch Bhikkhu Bodhi fasst dieses Konzept aus buddhistischer Sicht folgendermaßen zusammen: Buddhist tradition sees the responsibility for upholding the Dhamma in the secular domain as falling to the legendary wheel-turning monarch (raja cakkavatti). The wheelturning monarch is the benevolent ruler who governs his kingdom in accordance with the highest ethical norms (dhammiko dhammaraja) and thereby peacefully unites the world under a reign of universal justice and prosperity. … [W]ithin the spiritual domain, the Buddha is the counterpart of the wheel-turning monarch. Like the latter, the Buddha relies on the Dhamma and reveres the Dhamma, but whereas the wheel-turning monarch relies upon the Dhamma as principle of righteousness to rule his kingdom, the Buddha relies upon the Dhamma as ethical and spiritual norm to teach and transform human beings and guide them toward proper conduct of body, speech, and mind.7

Mit dem Cakkavattin-Konzept wird selbstbewusst der Anspruch formuliert, dass der Buddha, historisch einer von vielen Asketenlehrern jener Zeit, auf einer Stufe mit dem Herrscher stehe und in der spirituellen Sphäre denselben – höchsten – Rang einnehme. Auch in anderen Kontexten sind die frühen Buddhisten bestrebt, eine rhetorische Nähe zum königlichen Status herzustellen, etwa wenn ausführlich

7 In the Buddha‘s Words: An Anthology of Discourses from the Pali Canon, edited and introduced by Bhikkhu Bodhi (Somerville, MA: Wisdom Publications, 2005), 108.

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beschrieben wird, wie der Buddha auf Augenhöhe mit Königen parliert, oder wenn Herrschersymbole wie das Rad oder der Löwe auch zu buddhistischen Symbolen werden.8 Bedeutend für unsere Fragestellung ist hier, dass mit dem Duumvirat Cakkavattin und Buddha zugleich auch zwei Domänen unterschieden werden, die, so scheint es auf den ersten Blick, als säkulare und religiöse Domäne bezeichnet werden können. Es ist allerdings zu bedenken, dass diesem Konzept zufolge beide nochmals dem Dhamma, dem kosmischen Weltgesetz, untergeordnet sind. Bhikkhu Bodhi formuliert es so: The Dhamma has institutional embodiments as well as expressions in the lives of individuals who look upon it as their source of guidance in the proper conduct of life. These embodiments are both secular and spiritual. … Neither the wheel-turning monarch nor the Buddha creates the Dhamma they uphold, yet neither can perform their respective functions without it; for the Dhamma is the objective, impersonal, ever-existent principle of order that serves as the source and standard for their respective policies and promulgations.9

Auch wenn sich der Cakkavattin um die weltlichen Belange kümmert, um Recht, Ordnung und Wohlstand in Staat und Gesellschaft, so tut er es diesem Konzept zufolge doch in einem religiösen Rahmen und nach religiösen Prinzipien, nämlich denen des – vom Buddha verkündeten! – Dhamma. Hier wird zwar religiös und säkular unterschieden, aber außerdem betont, dass sich der Dhamma, das kosmische und auch ethische Weltgesetz, nicht auf das Milieu von Bettelasketen beschränke, sondern vielmehr universal sei. In diesem Sinne ist das Cakkavattin-Konzept ein religiöses Konzept. Die Verfasser unterscheiden eine säkulare (in diesem Fall politische) von einer religiösen Domäne, aber die Unterscheidung dient einem religiösen Zweck. Die säkulare Sphäre ist zielgerichtet konstruiert, und diese Konstruktion steht unter religiöser Kontrolle.

Haus und Hauslosigkeit Neben dem abstrakten Konzept von Cakkavattin und Buddha existieren noch andere Grenzziehungen, die für unser Thema interessant sein könnten. Eine in

8 Zur buddhistischen Aneignung königlicher Terminologie und Symbolik siehe Patrick Olivelle, „Power of Words: The Ascetic Appropriation and the Semantic Evolution of dharma“, in: ders., Language, Texts, and Society: Explorations in Ancient Indian Culture and Religion (Florenz: Firenze University Press, 2005), 121–134. In derselben Weise arbeiten auch die Jainas mit königlichen und militärischen Begriffen, z. B. jina (Sieger) oder Mahāvīra (großer Held). 9 In the Buddha‘s Words, 108; meine Hervorhebung.

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den Texten omnipräsente Gegenüberstellung ist die von Haus und Hauslosigkeit. Wenn von Menschen die Rede ist, die für ihr Streben nach religiöser Befreiung eine asketische Lebensweise wählen, kommt sowohl in narrativen als auch in doktrinären Darstellungen regelmäßig die Standardwendung „er/sie geht vom Haus in die Hauslosigkeit“ (agārasmā anagāriyam pabbajati) zum Einsatz. Dieser Formulierung liegt das Konzept zugrunde, dass es eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Menschen gibt, die ein Leben „im Haus“ führen, einschließlich Beruf, Familie und anderen Pflichten, und Asketen, die dem häuslichen Leben entsagt haben, um ihr Leben ganz dem Streben nach endgültiger Befreiung zu widmen. Auch diese Unterscheidung ist primär eine Idealvorstellung, die ihren Ausdruck ebenfalls in der frühen vierteiligen Klassifikation von Mönchen und Nonnen (bhikkhus und bhikkhunīs) auf der einen Seite und männlichen und weiblichen Laienanhängern (upāsakas und upāsikās) auf der anderen findet. Es ist verlockend, diese fast soziologisch anmutende Klassifikation als eine historisch akkurate Beschreibung der sozialen Wirklichkeit des frühen Buddhismus zu übernehmen. Eine gründlichere Betrachtung zeigt aber, dass es sich primär um ein Konzept handelt, das beiden Gruppen bestimmte Aufgaben und spirituelle Möglichkeiten zuweist. Die Mönche und Nonnen widmen demzufolge ihr Leben dem Weg zur Befreiung und unterweisen die Laienanhänger darin, ein moralisch gutes Leben zu führen. Die Laienanhäṇger unterstützen die Ordensmitglieder materiell und erwerben damit großes religiöses Verdienst, das ihnen die Wiedergeburt in einer Himmelswelt ermöglicht. Genaue Untersuchungen der Texte haben allerdings zu Tage gebracht, dass die soziale Wirklichkeit komplizierter war. An vielen Stellen der Texte wird deutlich, dass die Ordensmitglieder keineswegs nur mit spirituellen, „außerweltlichen“ Dingen beschäftigt waren, und andere Stellen sehen auch für Laienanhänger durchaus hohe spirituelle Stufen vor, bis hin zur Befreiung. Ich möchte dennoch behaupten, dass die konzeptuelle Unterscheidung von Haus und Hauslosigkeit zumindest ein guter Ansatzpunkt ist, um nach der Bestimmung von Säkularität in diesen Texten zu fahnden. Dazu möchte ich einen Blick auf die Termini werfen, mit denen die Unterscheidung markiert wird. Ich beschränke mich dabei auf die ältesten Texte des Pāli-Kanons, nämlich die vier großen Nikāyas sowie Dhammapada, Udāna, Suttanipāta und Itivuttaka. Regulär nach dem Ordensrecht ordinierte buddhistische Mönche und Nonnen werden mit den termini technici bhikkhu und bhikkhunī klassifiziert. Doch in den Texten erscheinen auch allgemeinere Begriffe für Wanderasketen, die buddhistische Mönche und Nonnen einschließen, aber meist nicht auf sie beschränkt sind. Solche Begriffe sind pabbajita (Skt. pravrajita), wörtlich „Fortgegangener“ (d. h. fort vom weltlichen Leben), samaṇa (Skt. śramaṇa), Wanderasket (wörtlich „Strebender“) oder paribbājaka (Skt. parivrājaka), „Umherwandernder“. Diese erscheinen oft in Kontrastierung zu Begriffen, die Haushalter bezeichnen. Obwohl es im Pāli eine Reihe von Wörtern für „Haus“ gibt (gaha, giha, geha, ghara, agāra), sind nur einige

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von ihnen in einem Kompositum belegt, das im weiteren Sinne als „Hausbewohner“ übersetzt werden kann, und auch nur in Kombinationen mit bestimmten anderen Wörtern. Manche erscheinen sehr vereinzelt. Das Wort gharamesin10 etwa findet sich in den untersuchten Texten nur dreimal, davon zweimal in einer identischen Formulierung, die das tugendhafte Leben eines Haushalters beschreibt (Sn 33,11; SN I 215,3).11 In einer Standardformel erscheint einige Male gharāvāsa, „das häusliche Leben“, das eng und staubig sei, während das hauslose Leben freie Luft bedeute (sambādho gharāvāso rajopatho, abbhokāso pabbajjā).12 Im Umfeld dieses Begriffs findet sich manchmal agārikabhūta oder agāriyabhūta, wörtlich „als ein Häusler“, das in der Regel verwendet wird, um den früheren, weltlichen Status des betreffenden Asketen zu beschreiben.13 In den Begriffen agārikabhūta und agāriyabhūta steckt das Wort agāra für „Haus“, das wir aus der Standardformel „vom Haus in die Hauslosigkeit“ kennen, das interessanterweise aber in solchen Gegenüberstellungen sonst praktisch nicht mehr auftaucht. Nur an einer Stelle erscheint agārin, das dort schlicht mit upāsaka verbunden wird („hausbesitzender Laienanhänger“) (Sn 66,15).14 Wenn Asketen und Haushalter gegenübergestellt werden, ist neben diesen Einzelfällen das Standardwort für „Haus“ eine Variante des Wortes, das im Sanskrit gṛha lautet. Drei Begriffe für Haushalter sind am gängigsten und in ihrer Wortbedeutung praktisch synonym: gahaṭṭha (Skt. gṛhastha, wörtlich „Hausresident“), gihin (Skt. gṛhin, wörtlich „Häusler, Hausbesitzer“) und gahapati (Skt. gṛhapati, wörtlich „Hausherr“). Bevor ich diese Begriffe weiter diskutiere, sollte ich darauf hinweisen, dass zwei von ihnen auch in der außerbuddhistischen Literatur jener Zeit eine wichtige Rolle spielten. Der Gṛhastha ist die zentrale Institution der brahmanischen Dharmaliteratur, die ca. im 3. Jahrhundert v. Chr. beginnt. Diese Dharmasūtras und Dharmaśāstras sind Rechtstexte, die die Lebensweise und Pflichten von Brahmanen regeln und ihr Hauptaugenmerk auf den verheirateten Haushalter legen, deren Status sie als ideal darstellen. Dies wird besonders deutlich im System der vier Āśramas, die zunächst Lebensweisen und dann Lebensstadien bezeichneten: Brahmanenschüler, Haushalter, Waldeinsiedler und Wanderasket. Die primäre Dichotomie in

10 Nach Margaret Cone, A Dictionary of Pāli, 2. Bd. (Bristol: The Pali Text Society, 2010), 82, parallel zu Skt. gṛhamedhin, „Vollzieher der Hausriten.“ 11 Die dritte Stelle ist It 112,6, wo gharamesin als Synonym von gahaṭṭha und sāgāra erscheint. 12 So oder ähnlich in Ud 59,31; Sn 72,4; DN I 63,3; DN I 250,11; MN I 179,12; MN I 240,20; MN I 267,24; MN I 344,30; MN II 211,29; SN II 219,25; SN V 350,23; AN II 208,23; AN V 204,17. In MN II 198,21 werden die Pflichten des Hauslebens (gharāvāsa-kammaṭṭhāna) denen des hauslosen Lebens (pabbajjā-kammaṭṭhāna) gegenübergestellt. Siehe auch AN III 295,22. 13 Ud 18,29ff.; Ud 57,22ff.; SN II 219,24; SN V 89,16; AN II 124,3; AN III 375,9; AN IV 370,22; AN IV 372,9. 14 Ein weiteres Wort ist gharaṭṭha, das aber nur als vario lectio zu gahaṭṭha (s. u.) erscheint (It 112,6).

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diesem eigentlich vierfachen Konzept ist die zwischen Haushalter (gṛhastha) und Wanderasket, die, wie wir schon gesehen haben, mit umgekehrten Vorzeichen auch aus den buddhistischen Texten bekannt ist. Während die Buddhisten das hauslose Leben prinzipiell als höherwertig ansehen, ist es bei den brahmanischen Texten umgekehrt, bis hin zu einer Aneignung asketischer Ideale, durch die der ideale brahmanische Hausvater als der „wahre Asket“ erscheint.15 Auch wenn sich in der brahmanischen Dharmaliteratur keine explizite Nennung buddhistischer oder anderer nicht-brahmanischer Asketentraditionen findet, ist diese Parallele doch auffällig. Ein kürzlich erschienener Sammelband untersucht das Konzept des Haushalters und den Begriff gṛhastha in mehreren Genres altindischer Literatur.16 Stephanie Jamisons Beitrag in diesem Band zeigt, dass Gṛhastha entgegen dem bisherigen Verständnis keineswegs ein alter vedischer Begriff ist, sondern vielmehr eine Innovation in der brahmanischen Tradition darstellt. Vor den Dharmatexten ist der Begriff in der gesamten vedischen Literatur praktisch nicht belegt.17 Sie vermutet, dass die brahmanischen Autoren dieser Texte die Idee der Kontrastierung von Asket und Haushalter aus dem asketischen Diskurs der Buddhisten und anderer Asketengemeinschaften übernommen und sich angeeignet haben – nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Der neue Begriff gṛhastha stammt nach Jamisons Vermutung aus eben jenem Diskurs, was auch zeitlich passen würde. Frühe buddhistische und jinistische Texte in Pāli und Prakrit wie auch Aśokas Inschriften, die alle ungefähr in dieselbe Zeit wie die frühesten Dharmasūtras zu datieren sind, verwenden den Begriff in dieser Weise. Ein anderes Wort, das in der vedischen Tradition gut etabliert ist und den brahmanischen Innovatoren eigentlich zur Verfügung gestanden hätte – gṛhapati, „Hausherr“ – sei ihnen laut Jamison vielleicht nicht passend erschienen, weil das von diesem Wort abgeleitete Gārhapatya-Ritualfeuer nicht mit dem Ritual des Hauses (gṛhya), sondern mit dem öffentlichen und komplexeren Śrautaritual verknüpft gewesen sei.18 Der ältere Begriff gṛhapati sei mit der Ent-

15 Patrick Olivelle spricht von einer Domestizierung von Askese. Siehe Patrick Olivelle, Rules and Regulations of Brahmanical Asceticism (Albany: State University of New York Press, 2005), 12–26, und ders., „The Ascetic and the Domestic in Brahmanical Religiosity“, in: Asceticism and Its Critics: Historical Accounts and Comparative Perspectives, hg. von Oliver Freiberger (Oxford: Oxford University Press, 2006), 25–42. 16 Patrick Olivelle (Hg.), Gṛhastha: The Householder in Ancient Indian Religious Culture (New York: Oxford University Press, 2019). 17 Zum folgenden siehe Stephanie W. Jamison, „The Term Gṛhastha and the (Pre)history of the Householder“, in: Gṛhastha: The Householder in Ancient India, hg. von Patrick Olivelle (New York: Oxford University Press, 2019), 3–19. 18 Jamison schreibt: „My working assumption is that the disjunction between the gṛhapati and the gārhapatya, which inhabit two different ritual systems, caused some discomfort – that is, a feeling that the standard householder performing domestic rituals perhaps shouldn’t be called gṛhapati

Haus versus Hauslosigkeit

stehung und Entwicklung der Dharmatexte vollständig durch gṛhastha abgelöst worden, was aber mehr beinhalte als nur das Auswechseln von Begriffen. Vielmehr hätten die Verfasser dieser Texte ein völlig neues Konzept vom Haushalter eingeführt, das als Antwort auf die im asketischen Diskurs betonte Kontrastierung von Asketen und Haushaltern zu verstehen sei. Wenn Jamisons gut begründete These zutrifft, wäre dies ein Beleg für die Wirkmächtigkeit der grundlegenden konzeptuellen Unterscheidung von Haus und Hauslosigkeit, die auch in den frühen Pāli-Texten zu beobachten ist. Allerdings ist festzustellen, dass in diesen Texten von den drei geläufigsten Begriffen für Haushalter gahaṭṭha (Skt. gṛhastha) der am seltensten belegte ist. Er erscheint nur 27-mal – im Unterschied zu gihin (65-mal) und gahapati (224-mal). Claire Maes hat gezeigt, dass die frühen Jainatexte einen ganz ähnlichen Befund aufweisen – dort erscheint gihattha (die verwendete Prakrit-Form von Skt. gṛhastha) nur fünfmal.19 Wie ich in meinem Beitrag zum Gṛhastha-Band vorschlug, könnte gerade der Umstand, dass der Begriff durchaus den Kontrast von Haus und Hauslosigkeit in sich trägt, aber nur sporadisch verwendet wird und daher auch weniger mit Asketenideologie aufgeladen ist als die anderen beiden Begriffe (gihin und gahapati), dazu beigetragen haben, dass sich die Brahmanen den Begriff gṛhastha für ihre Zwecke aneigneten.20 Wichtiger für unsere Diskussion sind die Begriffe gihin und gahapati. Während sie, genau wie gahaṭṭha (Skt. gṛhastha), auf den ersten Blick synonyme Allgemeinbegriffe für Haushalter zu sein scheinen, zeigt eine genauere Betrachtung, dass sie sehr unterschiedlich verwendet werden. Ich fasse im Folgenden kurz einige Ergebnisse meiner Wortstudie zusammen. Gihin erscheint in dem hier untersuchten Korpus 65-mal21 und wird fast immer im Zusammenhang mit der Kontrastierung von Hausleuten und Asketen verwendet, etwa auch wenn von dem früheren Hausleben eines Asketen gesprochen wird. Häufig ist von gihins als Gruppe die Rede, insbesondere wenn ein Asket ihnen religiöse Unterweisung gibt. Wenn sie als „weißgekleidete Gihins“ bezeichnet werden,

because that is associated with śrauta rites – and that, given the higher prestige of the śrauta system, the term gṛhapati for the central figure of the gṛhya system passed out of use or, rather, was not carried over into the dharma texts“ (Jamison, „The Term Gṛhastha“, 14). 19 Claire Maes, „Gāhāvaï and Gihattha: The Householder in the Early Jain Sources“, in: Gṛhastha: The Householder in Ancient India, hg. von Patrick Olivelle (New York: Oxford University Press, 2019), 75–91. Maes untersucht hier die Texte Ācārāṅga Sūtra (Ardhamāgadhī Āyāraṅga), Uttarādhyayana Sūtra (Ardham. Uttarajhayaṇa) und Sūtrakṛtāṅga (Ardham. Sūyagaḍaṅga). 20 Oliver Freiberger, „Gṛhastha in the Śramaṇic Discourse: A Lexical Survey of House Residents in Early Pāli Texts“, in: Gṛhastha: The Householder in Ancient Indian Religious Culture, hg. von Patrick Olivelle (New York: Oxford University Press), 58–74. 21 Ich habe den jeweiligen Begriff für jeden narrativen Zusammenhang nur einmal gezählt und nur die Erstnennung notiert. Für detaillierte Belege zum folgenden siehe Freiberger, „Gṛhastha in the Śramaṇic Discourse“.

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ist es oft eine Gruppe von Anhängern (sāvaka) eines bestimmten Asketenlehrers – des Buddha, Nigaṇṭha Nāthaputtas (d. h. Mahāvīras, des Führers der Jainas) oder Purāṇa Kassapas (des Führers der Ājīvikas). Die buddhistischen Texte erklären das angemessene Verhalten und die Pflichten von Gihins (gihīsāmīcipaṭipadaṃ; gihisāmīcikāni sikkhāpadāni; gihidhamma). Diese beinhalten die Sorge für Familie, Freunde, Bedienstete, Asketen sowie die Ausstattung des buddhistischen Ordens mit Kleidung, Nahrung, Unterkunft und Medizin. Umgekehrt sorgten die Mönche für die Gihins, weil sie sie aus Mitgefühl religiös unterwiesen und ihnen die Gelegenheit zum Verdiensterwerb eröffneten. In der direkten Gegenüberstellung wird aber immer deutlich hervorgehoben, dass das Leben von Asketen dem der Gihins spirituell überlegen sei. Letztere seien in den Fesseln des weltlichen Lebens gefangen und insgesamt unfähig, die tiefere Wahrheit der buddhistischen Lehre zu verstehen. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass es hier nicht um die Bezeichnung einer bestimmten, empirisch fassbaren Gruppe geht, sondern um die Verwendung eines Begriffs. Wenn Haushalter in den Texten als gihin bezeichnet werden, wird fast ausschließlich entweder ein Typus von Haushalter mit bestimmten Pflichten beschrieben oder eine namenlose Masse, die einem Asketenlehrer folgt. Ganz anders verhält es sich mit dem Begriff gahapati, dem bei weitem häufigsten Begriff für Haushalter in dem hier untersuchten Korpus. Er ist 224-mal belegt und damit mehr als dreimal so oft wie gihin, was auch an seiner Einbindung in bestimmte Standardreihungen liegt, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Gahapati ist der geläufigste Begriff für Haushalter, die sich im direkten Umfeld des buddhistischen Ordens befinden. Auf buddhistische Laienanhänger (upāsaka) – in Gruppen wie auch als Individuen – wird regelmäßig mit dem Begriff gahapati verwiesen. Viele namentlich bekannte Upāsakas werden Gahapati genannt, z. B. Anāthapiṇḍika, Nakulapitā, Hāliddikāni, Ugga, Citta, Hatthaka, Uggata, Tapussa, Dasama, Upāli, Ghosita, Dārukammika, Vajjamāhita und einige mehr. Auch wenn der Buddha sich im Gespräch mit individuellen Haushaltern befindet, spricht er sie immer als „Gahapati“ an. Einige Stellen berichten, dass Gahapatis verschiedene Stufen auf dem buddhistischen spirituellen Weg erreicht haben wie Stromeintritt (sotāpanna)22 und „Nicht-Wiederkehrer“ (anāgāmin)23 . An einer Stelle erscheint sogar eine Liste von namentlich genannten Gahapatis, die alle die „Todlosigkeit“ (amata) erreicht hätten.24 Die Lebensweise von Haushaltern, die Gahapati genannt werden, wird fast nie kritisch diskutiert oder negativ bewertet, ganz im Gegenteil: 22 Anāthapiṇḍika: SN V 380,19; SN V 385,14; SN V 387,17. 23 Sirivaḍḍha: SN V 176,14; Mānadinna; SN V 178,3; Dīghāvu (SN V 34; sein Vater wird gahapati genannt). 24 Bhallika, Sudatta, Anāthapiṇḍika, Citta Macchikāsaṇḍika, Hatthaka Āḷavaka, Mahānāma Sakka, Ugga Vesālika, Uggata, Sūra Ambaṭṭha, Jīvaka Komārabhacca, Nakulapitā, Tavakaṇṇika, Pūraṇa,

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Der Ton, mit dem über sie und mit ihnen – oft als Individuen – gesprochen wird, ist freundlich und fürsorglich, und ihre Anliegen werden ernst genommen. Schon diese knappe Zusammenfassung zeigt, wie ich hoffe, den deutlichen Unterschied in der Verwendungsweise von gihin und gahapati. Wenn die Autoren gihin verwenden, betonen sie die Kluft zwischen asketischem und nicht-asketischem Leben und den Wertunterschied der beiden Lebensformen. Sie sprechen über eine namenlose Masse von spirituell beschränkten Haushaltern, die auch anderen Asketenlehrern anhängen können. Wenn sie gahapati verwenden, geht es um Haushalter, die dem buddhistischen Orden nahestehen, die potenziell große spirituelle Kapazitäten besitzen und die man auch als Individuen ernst nimmt. Der Umstand, dass sich mit dieser semantischen Unterscheidung den Verfassern eine Option bietet, unterstreicht die positive Konnotation von gahapati.

Gahapati als säkularer Begriff Trotz ihrer Unterschiede haben die hier vorgestellten Verwendungsweisen von gihin und gahapati den religiösen Rahmen gemeinsam. Sie heben bestimmte Beziehungen hervor, die zwischen Haushaltern und Asketen bzw. buddhistischen Mönchen bestehen, jedenfalls aus der Sicht der monastischen Verfasser der Texte. Es ist nun für unser Thema interessant zu beobachten, dass der Begriff gahapati in demselben Textkorpus auch noch in anderen Zusammenhängen erscheint, wo er narrativ nicht auf buddhistische Laienanhänger bezogen ist. Ein häufig auftretendes Kompositum ist brāhmaṇa-gahapaṭikā (Plural), das sowohl als „Brahmanen und Haushalter“ wie auch als „brahmanische Haushalter“ übersetzt werden kann.25 Oft erscheinen brāhmaṇa-gahapaṭikā in der Einleitung einer Erzählung als Halter von Dörfern, die der Buddha besucht. In ihrer Majjihima-Nikāya-Übersetzung gibt I. B. Horner dieses Kompositum kurioserweise nur mit „brahman householders“ wieder, wenn das betreffende Dorf als Brahmanendorf (brāhmaṇagāma) spezifiziert wird. Wenn keine solche Spezifizierung vorliegt, übersetzt sie „brahmans and householders“, obwohl sich die narrativen Kontexte sonst sehr ähneln. Das erscheint mir wenig befriedigend. Eine Reihe von Stellen legt m. E. nahe, dass meist von zwei verschiedenen Gruppen die Rede ist, z. B. wenn gesagt wird, dass Mahāgovinda „ein Brahmā für die Brahmanen und eine Devatā-Gottheit für die Gahapatikas“ sei.26 An einigen

Isidatta, Sandhāna, Vijaya, Vajjiyamahita, Meṇḍaka (AN III 451,9). In MN II 173,32 „erwacht“ ein gahapati „zur Wahrheit“ (saccānubodha). 25 Dass hier das Possessivpostfix -ka angehängt ist, spielt, soweit ich sehen kann, für die Semantik keine Rolle. 26 DN II 248,25. Andere Stellen legen dies ebenso nahe. Siehe DN II 178,2; MN III 176,23; SN I 59,15; It 111,9.

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Stellen, die die Sorge des Königs für seine Untertanen beschreiben, erscheinen die brāhmaṇa-gahapatikā neben Stadt- und Landvolk (negama-jānapadā).27 Allgemein scheint das Kompositum brāhmaṇa-gahapatikā auf zwei soziale Gruppen zu verweisen: Brahmanen und Gahapatis. Im narrativen Kontext dieses Kompositums erscheint jedenfalls weder die Kontrastierung von Gahapatis und Asketen noch die enge Verbundenheit zum buddhistischen Orden, die wir zuvor beobachtet hatten. Mit einer anderen Standardverwendung von gahapati verhält es sich ähnlich. Hier ist von „Gruppen“ (oder „Versammlungen“, parisā) die Rede, die drei sozialen Kategorien zugeordnet werden: Khattiyas (Skt. ks.atriya), Brahmanen und Gahapatis.28 Manchmal sind als vierte noch Samaṇas (Asketen) genannt.29 Diese vier werden als wichtige Gruppen beschrieben, denen sich ein tugendhafter Mensch (gemeint ist hier wohl ein buddhistischer Mönch oder eine buddhistische Nonne) selbstbewusst nähern kann. Manche Stellen sagen, dass kluge Mitglieder dieser Gruppen den Buddha nicht widerlegen können, wenn sie ihn befragen, dass sie Vertrauen in ihn haben oder dass sie sich nach seinem Tod um seine Reliquien kümmern.30 In einigen dieser Listen werden die ersten drei Gruppen – Khattiyas, Brahmanen und Gahapatis – als wohlhabend (mahāsāla) beschrieben.31 Es ist verlockend, die Dreierliste als eine Version des brahmanischen VarṇaSystems (Brahmanen, Ks.atriyas und Vaiśyas) zu verstehen.32 Die vertauschte Reihenfolge der ersten beiden, Brahmanen und Ks.atriyas, ist in buddhistischen Texten üblich. Die dritte Gruppe der Gahapatis würde dann den Vaiśyas entsprechen, was inhaltlich durchaus passen könnte. Meines Erachtens sprechen aber einige Punkte gegen diese unmittelbare Parallelisierung. Erstens hätte die manchmal genannte vierte Gruppe von Asketen ihre Entsprechung dann in den Śūdras, der niedrigsten und unreinsten Klasse in der brahmanischen Liste, was wohl kaum im Sinne der buddhistischen Verfasser wäre. Zweitens werden an manchen Stellen den vier genannten noch vier weitere Gruppen hinzugefügt (vier Klassen von göttlichen Wesen), die ebenfalls keine Entsprechung im brahmanischen Varṇa-System haben. Aber am bedeutendsten scheint mir, dass fast nie Unterschiede zwischen den Gruppen genannt werden. Was über sie gesagt wird, gilt meist für alle: Sie sind wohlhabend, sie haben weise (und dumme) Mitglieder, eine tugendhafte Person soll sich

27 DN II 202,10; DN III 61,7. Similar in DN III 148,13; 153,6; 167,19; 169,16; 170,23; 172,11; 177,16; MN II 78,29; MN III 116,3f.; AN I 110,1; AN II 74,31; AN III 149,30. Siehe auch DN I 136,25. 28 DN I 8,23; DN I 67,3; MN I 86,19; MN I 88,7. 29 DN II 85,23; DN II 145,18; DN III 44,2–4 (hier titthiyā anstelle von samaṇā); DN III 236,8; AN II 133,10; AN III 39,17; AN III 253,3; AN III 328,9; AN IV 80,33; AN IV 114,32. 30 DN II 141,24; MN I 176,34; MN I 395,25; MN I 502,18; MN II 123,9; SN III 8,3. 31 DN II 146,17; DN II 169,13; DN III 16,20; SN I 71,11; AN IV 129,19. 32 Siehe Stephanie W. Jamison, „The Double Life of gahapati“, in Vorbereitung als Beitrag für eine Festschrift, 10.

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ihnen selbstbewusst nähern usw. Dies steht in starkem Kontrast zum Varṇa-System, dessen zentrale Idee die hierarchische Ordnung der vier Klassen ist, denen unterschiedliche Grade ritueller Reinheit zugeschrieben werden. Die buddhistischen Texte scheinen dagegen mit der Liste lediglich bestimmte Gesellschaftsgruppen deskriptiv zu benennen. Da die Gruppen nicht weiter differenziert werden und sich nur bei Brahmanen und Asketen eine religiöse Dimension andeutet, bleiben die Gahapatis in diesen Kontexten religiös unbestimmt – man könnte sagen, säkular. Eine Ausnahme ist eine Stelle im Aṅguttara-Nikāya, an der der Buddha gefragt wird, wonach Khattiyas, Brahmanen, und Gahapatis jeweils strebten, welcher Sache sie sich widmeten, worauf sie ihren Fokus richteten und was ihr letztes Ziel sei. Interessanterweise stimmen zunächst alle überein: Alle drei strebten nach Reichtum (bhoga) und Weisheit (paññā). Aber dann geht es auseinander: Khattiyas widmeten sich ihrer Macht, richteten den Fokus auf das Herrschaftsgebiet, und ihr letztes Ziel sei Herrschaft. Brahmanen widmeten sich vedischen Hymnen, richteten ihren Fokus auf das Opfer, und ihr letztes Ziel sei die Brahmawelt. Gahapatis widmeten sich Handwerk und Kunst (sippa), richteten ihren Fokus auf die Arbeit/den Beruf (kammanta), und ihr letztes Ziel sei die Vollendung der Arbeit (niṭṭhitakammanta).33 In ihrem Buch The Social Dimensions of Early Buddhism leitet Uma Chakravarti aus dieser Beschreibung die These ab, dass die Buddhisten damit drei gesellschaftliche Domänen unterschieden: Macht, Religion und Wirtschaft.34 Dies scheint mir etwas hoch gegriffen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass die Erläuterungen des Buddha an jener Stelle noch weiter gehen (was Chakravarti nicht erwähnt). Nach demselben Schema werden auch die Ziele und Foki anderer Gruppen beschrieben: von Frauen, Dieben und Asketen. Aber was wiederum deutlich wird, ist, dass hier in der Tat ausschließlich die wirtschaftliche – man könnte sagen: säkulare – Identität von Gahapatis beschrieben wird, einschließlich dem Streben nach Reichtum (– welches nur vermerkt, nicht bewertet wird). Gahapati ist hier eine Kategorie, die eine soziale Gruppe bezeichnet, die von Politikern, Brahmanen, Frauen, Kriminellen und Asketen unterschieden wird. Chakravarti fasst einige Eigenschaften dieser Gruppe zusammen, die in den kanonischen Pāli-Texten genannt werden.35 Gahapatis erscheinen als Eigentümer von Land, Obstplantagen, Korn, Vieh, Sklaven, Gold und Silber und als bedeutende Steuerzahler. Sie werden mit verschiedenen Formen von Landwirtschaft assoziiert und sind Arbeitgeber für Landarbeiter und Bedienstete. Chakravarti weist darauf hin, dass gahapati ein Statusbegriff für das Familienoberhaupt, den Vorsteher eines Haushalts sei, der alleinige Kontrolle über die Besitztümer habe. Gahapati-puttas, 33 AN III 363,2–14. 34 Uma Chakravarti, The Social Dimensions of Early Buddhism (New Delhi: Munshiram Manoharlal, 1996 [1987]), 66f. 35 Zum folgenden siehe Chakravarti, The Social Dimensions, 69–71 und 79–84.

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Söhne von Gahapatis, begegnen auch regelmäßig, haben aber nicht denselben Status wie ein Gahapati. Aus Sicht der buddhistischen Texte ist dieser Status offenbar auch mit hohem gesellschaftlichem Ansehen verbunden. Der Wohlstand von Gahapatis ermöglichte manchen von ihnen ein luxuriöses Leben. Diese Beschreibungen stammen zwar aus normativen buddhistischen Texten, aber sie finden sich meist in Hintergrunddarstellungen und sagen nichts über das religiöse Leben von Haushaltern. Vielmehr wird der Begriff verwendet, um eine bedeutende gesellschaftliche Gruppe, deren wirtschaftlicher Status hervorgehoben wird, von klar religiös markierten Gruppen wie Brahmanen und Asketen zu unterscheiden. Man könnte also sagen, dass diese Verwendung des Begriffs gahapati auf eine säkulare Sphäre der Gesellschaft verweist. Diese Interpretation wird gestützt durch eine weitere Standardformel, in der gahapati erscheint. In dem schon erwähnten Konzept von Buddha und Cakkavattin wird gesagt, dass wenn ein Mensch mit den 32 außerordentlichen Kennzeichen kein Buddha, sondern ein Cakkavattin werde, ein Universalherrscher, er dann sieben Juwelen (ratana) besitze: Das Radjuwel, das Elefantenjuwel, das Pferdejuwel, das Diamantenjuwel, das Frauenjuwel, das Gahapati-Juwel (gahapati-ratana) und das Beraterjuwel.36 Man könnte dies als eine Liste von Statussymbolen des Herrschers verstehen: Das Rad verweist vermutlich auf königliche Territorialherrschaft, Elefanten und Pferde auf ein starkes Militär, Diamanten auf Reichtum, die Frau auf die Königsfamilie inkl. Nachkommen,37 Gahapati auf eine starke Wirtschaft und Berater auf einen funktionierenden politischen Apparat. Auch wenn im größeren Rahmen des Cakkavattin-Konzepts, wie oben dargelegt, der Herrscher letztlich den buddhistischen Dhamma auf seine Weise zu verwirklichen sucht, ist doch in der Beschreibung selbst keine unmittelbar religiöse Dimension erwähnt. Diese erscheint erst klar und mächtig in der folgenden Gegenüberstellung des Cakkavattin mit dem Buddha. Wiederum steht hier also Gahapati für eine Wirtschaft, die neben Politik, Militär und anderen Elementen eine säkulare Gesellschaftssphäre bildet. Es ist wahrscheinlich, dass das Wort gahapati als säkulare Bezeichnung einer Wirtschaftselite keine Eigenprägung der Buddhisten, sondern zu jener Zeit verbreitet war. Darauf weist zunächst der Umstand hin, dass diese Verwendung des Wortes ausschließlich in Hintergrundbeschreibungen und Listen erscheint und selbst keine

36 Cakka-ratanaṃ hatthi-ratanaṃ assa-ratanaṃ maṇi-ratanaṃ itthi-ratanaṃ gahapati-ratanaṃ pariṇāyaka-ratanaṃ. Sn 106,14; DN I 89,3; DN II 16,18; DN II 176,7; 188,1; 191,32; 193,28; 195,14; 197,9; DN III 59,6; DN III 75,25; DN III 142,14; DN III 177,9; MN II 134,22; MN III 175, 14f.; SN V 99,5; AN IV 89,17. Fünf Juwelen in AN III 167,29. 37 Vielleicht ist hier auch auf die Vollständigkeit der Ritualfähigkeit mitgedacht, wie sie in vedischen Texten erscheint. Die wichtigen Opferrituale haben demzufolge nur Wirksamkeit, wenn im Ritual der Opferherr die Frau an seiner Seite hat. Siehe hierzu Stephanie Jamison, Sacrificed Wife/Sacrificer’s Wife: Women, Ritual, and Hospitality in Ancient India (New York: Oxford University Press, 1996).

