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German Pages 332 [334] Year 2019
Janine Firges Gradation als ästhetische Denkform des 18. Jahrhunderts
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Christiane Witthöft
96 (330)
De Gruyter
Gradation als ästhetische Denkform des 18. Jahrhunderts Figuren der Steigerung, Minderung und des Crescendo von
Janine Firges
De Gruyter
Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Geringfügig überarbeitete Version der Dissertation angenommen an der Universität Konstanz, Referentinnen: Prof.in Dr. Juliane Vogel, Prof.in Dr. Cornelia Zumbusch, Tag der mündlichen Prüfung: 21. Juli 2016
ISBN 978-3-11-059645-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060296-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060356-9 ISSN 0946-9419 Library of Congress Control Number 2018959699 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen www.degruyter.com
Joseph Franz von Goetz: Versuch einer zalreichen Folge leidenschaftlicher Entwürfe für empfindsame Kunst- und Schauspiel-Freunde, 1783.
Meiner Mutter Renate aus Liebe zur Musik, meinem Vater Jean aus Liebe zur Literatur gewidmet
Dank Rückblickend mag eine Promotion wie eine Steigerungsgeschichte wirken. Stufe für Stufe arbeitet man sich in kleinen Schritten immer weiter vor, bis ganz am obersten Grad die Klimax – das entstandene Buch – erreicht ist. Aber so, wie eine Dissertation auch immer Hoch- und Tiefphasen hat, sich Widersprüche auftun und Skepsis gegenüber der eigenen These ein wichtiges und konstitutives Element darstellt, so lässt sich auch der Prozess der Dissertation bei genauem Hinsehen nicht immer als sukzessiv ansteigend beschreiben. In denjenigen Momenten, in welchen es während meiner Arbeit an dynamischen Übergängen mangelte, gab es aber immer Menschen, die mir halfen, die entstandenen Lücken und Brüche zu bewältigen und zwar in unterschiedlichsten Arbeits- und Lebensbereichen, wofür ich unglaublich dankbar bin. Zunächst sei meine Betreuerin Juliane Vogel genannt, der ich für ihre zahlreichen klugen Anregungen, ihre gedankliche Beweglichkeit und Kreativität, sowie ihre Zuversicht, dass die Arbeit gelingt, zu großem Dank verpflichtet bin. Cornelia Zumbusch hat mir als Zweitgutachterin wichtige Impulse gegeben; Rudolph Schlögl nahm mich freundlicherweise in seine interdisziplinäre Forschungsgruppe auf und ergänzte meine Lesarten durch den Blickwinkel der Historiker*innen; durch Jan und Aleida Assmann wurde ich stets inspiriert und gefördert; Matthias Schöning hat mir wichtige Grundlagen mitgegeben. Unter den vielen Menschen, die mit mir über meine Dissertation diskutiert und mich unterstützt haben, sei meine „akademische Kraulgruppe“ – Torsten Leine, Sarah Seidel und Julia Timm, sowie Martin Morth und Ursula Kummer – besonders hervorgehoben. Ebenso danke ich den Mitgliedern der Forschungsstelle „Signaturen der Frühen Neuzeit“ für die Möglichkeit, meine neu entstandenen Kapitel vorstellen zu dürfen, wichtige Anregungen und freundschaftliche Unterstützung zu erhalten, vor allem durch Anna-Lisa Bauer und Sandro Liniger. Jacob Stierle danke ich für die ablenkenden Kaffeepausen, die nichts mit meiner Dissertation zu tun hatten. Simone Warta hat die Arbeit umsichtig und flink lektoriert und mit eigenen Gedanken bereichert. Neben vielen großartigen engen Freundinnen und Freunden, die mich motiviert und bestärkt haben, gilt ein großer Dank meiner Familie, besonders meinem Bruder Pascal, der die Endfassung der Arbeit gelesen, kommentiert und schließlich abgesegnet hat. Ohne meine lieben Eltern Jean und Renate hätte ich niemals den Weg eingeschlagen, den ich eingeschlagen habe, weshalb ihnen diese Arbeit gewidmet ist. Schließlich möchte ich Jan danken, er weiß, warum.
Inhaltsverzeichnis Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX I Prolog: Gradation als Denkform – Naturlehre und Ästhetik . . . . . 1 1.1 Die Welt in Graden: Verfeinerung, Verzeitlichung, Verdichtung . . . . 7 1.2 Gradation als Denkform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II Transformationen der Gradatio: Rhetorik, Affektwandel, Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1 Transformationen im rhetorischen System: Von der Wiederholungszur „Affekt“-Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.1 Gradatio als Steigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.2 Transformationen der Gradatio I: Der Wandel zur ‚Affekt-Rhetorik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2 Transformation der Passionen: Zergliederung, Vermannigfaltigung, Gradation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.1 Passionsbegriffe: passiv/produktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2 Destruktion der Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.3 Der Ausschluss der Plötzlichkeit: Leibniz’ „loi de la continuité“ . 50 2.4 Innerlichkeit: Das sinnliche Passionswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.5 Transformationen der Gradatio II: Gradation als emotionale Beschreibungsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3 Operationen der Verbindung – die Entfaltung ästhetischer Kräfte . . . 63 3.1 ‚Kontinuum des Schönen‘ und das Wissen infinitesimaler Empfindungen (Diderot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.2 Sprachmisstrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.3 „Verbindungs=kunst“: Versinnlichung, Verlebendigung und ‚freies Spiel‘ (Lessing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.4 Überwindung des Mittelbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.5 Fließende Körperzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.6 Gesten en Action (J.-G. Noverre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.7 Transformationen der Gradatio III: Emotional-ästhetische Figur und Denkform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
XII Inhaltsverzeichnis III Gradatio der Schauspielkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1 Schauspielkunst 1750–1800 I: Die Ausrichtung der Bühne . . . . . . . . . 99 1.1 Räume des chiaroscuro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1.2 Klangräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1.3 Intensitätsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2 Schauspielkunst 1750–1800 II: Die Ausrichtung des Schauspielerkörpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2.1 „… heavens, what a transition!“: Gradation der Körperzeichen . . 123 2.2 Gesetze der Allmählichkeit, Stetigkeit und Kontinuität (J. J. Engel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2.3 Sprechen/Singen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3 Gradationale Einrichtung des dramatischen Texts . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.1 Verknüpfungstechniken: Liaison und Dé-nouement im Drama . . . . 145 3.2 Les gradations de l’amour: Allmählich wachsende Liebe (Marivaux, Gellert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.3 „Langsame Martern“: Motivische Gradation in Lessings Miss Sara Sampson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3.4 „Verhungerung“: Tod im Zeichen der Verminderung (Gerstenberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.5 Kontrast oder Gradatio? Diskrepanzen zwischen Theorie, Text und Bühne (Schiller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.6 Transformationen der Gradatio IV: Von der ‚Affekt‘- zur Effektfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
IV Crescendo-Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1 Entendement, tönende Empfindung und ‚Wohl-laut‘ . . . . . . . . . . . . . . . 200 1.1 Die Wirkungen des Sonalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1.2 „Musikalische Poesie“: Die Verbindung von Wort und Musik . . . 209 2 Das Crescendo – Musikalische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2.1 Musik und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2.2 Musik und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2.3 Das musikalische „Ausdrucksprinzip“ (C. P. E. Bach) . . . . . . . . . 229 2.4 Die Gradatio als musikalische Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2.5 Gradatio – Crescendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2.6 Die Crescendo-Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2.7 Crescendo-Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3 Melodramatische ‚Mischspiele‘: Resultate einer Crescendo-Kultur . . . . . 251 3.1 Die ‚Urszene‘: Rousseaus Erweckung der Statue ‚par degrés‘ . . . . 254 3.2 Das Melodrama: „Handlung, Werden und Reifen irgend einer wichtigen That“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3.3 „Krescendo der Leidenschaft“: Ariadnes Überflutung – Medeas Berauschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Inhaltsverzeichnis
XIII
3.4 Kritik der ‚Mischspiele‘ und Goethes „Antimelodram“ Proserpina . 276 3.5 Transformationen der Gradatio V: Transgression im Crescendo . . . 283
V Epilog: Don Crescendo. Karikaturen einer ‚Erfolgsfigur‘ des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Literatur- und Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1.2 Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 1.3 Enzyklopädien und Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 1.4 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 1.5 Quellen aus dem Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 1.6 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1.1 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1.2 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
I Prolog: Gradation als Denkform – Naturlehre und Ästhetik „Il y a de la gradation dans tout.“1 – Die Gradation ist in allem. Das behauptet der Artikel „Continuité“ in Diderots und D’Alemberts Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des arts et des métiers (1752–1780). Die Idee einer sich steigernden Verlaufsform durchzieht die gesamte Natur: Es gibt keine geraden Winkel, Krümmungen oder plötzliche Kehrtwenden, sondern alle Veränderung vollzieht sich in fortschreitender Zu- und Abnahme, heißt es im Artikel weiter.2 Die Einrichtung der Natur unterliegt damit in ihrem Grundsatz Vorstellungen von Kontinuität sowie steter Steigerung und Minderung. Der Begriff „Gradation“, wie er in der Encyclopédie verwendet wird, bezieht sich auf eine Ordnungsfigur der Naturlehre und zugleich auf eine kosmologisch-metaphysische Idee, die sich bis zu Plotin und Aristoteles zurückverfolgen lässt: Es ist die Vorstellung des Zusammenhangs aller Wesen, die traditionell in Form einer Stufenleiter (scala naturae) oder Kette (‚große Kette der Wesen‘) dargestellt wurde. Dabei ist die Idee einer Leiter, die sich in einzelne Glieder oder Stufen (lat. gradus = Stufe, Schritt) von dem niedrigsten bis zum höchsten Lebewesen nach oben hin unterteilt, das gängige System der Natur und ihrer Lebewesen, das erst allmählich im 18. Jahrhundert durch Gedanken der Epigenesis und Evolution eine Ablösung oder vielmehr Umdeutung erfährt.3 Im Essay on Man (1734) stellt Alexander Pope diese Vorstellung einer gradationalen4 Einrichtung der Welt wie folgt dar: 1 2 3
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Edme-François Mallet: Art. „Continuité“ (1752), in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 3: Ch-Co, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1966, 116a–117a; hier: 116b. „Il n’y a point d’angles proprement dits dans la nature, point d’inflexions ni de rebroussemens subits“, ebd. Wie Arthur O. Lovejoy in seiner immer noch wichtigen Studie zur Great Chain of Being (1933) gezeigt hat, ist der Gedanke der Stufenleiter und Wesenskette seit der Antike bis weit ins 18. Jahrhundert nie ganz verloren gegangen, lediglich die Fragestellungen und Einrichtung der Vorstellung haben sich verändert oder wurden unterschiedlich interpretiert. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 32015. Die adjektivische und adverbiale Verwendung des Gradationsbegriffs in dieser Arbeit führe ich auf das englische Wort gradational (= abgestuft, stufenweise bzw. stufenweise fortschreitend) zurück. Die sich ausdifferenzierenden transformierten Formen von Gradation, wie ich sie in dieser Arbeit darstelle, verstehen sich dabei mitinbegriffen.