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besondere Aufmerksamkeit erhält. Außerdem findet sie sich ebenfalls in den frühen Jainatexten,38 im buddhistischen Sanskrit, in Inschriften und in etwas späteren Sanskrittexten.39 In einem neuen Aufsatz, in dem sie die Entwicklung des Begriffs gṛhapati/gahapati untersucht, kann Stephanie Jamison zudem sogar in der früheren vedischen Literatur zwei Verwendungsweisen belegen.40 Neben dem (selten explizit gṛhapati genannten, weil regulär gemeinten) „Hausherrn“ der Gṛhyasūtras, die das vedische Hausritual erklären, erscheint der Begriff auch in den Śrautasūtras, die größeren öffentlichen Opferritualen gewidmet sind, allerdings in anderer Weise. Bei langen Sattra-Ritualen, die mehr als zwölf Tage dauern, gibt es nicht nur einen Opferherrn (yajamāna), sondern mehrere, von denen einer als Führer agiert und in dieser Funktion Gṛhapati genannt wird. Diese Person übernimmt als primus inter pares eine Führungsrolle und wird darin zumindest implizit mit dem Gott Agni identifiziert. Es ist wahrscheinlich, dass einflussreichen und wohlhabenden Personen diese Rolle zufiel. Jamison schreibt: It is this role that in my opinion gave rise to the “rich prominent man” usage of *gṛhapati in post-Vedic texts. … Once the lead sacrificer at a sattra had come to be designated as gṛhápati, the usage of the term could broaden to designate the same man outside of his ritual role: someone prominent enough to be a ritual gṛhápati could start being called gṛhápati in his non-ritual life and by non-co-religionists. As a courtesy title to begin with – just as an American football coach or boat captain can be addressed as “Coach” or “Capt.” when he’s buying groceries or playing golf, not just when he’s directing players in a game or piloting a boat. But because to become a ritual gṛhápati required attributes like wealth and social prominence, the title gṛhápati could come to signify as its core meaning a person who has such attributes.41

Jamison vermutet also, dass gṛhapati als ursprünglich religiöser Titel eines führenden Opferherrn Eingang in den säkularen Bereich fand und dort dann als Titel wohlhabender und einflussreicher Leute verwendet wurde. Man könnte auch mit Olivelle überlegen, ob nicht umgekehrt die vedischen Ritualtexte auf die bereits damals bestehende (säkulare) Bezeichnung eines reichen Mannes zurückgriffen.42

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Siehe Maes, „Gāhāvaï and Gihattha“, bes. 90–91. Siehe Jamison, „The Double Life of gahapati“, 12f. Zum folgenden siehe Jamison, „The Double Life of gahapati“. Jamison, „The Double Life of gahapati“, 18 und 19f. Jamison erwähnt Olivelles Vermutung, ist aber wegen der fehlenden Belege skeptisch. Siehe Jamison, „The Double Life of gahapati “, Anm. 30. Olivelle meint, dass es unwahrscheinlich sei, dass Buddhisten und Jainas einen Begriff verwendet hätten, der erkennbar aus dem brahmanischen Ritualkontext stammt, um eine gesellschaftliche Gruppe säkular zu beschreiben (persönliche Mitteilung). Darüber hinaus ist gṛhapati, wörtlich „Hausherr“, bereits von seiner Wortbedeutung her so generisch, dass

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In jedem Fall ist der von Jamison präsentierte Befund ein Hinweis darauf, dass bereits in vor-buddhistischer Zeit wohlhabende Personen auch außerhalb eines religiösen Rahmens Gṛhapati/Gahapati genannt wurden.43

Zwei Gahapatis vereint Eine genauere Betrachtung ergibt also, dass das Wort gahapati in den untersuchten buddhistischen Texten (und darüber hinaus) zwei deutlich verschiedene semantische Felder besitzt. In seiner säkularen Variante bezeichnet es eine Wirtschaftselite – deren religiöse Orientierung oder Praxis in diesen narrativen Kontexten nie erwähnt wird –, während es in seiner religiösen Variante Haushalter benennt, die am engsten mit dem buddhistischen Orden verbunden sind. Wie ist das zu erklären? Wie schon an anderer Stelle angedeutet,44 vermute ich, dass die Verfasser der Texte die beiden semantischen Felder bewusst verknüpften, um damit um Anhänger und materielle Unterstützung zu werben – dass sie sich bewusst diesen (säkularen) Begriff für ihre (religiösen) Zwecke aneigneten. Zunächst ist festzustellen, dass für die brahmanisch-religiöse Verwendung des Wortes (als Hausherr in den Gṛhyasūtras oder als führender Opferherr in den Śrautasūtras) keinerlei Parallele in den buddhistischen Texten zu existieren scheint. Der buddhistisch-religiöse Gahapati ist kein Ritualist. Vielmehr werden hier Gahapatis als wohlhabende, großzügige und sogar spirituell fortgeschrittene buddhistische Laienanhänger dargestellt. Sie sind für die Mönche und Nonnen Gesprächspartner auf Augenhöhe, ihr Wohlstand wird von den asketischen Verfassern der Texte nicht kritisiert, sondern gelobt, und es wird auf ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse eingegangen. Während gahapati als säkularer Begriff in den buddhistischen

eine allgemeinere, nicht technisch-ritualistische Verwendung kaum überraschen würde. Dass eine solche in den vor-buddhistischen Texten nur indirekt belegt zu sein scheint, kann durchaus an der spezifisch religiösen Ausrichtung der vedischen Texte liegen und spricht nicht gegen die Möglichkeit eines verbreiteten Alltagsgebrauchs außerhalb des spezifisch rituellen Rahmens. 43 Gṛhapati erscheint daneben in vedischer Literatur, insbesondere den Brāhmaṇas, auch als Titel für den Führer einer Gruppe von Vrātyas, umherwandernden Bruderschaften mit asketischen Aspekten. Der Hintergrund dieser Verwendungsweise des Begriffs müsste noch näher erforscht werden, aber auch hier könnte u. U. ein ursprünglich herausragender sozialer Status dieser Person (oder ihrer Familie) eine Rolle gespielt haben. Siehe zu den Vrātyas z. B. Harry Falk, Bruderschaft und Würfelspiel: Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte des vedischen Opfers (Freiburg: Falk, 1986), 20–30. Ich danke unserem Doktoranden Evan LeBarre, der über die Vrātyas arbeitet, für diesen Hinweis. 44 Oliver Freiberger, „Zu Hause beim Saṅgha: Bezeichnungen für Nicht-Asketen in frühen Pālitexten“, in: Saddharmāmṛtam: Festschrift für Jens-Uwe Hartmann zum 65. Geburtstag, hg. von Oliver von Criegern, Gudrun Melzer und Johannes Schneider (Wien: Arbeitskreis für tibetische und buddhistische Studien, 2018), 127–137.

Haus versus Hauslosigkeit

Texten generell neutral-deskriptiv ist, erscheint er in diesem religiösen Kontext durchgehend positiv konnotiert. Dies wird besonders im Kontrast zu dem ebenfalls geläufigen, alternativen Begriff für Haushalter, gihin, deutlich, dessen Verwendung die Überlegenheit des asketischen Lebens gegenüber dem Hausleben betont. Er verweist oft auf eine namenlose Masse von Haushaltern und kann – im Unterschied zu gahapati – auch Laienanhänger von nicht-buddhistischen Lehrern bezeichnen. Wenn also buddhistische Mönche und Nonnen bei Vertretern der damaligen Wirtschaftselite für den buddhistischen Dharma warben, konnten sie erzählen, wie fürsorglich und entgegenkommend der Buddha mit „Gahapatis“ umging – mit Haushaltern, die selbstbewusst auftraten und eigene spirituelle Interessen hatten. Dass diese buddhistischen Laienanhänger „Gahapati“ genannt wurden, machte es für die gleichnamige Wirtschaftselite leicht, sich mit ihnen zu identifizieren. Zugleich kann die andere Option, nämlich als leicht beschränkte Gihins zu gelten, die (auch) anderen Asketenlehrern folgten, nicht besonders attraktiv erschienen sein. Damit konnten die Buddhisten im selben Zug die Grenze zu anderen Religionen hervorheben, die um dieselben Ressourcen warben. Es ist also denkbar, dass die Verfasser der buddhistischen Texte einen Begriff, der mit einer bestimmten säkularen Sphäre der Gesellschaft verknüpft war, mit stark positivem religiösen Inhalt anreicherten, um den Buddhismus für eben diese Wirtschaftselite attraktiv zu machen, ihr Interesse für die buddhistische Lehre zu wecken und damit nicht zuletzt die materielle Unterstützung des Ordens zu sichern.

Haus versus Hauslosigkeit = säkular versus religiös? Zum Schluss möchte ich auf die Ausgangsfrage im Titel dieses Beitrags zurückkommen: Entsteht durch die Kontrastierung von Haus und Hauslosigkeit Säkularität? Zunächst ist festzuhalten, dass die Gegenüberstellung der beiden als zwei alternative Lebensformen, die wir in den frühbuddhistischen Texten finden, in einem religiösen Interesse der Asketen wurzelt. Diese wollen ihre eigene Lebensform als die nützlichere – wenn nicht sogar als unumgänglich – für die Erreichung der spirituellen Ziele verstanden wissen und betonen daher den Unterschied zum nichtasketischen Hausleben. Im Rahmen dieser Kontrastierung erscheinen Haushalter primär in religionsbezogenen Rollen – als Empfänger buddhistischer Unterweisungen, als Versorger des Ordens, und als Personen, die idealerweise ihre ethischen Pflichten erfüllen –, nicht aber als unabhängiges säkulares Gegenüber.45 Bei der 45 Über ihr Leben außerhalb der Beziehung zu Asketen erfahren wir in diesen Kontexten wenig. Nur sehr vereinzelt wird z. B. erwähnt, dass ein Haushalter einen bestimmten Beruf oder gesellschaftliche Rolle hat, z. B. Zimmermann (thapati, MN I 396,30; MN III 145,30), Landwirt (kassaka; AN I 229,32; AN I 239,28; AN I 241,31) oder Dorfvorsteher (gāmaṇī; SN IV 315,11).

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Kontrastierung stehen die unterschiedlichen religiösen Kapazitäten und, damit verbunden, die unterschiedlichen religiösen Aufgaben und Pflichten beider Gruppen im Vordergrund. Wenn Jamisons oben genannte These zum Gṛhastha zutrifft,46 übernahmen die brahmanischen, nicht-asketischen Verfasser der Dharmaliteratur genau diese Kontrastierung, kehrten aber die Wertigkeit um, indem sie die von ihnen definierte Lebensweise des idealen Haushalters als dem Asketenleben überlegen darstellten. Wiederum geht es primär um die religiöse, nicht die säkulare Dimension des Haushalters. Beide Varianten der Kontrastierung, die asketische wie die brahmanische, dienen religiösen Zwecken. Noch stärker als bei der Gegenüberstellung von Cakkavattin und Buddha muss also spezifiziert werden, welche Gestalt und Funktion die Unterscheidung von religiös und säkular hat, wenn sie derart in einen religiösen Rahmen eingebettet ist. Die Motivation für diese Unterscheidung, der Grund für den Säkularitätsvorgang, wie ihn Wohlrab-Sahr und Burchardt definieren, ist selbst religiöser Natur. Das Säkulare erscheint nur in religiös gedeuteter Gestalt. Die heuristische Kraft des Säkularitätsbegriffs ermöglichte es aber, darüber hinaus eine weitere Säkularität zu beleuchten, die in den Texten abseits von der konzeptuellen Kontrastierung von Haus und Hauslosigkeit stattfindet. Die Untersuchung hat gezeigt, dass es in den Texten eine Verwendungsweise des Begriffs gahapati gibt, mit der eine bestimmte soziale Gruppe säkular gefasst und von anderen – auch von religiös bestimmten – Gruppen unterschieden wird. Die Unterscheidung zwischen religiöser und nicht-religiöser Sphäre findet hier nur beiläufig statt und wird insbesondere durch die Wahrnehmung der zwei verschiedenen semantischen Felder desselben Begriffs greifbar. Die säkulare Verwendungsweise von gahapati könnte ein Beispiel für die „latent, taken-for-granted forms (of secularity)“ sein, von denen Wohlrab-Sahr und Burchardt sprechen. Meine These war, dass die Buddhisten dann ganz bewusst das Wort gahapati, das bereits als säkularer Begriff existierte, mit positiven, spezifisch buddhistisch-religiösen Inhalten verknüpften, um den Buddhismus genau für jene gesellschaftliche Gruppe attraktiv zu machen. Wenn dies zutrifft, wird daran ersichtlich, dass den Verfassern der Texte eine in ihrem sozialen Kontext existierende Unterscheidung zwischen religiös und säkular bekannt war. Mit der Aneignung des säkularen Begriffs gahapati machten sie sich diese Unterscheidung zunutze, indem sie eine im Sprachgebrauch bestehende Grenze zwischen Säkularem und Religiösem verwischten und damit eine existierende Säkularität gezielt unterminierten.

46 Siehe Jamison, „The Term Gṛhastha“.

Peter Schalk

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“ Skizze einer nicht-religiösen kriegerischen Ideologie der tamilischen Tigerbewegung

1.

Eingang

Die Aussage „Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“ geht auf eine Gruppe von Kämpfern1 der tamilischen Tigerbewegung im Osten Sri Lankas zurück und wurde von der Anthropologin Patricia Lawrence registriert und im Jahr 2003 publiziert.2 Sie hatte die Frage an die Kämpfer aus dem Osten gestellt, warum sie nicht die Göttin Kāḷi, deren Kult weit verbreitet war, anbeteten, und bekam dann zur Antwort, dass Religion (als solche) nicht zum Bewusstsein des Kampfes gehöre.3 Die Gruppe war sich darin einig. Sie sprach aber nicht nur für sich, sondern auch für die ganze Tigerbewegung. Wir fragen: Stimmt das, und wie soll man bestimmen können, dass Religion nicht ins Bewusstsein eines jeden Kämpfers gehört? Wir deuten den Satz normativ: Religion soll nicht zum Bewussten eines jeden Kämpfers gehören. So macht der Satz Sinn. Mit Religion ist gemeint die Religionen im Umkreis, nämlich Caivam (Śivaismus), Christentum, Islam und Buddhismus. Warum soll kein Kämpfer ein Bewusstsein von Religion „haben“ – oder meint die Gruppe „manifestieren“? Wir werden sehen, dass das Letztere gilt. Man kann sehr wohl ein religiöses Bewusstsein „haben“ ohne es jederzeit zu „manifestieren“, so die Tigerbewegung. Patricia Lawrences eigene zuschreibende Erklärung ist nach meiner Beurteilung stichhaltig. Sie meint, dass die Tigerbewegung mit dieser Aussage religiöse antagonistische Entzweiung zwischen Hindus und Christen verhindern wolle.4 Man könnte auch Muslime und Buddhisten hinzufügen, aber in ihrem Gebiet waren

1 Mit Kämpfern meine ich Frauen und Männer, die den Treueeid auf Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ abgelegt haben. 2 „Religion is not part of the consciousness of the struggle.“ Patricia Lawrence, „Kāḷi in a Context of Terror: The Tasks of a Goddess in Sri Lanka’s Civil War“, in: Encountering Kali: In the Margins, at the Center, in the West, hg. von Rachel McDermott (Ewing: University of California Press, 2003), 100–122, hier: 106. 3 Leider hat Patricia Lawrence, die akribisch arbeitet, in diesem Fall nicht die tamilische Formulierung gegeben. 4 Lawrence, „Kāḷi in a Context of Terror“, 106.

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Hindus und Christen dominant. Sie sieht also die Aussage der Gruppe nicht als antireligiöse, sondern als sozialpolitische Aussage. Das impliziert, so meine ich, dass die Tigerbewegung, um Neutralität zu gewinnen, in der Wahl stehend, alle Religionen zu fördern oder keine, die zweite Alternative gewählt hat. Das bejahe ich, aber ich möchte mehrere Schritte weiter gehen in diesem Aufsatz. Der Dialog zwischen Patricia Lawrence und den Kämpfern ist komplex. Schon jetzt können wir ahnen, dass der Satz „Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“ ein Lehrsatz ist, den die Kämpfer gelernt haben und an andere Rekruten – oder wissensdurstige Anthropologen – weiter lehrten. Entfernt vom Osten, in Vaṉṉi, noch vor 2007, registrierte die norwegische Anthropologin Beate Arnestad5 eine ähnliche Aussage von einer Schwarzen Tigerin,6 unabhängig von persönlichen Verbindungen zu der Kampfgruppe im Osten und von deren Raum und Zeit. Die Schwarze Tigerin sagte: „In unserer Bewegung beschäftigen wir uns nicht mit Religion“. Die Übersetzung könnte auch lauten „Religion ist nicht von Belang für die Bewegung“ (siehe unten). Wir können nun sicher sein, dass die Aussage ein Lehrsatz der Ideologie der Tigerbewegung ist. Hinzu kommt nun noch, dass ein ehemaliger Major der Tigerbewegung mir im Oktober 2019 berichtete, dass er diese Aussage „Religion ist nicht von Belang für die Bewegung“ als Rekrut 1998 gelernt habe und dass er diese Aussage als Lehrer an Rekruten der Tigerbewegung bis Ende des Krieges im Jahr 2009 weiter gelehrt habe.7 Der Satz sagt also etwas darüber aus, was die Tigerbewegung von dem Kämpfer erwartet, und was auch von ihnen internalisiert wird. Man bedenke, dass diese einen Treueeid (cattiyapiramāṇam, urutimōḻi) abgelegt haben und eine strenge Disziplin, die nach den sechs Eigenschaften (paṇpukaḷ) eines Tigers benannt war, eingetrimmt bekamen. Die Frage ist nur, wie radikal der Satz von der Belanglosigkeit der Religion internalisiert wurde. Wir werden sehen, dass es durchaus einen kleinen Freiraum gab, wenn es um Religion ging. Wir können noch hinzufügen, dass der Major gelernt und seinen Rekruten auf Tamil gelehrt hat, was „säkular“ ist. Es gibt hierfür kein einzelnes Wort, aber es gibt die Bildung „unabhängig von der Religion“(mataccārpaṟṟa) (siehe unten). Die Tigerbewegung sei säkular, also unabhängig von der Religion. Der Major erinnerte sich auch daran, was er selbst gelernt und den Rekruten gelehrt hatte:

5 Beate Arnestad, My Daughter the Terrorist. A Beate Arnestad Film (Norway: Oslo Dokumentarkino, 2007). 6 Eine Schwarze Tigerin ist bereit die Kampftaktik „Leben als Waffe“ durchzuführen, d. h. sich als Waffe mit einer Bombenweste zu sprengen, um damit den Feind zu töten. 7 Der Major war in der Tigerbewegung zwischen 1998 und 2009 und lebt heute im Ausland. Die schriftliche Mitteilung ist vom Oktober 2019.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

ematu amaippu mata cārpu aṟṟa amaippu. ataṉāl mataṅkaḷiṟku muṉṉurimai koṭuppatillai. yār enta matattai cērntavarkaḷāka iruntālum piriviṉai kāṭṭuvatillai. tamiḻar eṉṟa aṭippaṭaiyilēyē nāṅkaḷ vēlaiceyyavēṇṭum.8 (Meine Übersetzung): Unsere Organisation ist eine nichtreligiöse Organisation. Daher wird der Religion keinen Vorrang eingeräumt. Egal, wer einer Religion angehört, es wird zu keiner Spaltung führen. Wir müssen auf der Basis arbeiten, Tamilen zu sein.

Die Aussage geht in das Zentrum der Ideologie der Tigerbewegung: Der Kampf wird nicht auf der Basis verschiedener Religionen, sondern auf der Basis des Gemeinsamen, der tamilischen Sprache, Kultur, Geschichte, des Territoriums, kurz des tamilischen „Wesens“ geführt. Dies ist emotionaler tamilischer Nationalismus, der sich deutlich abgrenzt von „Sinhala-heit (siṃhalatva)“, die sich über die ganze Insel ausbreitet. Aus diesem Gesichtspunkt des vereinenden tamilischen Wesens wird die Religion innerhalb der Tigerbewegung belanglos, weil sie entzweit. Die Aussagen der Schwarzen Tigerin aus Arnestads Dokumentarfilm ist in dieser Hinsicht von besonderem Interesse. In ihrem Fall erkennen wir auch ein persönliches Interesse an Religion. Ihr persönlicher Hintergrund wird von Beate Arnestad wie folgt beleuchtet: Die Schwarze Tigerin stammt aus einer katholischen Familie. Sie erzählt, dass sie als junges Mädchen immer mit ihrem Gott sprach und rein sein und ein zölibatäres Leben führen wollte. Sie wollte Nonne werden. Dann kam es zu einer Meinungsänderung. Ihr Vater, ein Postbote bei der Post in Yālppāṇam, wurde bei einem Luftangriff getötet. „Der Feind nahm mir meinen Vater“. Sie war damals elf Jahre alt. Sie sah die Vertriebenen. Mit zwölf schloss sie sich der Tigerbewegung an. Sie sagte: „Ich wollte gegen alles kämpfen. Deshalb habe ich mich dem Kampf angeschlossen.“ Sie wurde in die Mālati Brigade9 versetzt und später zum zum Status „Schwarze Tigerin“ erhöht. „Ich dachte, dass, wenn ich mich der Bewegung nicht anschließe, unsere Leute in die Sklaverei gezwungen werden. Deshalb bin ich der Bewegung beigetreten“. Im Film ist die Schwarze Tigerin in den Ruinen einer bombardierten Kirche zu sehen. Sie verweist auf einen Glaubensverlust, wenn sie sagt:

8 Schriftliche Mitteilung vom 1. November 2019. 9 Die Mālati Brigade ist nach Mālati benannt. Sie war die erste Große Heldin, die im Jahr 1987 gefallen ist und jedes Jahr an ihrem Todestag am 10. Oktober in einer Gedenkfeier geehrt wird. Komplementär zu ihr ist Caṅkar, der als erster Mann den Tod als Großer Held erreichte – am 27. November 1982. Dies wurde als der jährliche Tag der Großen Helden oder Märtyrer gefeiert, auch nach der Niederlage 2009. Siehe Peter Schalk, „Beyond Hindu Festivals: The Celebration of Great Heroes’ Day by the Liberation Tigers of Tamil Ealam (TM) in Europe“, in: Tempel und Tamilen in zweiter Heimat, hg. von Martin Baumann et al. (Würzburg: Ergon Verlag), 2003, 391–420.

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Wenn es einen Gott gibt, warum hält er uns in diesem endlosen Elend? Sogar diejenigen, die zum Schutz in die Kirche kamen, endeten in Blutlachen. Früher bin ich hergekommen und habe mit den Statuen gesprochen. Ich schenkte ihnen mein Herz. Ich sagte ihnen, ich würde ihnen immer dienen. Ich bat sie, mich anzunehmen.

Während des Gesprächs zeigte sie, wie sie früher mit gefalteten Händen zu den Statuen betete, die jetzt unter freiem Himmel in Trümmern stehen. Sie sagte: Im Christentum lehrt uns Jesus, dass man die andere Wange hinhalten soll, wenn man von jemandem auf die rechte Wange geschlagen wird. Jesus kämpfte auch für Gerechtigkeit, aber schließlich akzeptierten die Juden ihn nicht. Am Ende kreuzigten sie ihn.

Die Beschreibung von Jesus kann implizit als Kontrast zu Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ verstanden werden, der die andere Wange nicht hinhält. Es scheint, dass die Tigerin private und persönliche Gründe hatte, sich vom Christentum abzuwenden, aber sie spricht im Film auch im Namen der Tigerbewegung in der folgenden Erklärung, die ich zuerst auf Tamil gebe: eṅkaḷuḷaiya amaippil nāṅkaḷ matam pārkkiṟatillai. enta oru kaṭavuḷāka iruntālum nāṅkaḷ pirittuppārppatillai. eṅkaḷaiviṭa mēlāṉa oru cakti irukku eṉpatai māttiram nampukiṉṟōm. atai matam eṉṟu pirittup pārppatillai.10

Im Film wird dies folgendermaßen zusammengefasst: Innerhalb der Bewegung beschäftigen wir uns nicht mit Religion. Privat glauben wir, dass es eine Macht über uns gibt, aber es spielt keine Rolle, an welchen Gott du glaubst.11

Ich halte diese Übersetzung für unzureichend. Der Hauptpunkt hier ist: „Innerhalb der Bewegung beschäftigen wir uns nicht mit Religion“, aber ein Satz wird in der Übersetzung einfach weggelassen. Was folgt, soll unter Bezug auf die Privatangelegenheit verstanden werden. Die Tigerin unterscheidet also implizit zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Wir fragen: Gibt es denn eine Privatsphäre in einer totalitären Organisation? Die Antwort ist ja (siehe unten). Meine vollständige und wörtliche Übersetzung lautet:

10 Arnestad, My Daughter the Terrorist. 11 Arnestad, My Daughter the Terrorist.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

In unserem Kontext beschäftigen wir uns nicht mit Religion. Was auch immer der Gott sein mag, wir beschäftigen uns damit nicht. Wir glauben nur, dass es eine Kraft jenseits von uns gibt. Dies kann jedoch nicht als eigenständige Religion angesehen werden.

Im Original steht nichts von Privatsphäre; es ist aber eine Schlussfolgerung, die annehmbar ist. Im Original steht auch nicht „Bewegung“, sondern „Kontext“ oder „Organisation“. Es ist der spezielle Kontext der Kämpfenden, welches der Kampf der Tigerbewegung ist. Es ist dann impliziert, dass es auch noch einen anderen Kontext gibt, nämlich den Kontext der Volksbewegung – und dort beschäftigt man sich intensiv mit Religion (siehe unten). Aber was die Tigerin hier Privatsphäre nennt, ist nicht das Gleiche wie das, was ich als Volksbewegung bezeichne. Die Privatsphäre ist ein kleiner Freiraum innerhalb der Tigerbewegung. Nun folgt eine Reflexion der Schwarzen Tigerin, die nicht von der Tigerbewegung gelehrt wird, sondern ihre eigene Deutung ist, nämlich dass die Kämpfer an eine höhere Macht glauben, die aber jenseits von den etablierten Religionen steht. Man kann dies als Privatsphäre deuten, obwohl das Wort nicht vorkommt. Was hier zählt ist, dass die Kämpferinnen in ihrem Kontext sich nicht mit Religion beschäftigen, auch nicht mit der Kraft, die jenseits der Kämpfer liegt. Die Schwarze Tigerin verwendete in Tamil matam für Religion, das neben camayam ein üblicher Begriff für Religionen wie Caivam, Vaiṇavam, Christentum, Islam und Buddhismus ist.12 Sie macht deutlich, dass die Tigerbewegung kein matam sei oder habe. Sie machte einen Unterschied zwischen dem, was im Einsatz gültig ist, und dem, was außerhalb des Einsatzes bekannt ist. Dies impliziert, dass für eine Kämpferin in dieser totalitären militärischen Organisation anscheinend ein Raum bestand, nicht im Einsatz zu sein. Dieser Freiraum ist jedoch nicht formalisiert. Er bezieht sich auf Situationen, für die die Tigerbewegung keine Vorschriften erlassen musste. Er ist eine Situation, in der man in geringerem Masse im Einsatz ist. Ich bezeichne diese Situationen als adiaphoristisch, andere als privat. Ich ziehe adiaphoristisch vor als Handlung, die von der Moral weder verurteilt noch gebilligt wird. Adiaphora bedeutet „gleichgültige Dinge“, also Dinge, die weder richtig noch falsch sind, geistig neutrale Dinge, die in unserem Falle der Tigerbewegung keine Probleme bereiteten. Wenn einige Kämpfer an eine Macht über sich glauben, ist es für die Tigerbewegung nicht von Interesse, auch wenn die Kämpfer im Einsatz sind, während dem

12 Peter Schalk, „Tamilische Begriffe für Religion“, Peter Schalk (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Acta Universitatis Upsaliensis. Historia Religionum 32 (Uppsala: Uppsala University, 2004), 81–128.

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sie dann Gefühle und Erkenntnisse in sich tragen. Es geht darum, die religiösen Neigungen im Dienst nicht nach außen hin zu manifestieren. Die Schwarze Tigerin ist nun nicht für alle Kämpfer repräsentativ. Sie sprach aus ihrer religiösen Erfahrung in der Vergangenheit. Sie kam zu dem Schluss, dass ihr Glaube nichtig war, aber daraus folgte nicht, dass die Religion für die gesamte Tigerbewegung keine Rolle spielt. Ihre persönlichen Erfahrungen waren privat. Sie hatte aber zwei verschiedene Gründe für ihre nichtreligiöse Ideologie, einer war antireligiös, und einer bezog sich auf die Politik der Tigerbewegung. Es ist diese Politik, die uns interessiert. Zusammenfassend besagt sie, dass die Religion für die Tigerbewegung belanglos sei. Die Belanglosigkeit von Religion drängt sich auf in Situationen, in denen wir sie nicht erwarten würden. In Yālppāṇam wurden auch nach 1995, als die Regierung die Stadt kontrollierte, geheime Schutzunterkünften für die Kämpfer gebaut. Manchmal wurde ich zu langen Gesprächen mit Kämpfern in solche Schutzunterkünfte eingeladen. Oft wurden sie am nächsten Tag in einen Kampf verwickelt und riskierten dabei zu sterben. In einer solchen Situation wurde die Kameradschaft zwischen ihnen sehr stark. Sie wurden während der Nacht von Anhängern betreut, die zusammen sangen, hauptsächlich Tigerlieder. Einige von ihnen sind zutiefst emotionale Trauerlieder. Das war alles. Es gab keine religiösen Gedanken, Zeremonien oder Gebete, die ich erwartet hatte. Am frühen Morgen kam der schwierigste Moment für mich, als die Kämpfer sich verabschiedeten, einige von ihnen für immer. Sie waren Jugendliche im Alter meiner eigenen Kinder. Sie hatten die mentale Kraft, mich zu trösten, indem sie mir erklärten, dass der Tod sie nicht erschrecke. Es war die schwierigste Zeit in meinen Begegnungen mit Kämpfern. Ich konnte sie nicht aufhalten zu töten und zu sterben. Was hier geschah, steht im Kontrast zu einem weit verbreiteten Phänomen, der Segnung von Soldaten vor dem Kampf. Ein Kirchenfenster aus Buntglas, in Brampton, Cambridgeshire, zeigt rückblickend nach 1919 einen Vorfall aus dem Ersten Weltkrieg. Vier Soldaten in Uniform feiern mit einem Priester eine Messe, das Heilige Abendmahl. Im Begleittext heisst es: Hier, hinter den Gräben am Vorabend einer erwarteten Schlacht erhält der Soldat das Allerheiligste Sakrament des Leibes und des Blutes Christi.13

Die Tigerbewegung hingegen erwartete, dass die Kämpfer ihren möglichen Besuch beim Priester in der Freizeit und ziviler Kleidung absolvierten. Sobald der Kampfanzug angezogen ist, sind die Kämpfer vollständig im Einsatz. Von ihnen wird

13 Catherine Moriarty, „Christian Iconography and First War Memorials“, in: Imperial War Museum Review 6 (1991), 64.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

erwartet, dass sie sich ganz der Sache widmen, als Kämpfer töten und sterben und nicht als Caiva, Vaiṉava, Christ oder Muslim. Ihr Körper gehört der Tigerbewegung und nicht ihren Familien. Ein Gefallener wird in einem Heim der Ruhe (tuyilum illam) für Tigerbewegungskader mit speziellen Tigerbewegungsritualen und nicht mit caiva, islamischen oder christlichen Ritualen begraben. Die Angehörigen der Kämpfer jedoch werden gebeten, am Grab zu trauern, wobei sie verbal und emotional alle ihre traditionellen Vorstellungen von Caiva, Muslimen oder Christen zum Ausdruck bringen, jedoch nicht in dem Maße, in dem sie das Grabmal bemalen, ein Kreuz aufhängen oder einen Halbmond oder einen Caiva-Dreizack anbringen.

2.

Adiaphoristisches

Wir wenden uns nun jenen Situationen zu, die vom Gesichtspunkt der Tigerbewegung adiaphoristisch oder privat sind, und welche die Tigerbewegung weder verbieten noch fördern wollte. Ein katholischer Priester aus Yālppāṇam erzählte mir in den 1990er Jahren, dass junge Kader in der Nacht vor einem Kampf mit der Armee der Regierung Sri Lankas in seine Kirche kommen und um Segen bitten konnten. Niemand hinderte sie daran oder entmutigte sie davor, einen Priester zu besuchen. Der Priester erfuhr, was in den Gedanken dieser jungen Kämpfer vorging. Sie erwarteten ihren Tod auf dem Schlachtfeld. Sie standen vor der Möglichkeit, dass ihre Nachrufe in wenigen Tagen veröffentlicht werden könnten. Den Führern der Tigerbewegung waren diese Besuche der Kämpfer beim katholischen Priester bekannt, sie griffen aber nicht ein. Der Priester fungierte als Berater, nicht als Geistlicher, der an die militärischen Interessen des Staates gebunden ist. Diese Beraterfunktion schuf und bewahrte einen privaten Raum für die Kämpfer – solange der Berater nicht gegen ihre Teilnahme am Kampf sprach, was eine Übertretung seines erlaubten Aktionsraums gewesen wäre. Die Tigerbewegung erlaubte Ratgebern und Priestern, diese Ratgeberfunktion auszuüben, aber diese wurde als private Angelegenheit angesehen.

3.

Quellen(unter)scheidung

Die Bezeichnung „Tigerbewegung“ (pulikaḷiṉ iyakkam) verweist auf Kämpfer innerhalb der Tigerbewegung und verweist auch indirekt auf Nichtkämpfer in der parallel existierenden tamilischen Volksbewegung (makkaḷ iyakkam), von der nicht erwartet wurde, dass Religion kein Anliegen für sie war. Die Volksbewegung war tief verwurzelt im tamilischen Caivam (Śivaismus), im tamilischen Christentum, besonders dem katholischen. Es gab auch Muslime in der Volksbewegung und eini-

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ge davon wurden Kämpfer in der Tigerbewegung. Diese Teilfunktion des Religiösen war von beiden Bewegungen gefördert. Die Tigerbewegung und die Volksbewegung bildeten zusammen, was in der Öffentlichkeit als Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) bekannt ist. Wenn man die beiden nicht auseinanderhält, kann man zu dem trügerischen Schluss kommen, dass entweder die LTTE überhaupt kein Interesse an der Religion habe oder dass sie religiös sei. Diese beiden Ansichten würden die Unterscheidung und Trennung von Tigerbewegung und Volksbewegung nicht in Betracht ziehen. Es ist die Vermischung beider, welche zu der Auffassung geführt hat, dass die Tigerbewegung religiös sei. Sie beruht auf einem trivialen Denkfehler, der wiederum auf einem Unvermögen beruht, die Quellen zu unterscheiden. Der Begriff LTTE existiert als rhetorischer Begriff, um anzudeuten, dass beide Bewegungen ein gemeinsames Ziel hatten, nämlich die Erstellung eines tamilischen unabhängigen Nationalstaates, aber die LTTE ist keine agierende Einheit. Aktiv sind die beiden Bewegungen, aber auf verschiedene Weisen. Die Frage ist dann ausschliesslich, wie die Ausdrücke „belanglos“ oder „kein Anliegen“ im Falle der Tigerbewegung zu verstehen ist. Zuerst aber kommen nun einige politische Fakten.

4.

Politik und Kampf, nicht Religion

Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ (1954–2009) begann mit dem Verweis auf die Selbstbestimmung von Völkern einen de-facto-Staat zu organisieren, der zwischen 1972 und 2009 zuerst von einer städtischen Guerilla und später von einer regulären Streitmacht im Zusammenhang mit dem Aufbau von Institutionen und der territorialen Kontrolle im Norden und Osten Sri Lankas verteidigt wurde. Er konnte mit der Unterstützung von Tamilen weltweit rechnen, die wegen der gebrochenen Versprechungen der Regierung Ceylons/Sri Lankas kein Vertrauen mehr zu dieser hatten, und die wegen Diskriminierung und physischen Verfolgungen der Regierung einen mentalen und physischen Widerstand aufgebaut hatten. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ sah sich als Anführer einer nationalen Befreiungsbewegung mit Selbstbestimmungsrecht gemäß UN A/ Res / 42/159 von 1987, aber dieser Staat wurde von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt. Sie vertrat die Auffassung, dass die LTTE den Menschenrechtsforderungen nicht nachgekommen sei. Der Staat Sri Lanka betrachtete diesen Staat als von Terroristen geschaffen und bestritt, dass Tamilen ein Selbstbestimmungsrecht hätten. Das Streben nach diesem Recht auf einen eigenen Staat entsprach auch nicht den geopolitischen Interessen vor allem Indiens, der EU und der USA. Nach gescheiterten Verhandlungen, um dieses Recht gegen den Willen des Government of Sri Lanka, Indiens und der übrigen Welt zu etablieren, führte Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ seine Kader in den be-

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waffneten Kampf, der mit einer nicht-religiösen, politischen, nationalistischen und kriegerischen Ideologie gerechtfertigt wurde. Andere tamilische Organisationen waren und sind zwar auch für das Recht der Selbstbestimmung, aber sie verzichteten auf die Anwendung von Gewalt und deuteten das Recht zur Selbstbestimmung als ein Recht, in einer Volksabstimmung einen Föderalismus zu wählen, also für einen Bundestaat bestehend aus Tamilīlam und Sri Lanka. Auch dieses Streben wurde von der Regierung verhindert, die sich seit 1972 als ein Einheitsstaat definiert. Wir folgern, dass das, was heute die tamilische Widerstandsbewegung vereint, ihre Überzeugung ist, dass die Tamilen ein Volk sind mit dem Recht zur Selbstbestimmung. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ starb im bewaffneten Kampf gegen die srilankischen Streitkräfte am 18. Mai 2009 in Muḷḷivāykkāl, wo auch seine Organisation, die Tigerbewegung, zerstört wurde. Die Volksbewegung verlor ihren Partner und Beschützer und damit auch ihre geschützte Existenzmöglichkeit. Eine transnationale Widerstandsbewegung gegen die srilankische Regierung in der Diaspora rückte stattdessen in den Blickpunkt und versuchte, sich nach 2009 Gehör in der Welt zu schaffen, allerdings nur mit politischen Mitteln. Diese Bewegung nennt sich nicht Volksbewegung, und sie ist auch nicht zentralisiert, sondern besteht aus verschiedenen lokalen Organisationen, die immer wieder versuchen, auf einer gemeinsamen Basis, nämlich dem Recht der Selbstbestimmung, gemeinsam auf der politischen Weltbühne aufzutreten. Wir behandeln hier nur das Wirken der Tigerbewegung und Volksbewegung (=LTTE) bis 2009. Deren Strategie war die Anwendung von Gewalt, um dem politischen Ziel, einen unabhängigen Nationalstaat zu gründen, Nachdruck zu verleihen. Es ging der Tigerbewegung aber nie darum, den Kampf um des Kampfes willen zu führen wie die deutsche RAF, sondern um ein konkretes politisches Ziel zu erreichen, die Bildung des Nationalstaates Tamiḻīḻam, in dem die tamilische Kultur souverän sein sollte. Die Staatsbildung war für die Tigerbewegung ein Mittel zum Zweck, die Souveränität der tamilischen Kultur zu sichern. Der Satz „Religion ist belanglos für uns“ reflektiert ein Selbstbild der Tigerbewegung, während die Volksbewegung betonte, dass Religion für sie von Belang sei. Wir akzeptieren natürlich, dass ein Selbstbild kritisch hinterfragt werden muss. Es könnte ja durchaus sein, dass die Tigerbewegung die Welt belog, indem sie eines sagte und das Gegenteil tat. Es wäre in der Tat sinnvoll, die Welt zu belügen, um damit geltend zu machen, dass die Tigerbewegung sich vom religiösen Terrorismus der Jihadisten absondere. Wir können ja nicht von vornherein ausschließen,

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dass die Tigerbewegung nicht geheime Riten durchführt, um z. B. die Großhelden (māvīrarkaḷ) als Belohnung einen Platz im Himmel zu sichern.14 Das Resultat meiner Prüfung ist, dass die Tigerbewegung und die Volksbewegung in ihren Selbstbildern die Wahrheit sagten, was natürlich nicht bedeutet, dass die Tigerbewegung bewiesen hat, nicht terroristisch zu sein. Es gibt auf der Welt mehrere nicht-religiöse Organisationen, die als terroristisch gelten, aber religiöser Terrorismus wird doch nach 9/11 als am schlimmsten eingestuft. Gerade deshalb sind einige Kommentatoren gesinnt, die Tigerbewegung als religiös darzustellen. Es geht ihnen darum, die Tigerbewegung unter keinen Umständen als Befreiungsbewegung zu bewerten. Der Kampf der Regierung gegen die Tigerbewegung spiegelt sich auch im Kampf von Kommentatoren gegen diese wider. Einige Kommentatoren haben eine deutlich politische Agenda. Einige Kritiker, die dem nordirischen Paradigma einer religiösen Konfrontation und den jihadistischen Aktionisten nach dem 11. September mental regelrecht verfallen sind, können eine nicht-religiöse Martyrologie nicht akzeptieren. Terrorismus sei fanatisch, und was fanatisch ist, sei religiös. Daher sei die Tigerbewegung, die terroristisch und fanatisch ist, religiös. Diesem populistischen Syllogismus bin ich selbst schon oft begegnet. Einige Kritiker haben eine christliche oder buddhistische Agenda, wenn sie der Tigerbewegung eine Nähe zu Caivam attestieren, um sie so als gewalttätige CaivaSekte zu definieren. Wir können jedoch zeigen, dass ein nichtreligiöses Projekt wie das der Tigerbewegung genauso mit ultimativen Anliegen verbunden ist wie religiöse Projekte. Einige buddhistische Kritiker vertreten die Ansicht, dass die Tigerbewegung ein christliches Martyrium lehre, und behaupten, dass Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ zum Christentum konvertiert sei. Sie wollen zeigen, dass das Christentum mit dem Terrorismus verbunden sei, um Gründe zu finden, das Christentum gesellschaftlich zu isolieren – zugunsten des Buddhismus. Einige schreiben der Tigerbewegung verborgene religiöse Agenden zu. Sie schreiben beispielsweise der Tigerbewegung die Ansicht zu, dass ein Großheld ein Märtyrer sei, der Christus nachahmen würde, oder dass ein aktiver Kämpfer einem Caiva-Asketen nachempfunden sei. Einige Kommentatoren schreiben Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ gewagt das Konzept des patti (pakti, bhakti) zu und tun so, als hätte er es benutzt, um die Relation zwischen sich und seinen Gefolgsleuten zu bestimmen. Für diese Behauptungen sucht der Leser jedoch vergeblich nach Quellen.

14 In der Terminologie der Tigerbewegung ist ein Großheld ein toter Held und ein Held ist ein lebender tapferer Kämpfer. In Englisch wird Großheld oft als „martyr“ transkreiert. Kämpfer ist hier eine Übersetzung vom pōrāḷi.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Einige möchten Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ mit indischen Religionen in Verbindung bringen, weil er Tamil aṟam (Sanskrit dharma) verwendet, aber dieses Konzept bezieht sich in Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs Denken auf das Konzept der universellen Menschenrechte.15 Durch seine Übernahme des Konzepts des Entsagens (tiyākam) aus einem religiösen Mainstream in indischen Religionen könnte ihn auch zu einem heimlichen Religiösen abstempeln. Der berühmteste Fall ist die Übernahme des christlichen Ausdrucks Märtyrer (Englisch: martyr) durch die Tigerbewegung, die als letztendlicher Beweis für den religiösen Charakter der Tigerbewegung dienen soll; der Märtyrer der Tigerbewegung ist aber kein Opfer, sondern ein kriegerischer Held und ist deshalb auch kein christlicher Märtyrer. Ein christlicher Märtyrer kann zwar auch ein Held sein, aber sein Heldentum besteht in seiner Beharrlichkeit im Leiden für seinen Glauben, nicht im Töten. Der ganze christliche Konnnotationsapparat von Versöhnung, Fürbitte, Busse und Auferstehung fehlt im Tigerkonzept des Martyriums. Einige lehnen es ab zu akzeptieren, dass der Gebrauch von Begriffen nicht immer von deren Herkunft abhängt, und dass gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Kult der Tigerbewegung und dem Christentum/Caivam offensichtlich sind. Diese Behauptung provoziert die Frage, woher sich die Tigerbewegung sonst hätte inspirieren lassen. Erwarten wir, dass das Denken von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ eine tabula rasa war, als er in den 1970er Jahren mit seiner kriegerischen Tätigkeit begann? Die Frage ist nicht, ob er abhängig ist von bestehenden Traditionen, sondern was er aus deren Konzepten gemacht hat. Hinzu kommt, dass Ähnlichkeiten oft nur Hinweise und Verweise auf etwas anderes sind. Wir müssen auch nach der Vision des Kults der Tigerbewegung fragen, insbesondere nach ihrem Todeskult, der sich in der Tigerbewegung stark von einem religiösen Todeskult unterscheidet. Wir sollten lernen, dass das Wort „Kult“ nicht automatisch Religion impliziert. Es gibt nichtreligiöse Kulte der Toten. Wir begegnen auch immer wieder der Behauptung, die Tigerbewegung errichte Gedenkstätten der Großhelden, welche Imitationen von Heiligenschreinen seien. Sie heißen auf Tamil Mal der Erinnerung (niṉaivuc ciṉṉam), deren Vorbilder aber nicht christliche oder caiva Heiligenschreine sind, sondern Male der Erinnerung für hervorragende Personen in Südindien, wo sie weit verbreitet sind. Sie sind Anführern zugeeignet wie z. B. M. G. Ramachandran, die Spuren hinterlassen haben. Diese Male heißen dort identisch oder ähnlich niṉaivuc ciṉṉam, niṉaivuviṭam, niṉaivumaṉimaṇṭapam, muttumaṇṭapam, tiyākikaḷ maṇṭapam, niṉaivut tūṇ, etc.16 15 Peter Schalk, „Semantische Devianz religiöser Metaphern in der Sprache Veluppillai Pirapakarans“, in: Devianz und Dynamik. Festschrift für Hubert Seiwert zum 65. Geburtstag, hg. von Edith Franke et al. (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014), 150–171. 16 eḻilaḻakaṉ es. pi. tam patitta talaivarkaḷ niṉaivu kaḷum niṉaivukaṅkaḷum (ceṉṉai 2105).

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Die wichtigsten Einwände gegen mein Konzept von Nicht-Religion sind die Folgenden: Der erste Einwand ist, dass Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ angeblich eine Form von Heilsgeschichte lehrte. Der zweite Einwand ist, dass seine Sprache voller religiöser Bezüge zu Caiva und zum Christentum war. Der dritte Einwand ist, dass er einen Kult toter Helden förderte, was eine religiöse Handlung sei. Der vierte Einwand ist, dass auch Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ von einem Konzept der Transzendenz beeinflusst war. Der fünfte Einwand ist, dass auch Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ ein ultimatives Anliegen habe und deshalb religiös denke. Ein ultimatives Anliegen sei eine (pseudo) religiöse Manifestation. Hier spukt Paul Tillichs missverstandenes Konzept von Religion als ein tiefstes Anliegen. Der sechste Einwand ist, dass die Tigerbewegung einen Nationalismus lehre, was eine Pseudoreligion sei. Eine siebte Einwendung ist, dass es eine Art religiösen Unterstrom gebe, der mächtiger war als der Widerstand gegen ihn seitens der Tigerbewegung. Diese siebte Einwendung ist die banalste; sie lässt sich in ihrer Unklarheit leicht dahersagen ohne Verifikation: Unterströme braucht man nicht zu beschreiben, sie sind eben als vorhanden angenommen. Ich bin diesen Einwänden schon mehrmals begegnet und habe sie auch kritisch untersucht und widerlegt.17 Eine ausführliche Wiederholung ist hier deshalb nicht notwendig. Alle diese Einwände lösen sich auf, wenn man die Unterscheidung und Scheidung von Tigerbewegung und Volksbewegung durchführt. Es wird dann klar, dass Religion für die Tigerbewegung belanglos, aber für die Volksbewegung von großem Belang war. Im Folgenden gebe ich einige Beispiele für das Konzept der Belanglosigkeit von Religion innerhalb der Tigerbewegung und für mein Konzept der Nichtreligion, das ich der Tigerbewegung zuschreibe, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Meine umfassendere Arbeit mit dem Titel Defeated but Defiant. Martyrdom, Mourning, and Memorialisation of Combatants from the Īḻattamiḻ Tigers’ Movement wird bald erscheinen.

5.

Nichtreligion in der Tigerbewegung

Wir kommen nun zum Konzept der Nichtreligion der Kämpfer innerhalb der Tigerbewegung. Der Begriff Nichtreligion spiegelt die Bewertung von Religion der Tigerbewegung wider.

17 Peter Schalk, „The LTTE: A Nonreligious, Political. Martial Movement for Establishing the Right of Self-Determination of Īḻattamiḻs“, in: The Cambridge Companion to Religion and Terrorism, hg. von J. R. Lewis (Cambridge: University Press, 2017), 146–157.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Schauen wir uns zunächst die Bewertung der toten Kämpfer von trauernden Nichtkämpfern an. Diese Bewertung ist verschieden von der Bewertung derselben durch trauernde Kämpfer. Die toten Kämpfer hatten eine Beziehung zu einem Haushalt, dessen Mitglieder sich den Kämpfern nicht als nichtreligiös, sondern als eine religiöse Person wie sie selbst in Erinnerung riefen. Wenn sie einen Friedhof der Kämpfer besuchten, Heim der Ruhe (tuyilum illam) benannt, war es nicht in erster Linie der Krieger, den sie verehrten, sondern ein geliebtes Mitglied ihres Haushalts. Sie konnten neben den von der Tigerbewegung vorgeschriebenen Ritualen auch traditionelle religiöse Rituale auf dem Grab, Errichteter Stein (naṭukal)18 oder Steinkammer (kallaṟai) genannt, durchführen. Die Tigerbewegung hatte keine Einwände gegen diese Koexistenz von Ritualen. Die Mitglieder des Haushalts als Trauernde durften auch im Monat November jährlich in den Caiva Tempel gehen und um das Wohl der Seele des Verwandten bitten. Dieser religiöse Ritus wird in ähnlicher Weise auch von Christen begangen, die am Allerheiligen- oder Allerseelen-Tag im November der Seele des Verwandten ein gutes Leben nach dem Tod wünschen.19 Diese Trauernden konnten ihre Toten, die Kämpfer waren, als Opfer der lankesischen Übermacht betrachten. Ihre religiöse Bindung erlaubte ihnen anzunehmen, dass die Toten im Jenseits aufgenommen wurden. Andere Trauernde konnten Kämpfer und Kameraden des gefallenen Kämpfers sein. Von diesen Trauernden wurde erwartet, dass sie die von der Tigerbewegung vorgeschriebenen nichtreligiösen Trauerrituale der Tigerbewegung praktizierten. Es gab eine Kampfmoral, nach der die toten Kämpfer nicht Opfer waren, sondern Großhelden (māvīrarkaḷ) oder Entsager ((des Lebens), tiyākikaḷ). Sie hatten im Kampf die Tugend eines Helden (vīraccīlam) vorgelebt. In English wurden sie als „martyrs“ bezeichnet aber nicht im katholischen Sinn als ein Unschuldiger, der im Leiden und Standhaftigkeit im Glauben bis zum Tod verharrt. Ein Tigerheld ist ein Tötender, dessen Töten durch den Begriff Märtyrer entschuldigt wird. Er tötet, angeblich um das Volk zu retten. Diese Trauernden kannten zwar die alte Tradition, dass Kriegshelden im Himmel aufgenommen wurden, aber darüber schweigt die Tigerbewegung, wie sie überhaupt nichts Jenseitiges anspricht. Sie hat eine rationale Erklärung, wie die toten Helden auf die Lebenden auf Erden wirken. Diese Erklärung wurde von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ selbst vorgetragen. Die Tigerbewegung beschäftigte sich intensiv mit der Gedenkfeier ihrer Kämpfer. Die Tigerbewegung verstand die Gedenkfeier als menschliche Trauerarbeit der

18 Ein naṭukal ist ein Kenotaph. 19 Peter Schalk, God as Remover of Obstacles. A Study of Caiva Soteriology among Īḻam Tamil Refugees in Stockholm, Sweden. Acta Universitatis Upsaliensis 23 (Uppsala: Uppsala University, 2004), 187f.

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Verwandten in der Volksbewegung, aber als Ansporn für lebende Kämpfer, den politischen und bewaffneten Kampf fortzusetzen. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ verwendete das Wort utvēkam, was mit Ansporn, Anreiz, Anstiftung und Aufruf (zum Handeln) übersetzt werden kann. Die Gedenkfeier ist ein Anreiz, ist etwas – in diesem Fall die Begegnung mit den Groß-Helden -, das zum Handeln anregt. Utvēkam wird von der Tigerbewegung sowohl als interner politischer Begriff als auch als externer sozialpsychologischer Begriff verwendet, der es ermöglicht, die Bedeutung von utvēkam mit der Außenwelt zu teilen. In einer Rede aus dem Jahr 1992, am Tag der Groß-Helden am 27. November, erwähnt Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ die Erregung, die durch den Tod von Kämpfern verursacht wurde, aber auch, dass sich diese in eine kreative Kraft verwandelt: māvīrarkaḷiṉ cāvukaḻ, ematu carittirattaiyē iyakkum untu caktiyāka – ematu pōrāṭṭattiṉ uyTRMūccāka – ematu pōrāḻikaḻiṉ uṟutikku utvēkamaḻikkum ūkkucakktiyāka – amaintuviṭṭaṉa20 Der Tod der großen Helden war die treibende Kraft unserer Geschichte, ein Lebensodem unseres Kampfes und unserer Führungskraft, die als Ansporn für die Entschlossenheit unserer Krieger diente.

Wir ahnen, worauf sich dieser Begriff bezieht, nämlich auf die im Trauern vernommene Anrede der Toten, den Kampf fortzusetzen. Diese Anrede ist bekannt als rhetorischer Kniff und ist Apostroph benannt. Wir kennen diesen Kniff von John McCrae’s In Flander’s Field, wo die toten Helden die Lebenden anreden: To you from failing hands we throw /The torch; be yours to hold it high. /If ye break faith with us who die/ We shall not sleep, though poppies grow/ In Flander’s fields.21

Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ verwendete auch utvēkam in Form einer blühenden metaphorischen Sprache, wenn er „sein“ Volk ansprach. Er übertrug das semantische Feld von Ansporn, Anreiz, Anstiftung und Aufruf auf eine bildsprachliche Pflanzenwelt, nach der die toten Groß-Helden Samen seien, aus denen neue Kämpfer entstünden. Er dachte an eine funktionale Beziehung zwischen dem Gedenken an die Toten und politischem und bewaffnetem Kampf. Ersteres stachelte Letzteres an.

20 Schalk Peter (ed.) Die Lehre der Befreiungstiger Tamiḻīḻams von der Selbstvernichtung durch göttliche Askese. Vorlage der Quelle Überlegungen des Anführers (talaivariṉ cintaṉaikaḷ). Tamil, Deutsch, Englisch, Schwedisch, Sinhala. Ediert, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Peter Schalk unter Mitarbeit von Āḷvāppiḷḷai Vēluppiḷḷai, Anonymus und Astrid van Nahl (Uppsala: ACTA, 2007), Nummer 36:4. 21 John McCrae, „In Flandern Fields“, in: War Poems. An Anthology of Unforgettable Verse (London: Arcturus Publication Limited, 2010), 82.

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Utvēkam, hier als Odem von Großhelden dargestellt. Aus: Māvīrar kuṟippēṭu (Diary of Heroes). Chennai: Befreiungstiger von Tamiḻīḻam, 1990. Courtesy: Befreiungstiger von Tamiḻīḻam, 27.11.1990.

Leider wurde sein pädagogischer Versuch mit dem Bild des Samens falsch dahingehend verstanden, dass er eine Art Wiedergeburt oder Auferstehung für die Groß-Helden stipulieren wollte. Eine solche Auffassung konnte sich nur geltend machen bei Kommentatoren, die den Begriff utvēkam nie kennengelernt hatten. Sie konnten dann ohne Skrupel die Tigerbewegung als religiös oder pseudoreligiös darstellen. In der Tigerbewegung wurden mehrere Versuche unternommen, das Verhältnis vom Gedenken an die Toten und dem fortgehenden Kampf bildlich darzustellen. Es gibt eine weit verbreitete Zeichnung aus den Anfängen der 1990er Jahre, die versucht, den Lebensodem der Toten in einem Gedenkbuch gefallener Helden22 zu

22 Peter Schalk, „Gedenkbücher“, in: Peter Schalk, cāvilum vāḻvōm. ‚Auch im Angesichts des Todes werden wir leben‘. Īḻamtamilesein im Krieg und in der Fremde (Dortmund: Internationaler Verein

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konkretisieren, und zwar als geisterähnliche Gestalten, die aus den Gräbern und von den Scheiterhaufen steigen,23 um sich dann voll bewaffnet an die Spitze des Kampfes zu stellen.24 Wir können damit rechnen, dass die Regierung den Begriff utvēkam und seine Verwendung sehr wohl kannte und daraufhin versucht hat, alle Heime der Ruhe dem Boden gleich zu machen und alle Erinnerungsrituale von Großhelden zu verbieten. Ein Heim der Ruhe ist ein Treffpunkt für beide Gruppen von Trauernden, nämlich von bewaffneten Kämpfern aus der Tigerbewegung und nichtbewaffneten Aktivisten der Volksbewegung. Daher haben einige Beobachter fälschlicherweise geltend gemacht, dass ein Heim der Ruhe ein Ort ist, an dem nur religiöse Rituale durchgeführt werden. Sie können nicht zwischen der Tigerbewegung und der Volksbewegung unterscheiden. Wenn ein emotional betroffener Kämpfer als Trauernder zufällig seine Kompetenz übertrat, konnte er/sie zu Unrecht als Vertreter für die gesamte Tigerbewegung angesehen werden. Angehörige eines toten Kämpfers konnten als Kameraden des Toten gesehen werden. Hier unterscheiden wir zwischen diesen beiden Arten von Anwesenden und bezeichnen die Kämpfer aus der Tigerbewegung als Betroffene. Sie sind das Ziel unserer Analyse des Begriffs Nichtreligion. Ich betrachte die Tigerbewegung und die Volksbewegung als ideale Typen, die richtungsweisend sind. Die Tigerbewegung ist ein Beispiel dafür, wie man über ein Konzept des Martyriums schweigt, das kein Paradies oder keine transzendente Alternative innerhalb der Spannung des Transzendenten und Immanenten in Form einer fortgesetzten individuellen Persönlichkeit verspricht, die in einem postmortalen Dasein belohnt wird. Die Frage stellt sich, ob dieses Schweigen über die Transzendenz dasselbe ist wie das Leugnen der Transzendenz. Es ist nicht dasselbe, wie wir unten zeigen werden. Wir können hier von der Tigerbewegung lernen, wie Märtyrer in einem nichtreligiösen Kontext „entstehen“ können, der sich Aussagen über Manifestationen der Transzendenz enthält. Die Tigerbewegung ist natürlich kein Einzelfall, wenn es darum geht, ein nichtreligiöses Konzept des Martyriums zu entwickeln. Es gibt Regierungen und Bewegungen mit einer anti-religiösen Ideologie wie die PKK im Nahen Osten, Maoisten

Emigrierter Tamilischer Schriftsteller e.V., 2006), 171–172. – Peter Schalk, „Gedenktage“. Peter Schalk, cāvilum vāḻvōm. ‘Auch im Angesicht des Todes werden wir leben’. Īḻamtamilesein im Krieg und in der Fremde (Dortmund: Internationaler Verein Emigrierter Tamilischer Schriftsteller e.V., 2006), 182–183. 23 Die Zeichnung stammt aus der Zeit, als die Tigerbewegung noch ihre Toten verbrannte, ein Brauch, der Anfang der 1990er Jahre durch Begraben ersetzt wurde. 24 māvīrar kuṟippēṭu. 27.11.90. Liberation Tigers of Tamil Eelam.[Gedenkbuch, Umschlag, Rückseite].

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in Indien, Nepal und Kaschmir, in China und in Vietnam. Sie feiern ihre Märtyrer regelmäßig auf eine andere Art als religiös. Die nichtreligiöse Ideologie der Tigerbewegung sollte jedoch nicht in dieselbe Kategorie mit diesen antireligiösen Ideologien eingeordnet werden. Nichtreligiös ist in unserem Kontext nicht dasselbe wie antireligiös, aber beide Fälle zeigen, dass eine nichtreligiöse Märtyrologie auf staatlicher Ebene funktionsfähig und verständlich gemacht werden kann. Die Tigerbewegung hat Religion nicht deshalb ausgeblendet, weil sie das Opium für das Volk und im Klassenkampf für die Unterdrückung der Schwachen sei. Sie behauptet nicht, dass Religion die Menschheit moralisch degeneriere und dass Religion eine kindliche Reminiszenz sei. Die Tigerbewegung hat nicht darauf insistiert, dass Religion unwissenschaftlich sei, und sie hat auch nicht darauf hingewiesen, dass sie sich selbst von der Religion entfremdet habe oder sie missachtet. Sie bietet den Kämpfern eine Alternative zur Religion, eine nicht-religiöse Lebensbewertung, die allerding wiederum nicht anti-religiös, sondern mit religiösen Anschauungen vereinbar ist (siehe unten). Das Konzept des Martyriums der Tigerbewegung, das den Einsatz von Leben als Waffe (uyirāyutam)25 impliziert, kann durch rationale Überlegungen und Berechnungen von Kämpfern als Taktik in der Kriegsführung realisiert werden, die Teil einer umfassenderen Strategie zur Erreichung von Tamiḻīḻam ist. Die Religion ist hier nicht von Belang, aber dies allein erklärt nicht die Bemühungen, die Religion auszublenden. Die nichtreligiöse Position der Tigerbewegung ist das Ergebnis eines politischen Programms, alles zu eliminieren, was innerhalb der Tigerbewegung zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten führen könnte. Dieser Ansatz spiegelt sich auch in dem Bestreben wider, das Caste-cum-Class-System, den männlichen Chauvinismus, die geschlechtsspezifischen Unterschiede und die regionalen Privilegien abzulehnen. Es gibt jedoch einen Qualitätsunterschied zwischen diesen konfliktschaffenden Faktoren und religiösen Ideologien. Die Tigerbewegung hatte kein Problem damit, dass die Volksbewegung religiöse Ideologien wie Caivam, Vainavam, Christentum, Islam und sogar Buddhismus akzeptierte. Diese Entscheidung für eine Religion war als Menschenrecht anerkannt. Die Tigerbewegung neigte keineswegs zum Bildersturm wie ISIS oder Boku Haram. Die Tigerbewegung, die auf jeden Fall formal die Menschenrechte der Vereinten Nationen befolgen wollte, machte durchaus Anstrengungen, Einschränkungen von Menschenrechten wie diskriminierende anti-soziale Ungleichheiten zu unterbinden. Religion gehörte nicht zu solchen Einschränkungen und war deshalb akzeptiert – aber nur innerhalb der Volksbewegung.

25 „Leben als Waffe“ ist ein Euphemismus für Sich-selbst-in-die-Luft-jagen mit Hilfe der Auslösung einer Bombenweste.

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Es ist somit klar, dass „nichtreligiös“ sich nicht auf den spirituellen Zustand eines Kämpfers bezieht. Die Schwarze Tigerin räumte ja auch ein, dass manche Kämpfer an eine höhere Macht glaubten – im Privaten. Die Tigerbewegung hatte den Ehrgeiz, das öffentliche Erscheinungsbild ihrer Kämpfer im Einsatz zu kontrollieren, nicht aber, was sie in dem Raum dachten und empfanden, den wir als privat bezeichnen. Dieser private Raum war für die Tigerbewegung nur ein kleiner Raum, der nicht antagonistisch zur vorherrschenden Ideologie sein konnte. Die Beteiligung am Krieg als Dienstleistung für die Bewegung nahm den größten Raum ein. Die offizielle Leistung der Kämpfer wurde entsprechend gewertet. Wenn es darum ging, Groß-Helden /Märtyrern/Entsagern zu gedenken, galt es, verbindliche nicht-religiöse Konventionen zu befolgen.26 Die Volksbewegung hingegen hat ihre religiösen Traditionen innerhalb des Territoriums, das unter der Kontrolle der Tigerbewegung stand, bewahrt und zum Ausdruck gebracht. Einige Enthusiasten der Volksbewegung verwandelten Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ, den Führer und Lehrer, in einen Avatāra oder schufen eine Heilsgeschichte für Tamiḻīḻam, eine Art religiösen tamilischen „Zionismus“. Sie glaubten an das Leben der Großhelden im Himmel. Als Beobachter müssen wir jedoch zwischen Mitgliedern der Volksbewegung und der Tigerbewegung unterscheiden. Religionsfreiheit innerhalb der Volksbewegung implizierte auch die freie Meinungsäußerung von humanitären Anliegen, die auf nicht-religiösen und religiösen Prinzipien beruhten. Diese Freiheit hätte sich jedoch in einigen Fällen gegen die Tigerbewegung richten können, beispielsweise durch Priester, religiöse Idealisten und nichtreligiöse Menschenrechtsaktivisten. Die Tigerbewegung bestand darauf, dass Kritik innerhalb der Organisation zu bleiben hatte. Die Tigerbewegung erlaubte eingeschränkte Menschen- und Bürgerrechte, aber auch diese wurden im Ausnahmezustand oft in Frage gestellt, was im übrigen auch der Politik des lankesischen Staates gegenüber der Zivilbevölkerung entsprach. Beide Staaten haben nach Angaben der Vereinten Nationen schwere Verbrechen gegen die Zivilgesellschaft und die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen. Der Krieg verstärkte die bereits bestehenden totalitären Tendenzen in beiden Staatsformationen. Aufgrund der christlichen Herkunft des Begriffs Märtyrer sind wir versucht, diesen mit Religion zu assoziieren, aber der Begriff Märtyrertum wurde auch in der Umgangssprache in einem nichtreligiösen Kontext verwendet. Er war lange vor

26 Peter Schalk, „Die Totenehrung von bewaffneten Kämpfern“, in: Peter Schalk, cāvilum vāḻvōm. ‚Auch im Angesichts des Todes werden wir leben‘. Īḻamtamilesein im Krieg und in der Fremde (Dortmund: Internationaler Verein Emigrierter Tamilischer Schriftsteller e.V., 2006), 171. – Peter Schalk, „Die Totenehrungen von Zivilisten“, in: Peter Schalk, cāvilum vāḻvōm. ‚Auch im Angesichts des Todes werden wir leben‘. Īḻamtamilesein im Krieg und in der Fremde (Dortmund: Internationaler Verein Emigrierter Tamilischer Schriftsteller e.V., 2006), 168–171.

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der Tigerbewegung ent-religionisiert und trivialisiert worden, was zeigt, dass die spätere Verwendung eines Begriffes nicht immer seinem entspricht. Ein fündiger Leser kann etwa einem englisch-tamilischen und tamilisch-englischen Wörterbuch folgen, in dem der Märtyrer nicht immer religiös erklärt wird. Im Insistieren auf den ausschließlich religiösen Charakter des Begriffs Märtyrer liegt die falsche Vorstellung zu Grunde, dass eine ursprüngliche Konnotation immer an einem Begriff „klebt“. Die Tigerbewegung übernahm auch den nichtreligiösen Gebrauch vom Entsager (tiyāki). In vor allem der tamilischen Bezeichnung für den Großhelden gab es keine Diskussion über Religion. Es war klar, dass dieses Konzept eine Person betraf, die gemäß den nicht-religiösen Normen für die Tugend des Helden gelebt und im Kampf den Tod des Helden / der Heldin erlangt hatte. Seine / ihre Religion war nicht von Belang; was aber von Belang war, waren ihre zum Kampf anspornende persönliche Geschichte. Die Tigerbewegung hat in großem Umfang solche vorbildliche heldenhaften Personengeschichten publiziert.

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Der Heilige Krieg

In besonderen Situationen wie der Sprengung eines buddhistischen oder CaivaHeiligtums ist oft zu hören, dass dies ein Hinweis darauf sei, dass es sich hier um einen religiösen Krieg handle. Dieser Kommentar erinnert an die Zerstörung der Kathedrale von Reims durch die Deutschen während des Ersten Weltkriegs. Einige radikale katholische Gruppen in Frankreich sahen darin eine „Bestätigung“, dass hier ein Krieg zwischen französischen Katholiken und deutschen Protestanten stattfand. In diesem Zusammenhang wurde das Stereotyp formuliert, dass jeder Krieg ein Religionskrieg sei, weil es in Kriegen angeblich immer um Weltanschauungen gehe. Schon damals wurde ein Konflikt zwischen zwei Zivilisationen behauptet, zwischen einer französischen und einer deutschen, die angeblich gegeneinander ums Überleben kämpften. Aus der Distanz zum Ersten Weltkrieg wissen wir heute, dass es in diesem Krieg nicht um Religion ging, sondern um die europäische Ausdehnung der Gebiete (Elsass – Lothringen) und der Kolonien im Ausland. Die Einführung einer Zivilisationsdichotomie war eine ideologische Rationalisierung, um die Erfahrung von Eventualitäten über die Tötung eines Nachbarn zu relativieren. Ebenso ist die konstruierte Polarisierung zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland und zwischen Hindus und Buddhisten eine Rationalisierung, ein Verhältnis, ein Grund, der von Ideologen ins Leben gerufen wurde, um zu rechtfertigen, warum man seinen Nachbarn töten kann. Im Falle von Sri Lanka gibt es – ich betone dies noch einmal –, keine Parallelität zwischen der Tigerbewegung und ihren singhalesischen Gegnern hinsichtlich der ideologischen Ausbeutung der Religion.

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Zwar werfen sich beide Seiten vor, die religiöse Infrastruktur der anderen Partei wie Tempel, Kirchen, Moscheen und Klöster sowie affiliierte soziale Organisationen zu zerstören, doch nur politische singhalesisch-buddhistische Organisationen rationalisieren ihre Aggression durch Bezugnahme auf ihre Religion. Es mag hier der Einwand kommen: Die Tigerbewegung rationalisiere ihre Aggression durch Bezugnahme auf ihren Nationalismus, der das traditionelle Caivam und die Versuche von Ārumuka Nāvalar, alle tamilischen Sprecher unter dem Dach von Caivam zu vereinen, ersetzt hat. Dieser Einwand basiert auf der Auffassung, dass der Nationalismus an sich eine Form der Religion sei, weil er ein extremes Anliegen vertritt. Dies ist richtig für einen solchen Fall wie dem der Makkabäer, die das Judentum mit dem Nationalismus verbanden und eine sakralisierte Politik schufen. Sie hatten eine politische Religion. Politische Religionen sind in Vergangenheit und Gegenwart weit verbreitet; aber man muss sich fragen: wo ist der transzendente Überbau im Falle des Nationalismus der Tigerbewegung? Er existiert nicht, und deshalb ist der Nationalismus der Tigerbewegung keine Religion oder politische Religion. Zwar vertrat die Tigerbewegung ein extremes Anliegen, aber dies war kein religiöses, sondern ein politisches. Ich habe 2013 einen Artikel über tamilische Religionsbegriffe veröffentlicht. Er hängt nicht direkt mit der Tigerbewegung zusammen. Der Artikel kann als tamilische Nomenklatur für Religion verwendet werden.27 Die Tigerbewegung hat aus dieser emischen Nomenklatur für Religion den Begriff Weg oder Straße (neṟi), als Selbstbezeichnung für ihre Ideologie übernommen. Aus der Übernahme allein können wir jedoch nicht schließen, dass die Tigerbewegung behauptet, eine Religion zu sein, oder dass es sich bei der Tigerbewegung um eine Religion handelt, die von Außenstehenden der Tigerbewegung zugeschrieben wird. Neṟi ist polysemisch und kann sich auch auf einen nicht-religiösen Weg der Tugend oder Gerechtigkeit beziehen, auf ein Prinzip oder eine Regel. Es kommt vor, dass Polysemie von „überzeugten“ Kommentatoren im Krieg der Worte zur Monosemie reduziert wird. Was für neṟi gilt, gilt auch für vaḻi. Beide bedeuten „Weg“ im religiösen aber auch im nichtreligiösen Kontext, und beide wurden von der Tigerbewegung übernommen. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ wurde sogar als Weg-weiser (vaḻi-k-kāṭṭi) dargestellt. Die Tigerbewegung übernahm auch den Begriff „heilig“, aber die Assoziation von Transzendenz wurde dabei ausgeblendet. Was vom Heiligen blieb, war das Ultimative.28 Die Tigerbewegung hatte ein ultimatives politisches Ziel und ein ultimatives Anliegen, dieses Ziel zu erreichen, und benutzte ultimative Methoden, um es zu

27 Schalk, „Tamilische Begriffe für Religion“, 81–128. 28 Schalk, „Semantische Devianz“, 150–171.

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erreichen. All dies wurde als Reaktion auf jahrzehntelange Provokationen verwirklicht, die die rudimentären Forderungen nach Sicherheit und Gerechtigkeit für die Tamilen, für Tamiḻīḻam in Frage stellten. Diese Forderungen wurden im Konzept der „drei Ts“ formuliert, die als politisch radikal, aber nicht als religiös eingestuft werden können. Die Tigerbewegung pflegte eine nichtreligiöse Ideologie, die sich nie zu einer politischen Religion entwickelte. Diese nichtreligiöse Ideologie wird in den sogenannten „drei Ts“ zusammengefasst. Sie beziehen sich auf drei Begriffe, die au Tamil alle mit „t“ beginnen. Sie sind tāyakam Mutterland, tēciyam das Nationale = Nation, und taṉṉāṉṉciyurimai, das Recht auf Selbstbestimmung. Diese drei sind miteinander verbunden: Das Recht auf Selbstbestimmung wird durch die Existenz eines Mutterlandes rationalisiert, für das etwas spezifisch ist („das Nationale“). Sie weisen auf eine weltliche Utopie hin, die letztendlich durch einen nationalen Befreiungskampf von der wirtschaftlichen Ausbeutung, der Militarisierung und der Sinhalisierung des tamilischen Stammlandes durch die Regierung verwirklicht werden soll. Diese nicht-religiöse Ideologie können wir als Patriotismus oder Nationalismus bezeichnen. Diese Ideologie weist auf den Weg zum endgültigen Ziel und ist Ansporn für die Rekruten, ihre Treue zu Tamiḻīḻam zu bekräftigen. Sie schafft auch eine Widerstandsfähigkeit gegen Verlust, Vernichtung und Niederlage. Die Ideologen der Tigerbewegung waren bestrebt, die Religion von der Tigerbewegung aus schon genanntem Grund fernzuhalten (aber nicht von der Volksbewegung). Diesen Prozess können wir Ausblenden der Religion aus der Tigerbewegung nennen, was jedoch nur ein Aufschub für das Religiöse darstellt – bis das endgültige Ziel erreicht ist, ein selbstregiertes, religionspluralistisches Tamiḻīḻam als hochtechnologischer Nationalstaat.29 Die „drei Ts“ wurden in einer Situation des Abnutzungskrieges und absoluter Feindseligkeit formuliert. Diese Feindschaft schuf eine strenge Dichotomie von innen und außen, die aber umgekehrt im inneren Bereich intensive Gefühle von Freundschaft und Solidarität erzeugte. Diese absolute Feindseligkeit gegenüber der Regierung hat auch das Konzept des Heroismus überbetont, das einige Kommentatoren als religiös oder als pseudoreligiös einstufen könnten.30 Es gibt keine alleinige Form des Heroismus. Ein angehender katholischer Heiliger kann zum Helden erklärt werden, wenn er trotz

29 Teedor, tamiḻīḻa uṭkaṭṭumāṉam [Structures of Tamiḻīḻam] (tamiḻīḻa vitutalaip pulikaḻ: tamiḻīḻa poruṇmiya mēmpāṭṭu niṟuvaṉam, 1997). 30 Peter Schalk, „Held“, in: Peter Schalk, cāvilum vāḻvōm. ‚Auch im Angesichts des Todes werden wir leben‘. Īḻamtamilesein im Krieg und in der Fremde (Dortmund: Internationaler Verein Emigrierter Tamilischer Schriftsteller e.V., 2006), 172–175.

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des bevorstehenden Todes beharrlich an seinem Glauben festhält. Diese Beharrlichkeit ist Teil ihrer /seiner Heiligkeit, die als Geschenk ihres/seines Gottes eingestuft wird. Der zukünftige katholische Märtyrer setzt diese Heiligkeit in die Tat um. Dieser Überbau der Heiligkeit fehlt im Fall des Helden der Tigerbewegung. Ihre/ seine Beharrlichkeit, an ihrer/seiner politischen Überzeugung festzuhalten, wird als Streben nach weltlicher Gerechtigkeit erklärt. Weltliche Gerechtigkeit bringt uns zu Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ, der vielleicht als kriegerischer Anführer in die Geschichte eingehen mag, aber wir sehen, dass er auch mit dem Problem zu kämpfen hatte, die internationale Gemeinschaft für das Streben der Tamilen nach weltlicher Gerechtigkeit zu sensibilisieren. In diesem Fall begegneten sich katholische Befreiungstheologen und die Kämpfer der Tigerbewegung, aber die Vorigen hatten eine Begrenzung: sie konnten offiziell als Märtyrer nur Katholiken anerkennen, die außerdem keiner Menschenrechtsverletzungen schuldig waren. Einige Kommentatoren weisen darauf hin, dass die Schlussfolgerung, ob eine Organisation religiös oder nicht religiös ist, von der gewählten Definition der Religion abhänge. Damit haben sie natürlich recht. Ich habe eine Definition gewählt, die den Aspekt der Transzendenz enthält. Ich habe diesen nicht gewählt, weil er Teil meiner eigenen religiösen Anschauung ist, oder weil dies die einzig wahre Definition von Religion ist, sondern weil Transzendenz Teil der gängigen Definition ist, die von den meisten Gelehrten verwendet wird. Sie ist kommunikativ, weil sie dem Sprachgebrauch entspricht. Transzendenz beseitigt und unterscheidet. Wo Transzendenz ist, gibt es keine Nicht-Religion oder Antireligion. Wenn wir den Aspekt der Transzendenz aufgeben und durch nichtreligiöse Endanliegen oder durch „Erfahrungen“ ersetzen, haben wir kein Instrument mehr, um zwischen Religion und Nichtreligion zu unterscheiden. Das eigentliche Problem besteht darin, Transzendenz zu definieren.

7.

Nicht-Religion und Säkularität

Wie können wir mit Hilfe von etischen Begriffen wie Säkularisierung, Säkularismus und Säkularität den Begriff von Nichtreligion der Tigerbewegung verstehen? Säkularität ist nur ein abstraktes Substantiv. Es bezieht sich auf Bedingungen und Zustände der Säkularisierung oder des Säkularismus. Es ist nicht möglich im Tamil „säkular“ mit einem Wort zu übersetzen. Rekruten der Tigerbewegung wurde beigebracht, dass die Tigerbewegung „unabhängig von der Religion“ (mataccārpaṟṟa) sei (siehe oben). Dies ist die tamilische Übersetzung von säkular. Säkular in diesem Sinne zu sein, ist eine politische Entscheidung, nämlich die, dass die organisatorische Ebene der Tigerbewegung frei von jeglicher religiösen Manifestation in der Öffentlichkeit sein sollte.