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I Prolog See, through this air, this ocean, and this earth, All matter quick, and bursting into birth. Above, how high, progressive life may go! wide! how deep extend below? which from God began, Natures ethereal, human, angel, man, Beast, bird, fish, insect, what no eye can see, No glass can reach; from Infinite to thee, From thee to nothing. On superior powers Were we to press, inferior might on ours: Or in the full creation leave a void, Where, one step broken, the great scale’s destroyed: From Nature’s chain whatever link you strike, Tenth or ten thousandth, breaks the chain alike. And, if each system in gradation roll Alike essential to the amazing whole, The least confusion but in one, not all That system only, but the whole must fall.5
In der poetischen Darstellung der Stufenleiter oder Kette, wie sie Pope in seinem Lehrgedicht aufzeigt, drückt sich die Idee des Infiniten aus, die Vorstellung unendlicher Weiten, die sich nach oben und unten erstrecken.6 Alle Stufen oder Glieder sind bis auf die letzte Lücke ausgefüllt mit den hierarchisch angeordneten Wesen, es herrscht das „Prinzip der Fülle“7, das zugleich für eine Kontinuität zwischen den einzelnen Stufen sorgt, da eine Stufe an die andere unmittelbar angrenzt, ohne dass dabei eine Lücke entsteht. Denn in der Natur herrscht der Grundsatz natura non facit saltus: Die Natur macht keine Sprünge. Gleichzeitig bewirkt diese Vorstellung aber auch den horror vacui, die Angst, es könne sich doch irgendwo ein Leerraum auftun – eine Furcht „[to] leave a void“. Sobald nämlich eine Sprosse der Leiter zerstört würde oder nur ein Glied der Kette fehlte, würde das System in sich zusammenfallen: „[W]here one step broken, the great scale’s destroyed“ umschreibt Pope die Gefahr des Einsturzes der Stufenleiter. Innerhalb dieses 5
Alexander Pope: Essay on Man, hg. M. Pattison, Oxford: Clarendon Press 61881, 35 (First Epistle, VIII). Hier wie in der gesamten Arbeit wird die Orthographie der Originalquelle beibehalten. Lediglich bei missverständlichen Schreibweisen wurden als solche markierte Ergänzungen angebracht. Hervorhebungen sind in der gesamten Arbeit, wenn nicht anders angegeben, im Original. 6 Lovejoy hat gezeigt, wie diese Vorstellung von Unendlichkeit bereits auf eine erste zentrale Transformation der Einrichtung in der Natur verweist: Der Gedanke der physikalischen Ausdehnung der Schöpfung und die Idee einer „pluralité des mondes“, wie sie Fontenelle in seinen gleichnamigen Entretiens (1686) erläutert, deuten auf eine zunehmende Erweiterung in der räumlichen Vorstellung des Menschen hin, die im geozentrischen Weltbild so nicht denkbar war. Lovejoy, Die große Kette, 167; 161. Vgl. ebd., 123 ff. 7
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Grundbaus der Natur ist der Mensch nur auf einer Stufe unter zahlreichen anderen angesiedelt – sein Platz ist metaphysisch verbürgt. Die Ordnungsidee der Natur erweist sich als ein statisches Modell, das Gott so vorbestimmt hat. Alles, was sich in der Natur befindet, existiert mit voller Berechtigung an genau dieser Stelle, wie Pope mehrmals emphatisch in der Tradition englischer Optimisten kommentiert: „Whatever IS, is RIGHT“8.
Abb. 1: Die scala naturae in: Charles Bonnet, Œuvres d’histoire naturelle et de la philosophie, Bd. 4, 1781, 1.
Die Vorstellung der hierarchischen stufenweisen Anordnung allen Lebens in der Natur hält sich im bildlichen Arsenal noch weit bis ins 18. Jahrhundert, wie der Kupferstich in Charles Bonnets Ausgabe seiner Œuvres d’histoire naturelle et de la philosophie aus dem Jahr 1781 veranschaulicht (Abb. 1). Dies ist insofern bemerkenswert, als sie nicht länger auf die Beschreibungsweise zu passen scheint. Es entsteht eine gewisse Diskrepanz zwischen der bildlichen Darstellung und der inhaltlichen Repräsentation der Natur, wenn Bonnet schreibt: „Telle est la nature de la gradation qui est entre les Etres, qu’ils ne different souvent les uns des autres que par de légeres nuances“9. In dieser Beschreibung der Natur ist nicht länger von klar voneinander abzugrenzende Stufen oder Sprossen einer Leiter die Rede. Vielmehr sind die diskreten Stufen in nuancierte, feine Grade zergliedert. Durch diese Vermannigfachung
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Pope, Essay on Man, 36. Charles Bonnet: Œuvres d’histoire naturelle et de philosophie, Bd. 4/1, Neuchatel: Samuel Fauche 1781, 91, Hervorh. J. F.
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wurden sie zu einer fließenden Gradationsfigur verbunden10 – die Stufenleiter hat sich anscheinend transformiert: Sie folgt nun den Gesetzen eines alles durchdringenden Gradualismus. Ein weiterer Aspekt in Bonnets Schrift ist auffällig: Mehrmals spricht er von einer „admirable gradation“11 oder einer „gradation merveilleuse“12, „qui est entre toutes les productions de la Nature“13. Wenn er die Gradation als admirable und merveilleuse beschreibt, verweist Bonnet zugleich auf ästhetische Prämissen seiner Zeit. Denn umgekehrt gilt in den Künsten dasjenige als wunderbar14 und schön, das ‚natürlich‘ veranlagt ist. Dies bedeutet für die Produkte der Kunst, sich den vorherrschenden Strukturen der Natur anzunähern und diese zu inkorporieren: „Quelle est donc la fonction des Arts?“, fragt Charles Batteux in seiner einflussreichen Schrift Les beaux arts réduit à un même principe (1746). „C’est de transporter les traits qui sont dans la Nature, & de les présenter dans des objets à qui ils ne sont point naturels.“15 Somit müssen diejenigen Gegenstände eine ästhetische Bearbeitung erfahren, denen das Prinzip der ‚Natürlichkeit‘ fehlt; sie müssen den veränderten Anforderungen der Naturdarstellung angepasst werden. Der Gedanke, dass die Gradation, als vorherrschendes Strukturprinzip und Systematik der Dinge in der Natur, zugleich als maßgebliches Prinzip für die Herstellung ästhetischer Gegenstände dient, stellt die Grundlage für den weiteren Argumentationsverlauf der vorliegenden Arbeit dar. Dieser Ausgangslage folgend, lässt sich auch die Leitthese dieser Arbeit formulieren: Wenn die Gradations-Idee maßgebliche Transformationen erfährt, wie anhand von Bonnets Beispiel bereits angedeutet, müssen auch bezüglich der Herstellung und Bearbeitung ästhetischer Gegenstände entsprechende Transformationen nachzuvollziehen sein. Der Wandel der Gradations-Idee in unterschiedlichen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts wird so zum zentralen Gegenstand dieser Untersuchung, sowie in einem nächsten Schritt die Frage danach, wie der transformierte Gradations-Gedanke auf die vorherrschenden Diskurse Einfluss nimmt, sie strukturiert und wie er innerhalb dieser Diskurse operiert. Dass diese drei Operationen – Zergliederung, Vermannigfaltigung und Gradation – signifikante Operationen der gradationalen Denkform darstellen, wird im Laufe dieser Studie immer wieder zu bemerken sein. 11 Bonnet, Œuvres d’histoire naturelle, XVI; 355. 12 Ebd., 136. 13 Ebd., 112. 14 Der Begriff des „Wunderbaren“ oder merveilleux evoziert im 18. Jahrhundert unmittelbar ästhetische Implikationen, insofern er im Bereich der Imagination angesiedelt wurde und hier verstanden wurde „als das ‚Aufsuchen des Möglichen, des Denk- und Vorstellbaren‘“. Laurenz Lütteken: Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen: Niemeyer 1998, 123. Vgl. auch Kap. IV.2 dieser Arbeit. 15 Charles Batteux: Les Beaux Arts réduits à un même principe, Paris: Durand 21747, 13. 10
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Eine zentrale Figur, mit deren Schriften dieser Wandel zu verzeichnen ist, ist Gottfried Wilhelm Leibniz.16 Es ist deshalb kein Zufall, dass Gottfried Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn in ihrem gemeinsam konzipierten, anonym publizierten Aufsatz Pope ein Metaphysiker! (1755) dem Dichter Pope in Bezug auf sein Lehrgedicht An Essay on Man zwar seine poetischen Fähigkeiten attestieren – Popes Idee eines starren Stufensystems, das vorbestimmt und deshalb unveränderlich ist, wird hingegen stark kritisiert. Es wird von den Autoren durch das System von Leibniz ersetzt, das sich durch Kausalität, kontinuierliche Progression und Veränderlichkeit auszeichnet.17 Ebenso wird im eingangs zitierten Artikel der Encyclopédie zur „Continuité“ Leibniz als derjenige erwähnt, der das „loi de la continuité“ vermittelt habe: „[C]’est un principe que nous devons à M. Leibnitz, & qui nous enseigne que rien ne se fait par saut dans la nature.“18 Das zum allgemeinen Gesetz erhobene Kontinuitätsmodell, welches hier präsentiert wird, hat insofern seit Aristoteles eine Aktualisierung erfahren, als es nicht länger primär räumlich gedacht ist.19 Vielmehr lässt sich eine sukzessive Verzeitlichung20 innerhalb des Prinzips ausmachen – denn die Natur ist keine Freundin von Wieder-