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Säkularisierung wird oft als Ergebnis eines makrosoziologischen Prozesses in Staaten verstanden, in denen eine Sektorisierung der gesellschaftlichen Funktionen aufgrund der Forderung nach Spezialisierung, Effizienz und Relevanz für die Maximierung der Produktion stattgefunden hat. Religiöse Aktivitäten und Bewertungen wurden beispielsweise aus dem Justiz-, Wirtschafts- und Bildungssektor herausgenommen und einem bestimmten religiösen Sektor zugeordnet. Dieser Prozess hat den Staat Sri Lanka durch die Bildung spezieller Abteilungen, die für Religion zuständig sind, beeinflusst. Es wurde erkannt, dass die Wirtschaftsleistung nicht durch das Beten zu einem Gott erhöht wird, sondern durch wirtschaftliche Maßnahmen. Professoren erhalten ihre Gehälter nicht durch Geschenke der Diözesen, sondern vom Staat. Kriminelle werden nicht anhand der Bibel verurteilt, sondern nach dem Gesetz. Es ist in allen Bereichen gleich, die nach relevanten Methoden zur Steigerung der Produktion suchen. Der Rückzug der Religion aus den meisten Sektoren in einen Fachbereich erfolgt durch die politische Entscheidung, die Wirtschaft zu liberalisieren und Teil einer weltweiten Wirtschaft zu werden. Säkularisierung impliziert nicht das Verschwinden der Religion, sondern ihre Sektorisierung. Die Tigerbewegung hat in einer kriegsbedingten Situation darauf verzichtet, die Religion in einem speziellen Ministerium zu sektorisieren, hat jedoch die Sektorisierung der Staatsverwaltung als solche in sechs Ministerien akzeptiert. Religion wurde in keiner der Abteilungen platziert. Sie wurde in die Hände der Volksbewegung gelegt. Die Religion durfte dort gedeihen – solange ihre Vertreter nicht gegen Ziele und Methoden der Tigerbewegung waren. Die Gründe für diese Entscheidung, die Religion innerhalb der Tigerbewegung nicht zu sektorisieren ist offenbar: es gibt keine religiösen Manifestationen. Wir stellen hier fest, dass es kein Ministerium für Religion mit angestellten professionellen Beamten für Religion gab, die beauftragt waren, den Begriff des Martyriums religiös zu gestalten. Es gab aber innerhalb des Ministeriums für Politik ein Amt für Großhelden (māvīrar paṇimaṉai). Es hatte den Auftrag, die Martyrologie der Tigerbewegung (als nicht-religiös) zu gestalten, und zwar als politisches Programm in Verbindung mit dem tamilischen Nationalismus. Wir können das als Sektorisierung der nichtreligiösen Ideologie betrachten. Das Amt der Großhelden war tatsächlich sehr effektiv. Es verwaltete alle Heime der Ruhe, die Gedenktage und Produktion von Gedenkbüchern und die Zählung und Kategorisierung aller gefallener Großhelden. Wir können also von Sektorisierung reden im Hinblick auf das Amt der Großhelden, aber dies hatte nichts mit Sektorisierung von Religion zu tun. Tamilische Religiöse versuchten, das Konzept der Tigerbewegung des Martyriums religiös zu beeinflussen, aber sie kamen von der Volksbewegung her. Wir beziehen uns besonders auf katholische Priester, die man als Befreiungstheologen bezeichnen kann. Sie versuchten ihr Bestes im Zeichen der katholischen Inkulturation zu tun, scheiterten aber. Die Aufgabe, ein bestimmtes nichtreligiöses Konzept des

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Martyriums zu garantieren, lag beim Amt der Großen Helden, das dem Ministerium für Politik unterstellt war, und dieses Ministerium war von einer nichtreligiösen Staatsideologie geleitet. Innerhalb der Volksbewegung aber wurden die Religionen gestärkt, und ihr Charakter wurde verändert, so dass sie nicht mehr nur konfessionell auftraten, sondern auch ökumenisch wurden. Für die Zeit des Konflikts konnten wir feststellen, dass die Konkurrenz zwischen Caivas und Christen sowie zwischen Protestanten und Katholiken verringert und die Zusammenarbeit auf humanitären Grundlagen begründet wurde, die die alten Rivalitäten zwischen den Religionen im tamilischen Sprachraum aufhoben. Konfessionsgrenzen wurden durch eine gemeinsame ethnische Grenze gegen die sinhala-buddhistische Gemeinschaft ersetzt. Der Konflikt scheint Caivam und das Christentum unter den tamilischen Sprechern durch ihre Offenheit für ökumenische Zusammenarbeit gestärkt zu haben. Die Beziehungen zwischen tamilsprachigen und sinhalasprachigen Christen dagegen wurden formalisiert, manchmal sogar frostig. In westlichen Gesellschaften, in denen die Sektorisierung der Religion vorangetrieben wurde, gab es eine Reaktion in Form der Entstehung sogenannter neuer religiöser Bewegungen, die unter dem Begriff New Age oder Spiritualität zusammengefasst wurden und Teil eines weltweiten religiösen Marktes sind. Dabei werden orientalische Religionen und Philosophien, indigene Weisheiten wie Indianismus und Druidentum, westliche Esoterik, Öko-Spiritualität, Quantenphysik und so weiter verkauft. Dies hat die Tigerbewegung innerhalb ihrer ideologischen „Festung“ nicht beeinflusst, aber es hat durchaus die Volksbewegung beeinflusst, die ins Visier des globalen religiösen „Marktes“ geriet. Wir können alle Arten von Spiritualität neben den traditionellen Religionen in der Volksbewegung finden, aber das Selbstverständnis der Anführer der Volkbewegung hielt daran fest, dass das Profil der Religionen unter den Tamilen Caivacittāntam und Katholizismus sei. Gleichzeitig hielten die Anführer der Tigerbewegung daran fest, dass die Tigerbewegung nicht-religiös zu bleiben habe. Die durchgeführte Sektorisierung in sechs Ministerien förderte Religion nicht. Es gibt ein weiteres, zweites Verständnis von Säkularisierung, das für unsere Studie relevant ist. Säkularisierung kann sich auch auf das beziehen, was außerhalb der Kontrolle der Kirche, des Tempels, des Vihāra oder der Moschee liegt. Die mittelalterliche Tradition definiert den säkularen, den weltlichen Bereich als den Bereich außerhalb des Klosters oder der Kirche, impliziert jedoch nicht, dass das, was außerhalb ist, per definitionem nicht-religiös oder antireligiös ist. Im Gegenteil, was draußen ist, kann tief religiös sein, aber es kann nicht orthodox sein. Es kann eine populäre oder sogar ketzerische Form der Religion sein, oder es kann eben nicht-religiös sein. Nichtreligiös oder säkular bezieht sich hier auf die Tatsache, dass eine politische Organisation nicht unter der Kontrolle einer religiösen Organisation steht.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Die Tigerbewegung als Organisation steht nicht unter der Kontrolle einer religiösen Organisation, die vorschreibt, woran die Kämpfer der Tigerbewegung glauben müssen. Es baut seine Martyrologie auf, ohne religiöse Organisationen zu Rate zu ziehen. Dieser Hinweis auf die Tigerbewegung als säkular erwähnt nichts über ihren Grad an Nichtreligiosität; es positioniert die Tigerbewegung nur außerhalb der Verwaltung einer religiösen Organisation. Diese Entscheidung ist eine Positionierung, die die Tigerbewegung selbst gewählt hat. Diese Entscheidung ist keine Massnahme gegen die Religionen, und die Tigerbewegung wurde von diesen Organisationen auch nicht verdammt oder sanktioniert. Wenn wir die Tigerbewegung mit Organisationen wie der Hamas vergleichen, erkennen wir sofort den entscheidenden Unterschied. Die Hamas wurden unter der Kontrolle muslimischer Organisationen, insbesondere der Muslimbruderschaft, in einer Weise gegründet, dass sie als muslimische Organisation definiert werden kann. Wir können auch sehen, dass die Verfassung des lankesischen Staates unter dem Einfluss von buddhistischen Mönchen gebildet wurde. Die Regierung Sri Lankas ist in diesem Sinne nicht säkular. Unser Verständnis von nichtreligiös als unabhängig von kirchlichen Organisationen impliziert jedoch nicht, dass die Tigerbewegung keinen Rat und keine Hilfe von religiösen Authoritäten annimmt, sondern nur, dass die Initiative bei der Tigerbewegung liegt. Sie war besorgt um ihre Souveränität, die sich in dem beliebten Sprichwort „Die Tigerbewegung kommt zu dir, nicht du zur Tigerbewegung“ widerspiegelt. Ich habe dies oft während meiner Besuche in Tigergebieten gehört. Die Tigerbewegung war sich ihrer Souveränität in ihren Kontrollbereichen bewusst. Kommentare, die die Tigerbewegung gerne als religiös darstellen möchten, verweisen auf sogenannte Tigertempel und Tigerkirchen. Das sind Heiligtümer, die zum Teil von der Tigerbewegung verwaltet wurden, was auch in der Diaspora geschah, wo es viele tamilische Einwanderer gab, besonders in Paris und London. Es stimmt, dass die Tigerbewegung solche Heiligtümer verwaltet hat, aber es stimmt auch, dass dieses Verwalten nichts mit dem Ausüben von Religion zu tun hatte, sondern mit dem Verwalten des Einkommens dieser Stätten: Heiligtümer sind Wunschkühe, die Einkommen generieren. Die Tigerbewegung und die Volksbewegung waren beide in einer transnationalen Diaspora aktiv, die hauptsächlich aus Mitgliedern der Volksbewegung bestand. Die Tigerbewegung war in Büros mit dem Namen Tamil Co-ordination Committee (TCC) vertreten. Die Besucher der Tempel in den 1980er Jahren waren oft Flüchtlinge. Einige von ihnen hatten rechtliche Schwierigkeiten, als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Sie bildeten eine Gemeinschaft traumatisierter Betroffener. Der Besuch des Tempels jeden Freitagabend war für sie, als ob sie nach Hause kommen und sich mit Freunden treffen würden. Die meisten Besucher hatten in ihrer Klan-Geschichte ein Mitglied, Zivilisten oder Kämpfer, die von den feindlichen

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Streitkräften getötet wurden. Die Tempel und Kirchen boten Trost und Hoffnung durch die Anbetung eines Gottes, der in Stockholm Vināyakar war, dessen Namen Entferner (von Hindernissen) bedeutet. Kritiker der Tigerbewegung identifizieren verschiedene Tempel als LTTETempel. Die Sicherheitsdienste in diesen Ländern stellten sie unter Beobachtung, ebenso die Vertreter der lankesischen Regierung. Diese hatte eine Anzahl von Loyalisten als Migranten in der Diaspora. Sie waren bereit, den Sicherheitsdiensten Informationen zu liefern. Unter ihnen befanden sich mehrere tamilische Organisationen, die zuvor von der Tigerbewegung angegriffen worden waren. Ich werde hier einen Fall nennen, der in der Diaspora in vielen Ländern wiederholt für Diskussionen sorgte. Ich werde es einen typischen Fall nennen. Es geht um einen kanadischen Tempel, der angeblich Geld für die Tigerbewegung gesammelt hat, was in Kanada eine Straftat war. Es war zu einer Zeit nach 2009, als die Tigerbewegung nicht mehr existierte, aber als die Antiterrorgesetze noch in Kraft waren. Die Medien griffen den Fall auf und machten daraus eine lange Geschichte. Die Medien in Lanka haben dies übernommen und daraus noch größere Schlagzeilen gemacht. So konnte man etwa in der Colombo Gazette am 24. November 2015 lesen, dass der Canada Kandasamy Temple, ein führender hinduistischer Tempel in Toronto, beschuldigt wurde, die LTTE finanziert zu haben. Die National Post berichtete, dass der Kandasamy-Tempel im Osten Torontos laut einem Bericht der kanadischen „Secret“ Border Services Agency von dem World Tamil Movement kontrolliert wird, das auf der Liste der terroristischen Organisationen der kanadischen Regierung steht. Abgesehen von einem Plakat am Haupteingang, auf dem der Tamil Heroes Day am 27. November angekündigt wird, sah ein Reporter, der unangekündigt vorbeigekommen war, keine Rebelleninsignien.31 Die Vorwürfe waren nicht aufrechtzuerhalten.

8.

Nicht-Religion und Laizismus

Ein französischer Schullehrer mag sonntags ein religiöser Enthusiast sein, aber es ist ihm nicht gestattet, ein Kreuz, ein buddhistisches Rad, das hinduistische Mantra OM oder einen muslimischen Halbmond im Schulzimmer aufzuhängen. „Nichtreligiös“ bezieht sich nicht auf eine Ablehnung oder Aufhebung aller transzendenten Aspekte der Religion. Nichtreligiös wird hier nicht in dem Sinne gebraucht, dass der Staat die Transzendenz aufhebt, sondern dass er öffentliche Manifestationen von Transzendenz untersagt. Ein Kämpfer der Légion Étrangère (LÉ) sollte heute

31 Anon. „Leading Toronto temple accused of funding LTTE“, in: Colombo Gazette 24. November, 2015, http://colombogazette.com/2015/11/24/leading-toronto-temple-accused-of-funding-ltte/.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

nicht sagen können, was ein französischer christlicher Soldat noch während des Ersten Weltkriegs 1914–18 sagen konnte: Der wahre Soldat Frankreichs ist Gottes Soldat. Er stirbt mit Tapferkeit und verdient den Himmel.

Nicht-religiös im Kontext der Tigerbewegung impliziert, dass religiöse Neigungen öffentlich nicht manifestiert werden, impliziert jedoch nicht die Verweigerung oder Anerkennung von Transzendenz. Dieses Nicht-Bekenntnis zur Transzendenz impliziert natürlich auch ein Nicht-Bekenntnis zu ihrem Antonym, ihrer Immanenz, und zu der Spannung und Polarisierung zwischen den beiden. Unsere Konzeptualisierungen reichen nicht aus, um diesen Zustand der Nicht-Religion jenseits der Polarisierung zwischen Transzendenz und Immanenz zu beschreiben. Deshalb müssen wir bei dem Konzept Nicht-Religion bleiben. Die Tigerbewegung beschränkte ihren Laizismus auf ihren eigenen Kontext. Religiöse Manifestationen wurden ausgeblendet. Konnten Kämpfer Symbole ihrer vererbten Religionen tragen, wie ein Kreuz, Halbmond, die Silbe Om? Die Tigerbewegung verbot schon im Grundausbildungslager alle persönlichen Besitztümer, so dass die Rekruten keine Chance hatten, ihre religiösen Symbole zu verwenden, aber es gab keine eigentliche Einschränkung in den Lagern der ausgebildeten Kämpfer. Sie konnten ihre religiösen Symbole tragen, wann sie wollten – aber nicht in der Öffentlichkeit. Viele trugen ein Kreuz zusammen mit ihrer Cyanid-Phiole oder trugen religiös konnotierte hinduistische Schnüre an Händen oder am Hals. Der Tigerbewegung war es egal, was die Kämpfer glaubten, aber die Tigerbewegung kümmerte sich sehr wohl darum, wie die Kämpfer öffentlich auftraten, und dabei bildete Laizistismus die Norm. Im Mutterland existierte auch die Volksbewegung, wo religiöse Manifestationen nicht ausgeblendet wurden, im Gegenteil: Caivam, Vaiṉavam, Katholizismus, Protestantismus und Islam blühten auf. Nachdem wir nun den französischen Begriff laïque erwähnt haben, wenden wir uns an eine Organisation, die Ähnlichkeiten mit der Tigerbewegung aufweist. In der französischen éLégion Étrangère (LÉ) gibt es eine ähnliche betonte Normkonstruktion, die in ihrem moralischen Kodex, Artikel 2, religiöse Äußerungen untersagt, um sektiererische Konflikte bei einer multireligiösen Zugehörigkeit von Soldaten zu vermeiden. Dieses Verbot gibt einen Schlüssel zum Verständnis, warum Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ die Religion ausschloss, nämlich um die Einheit seiner politisierten Leidensgemeinschaft zu bewahren. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ hat seinen Kämpfern aufgezeigt, dass die Religion für die Tigerbewegung keine Rolle spielt. Er schwieg über die Religion, wo er sie eigentlich benennen sollte, zum Beispiel, wenn er über die tamilische Heimat, Sprache, Kunst

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und Kultur im Allgemeinen sprach oder die Geschichte, was er häufig tat. Er erwähnte Religion nie als Teil der Kultur oder als eine autonome Einheit. Diese Unterlassung entspricht nicht der Konvention. Auch wenn tamilische Politiker anti-religiös sind, wenn es ihnen um die tamilische Kultur geht, ist Religion immer ein Thema, neben Sprache, Geschichte und Territorium. Einige Kommentatoren haben vielleicht erwartet, dass er etwa sagt: „Unsere Feinde sind Buddhisten, und wir sind Hindus“, aber es gibt nichts dergleichen. Er hat zwar gegen politische singhalesische Buddhisten polemisiert, aber nicht aus hinduistischer Sicht. Er tut dies aus politischer Sicht, indem er auf das Selbstbestimmungsrecht einschließlich der Sezession verweist. Er hat Religion und Religiosität ausgeblendet – im Kontext der Tigerbewegung. Die LÉ in Frankreich bestand und besteht aus Söldnern vieler Nationalitäten und Religionen. Sie lehnt jede Bindung ihrer Söldner an eine bestimmte Nationalität oder Religion ab. Sie führte den képi blanc ein, den alle tragen sollten, um sichtbare Unterschiede zu überwinden. Religiöse Manifestationen wurden ausgeblendet. Nach der offiziellen Legende der LÉ legte Hauptmann Jean Danjou, selbst als er 1863 in Cameron von der mexikanischen Armee besiegt und am Ende getötet wurde, einen Treueeid ab, in dem er seinen Gott suspendierte. Er hat einfach geschworen, sich bis zum Tod zu verteidigen, und er hat seine 60 Männer dazu gebracht, denselben Eid zu wiederholen. Sie alle hielten ihr Versprechen in dieser Situation. Diese Geschichte wurde von einem Abbé erzählt, der die Geschichte nicht christlich interpretierte!32 In der spanischen Fremdenlegion werden jedoch katholische Traditionen der Reconquista gegen die Muslime gefeiert, was durch den religiös-ethnischen homogenen Hintergrund der Söldner ermöglicht wurde. Die meisten von ihnen waren sowohl Katholiken als auch Spanier, und sie wurden vom Regiment des Gründers und faschistischen Führers Franco zusammengehalten. Während der Prozessionen der Karwoche, während der Episode der Passion Christi, wird ein von Legionären getragener Paso nicht auf den Schultern, sondern auf ihren ausgestreckten Armen gehalten, um ihren Glauben, ihre Härte, Stärke und Ausdauer zu demonstrieren. Ein Paso ist ein aufwändiger Wagen für religiöse Prozessionen. Sie werden von Trägern auf Dauben wie einem Wurf- oder Sänftestuhl getragen und in der Regel von einer Musikkappelle begleitet. In der Karwoche, der Woche vor Ostersonntag, ist es Brauch, Pasos mit großen Holzstatuen von Jesus Christus, der Jungfrau Maria, von Heiligen und biblischen Persönlichkeiten aus der Passion zu schmücken. Die spanische Fremdenlegion konnte von ihrem homogenen kulturellen und ethni-

32 K. Lanusse (Abbé), Les héros de Camaron, préface par Boyer D’Agent (Paris: Librairie Marpon et Flammarion, 1891), 129f.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

schen Hintergrund profitieren, der es nicht erforderlich machte, religiöse Elemente zu eliminieren. Der Säkularismus als Laizismus der Tigerbewegung ist das Ergebnis einer bewussten politischen Entscheidung hinsichtlich Religion. Es war eine vorbeugende Maßnahme, um die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Tigerbewegung in Bezug auf religiöse Gesichtspunkte zu minimieren. Das gleiche Motiv, Dissens zu verhindern, steckt auch hinter der Entscheidung, bei der Rekrutierung Informationen über Kaste, Geschlecht und Bekanntmachung der militärischen Dienstgrade eines jeden auszuschließen. Kämpfer sollten sich in ihrer offiziellen Rolle nicht mit einer bestimmten Religion, einer Kaste, oder einem Geschlecht identifizieren. Kämpfer wurden, bevor sie Rekruten wurden, in den Schulen und zu Hause in einer der Religionen der Insel sozialisiert. Einige mögen Atheisten gewesen sein, aber ich habe noch nie einen Kämpfer getroffen, der offen erklärte, er sei Atheist. Eine solche Aussage hat die Konnotation, unmoralisch zu sein; die öffentliche Moral wird immer noch von der Religion, selbst vom spirituellen Helden der Dravidischen Bewegung, vom Deisten Tiru Valluvar bestimmt. Es gibt eine Reihe von tamilischen Begriffen, die sich dem nähern, was Westler mit „weltlich“ meinen, nämlich ulakacampantamāṉa, lokīya, immaikkuriya, ikārtta und ulakāytavātam paṟṟiya, aber alle diese Begriffe haben eine negative Bedeutung in einer Kultur wie jener der Tamilen für Tamiḻīḻam, die zutiefst religiös ist, was erklärt, warum die Tigerbewegung sie nicht benutzte. Sie zu benutzen hätte Gefühle verletzt und entfremdet. Die Strategie der Bewegung war die einer unverbindlichen Nichtformulierung des bloß Weltlichen. Diese Nichtklärung des Begriffs „Nichtreligion“ macht es für den Rekruten problematisch, zu bestimmten Schlussfolgerungen zu gelangen. Er kann zwar daraus lernen, dass die Religion für die Tigerbewegung keine Rolle spielt, aber er kann nicht erkennen, ob die Tigerbewegung atheistisch ist. Er muss lernen, wie man eine strategische Zurückhaltung einhält. Eines ist dabei deutlich: diese Zurückhaltung gilt auch für ein engagiertes Reden für die Religion. Strategische Zurückhaltung betreffs Äußerungen über Religion hatte Grenzen für Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ. Er äußerte sich kritisch zu karman, Tamil vinai, das angeblich ein bestimmender Faktor für die Festigung einer sozialen Hierarchie und für die Unterdrückung von Frauen ist. Diese radikale Ablehnung von karman ist eine Ablehnung eines Schlüsselkonzepts in Caivam, was er aber so nicht ausdrücklich sagt. Die Ablehnung von karman wurde explizit in seiner Ablehnung des Kastenwesens. Diese Ablehnung wiederum wurde von Kommentatoren so ausgelegt, als wolle Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ nicht das Kastenwesen an sich angreifen, sondern nur die oberste Kaste, zu der er nicht gehörte. Diese Auslegung ist eine Zuschreibung, die jeglichen Belegs entbehrt, aber eines bleibt bestehen: er hat in die religiöse Organisation der Volksgemeinschaft eingegriffen. Wir können nicht ausschließen,

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dass er sich des religiösen Überbaus des Kastenwesens nicht bewusst war, aber es ist nicht möglich, dass er den religiösen Charakter von karman nicht sah. Sein Angriff könnte auch ein Versuch sein, diese klassische Doktrin des karman zu reformieren, indem er sie, in Nachfolge von Vivekānanda‘s karman-Konzept, hin zum Positiven wandelt. Da diese Interpretation nicht auf einem Spruch von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ beruht, sondern auf einer Interpretation eines Kämpfers, zögern wir, sie als authentisch zu akzeptieren, aber sie ist interessant, da sie eine bestimmte Wahrnehmung der Botschaft von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ unter den Kämpfern repräsentiert. Es war ein Versuch, Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ als religiösen Reformator zu stilisieren. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die politische Linke wenig Einfluss auf Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ hatte. Er war insbesondere von Pēriyārs nicht-religiösem Humanismus beeinflusst, der Selbstachtung lehrte und eine politische Komponente hatte, die nach Selbstregierung verlangte, und auch von Pēriyārs sozialer Kritik an der Religion, die die Abschaffung des Kastensystems und der Unterdrückung von Frauen beinhaltete. Auch die nicht-religiösen Bestattungsrituale von GroßHelden und die Heiratsrituale von Kämpfern innerhalb der Tigerbewegung waren von der Pēriyārbewegung beeinflusst. Pēriyār und Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ dachten moralisch, sozial und politisch, aber nicht religiös. Pēriyārs Nicht-Religiosität war bestimmt durch seinen Kampf gegen den nordindischen Brahmanismus, der die Existenz der dravidischen Kultur angeblich bedrohte, aber dieser Kampf war strikt gewaltlos. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ ging einen Schritt weiter. Sein Kampf für die Souveränität der tamilischen Kultur implizierte Gewaltanwendung. Seine Entsprechung zum Brahmanismus war nicht der Buddhismus, den er schätzte, sondern „Sinahala-tum“. Der Ausdruck – in Sinhala siṃhalatva – ist nicht meiner, sondern ist eine Selbstbezeichnung von politischen Buddhisten, die mit Hilfe des Buddhismus und der Sinhala-Sprache die ganze Kultur Sri Lankas homogenisieren wollen.33

9.

Der Tiger unter dem Volk

Die Tigerbewegung brauchte moralische und materielle Unterstützung – auch von religiösen Organisationen. Es gibt Fälle von moralischer Unterstützung religiöser Organisationen für die Tigerbewegung. Es folgen einige Beispiele. Im August 1997

33 Peter Schalk, „Operationalizing Buddhism for Political Ends in a Martial Context in Lanka. The Case of Sinhalatva“, in: Religion and Violence in South Asia: Theory and Practice, hg. von John R. Hinnels, Richard King (London: Routledge, 2006), 139–153; Peter Schalk, „Political Buddhism among Lankans in the Context of Martial Conflict“, Religion, Staat, Gesellschaft. Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen, 2.2, (2001): 223–342.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

erfuhren wir, dass die hinduistische Gesellschaft Mullaitīvus eine riesige Prozession organisierte, während der die Menschen um den Sieg für die Tigerbewegung beteten. Im Dezember 1995 wurden hinduistische Gebete in Tempeln zum Wohle des „nationalen Befreiungskampfs“ abgehalten, in einer Situation, in der die Sri Lanka Armed Forces (SLAFs) der Regierung vorrückte und schließlich Yālppāṇam eroberte. Der Text wurde in englischer Sprache von der Tigerbewegung unter der Rubrik „News“ herausgegeben.34 In hinduistischen Tempeln wurden besondere Gebete für die Errettung der Tamilen abgehalten. Die Gebete richteten sich darafu, Freiheit durch nationalen Befreiungskampf und ein erfolgreiches Leben der Menschen in Tamiḻīḻam zu erlangen. In hinduistischen Tempeln wurden spezielle Pūjās angeboten, die mit dem Singen religiöser Hymnen fortgesetzt wurden. Stille Gebete wurden gesprochen. Danach wurde ein gemeinsames Gebet abgehalten.35 Der Text ist klar: Die Initiative für die Gebete wird von den Tempeln übernommen und mit Inhalt gefüllt. Es ist klar, dass die Tigerbewegung sich nicht von dieser emotionalen Unterstützung des „nationalen Befreiungskampfs“ distanzierte. Es ist aber auch klar, dass die Tigerbewegung diese Gebete nicht organisierte; sie hat nur den Bericht über die Unterstützung veröffentlicht, sogar auf Englisch, wahrscheinlich, um der Welt zu zeigen, dass sie ebensolche Unterstützung erhielt. Beim Tag der Großhelden im Jahr 2004 in Kōpay habe ich gesehen, wie mehr als 50 katholische Priester und Nonnen am Höhepunkt des Rituals, dem Leuchten der gemeinsamen Flamme als Gabe ((putac-īkaic-cutar), teilnahmen. Sie taten dies aus eigener Initiative, ohne offen zu versuchen, ein christliches Ritual einzuführen. Was wichtig war, war ihre Anwesenheit, durch die sie ihre Anerkennung kommunizierten, nicht notwendigerweise der Tigerbewegung als Befreiungsbewegung, sondern für den Akt der Liebe für die toten Kämpfer, die ihr Leben für andere gaben, was Johannes 15:13 nahe kommt. Sie wollten das Martyrium der Tigerbewegung im christlichen Licht sehen – aber ohne Erfolg. Die Tigerbewegung hatte eine eigene Sichtweise auf das Martyrium, aber die Anwesenheit der katholischen Priester und Pfarrer inklusive von Nonnen jedes Jahr am Tag der Großhelden am 27. November war sicher ein Motivationsschub.

34 Press Release, LTTE Headquarters, Tamil Eelam, 14. August 1997 (London: LTTE International Secretariat, 1997). 35 Anon, „Hindu Prayers for the Heroes“, in: Circle Mailing List Administration, [email protected], 26. December, 1995.

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10.

Die zukünftigen Religionen in Tamiḻīḻam

Die Tigerbewegung hatte eine Vision von einer Zukunft, in der Tamiḻīḻam von der Welt anerkannt würde. Dann würde die Tigerbewegung der Zivilgesellschaft untergeordnet sein. Das Verhältnis von Staat und Religion würde beeinflusst sein von Indien. Im Gegensatz zur Neutralität des französischen Staates zur Religion als nicht kontrollierend, hat Indien ein anderes Verständnis von Neutralität, nämlich dass der Staat alle Religionen, zumindest die indischen Ursprungs, zu beschützen und zu kontrollieren habe. Neutralität ist hier maximales Engagement in Form von Schutz und Unterstützung für alle (indischen) Religionen. Wir assoziieren dies mit religiösem Pluralismus. Säkularismus und religiöser Pluralismus sind durch indische liberale Ideologen aus der Nehru-Tradition eng miteinander verbunden. Religiöser Pluralismus wird hier gegen eine Monopolisierungstendenz gefördert, die nur eine Religion fördert, den Hinduismus. Der Staat Sri Lanka hat versucht, das indische System zu kopieren, ist jedoch aufgrund des Drucks des politischen singhalesischen Buddhismus gescheitert. Der Staat hat Ministerien für Buddhismus, Hinduismus, Christentum und Islam, aber es gibt eine klare Monopolisierungstendenz zugunsten des Buddhismus.36 Diese Monopolisierungstendenz wird von politischen singhalesischen Bewegungen vorangetrieben, deren Ziel es ist, den religiösen Pluralismus durch die Förderung des Buddhismus als alleinige Staatsreligion gemäß der Parole „Sri Lanka ist (nur) ein buddhistisches Land“ zu ersetzen. Die staatliche Religionspolitik Indiens inspirierte die Tigerbewegung, die diese Verpflichtung zum Pluralismus von der indischen Verfassung und der Bundespartei übernnommen und mit der Tamil United Liberation Front geteilt hat.37 Im Jahr 2003 wurde die Interim Self Governing Authority (ISGA) ins Leben gerufen als Vorschlag der Tigerbewegung zur Machteilung mit der Regierung. Die ISGA war kein Projekt, das die Situation der Tigerbewegung im Jahr 2003 widerspiegelte, sondern ein Projekt, das bei einem dauerhaften Waffenstillstand durchgeführt werden sollte, aber auch nur als Probe. Es war keine Endlösung. In Abschnitt 5 erklärt die Tigerbewegung kurz: 5. Secularism. No religion shall be given the foremost place in the North East.38

36 Peter Schalk, „Present Concepts of Secularism among Īḻavar and Lankans“, in: Zwischen Säkularismus und Hierokratie. Studien zum Verhältnis von Religion und Staat in Süd- und Ostasien, hg. von Peter Schalk et al., Acta Universitatis Upsaliensis. Historia Religionum 17 (Uppsala: ACTA, 2001), 37–72. 37 Siehe Schalk, „Present Concepts of Secularism…“. 38 Interim Self Governing Authority. https://en.wikipedia.org › wiki › Interim_Self_Governing_Authority.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Dies ist eine negative Formulierung, die gegen die Monopolisierungstendenz des Staates Sri Lanka gerichtet war und implizierte, dass Tamiḻīḻam religionspluralistisch sein würde. Wir müssen hinzufügen, dass diese Aussage der ISGA nur gültig ist, wenn Tamiḻīḻam tatsächlich existiert. Im geplanten Staat Tamiḻīḻam würde dann eine Vielzahl von Religionen existieren, die vom Staat unterstützt werden würden, der wiederum durch seinen Pluralismus Neutralität bewahrt. Religiöser Pluralismus wird in Indien als Säkularismus bezeichnet. ISGA verwendet dieses Wort für seine Formulierung, keiner Religion den Vorzug zu geben. Damit hatte die Tigerbewegung das Spiel verloren, denn sie konnte damit bei der buddhistischen Großversammlung nicht ankommen. Tamiḻīḻam als säkularistischer Staat ist oft missverstanden worden als ein Staat, in dem alle Religionen vom Staat getrennt worden sind. Das Gegenteil ist der Fall. Die Regierung lehnte die ISGA ab. In ihrer Verfassung zeigt der lankesische Staat eine noch schärfere Monopolisierungstendenz als die indische Verfassung, indem er eine Religion, den Buddhismus, als „die erstrangige Religion“ bezeichnet. Auch die indische Unterstützung von Religionen ist in ihrer Reichweite begrenzt. Die indische Verfassung beinhaltet nicht den Islam, das Christentum, den Parsismus und das Judentum, was später von der Hindutva-Bewegung als Freibrief zur Marginalisierung oder gar Beseitigung dieser Religionen aufgegriffen wurde. Die Nichteinbeziehung dieser Religionen durch den indischen Staat wurde jedoch nicht als bewusster Ausschluss gewertet. Es war angeblich das Ergebnis von Verhandlungen mit Vertretern dieser Religionen, die nicht vom indischen Staat „beschützt“ werden wollten. „Schutz“ bedeutet auch Kontrolle, z. B. die Kontrolle über die Finanzen.39

11.

Religiöse Rhetorik der Tigerbewegung

Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ verwendete in seiner politischen Rhetorik durchaus religiöse Begriffe. Wir können dasselbe über die französische Légion Etrangère (LÉ) sagen, die eine ähnliche blühende religiöse Terminologie hatte. In ihrem Verhaltenskodex, Artikel 6, heißt es über die Legionäre:

39 Zum Konzept des „Tamil Buddhism“ siehe Buddhism among Tamils in Pre-Colonial Tamiḻakam and Īḻam, Part 1. Prologue. The Pre-Pallava and the Pallava period, hg. von Peter Schalk, Acta Universitatis Upsaliensis, Historia Religionum 19 (Uppsala: ACTA, 2002); Buddhism among Tamils in Pre-Colonial Tamiḻakam and Īḻam, Part 2. The Period of the Imperial Cōḻar. Tamiḻakam and Īḻam, hg. von Peter Schalk, Acta Universitatis Upsaliensis, Historia Religionum 20 (Uppsala: AUU, 2002); Buddhism among Tamils in Pre-Colonial Tamiḻakam and Īḻam, Part 3. Conclusions, hg. von Peter Schalk, Acta Universitatis Upsaliensis„ Historia Religionum 33 (Uppsala: ACTA, 2013).

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Die Mission ist heilig. Du setzt sie bis zum Ende um, und wenn nötig, gibst Du Dein Leben auf.40

Diese Worte hätte auch Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ sagen können. Wir wenden uns Begriffen wie „heilig“ zu und interpretieren sie als Teil der Rhetorik von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ als Politiker. Er verwendet überzeugende Begriffe, die in einer Gesellschaft, die zutiefst religiös ist, „funktionieren“. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ musste Jugendliche überzeugen, die Waffen zu ergreifen und dafür moralische Unterstützung zu erhalten, nicht für eine unbedeutende Sache, sondern aus einem letztendlichen Grund, der das Überleben der tamilischen Gemeinschaft bedeutete. Gibt es einen besseren Begriff als „heilig“, um ultimativ zu ersetzen? „Heilig“ bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf eine transzendente und religiöse Manifestation. Es muss erwähnt werden, dass er neben „heilig“ auch „ultimativ“ verwendet. Er wechselt zwischen den beiden, was bestätigt, dass er sie als semantisch gleichwertig ansieht. Das Aussuchen und die Entlehnung religiöser Begriffe durch die Tigerbewegung war durchaus nicht rein spielerisch. Es wurde als ernste Angelegenheit begriffen. Letztendlich werden Bedenken in religiösen Begriffen ausgedrückt. Dieses Verständnis enthüllt eine unterschwellige Einschätzung von Begriffen: Ein religiöser Märtyrer/Held besitzt eine Würde, die eine nicht-religiöse Person nicht erlangen kann. Eine bloße politische Überzeugung oder politische Ideologie kann nicht als endgültig angesehen werden. Der religiöse Glaube hat einen „Surplus“, den eine nicht-religiöse Überzeugung nicht hat. Dieses Verständnis ist wichtig für unser Verständnis der Tigerbewegung, insbesondere für Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ, der ebenfalls von dieser Bewertung beeinflusst wurde. Ein Kämpfer, der auf dem Schlachtfeld für Tamiḻīḻam gestorben ist, ist nicht nur ein Freiheitskämpfer; er ist auch ein Märtyrer. Dieser Begriff hat auch in einer nicht-religiösen nationalistischen Gemeinschaft einen emotionalen Mehrwert. Die Tigerbewegung hat Begriffe aus dem Wortfeld „Opfer“ auf Englisch und Tamilisch intensiv benutzt, aber das verwandelt die nicht-religiöse Anschauung der Tigerbewegung noch nicht in eine Religion. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ griff den emotionalen Überschuss der Begrifflichkeit auf, verwischte jedoch die kognitive Konnotation von Transzendenz in den entsprechenden Begriffen. Ein Märtyrer der Tigerbewegung und ein Märtyrer des Islam oder Christentums sind phänomenologisch ganz verschieden. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ war darin nicht einzigartig: andere politisch linksgerichtete Bewegungen in dieser Welt tun dies auch.