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Hier könnte man mit Niklas Luhmann von dem „zentralen Moment[ ] der Sinngebung sprechen“, in dem mit Leibniz „Strukturverschiebungen“ der Semantik im gradationalen System erstmals auftreten. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, 50. Lessing und Mendelssohn kritisieren besonders vehement die Vorstellung Popes’, dass eine Lücke in der Stufenleiter das System zusammenstürzen lassen könnte und ersetzen sie durch eine dynamisierte Vorstellung des Zusammenhangs der Wesen. Sie kommentieren: „Leibnitz weis von keiner solchen Lücke, wie sie Pope annimmt […]. Leibnitz [behauptet] in einem weit strengeren Verstande als Pope, daß die mindeste Veränderung in der Welt einen Einfluß in das Ganze habe […]. Wenn also der kleinste Theil der Schöpfung anders, oder in einen andern Zustand versetzt wird, so muß sich diese Veränderung durch alle Wesen zeigen“. Anonym [Gottfried Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn]: Pope ein Metaphysiker! Danzig: Johann Christian Schuster 1755, 33 f. Mallet, Continuité, 116a. „Stetig ist das Angrenzende und Berührende. Ich spreche nämlich von stetig, wenn zwei Dinge eine und dieselbe Grenze haben, mit der sie sich berühren und zusammenhängen“, Aristoteles, Metaphysik, XI, 12, 1069a5–8, zit. n. Annette Diekmann: Klassifikation – System – ‚scala naturae‘. Das Ordnen der Objekte in Naturwissenschaft und Pharmazie zwischen 1700 und 1850, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesgesellschaft 1992, 61. Diese entsteht, da Kontinuität an die Idee der Veränderung gebunden ist, welche graduell eingerichtet ist, wie in Leibniz’ Monadologie zu lesen ist: „Je prends aussi pour accordé que tout être créé est sujêt au changement […] et même que ce changement est continuel dans chacune. […] [T]out changement naturel se faisant par degrés“, Gottfried Wilhelm Leibniz: „La monadologie/ Monadologie“, in: Monadologie und andere metaphysische Schriften […], hg., übers., Einl. U. J. Schneider, französisch-deutsch, Hamburg: Meiner 2002, 110–151; hier: 112 ff. „Changement“ wird an anderer Stelle auch gleichbedeutend mit „passage“ (116) gesetzt, was den Aspekt der Zeitlichkeit noch deutlicher hervorhebt. Vgl. zum Aspekt der Verzeitlichung auch Lovejoy, Die große Kette, v. a. Kap. VIII–IX.
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holungen: „[E]lle est ennemie des repetitions“21. Sie zeichnet sich durch nuancierte, allmählich fortschreitende Wandlungen aus: „[U]n être ne passe point d’un état dans un autre, sans passer par tous les différens états qu’on peut concevoir entr’eux […]. [T]out se prépare de loin aux changemens qu’il doit éprouver, & va par nuances à l’état qu’il doit subir.“22 Im Sinne dieses allmählichen Wandels wird auch die Gradation explizit als Prinzip des Kontinuitätsgesetzes angesehen, „la gradation […] exige la loi de continuité“23. Zur Veranschaulichung des sukzessiven Kontinuitätsmodells werden in der Encyclopédie Beispiele aus der Physik (Licht) und der Mathematik (Geometrie) herangezogen, aber auch alltägliche Situationen wie das Abschreiten eines Weges von einem Dorf zum nächsten, welches nicht ohne einen dazwischenliegenden Fußmarsch (also einer zeitlichen Verlaufsform) vollzogen werden könne. Im Anschluss wird das Prinzip auch auf die Belles-Lettres übertragen, einerseits im Drama als Prinzip der liaison des scènes24, andererseits als Bestandteil sämtlicher literarischer Werke, die eine „connexion entre toutes les parties d’un discours“25 forderten. Nicht allein die Natur ist also durch Kontinuität geprägt, die Struktur kontinuierlicher Übergänglichkeit überträgt sich vielmehr zugleich auf andere Beschreibungs- und Darstellungsmittel. Ein Übertrag der Textur der Natur auf die Textur der Sprache, wie er im Artikel der Encyclopédie dargestellt wird, ist bei Weitem kein Einzelfall, wie beispielsweise in einer Übersetzung von Condillacs Cours d’étude pour l’instruction du Prince de Parme (1775) zu sehen ist. Auf die Frage „Wie das Gewebe der Rede formirt wird“, lautet die Antwort: „In einer Rede müssen die Haupt=Ideen durch eine merkliche Gradation, und durch die Neben=Ideen, die man jeder beyfügt, unter einander verknüpft seyn“26. Gerade diese Übertragungsformen des Naturbilds auf verschiedene Darstellungsbereiche werden im Laufe dieser Arbeit immer wieder ins Zentrum rücken. Schließlich erfährt die so transformierte Idee der Gradation im Laufe des 18. Jahrhundert eine weitere semantische Anreicherung: die Idee der Steigerung. Denn in dem Moment, in welchem die Natur durchzogen wird von graduellen Kräften, in welchem „aller Zusammenhang der Kräfte und 21 22 23 24 25 26
Bernard le Bovier de Fontenelle: Entretiens sur la pluralité des mondes. Nouvelle edition, augmentée de pieces diverses, Paris: Michel Brunet 1724, 224 [verdruckt; 124]. Vgl. Lovejoy, Die große Kette, 161. Leibniz, Monadologie, 116a-b. Mallet, Continuité, 117a. Vgl. Kap. III.3 dieser Arbeit. Mallet, Continuité, 117a. Etienne Bonnot de Condillac: Herrn Abt Condillacs Unterricht aller Wissenschaften, aus dem Französischen übersetzt, Bd. 2, Bern: Typographische Gesellschaft 1777, 388. Dass an dieser Stelle auf die rhetorische Figur der Gradatio Bezug genommen wird, wird im nächsten Kapitel interessieren.
1.1 Die Welt in Graden: Verfeinerung, Verzeitlichung, Verdichtung
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Formen […] weder Rückgang noch Stillstand, sondern Fortschreitung“27 bedeutet, wird eine Idee gradationalen Wachstums beschrieben. „[A]lles strebt und rückt“, da sich die „Progression fortstrebender Kräfte“ in allen Bereichen der Natur bemerkbar macht.28 So sei auch „das ganze Kunstwerk des Gewächses […], Niedriges zu Höherem hinaufzubilden.“29 Der Mensch selbst besitze bei dem „Stufengang der Ausarbeitung“, die jedes Wesen durchläuft, die „größeste Mannigfaltigkeit von Neigungen und Anlagen“, und man könne das „Menschengeschlecht als de[n] große[n] Zusammenfluß niederer organischer Kräfte ansehen, die in ihm zur Bildung der Humanität kommen“30, so Herder in seiner Philosophie zur Geschichte der Menschheit (1784– 1791). Diese Vorstellung von progressiver, intensivierender Steigerung kann hingegen erst in dem Moment zum Tragen kommen, in welchem die Vorstellung der Stufenleiter die aufgezeigten Transformationen durchlaufen hat. Hier wird vielleicht besonders deutlich, welche tiefgreifenden Auswirkungen die Transformationen mit sich bringen und wie sich mit diesem veränderten Gradations-Gedanken neue Denkräume erschließen lassen. Zunächst aber ist zu klären, wie es zu einem solchen weitreichenden Wandel im Naturbild und seiner Beschreibung überhaupt kommen konnte. Denn „[b]egriffsgeschichtliche Bewegungen und Überschichtungen geschehen […] nur, weil hinter ihnen ein kognitives und emotionales Bedürfnis steckt, das auf eine innovative Rahmungs- und Strukturidee drängt.“31
1.1 Die Welt in Graden: Verfeinerung, Verzeitlichung, Verdichtung Bekanntermaßen ist das 18. Jahrhundert von zentralen Transformationen bestimmt. Ein in der Forschung in ganz unterschiedlichen Kontexten dargestellter Gegenstand ist der maßgebliche und umfassende Strukturwandel, den das 18. Jahrhundert generell erfährt.32 Das Staunen über die Natur, ihre Mannigfaltigkeit, Beweglichkeit und Veränderlichkeit wird allerorts thematisiert, wofür Arthur O. Lovejoy auch die Abwendung von einem bis dahin 27
Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. M. Bollacher, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989, 175 (Kap. 5.III). 28 Ebd., 176. 29 Ebd. 30 Ebd., 178 f. 31 Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2004, 141. 32 Vgl. hierzu grundlegend, sozusagen auf der Makroebene: Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 71980.