40 Code d’honneur du légionnaire: „La mission est sacrée, tu l’exécutes jusqu’au bout et si besoin, en opérations, au péril de ta vie“ https://www.legion-etrangere.com/mdl/page.php?id=92.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Es gibt einige andere Ausdrücke, die von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ verwendet werden und die eine lange Geschichte in der Vergangenheit der tamilischen Religionen haben. Wir können jedoch feststellen, dass er von der traditionellen Verwendung dieser Ausdrücke abweicht. Er behält diese Bezeichnungen bei, wandelt jedoch den Inhalt des Bezeichneten von einem religiösen in einen nichtreligiösen politischen um. Einer dieser Bezeichnungen ist der Term Entsagung (tiyākam), der neben dem Heroismus die mentale Fähigkeit des Kämpfers kennzeichnet, seine Widerstandsfähigkeit auszudrücken. Es ist eine Entsagung des Eigeninteresses zum Wohle anderer. Ihre radikalste Form ist die Entsagung des Lebens zum Wohle anderer. Die Ausdrücke Entsagung und Entsager (tiyāki) sind auch die Ausdrücke, die im Englischen durch die Tigerbewegung als Martyrium bzw. Märtyrer bezeichnet werden. Wir sind hier mit einer der vielen hyperbolischen Konstruktionen von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṇ konfrontiert, die durch die Verwendung klassischer Sanskrit-Begriffe unterstrichen wird. Obwohl Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ diese Sanskrit-Begriffe als Grapheme und Signifikanten beibehält, ändert er ihre Bedeutung, indem er diese Begriffe aus einem religiösen herausnimmt und in einen nicht-religiösen politischen Kontext versetzt, dessen letztendliches Ziel es ist, Tamiḻīḻam aufzubauen. Dieses Vorhaben geschah in einer extremen Situation, die wir als totalen Krieg bezeichnen, der von Anfang an auf beiden Seiten ab Mitte der 1970er Jahre kompromisslos geführt wurde, und dessen Vorläufer Wortgefechte zwischen Tamil- und SinhalaSprechern aus dem frühen 20. Jahrhundert waren. Diese kriegerischen sprachlichen Auseinandersetzungen waren kein Ersatz für körperliche Gewalt, sondern Vorläufer davon. Beide Volksgruppen befanden sich jahrzehntelang im Ausnahmezustand. Wir können von einer fortschreitenden Radikalisierung der Formulierungen von Lexemen in diesem Krieg der Wörter sprechen, insbesondere in der Sprache von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ, die zu semantischen Verschiebungen und Variationen im Sprachgebrauch führte. Diese Lexeme klassifiziere ich in seinem Fall als abweichende nichtreligiöse Begriffe. Unter Abweichung wird hier eine bewusste sprachliche Abweichung in Form kühner Formulierungen im Kontext politischer Agitation verstanden. Die Begriffe reflektieren und hängen natürlich von einer Abweichung der Politik im Ausnahmezustand ab. Dieses Phänomen der semantischen Verschiebung durch die Neudefinition von Begriffen im allgemeinen Sprachgebrauch findet sich regelmäßig in der Welt der politischen Rhetorik, auch im politischen Sinhala-Buddhismus. Im Fall von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ kommt es zu einer radikalen Verschiebung von Begriffen von einem religiösen in ein nicht-religiöses semantisches Feld. Nehmen wir als Beispiel Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs Begriff der göttlichen Askese. Er bezog sich auf seine gefallenen Krieger mit dem kühnen Bild göttlicher Asketen, die das Leben im Kampf aufgegeben hatten, aber das Todesritual enthielt keine

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Hinweise auf Caivam oder das Christentum und kein Priester führte das Ritual durch. In Überlegungen des Anführers 36:5 schrieb er: Den Mut zeigen, sich selbst zu vernichten, damit die anderen glücklich leben, ist göttliches, asketisches Leben. Die göttlichen Geburten (teyvīkap piṟavikaḷ) sind wahrlich die Schwarzen Tiger.41

Zunächst sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir es hier mit einem martialischen Martyrium zu tun haben. Die Black Tigers gaben ihr Leben, als sie töteten. Zweitens interpretieren wir das Attribut „göttlich“ auf dieselbe Weise wie „heilig“, also als ultimativ. Was das Wort Askese (tuṟavaṟam) anbelangt, das auch als Ablehnung und Verzicht auf die Freuden des Lebens erklärt wird, hat Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ die damit verbundene Bildersprache von Caivam und / oder vom Christentum übernommen, wo sie sich auf die äußere und innere Askese als Vorläufer der Erlösung der Seele im Himmel beziehen. Er hat es jedoch auf die strengen Übungen in seiner Form der Selbstdisziplinierung angewendet, die alle Kämpfer und die Schwarzen Tiger während ihrer Karriere durchlaufen müssen. Diese Askese endet nicht im Himmel, sondern in einem Grab und in der Erinnerung – und nirgendwo sonst. Disziplin wird als Selbstdisziplin verstanden, aber es werden als grundlegende Verhaltensregeln sechs notwendige Merkmale angegeben, die einen Krieger auszeichnen. Eine davon ist die mentale Vorbereitung, Zyanid zu nehmen, und manchmal auch, eine Bombenweste zu tragen. Indem Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ den religiösen Begriff der Askese für diese Selbstdisziplin und zusätzlich für andere Verhaltensregeln zur Schaffung einer Kriegerdisziplin verwendet, bringt er die Idee zum Ausdruck, dass „wahre“ Askese eine Kriegerdisziplin ist, oder dass die Kriegerdisziplin auf jeden Fall den gleichen Status wie Caiva und christliche Askese hätte. Ein religiöser Asket wäre als Krieger im Sinne der Tigerbewegung nutzlos. Es wäre irreführend zu sagen, dass Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ von Caivam und dem Christentum dazu inspiriert wurde, seine Krieger in Caiva oder christliche Asketen zu verwandeln. Er ließ sich zwar von dem in der religiösen Askese gelehrten Verzicht inspirieren, änderte aber die Bedeutung der Askese. Die Kämpfer der Tigerbewegung fasteten zum Beispiel nicht. Eine feste Mahlzeit mit 4000 Kalorien pro Tag war notwendig. Sie mussten während ihrer Trainingsperioden und während der Kriegspausen harte körperliche Übungen machen, z. B. 25 km mit einem Rucksack von 30 kg laufen mit schweren Gewichten an den Beinen. Eine der sechs Verhaltensregeln wies sie an, sich von vorehelichem Sex, Alkohol und Rauchen fernzuhalten. Auch Spiele wurden abgelehnt. Dies waren alles Aktivitäten, die die

41 Schalk (ed.), Die Lehre, Nummer 36:5.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Konzentration auf das Erreichen des Endziels für Tamiḻīḻam beeinflussten. Sie hatten keine religiöse Absicht, ihre Seele für den Himmel zu retten. Ihre Taten wurden nicht als Verdienste oder Belohnungen eingestuft, als ob sie einem Gott als Richter gegenüberstünden. Ein wahrer Asket im Sinne von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ ist eine Person, die Entschlossenheit für den Krieg und nicht Sehnsucht nach dem Himmel an den Tag legt. Ich kann sogar eine implizite Polemik gegen religiöse Asketen in seinem Schreiben entdecken. Ein echter Asket im Stil der Tigerbewegung sollte sich nicht wie ein religiöser Asket verhalten. Darüber hinaus zögerte Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ Befreiungskrieg in Überlegungen des Anführers 39: 2 nicht, die Taktik, um Tamiḻīḻam zu verwirklichen, nämlich den bewaffneten Kampf, als Heiligen zu bezeichnen. Sowohl das endgültige Ziel als auch die Taktik, um dieses zu erreichen, werden von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ als „heilig“ eingestuft. Als ich einer treuen Verehrerin von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ mehrere Passagen zeigte, wo er vom heiligen Krieg sprach, war sie überrascht und sagte: „Wir sind keine Muslime“. Sie hatte recht. Die Ideen der Tigerbewegung sind nicht religiös. Der Verweis auf Transzendenz in religiösen Begriffen wird von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ abgetrennt und die Begriffe und auf einen anderen konnotativen Bereich ausgerichtet, nämlich auf den der universellen Menschenrechte. Er ersetzte die konventionelle Bedeutung von Transzendenz durch eine neue, nicht-religiöse Bedeutung von Menschenrechten, behielt jedoch den emotionalen Teil religiöser Begriffe bei, wie im Falle von „heilig“, was wir angesichts seines nicht-religiösen Kontexts als ultimativ, absolut usw. bezeichnen würden. Wir können ja durchaus starke Ausdrücke wie „äußerst“, „absolut“ und „endgültig“ verwenden, wenn wir von unseren höchsten Werten sprechen. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ sagt „heilig“, aber dieses „heilig“ hat keinen Bezug zum Göttlichen oder, allgemeiner ausgedrückt, zum Transzendenten. Der Begriff hat jedoch einen starken emotionalen „Überschuss“ in einem zutiefst religiös-kulturellen Kontext, in der Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ aktiv war.

12.

Adiaphoristisches

Eine religiöse Ideologie mag nicht Teil des Bewusstseins des Kampfes sein, aber sie kann durchaus Teil des Bewusstseins vor und nach dem Kampf sein. Ein Krieger, der sein und das Leben anderer riskiert, ist am Ausgang seines Kampfes interessiert, wie etwa Cūcai, Brigadier der Seetiger. Er hatte einen der höchsten Ränge in der Tigerbewegung. Er besuchte zusammen mit einer kleinen Gruppe von Kämpfern eine verheiratete Frau namens Ammā, die in einem kleinen privaten Tempel in Vaṟṟapaṉai in der Nähe von Mullaittīvu Prophezeiungen verkündete. Der Tempel war der Göttin Ammaṉ geweiht, was von ihren Anbetern als sekundärer Name für

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Tūrkkai verstanden wurde. Sie hatte Ammā ermächtigt, die Zukunft vorherzusagen. Auf Tamil heißt ihre Aktivität „im Tanz ein Wort der Gnade sagen“, was im vorliegenden Fall das „Trösten / Beruhigen“ in einem Zustand ausdrückt, in dem Ammaṉ besessen was, was sich wiederum in ihrem Tanz ausgedrückte. Ammā praktizierte auch einen Ritus, bei dem die Anbeter der Göttin die heilige Asche in den Vordergrund stellten, und der sie zu Personen machte, die ihr ihr Leben gewidmet hatten. Cūcai und seine Anhänger mussten dafür eine Gebühr in Form von Früchten entrichten. Cūcai ging in der Nacht zu ihr, immer unbewaffnet, in Zivil und mit der versteckten Phiole mit Gift unter dem Hemd. Er war sich sehr wohl bewusst, was er in und außerhalb des Dienstes tun konnte, und dass es einen kleinen Raum gab, um sein Vertrauen in Ammā außerhalb des Dienstes zu stärken. Sein Fall zeigt auch das auf, was wir als Ausblenden der Religion durch die Tigerbewegung durch einen ihrer Anführer bezeichnen. Es gibt weitere Abweichungen von der Tigerbewegungsnorm. Ungefähr zwei Kilometer von einem Tigerlager in Vaṉṉi, an der Grenze zu Muttaiyaṉ Kāṭṭu, befand sich ein Tempel, der Piḷḷayār geweiht war, der auf Sanskrit als Gaṇeśa bekannt ist. Während des Krieges, als eine Gruppe von Kämpfern, schwer mit Waffen beladen, regelmässig nachts an diesem Tempel vorbeikam, konnten sie spontan anhalten, und, ohne den Priester zu fragen, außerhalb des Tempels eine Verehrung des Gottes mit Kampfer arrangieren, wobei sie auch Kokosnüsse zertrümmerten. Piḷḷaiyār hat viele Formen. Eine ist die des heroischen Herrschers der Menge, der sechzehn kriegerische Gegenstände in seinen Händen hält. Ein anderer Name ist Vināyakar, „Entferner (von Hindernissen)“. Die zerschmetterten Kokosnüsse dienen dem Entfernen von Hindernissen oder von zurückhaltenden Kräften. Kampfer ist eine natürliche Pechsubstanz; es brennt kühl und hinterlässt keine Aschereste, was das Verschwinden des Egos symbolisiert. Am Ende des Rituals wird die Kampferflamme als Weihrauch für die Gottheiten verbrannt. Es gibt einen beliebten Brauch bei den Caivas, Kokosnüsse vor Vināyakar zu zerschlagen: Eine Kokosnuss besteht aus drei Schichten. Zuerst wird die Schale entfernt, dann wird die harte Abdeckung zerschlagen und zerbrochen. Schließlich wird der weiße Kern als Symbol der Liebe, rein und weiß, präsentiert. Die Kämpfer förderten diese Vorstellungen nicht; sie würden nicht zu ihrer kriegerischen Situation passen. Stattdessen wurde mir gesagt, dass sie zutiefst glaubten, dass Vināyakar in dem Kampf, den sie führten, Stärke und Sieg verlieh. Die Kämpfer baten Vināyakar direkt, Kraft und Sieg zu geben. Für die Kämpfer war es nicht erforderlich, Einzelheiten über Piḷḷaiyār, das Zertrümmern von Kokosnüssen und das Verbrennen von Kampfer zu wissen. Der Hauptpunkt war, dass die Riten in der Weise durchgeführt wurden, wie sie sie von Kindheit an gelernt hatten.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Schließlich erzählte mir ein Kämpfer, der an der Verehrung von Vināyakar oftmals teilgenommen hatte, und der auch Lehrer für Rekruten war, dass ihre Führer ihnen ihren religiösen Glauben nicht verbieten. In der Versammlung der Befreiungstiger gilt die religiöse Unabhängigkeit. Unsere Führer verbieten niemals unser Vertrauen (in Gott zu setzen).

Wir müssen diese Wahrnehmung der Tigerbewegungspolitik erläutern. Wir stellen fest, dass diese Besuche im Tempel außerhalb des Tempels stattfanden, inoffiziell, unangekündigt und ad hoc. Sie geschahen in der Nacht und außerhalb der Öffentlichkeit. Mir wurde jedoch auch mitgeteilt, dass die Kämpfer angekündigte und geplante Besuche im Tempel zum Opfern unternahmen, jedoch mit dem Unterschied, dass sie dann von ihren Uniformen in Zivilkleidung wechselten, um etwa kein Missverständnis aufkommen zu lassen, dass die Tigerbewegung von einer etablierten Religion abhängig oder dass Religion für die Bewegung nicht belanglos sei. Es kam häufig vor, dass eine Gruppe von Kämpfern in ihrer Freizeit beschloss, ein Tanz-Drama in Kombination mit Musik und Tanz aufzuführen, in dem Götter auftraten. Eine Tigerin konnte dabei die Rolle der Turkkai (Durgā) einnehmen, die einen Dreizack hält. Um dies zu verstehen, müssen wir einige Fakten über diese Göttin erklären. Das erwähnte Tanz-Drama war eine Pastiche des Cilappatikāram aus dem 5. Jahrhundert. Zunächst einige Worte über die Vorläuferin von Turkkai. Es gibt die mindestens 2000 Jahre alte Kriegsgöttin Koṟṟavai, die in Wäldern und auf Bergen lebte. Ihr Name bezieht sich auf Vorstellungen von Sieg, Tapferkeit und Macht. Am Ende einer siegreichen Schlacht wurden ihr aus Dankbarkeit blutige Opfer von Menschen und Tieren dargebracht. Ihre Dienerinnen waren Frauen, die sich in einem ekstatischen Tanz mit dem Göttlichen in Verbindung treten konnten. Koṟṟavai wurde später mit Turkkai (Sanskrit Durgā) und Kālī (Kālī der Sanskrit-Tradition) identifiziert. Diese Göttin Turkkai spielt eine wichtige Rolle in der sogenannten Volksbewegungskultur. Ein Tanz-Drama wie dieses über Turkkai hat mehrere Funktionen. Eines ist eine religiöse Funktion, die von der Tigerbewegung weder gutgeheissen noch verboten wurde, aber den politischen Formen eines Tanz-Dramas untergeordnet wird. Die Anführer weisen die Organisatoren eines Tanz-Dramas an, das Bewusstsein für den Kampf zu schärfen. Es muss bedeutungsvoll sein und über Aufstieg und Revolution sprechen. In diesen Fällen von Unterhaltung und Bildung ging die Initiative nicht von einem Tempel, einer Kirche oder einer Moschee, sondern aus einem Kriegslager der Tigerbewegung aus. Eine solche Initiative stand unter der Kontrolle der Tigerbewegung. Gruppenleiter konnten auch beim religiösen TanzDrama anwesend sein, das nicht nur zur Unterhaltung aufgeführt wurde, sondern

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auch, um Energie zu fördern und zu spenden – so sagte mir jedenfalls einer der Kämpfer. Das Wichtige dabei war, dass in diesem Zusammenhang das Religiöse dem Politischen untergeordnet war. Hierin wird noch einmal die Belanglosigkeit von Religion deutlich, obwohl es der Religion gleichzeitig sozusagen gestattet ist, anwesend zu sein. Der Kommentar eines Kämpfers dazu lautete: „Wir sind keine religiöse Bewegung, obwohl wir einige religiöse Dinge akzeptieren.“ Ich interpretiere „Dinge“ so: Es gibt Bereiche, die aus militärischer und politischer Sicht der Tigerbewegung zuwiderlaufen; aber was nicht direkt verboten ist, ist erlaubt. Es gab durchaus solche Bereiche, die nicht verboten waren. Einige von ihnen im privaten Bereich hatten religiösen Inhalt. Wir kommen nun wieder auf Patricia Lawrence und die Schwarze Tigerin zurück. Sie konstatierten richtig, dass Religion nicht Teil des Kampfesbewusstseins unter den befragten Kämpfern war; aber es gab auch noch ein anderes Bewusstsein, dass außerhalb des Interesses der Tigerbewegung lag. Es ist völlig überflüssig, dass einige Gelehrte und Journalisten diese Verwendung von religiösen Signifikanten als Ambition der Tigerbewegung interpretieren, eine Religion zu etablieren; dies ist eine völlig unbegründete Zuschreibung. Es gibt für eine solche Annahme keinerlei Hineweise innerhalb der Tigerbewegung. Verbale Äußerungen und rituelle Handlungen beziehen Bedeutung durch ihren Gesamtzusammenhang und nicht nur durch ihre Herkunft, die religiös sein mag, genauer gesagt christlich und Caiva. Wenn ich eine Kerze vor dem Heiligen Kreuz anzünde, ist das etwaas anderes, als wenn ich sie vor das Bild eines Märtyrers der Tigerbewegung stelle, aber möglicherweise profitiert letztere Handlung vom religiösen „Überschuss“ des ursprünglichen Kontextes. Was können wir von einer nichtreligiösen Konstruktion verlangen? Erwarten wir, dass die Tigerbewegung aus dem Nichts kommt und von vorne anfängt? Was kann es anderes geben in der Geschichte der Ideen im Laufe der Zeit als Gemeinsamkeiten?

13.

Vertrauen/Hoffnung in den Einsatz der Tigerbewegung

Vertrauen / Hoffnung wird von der Tigerbewegung verwendet, um die Beziehung zwischen Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ als Wegweiser und seinen Kämpfern in der Tigerbewegung und seinen Anhängern in der Volksbewegung zu beschreiben. Die Begriffe Vertrauen / Hoffnung werden in religiösen Ideologien rund um die Tigerbewegung verwendet und beschreiben die Beziehung zwischen einem Gott und einem Menschen. Wir sehen eine Homologie, aber heisst noch lange nicht, dass Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ die Stellung eines Gottes zugeschrieben wird. Bevor wir uns in diesem Sinne der Person Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs zuwenden, müssen wir

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diese Begriffe Vertrauen/Hoffnung in einem weiteren Kontext, auch jenseits der Tigerbewegung, untersuchen. Ernst Bloch (1885–1977) fasst seine Philosophie so zusammen: „Wo Hoffnung ist, ist Religion“.42 Die Erfahrung der Hoffnung sei religiös, weil die Hoffnung den Drang zum Ausdruck bringt, eine bestimmte Position hin zur Transzendenz zu überschreiten. Ernst Bloch sprach von Religion als dem Drang, das Existierende zu transzendieren, von einem Prozess des Transzendierens, nicht von dem Transzendenten, das irgendwo am Ende steht. Er sprach von der Grundkategorie der Hoffnung als solcher, sei sie auf den Sturz einer faschistischen Regierung oder auf die Auferstehung nach dem Tod gerichtet. Wo Hoffnung ist, ist Religion. Sein Standpunkt war, dass die geistige Einstellung der Hoffnung als solche, unabhängig von der Natur des Endziels, religiös sei. Vertrauen / Hoffnung ist in der Tat ein zentraler Bestandteil religiöser und nichtreligiöser Ideologien, aber um die Definition zu vervollständigen, müssen wir nicht nur einen Prozess identifizieren, sondern auch ein Endziel, auf das Vertrauen / Hoffnung ausgerichtet sind. Ist dieses Ziel nun transzendent oder immanent? Ernst Bloch inspirierte die Theologen, die in den 1960er und 1970er Jahren ihre auf unterdrückte Volksgruppen ausgerichtete Befreiungstheologie auf dieses Prinzip von Vertrauen / Hoffnung gründeten. Solche Theologen könnten nun behaupten, dass Unterdrückte, selbst wenn sie sich ihre Ideen und Zielen in politischen und sozialen Kategorien formulieren würden, aufgrund ihres Prinzips Hoffnung dennoch religiös seien, weil Hoffnung ein Prinzip der Transzendenz sei. Die Kirche konnte Ernst Bloch umgehen, indem sie 1. Korinther 12,13 zitiert, in dem Paulus über die drei ewigen Dinge spricht: Glaube, Hoffnung und Liebe, die alle drei Gaben des (Heiligen) Geistes sind. Das Neue Testament lässt keinen Zweifel an der Beziehung der Hoffnung zum Transzendenten. Religiöse Personen verbinden religiöse Ideologie mit einer Wahrnehmung / Erfahrung von Transzendenz nicht nur als Bewegung oder Prozess, sondern als Bezugnahme auf ein Ziel, das für sie eine objektive Realität ist. Hoffnung als permanente Überwindung, als Prozess, war in der Tat auch eine intensive Erfahrung, die Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ bewegte. Vertrauen/Hoffnung wird als Ermutigung verstanden, den Kampf um Tamiḻīḻam fortzusetzen, aber dieser Prozess war nicht ein endloser Prozess; er hatte ein klar formluliertes Ende, nämlich die Errichtung eines Staates, was kein transzendentes, sondern ein immanentes Ziel ist. Es erscheint daher unbegründet, auf der Basis des Vorhandenseins eines Prinzips Hoffnung die Tigerbewegung als Religion zu bezeichnen. Die Befreiungstheologen versuchten, die Kirche zu verändern, bekanntlicherweise ohne konkreten Erfolg.

42 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Teil I–V. (Frankfurt: Suhrkamp, 1954).

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Aus einer anderen Sicht aber, aus der Sicht der Volksbewegung, hatte das Prinzip Hoffnung andere Dimensionen. Es war auf Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ gerichtet, der von einigen als die Herabkunft eines Gottes betrachtet wurde. In diesem Fall war das Prinzip Hoffnung eine göttliche Offenbarung von verheißungsvoller Transzendenz. Es gab durchaus Spannungen zwischen der Tigerbewegung und der Volksbewegung, aber die Abhängigkeit der Tigerbewegung von der Volksbewegung brachte erstere zum Schweigen.

14.

Die Erfahrung von Kontingenz

Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ sagte in mehreren Interviews, dass er sich durchaus darüber bewusst war, dass die Verwirklichung von Tamiḻīḻam in seiner Generation zwar möglich sei, sich aber nicht unbedingt realisieren liesse. Dieses Ziel wurde in seiner Generation als unvorhersehbar, unsicher oder kontingent empfunden. Nur wenn es um die ferne Zukunft ginge, könnte man sicher sein, „eines Tages“ Tamiḻīḻam zu verwirklichen. Wir können dies so ausdrücken: nur in solch einer langfristigen Perspektive scheint Tamiḻīḻam nicht kontingent zu sein. Es gibt immer noch Einzelpersonen und Gruppen, die auch nach der Niederlage im Mai 2009 so denken. In einer Tradition von Immanuel Kant wird „kontingent“ auf Umstände, Objekte und Ereignisse projiziert. Einige Theologen sprechen von der Welt als kontingent und von ihrem Gott als nicht-kontingent. Nur durch diesen Gott bleibt die Welt bestehen, aber er kann jederzeit seine Aufrechterhaltung des Universums widerrufen, wie wir in Hiob 1:21 erfahren haben: Und er sprach: Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen, und nackt werde ich dahin zurückkehren. Der HERR hat gegeben, und der HERR hat weggenommen. Gelobt sei der Name des HERRN!

Als Kind habe ich ein Wiegenlied gelernt, das mich lehrte, dass Gott mich morgen früh wecken wird – wenn er will. Mein Leben war in Gottes Händen. Er konnte sich entscheiden, mich nicht aufzuwecken, aber mir wurde gesagt, dass er es tun wird – wenn ich vertraue. Martin Luther definierte den Glauben als Vertrauen in Gott. Offensichtlich reduziert Vertrauen eine komplexe Situation in eine weniger komplexe, was sich auch in der häufigen Verwendung dieses Begriffs durch die Tigerbewegung in der Beziehung des Kämpfers zu Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ widerspiegelt. Die Reduzierung der Komplexität wird deutlich, wenn wir uns eine Situation im Verkehr vorstellen, in der niemand dem anderen bei der Einhaltung der Verkehrsregeln vertraut. An jeder Straßenecke entstünde Chaos, weil die Alternativen zu agieren

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unüberschaubar sind. Ampeln machen die Lage überschaubar. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ war für viele eine Ampel. Er trug den offiziellen Titel Wegweiser (vaḻikāṭṭi). Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Welt natürlich nicht kontingent, aber es gibt eine beunruhigende Erfahrung der bloßen Möglichkeit und der Nichtnotwendigkeit der Welt, die man Kontingenzerfahrung nennen kann. Kontingenz gehört zur menschlichen Erfahrungswelt der Welt, nicht zur Objektwelt. Wir kehren zurück zu Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ. In Überlegung 31:1, sagte er: Es gilt als sicher, dass eines Tages Tamiḻīḻam entstehen wird. Es gilt als sicher, dass auch Ihr, unser Volk, die Rettung erleben werdet. Es ist sicher, dass unser Land als gleichberechtigte Gesellschaft gedeihen wird. Mit diesem Vertrauen (pikkayil) und der Entschlossenheit (uruti) des Geistes werden wir, ohne zu schwanken, heldenhaft (vīrunaṭai) auf unserem Weg zur Befreiung marschieren.43

Diese selbstbewusste Verschiebung des Erfolgs in die Zukunft war eine Art Auseinandersetzung mit einer Erfahrung von Kontingenz, die heute als Prinzip des Vertrauens in der tamilischen Widerstandsbewegung gelehrt wird, auch noch nach der Niederlage im Mai 2009. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ lehrte keinen historischen Determinismus, der zum Ziel führen musste, aber er hatte eine Zuversicht, als verfüge er über wissenschaftliche Beweise für den zukünftigen Sieg. Eine bekannte Aussage von ihm ist: „Die Geschichte ist mein Wegweiser“. Anschließend übernahm er selbst die Rolle der Geschichte als Wegweiser, zum Beispiel im Falle des Treueeids auf ihn, in dem er ausdrücklich als Wegweiser stilisiert wird. Dieses Vertrauen in die Geschichte und in sich selbst reduzierte das mögliche Ergebnis – Erfolg oder Misserfolg – auf nur einen Ausgang, den Erfolg. Die Komplexität wurde durch das Vertrauen in seine Person verringert, was in einigen Kreisen der Volksbewegung zu seiner Vergöttlichung führte. In einem Vaiṉavatempel im Norden erklärte mir ein Priester ein Wandgemälde von allen zehn Avatāren. Als wir zu Kalkin kamen, sagte er, Kalkin sei Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ, was diesen zum Vollender des Kali Yuga machte. Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ kritisierte solche Erhöhungen, die er innerhalb der Tigerbewegung nicht zuließ, aber seine Abhängigkeit von der Volksbewegung verurteilte ihn in dieser Hinsicht zum Schweigen. Er war sich seines eigenen Todes bewusst und entwickelte einen zweiten Weg, um die Erfahrung der Kontingenz zu reduzieren. Er musste zeigen, dass das Projekt für Tamiḻīḻam nicht etwas Prekäres, Instabiles, Unsicheres und Zufälliges sei. Wäre er Caiva gewesen, hätte er sagen können, dass Tamiḻīḻam ein Versprechen von Civaṉ ist. Wäre er Christ gewesen, hätte er sagen können, dass Tamiḻīḻam Teil der Schöpfung Gottes ist. Wäre er Muslim gewesen,

43 Schalk (ed.), Die Lehre, Nummer 31:1.

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hätte er sagen können, dass Tamiḻīḻam ein Kalifat ist, das auf Befehl Allahs errichtet werden soll. Da er jedoch nicht religiös war, musste er anders vorgehen. Er wählte einen Weg, den niemand von einer Person erwartet hatte, die beschuldigt wird, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen und Kriegsgesetze verletzt zu haben. Er appellierte an die Universalität der Menschenrechte, die angeblich die Unabhängigkeit eines unterdrückten Volkes garantierten. Die Universalität der Menschenrechte hat hier die Transzendenz als Reduktion der Erfahrung von Kontingenz abgelöst. Ich habe an anderer Stelle diesen komplizierten von Immanuel Kant imitierten intellektuellen Prozess, der über Menschenrechtsorganisationen auch die Tigerbewegung erreichte, geschildert.44 1988 unterzeichnete Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ die Charta der Menschenrechte. Die öffentlichen Hinrichtungen von „Verrätern“ wurden eingestellt. Die Altersgrenze für Rekruten wurde von 15 auf 18 Jahre angehoben. Die Tigerbewegung nahm wiederholt an Friedensverhandlungen teil, um guten Willen zu zeigen. Rekruten wurden über Krieg und Menschenrechte informiert. Es wurde eine Art Ombudsmann ernannt, der Beschwerden von Zivilisten annahm. Es besteht kein Zweifel, dass die globale Menschenrechtslobby einen großen Einfluss auf die Tigerbewegung in Paris hatte, aber diese Wende kam zu spät. Paris (und London) waren Zentralen für die Tigerbewegung in Europa.

15.

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Tigerbewegungskämpfer haben gelernt zu sagen, dass Religion kein Anliegen der Tigerbewegung ist. Tamiḻīḻam soll von den Kämpfern ohne die Hilfe eines Gottes und nur durch ihre eigene Kraft erreicht werden. Das Ritualsystem zur Erinnerung der toten Kämpfer ist ebenfalls ausserhalb des Hinduismus und anderer bekannter Religionen aufgebaut, aber ist mit diesen terminologisch verbunden. Die Großen Helden dachten weder daran, wie in vielen anderen kriegerischen Organisationen als Kämpfer in den Himmel zu kommen, noch wurde die Transzendenz wie in pantheistischen Systemen immanent gefasst. Tamiḻīḻam wurde auch nicht als himmlisches Paradies auf Erden aufgefasst. Darüber hinaus lehrte die Tigerbewegung kein pan-en-theistisches System, das Tamiḻīḻam in den Himmel verlegte. „Hoffnung“ rechnete nicht mit übernatürlichen Eingriffen. Tamiḻīḻam ist kein Eskaton. Tamiḻīḻam galt als ausschließlich von Menschenhand geschaffen. Nationalistische Emotica waren nicht mit einem Gott verbunden, sondern mit dem Mutterland. Pakti oder patti, Sanskrit bhakti, gehörte nicht zur Sprache Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs. Kommentatoren haben ihm diese Termini zugeschrieben in der

44 Schalk, „Semantische Devianz“.

„Religion gehört nicht zum Bewusstsein des Kampfes“

Überzeugung, sein Verhältnis zum Volk entspreche der eines Gottes zu seinen Gläubigen. Das mag teilweise stimmen, aber hier geht es darum, was die Tigerbewegung lehrte. Sie lehrte nicht patti. Verbale Äußerungen von Entschlossenheit wie der Treueeid enthielten niemals Verweise auf einen Gott wie etwa „… hilf mir, Gott“ oder „im Namen Gottes, ich schwöre …“. Tamiḻīḻam als letztes Ziel war auf die Zukunft ausgerichtet. Es herrschte die Vorstellung, dass in zwei, drei Generationen Tamiḻīḻam Realität werde, ähnlich wie in den 1890er Jahren von Theodor Herzl ein säkularistisches Israel vorausgesagt wurde. Im Jahr 2005 hatte die Tigerbewegung ein Maximum an territorialer Kontrolle erreicht und war nur einen Schritt von der einseitigen Ankündigung des Staates Tamiḻīḻam Staat entfernt. Dieser Schritt bestand darin, internationale Anerkennung zu erlangen, die jedoch nicht nur wegen der negativen Bilanz der Bewegung in Bezug auf die Menschenrechte, sondern auch aus geopolitischen Gründen abgelehnt wurde. Über die verhandlungsbereite Regierung wachte das Militär und die Großversammlung der buddhistischen Mönchen, die um jeden Preis den sinhalabuddhistischen Einheitsstaat bewahren wollten. Unter Berücksichtigung aller geschichtlichen Indizien stelle ich die Behauptung auf, dass es keine ununterbrochene 2000-jährige kriegerische, religiöse, tamilische Tradition gibt, von der die Tigerbewegung zehrt. Die Ähnlichkeit der Kriegsthemen zwischen der sogenannten Caṅkam-Zeit zu Beginn unserer Zeitrechnung und der heutigen Zeit ist damit zu erklären, dass in beiden Fällen ein gewaltsamer Versuch einer Staatsbildung unternommen wurde. Dies schaffte damals wie heute eine Umkehrung der moralischen Werte. Auf dieser Grundlage einer Staatsbildung erscheinen dann auch Verbalisierungen, die nicht traditionell, sondern traditionalistisch oder wiederbelebend sind. Die Vergangenheit wird selektiv wiederbelebt, um intensive Erfahrungen von Kontigenz des Tötens und Sterbens in der Gegenwart und einer ungewissen, projizierten Zukunft zu beseitigen.45 Die kriegerische Ideologie der Tigerbewegung ist zum Teil ein südindischer Subhasismus, der in einer einzigartigen Neuinterpretation von Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ auf den Boden Īḻams übertragen wurde. Subhasismus ist die kriegerische Lehre von Subhas Chandra Bose, der Indien von der britischen Kolonisiering befreien wollte und seine Kämpfer mit einer Opferlehre motivierte. Eine ähnliche Opferlehre kommt deutlich in in den Reden Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉs zum Ausdruck. Es gibt dann auch andere Einflüsse aus der dravidischen Bewegung wie den Moralismus des Periyanismus zusammen mit der Lehre von der Selbstachtung des

45 Peter Schalk, „Historisation of the Martial Ideology of the Liberation Tigers of Tamil Ealam (LTTE)“, in: South Asia 20 (1997), 35–72; Peter Schalk, „The Revival of Martyr Cults among Ilavar“, in: Temenos 33, 1997, 151–190.

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Einzelnen, was dann nationalistisch erweitert wurde zu einem Tamil-tum und zu nichtreligiösen Ritualen, mit denen Grenzsituationen überwunden werden. Die Wurzeln der Tigerbewegung-Ideologie sind nicht älter als drei Generationen. Gegenwärtige Versuche, der Tigerbewegung eine traditionelle Kampfmentalität zuzuschreiben, sind inakzeptabel. Es gibt keine nationale Psyche, aber es gibt eine Konstruktion einer nationalen Mentalität durch Ideologen mit Sonderinteressen, die der Tigerbewegung eine solche psychische Grundverfassung zuschreiben. Die Tigerbewegung hatte die Wahl, Religion in Form eines politischen Caivam oder eines politischen Christentums zu instrumentalisieren, aber sie entschied sich gegen diese Alternative, obwohl sie bisweilen in greifbarer Nähe war. In der vorkolonialen Zeit unternahmen Caivas den Versuch, die Insel als das Land von Civaṉ (civappūmi), einzustufen, was jedoch fehlschlug. Die Tigerbewegung hätte sich darauf berufen und eine Parallele zum buddhistisch-singhalesischen dhammadīpā schaffen können, die sich in der verzerrenden Interpretation des Anagārika Dharmapāla eines kanonischen Textes als die Insel des Dhamma des Buddha bezog.46 Der Tigerbewegung war die Insel als Land des Civaṉ entfremdet. Es wäre absurd gewesen, mit der Lehre vom Land des Civaṉ daherzukommen. Der Begriff des Martyriums der Tigerbewegung beschäftigt sich weder mit den genannten Religionen noch allgemein mit der Bipolarisierung im weltlichaußerweltlichen Bereich und unterscheidet sich daher erheblich von dem Begriff des Martyriums, den wir aus dem muslimischen und dem christlichen Bereich kennen – mit Ausnahme zum Beispiel der PKK, die in einem muslimischen Kontext und Gebiet arbeitet. Die Śahīds der PKK sind zwar dem Islam ebenso entfremdet wie der Märtyrer der Tigerbewegung dem Christentum, aber sie sind deshalb immer noch nicht mit diesen identisch. Das Ausklammern der Religion innerhalb der Tigerbewegung ist nicht das Ergebnis einer antireligiösen Entscheidung wie im Falle der marxistischen PKK. Der Tigerbewegung wird vorgeworfen, sie sei antireligiös, weil sie angeblich leninistisch sei. Die Bekanntschaft der Tigerbewegungen mit dem Leninismus stammt aus den späten 1970er Jahren, äussert sich aber nur in der Rezeption einer Auswahl leninistischer Ideen, vorzüglich Lenins Lehren über die Selbstbestimmung unterdrückter Nationen. Die nichtreligiöse Ideologie der Tigerbewegung implizierte nicht, dass Vertreter religiöser Ideologien in der Volksbewegung abgelehnt wurden, wenn sie die Tigerbewegung unterstützten: sie waren durchaus willkommen. Das Problem für die Tigerbewegung bestand darin, über die bekannten religiösen Rituale der Märtyrer hinaus nichtreligiöse Gedenkstätten zu erschaffen und

46 Peter Schalk, „Semantic Transformations of the Concept of Dhammadīpa“, in: Buddhism, Conflict and Violence in Modern Sri Lanka, hg. von Mahinda Deegalle (London: Routledge 2006), 86–92.

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den Begriff des Märtyrertums zu so zu definieren, dass die Bewegung nicht als neue Religion aufgefasst wurde – all dies jenseits der Bipolarisation von Weltlichem und Nichtweltlichem. Dies geschah nun nicht durch die Schaffung einer tabula rasa, sondern durch die Interpretation überlieferter religiöser Begriffe in politischer, psychologischer und soziologischer Hinsicht. Die Märtyrer waren keine Objekte der Fürbitte in einem bipolarisierten Kosmos. Stattdessen wurden sie zu imaginären Vorbildern, zu Idealen für eine mimetische Wiederholung ihrer Tugend des kämpferischen Heroismus. Dieser Prozess der Ausblendung von Religion wurde von Kommentatoren unterbewertet. Normalerweise finden wir einige vage Aussagen darüber, dass die Tigerbewegung eine säkulare Bewegung sei, aber dann folgt wieder die Aussage, dass es doch einen religiösen Unterstrom gäbe, der sich in der Bewegung niederschlägt – nur warte ich immer noch auf eine entsprechende Beschreibung , die durch Quellenangaben gestützt wird. Diese Andeutungen, dass die Tigerideologie eine verkappte Theologie sei, werden dann angeblich bestärkt mit Verweis auf die bekannte Aussage von Carl Schmitt, dass politische Konzepte säkularisierte theologische Konzept seien.47 Ich zweifle durchaus nicht an der Weisheit dieser Aussage – man sollte sie ernst nehmen. Aber wenn Konzepte säkularisiert sind, dann sind sie nicht religiös. Carls Schmitts These wird bisweilen so formuliert, dass politische Konzepte „übertragene“ theologische Konzepte seien, was mit dem Sprachgebrauch von Carl Schmitt übereinstimmt, obwohl er sich auf die Veränderung fokussiert, die bei der Übertragung entsteht. Es ist sicher möglich, dass eine politische Agenda nach einem umfassenden Wandel von einer Religion „abgeleitet“ werden kann. Der Ausdruck „abgeleitet“ steht allerdings nicht bei Carl Schmitt. Bei „abgeleitet“ gibt es verschiedene Grade, und es bleibt offen, ob Intellektuelle nicht doch verkappte Theologen sind. Man soll sich aber nicht auf Carl Schmitt berufen, denn dieser sagt nicht „abgeleitet“, sondern „säkularisiert“. Außerdem betont er, dass religiöse Konzepte „analog“ zu säkularisierten seien. Im engeren Sinne ist Analogie eine Folgerung oder ein Argument von einem Bestimmten zu einem anderen Bestimmten, im Gegensatz zu Deduktion, Induktion und Abduktion. Carl Schmitt hatte leider die irreführende Benennung „politische Theologie“ für die säkularisierten Konzepte verwendet, wahrscheinlich wegen ihres Ursprungs, aber insgesamt handelt es sich bei den genannten Erscheinungsformen in der Regel nicht um Theologie im eigentlichen Sinne, sondern um die Benutzung theologischer

47 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (Berlin: Duncker & Humblot, 1990 (1922)), 45f.