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herrschenden Anthropozentrismus geltend macht – „Wir sind nicht im Mittelpunkt, sondern im Gedränge“33 schreibt Herder. Die allmähliche Akzeptanz einer Welt, die nur eine unter vielen möglichen Welten darstellt und eines Menschen, der als eines unter vielen möglichen Wesen bestimmt wurde, verrückte auch den Blickwinkel auf die Natur in maßgeblicher Weise: „Erst nachdem die Erde ihr Monopol verloren hatte, begannen ihre Einwohner sich für den Ablauf der irdischen Dinge so richtig zu interessieren“34. Zugleich bewirkt diese metaphysische Vorstellung „sukzessive[r] Unendlichkeit“35, die eine Erweiterung des Kosmos zur Folge hatte, auch eine Erweiterung in der Denkweise bezüglich der Dinge in der Natur: Das Subjekt, das sich nunmehr in einem „Meer der Unermeßlichkeit“ befindet, wird zunehmend der „unsichtbaren Gesetze“ gewahr, die sowohl „den Erdstaub regieren“, als auch „die Sonnen und Sterne zusammenhält“.36 In der Beobachtung der Welt entsteht ein neuer Minimalismus und die Vorstellung einer Infinitesimalisierung der sich darin befindlichen Dinge. Nicht nur bringt dieser Wandel im Denken ein neues „Weltgefühl“37 mit sich, er beeinflusst auch in besonders hohem Maße die Beobachtbarkeit, Sichtbarmachung und Repräsentation der Dinge in der Natur und mündet letztlich in die Faust’sche Frage: „Wo fass’ ich dich unendliche Natur?“38 Zunehmend macht sich ein großes Bedürfnis bemerkbar, Sichtbares greifbar zu machen: Ein gewisser „Erfahrungsdruck“ durch den immens beschleunigten Wissenszuwachs befördert einen „Empirisierungszwang“39 und somit den Wunsch, die empirisch in der Natur beobachtete „sich wandelnde Verfasstheit ‚exakt’ zu umschreiben.“40 Alltägliche Erscheinungen wie Temperatur und Licht in ihrer nuancierten Übergänglichkeit zu erfassen, machen bei dieser ‚Vermessung der Welt’ den Anfang, gefolgt von komplexeren Verhältnissen wie Spannung oder Kraft.41 Für dieses Bedürfnis der Weltbeschreibung etabliert sich zunehmend die Einteilung in „Grade“, die in diesem Zuge selbst eine Transformation im Sinne einer Verfeinerung durchläuft.
33 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 26. 34 Lovejoy, Die große Kette, 174. 35 Ebd., 171. 36 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, 22–24. 37 Lovejoy, Die große Kette, 287. 38 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Urfaust, Faust I, Faust II, hg. E. Trunz, München: Beck 2007, 22, V. 455 (Nacht). 39 Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, 16 f. Lepenies setzt diesen Prozess jedoch später an (1830er Jahre), als dies beispielsweise Foucault tut (1775–1825). 40 Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 10. 41 Ebd., 8 f.
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„Eigentlich“, so beginnt der Artikel in Adelungs Grammatisch-Kritischem Wörterbuch (1811) sei ein Grad „ein Schritt, ingleichen die Staffel oder Stufe einer Treppe“42, eine Bedeutung, die jedoch im Hochdeutschen zu dieser Zeit bereits veraltet sei, wie es weiter heißt.43 Die Bezeichnung „Grad“ wurde im Wortsinn einer ‚Stufe‘ also nur in der älteren Sprache genutzt, durchgesetzt hat sich hingegen der figürliche (mathematische) und übertragene Gebrauch des Wortes. Dieser bezeichnete einerseits die genealogische Abstammung (im Sinne von Rangordnungen oder Verwandtschaftsgraden), andererseits etablierte er sich zunehmend als Maßbegriff der Kräftelehre. Dass den ‚modernen‘ Graden eingeschriebene Intensitätsdenken stellt somit eine semantische Anreicherung dar, die auf diese Weise erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert nachweisbar ist.44 Wenn seit dieser Zeit also von Graden gesprochen wird – das lässt sich auch auf das Französische degré und Englische degree übertragen – , so hat man es zumeist mit einem abstrakten Begriff zu tun, einem Maßbegriff für Eigenschaften, Zustände, Verhaltensweisen und sinnliche Empfindungen45, der seit dem 18. Jahrhundert Stärkegrade bezeichnet. Nicht zuletzt steht dies in engem Zusammenhang mit den Erkenntnissen in der Naturlehre seit dem 17. Jahrhundert: der Messung von Temperatur46, der Farbenlehre47, der Kräftelehre48, der Mathematik49, aber auch im Kontext okkulter Wissenschaften50. Dementsprechend konstatiert 42
Art. „Grad“, in: Johann Christoph Adelung, Dietrich W. Soltau, Franz X. Schönberger (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Wien: Bauer 1811, 768–769; hier: 768. 43 So würden lediglich „an einigen Orten, z. B. zu Mainz und Erfurt, die steinernen Treppen, welche nach den Domkirchen führen, noch die Grade“ genannt. (Ebd.) 44 Art. „Grad“, in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 8 (= Bd. 4, Abt. 1/5): Glibber-Gräzist, München: dtv 1999, 1660–1682; hier: 1663 ff.; 1668 ff. 45 „Seine Zärtlichkeit nimmt bereits nach dem Grade ab, nach welchem die meinige zunimmt“, wird als ein Beispiel bei Adelung angeführt. Adelung, Grad, 769. 46 Z. B. durch die Einführung der Newton-Skala um 1700. Vgl. auch Adelung, Grad, 769: „die Einschränkung der Beschaffenheit, ihrer innern Stärke nach, quantitas, qualitatis. Die Grade des Feuers, in der Chymie. Der Grad der Hitze, der Kälte, der Luftschwere.“ 47 Vgl. Pierre Bouguer: Essai d’optique sur la gradation de la lumiere, Paris: Claude Jombert 1729. Vgl. auch Kleinschmidt, 36; 47, der vor allem Beispiele des Mathematikers Johann Heinrich Lambert anführt. 48 „Es giebt eine Gradation der Kraft. Welch eine Leiter der Gradation von dem elektrischen Funken des Bernsteins, bis zum Bliz, der das Firmament zu entzweien scheint; von der Kraft des Dampfes, der ein Gefäß zersprengt, bis zum Erdeben, welches ganze Städte verschlingt!“ Friedrich Köppen: Darstellung des Wesens der Philosophie, Nürnberg: Steinische Buchhandlung 1810, 377. 49 Bspsw. die Anfänge der Differentialrechnung durch Pierre de Fermat (1628), sowie die daran anknüpfenden Erkenntnisse zur Infinitesimalrechnung durch Newton und Leibniz. Vgl. Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 9. 50 Vgl. Karl von E[c]kartshausen: Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaften und verdeckte Geheimnisse in der Natur, Brünn:
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Erich Kleinschmidt für das 18. Jahrhundert, dass sich „im Denken von Intensität(en) eine Dispositivität“ ausbildet, die als gemeinsame Schnittmenge innerhalb der einzelnen Wissenschaften „das Begriffskalkül einer gleitenden Energie- oder Kraftgröße“ etabliere, „die es erlaubt, mobile Steigerungs- und Abschwächungsprozesse zu beschreiben.“51 Der semantische Wandel innerhalb des Gradbegriffs führt so auch zu einer grundlegenden Umdeutung des Gradationsbegriffs, insofern hier Verfeinerung, Verzeitlichung und Verdichtung gleichermaßen beobachtbar werden. Die Stufenleiter ist nunmehr durch „ununterbrochene“52 und „unmerkliche“ („par degrés insensible“53) Stufen gekennzeichnet, die, miteinander verbunden, intensive graduelle Schwankungen und gleitende Verlaufsformen abbilden können.54 Es entsteht damit eine „bewegliche[ ] Ordnung“55, wie Goethe die Idee eines Systems poetisch umschrieben hat, die einer „Willkür starrer Taxonomien vom Typ Linnés“56 entgegensteht bzw. diese maßgeblich erweitern möchte. Statt differenzorientierten dichotomischen Einteilungen zeichnet
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Joh. Sylv. Siebler 1788, 34 ff.: „Es ist ein Fluidum in der Natur, das alles erhält; – ein Urstoff der Dinge, den die Alten materia prima, die Neuern le fluide universel nennen. Alles, was Körper ist, wird durch dieses Fluidum erhalten. – […] In ihr liegt die generische Kraft; sie ist Magnetismus und Elektrizität, Wärmestoff, Licht ec. […] Eingeschlossen in gröbern körperlichen Hüllen folgt sie der Stufenleiter der Dinge. Ihre Gradation auf der Körperwelt ist folgende: Licht, magnetisches Fluidum, Elektrizität, Wärmestoff, Feuer, Luft, Wasser, Erde.“ Diese Verflüssigung der Elemente ist ein Grund für eine ästhetische Ausrichtung am Fluiden, das in der Idee des „fließenden Übergangs“ auch anhand der Gradationsfigur beobachtbar wird und im Kontext des Pietismus zum Beschreibungsparameter wird. Vgl. August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen: Niemeyer 1968, v. a. 435 f. Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 10. „Es giebt eine ununterbrochene Gradation von jedem Maximum der lebenden Natur zu jeder ihrer einfachsten Gestalten.“ Gottfried Reinhold Treviranus: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte, Bd. 1, Göttingen: J. F. Röwer 1802, 447 f., das Kapitel trägt den Titel „Gradationen der lebenden Natur“ (446 ff.). Mallet, Continuité, 116b. Bei Adelung heißt es, dass zum Teil die Worte „Stufe“ und „Staffel“ gleichbedeutend mit „Grad“ eingesetzt werden können. Vgl. Adelung, Grad, 769. Zumeist bezeichnen diese Wörter allerdings eine weniger feingliedrige Einteilung, bei denen nahezu immer einer textsemantischen Verfeinerung durch Adjektive oder Adverbien bedarf, etwa „nuanciert“, „unmerklich“, „fein“, „unnennbar viel“, um sich der Semantik des ‚modernen’ Grads anzunähern. „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür/ Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung“ formuliert Goethe die Grundpolarität aus Entwicklung und Stetigkeit, Gestalt und Form im Hexametergedicht „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ“, in: Schriften zur Morphologie, hg. D. Kuhn, Abt. I, Bd. 24, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, 472–474; hier: 473. Eva Geulen: „Funktionen der Reihenbildung in Goethes Morphologie“, in: Thomas Glaser, Bettine Menke (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, Paderborn: Fink 2014, 209–222; hier: 210.