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Gehalte zur Begründung und Legitimierung politischen Verhaltens. Das ist genau das, was Vēluppiḷḷai Pirapākaraṉ in seiner politischen Rhetorik zu tun versuchte. Das Bild von den Kämpfern als verkappte Theologen beruht darauf, dass Kommentatoren nicht unterscheiden zwischen Ausblenden der Religion und Beibehalten adiaphoristischer Privatreligiosität innerhalb der Tigerbewegung, und auch nicht zwischen einer nicht-religiösen Tigerbewegung und einer religiösen Volksbewegung. Einige Kommentatoren sind tief in der Vorstellung verwurzelt, dass ein Ursprung immer das Ende bestimmt, und bestehen darauf, dass die Tigerbewegung deshalb eine religiöse Bewegung sei. Sie wollen um jeden Preis die Tigerbewegung als religiös sehen, um sie dem Jihadismus annähern zu können. Der Kult der Tigerbewegung verehrte den Märtyrer als Vorbild für die Zukunft. Die Verehrung sollte von einer Art der Anbetung unterschieden werden, die eine physische Wechselbeziehung zwischen den Toten und den Lebenden beinhaltet. Die Beziehung im Tigerbewegungsritual ist virtuell, aber enthält trotzdem eine Verpflichtung, den Kampf weiterzuführen. Ein idealer Tiger trauert nicht lange, und er soll auch äußerlich keine Trauer zeigen über einen gefallenen Kameraden; er soll in mimetischer Nachfolge die Faust ballen. Er soll von der Trauer zur Wut übergehen. Nach der Niederlage im Mai 2009 wurden die Märtyrer nicht mehr zur mimetischen Wiederholung in ihrer Rolle als Krieger vorgestellt, sondern nur als Objekte der Dankbarkeit dafür, dass sie ihr Leben gegeben haben, damit andere leben können; die mimetische Wiederholung bezog sich nicht auf ihre Tötungen, sondern auf ihre Entschlossenheit, Selbstbestimmung für die tamilischen Sprecher im Nordosten der Insel zu erreichen. Durch diese reformierte Deutung näherten sich die Überlebenden beider Bewegungen, der Tigerbewegung und der Volksbewegung, einander an und ermöglichten eine gemeinsame Belebung des jährlichen Totenkultes von Märtyrern in den Ruinen der über zwanzig Heimen der Ruhe am 27. November. Bei der Bekämpfung von Klassen, Kasten und Geschlechterdiskriminierung wurde die Tigerbewegung von der internationalen politischen Gemeinschaft und der globalen Menschenrechtslobby unterstützt. Die vollständige Beseitigung der Religion in der Volksbewegung stand nie auf der Tagesordnung der Tigerbewegung; im Gegenteil: die Religionsfreiheit für die Volksbewegung war dort von zentraler Bedeutung.

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„Säkulare“ Wissenschaften und „religiöse“ Interessen Der mongolische Gelehrte Gombojab (ca. 1692 – ca. 1750) und sein wissenschaftliches Werk

Einleitung Im Jahr 1734 veröffentlichte der leitende Beamte der in Peking beheimateten „Tangutischen1 Schule“, Gung Gombojab, ein schmales Bändchen mit dem Titel „Liste verschiedener Heilmittel“ (Mo. Eldeb em-ün garčag). Es enthielt eine Liste von insgesamt 352 Namen von in Pekings Apotheken und auf seinen Märkten erhältlichen Heilmitteln, in tibetischer und chinesischer Sprache. Für das Chinesische war zudem die mongolische Aussprache beigefügt. Das kleine Werk sollte den vielen Mongolen, die die Hauptstadt des Qing-Reichs besuchten, eine Hilfestellung im Erwerb von Arzneien sein und betrügerische Machenschaften chinesischer Händler, wenn nicht unterbinden, so doch erschweren, wie Gombojab im Kolophon des Werks vermerkt. Die Publikation des mehrsprachigen Handbuchs der materia medica ist aus mehreren Gründen interessant. Zum einen liefert es ein Beispiel für die Systematisierung des medizinisch-pharmakologischen Wissens im Qing-Reich. Heilmittel, insbesondere Heilpflanzen, wurden erfasst, beschrieben und katalogisiert, wie auch andere in chinesischer, mongolischer und tibetischer Sprache veröffentlichten materia medica-Handbücher aus dieser Zeitperiode belegen. Zum anderen rückt es einen institutionellen gesellschaftlichen Bereich in Peking im 18. Jahrhundert in den Blickpunkt, der auf nicht-religiöse gesellschaftliche Handlungssphären verweist: die Apotheke. In der Geschichte chinesischer Institutionen sind für die Qing Zeit das Kaiserliche Medizinamt (Ma. Oktosi be kadalara yamun, Ch. Taiyiyuan) und die Kaiserliche Apotheke (Ma. Dergi oktoi boo, Ch. Yugaofang) wohlbekannt.2 Die Pharmakologie und, mit ihr eng verbunden, die Medizin konstituierten im Qing-zeitlichen China ein soziales Handlungsfeld, das im Kolophon des kleinen Werks von Gombojab für einen Moment in seinen sozialen Praktiken historisch fassbar wird. Die „Liste verschiedener Heilmittel“ führt uns damit mitten hinein in die Frage nach epistemischen Unterscheidungen und sozialen Praktiken des Säkularen in einer globalen Perspektive, jenseits der in Europa geschriebenen

1 „Tangutisch“ ist in der Qing-Zeit ein Synonym für „tibetisch“. 2 Sare Aricanli, „Plurality in Qing Imperial Medicine: Examining Institutional Formations Beyond the Imperial Medical Bureau,“ Asia Pacific Perspectives (Fall/Winter 2013–14): 61–83.

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Meistererzählung von Säkularität als „Differenzierung der Religion von anderen Sphären, […] Privatisierung der Religion“ und „Entzauberung der Welt.“3 Säkularisierung und Säkularismus4 waren lange Zeit die Schlüsselkategorien, mit denen die wirtschaftliche und politische Hegemonie des „Westens“ und die Herausbildung der „westlichen“ Moderne erklärt wurden. Sie konnten nur im Westen entstehen, denn sie sind begründet, wie Charles Taylor es formuliert, in der „great invention of the West“, die in der Annahme einer immanenten Ordnung der Natur liegt, deren Wirken aus ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit heraus verstanden und erklärt werden kann.5 Die neuere Forschung hat diese Sichtweise als überholt ausgewiesen; nichtsdestotrotz hält sie sich aber noch hartnäckig. Im postkolonialen Diskurs wird hingegen häufig betont: „Nowhere else does religion exist as a distinct domain, autonomous and separated from others, as an original structure offering a unique set of stable elements and relations.“6 Neben dem Problem einer holistischen Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen lässt diese Argumentation zuweilen keinen Raum für die Anerkennung der Existenz einheimischer Wissensordnungen in den entsprechenden Kulturen, die sich nicht allein als Reaktion zu europäischen kolonialen Taxonomien herausgebildet haben, sondern von diesen unabhängige Entwicklungen darstellen.7 Über die Herausbildung taxonomischer Ordnungen in asiatischen kulturellen Räumen, die in strukturelle und funktionale Äquiva-

3 Manuel Borutta, „Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne,“ Geschichte und Gesellschaft 36 (2010): 347–376, 347. Zu den drei großen Paradigmen der Säkularisierungstheorie siehe José Casanova, Public Religions in the Modern World (Chicago: University of Chicago Press, 1994). 4 Ich folge hier dem Multiple Secularities-Ansatz und verstehe unter Säkularisierung einen Prozess, in dem Unterscheidungen institutionalisiert werden und der Einfluss der Religion auf andere gesellschaftliche Teilbereiche abnimmt respektive vermindert wird. Zudem impliziert der Begriff die Abnahme religiöser Zugehörigkeit und Teilnahme sowie den Rückzug der Religion in die Privatsphäre. Säkularismus hingegen bezeichnet institutionelle Vorkehrungen zur Trennung von Politik und Religion sowie deren ideologische Legitimierung, vgl. Christoph Kleine und Monika Wohlrab-Sahr, Research Programme of the HCAS „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities,“ Working Paper Series of the HCAS „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“ 1 (2016), 7–8. 5 Charles Taylor, A Secular Age (Cambridge, Massachusetts und London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2007), 15. 6 Daniel Dubuisson, The Western Construction of Religion: Myths, Knowledge, and Ideology (Baltimore: The John Hopkins University Press, 2003), 189. 7 Der so entstehende „blinke Fleck“ ist sicherlich nicht intendiert. Damit soll kein Pauschalurteil über Forschende, die sich dem Postkolonialismus verschrieben haben, gefällt werden. Sehr viele Forschende wissen um das Vorhandensein einheimischer intellektueller Traditionen, so z. B. Dipesh Chakrabarty, der sein Bedauern über die Unkenntnis einheimischer Wissenstraditionen äußert in Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference (Princeton: Princeton University Press, 2008), 5, und Fußnote 13, 258–259.

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lenz zum europäischen Religionsbegriff gesetzt werden können, wurde auf der sechsten AKAR-Tagung im Jahr 2010 ausführlich und durchaus auch kontrovers diskutiert.8 Es zeichnete sich unter den Teilnehmenden allerdings ein gewisser Konsens dahingehend ab, dass wir in Asien unterschiedliche Ausdifferenzierungen eines autonomen Bereichs „Religion“ antreffen. Die meisten Beiträge, auch mein eigener,9 enthielten Genealogien einheimischer Terminologien und ganze Begriffsgeschichten. Schon auf der sechsten AKAR-Tagung wurden zudem Überlegungen formuliert, die das Thema der achten AKAR-Tagung antizipierten, so z. B. von Christoph Kleine, der in seinem Beitrag die Unterscheidung zwischen säkular und religiös im vormodernen Japan ausführlich diskutierte.10 Dabei wird deutlich, dass die Differenzierung einer religiösen Sphäre notwendig die Differenzierung einer nicht-religiösen Sphäre nach sich zieht. Der Herausbildung von Säkularität als epistemischer Unterscheidung geht also die Herausbildung eines autonomen Bereichs „Religion“ voraus. Dies impliziert auch, dass sich „Säkularität“ als taxonomische Ordnung relational zu „Religion“ verhält, d. h. beide Termini haben keine stabilen Bedeutungen unabhängig voneinander.11 „Säkularität“ und „säkular“ sind moderne Begrifflichkeiten, die die Selbstwahrnehmung unserer „westlichen“ Gesellschaften in starkem Masse bestimmen. Beide Begriffe sind normativ aufgeladen, und sie sind Teil einer hegemonialen Diskursstrategie, die auch politische Wirkmächtigkeit entfaltet. Die Kollegforschungsgruppe Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities der Universität Leipzig, die gemeinsam mit dem Arbeitskreis Asiatische Religionsgeschichte die achte AKAR-Tagung ausgerichtet hat, geht der Frage nach dem Säkularen in asiatischen Gesellschaften der Vergangenheit und Gegenwart seit einigen Jahren in Detailstudien nach. Ihrem Forschungsdesign liegt eine Arbeitsdefinition von Säkularität12 zugrunde, der auch ich in meinem Beitrag teilweise folge. Säkularität wird hier als „the cultural and symbolic distinctions, as well as institutionally anchored forms

8 Peter Schalk, Max Deeg, Oliver Freiberger, Christoph Kleine, Astrid Nahl, Hrsg., Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Acta Universitatis Upsaliensis, Historia Religionum 32 (Uppsala: Uppsala Universitet, 2013). 9 Karénina Kollmar-Paulenz, „Lamas und Schamanen: Mongolische Wissensordnungen vom frühen 17. bis zum 21. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Debatte um aussereuropäische Religionsbegriffe“, in Religion in Asien?, 151–200. 10 Christoph Kleine, „Religion als begriffliches Konzept und soziales System im vormodernen Japan – polythetische Klassen, semantische und funktionale Äquivalente und strukturelle Analogien,“ in Religion in Asien?, 225–292. 11 S. Talal Asad, Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity (Stanford: Stanford University Press, 2003), 26. 12 Unterschieden von Säkularisierung und Säkularismus, s. Anm. 4.

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and arrangements of differentiation between religion and other spheres“13 definiert. In dieser Definition wird „Säkularität“, verstanden als Modalität der Unterscheidung zwischen Religion und anderen gesellschaftlichen Bereichen,14 als analytische Kategorie bestimmt und angewendet. Zugleich bleibt sie jedoch eine historische Kategorie, da sie zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum als Teil der modernen Weltordnung entstanden ist.15 Wenn ich also im Folgenden die Begriffe „säkular“ und „Säkularität“ als analytische Kategorien im oben definierten Sinne anwende, muss ich sie zugleich auch als historische Kategorien betrachten. Wie kann ich nun diese historisch gebundenen und normativ aufgeladenen Kategorien als Werkzeug der Analyse einsetzen in der Untersuchung außereuropäischer, genauer tibetischer und mongolischer, epistemischer Unterscheidungen und gesellschaftlicher Differenzierungen? In einem ersten Schritt erscheint es sinnvoll, zu fragen, ob in den historischen Gesellschaften Tibets und der Mongolei konzeptionell zwischen Religion und Nicht-Religion unterschieden wurde. In einem zweiten Schritt wäre dann zu untersuchen, ob in dieser Unterscheidung der Bereich der Nicht-Religion nicht nur als Absenz von Religion betrachtet, sondern positiv definiert und gefüllt wurde. Welche kulturellen und sozialen Bereiche wurden konzeptionell von Religion unterschieden, welche sozialen und kommunikativen Praktiken gesellschaftlich ausdifferenziert? Können die festgestellten konzeptionellen Unterscheidungen in funktionale oder strukturelle Analogie zur bekannten Unterscheidung von Religion und Säkularität gesetzt werden? Am Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung steht die Begriffsgeschichte, die im Sinne von Reinhart Koselleck „die Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen eines Begriffs“16 erforscht. Sie muss allerdings globalisiert werden, indem die einheimischen Begrifflichkeiten in Beziehung zu den westlichen Begrifflichkeiten gesetzt werden.17 Zugleich muss die diachrone Dimension dieser Beziehung berücksichtigt werden. Um vormoderne tibetische oder mongolische Begrifflichkeiten zu identifizieren, denen eine funktionale oder strukturelle Äquivalenz zur Unterscheidung zwischen Religion und Nicht-Religion zukommt, müssen diese in Beziehung zu modernen tibetischen oder mongolischen Begrifflichkeiten 13 Monika Wohlrab-Sahr und Marian Burchardt, „Revisiting the Secular. Multiple Secularities and pathways to Modernity,“ Working Paper Series of the HCAS „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“ 2 (2017), 12. 14 Kleine und Wohlrab-Sahr, „Research Programme,“ 8. 15 Siehe hierzu ausführlich Florian Zemmin, „How (Not) to Take ‚Secularity‘ Beyond the Modern West. Reflections from Islamic Sociology,“ Working Paper Series of the HCAS „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“ 9 (2019). 16 Reinhard Koselleck, „Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte“, in ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000), 125. 17 Siehe hierzu Margrit Pernau, „Provincializing Concepts: The Language of Transnational History,“ Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 36/3 (2016): 483–499.

„Säkulare“ Wissenschaften und „religiöse“ Interessen

gesetzt werden.18 Ich muss also fragen, welche Begriffe heute in tibetischen oder mongolischen Diskursen, die sich des europäischen Konzepts der Säkularität bedienen, verwendet werden. Die modernen Begrifflichkeiten gilt es dann, genealogisch zurückzuverfolgen. Im vorliegenden Beitrag knüpfe ich an meine 2013 vorgelegten Ausführungen zur Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs „Religion“ in den mongolischen historischen Gesellschaften an und wende mich nun dem nicht-religiösen Bereich zu. Dem übergeordneten Thema der achten AKAR-Tagung gemäß, die historischen Konditionen und Prozesse zu untersuchen, unter denen unterschiedliche Konstellationen von epistemischen Unterscheidungen und gesellschaftlichen Differenzierungen entstanden sind, die die verschiedenen Formationen des Säkularen in der globalen Moderne geprägt haben, werde ich die Unterscheidungen des Religiösen vom Nichtreligiösen am Beispiel eines mongolischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, der in die transregionalen Netzwerke tibetischer und mongolischer Gelehrter im Qing-Reich eingebunden war, untersuchen. Auch wenn in Wissensordnungen klare, binär strukturierte konzeptionelle Unterscheidungen vorliegen,19 heißt dies nicht, dass diese sich auch in den gesellschaftlichen Strukturen wiederfinden. Gerade auf der Ebene der sozialen Praktiken sind die Grenzen häufig porös, obwohl die einzelnen Bereiche auf der diskursiven Ebene scharf abgegrenzt sind. Das eingangs genannte Beispiel aufgreifend treffen wir sowohl im imperialen Rahmen des Qing-Reichs als auch in den regionalen tibetischen und mongolischen Kontexten auf einen vom religiösen Bereich unabhängigen medizinischen und pharmakologischen Sektor.20 Während dieser Bereich im Qing-zeitlichen China aufgrund der starken Zentralisierung und Bürokratisierung von anderen institutionalisierten gesellschaftlichen Bereichen klar getrennt war, stellte sich dies in den regionalen innerasiatischen Kontexten anders dar. In Tibet und den mongolischen Regionen war der medizinisch-pharmakologische Sektor entweder in die großen Klöster integriert oder ihnen zumindest affiliiert, wie z. B. in der wichtigsten und prestigereichsten medizinischen Ausbildungsstätte Tibets, dem 1696 gegründeten lCags po ri auf dem an den Potala-Hügel in Lhasa angrenzenden so genannten „Eisenhügel“. Dieses Medizinkolleg nahm neben einer festen Anzahl von Mönchen aus den dGe lugs pa-Klöstern Mönche anderer

18 In meinem Beitrag beschränke ich mich auf die tibetischen Begrifflichkeiten, da mein Quellenmaterial fast ausschließlich aus tibetischsprachigen Werken (zumeist mongolischer Autoren) besteht. 19 Selbst auf der Ebene der epistemischen Unterscheidungen gibt es kontextuell unterschiedliche Grenzziehungen. So war die Medizin eine eigene Kategorie zur Organisation von Wissen in Textsammlungen und Kompendien im 18. Jahrhundert in China. Allerdings fehlte diese Klassifikation ausgerechnet in institutionellen Abhandlungen, trotz der Institutionalisierung der Medizin im „Imperialen Amt für Medizin“, vgl. Sare Aricanli, „Plurality in Qing Imperial Medicine.“ 20 Ebd.

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Lehrtraditionen und auch Laien auf.21 Allerdings wissen wir nur sehr wenig über die konkrete Ausgestaltung des medizinischen Alltags und andere soziologisch relevante Details wie z. B. den Prozentsatz der ausgebildeten Laienmediziner gegenüber den so genannten „Lama-Ärzten“.22 Hier stellt sich ganz allgemein die Frage, ob säkulare gesellschaftliche Bereiche tatsächlich überall in Abgrenzung zum Religiösen differenziert und diskutiert werden, oder ob nicht auch andere, alternative Grenzziehungen zum Tragen kommen, sowohl auf der Ebene der konzeptionellen Unterscheidungen als auch der der sozialen Praktiken. In der tibetischen und mongolischen medizinischen Literatur der Zeit zeigt sich eine bestimmte Haltung beziehungsweise Einstellung zur Welt, in der die Welt durch die Welt erklärt wird, oder anders ausgedrückt, in der die Welt nicht im Rückgriff auf Transzendenz, sondern auf immanente Faktoren verstanden und erklärt wird. Ein ausgeprägter Empirismus,23 der sich auf Beobachtung gründet, kommt in vielen medizinischen Texten zum Tragen, unabhängig von der sozialen Situierung oder religiösen Stellung des jeweiligen Autors. So führt der Monguor-Gelehrte24 Sum pa mkhan po Ye shes dpal ‘byor (1704–1788), ein hoher buddhistischer Würdenträger, basierend auf Beobachtung die Übertragung der in mongolischen Regionen noch heute endemischen Beulenpest auf Murmeltiere zurück. Er bezeichnet die Krankheit entsprechend als tarbaɣan-u qoor („Murmeltier-Gift“). In der Tat wird die Beulenpest in der Mongolei vor allem durch Flöhe, die im Fell der Murmeltiere hausen, übertragen.25

21 Fernand Meyer, „Theorie und Praxis der tibetischen Medizin,“ in Orientalische Medizin: ein illustrierter Führer durch die asiatischen Traditionen des Heilens, hg. von Jan Van Alphen und Anthony Aris (Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 1997), 109–141, 117. Zum lCags po ri s. auch Theresia Hofer und Knud Larsen, „Pillars of Tibetan Medicine: The Chagpori and the Mentsikhang Institutes in Lhasa,“ in Bodies in Balance: The Art of Tibetan Medicine, hg. von Theresia Hofer (New York: Rubin Museum of Art, 2014), 257–267, sowie Janet Gyatso, „Experience, Empiricism, and the Fortunes of Authority: Tibetan Medicine and Buddhism on the Eve of Modernity,“ in Forms of Knowledge in Early Modern Asia. Explorations in the Intellectual History of India and Tibet, 1500–1800, hg. von Sheldon Pollock (Durham und London: Durham University Press, 2011), 311–335, 314. 22 Gyatso, „Experience,“ 315. Gyatso weist darauf hin, dass in den visuellen Darstellungen tibetischer medizinischer Tätigkeiten die Mehrzahl der abgebildeten Ärzte Laien sind. 23 Janet Gyatso, „The Authority of Empiricism and the Empiricism of Authority: Medicine and Buddhism in Tibet on the Eve of Modernity,“ Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24/2 (2004): 83–96. 24 Die Monguor sind eine Ethnie in Nordwestchina. Sie sprechen eine mongolische Sprache, die durch ihre besondere geographische Nähe zu Tibet und China viele phonetische Elemente und Lehnwörter aus dem Tibetischen und Chinesischen übernommen hat. 25 Sum pa mkhan po Ye shes dpal ‘byor, Sum pa’i sman yig phyogs bsgrigs (Lhasa: Bod ljongs bod yig dpe rnying dpe skrun khang, 2007), 357, s. auch Batsaikhan Norov, „Mongolian Buddhist Scholars’ Works on Infectious Diseases (Late 17th Century to the Beginning of the 20th Century),“ Religions 10 (2019); doi:10.3390/rel10040229 (abgerufen 29.12.2019).

„Säkulare“ Wissenschaften und „religiöse“ Interessen

Ich möchte im Folgenden anhand des Werks des mongolischen Gelehrten Gombojab aus dem 18. Jahrhundert einen Einblick in einige weltliche, säkulare Wissenschaftsbereiche geben, die unter dem Qing-Kaiser Qianlong (reg. 1736–1795), dem vielleicht kosmopolitischsten aller Qing-Herrscher, populär waren und anhand dieses Fallbeispiels die spezifischen Konfigurationen des Verhältnisses von Religion und Säkularität in den tibetischen und mongolischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts diskutieren. Gombojab war in transregionale, „kosmopolitische“ Netzwerke tibetischer und mongolischer Gelehrter, Laien wie Mönche, eingebunden, die im Qing-Reich sowohl über transweltliche als auch weltliche Themen diskutierten und verhandelten und deren Ideen auch durch den wissenschaftlichen Austausch mit europäischen Klerikern und Diplomaten, die sie in Peking trafen, angeregt und herausgefordert wurden. Mein besonderes Interesse liegt darin, das „Säkulare“ als autonomen Bereich in den tibetischen und mongolischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts zu bestimmen. Dabei muss das Augenmerk auch den Grenzziehungen zwischen den religiösen und nicht-religiösen Bereichen gelten und der Frage, wie diese Grenzen konstruiert und gezogen wurden, ob, wann und warum sie in Frage gestellt, verhandelt und revidiert wurden. Diese Fragen müssen in ihren jeweiligen sozialen und politischen Kontexten, an der Schnittstelle zwischen lokalem und trans-lokalem Bereich, behandelt werden: Das Qing-Imperium und seine äußeren Gebiete wie Tibet und die Mongolei bildeten einen riesigen, miteinander verbundenen, ethnisch und sprachlich heterogenen Raum mit intellektuellen Netzwerken, die jenseits regionaler, religiöser und ethnischer Zugehörigkeiten operierten. Gleichzeitig jedoch waren die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Unterschiede in den verschiedenen Regionen beträchtlich und bestimmten die lokale Rezeption der Elitendiskurse aus der Hauptstadt.

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Gombojab, ein mongolischer Gelehrter im Qing-Reich

Über Gombojab selbst wissen wir wenig, selbst seine Lebensdaten sind unklar.26 Er war ein mongolischer Adliger aus dem westlichen Üjümüčin Banner in der Inneren Mongolei. Geboren wahrscheinlich um 1692 herum, war er ein Enkel des Jasaɣ-un

26 Zu ihm s. Vladimir Uspensky, „Gombojab – A Tibetan Buddhist in the Capital of the Qing Empire,“ in Biographies of Eminent Mongol Buddhists, hg. von Johan Elverskog, PIATS 2006: Tibetan Studies: Proceedings of the Eleventh Seminar of the International Association for Tibetan Studies, Königswinter 2006 (Halle: International Institute for Tibetan and Buddhist Studies, 2008), 59–69. J.W. de Jong, „Review O Zolotoj knige S. Damdina by Š. Bira“ T’oung Pao Second Series 54, 1/3 (1968): 173–189, gibt auf den Seiten 178–183 eine ausführliche Bibliographie der Werke Gombojabs. Eine kurze Lebensbeschreibung findet sich auch in Guilaine Mala, „A Mahayanist Rewriting of the History of China by mGon-po-skyabs in the rGya nag chos ‘byung,“ in Power, Politics, and

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sečen čin vang čaɣan babai vom rechten Banner27 der Üjümüčin.28 Sein Vater Udari war der jüngere Bruder des Üjümüčin-Regenten Sudani.29 Die Üjümüčin waren 1690 aus der Gunst des Kangxi-Kaisers (reg. 1662–1722) gefallen, weil ihnen vorgeworfen wurde, sich am Aufstand des Dzungarenfürsten Galdan beteiligt zu haben. Sie wurden mit zahlreichen Strafen überzogen, und Titel wurden ihnen entzogen. Zu diesem Zeitpunkt war Udari schon verstorben. 1692 machten Udaris Frau und Gombojab, sein Sohn, eine Eingabe, dass sie nicht an dem Galdan-Aufstand beteiligt gewesen seien. Daraufhin erhielten Udari postum und in seiner Nachfolge Gombojab den Titel eines fuguo gong, „Herzog zweiten Grades“. Gombojab heiratete 1709 eine mandschurische Prinzessin, eine Urururenkelin von Nurhaci (reg. 1582–1616), dem Begründer der Aisin Gioro-Dynastie der Mandschus, und hatte daher den hohen sozialen Status eines kaiserlichen Schwiegersohns inne.30 Er nahm 1703, 1705, 1706, 1707, und 1709 an kaiserlichen Audienzen teil. Im Jahr 1715 bot er in einer Eingabe an den Thron an, Militärdienst als Strafe für ein nicht näher bezeichnetes Vergehen zu leisten. Er wird mit den Worten zitiert: „[…] habe Schuld auf mich geladen, möchte mich in militärischen Dienst begeben, bringe 15 Pferde mit ein“.31 Was er getan hat, wird nicht erwähnt. Das Lifanyuan, „Amt für

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the Reinvention of Tradition.Tibet in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, hg. von Bryan J. Cuevas und Kurtis R. Schaeffer, PIATS 2003: Tibetan Studies: Proceedings of the Tenth Seminar of the International Association for Tibetan Studies, Oxford, 2003 (Leiden/Boston: Brill, 2006), 145, Anm. 1. Fan Zhang, „Reorienting the Sacred and Accomodating the Secular: The History of Buddhism in China (rGya nag chos ‘byung),“ Revue d´Études tibétaines, 37, 2016: 570–571 (569–591) enthält ebenfalls eine Lebensskizze von Gombojab. Das Banner war während der Qing-Zeit (1644–1911) die grundlegende verwaltungspolitische Einheit der Mongolen. Die Einteilung in links/östlich und rechts/westlich geht auf eine alte mongolische militärische Tradition zurück, die Truppen der Armee zu strukturieren. So nach der von dem mongolischen Adligen Rasipungsuɣ 1774/75 verfassten mongolischen Chronik Bolor Erike, Siehe Bolor Erike. Mongolian Chronicle by Rasipungsuɣ with A Critical Introduction by The Reverend Antoine Mostaert, C.I.C.M., Arlington, Virginia, and An Editor’s Forword by Francis Woodman Cleaves, Professor of Far Eastern Languages Harvard University, hg. von Antoine Mostaert und Francis Woodman Cleaves (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1959), V, 677. Dort wird er Töbed surɣaɣuli-yin terigün amban büged. Terigün jerge tayiji Gömbojab genannt. Die anonyme mongolische Biographie des Tümed-Herrschers Altan Qaɣan Erdeni tunumal neretü sudur, Fol. 54r, erwähnt den Sečen čin vang Sudani. Er wurde im Jahr 1658 Jasaɣ qošoi čin vang und starb im Jahr 1690 (Jorungɣ-a, Hrsg., Erdeni tunumal neretü sudur orosiba (Beijing: Ündüsüten-ü keblel-ün qoriy-a, 1984), 185, Anm. 4). Wuyunbilige, „Guanyu Qingdai zhuming Menggu wenren Wuzhumuqin gong Gunbuzhabu de jidian xin shiliao [Einige neue historische Materialien zum berühmten mongolischen Literaten, dem gong („Herzog“) der Üjümüčin Gombojab],“ Qingshi yanjiu [The Qing History Journal] 1 (2009): 119–123, 122. Als Quelle gibt Wuyunbilige „genealogische Aufzeichnungen“ an. Mein herzlicher Dank geht an Dorothea Heuschert-Laage für die Übersetzung aus dem Chinesischen. Wuyunbilige, „Guanyu Qingdai,“ 122.

„Säkulare“ Wissenschaften und „religiöse“ Interessen

die Verwaltung der Außenbezirke“,32 wollte Gombojabs Wunsch stattgeben, aber der Kangxi-Kaiser versah die Eingabe des Lifanyuan mit einem Reskript, dass es nicht angehe, dass Gombojab verschickt werde. Der innermongolische Historiker Wuyunbilige [Oyunbilig], der diese Dokumente diskutiert, schließt daraus, dass zum einen Gombojabs Vergehen anscheinend nicht sehr gravierend gewesen sei, und dass zum anderen der Kangxi-Kaiser im Üjümüčin-Adel wieder Stabilität herstellen wollte. Gombojab wurde jedoch zum Tayiji degradiert. Jedenfalls ist in einer Eingabe des Lifanyuan aus dem Jahr 1723, in dem es um den Besuch von Prinzessinnen in der Hauptstadt geht, u. a. die Rede von der Frau des „ehemaligen“ Gung der Üjümüčin. Dabei muss es sich um Gombojab handeln. Offensichtlich besaß Gombojab um 1723 seinen Titel nicht mehr. Gombojabs gelehrtes Wirken ist eng mit der tangutischen (tibetischen) Schule in Peking verbunden.33 Diese Schule wurde in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts gegründet und gehörte zum Lifanyuan. Shunzhi 14 (1657) erging eine Weisung, dass jedes Banner34 drei Leute in tangutischer (tibetischer) Schrift ausbilden sollte. In späteren Quellen wird aus dieser Weisung das Gründungsdatum der tangutischen Schule auf 1657 festgelegt. Dies ist aber nicht ganz korrekt. Die Schule wurde in mandschurischen Akten das erste Mal 1667 mit dem Vermerk erwähnt, dass Übersetzer vom Lifanyuan aus der tangutischen Schule rekrutiert werden sollten. Die Gründung lässt sich also nicht auf ein bestimmtes Datum festlegen.35 In der Shunzhi-Zeit waren die Lehrer Mönche, die ein festes Gehalt bezogen, aber keine fest definierte Stellung innehatten. In der Kangxi-Zeit gab es an der tangutischen Schule die Positionen des siye und des zhujiao, zweier rangniedriger Positionen im Qing-Verwaltungsapparat. Die siye-Tätigkeit nahmen Beamte anderer Institutionen, des Lifanyuan sowie des Kabinetts (Ma. neige) wahr. Neben

32 Das zuerst 1636 eingerichtete Lifanyuan war für die Verwaltung der Mongolen und später aller anderen innerasiatischen, in das Qing-Reich eingegliederten Völker zuständig, siehe Ning Chia, „The Li-fan Yuan and the Inner Asian Rituals in the Early Qing,“ Late Imperial China 14/1 (1993): 60–92, sowie Dorothea Heuschert-Laage, „From Personal Network to Institution Building: The Lifanyuan, Gift Exchange and the Formalization of Manchu-Mongol Relations,“ History and Anthropology 25/5 (2014): 648–669. 33 Im folgenden Abschnitt stütze ich mich auf den Aufsatz von Zimu Ma, „Tanggute xue kao [Untersuchungen zur Tangutischen Schule],“ Qingshi yanjiu 3 (2016): 121–130. Ich danke Dorothea Heuschert-Laage sehr herzlich für die Übersetzung des Aufsatzes aus dem Chinesischen. 34 Die Weisung des Shunzhi-Kaisers bezog sich auf die „Mongolischen Acht Banner.“ Zu dieser militärischen Institution s. Mark C. Elliott, The Manchu Way. The Eight Banners and Ethnic Identity in Late Imperial China (Stanford, California: Stanford University Press, 2001), 73–74. Laut David Porter, „Bannermen as Translators: Manchu Language Education in the Hanjun Banners,“ Late Imperial China 40/4 (2019): 1–43, 27, wurden die Studenten der Tangutischen Schule ausschließlich von den mongolischen Acht Bannern rekrutiert. 35 Ma, „Tanggute xue kao,“ 121–122.

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diesen Hofangestellten gab es auch Mönche, die von außen kamen. 1661–1665 wurden acht Schüler zum Studium der tibetischen Sprache nach Lhasa geschickt und dort unter die Obhut des 5. Dalai Lama Ngag dbang blo bzang rgya mtsho (1617–1682) gestellt. In der Kangxi-Zeit wurden allerdings keine Schüler nach Lhasa zur Ausbildung entsandt. Erst im 11. Jahr Yongzheng (1733) wurden wieder zwei Schüler nach Tibet und vier nach Xining geschickt. In der Qianlong-Zeit wurde die tangutische Schule Neuerungen unterworfen. Schickte das Lifanyuan lediglich in den Jahren 1757 und 1770 Studierende nach Tibet, wurde dies später zur Regel gemacht und 1785 gesetzlich verankert.36 Zwischen 1757 und 1834 wurden mindestens zwölfmal Studierende nach Tibet geschickt. Ihr Lehrplan und die Prüfungen wurden gemeinsam vom mandschurischen Amban und hohen tibetischen Mönchen ausgearbeitet. Eine vom Qianlong- Kaiser bestätigte Eingabe von 1785 sah vor, dass der Dalai Lama selbst die Prüfungen abnehmen sollte, was faktisch aber nicht stattfand. Aus den Absolventen wurden entweder wieder Lehrer oder Übersetzer amtlicher Dokumente. Die ethnische Zugehörigkeit aller Schüler lässt sich nicht rekonstruieren, aber es spricht vieles dafür, dass die Mehrzahl der Schüler Mongolen aus den acht Bannern und Mongolen aus den sogenannten Außengebieten37 waren. Den Mongolen kam wohl eine Mittlerposition zwischen den Mandschus und Tibetern zu. Die Schüler galten innerhalb der Qing-Beamtenschaft als „Experten-Beamte“ wegen ihrer Sprachkenntnisse. Bis in die Kangxi-Zeit war es üblich, dass an der tangutischen Schule Lamas unterrichteten. Hierfür finden sich in der Qianlong- und der Jiaqing-Zeit (1796–1820) keine Belege. In der Daoguang-Zeit (1820–1850) hingegen wurden wieder tibetische Lamas ausgewählt, um an der Schule zu unterrichten, und es wurde, ebenfalls in der Guangxu-Zeit (1874–1908), die Regel, dass Lamas an der Schule unterrichteten. Daoguang 14 (1834) wurden zum letzten Mal Studierende nach Tibet geschickt. In der frühen Qing-Zeit wurden tibetische und mongolische Lamas zahlreich als Übersetzer amtlicher Dokumente eingesetzt. Die ab der Daoguang-Zeit erneut eingesetzten Lamas hatten hingegen keine Befugnis, amtliche Dokumente zu übersetzen, sondern nur eine untergeordnete Position. Der Wendepunkt lag in der späten Qianlong-Zeit und hatte mit der Professionalisierung der Schule und Änderungen im Verwaltungsapparat zu tun.38 Bei der Todesbekanntgabe des Yongzheng-Kaisers (8. Monat 1735) an den Dalai Lama, Panchen Lama und den lCang skya Qutuɣtu wurden die mongolische und tibetische Fassung durch den Leiter der tangutischen 36 Ma, „Tanggute xue kao,“ 124. Ma beruft sich hier auf die Lifanyuan zeli, die Gesammelten Statuten des Lifanyuan. 37 Die mongolischen Außengebiete umfassten damals das Territorium des heutigen mongolischen Staates. 38 Ma, „Tanggute xue kao,“ 128.