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sich die Natur nun durch „Übergänge, Vermischungen und mancherlei divergierende Formen“57 aus. Im Kontext der gradationalen Denkweise sind es deshalb insbesondere drei für den Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert signifikante Prozesse, die für diese Arbeit von Bedeutung sind und die von der Forschung bislang in Bezugnahme auf verschiedene Kontexte und mit unterschiedlicher Gewichtung behandelt wurden: Erstens der Prozess der Ausdifferenzierung und damit der Verfeinerung58, zweitens der Prozess der Verdichtung59 und drittens die Idee eines „Eindringens der Zeit“60, d. h. der Prozess der Verzeitlichung61 innerhalb unterschiedlicher Wissenssysteme und Denkformen. Alle drei Prozesse lassen sich anhand der Gradations-Idee gebündelt beobachten und verweisen damit auf einen Wandel, der sich insbesondere innerhalb des Naturbilds abzeichnet, schließlich aber auch auf andere Diskurse übertragbar wird: Es ist der Wandel des Naturbilds von einem diskret-statischen Konzept hin zu einer nuanciert-kontinuierlich-intensiv gedachten Struktur. Der GradationsIdee wird also ein verändertes semantisches Spektrum zuteil, das fortan die Leiter- und Stufensemantik zu überschreiben beginnt. Wenn im Laufe dieser Arbeit versucht wird, aufzuzeigen, wie diese Formen einer gradationalen Denkweise auch in die einzelnen Künste integriert und als ästhetisches Prinzip erhoben werden, so werden sich semantische Differenzen bemerkbar machen: Denn in den einzelnen Kunstformen scheinen mediale Unterschiede zu bestehen, die bewirken, dass Übergänge unterschiedlich gestaltet werden. So wird auffallen, dass visuelle Kunstformen, wie 57 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, 55. 58 Vgl. z. B. Michel Foucault: „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften“, in: Ders.: Die Hauptwerke, Nachw. A. Honneth u. M. Saar, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, 7–469; Luhmann, Liebe als Passion (hier im Sinne einer „Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen“, 50); Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, München: dtv 1996; zumindest für kurze Zeit stellt Honegger die Möglichkeit einer mannigfaltig-ausdifferenzierten Form des Geschlechterbilds fest (44), das sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts endgültig dichotomisch gliedert. 59 Vgl. z. B. Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, v. a. 31 f; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 22003; hier insbesondere im Kontext einer „Verschließung des Körpers“, 54 ff. 60 Vgl. Lovejoy, Die große Kette, 292 ff. 61 Vgl. z. B. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989; Ders.: „Fortschritt“, in: Otto Brunner (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart: Klett 31992, 351–423 (Koselleck zeigt, wie sich „das stets zu erwartende Ende der Weltzeit in eine offene Zukunft verwandelt“, 371); Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte; Lovejoy, Die große Kette der Wesen; Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008; in dieser Studie wird die „spezifische Verzeitlichung des Individuums“ (114) anhand des Konzepts der Generation und damit anhand eines Wandels im Geschichtsbild bzw. in dessen Beschreibung nachvollzogen.
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beispielsweise das Bühnenbild bei Jean-Georges Noverre, vor allem durch die Idee der Vermischung geprägt sind. In anderen Künsten steht die Gradation vor allem im Dienste der Intensivierung, der emotionalen oder sinnlichen Steigerung, etwa wie sie im Theaterpublikum des 18. Jahrhunderts durchlebt werden soll. Auch semantisch lässt sich diese Unterscheidung ablesen, wenn der resultierende Steigerungsprozess nicht in visuellen oder Lichtmetaphern, sondern in Metaphern der Wärme oder des Fluiden beschrieben wird. Beide strukturell und wirkungsästhetisch durchaus unterschiedlichen Prozesse werden bemerkenswerterweise unter demselben Begriff verhandelt, so dass davon ausgegangen werden muss, dass sich die Gradation im Sinne einer Denkform als extrem integrative und übergreifende Figur im 18. Jahrhundert etabliert. Zugleich sind diese semantischen Spektren und Metaphern in gewisser Weise entlarvend: Denn die Gradation impliziert zwar in ihrer nuancierten Stufenlogik einen regelhaften geordneten Anstieg, im selben Zuge vermischt oder nivelliert sie diese Stufen jedoch und bezeichnet einen diffusen unklaren Ablauf, der gerade durch diese Obskurität anziehend wird, weil er als Raum des Unsagbaren und der Latenz das Potential zur kreativen Gestaltung birgt.62
1.2 Gradation als Denkform Anhand der Denkform63 der Gradation, verstanden als eine diskursübergreifende und operative Beschreibungsgröße, soll in dieser Studie ein bedeutender Strukturwandel sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden, der sich 62 63
Vgl. Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 10. Dieser Begriff rekurriert zwar u. a. auf Lovejoys Studie und die Arbeit nimmt methodisch Anleihen am Grundgedanken der Ideengeschichte, indem versucht wird, zu den „gemeinsamen begrifflichen, begriffsähnlichen oder gefühlshaften Grundbestandteilen unter der Oberfläche scheinbarer Verschiedenheit vorzudringen“ (Die große Kette, 13) und den „immer wiederkehrenden bewegenden Kräfte[n], die geschichtlich wirksam gewordenen Gedanken und Begriffe“ (15), den „Elementarideen“ (26) eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Insbesondere die Bestrebungen der Cambridge School (John Pocock, Quentin Skinner) haben allerdings gezeigt, dass die Ideengeschichte Lovejoys „ergänzungsbedürftig“ ist und bleibt. (Thomas Tripold: Die Kontinuität romantischer Ideen. Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte, Bielefeld: transcript 2012, 20. Vgl. hier auch den Überblick der Kritik und Reformation der Ideengeschichte, v. a. 13–18). Deshalb wird sie in meiner Arbeit durch Elemente der Diskurstheorie und Diskursformation, der historischen Semantik und Kontextualisierung, aber auch durch ‚klassische‘ literaturwissenschaftliche Close Reading-Strategien methodisch ergänzt, um ein möglichst breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten und Reflexionspotential miteinzubeziehen. Dass die Studie einer „Elementaridee“ wie der Gradation, ganz wie es Lovejoy als Problem der Ideengeschichte generell aufgezeigt hat, ohnehin auch immer „Auswüchse und Übertreibungen“ (Lovejoy, Die große Kette, 33) sowie inter- und transdisziplinäre Missverständnisse produzieren kann,
1.2 Gradation als Denkform
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im Wesentlichen auf Prozesse der Verfeinerung, Verzeitlichung und Verdichtung zurückführen lässt. Als beharrliche, fortdauernde Ordnungsfigur und Knotenpunkt unterschiedlicher Diskurse bildet die Gradation ein Element, das jenseits epochaler Zäsuren Kontinuitäten stiftet, aber auch zeitspezifische Transformationen und Transgressionen sichtbar werden lässt. Die gradationale Denkform erweist sich als besonders ergiebiger Untersuchungsgegenstand, weil sie auf ganz unterschiedliche Kontexte insbesondere des 18. Jahrhunderts übertragbar ist, wie im Laufe dieser Arbeit gezeigt wird. Damit baut die Studie zwar auf einige in der Forschung gemachte Beobachtungen explizit auf, möchte aber neue Interrelationen stiften. Denn die Gradation avanciert im 18. Jahrhundert zu einer zentralen Ordnungsfigur, die, wie ihre Transformation innerhalb der Rhetorik impliziert (Kap. II.1), nicht nur dem schwankenden, bewegten Seelenleben eine Beschreibungsform liefert (Kap. II.2), sondern vor allem für den ästhetischen Diskurs eine prägende operative Rolle einnimmt (Kap. II.3). Schließlich wird sie innerhalb der Schauspielkunst (Kap. III) und der Musik (Kap. IV), Künste, die im 18. Jahrhundert für die Darstellung von graduellen Verläufen als besonders geeignete Repräsentationsmedien64 gehandelt werden, zum ästhetisch-performativen Darstellungsprinzip. Die vielseitigen Übertragungsformen von Gradation verlaufen dabei nicht ohne Wandlungen, Transformationen und Transgressionen der ursprünglichen Denkform ab. Als eine ‚Erfolgsfigur‘ des 18. Jahrhunderts, die dort ihren Einsatz findet, wo neu entstandene Beschreibungsformen und Selbstverständnisse auf Darstellungsprobleme stoßen, ist sie zugleich Symptom für und Ergebnis der Veränderungen diskursiver Konstrukte und Prämissen. Damit lässt die Gradation als Steigerungsfigur – so wie Figuren überhaupt – eine paradoxale Struktur erkennen: Einerseits wirken solche Figuren formstabilisierend. Sie „erlauben offenbar
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ist eine Gefahr, die im begrenzten zeitlichen (und finanziellen) Rahmen, den eine Dissertation bietet, wohl kaum zu vermeiden ist. Als Medium bezeichne ich in meiner Arbeit zunächst im ganz allgemeinen Sinne eine Vermittlungsinstanz, die für die Übermittlung von jedweden Zeichen einsteht. Albrecht Koschorke hat darauf hingewiesen, dass es beim Einsatz des Medienbegriffs zwar zentral ist, ein Medium in seiner Materialität zu bestimmen, wie es etwa Kittler getan hat (mediale Vermittlung im Sinne einer „Technik zum Speichern, Übertragen und Verarbeiten von Informationen“, Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, München: Fink 31995, 519), dabei allerdings die „Performativität des Zeichenverkehrs“, Aspekte der Kommunikation, des Inhalts, der „Bedeutungspotenz“ außer Acht gelassen werden. (Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 10 f.) Insofern im 18. Jahrhundert der mediale Austausch jedoch sehr stark durch eine diskursiv-sozial geformte Dimension bestimmt ist (und nicht einfach von einem „Apriori der Technik“ ausgegangen werden kann), folge ich Koschorke in dieser Erweiterung des Medienbegriffs im Sinne eines „Rückkopplungssystems“, das aussagt, dass eine notwendige Abhängigkeit zwischen Form („technische Medialität“) und Inhalt („Semiose“, „semantischen Kategorien“) besteht, die im medialen Austausch mitübertragen werden. (Ebd., 11)
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die Fixierung bestimmter Knotenpunkte, an denen sich Komponenten des Wissens, Sozialen und Medialen verdichten und in greifbarer Gestalt beobachtbar werden.“65 In dieser Fixierung können sie „epistemische[…] Funktionen“66 übernehmen und werden lesbar. Andererseits drückt sich in der figura etwas „Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes aus“67, eine dynamische, prozesshafte und unabgeschlossene Seite: Sie bezeichnet eher „die Tätigkeit […] als das Ergebnis“68. In diesem Wechselspiel von Form und Formation, Figur und Figuration, wird im Folgenden sowohl die Denkform der Gradation sowie deren Überschreitung dargestellt. Die Crescendo-Dynamik, selbst eine ‚Erfindung‘ des 18. Jahrhunderts, kann als diejenige Form angesehen werden, die die semantischen Überschüsse, die die Gradation zunehmend produziert, in neuer Figur aufnimmt (Kap. IV.2), ihre gradationalen Wurzeln jedoch weiterträgt – in verfeinerter, verzeitlichter, verdichteter und verlauteter Form. Das Thema „Gradation“ wurde in der Forschungsliteratur lediglich hin und wieder als peripherer Untersuchungsgegenstand thematisiert,69 eine umfassende Untersuchung in den hier aufgezeigten Interrelationen unterschiedlicher Diskurse blieb bislang aus. Während man häufiger die Gradation als
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Joel B. Lande, Robert Suter: „Einleitung“, in: Dies., Rudolf Schlögl, (Hg.): Dynamische Figuren. Gestalten der Zeit im Barock, Freiburg: Rombach 2013, 9–25; hier: 9. 66 Ebd. 67 Erich Auerbach: „Figura“, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern/München: Francke 1967, 55–92; hier: 55. 68 Ebd. 69 Neben Lovejoy am Eindringlichsten in der für mich sehr bereichernden und lesenswerten Studie von Erich Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität (v. a. 24–28), der ich viele grundlegende Ideen verdanke. Im Gegensatz zu vielen anderen Untersuchungen werden hier auch wichtige Bezüge zu anderen Diskursen (Ästhetik, Philosophie, Literatur) hergestellt. Allerdings bezeichnet Kleinschmidt die Gradation lediglich als Ausdruck eines „Ordnungsdenken[s]“, die sich nach seiner Einschätzung ihrer Herkunft nach vor allem durch „diskrete Schrittigkeit und hierarchische Strukturierung“ auszeichnet und „weniger das dann für die Intensität leitende Moment gleitender Stärkegrade“ (ebd., 26) in sich trägt – eine Aussage, die im Laufe dieser Arbeit widerlegt werden kann. Auch schreibt Kleinschmidt, dass die Gradation „ursprünglich auf den rhetorischen Bereich beschränkt[…]“ (24) sei und spart damit ihre Herkunft aus der Naturlehre größtenteils aus. Diese Widersprüche zu meiner Arbeit sollen jedoch die spannenden und inspirierenden Überlegungen und die Leistung der hervorragenden Studie Kleinschmidts nicht schmälern. Durch die Beschäftigung mit dem Begriff der Intensität – einem „Denkmodell der Gradierung“ (15) – ergeben sich selbstredend zahlreiche Parallelen und Querverbindungen, die jedoch hier nicht immer im Einzelnen nachvollzogen werden. Allein durch meine Zentrierung auf die Transformation der Gradationsfigur und den dramatischen und musikalischen Fokus, setzen die Untersuchungen insgesamt unterschiedliche Schwerpunkte und behandeln tendenziell verschiedene Zeiträume.
1.2 Gradation als Denkform
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Beschreibungsparameter in der Sekundärliteratur antrifft,70 so wird in keiner mir bekannten Studie ihre Omnipräsenz in den unterschiedlichen Diskursen in ihrem vollen Ausmaß erkannt – insbesondere der Zusammenhang von rhetorisch(-musikalischer) Gradatio und dem Crescendo wurde meines Wissens noch in keiner Weise erforscht.71 Wenn die Gradation behandelt wurde, dann in der Regel im Kontext einzelner Diskurse.72 Der Aufgabe, diese Forschungslücke zu schließen, will ich in dieser Studie nachkommen, insbesondere deshalb, weil die Gradation offensichtlich für eine erstaunlich lange Zeit als Denkform und Ordnungsfigur die Denkweisen in unterschiedlichen europäischen Ländern (in dieser Studie: Deutschland, England, Frankreich, Italien) auf vielfältige Weise bestimmte und in hohem Maße auch auf unser heutiges Selbstverständnis Einfluss genommen hat.73 Es ist kaum möglich, alle hier behandelten Bereiche mit angemessener Aufmerksamkeit zu bedenken, ohne dabei auf bereits existierende Forschung zurück70 71
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Z. B. bei Ulrich Porth: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755–1888), München: Fink 2005, 74–76; hier z. T. auch in der Umschreibung eines Crescendo (96; 142; 221), jedoch ohne weiterführende diskursive Verbindungen. Michael Mann spricht in seiner Studie, die sich stark an einer Studie Peter Michelsens orientiert (Der Bruch mit der Vaterwelt. Studien zu Schillers ‚Räubern‘, Heidelberg: Winter 1979), von einer dramatischen „‚Crescendo’- Technik“ in Schillers Schauspiel Kabale und Liebe, jedoch ohne Bezüge zur Gradation herzustellen. Michael Mann: Sturm- und DrangDrama. Studien und Vorstudien zu Schillers ‚Räubern’, Bern/München: Francke 1974, 7. Mann scheint dabei die zentralen Aussagen Michelsens (stillschweigend) übernommen zu haben. An dieser Stelle sei außerdem auf denjenigen Aufsatz verwiesen, durch den mein Projekt angeregt wurde und der Bezüge zwischen Schillers früher dramatischer Arbeit und der Opernpraxis am Hof Carl Eugens in Stuttgart und Ludwigsburg herstellt: Juliane Vogel: „Autodafé über Natur und Dichtkunst. Der junge Schiller und die Oper“, in: Schiller und Ludwigsburg. Eine kulturgeschichtliche Annäherung, hg. Stadt Ludwigsburg (Red. E. Eichberger), Ludwigsburg: Hackenberg 2010, 92–110. Er sei hier stellvertretend angeführt für zahlreiche weitere im Verlauf der Arbeit zitierte Studien und durch Juliane Vogel angeregte Ideen und Literaturhinweise. Bezogen auf die Literatur hat Michel Delon die „Idée de gradation chez Crébillon“ untersucht (in: Jean Sgard [Hg.]: Songe, illusion, égarement dans les romans de Crébillon, Grenoble: ILLUG 1996 [1997], 105–118) und kann in seinem erhellenden Aufsatz die Relevanz der Gradation als ‚Seelenbeschreibungsfigur‘ plausibel darlegen, doch auch er zeigt keinerlei interdiskursive Beziehungen oder Kontexte auf. Vor allem Dietrich Bartel hat sich im Kontext rhetorisch-musikalischer Figuren mit der Gradatio befasst in: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber: Laaber 1985. Jeanne Fahnestock hat außerdem in ihrer Studie Rhetorical Figures in Science die Figuren Incrementum und Gradatio auf naturwissenschaftliche Forschungen übertragen, z. B. erkennt sie parallele Strukturen der rhetorischen Gradatio und mathematischer Serialisierung im 17. Jahrhundert (Dies.: Rhetorical Figures in Science, Oxford: Oxford UP 1999, 93). Insgesamt erfolgt dieser Übertrag jedoch recht unsystematisch und verweist lediglich auf vereinzelte Beziehungen zwischen Gradation, Naturlehre und Wissenschaft. Vor allem kann diese „Langzeitwirkung“ gradationaler Denkweise anhand des Wandels hin zu einem „Gefühlsmenschen“ beobachtet werden, wie ich in Kap. II.3 dieser Arbeit darstelle. Vgl. außerdem Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 143–145.