„Säkulare“ Wissenschaften und „religiöse“ Interessen

Schule, Gombojab, den siye-Beamten Norbu, den Da-Lama Danjin Coidar und den siye-Lama Biligün Dalai abgefasst. Auch die Antrittsbekanntgabe des QianlongKaisers wurde von ihnen übersetzt. Im Laufe der Qianlong-Zeit wurden die Mönche durch Absolventen der Schule ersetzt, und am Ende der Qianlong-Zeit waren sie schließlich nicht mehr an amtlichen Übersetzungen beteiligt. Die Beziehung Gombojabs zur tibetischen Schule in Peking ist aus den Quellen jedoch nicht ganz klar ersichtlich. Man liest immer wieder, dass Gombojab vom Yongzheng-Kaiser (reg. 1722–1735) zum Direktor der Schule für Tibetische/ Tangutische Sprache (Mong. Töbed/ tangɣud bičig-ün surɣaɣuli) in Peking ernannt wurde.39 Gombojab führte spätestens ab 1725 den Titel eines „leitenden Amban der tangutischen Schule“. Diesen Posten gab es vorher nicht. Gombojab hatte daher einen höheren Rang als die siye-Beamten der Schule, die in Personalfragen das Lifanyuan oder das Beamtenministerium konsultieren mussten. Allerdings war Gombojab nur ein Tayiji ersten Grades40 und entstammte nicht der Hofbeamtenschaft, sondern kam von außen. Nachdem er seinen Posten niedergelegt hatte, wurde dieser nicht wieder vergeben. Daher vermutet Ma, dass es sich bei Gombojabs Position in der tangutischen Schule nicht um eine Anstellung, sondern um einen Auftrag gehandelt habe.41 Gombojab selbst bezeichnet sich im Kolophon seines Werks Egesig üsüg kiged geyigülügči üsüg üd orosiba/ Dbyangs gsal bzhugs als Tangɣud surɣaɣuli-yin sayid-un tusiyal-tu, „Beamter der tangutischen Schule“.42 In seiner Position war Gombojab verantwortlich für die Übersetzung tibetischer und mongolischer Texte. Er selbst beherrschte neben seiner Muttersprache Mongolisch auch Tibetisch, Mandschu und Chinesisch. Stolz bezeichnete er sich selbst als den „Upāsaka Gombojab aus dem Land der Winde, der vier Sprachen

39 So z. B. Uspensky, „Gombojab,“ 59. 40 So wird er im Kolophon des Merged ɣarqu-yin oron/ mKhas pa´i byung gnas genannt, siehe die tibetische Ausgabe (Tibetan Buddhist Ressource Center [im folgenden: TBRC] 2562) des Werks, ja, Fol. 15r: tha´i ji e phu u ju mu chin mgon po skyabs („Tayiji der Üjümüjin Gombojab“). Als solchen bezeichnen ihn auch Dharma in seinem historischen Werk Altan kürdün mingɣan gegesütü (Kökeqota: Öbör mongɣol-un arad-un keblel-ün qoriy-a, 1987), 206, und Rasipungsuɣ, Bolor Erike, V, 858. Auch Dharma Dalai der Barin nennt Gombojab in seinem tibetischsprachigen Werk Čaɣan lingqu-a erkis so, s. Čoyiji, „Uduridqal“ [Einleitung], in Čoyiji, Hrsg., Γangɣ-a-yin urusqal (Kökeqota, 1981), 9. 41 Ma, „Tanggute xue kao,“ 125. In der frühen Zeit der Schule waren die Ränge, das Gehalt, das Personal und die Verantwortlichkeiten der Schule nicht systematisch geregelt, das änderte sich erst unter Qianlong. Seit der Mitte der Qianlong-Zeit wurde die tangutische Schule in Personalunion von hohen Beamten des Lifanyüan geleitet. Seit der Jiaqing-Zeit wurde sie vom Präsidenten des Lifanyuan geleitet. 42 Gombojab, Egesig üsüg kiged geyigülügči üsüg üd orosiba/ Dbyangs gsal bzhugs, Fol. 6v48-49 (TBRC W1HU1).

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spricht“ (Tib. skad bzhi smra ba’i dge bsnyen rlungs khams pa).43 Gombojab war ein Mitglied des Herausgeberkomitees für den chinesischen buddhistischen Kanon (1733–1738), und des Komitees zur Übersetzung des bsTan ‘gyur aus dem Tibetischen ins Mongolische von 1741–1749. Wie Gombojab sein enzyklopädisches Wissen erworben hat, wissen wir nicht. Zur damaligen Zeit standen für die Ausbildung der männlichen Jugend in der Mongolei zwei Arten von Schulen offen, einmal das buddhistische Kloster,44 zum anderen die Bannerschulen. Im Kloster lernte man in erster Linie Tibetisch, und erst wenn man dies gut beherrschte, erfolgte auch eine Ausbildung in der mongolischen Schriftsprache. In den Bannerschulen wurde der administrative Nachwuchs für die Bannerverwaltung ausgebildet, man lernte vor allem schreiben.45 Auf welche Weise Gombojab also seine umfassenden Kenntnisse in vier Sprachen und seine beeindruckende Bildung u. a. auch in der klassischen chinesischen Literatur erwarb,46 bleibt damit leider im Dunkeln. Welche Rolle spielten die Tibetische Schule und Gombojab im intellektuellen Klima des Qing-Reichs im 18. Jahrhundert? Die Gründung der Schule und ihre spätere überragende Bedeutung für die multilingualen Buchprojekte vor allem der Qianlong-Zeit sowie der Aufschwung des Druckwesens unter anderem für tibetisch-sprachige Publikationen47 zeigen eindrücklich, dass die Qing-Herrscher großen Wert auf Wissenserwerb und Wissensverbreitung legten. Mehrsprachigkeit spielte dabei eine zentrale Rolle. Das Reich selbst war offiziell viersprachig, Mandschu, Mongolisch, Tibetisch und Chinesisch. Später kam noch die in Xinjiang gesprochene Variante des Caghatai-Türkischen hinzu. Tibetisch hatte eine besondere Bedeutung insofern, als es seit dem 17. Jahrhundert die lingua franca eines riesigen multikulturellen und multilingualen Raumes war, der vom südlichen Himalaya bis an den Baikalsee und das Kaspische Meer reichte und in unterschiedlichen geopolitischen Kontexten situiert war. Die Qing-zeitlichen intellektuellen Diskurse, die in tibetischer Sprache zwischen in Peking lokalisierten Gelehrten, die oft nicht dem monastischen Establishment angehörten, und religiösen Gelehrten in Tibet oder der Mongolei, z. B. den Panchen Lamas oder lCang skya Qutuɣtus,

43 Gombojab, rGya nag chos ‘chung, 265. 44 Francoise Wang-Toutain, „Circulation du savoir entre la Chine, la Mongolie et le Tibet au XVIIIe siècle. Le prince mGon-po skyabs,“ Études chinoises, XXIV, 2005: 57–112, 61–62, spekuliert, dass er eine klösterliche Ausbildung genossen habe. 45 Zu den mongolischen Bannerschulen s. Evelyn Rawski, „Qing Publishing in Non-Han Languages,“ in Printing and Book Culture in Late Imperial China, hg. von Cynthia J. Brokaw und Kai-Wing Chow (Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 2005), 304–305, und Anm. 4, 325. 46 So übersetzte er den berühmten Reisebericht von Xuanzang, Da Tang Xi yu ji („Bericht über die Westlichen Regionen“) ins Tibetische, vgl. Uspensky, „Gombojab,“ 60. 47 Rawski, „Qing Publishing,“ 308–309.

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geführt wurden, müssen daher auch in ihren translokalen und transregionalen Aspekten analysiert werden. Sie verbanden das imperiale Zentrum, Peking, mit den Außengebieten des Reichs wie Tibet, wie z. B. der Briefwechsel zwischen Gombojab und dem Mönchsgelehrten Kah thog Tshe dbang nor bu (1698–1755) über einige Aspekte seiner „Geschichte des Buddhismus in China“ zeigt.48 Das kulturelle Milieu von Gombojab und seinen mongolischen Zeitgenossen wurde durch zwei Faktoren wesentlich bestimmt: zum einen die politische Gefolgschaft zu den Mandschus und der Qing-Regierung, zum anderen die religiöse Situierung im tibetischen Buddhismus. Der Buddhismus stellte eine internationale Kultur bereit, durch die die Beziehungen zwischen den ethnisch und linguistisch heterogenen Gruppen des Qing-Reichs vermittelt werden konnten. Gombojab selbst war ein Mittler zwischen dem imperialen Zentrum in Peking und den tibetischen und mongolischen Grenzregionen des Reichs. Er kann nicht eindeutig einem „tibetischen“ oder „mongolischen“ Kulturraum zugewiesen werden, sondern gehörte einer kosmopolitischen intellektuellen Elite an, die sich im Qing-Reich des 18. Jahrhunderts quer zu regionalen, religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten herausgebildet hatte. Diese Eliten waren oft von ihrer ethnischen Herkunft her keine Tibeter, aber sie partizipierten am tibetischen monastischen Bildungssystem und hatten enge Meister-Schüler-Beziehungen mit hohen Lamas in Tibet.49 Gleichzeitig waren sie Teil eines weitverzweigten gebildeten Netzwerks in Peking, dem oft auch Europäer angehörten. Sie waren vielsprachig und trugen zur Entwicklung der tibetischen Literatur durch ihre enzyklopädischen Werke bei, die sie in tibetischer Sprache verfassten. Sie schrieben aber auch oft in mongolischer oder chinesischer Sprache. Das Medium ihres gelehrten Austauschs waren Briefe, die über weite Distanzen gesandt wurden. Diese sind oft für die Nachwelt aufbewahrt in den „Gesammelten Werken“ (Tib. gsung ´bum) der religiösen und weltlichen Autoren.

2.

Die „fünf großen Wissensbereiche“

Gombojabs Œuvre, das in Tibetisch, aber teilweise auch in Mongolisch und Chinesisch abgefasst ist, wurde und wird im tibetisch-mongolischen Kulturraum nicht dem religiösen Schrifttum zugeordnet, sondern den „fünf großen Wissensbereichen“, die sowohl weltliches als auch religiöses Wissen umfassen. Tibetische Werke des 18. Jahrhunderts, die sich mit der Klassifikation der Wissensordnungen be-

48 Kah thog Tshe dbang nor bu, „rGya nag tu gung mgon po skyabs la dri ba mdzad pa,“ in Collected Works (Gsung ‘bum) of Kah thog Tshe dbang nor bu (Dalhousie: Damchoe Sangpo, 1976), 723–732. 49 Vgl. Fan Zhang, „Reorienting the Sacred and Accomodating the Secular: The History of Buddhism in China (rGya nag chos ‘byung),“ Revue d’Études tibétaines 37 (2016): 569–591.

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fassen,50 beschreiben die Unterscheidung zwischen dem „inneren Wissen“, das nur dem Buddhisten zugänglich ist, und den vier anderen Wissensbereichen, die Nicht-Buddhisten und Buddhisten gemeinsam sind, häufig in binären Oppositionspaaren wie ‘jig rten pa, „weltlich“, und ‘jig rten las ‘das pa, „trans-weltlich“, phyi pa, „außen“, und nang pa, „innen“, oder thun mong ba, „gewöhnlich“, und thun mong ma yin pa, „außergewöhnlich, nicht gewöhnlich“. Die „fünf großen Wissensbereiche“ umfassen in der tibetischen Auflistung sowohl den laukika („weltlichen“) als auch den lokottara („transweltlichen“) Bereich. Damit bildet die grundlegende buddhistische Unterscheidung51 in laukika und lokottara die Basis für diese Taxonomie zweiter Ordnung, die in der höheren klösterlichen Ausbildung in der tibetischmongolischen buddhistischen Welt und auch in der Laienausbildung eine wichtige Rolle spielte und auch heute noch spielt. Dieses binäre Schema darf jedoch nicht mit der europäischen Unterscheidung von religiös/säkular gleichgesetzt werden. Die Gleichsetzung geht schon deshalb nicht auf, weil der laukika-Bereich in der sozialen Praxis einen integralen Teil der höheren monastischen, also religiösen Ausbildung, bildet. Zugleich bestimmte der laukika-Wissenskanon die Curricula der Laienausbildung in den tibetischen und mongolischen Schulen.52 Laukika würde also im europäischen Verständnis den religiösen und säkularen Bereich umfassen.

50 Siehe z. B. Klong rdol bla ma Ngag dbang blo bzang: „bZo dang gso ba/ skar rtsis rnams las byung ba’i ming gi grangs bzhugs so“ sowie ders., „Rig gnas che ba sgra rig pa/ snyan ngag/ sdebs sbyor/ zlos gar/ mngon brjod/ brda‘ gsar rnying gi khyad par rnams las byung ba’i ming ggrangs [sic!] bzhugs so//,“ in The Collected Works of Longdol Lama, Parts 1, 2 reproduced by Lokesh Chandra from the collections of Prof. Raghu Vira (New Delhi: International Academy of Indian Culture, 1973), Textabbildung 713–743. 51 Zu dieser Unterscheidung siehe die grundsätzlichen Überlegungen von Max Deeg in diesem Band. Eine Begriffsgeschichte dieser binären Unterscheidung müsste, wie Deeg richtig bemerkt, erst noch geschrieben werden. Wie unterschiedlich und auch widersprüchlich die Rezeption hier in den einzelnen buddhistischen Ländern verlief, zeigt sich z. B. in Tibet an der Flut von Listen, die, basierend auf dieser binären Unterscheidung, unterschiedliche Ordnungsschemata vor allem für die „weltlichen Wissenschaften“ entwerfen. 52 Für das Jahr 1714 ist die erste Privatschule für Laienschüler in Zentraltibet schriftlich belegt, siehe Alice Travers, „Between Private and Public Initiatives? Private Schools in pre-1951 Tibet,“ Himalaya, The Journal of the Association for Nepal and Himalayan Studies 35/2 (2015): 118–135, 121. Dass Bildung aber auch schon in früheren Jahrhunderten für Laien zugänglich war, belegen von Laien verfasste literarische Werke wie das im indischen Kāvya-Stil verfasste Gedicht Rig pa ‘dzin pa’i pho nya des Fürsten von Rin spungs, das dieser im Jahr 1557 verfasste.

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Die fünf großen Wissensbereiche53 bestehen aus (1) innerem Wissen,54 (2) Logik,55 (3) Sprache,56 (4) Medizin,57 und (5) Kunst und (Kunst)handwerk.58 Da die fünf Wissensbereiche im 4. Jahrhundert in Asaṅgas Yogācārabhūmi vorgestellt werden als die „nicht-buddhistischen“ Gegenstände, die der Bodhisattva studieren muss,59 müssen sie spätestens ab diesem Zeitraum kodifiziert worden sein. Zu den fünf großen kommen noch die fünf kleinen Wissensbereiche, auf die ich hier nicht näher eingehe.60 Die in der Beschreibung der „fünf großen Wissensbereiche“ vorgenommene Unterscheidung zwischen „weltlichem Wissen“ (Tib. ‘jig rten pa) und „transweltlichem Wissen“ (Tib. ‘jig rten las ‘das pa)61 führt uns vom 18. Jahrhundert in die Gegenwart. Der heute gebräuchliche tibetische Begriff für „säkular“ und „Säkularität“ lautet ‘jig rten pa. Ich habe in der Einleitung auf mein methodisches Vorgehen verwiesen, die modernen tibetischen Begrifflichkeiten zum Ausgangspunkt meiner Untersuchung zu machen. Sie können genalogisch in die vormodernen Begrifflichkeiten zurückverfolgt werden. Dieses Vorgehen impliziert nicht, dass ich in der Herstellung der genealogischen Verbindung durch das Vokabular das deutsche Wort „säkular“ und das tibetische ‘jig rten pa als sprachliche Äquivalente behandle.62 Ich behaupte ebenso wenig, dass das semantische Feld von ‘jig rten pa im heutigen Sprachge-

53 Skt. mahāpañca vidyāsthāna, Tib. rig gnas che ba lnga, Mo. yeke tabun uqaɣan-u oron. Vgl. Klong rdol bla ma Ngag dbang blo bzang, „bZo dang gso ba,“ Textabbildung 713. 54 Skt. adhyātmavidyā, Tib. nang rig pa, Mo. dotoɣadu uqaɣan. 55 Skt. hetuvidyā, Tib. gtan tshigs rig pa, Mo. učir siltaɣan-u uqaɣan. 56 Skt. śabdavidyā, Tib. sgra rig pa, Mo. daɣun-u uqaɣan. 57 Skt. cikitsavidyā, Tib. gso ba rig pa, Mo. tejigeküi uqaɣan. 58 Skt. karmasthānavidyā, Tib. bzo rig pa, Mo. uralaqui uqaɣan. 59 Asaṅga, Yogācārabhūmi Tib. rNal ‘byor spyod pa’i sa. Tohoku Catalogue, bsTan ‘gyur, Sems tsam, No. 4035, tshi, 161r2. Im Tohoku Katalog wird als Sanskrit-Äquivalent stets Yogacaryābhūmi angegeben, s. auch Asaṅga, Yogacaryābhūmau bodhisattvabhūmi, Tib. rNal ‘byor spyod pa’i sa las byang chub sems dpa’i sa. Tohoku Catalogue bsTan ‘gyur, Sems tsam, No. 4037, sems tsam, wi, 113r6. Zitiert nach Desi Sangyé Gyatso, Mirror of Beryl: A Historical Introduction to Tibetan Medicine. Translated by Gavin Kilty (Boston: Wisdom Publications, 2010), 42–44. 60 Die „fünf kleinen Wissensbereiche“ sind (1) Poetik (Skt. kāvya, Tib. snyan ngag), (2) Metrik (Skt. chandas, Tib. sdeb sbyor), (3) Synonyme (Skt. abhidhāna, Tib. mngon brjod), (4) Dramaturgie (Skt. nātaka, Tib. zlos gar), und (5) Astrologie und Divination (Skt. gaṇita/ jyotis, Tib. skar rtsis). Zu letzterem zählte auch die Mathematik. 61 Christoph Kleine, „Zur Universalität,“ 71, übersetzt lokottara als „außerweltlich“ respektive „überweltlich“. 62 Der deutsche Begriff „säkular“ ist eine Kategorie mit seiner eigenen Geschichte, und die Behandlung von ‘jig rten pa als sein sprachliches Äquivalent würde bedeutet, diese Geschichte dem Tibetischen aufzuzwingen.

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brauch identisch ist mit seinem semantischen Feld im 18. Jahrhundert. ‘Jig rten pa hat seine eigene Begriffsgeschichte, die jedoch noch geschrieben werden muss.63 Im Tibet des 18. Jahrhunderts war das Studium der weltlichen Wissensbereiche sowohl im monastischen als auch im weltlichen Kontext gleichermaßen bedeutend. So erwarb man zum Beispiel im Studium von Grammatik und Sprache eine rhetorische Eleganz, die in der Politik wie auch in scholastischen buddhistischen Debatten eingesetzt werden konnte und zu sozialem Ansehen und Autorität führte.64 In Bezug auf die literarische Produktion war die taxonomische Ordnung der fünf großen Wissensbereiche allerdings vor allem für Autoren von Belang, die nicht über klassische buddhistische Bereiche (das „innere Wissen“) schrieben, sondern sich mit Medizin, Kunst und Kunsthandwerk oder Linguistik beschäftigten. Das die disparaten Wissensbereiche einigende Band war die Person des Bodhisattva, der jeden Wissensbereich bis zur Perfektion studieren musste. Die einzelnen Wissensbereiche, die im Tibetischen auch in Nang don rig gnas mdo sngags, „buddhistische Studien“, und phyi´i tha snyad rig gnas, „konventionelle, nicht-buddhistische Studien“, unterschieden werden, besaßen keine in sich geschlossenen, ein für alle Mal festgelegten Inhalte, sondern waren offen für Veränderungen. Dies hat Janet Gyatso für den Bereich der tibetischen Medizin aufgezeigt. Sie hat am Beispiel des indischen Augenarztes Manaho untersucht, wie im 17. Jahrhundert

63 Während „säkular“ in der heutigen tibetischen Umgangssprache mit der Welt, in der wir leben (im buddhistischen Sinne die Welt als „Gefäss“), assoziiert wird, wird „Säkularismus“ mit dem Konzept von chos srid zung ‘brel, „Verbindung von Religion und Politik“, in Beziehung gesetzt. Im politischen Kontext ist oft von chos lugs ris med, „unparteiisch in Bezug auf die Religion“, die Rede. Im exil-tibetischen politischen Kontext verlangt dieses Prinzip des Säkularismus jedoch nicht die Trennung zwischen religiösen und politischen Institutionen, sondern es drückt eine pluralistische Vision einer ökumenischen Gleichheit in Regierungsinstitutionen aus. So halten alle fünf grossen tibetisch-buddhistischen Traditionen, einschliesslich des Bon, Sitze im tibetischen Exilparlament, das explizit nach dem Grundsatz von chos lugs ris med organisiert ist. Ein anderer Begriff, der gebraucht wird, ist chos med ring lugs, „System ohne Religion“. Er verweist auf eine gesellschaftliche Ordnung, die keinerlei Verbindung mehr mit der religiösen Sphäre aufweist, z. B. in Form einer Ethik. Chos la ltos med, „Nichtachtung für Religion“ und chos la ‘gal ba, „die Religion ablehnen“ verdeutlichen wiederum, auf welche Weise der Begriff Säkularismus rezipiert wurde. Vgl. Holly Gayley, „Introduction: Theorizing the Secular in Tibetan Cultural Worlds,“ Himalaya, The Journal of the Association for Nepal and Himalayan Studies 36/1 (2016): 12–21. Und schliesslich überträgt chos dad rang mos, „individuelle Wahl des religiösen Glaubens“, das protestantisch-christliche Verständnis von „Religion“ durch den Terminus dad pa in den tibetisch-buddhistischen Kontext. So bildet sich in den heute gebrauchten tibetischen Begrifflichkeiten nicht nur die „Pfadabhängigkeit“ des tibetischen Verständnisses von Säkularität ab, sondern auch die komplexe Geschichte der europäischen Säkularisierungsdebatte. 64 Dominique Townsend, „Buddhism’s Worldly Other: Secular Subjects of Tibetan Learning,“ Himalaya, The Journal of the Association for Nepal and Himalayan Studies 36/1 (2016): 129–144, 142.

„Säkulare“ Wissenschaften und „religiöse“ Interessen

neue Behandlungspraktiken aus Indien in die tibetische Medizin integriert wurden.65 Wissen in allen seinen Spielarten war in Tibet aufgrund vielfältiger interner wie externer Einflüsse stets Veränderung, Erweiterung, und Revision ausgesetzt.

3.

Buddhistische Wissensordnungen im imperialen Dienst

Tibet und die mongolischen Regionen, einschließlich der burjatischen und kalmückischen Gebiete, sind nie unter westeuropäische Kolonialherrschaft geraten. Während die Burjaten und die Kalmücken seit dem 17. Jahrhundert Untertanen des Russischen Reichs waren, waren die äußeren und inneren Mongolen sowie Tibet – in unterschiedlichem Maße – dem mandschurischen Qing-Reich eingegliedert. Sowohl das russische als auch das Qing-Reich betrachte ich als frühneuzeitliche Kolonialreiche.66 Die historischen Formationen der tibetischen und mongolischen Wissenskulturen müssen daher auch im Kontext dieser geopolitischen Konstellationen betrachtet werden. Im späten 17. Jahrhundert, zur Zeit des 5. Dalai Lama und seines Regenten Sangs rgyas rgya mtsho (1653–1705), also genau zu der Zeit, als die beiden Ordnungen von Religion und Politik (Tib. chos srid zung ‘brel), für die tibetische Regierung neu ausformuliert wurden, wurden das Bodhisattva-Ideal und damit auch die fünf Wissensbereiche mit der Ideologie der tibetischen Zentralregierung verbunden.67 In dieser Periode der tibetischen Geschichte erlebten die säkularen Wissensbereiche (Tib. rig gnas) in Tibet ungeahnten Aufschwung und Blüte. Das kosmopolitische Lhasa im 17. Jahrhundert war stark von indischen Gelehrten, vor allem Ärzten und Grammatikern der Sanskrit-Sprache, geprägt, die auf Einladung des 5. Dalai Lama nach Tibet reisten. Im 18. Jahrhundert hingegen richtete man in Lhasa den Blick nach Peking, das zum multikulturellen Zentrum des Qing-Reiches geworden war. Die Attraktion Pekings für tibetische Gelehrte lag nicht zuletzt an dem 1743 ins Leben gerufenen intellektuellen Zentrum für den tibetischen Buddhismus in der Hauptstadt, dem berühmten Yonghegong („Palast der Harmonie und des Friedens“). Nach engen Konsultationen mit seinem religiö-

65 Janet Gyatso, „The Authority of Empiricism and the Empiricism of Authority: Medicine and Buddhism in Tibet on the Eve of Modernity,“ Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24/2 (2004): 83–96, 90. Vgl. auch Kurtis R. Schaeffer, „New Scholarship in Tibet, 1650–1700,“ in Forms of Knowledge in Early Modern Asia: Explorations in the Intellectual History of India and Tibet, 1500–1800, hg. von Sheldon I. Pollock (Durham NC: Duke University Press, 2011), 291–310. 66 Zur Diskussion um das Qing-Reich als Kolonialreich siehe Nicola di Cosmo, „Qing Colonial Administration in Inner Asia,“ The International History Review 20/2 (1998): 287–309. Vgl. auch Michael Adas, „Imperialism and Colonialism in Comparative Perspective,“ The International History Review 20/2 (1998): 371–388. 67 Schaeffer, „New Scholarship,“ 293.

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sen Lehrer und Berater, dem 2. lCang skya Qutuɣtu Rol pa’i rdo rje (1717–1786), hatte Qianlong in jenem Jahr begonnen, den Palast seines Vaters in das erste tibetische monastische Kolleg in Peking umzuwandeln. Das Palastgrundstück wurde erweitert und achtzig Lamas wurden berufen, in dem neu eingerichteten Kolleg Philosophie, die weltlichen Wissenschaften und Künste, sowie Medizin zu erforschen und zu unterrichten. 1744 war die Anzahl der dort residierenden Mönche schon auf fünfhundert angewachsen. Der Yonghegong beherbergte später mehr als tausend Mönche, die Mehrzahl von ihnen Mongolen, und diente als Drehscheibe für buddhistische monastische Delegationen aus Innerasien.68 China wurde im 18. Jahrhundert das Tor zur Welt für Tibet, mehr noch als die Vernetzung mit der Mongolei und ihren Verbindungen zum Russischen Reich. Die Spuren der Begegnungen mit europäischen Gesandten, Diplomaten und Klerikern finden sich in den gelehrten tibetischen Werken der Zeit, so z. B. in der allgemeinen Geographie „Kurze Beschreibung der Welt“ (Tib. Dzam gling spyi bshad), dem ersten Werk seiner Art in Tibet.69 Dort werden einer tibetischen Leserschaft bisher unbekannte Details über Europa mitgeteilt, so wird u. a. die Tag- und Nachtgleiche in den nordischen Ländern beschrieben.70 Die Hinwendung zur Geographie geschah nicht von ungefähr. Im 18. Jahrhundert befand sich das Qing-Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Mit der Zerschlagung des Dzungarenreichs 1756/1757 und der Eroberung Ostturkestans71 hatte das Reich seine größte Ausdehnung erlangt. Zur Konsolidierung des expandierenden Qing-Imperiums, insbesondere in den Grenzregionen, wurde das Sammeln von Wissen über die Grenzregionen und ihre Bevölkerung immer wichtiger.72 Die Geographie und die Kartographie73 der Regionen des Reichs wurden zu wichtigen Instrumenten der imperialen Kontrolle, insbesondere als sich 68 Susan Naquin, Peking. Temples and City Life, 1400–1900 (Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 2000), 344; Kevin R.E. Greenwood, Yonghegong: Imperial Universalism and the Art and Architecture of Beijing’s “Lama Temple” (Ph.D. dissertation, University of Kansas, 2013). 69 Das Werk wurde 1777 von Sum pa mkhan po verfasst und ging 1788 in den Druck. 70 Sum pa mkhan po Ye shes dpal ‘byor, „‘Dzam gling spyi bshad ngo mtshar gtam snyan zhes bya ba bzhugs so,“ in Sum pa mkha po Ye shes dpal ‘byor und bTsan po bstan ‘dzin ‘phrin las, ‘Dzam gling spyi bshad dang rgyas bshad ces pa bzhugs so (Lhasa: Bod ljongs bod yig dpe rnying dpe skrun khang), 2011, 31. 71 Peter C. Perdue, China Marches West. The Qing Conquest of Central Eurasia (Cambridge, MA, und London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2005), 289–292. 72 Vgl. Laura Hostetler, „Qing Connections to the Early Modern World: Ethnography and Cartography in Eighteenth-century China,“ Modern Asian Studies 34/3 (2000): 623–662, 632. Hostetler betont die Korrelation zwischen imperialer Expansion und Wissensproduktion am Beispiel der ethnographischen Beschreibung, die sich epistemologisch mehr und mehr an „measurement, precision, and ‘objective’ description as the most effective means of describing or knowing other peoples“ (Hostetler, „Connections,“ 633) orientierte. 73 Mario Cams, „Not just a Jesuit Atlas of China: Qing Imperial Cartography and Its European Connections,“ Imago Mundi 69/2 (2017): 188–201, 190.

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gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch die potentiellen Bedrohungen bemerkbar machten, die an den Rändern des Imperiums vom Russischen Reich und dem aufstrebenden British Empire ausgingen. In den Pekinger multikulturellen Gelehrtenzirkeln wurde dieses neue Wissen aufgenommen und in die entfernteren Regionen des Qing-Reichs getragen. Die Qing-Herrscher förderten die Lesefertigkeit in den Sprachen des Reichs. Ein Schulsystem wurde etabliert, in dem die mandschurische Sprache für die männliche Bannerbevölkerung unterrichtet wurde.74 Bannerbeamte durften mit dem imperialen Zentrum in Peking ausschließlich in Mandschurisch kommunizieren, so dass die gute Beherrschung des Mandschurischen essentiell für ihre Tätigkeit war. Auch in den mongolischen Regionen wurden in jedem Banner (Mo. qošiɣun)75 Schulen eingerichtet, in denen neben dem Mandschurischen auch das Mongolische unterrichtet wurde. In der Sprachenhierarchie der Qing-Zeit nahm das Mongolische eine herausragende Position ein, da es den Referenzrahmen für die neu geschaffene mandschurische Schriftsprache bildete.76 Die in die „acht Banner“77 aufgenommenen Mongolen waren sogar zu den Beamtenprüfungen des Reichs zugelassen. Obwohl sich nur wenige Mongolen den Prüfungen unterzogen, stellten sie doch strukturell eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs in der Qing-Gesellschaft dar. Während der Qianlong-Zeit wurde die Sprache zu einem wichtigen Studienobjekt in China. Nach der Eroberung des Tarim-Beckens und Ostturkestans gab der Qianlong-Herrscher eine große Zahl von mehrsprachigen Wörterbuchprojekten in Auftrag, um sich als Herrscher der fünf Völker der Mandschus, Mongolen,

74 Zur staatlich subventionierten Mandschu-Ausbildung im Qing-Reich s. Mårten Söderblom Saarela, Manchu and the Study of Language in China (1607–1911) (Unpublished Ph.D. dissertation, Princeton University, 2015), 188–190. Die Bedeutung der mandschurischen Sprache lässt sich auch am Einsatz von Mandschurisch sprechenden Jesuiten in der internationalen Diplomatie im 18. Jahrhundert und im Gebrauch des Mandschurischen als lingua franca zwischen Russland und Japan im frühen 19. Jahrhundert ablesen. Zum Mandschurisch-Unterricht im 18. Jahrhundert s. Porter, „Bannermen as Translators.“ 75 Ein mongolisches Banner war ursprünglich eine militärische Einheit. Unter den Mandschus wurde es neu als Verwaltungseinheit definiert, deren territoriale Grenzen festgelegt waren und einer periodischen Kontrolle unterstanden. Einen guten Überblick über die Banner-Organisation gibt Christopher Atwood, Encyclopedia of Mongolia and the Mongol Empire (New York: Facts on File, 2004), 30–32. 76 Zur Entwicklung der Mandschu-Schriftlichkeit s. Söderblom Saarela, Manchu, 115–139. 77 Die „acht Banner“ dürfen nicht mit der mongolischen Verwaltungseinheit gleichen Namens verwechselt werden. Bei den „acht Bannern“ handelte es sich um eine mandschurische militärische Institution, deren Mitgliedschaft durch Geburt erworben wurde. Die acht Banner spielten eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung einer separaten Mandschu-Identität und waren daher die wichtigste soziopolitische Institution des Qing-Reichs, die sogar nach dem Zusammenbruch des Reichs 1912 bis 1924 aufrechterhalten wurde, s. Elliott, The Manchu Way, 39–42.

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Han-Chinesen, Tibeter und Uiguren zu inszenieren. An der Erstellung solcher Wörterbücher war Gombojab in seiner Funktion als leitender Beamter der Tangutischen Schule maßgeblich beteiligt. Die Inszenierung des Qing-Imperiums als multiethnisches innerasiatisches Reich zeigt sich vielleicht am deutlichsten in dieser imperialen Förderung linguistischer Projekte. Sprache stellte ein Herrschaftsinstrument dar, durch das zum einen Loyalität erzeugt, zum anderen die Multiethnizität des Reichs repräsentiert wurde. Neben dem privaten Buchdruck wurden im 18. Jahrhundert mehrsprachige Wörterbücher, Grammatiken und Sprachführer auf kaiserliche Anordnung gedruckt. Die Projekte umfassten mandschurisches, mongolisches und chinesisches Material genauso wie Sanskrit-Studien, tibetische Buchprojekte und uigurisch-türkisches Material. In Bezug auf mongolische und tibetische Publikationen liegen uns zwar nur unvollständige Zahlen vor, aber sie zeigen zumindest eine Tendenz auf, welche Themen die Buchproduktion umfasste. Evelyn Rawski hat berechnet, dass mehr als einundsechzig Prozent der mongolischen Bücher (Drucke und Handschriften) buddhistische Themen behandelten.78 Hierunter fallen auch philosophische Werke. Knapp vierzig Prozent der Buchproduktion aber war säkularen Themen gewidmet, worunter neben administrativen Belangen vor allem Grammatik und Sprache, Medizin, Astronomie und Mathematik fielen. Gombojab hatte am Qing-Hof Zugang zu neuem historischem, geographischem, religiösem und kosmologisch-astronomischem Wissen,79 denn dort standen Mandschus, Mongolen, Tibeter, Chinesen, und Europäer miteinander in ständigem Austausch über gelehrte Projekte. Er war der erste mongolische Historiker, der chinesische Quellen gründlich auswertete und seine Darstellung auf sie abstützte. Darüber hinaus nahm er neues geographisches, aber auch religiöses Wissen aus Europa auf. Dieses neue Wissen setzte er mit bestehendem Wissen in Beziehung. Im Folgenden werde ich kurz sein historisches, medizinisch-pharmakologisches und linguistisches Œuvre vorstellen und die Unterscheidung zwischen weltlichem und religiösem Wissen anhand seines Werks diskutieren.80

78 Rawski, „Qing Publishing,“ 308. 79 Europäische astronomische und mathematische Werke wurden schon im frühen 18. Jahrhundert ins Tibetische übersetzt, s. Lobsang Yondan, „The Translation of European Astronomical Works into Tibetan in the Early Eighteenth Century,“ Inner Asia 17 (2015): 175–198, sowie ders., „An exploration of a Tibetan lama’s study of the Pythagorean theorem in the mid-18th century,“ Études mongoles et sibériennes, centrasiatiques et tibétaines 49 (2018): 1–16. 80 Gombojab hat auch zu weiteren Wissensbereichen gearbeitet, so zur Ikonometrie. Im Jahr 1742 hat er den im bsTan ‘gyur enthaltenen Text zur Ikonometrie, Sangs rgyas kyi sku‘i gzugs brnyan kyi mtshan nyid („Die Proportionen der Buddhastatuen“), aus dem Tibetischen ins Chinesische übersetzt (Zaociang liangdu jing). Dieses kleine Werk wurde inzwischen aus dem Chinesischen ins Englische übersetzt, s. The Buddhist Canon of Iconometry (Zaoxiang Liangdu Jing) With Supplement. A Tibetan-Chinese Translation from about 1742 by mGon-po-skyabs – Gömpojab. Translated and annotated from this Chinese Translation into modern English by Cai Jingfeng. Introduction and

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3.1

Das historiographische Œuvre von Gombojab

Wie schon erwähnt, wird Gombojabs Œuvre, das er in Tibetisch, teilweise aber auch in Mongolisch und Chinesisch verfasste, im tibetisch-mongolischen Kulturraum nicht zur religiösen Literatur gerechnet, sondern im Rahmen der fünf großen Wissensbereiche zu Sprache, Medizin, Kunst und Kunsthandwerk, sowie zu Geschichte (Tib. sngon rabs) und Geschichtsschreibung (Tib. sngon byung brjod).81 Die beiden letztgenannten werden den „achtzehn Wissensbereichen“ zugeordnet,82 einer weiteren Klassifikationsliste weltlicher Wissensbereiche. Gombojabs historisches Œuvre besteht vor allem aus zwei Werken, dem in Mongolisch verfassten Ganga-yin urusqal, „Der Fluss des Ganges“,83 einer genealogischen Chronik,84 zum anderen seinem in Tibetisch abgefassten rGya nag chos ´byung, „Geschichte des Buddhismus in China“.85 Das erstgenannte Werk steht in

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editing assistance by Michael Henss (Ulm/Donau: Fabri Verlag, 2006). Vgl. auch Walther Heissig, Die Pekinger lamaistischen Blockdrucke (Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1954), 91. Heissig nimmt an, dass Gombojab das Werk gleichzeitig auch ins Mongolische übersetzte. Hierzu fehlt jedoch bisher die Evidenz. Lan Wu, Refuge from Empire: Religion and Qing China’s Imperial Formation in the Eighteenth Century (Ph.D.dissertation, Columbia University 2016), 146–157, geht ausführlich auf das Werk ein. Des Weiteren hat Gombojab literarische Werke übersetzt; neben Xuanzangs Reisebericht ist hier der mandschurische Roman Yün ku diyanči-yin ǰayaɣ-a-yi bayiɣulqu ügülel neretü bičig („Die Prophezeiung des Yungu, des Meisters der Meditation“) zu nennen, vgl. Walther Heissig, Mongolische Handschriften, Blockdrucke, Landkarten (Wiesbaden: Steiner Verlag, 1961), 39–40, sowie Uspensky, „Gombojab,“ 60. In den mongolischen Regionen wurde die Weltlichkeit von Geschichtsschreibung auch in der materiellen Produktion vermittelt: Historische Werke zirkulierten meistens in Manuskript-Form und waren in chinesischer Manier gebunden, während Werke buddhistischen Inhalts tendenziell im Pothi-Format vorlagen und gedruckt wurden. Klong rdol bla ma zählt in seinem „bZo ba dang gso ba“ (Fol. 3r4-3v4) drei verschiedene Listen der achtzehn Wissensbereiche auf, nach unterschiedlichen philosophischen Traditionen. Vgl. auch Ekaterina Sobkovyak, „Classifications of the Fields of Knowledge According to One of Klong rdol bla ma´s „Enumeration of Terms“,“ in Tibetan Literary Genres, Texts, and Text Types, hg. von Jim Rheingans (Leiden/Boston: Brill, 2015), 54–72. Der volle Titel lautet Činggis ejen-ü altan uruɣ-un teüke gangɣ-a-yin urusqal neretü bičig orosiba, „Geschichte der Goldenen Familie des Gebieters Činggis namens ‚Fluss des Ganges‘.“ Čoyiji, Hrsg., Γangɣ a-yin urusqal, sowie Ganga jin uruskhal (Istorija zolotogo roda vladyki chingisa. – Sochinenie pod nazvaniem „techenie ganga“), hg. von L.S. Puchkowskij. Izdanie teksta, vvedenie i ukazatel‘ L.S. Puchkovskogo (Moskva: Izdatel’stvo vostochnoj literatury, 1960). Siehe auch L.S. Puchkovskij, „Sobranie mongol’skikh rukopisej i ksilografov Instituta Vostokovedenija A.N. SSSR,“ Uchenye zapiski, I.V., IX (1954): 90–127. Eine neue khalkha-mongolische Übersetzung liegt vor in Gombozhab. Gangyn ursgal, übers. von B. Bajartujaa, Ts. Batdorzh und B. Purevdelger (Ulaanbaatar, 2006). Dan Martin, Tibetan Histories: A Bibliography of Tibetan-Language Historical Works (London: Serindia Publications, 1997), 125, No. 276, listet die Editionen des Werks auf.

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der Tradition der historisch-genealogischen mongolischen Geschichtsschreibung, die seit dem späteren 17. Jahrhundert stark buddhistisch beeinflusst war, was sich insbesondere in der Neukonfiguration der mongolischen Herrscher-Genealogie zeigt: Sie wird nun Teil eines über die tibetischen Könige bis auf den historischen Buddha zurückgehenden Herrscher-Geschlechts.86 Dem Kolophon zufolge verfasste Gombojab den „Fluss des Ganges“ auf der Grundlage von chinesischen und mongolischen Geschichtswerken im Jahr 1725.87 Das Gangɣ-a-yin urusqal diente der Selbstvergewisserung der mongolischen Fürsten in einer Zeit des politischen Bedeutungsverlusts, als die Mongolen und ihre herrschenden Eliten schon längst Teil der Imperiums „Unserer Großen Qing“ (Mo. manu yeke čing) geworden waren. Da die Chronik für die Frage nach der Herausbildung einer tibetisch-mongolischen Säkularität in der frühen innerasiatischen Moderne keine relevante Rolle spielt, gehe ich hier nicht weiter auf ihre Inhalte ein.88 In seinem zweiten Geschichtswerk, der tibetischsprachigen „Geschichte des Buddhismus in China“, beschrieb Gombojab, trotz des eindeutigen Titels, das erste Mal die Geschichte Chinas und aller seiner religiösen Traditionen, nicht nur des Buddhismus. Das Wissen der Tibeter über China wurde bis weit in das 20. Jahrhundert hinein maßgeblich von diesem Werk bestimmt.89 Sein voller Titel lautet rGya nag gi yul du dam pa’i chos dar tshul gtso bor bshad pa blo gsal kun tu dga‘ ba’i 86 Hierzu siehe Karénina Kollmar-Paulenz, „History Writing and the Making of Mongolian Buddhism,“ in Archiv für Religionsgeschichte 20 (Berlin/Boston: de Gruyter, 2018), 135–155, besonders 136–141. A.D. Tsendina, Mongol’skie letopisi XVII–XIX vekov: novestvovatel’nye traditsii (Moskva: Rossijskij gosudarstvennyj gumanitarnyj universitet, 2007), unterzieht die genealogischen Listen, die Werke wie das Γangɣ-a-yin urusqal auszeichnen, einer Strukturanalyse. 87 Čoyiji, Hrsg., Γangɣ-a-yin urusqal, 174: Dayičing ulus-un nayiraltu töb[…]-ün ɣutaɣar on dörben sara-yin sayin edür-e tegüsbei. Die Redaktion oblag dem Ded Surɣaɣči Terigün Lama („stellvertretend unterrichtender Erster Lama“) Güüši Dangjin (Tib. bstan ‘dzin)(ebd.), bei dem es sich vielleicht um den Sünit-Mongolen bTsan ‘dzin chos dar, den Abt des im Jahr 1451 errichteten Lung fu szuKlosters in Peking handelt, wie Walther Heissig, Die Familien- und Kirchengeschichtsschreibung der Mongolen. I. 16. – 18. Jahrhundert (Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1959), 115, annimmt. Er war einer der herausragenden Lehrer an der Tangutischen Schule und Mitarbeiter der mongolischen bsTan ‘gyur-Übersetzung, der 1742 mit der Übersetzung des ersten Bandes des bsTan ‘gyur begann (die Fertigstellung erfolgte im folgenden Jahr), s. Heissig, Blockdrucke, 91. Zu ihm siehe auch Subud Erike. Ein Rosenkranz aus Perlen. Die Biographie des 1. Pekinger lČaṅ skya Khutukhtu Ṅag dbaṅ blo bzaṅ č’os ldan, verfasst von Ṅag dbaṅ č’os ldan alias Šes rab dar rgyas. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Klaus Sagaster (Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1967), 46. 88 Puchkovskij, Sobranie, 106–107, und Heissig, Familien- und Kirchengeschichtsschreibung, 115–117, geben eine Inhaltsbeschreibung. 89 Dies allerdings indirekt, über das 1748 von Sum pa mkhan po Ye shes dpal ‘byor (1704–1788) verfasste dPag bsam ljon bzang, dessen Kapitel über China auf dem rGya nag chos ‘byung fusst, s. Sum pa mkhan po Ye shes dpal ‘byor, Chos ‘byung dpag bsam ljon bzang (Lan chou: Kan su´u mi rigs dpe skrun khang, 1992), 919–959 („rGya nag chen por chos rgyal bstan ‘dzin bstan pa grub mtha´sogs byung tshul bshad pa“). Zum Einfluss des rGya nag chos ‘byung auf die spätere

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rna rgyan, „Das überaus freudenvolle Ohr-Ornament des klaren Verständnisses“, das zuvörderst erläutert, wie sich der tiefgründige Dharma im Land von China verbreitet hat“.90 Auf Bitten des 5. Siregetü Qutuɣtu (ca. 1713–1751)91 hin verfasste Gombojab das Werk zwischen 1736 und 1740.92 Für die Abfassung seines opus magnum benutzte er tibetische, mongolische, mandschurische und chinesische Quellen,93 die er gegeneinander quellenkritisch abwog. Wie umfassend er Daten sammelte, wird z. B. daran deutlich, dass dies wohl der erste tibetische Text ist, der Japan erwähnt, „eine Insel im Ozean.“94 Das Werk selbst besteht aus einem Vorwort (Tib. ‘go brjod), drei großen Kapiteln und einem Kolophon.95 Das erste

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mongolische und tibetische China-Geschichtsschreibung vgl. auch Mala, „Mahayanist Rewriting“, 147. Ich benutze zwei Ausgaben des Werks: (1) eine moderne Ausgabe aus der Tibetischen Autonomen Region: mGon po skyabs, rGya nag chos ‘byung (Khreng tu´u: Si khron mi rigs dpe skrun khang, 1983); (2) den Blockdruck aus Derge: rGya nag gi yul du dam pa’i chos dar tshul gtso bor bshad pa blo gsal kun tu dga‘ ba’i rna rgyan (ohne Datum) (TBRC W00CHZ0103344). Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 264: paṇḍi ta zhi re thu kā shi’u chos rjer grags pa’i grags pa don ldan kho nar byon pa lha mi’i gtsug rgyan mchog gi sprul pa’i sku rin po che’i zhal snga nas kyis[…]. Die 5. Wiedergeburt des berühmten Übersetzers Siregetü Güüsi Corji aus der Wende des 16. Jahrhunderts. Er wurde 1734 zum Jasag-un terigün blam-a ernannt, d. h. ihm unterstand die monastische Administration in Kökeqota (Innere Mongolei, heute: Hohot), wo er auch residierte, siehe Altan Orgil, Köke qota-yin süm-e keyid (Köke qota: Öbör mongɣol-un arad-un keblel-ün küriy-e, 1981), 95–101. Schon de Jong, „Review,“ 182, diskutiert das mögliche Abfassungsdatum ausführlich. Lan Wu, Refuge, 157, schlägt die Jahre zwischen 1734 und 1746 als mögliches Abfassungsdatum vor, WangToutain, „Circulation,“ 82, wiederum spricht sich für 1735 aus. Neben Heissig, Blockdrucke, 91, und ders., Familien- und Kirchengeschichtsschreibung, 194, sprechen sich auch Sun Lin und Chos Phel (zitiert nach Zhang, „Reorienting,“ 571, Anm. 19) für eine Abfassung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Allerdings wird der Autor selbst nach 1750 in keiner Quelle mehr erwähnt. Eine Passage des Kolophons kann auf zwei unterschiedliche Weisen gelesen werden. Gombojab sagt dort, er habe zur Abfassung des Werks „früher und später [verfasste Werke wie] die großen Annalen der chinesischen Herrschergeschlechter, die Biographien der ehrwürdigen Lamas, das Verzeichnis des Tripitaka“ (ma hā tsi na’i rgyal rabs kyi yig tshang gzhung chen mo/ bla chen rnam thar/ sde snod gsum gyi dkar chag snga phyi rnams las […], 264) herangezogen. Sh. Bira, Mongolian Historical Literature of the XVII–XIX Centuries written in Tibetan (Bloomington, Indiana: The Mongolia Society, 1970), 33, liest den Passus im Sinne einer allgemeinen Erwähnung chinesischer Quellen. Der Passus kann aber durchaus auch konkrete chinesische Werke bezeichnen: So kann sde snod gsum gyi dkar chag als tibetische Übersetzung von Zhi yuan lu („Katalog des chinesischen buddhistischen Kanons“) gelesen werden, und bla chen rnam thar als tibetische Übersetzung von Gao seng zhuan („Biographien der ehrwürdigen Mönche“), vgl. auch Zhang, „Reorienting,“ 572, Anm. 22. Lan Wu, Refuge, 158, liest die Angaben als konkrete Buchtitel, identifiziert sie jedoch nicht mit chinesischen Titeln und schliesst draus, das Gombojab eventuell gar keine chinesischen Werke herangezogen hat. Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 48: rgya mtsho’i gling pa gzhi pen. Mala, „Mahayanist Rewriting,“ 147–149, gibt eine ausführliche Inhaltsbeschreibung.

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Kapitel enthält eine kosmologische und physische Geographie Chinas sowie die Geschichte der kaiserlichen Genealogien bis zum Ende der Ming Dynastie (1644). Eröffnet wird es mit der Erzählung der Entstehung des Universums nach dem Kālacakra-Tantra, womit der Mahāyāna-buddhistische Rahmen abgesteckt ist. Das zweite Kapitel behandelt die Geschichte des Buddhismus in China anhand der Biographien seiner einzelnen Lehrhalter. Gombojab stützt sich hier wahrscheinlich auf das Gao seng zhuan, die „Biographiensammlung der ehrwürdigen Mönche“ aus dem Jahr 530.96 Das dritte Kapitel enthält einen deskriptiven Katalog von buddhistischen Texten, die entweder verfasst oder aber verbreitet wurden von den im vorherigen Kapitel genannten Lehrhaltern. Das Kapitel stellt tatsächlich die verkürzte tibetische Übersetzung des in der Yuan-Zeit zusammengestellten, vergleichenden Katalogs des tibetischen und chinesischen Tripitaka (Ch. Zhi yuan lu) dar,97 in dem die Unterschiede zwischen den beiden kanonischen Sammlungen herausgearbeitet worden waren.98 Im zweiten Kapitel behandelt Gombojab den Buddhismus in China. Schon frühere tibetische „Religionsgeschichten“ enthielten ein Kapitel über China, aber im Unterschied zu Gombojabs Werk beschäftigten sie sich nur mit der Geschichte des Buddhismus in China, während Gombojab der erste Autor ist, der auch andere Religionen Chinas beschreibt, namentlich den Konfuzianismus und den Daoismus, die er zusammen mit dem Buddhismus in chinesischer Tradition als die „drei Lehren“, sanjiao (Tib. bstan pa gsum), abhandelt. Dabei scheint er buddhistische und nicht-buddhistische Schulen unter dem hier komparatistisch gebrauchten Begriff chos lugs99 gleich zu behandeln, aber die nähere Lektüre zeigt, dass er die nicht-buddhistischen Lehren geschickt in den Mahāyāna-Buddhismus integriert, der das autoritative Referenz-Modell darstellt.100 So schreibt er die Geschichte Chinas und seiner Religionen buddhistisch um, indem er z. B. die chinesischen Kaiser zu buddhistischen Dharmarājas umdeutet.101 Die Religionen Chinas werden in diesem zweiten Kapitel im Kontext der buddhistischen Wissensordnungen abgehandelt. Gombojab beginnt das Kapitel mit einem kurzen Überblick über die großen und kleinen Wissensbereiche, die er als „höchste“ 96 Wenn wir das tibetische bla chen rnam thar als Übersetzung des chinesischen Werktitels verstehen (vgl. Anm. 95). Das Gao seng zhuan wurde von dem buddhistischen Mönch Huijiao (497–554) verfasst, siehe Erik Zürcher, „Buddhism and Education in Tang Times,“ in Buddhism in China: Collected Papers of Erik Zürcher, hg. von Jonathan A. Silk (Leiden/Boston: Brill, 2013), 300. 97 Vollständiger Titel: Zhi Yuan Fa Bao Kan Tong Zhong Lu („Revidierter allgemeiner Katalog des Dharma-Schatzes bis zu den Yuan“), s. Wang-Toutain, „Circulation,“ 55. 98 Mala, „Mahayanist Rewriting,“ 149. 99 Zum Begriff chos lugs s. Ulrike Roesler, „Die Lehre, der Weg und die namenlose Religion: Mögliche Äquivalente eines Religionsbegriffs in der tibetischen Kultur,“ in Religion in Asien?, 129–150. 100 Dies hat überzeugend Mala, „Mahayanist Rewriting,“ herausgearbeitet. 101 Mala, „Mahayanist Rewriting,“ 160–162, geht darauf ausführlich ein.

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(Tib. mchog) und „geringere“ (Tib. dman) bezeichnet. Das „höchste“ Wissen bezeichnet das „innere,“ buddhistische Wissen (Skt. lokottara), während das „niedere“ Wissen das weltliche Wissen (Skt. laukika), das Nichtbuddhisten und Buddhisten miteinander teilen, bezeichnet. Für die „konventionellen Wissensbereiche“ (Tib. tha snyad kyi rig byed) zählt er Sprache, Logik, Kunst(handwerk), Medizin, Poetik, Synonyme, Metrik, Dramaturgie, Astrologie, Geomantie und Divination auf.102 Unter die „inneren Wissensgebiete“ subsumiert er überraschenderweise Daoismus und Konfuzianismus und geht gesondert auf sie ein.103 Sie bilden zusammen mit dem Buddhismus, der „Lehre unseres eigenen Lehrers,“104 die „drei Lehren“ (Tib. bstan pa gsum). Gombojab bezieht sich hier auf die chinesische Taxonomie der sanjiao.105 Die bekannte chinesische Metapher der drei Systeme, „der Buddhismus ist wie die Sonne, der Daoismus wie der Mond, und der Konfuzianismus wie die Sterne“ versteht er allerdings nicht im Sinne einer Egalität der drei Lehren, sondern im Sinne einer Abstufung: So wie die Sonne am hellsten leuchtet, so ist der Buddhismus die hervorragendste der drei Lehren.106 Nach seiner Behandlung der „drei Lehren“ schiebt Gombojab noch eine kurze Beschreibung des Christentums ein, die er auf der Basis von einigen Schriften, die er, wie er sagt, selbst gesehen hatte, erstellt hat.107 Den gesamten Abschnitt 102 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 62: mchog dman gyi khog dbub gnyis su ‘dus pa las/ phyi ma ni sgra/ tshad/ bzo/ gso/ snyan dngags/ mngon brjod/ sdeb sbyor/ zlos gar/ skar rtsis/ sa dpyad/ mo phyva sogs tha snyad kyi rig byed rnams dang/. 103 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 62–63: snga ma ni nang rig par don gyis gtogs zer te/ bon ston lo´u kyun dang/ bzhu ston khong tsi‘i (bod dag gis mtshan tsam g‘yar ba kong tse zer ‘dug) brgyud pa ni ma chad cing grags pa la/. 104 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 63: bdag cag gi ston pa‘i bstan pa. 105 Joachim Gentz, „Die Drei Lehren (sanjiao) Chinas in Konflikt und Harmonie. Figuren und Strategien einer Debatte,“ in Religionen Nebeneinander. Modelle religiöser Vielfalt in Ost- und Südostasien, hg. von Edith Franke und Michael Pye (Münster-Hamburg-Berlin-Wien-London: Lit-Verlag, 2006), 17–40. 106 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 66–67. Mala, „Mahayanist Rewriting,“ 152–153, geht auf die chinesischen buddhistischen Quellen ein, die Gombojab für dieses Verständnis der drei Lehren wahrscheinlich heranzog. 107 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 67–68. Diese Passage wird ausführlich diskutiert in Michael J. Sweet, „Jesus the World Protector: Eighteenth-Century Gelugpa Historians View „Christianity“,“ Buddhist-Christian Studies 26 (2006): 173–178, besonders 174–175. Das katholische Christentum war zu Gombojabs Lebenszeit nicht nur in Peking vertreten, sondern auch in Lhasa, wo sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts neben den beiden Jesuiten Emmanuel Freyre und Ippolito Desideri eine Kapuzinermission etabliert hatte. Am 9. September 1741 erließ der tibetische Regent Pho lha nas ein Dekret, das den Kapuzinermönchen die Freiheit gewährte, ihre „Lehre der Wahrheit“ (Tib. bden pa’i chos) zu verkünden und zu praktizieren. Die christlichen Mönche werden in dem Dekret als „weisshäuptige Lamas“ (Tib. mgo dkar bla ma) bezeichnet. Die Begrifflichkeit des Dekrets sagt klar aus, dass die Kapuzinermönche demselben sozialen Feld wie die gelehrten buddhistischen Mönche, die Lamas, zugerechnet wurden. Dieses Dokument (wie

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beschließt er mit der Bemerkung: „Das Kapitel des allgemeinen Wissensbereichs“ (Tib. rig byed spyi skabs so).108 Anschließend folgt die sehr ausführliche Darstellung des Buddhismus in China.109 Gombojab behandelt also den Daoismus und Konfuzianismus sowie das Christentum in einem Unterkapitel seines zweiten Kapitels, das nur wenige Seiten umfasst und dem „allgemeinen Wissensbereich“ zugeordnet ist.110 Die von ihm vorgenommene Einteilung ist widersprüchlich: Zu Beginn des Kapitels bezieht er nichtbuddhistische Lehren in das „innere/höchste“ Wissen ein und behandelt sie im Kontext der „drei Lehren“ auf derselben epistemologischen Ebene. Am Ende seiner Ausführungen weist er diese jedoch dem „allgemeinen, weltlichen“ Wissensbereich zu. Damit greift er wieder auf die klassische Unterscheidung zwischen laukika und lokottara zurück. Das ist im Kontext der „fünf großen Wissensbereiche“ folgerichtig, steht jedoch im Widerspruch zu der von ihm zu Beginn des Kapitels gegebenen Kategorisierung. Mit dieser Abgrenzungsstrategie schreibt sich Gombojab in den buddhistischen Überlegenheitsdiskurs ein.111 Vielleicht reflektiert seine inkonsistente Vorgehensweise die kulturellen Umbrüche und das neue Wissen, dem Gombojab in Peking ausgesetzt war und das es in schon bekanntes Wissen einzuordnen galt. Wenn der Buddhismus unter weltliches Wissen subsumiert und damit auf der gleichen qualitativen Ebene wie andere Religionen behandelt wird, verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen beiden Bereichen subtil in Richtung des Weltlichen, und in der Tat wurde damals das genaue Gleichgewicht zwischen den beiden Sphären in den buddhistischen Wissenschaftskreisen des Qing-Reichs kontrovers diskutiert.112 Vor allem in Tibet betrachteten einige gelehrte Mönche die Ausbildung in den Rig gnas, den „Wissenschaften“, als Ablenkung von der reli-

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auch andere, z. B. ein Dekret des 7. Dalai Lamas aus demselben Jahr) gibt uns einen Einblick in die sozialen Praktiken jenseits der konzeptuellen Unterscheidungen, die zumeist im Zentrum des religionswissenschaftlichen Forschungsinteresses stehen. Das Dekret von Lhasa wird im Vatikan aufbewahrt und wurde von Luciano Petech 1953 ediert und in seinem Werk I missionari italiani nel Tibet e nel Nepal (Roma, 1953), IV, 209 ff., veröffentlicht. Peter Lindegger, Hrsg., Dokumente zur sog. „Christenverfolgung“ vom Mai 1742 in Lhasa. Päpstliche Sendschreiben an tibetische Herrscher, Erlasse zur Religionsfreiheit in Tbet von 1741, Berichte der Kapuziner Mission in Lhasa (Rikon: Tibet-Institut, o. J.), 8–10, hat das Dekret ins Deutsche übersetzt. Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 68. Sie wird eingeleitet durch den Satz: „Im Besonderen die Art und Weise, wie die kostbare Lehre des Jina entstanden ist“ (bye brag tu rgyal bstan rin po che byung tshul la/), Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 68. Der Begriff rig byed spyi ist ein Synonym zu ‘jig rten pa, „weltlich.“ Auf diesen hat schon Christoph Kleine: „Zur Universalität,“ 72, hingewiesen. Dominique Townsend, „Buddhism’s Worldly Other: Secular Subjects of Tibetan Learning,” Himalaya, the Journal of the Association for Nepal and Himalayan Studies 36/1 (2016): 130–144, 136ff. arbeitet diese Ambivalenz für das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert heraus.

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giösen Praxis; andere, Laien und Mönche gleichermaßen, hielten eine ausgewogene Ausbildung in den weltlichen Künsten und dem Dharma für unerlässlich, um durch kulturelle Verfeinerung ihre weltliche respektive religiöse Autorität zu stärken sowie religiöse Perfektion zu erreichen.113 Diese Debatte hatte wohl viel mit sektarischen Streitigkeiten und politischen Machtkämpfen zwischen verschiedenen tibetischbuddhistischen Schulen im Zuge der Zentralisierung der politisch-religiösen Macht in Tibet zu tun, ein Prozess, der im 17. Jahrhundert begann und sich bis weit in das 18. Jahrhundert erstreckte. Der Diskurs über das richtige Gleichgewicht zwischen weltlichem und transweltlichem Wissen kann daher als Reaktion auf die zunehmende religiöse Heterogenität und das aus ihr erwachsende Konfliktpotenzial verstanden werden. Gombojab verfolgt in seinem Werk aber auch Anliegen, die in keiner Weise mit „Religion“ zu tun haben, z. B. die Situierung der Mongolen als Volk in einem größeren innerasiatischen Kontext, und hier argumentiert er ausschließlich historisch-philologisch.114 Zum Nachweis der frühen Existenz der Mongolen als „Proto-Nation“ diskutiert er die so genannten Hor und Sog 115 und ihre Kriege gegen die Chinesen der Han-Dynastie während der Herrschaft von Han Wu-ti im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.116 Hor und Sog bezeichnen in diesem Kontext die Xiongnu, die einige bittere militärische Niederlagen gegen China einstecken mussten. Sie waren seiner Meinung nach Völkerschaften, die eine mongolische Sprache sprachen.117 Gombojab führt hier ein philologisches Argument für seine These an, dass die westlichen Türken und ihr Herrscher Ye hu kho han Mongolen gewesen seien.118 In seiner philologischen Argumentation zur Erklärung von Geschichte

113 Townsend, „Buddhism’s Worldly Other,“ 133–134. 114 Zu diesem Kapitel des rGya nag chos ‘byung s. auch Vladimir Uspensky, „Ancient History of the Mongols According to Gombojab, an Eighteenth Century Mongolian Historian,“ Rocznik Orientalistyczny 58(1) (2005): 236–241. 115 Zu hor s. Takao Moriyasu, „La nouvelle interprétation des mot hor et ho-yo-hor dans le manuscrit Pelliot Tibétain 1283,“ Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hung. Tomus XXXIV (1–3) (1980): 171–184, sowie Peter Kessler, Laufende Arbeiten zu einem Ethnohistorischen Atlas Tibets (EAT), Lieferung 41.1: Die historische Landschaft TEHOR (tre hor) unter besonderer Berücksichtigung der frühen Geschichte Südosttibets (Khams) (Rikon: Tibet-Institut, 1984), 15ff. Zu sog siehe Helmut Hoffmann, „The Tibetan Names of the Saka and the Sogdians,“ Asiatische Studien 25 (1971): 440–455. 116 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 36–37. 117 Dieses aus historischer Perspektive hoch umstrittene Argument erlebt zurzeit im politischen Diskurs der postsozialistischen Mongolei neue Aktualität. Es wird zur Konstruktion einer mehr als zweitausendjährigen mongolischen Reichsgründung herangezogen, s. Karénina Kollmar-Paulenz, „Rewriting the Mongolian Past: “new” master-narratives, scholarship and the state,“ In Horizons of Futures in Post-Utopian Mongolia, hg. von Ines Stolpe, Proceedings of the 2nd International Symposium of Mongolian Studies, June 2017 (im Druck). 118 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 32.

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nahm Gombojab in kreativer Weise die Überlegungen zeitgenössischer chinesischer Gelehrter auf, die die Bedeutung der Philologie für das Studium der chinesischen klassischen Philosophie betonten. So betrachtete der Gelehrte Dai Zhen (1723–1777) linguistische Analyse und historische Phonologie als einen neuen, textbasierten Ansatz, traditionelle philosophische Fragen zu erörtern.119 Gombojab wandte den textkritischen philologischen Ansatz auf die Geschichtsschreibung an. Sein Vorgehen lässt sich in die während der Qianlong-Zeit propagierte „evidenzbasierte Gelehrsamkeit“ (Ch. kaozheng)120 einordnen, die als eine Hinwendung zu faktenbasiertem Wissen und unparteiischer Beobachtung beschrieben werden kann. Diese Haltung zieht sich durch Gombojabs historiographisches Werk. Schon in den einleitenden Sätzen zum rGya nag chos ‘byung weist er darauf hin, dass der tibetische Name für „China“, Ma hā tsi na, sich aus ma hā, „groß“, und tsi na, der phonetischen Transkription des chinesischen tsin (Qin) zusammensetze.121 Darüber hinaus verbesserte er alte chinesische Transkriptionen von Khitan- und mongolischen Namen, die später bei der Neuherausgabe der Geschichte der chinesischen Dynastien von den Qing-Historikern berücksichtigt wurden.122 Gombojab „erfand“ auch eine Kombination der tibetischen Buchstaben pha und ha (hpha), um das chinesische f wiederzugeben, die er in seinem rGya nag chos ‘byung das erste Mal benutzte. Er begründete seine Verwendung dieser Buchstabenkombination wie folgt: „Obwohl es keine tibetische Regel ist, pha an ha zu binden, bringt ihre Kombination einen ähnlichen Laut hervor, daher musste ich es aus Notwendigkeit tun.“123 Gombojabs neue Buchstaben-Kreation setzte sich durch und ist heute im modernen Tibetischen weit verbreitet. Gombojab erweist sich im rGya nag chos ‘byung als loyaler Untertan des QingReichs. So erzählt er die Legende des Herrschersiegels der mongolischen YuanDynastie, dessen Ursprünge in die Periode der „Streitenden Reiche“ (475–221 v. Chr.) zurückgeführt werden.124 Das sogenannte „Jade-Siegel“ diente den Mandschus als Legitimation ihrer Herrschaft und materielle Affirmation ihres Himmelsmandats. So inszenierten sie sich als legitime Nachfolger nicht nur der mon119 Benjamin A. Elman, „Early Modern or Late Imperial? The Crisis of Classical Philology in Eighteenth-Century China,“ in World Philology, hg. von Sheldon Pollock, Benjamin A. Elman, und Ku-ming Kevin Chang (Cambridge, MA und London: Harvard University Press, 2015), 225–244, 230. 120 Sheldon Pollock, „Introduction,“ in Pollock, Elman, Chang, Hrsg., World Philology, 12. 121 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 3. Zhang, „Reorienting,“ 573–575, argumentiert überzeugend, dass dieses Argument viel dem kosmopolitischen Qing-Umfeld verdankt. 122 Uspensky, „Gombojab,“ 65. 123 Gombojab: rGya nag chos ´byung, 5: ha la pha btags pa ‘di bod lugs min kyang/ de gnyis sbrags na sgra de’i bzhin par thon pas dgos dbang gis byas. Vgl. auch Uspensky, „Gombojab,“ 65. 124 Gombojab, rGya nag chos ‘byung, 52–54. Vladimir Uspensky, „Legenda ob imperatorskoj pechati mongol’skoj dinastii Juan’,“ Mongolica XV (2015): 45–47, hat die Passage ins Russische übersetzt.

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golischen Yuan-Dynastie, sondern auch der vorhergehenden chinesischen Dynastien.125 Für die mongolische Selbstwahrnehmung seit dem 17. Jahrhundert spielte das Jadesiegel eine wichtige Rolle, da über das Siegel eine direkte Verbindung zwischen der glorreichen Vergangenheit des mongolischen Weltreichs und dem herrschenden Qing-Reich hergestellt wurde. Das Medium zur Aushandlung dieses Selbstverständnisses war die mongolische Geschichtsschreibung, die die Legende ins kulturelle Gedächtnis der Mongolen einschrieb.126 In den mongolischen Regionen wurde über die Geschichtsschreibung Loyalität gegenüber dem QingReich hergestellt. Autoren wie Gombojab, die in tibetischer Sprache schrieben, transportierten das von den Qing-Herrschern entworfene Bild einer historischen Kontinuität ihrer politischen Autorität und Macht bis nach Zentraltibet hinein und trugen so auch dort zur Sicherung ihrer Herrschaft bei. Nach seinem Erscheinen erregte das rGya nag chos ‘byung Aufsehen in den buddhistischen Gelehrtenzirkeln des Reichs, und manche Aspekte wurden kontrovers diskutiert. So schickte der Kah thog rig ‘dzin Tshe dbang nor bu (1698–1755) einen Brief an Gombojab aus Lhasa nach Peking mit insgesamt dreizehn kritischen Fragen, unter anderem nach dem Geburtsort des Buddha.127 Tshe dbang nor bu berief sich in seiner Argumentation auf von ihm angeführte Quellenwerke und bat Gombojab, auch seine Quellen offenzulegen.128 3.2

Das medizinisch-pharmakologische Œuvre

Ein Schwerpunkt von Gombojabs Tätigkeit lag in der materia medica, zu der er drei kleinere Werke publizierte. Wahrscheinlich im Jahr 1734 verfasste er eine Liste von 352 Heilmitteln in tibetischer und chinesischer Sprache, Eldeb em-ün garčag 129 / sMan sna tshogs kyi ming chad, „Liste verschiedener Heilmittel“, die in

125 Zur Historizität des Siegels siehe Michael Weiers, „Die historische Dimension des Jadesiegels zur Zeit des Mandschuherrschers Hongtaiji,“ Zentralasiatische Studien 24 (1994): 119–145, und ders., „Die politische Dimension des Jadesiegels zur Zeit des Mandschuherrschers Hongtaiji,“ Zentralasiatische Studien 30 (2000): 103–124. 126 Vgl. auch Johan Elverskog, Our Great Qing. The Mongols, Buddhism and the State in Late Imperial China (Honolulu: University of Hawai’I Press, 2006), 30–31. 127 rGya nag tu gung mgon po skyabs la dri ba mdzad pa, in Selected Writings of Kah-thog Rig-‘dzin Tshe-dbang-nor-bu (Kargyud Sungrab Nyamso Khang, Darjeeling, 1973), 1, 723–732. Siehe auch Lokesh Chandra, Materials for a History of Tibetan Literature (New Delhi: International Academy of Indian Culture, 1963), Part 2, 32–40. 128 Vgl. hierzu auch Lan Wu, Refuge, 161–162. 129 Heissig, Blockdrucke, 89, schreibt „ǰakid (?)“ anstelle von em-ün. Das Wort ǰakid ist mir unbekannt. Der Titel findet sich ebenso in dem Blockdruck aus der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen, siehe Walther Heissig, assisted by Charles Bawden, Catalogue of Mongol Books, Manuscripts and Xylographs (Copenhagen: The Royal Library, 1971), 190, Mong. 68, und in einem Pekinger Block-

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Pekings Apotheken zur damaligen Zeit vorhanden waren. Sein Zielpublikum waren mongolische Kunden, daher fügte er die mongolische Aussprache der chinesischen Begriffe an. Gombojab schrieb dieses kleine Werk (es umfasst nur zehn Folios) in seiner Eigenschaft als Leiter der Tangutischen Schule, „der Bestimmung eingedenk, dass die Apotheken über das so viel und so groß Verlangte hinaus für den Käufer durch betrügerischen Gewinn keinen großen Schaden verursachen.“130 Die Bemerkung wirft ein Licht auf das Verhalten, das chinesische Händler gegenüber Mongolen, die Peking besuchten, um sich mit verschiedenen Gütern einzudecken, an den Tag legten, und zeigt, dass die Regierung versuchte, die Käufer vor betrügerischen Machenschaften zu schützen. Das Werk enthält nach einem kurzen, tibetisch-mongolischen Vorwort eine Liste von insgesamt 352 (statt 340, wie im Kolophon genannt) Arzneien, die in acht Rubriken aufgeteilt sind.131 Hier folgt Gombojab im Großen und Ganzen dem kanonischen tibetischen medizinischen Text, dem rGyud bzhi, und auch dem Vaidurya sngon po,132 dem berühmten „Blauen Beryll“ des Regenten Sangs rgyas rgya mtsho, jedoch passt er seine Materia medica an die spezifischen botanischen Gegebenheiten der Mongolei an. So lässt er die „Heilmittel aus Getreide“, die in vielen mongolischen Regionen nur im Fernhandel zu beziehen waren und entsprechend teuer gewesen sein dürften, weg. Ein weiteres medizinisch-pharmakologisches Werk trägt den Titel Eldeb čiqula keregtü angqan-u debter („Erstes Buch von Verschiedenem, Wichtigem und

druck, der im British Museum aufbewahrt wird, siehe Walther Heissig, „Katalog der mongolischen Blockdrucke im British Museum,“ in Hartmut Walravens, Hrsg., Aus dem Nachlass von Walther Heissig (1913–2005). Briefwechsel mit György Kara, Herbert Franke, György Hazai und Alice Sárközi sowie aus den Anfängen der Altaistenkonferenz (PIAC) Katalog mongolischer Blockdrucke in London (Norderstedt: Eigenverlag, 2019, 200, Mon 111 (185–200)). Hingegen enthält das in der Bibliothek der Staatlichen Universität von St. Petersburg aufbewahrte Manuskript den Titel Eldeb em-ün garčag, siehe Vladimir Uspensky, Catalogue of the Mongolian Manuscripts and Xylographs in the St. Petersburg State University Library. Compiled by Vladimir Uspensky with assistance from Osamu Inoue. Edited and Foreword by Tatsuo Nakami (Tokyo: Institute for the Study of Languages and Cultures of Asia and Africa, 1999), 455, Nos. 878, 879. 130 Heissig, Blockdrucke, 90. Mongolischer Text: …qudalduju abuɣčid ber. Em-ün buuci ali yeke ali olan-ača abulɣa qaɣur-daqu gem yeke ülü bolqu, zitiert nach Heissig, Blockdrucke, 90, Anm. 2. 131 Nach Heissig, Blockdrucke, 90: (1) kostbare Heilmittel (erdeni em), (2) Heilmittel aus Steinen (čilaɣun em), (3) Heilmittel aus Erde (sirui-yin em), (4) Heilmittel aus Holz (modun em), (5) aus Flüssigkeiten (simen em), (6) aus der Steppe (tala-yin em), (7) Grasheilmittel (ebesün em), (8) aus den Körpern von Lebewesen gewonnene [Heilmittel] (amitan-u beye-eče ɣaruɣsan anu). Zur Systematik der tibetischen Pharmakologie s. Alessandro Boesi, „Plant categories and types in Tibetan materia medica,“ The Tibet Journal 30/31, No. 4/1 Contributions to the study of Tibetan medicine (2005–2006): 65–90. 132 Dieses wichtige Werk der tibetischen Medizingeschichte liegt inzwischen in englischer Übersetzung vor: Desi Sangyé Gyatso, Mirror of Beryl. A Historical Introduction to Tibetan Medicine. Translated by Gavin Kilty (Boston: Wisdom Publications, 2010).

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Notwendigem“).133 Es ist eine Kompilation „der aus dem Sanskrit, Tibetischen, Chinesischen und Türkischen (qotong) gekommenen Arzneimittel“ (enedkeg töbed kitad qotong-ača. Esilejü iregsen em dom eteger…). Das Werk von insgesamt 34 Folios Umfang beginnt mit einer Anrufung des Medizinbuddhas (Mo. Otači burqan), bevor dann verschiedene Medikamente und Krankheitsnamen aufgelistet werden. Diese sind meistens mit tibetischer oder chinesischer Interlinearversion versehen, was dem Brauch der Tangutischen Schule entsprach. Das dritte, sehr kurze (acht Folios) medizinisch-pharmakologische Werk trägt den Titel Doloɣan erdenin mökölig, „Pille aus sieben kostbaren [Essenzen]“.134 Es behandelt die Verwendung verschiedener Absude zu Heilzwecken. Diese medizinisch-pharmakologischen Handbücher, die Nachschlagewerke für praktizierende Ärzte sowie Einkaufshilfen für mongolische Kunden auf lokalen chinesischen Märkten waren, dienten rein empirischen Zwecken. Sie sind jedoch stets in einen buddhistischen Deutungshorizont eingegliedert, was z. B. durch die Anrufung des Medizinbuddhas deutlich wird. Weltliche Belange positionieren sich im tibetisch-mongolischen Kontext des 18. Jahrhunderts nicht gegen religiöse, buddhistische, sondern werden in einen religiösen Deutungskontext eingebettet. 3.3

Das linguistische Œuvre

Ein weiterer Schwerpunkt von Gombojabs Publikationstätigkeit lag auf der Linguistik. Sein wohl bedeutendstes linguistisches Werk ist das zweisprachige, tibetischmongolische Wörterbuch Bod kyi brda yig rtogs par sla ba/ Töbed üge kilbar surqu bičig, „Wörterbuch des Tibetischen, ‘leicht zu verstehen‘“.135 Gombojab und seine Mitautoren136 verfassten es in Versen, damit Studenten es leichter auswendig lernen konnten. In diesem zweisprachigen Wörterbuch findet man im 3. Supplement auch das erste Mal den Begriff rgya ser/ oros = „Russland“ in einem zeitgenössischen tibetisch-mongolischen Wörterbuch.137 Sein Erbe lebt in dem Wörterbuch des polnischen Mongolisten Josef Kowalewski (1800–1878) fort. Er verwendete das von Gombojab verfasste Wörterbuch für sein Dictionnaire mongol-russe-français aus 133 Heissig, Blockdrucke, 90, Nr. 103; Heissig und Bawden, Catalogue, 192, Mong. 294, Mong. 21; Uspensky, Catalogue, 454, No. 877; Heissig, „Katalog,“ 185, Mon 2. 134 Uspensky, Catalogue, 455, No. 877; s. auch Uspensky, „Gombojab,“ 66. Heissig, Blockdrucke, 90, Nr. 103, behandelt die beiden Werke als eines, da sie meistens als ein Buch aufbewahrt wurden. Sie haben jedoch eine je eigene Seitennummerierung. 135 Uspensky, Catalogue, 421–422, # 822. Ich benutze den Blockdruck der Sammlung Ernst, Bod kyi brda yig rtogs par sla ba/ Töbed-ün kelen-i kilbar-iyar surqu neretü bičig, Nr. ET 224. 136 Unter ihnen auch der schon erwähnte bsTan ‘dzin chos dar, der vielleicht mit dem im Kolophon des Γangɣ-a-yin urusqal erwähnten Güüsi Dangjin identisch ist, s. Anm. 87. Vgl. Heissig, Blockdrucke, 74. 137 Uspensky, „Gombojab,“ 65; Uspensky, Catalogue, 421–22 # 822