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I Prolog
zugreifen. Die wichtigsten Studien, die für diese Arbeit inspirierend und maßgeblich waren, werden jedoch hier nicht einzeln aufgelistet, sondern im Verlauf der Studie eingebracht. Die so dargelegte Forschung liefert zugleich einen Überblick über die meiner Ansicht nach wichtigsten aktuellen Studien zum Thema ‚Gradation als Denkform‘, selbst wenn sie die Thematik nur implizit behandeln oder sie insofern vorbereiten, als sie Kontexte erschließen. Trotz des Versuchs einer übergreifenden Untersuchung können im Rahmen dieser Studie bei weitem nicht alle Diskurse abgehandelt werden, in denen die Gradation als Denkform eine Rolle spielt. So könnte man die Transformationen der Gradations-Idee auch anhand der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts veranschaulichen, die ein neues Geschichtsbild einleitet74 oder anhand gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse, indem man den Wandel funktionaler zu stratifikatorischer Ordnung im Sinne eines „glissando“ der Gesellschaft beschreiben könnte,75 also mit Norbert Elias einer „Verringerung der Kontraste in der Gesellschaft“76, oder auch bezogen auf Verfeinerungsprozesse im juristischen Diskurs.77 Man könnte auch den Übergang der scala naturae hin zur Evolution stärker in den Blick rücken, oder den medialen Neuerungen weiter nachgehen, beispielsweise der Entstehung der ersten Graphen, die in den gleichen Zeitraum fällt, oder die Logik der „Differentiale“ im Monetarsystem, die auf die „Tendenzen des Anwachsens und des Abnehmens“ verweisen.78 Obwohl die Arbeit am Ende also einige Bezüge offen lassen muss und zahlreiche Kontexte ausspart, so bietet sie vielleicht an anderem Ort Anlass dazu, diesen ausgelassenen Bezügen weiter nachzugehen. Die zentralen Bereiche, die diese Arbeit behandelt, erstrecken sich hingegen, ausgehend von der hier dargestellten Gradations-Idee in der Naturlehre, vor allem auf diejenigen Bereiche, die sich mit den sprachlichen und künstlerischen Darstellungsproblemen befassen, die der Wandel im Naturbild, der Gesellschaft und des „Weltgefühls“ mit sich brachte. Ein zentraler Fokus liegt dabei auf den Beschreibungsformen der Dinge, die weniger Vgl. hierzu vor allem die Studien Kosellecks, Vergangene Zukunft, sowie sein Artikel „Fortschritt“ in den Geschichtlichen Grundbegriffen. 75 Diese Umschreibung verwendete Albrecht Koschorke in einer Sitzung im Fachbereichskolloquium bezüglich der Vorstellung meines Projekts im WS 2013/14. 76 Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, 344. 77 So findet der Gradationsbegriff im Strafdiskurs Anwendung, wenn es darum geht, die Angemessenheit der Strafen oder die Strafzumessungsgründe zu bestimmen. Von einer „Gradation der Strafen“ spricht beispielsweise Johann Nepomuk Borst: Versuch einer neuen, reinrechtlichen Darstellung des Strafrechts und der Strafbarkeit, als Probe einer neuen rechtlichen Darstellung des Völkerrechts, Nürnberg: Friedrich Campe 1811, 11. 78 Foucault, Ordnung der Dinge, 242. 74
1.2 Gradation als Denkform
17
sprachhistorisch, sondern vor allem historisch-anthropologisch verstanden werden möchten, im Sinne einer kontextuellen, textuellen und begrifflichen Einbettung in das jeweilige zeitgenössische Verständnis und damit im Sinne einer historischen Semantik.79 Gerade anhand solcher semantischen Verschiebungen oder der allmählichen Ausbildung neuer Semantiken und damit kultureller Selbstverständlichkeiten lassen sich die Transformationen der Gradations-Idee besonders anschaulich darstellen. Denn ein Grund, weshalb so lange an dem Bild der Stufenleiter festgehalten und auch lange noch von differenzorientierten Stufen (statt ‚modernen’ Graden) gesprochen wurde, liegt darin, dass eine geeignete, nämlich ausdifferenzierte Semantik zunächst fehlte. Dabei ist gerade für das 18. Jahrhundert charakteristisch, „mit seiner intellektuell überschießenden Kraft, neue Begriffspotentiale zu beobachten und einzuführen“80. An die Behandlung zeitgenössischer Selbstbeschreibung anknüpfend erscheint noch ein weiterer Aspekt bemerkenswert, der zeigt, weshalb die Gradation auch als durchaus inspirierender Untersuchungsgegenstand betrachtet werden kann. Er betrifft die kulturell und diskursiv geprägten Denkstrukturen des Menschen als solche und dreht sich um die Frage der grundsätzlichen Repräsentation der Dinge, der Erfahrungen und Eindrücke. Wenn vermittels der Gradation die Beschreibung und Darstellung gleitender Prozesshaftigkeit in den Vordergrund rückt, wie im Laufe dieser Arbeit zu zeigen sein wird, so stellt dies ein Alternativmodell zu den für den Menschen gerade seit der Aufklärung typischen strukturierenden Denkweisen dar: Jenseits dichotomischer oder taxonomischer fixierter Strukturen wird hier ein Modell des Strömens, der Vermannigfaltigung, der Unabgeschlossenheit und Beweglichkeit suggeriert. In diesem Kontext erscheinen Formulierungen in den Titeln im Sinne tentativer „Versuche“, „Beiträge“, „Ideen“ und „Fragmente“ oder das explizite Markieren von Alternativen (z. B. Herders „Auch“ eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit [1774]81) sowie die zahlreichen Briefwechsel unter Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Philosophie und Literatur nicht mehr nur als rhetorische Bescheidenheitsfloskeln, sondern transportieren und vollziehen die Idee transitorischer Wissensproduktion und ‑akquise. Für eine gewisse Zeit scheint diese Idee
79 Vgl. Koselleck, Vergangene Zeiten, 13. 80 Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 8. 81 Vgl. die Vorrede in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in der Herder auf dieses „Auch“ Bezug nimmt. Er kommentiert, dass es „neben so vielen gebahnten Wegen, die man immer und immer betrat, auch auf einen kleinen Fußsteg wiese, den man zur Seite liegen ließ und der doch auch vielleicht eines Ideengangs wert wäre.“ Herder, Ideen zur Philososphie der Geschichte, 11.
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I Prolog
gleitenden Wissens einen omnipräsenten Optativ zu bilden. Man kann dies in den Worten Herders umschreiben, als einen Versuch, „die atmosphärische Natur abstrakter Begriffe“82 einzufangen und abzubilden. Diese Idee größerer denkerischer Offenheit, Flexibilität und – modern gesprochen – diversity, steht einem mentalen Kategorisierungszwang entgegen und wirkt auch heute noch für die menschliche Denkweise instruktiv.83
82
83
Johann Gottfried Herder: „Kritische Wälder oder die Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste [=Viertes Wäldchen]“, in: Ders.: Werke, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. G. E. Grimm, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, 247–442; hier: 96. Dieses Plädoyer wurde durch Kleinschmidts Studie (Entdeckung der Intensität, 7; 13; 141ff) angeregt.
II Transformationen der Gradatio: Rhetorik, Affektwandel, Ästhetik „Vom Stein zum Krystall, vom Krystall zu den Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier von diesen zum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen“1. Mit diesen Worten leitet Herder das fünfte Buch seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ein, das zugleich eine Zusammenfassung der ersten Bücher bildet. Die Gestaltung des Satzes folgt dabei nicht nur sinnbildlich der Stufenleiter der Wesen, sondern wird zugleich sprachlich in Form der rhetorischen Gradatio abgebildet. Damit verweist die Passage auf den doppelten Einsatzbereich des Gradationsbegriffs, der neben seiner Bedeutung innerhalb der Naturlehre, wie sie im Prolog dieser Arbeit dargestellt wurde, eine weitere Verwendung findet: In der Rhetorik stellt die Gradatio eine wichtige Stilfigur dar, die als Mittel der Wiederholung und Steigerung genutzt wird.2 Als distinkte Figur ist sie seit der Rhetorica ad Herennium (1. Jh. v. Chr.) in sämtlichen Katalogen und rhetorischen Werken zu finden.3 Nach heutiger Definition wird an ihrer Stelle zumeist der griechische Begriff Klimax verwendet, im Sinne einer Figur in der „der Autor die Gedanken nach ihrer Wichtigkeit an[ordnet], vom geringsten zum wichtigsten“4. Die Bedeutung der sukzessiven und intensivierenden Zunahme wohnte der rhetorischen Figur jedoch nicht immer inne, sondern verweist auf eine semantische und funktionale Verschiebung, die im Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert zu beobachten ist und somit erste Parallelen zur 1 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, 166. Das Kapitel trägt die Überschrift: „In der Schöpfung unsrer Erde herrscht eine Reihe aufsteigender Formen und Kräfte“. 2 Man muss bei der vielfältigen Verwendung des Wortes in Natur- und Sprachlehre von einer Polysemie des Gradationsbegriffs ausgehen, insofern sich die Mehrdeutigkeit des Begriffs auf eine Kernbedeutung – die Idee der stufenweisen Anordnung – zurückführen lässt. 3 Vgl. Fahnestock, Rhetorical Figures in Science, 93. 4 Winifred B. Horner: Rhetoric in the Classical Tradition, Oxford: Clarendon Press 1988, 313, zit. n. J. T. Kirby, C. Poster: Art. „Klimax“, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4: Hu-K, Tübingen: Niemeyer 1998, 1106–1115; hier: 1114. Eine weitere gängige Definition ist zu finden bei Ueding/Steinbrink, bei denen die Klimax als „steigernde Reihung synonymer Wörter oder gleicher Satzglieder“ bezeichnet wird (Gert Ueding, Bernd Steinbrink [Hg.]: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, Stuttgart: Metzler 52011, 303). Auffällig an beiden Definitionen ist, dass sie sich auf zwei unterschiedliche Aspekte der Figur beziehen, nämlich auf eine syntaktische Funktion der Klimax und eine semantische Funktion.
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II Transformationen der Gradatio
veränderten gradationalen Denkform in der Naturlehre erkennen lässt. In dieser Zeit lässt sich zudem eine Konjunktur des Begriffs „Gradation“ feststellen: Der Terminus ist nach Auskunft des Grimm’schen Wörterbuchs zwar bereits im 16. Jahrhundert im deutschen Sprachraum belegbar, aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sprachläufig.5 Auffällig ist, dass abgesehen von einer vermehrten Nutzung auch eine zunehmende Ausweitung des Gradationsbegriffs auf andere Diskurse zu verzeichnen ist. Neben einer Genealogie der rhetorischen Figur soll im Folgenden nachvollzogen werden, inwiefern die Veränderung innerhalb der Semantik der Gradatio als Indiz für eine Transformation des vorherrschenden rhetorischen Systems gelten kann. Grundlegende Voraussetzung für diesen Wandel ist eine neue Konzeption von Emotion und ein maßgeblicher Umbau des Affekthaushalts, wie im Anschluss veranschaulicht wird: „Das Bild, das der Mensch vom Menschen hat, wird reicher an Schattierungen, es wird freier von momentanen Emotionen: es ‚psychologisiert‘ sich.“6 Das Einschreiben eines gradationalen Dispositivs in die rhetorischen und philosophischen Systeme kann hierbei als wesentliche Neuerung ausgemacht werden. Im Anschluss an die Rolle der Gradation als Denkform innerhalb derjenigen philosophischen Schriften, die sich mit Emotionen befassen, lässt sie sich auch auf andere (emotional grundierte) Diskurse übertragen, beispielsweise auf die im 18. Jahrhundert neu entstehende Wissenschaft der Ästhetik. Darin nimmt die Gradation eine operationale, aktive Funktion ein: In zahlreichen Texten erscheint sie damit als Ordnungsfigur, die eine systemische Wirksamkeit entfaltet.
5
Art. „Gradation“, in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 8 (= Bd. 4, Abt. 1/5): Glibber-Gräzist, München: dtv 1999, Sp. 1683–85; hier: 1683. 6 Elias, Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, 372.
1 Transformationen im rhetorischen System
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1 Transformationen im rhetorischen System: Von der Wiederholungs- zur „Affekt“-Figur Gradation, (Poésie) […] c’est ainsi que l’on doit présenter les passions, en peignant avec art leurs commencemens, leurs progrès, leur force, & leur étendue. Encyclopédie, 1757.7
Das in der Rhetorik eingesetzte Wort „Gradatio“ (griech. Klimax)8 wird, ganz wie die Denkform in der Naturlehre, von dem Wort gradus (lat. Stufe, Schritt) hergeleitet und bedeutet wörtlich ‚Leiter‘ oder ‚Treppe‘. Die Figur gehört zu den Emphasis-Figuren, deren Aufgabe das nachdrückliche Hervorheben ist. Man unterscheidet hier grundsätzlich zwei Typen, eine ‚antike‘ und eine ‚spätere‘ Form.9 Der ältere Typus des Stilmittels enthält nicht notwendigerweise eine Semantik des ‚Aufwärtssteigens‘, wie sie heute mit der Figur verbunden ist, sondern ist vor allem durch Wiederholung und Häufung oder Reihung gekennzeichnet. So beschreibt Johannes von Garlandia (ca. 1230) die Figur: „Eine Klimax erhält man, wenn man erst nach Wiederholung des letzten zum folgenden Wort hinabsteigt.“10 Bei dieser Leitermetapher geht es also nicht um die Richtung des ‚nach oben‘, was der allgemeinen Vorstellung einer Steigerung sinnbildlich entsprechen würde. Im Gegenteil: Häufig wird die Figur als „hinabsteigend“ beschrieben, was auch auf den Ursprung des griechischen Wortes, klino (χλίνω) zurückgeführt werden kann, das so7 8
9 10
Louis de Jaucourt: „Gradation“, in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 1: A-Az, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1966, 806–807; hier: 806b. Ich verwende hier hauptsächlich den lateinischen Begriff, zum einen, weil bei diesem gerade im 18. Jahrhundert eine Konjunktur zu verzeichnen ist (wogegen er heutzutage kaum noch geläufig ist, vgl. Art. „Gradation“, in: Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, 1683), zum anderen, weil auch das semantische Feld um die Gradation (gradieren, Grad) als diskursive Begriffskonstellation für meine Untersuchungen interessant sein wird. Vor allem aber beinhaltet der Begriff der gradatio in der Regel die Bedeutung des Vorgangs der Zu- wie der Abnahme gleichermaßen, während „Klimax“ teilweise nur den Höhepunkt bezeichnet und Abnahme i. d. R. unter dem Begriff der Anti-Klimax gefasst wird. Ich werde Beispiele aus dem Deutschen, Englischen und Französischen verwenden, da die Entwicklungen in den Ländern ähnlich verlaufen, wobei vor allem der später dargestellte semantische Wandel des Begriffs, der zunächst in den Naturwissenschaften Einzug hält, von England und Frankreich auszugehen scheint (Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 24). Der Fokus dieser Untersuchung bleibt dennoch auf den deutschen Sprachraum gerichtet. Die ‚spätere‘ Verwendung wird im Historischen Wörterbuch der Rhetorik zeitlich nicht näher bestimmt, was für die Argumentation dieser Studie allerdings auch unerheblich ist. Garlandia zit. n. Kirby/Poster, Klimax, 1107.
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II Transformationen der Gradatio
viel bedeutet wie ‚ich lehne mich an‘, ‚ich neige mich‘.11 Vielmehr soll durch das Bild der Leiter ein nachdrücklicher Vollzug des Gedankengangs evoziert werden, wie der spätantike Rhetoriker Tiberios (3./4. Jahrhundert n. Chr.) erläutert: „Der Name ist aber übertragen von denen, die die Leitern hinaufsteigen; wie nämlich für jene das Letzte zum Ersten wird beim Versetzen der Füße, so wird auch in dieser Figur das Letzte der vorgehenden Kola zum Beginn der nachfolgenden.“12 Man steigt die Leiter zwar nach oben, jedoch ohne die Semantik einer Steigerung zu bemühen. Schritt für Schritt, Stufe für Stufe oder Gedanke für Gedanke wird mit der Figur ein Gedankengang vollzogen, wobei die einzelnen Wörter klar voneinander abgesetzt sind und jedes für sich Gewicht beansprucht. Die Figur hat somit „insistierenden Charakter“ und kann auch als „fortschreitende Anadiplose“, also Figur der Wortwiederholung, beschrieben werden.13 Auch Quintilian zählt die Gradation zu den Wortfiguren der Hinzufügung und setzt sie letztlich synonym mit einer Wiederholung: „[S]ie wiederholt nämlich, was gesagt ist, und bevor sie zum Nächsten aufsteigt, verweilt sie beim Vorausgehenden.“14 Die zeitliche Komponente des „Verweilens“ scheint abermals von zentraler Bedeutung zu sein. Als Beispiel zitiert Quintilian unter anderem Homer: „‚Von Zeus gezeugt ist, geht die Sage, Tantalus, von Tantalus stammt Pelops, Pelops’ Sohn jedoch war Atreus, der dann weiter unsere Sippe führt.‘“15 Diese Aufzählung erinnert an eine weitere Metapher des älteren Gradatio-Typus, die Kette.16 Insofern diese Idee der Verkettung zyklisch verlaufend gedacht ist, 11 Bartel, Figurenlehre, 126. 12 Tiberios zit. n. Kirby/Poster, Klimax, 1107. 13 Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, München: Max Hueber 2 1982, 84. So liest man beispielswiese in Abraham Fraunce The Arcadian Rhetorike (1588) als Definition: „Anadiplosis, redoubling, or reduplication is when the same sound is repeated at the ende of the sentence goinge before, and in the beginning of the sentence following after“, was der Struktur („redoubling”, „reduplication”) der zeitgenössischen Beschreibung von Gradation gleichkommt. Fraunce zit. n. Alex Davis: „Revolution by Degrees: Philip Sidney and Gradatio”, in: Modern Philology 108/4 (2011), 488–506; hier: 491. 14 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher, hg. u. übers. H. Rahn, 2. Teil: VII-XII, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21988, 343. 15 Ebd. 16 In Homers Beispiel äußert sich diese Struktur auch semantisch im Sinne einer Generationenkette, an anderer Stelle wird die Verkettung vor allem syntaktisch definiert, z. B. bei Isidor von Sevilla (um 600): „Diese Figur heißt ‚Kette‘, da eines an das andere durch seinen Namen gleichsam geknüpft wird und mehrere Dinge durch Verdoppelung der Wörter herbeigeschleppt werden“, zit. n. Kirby/Poster, Klimax, 1110 f. In beiden Fällen ist die Übertragung der Idee aus der Naturlehre sehr deutlich, wenn die Denkform der ‚großen Kette der Wesen‘ als Ordnungsfigur der Sprache eingesetzt wird. Vgl. außerdem zu vermehrt im 16. Jahrhundert auftretenden politischen Implikationen der Kettenfigur, mit dem Effekt „to superimpose the themes of genealogy, authority, and literary relations in establishing a grid of tacit analogies”: Davis, Revolution by Degrees, 498 ff.
1 Transformationen im rhetorischen System
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wird noch deutlicher, dass die Idee der Steigerung nicht notwendigerweise oder gar nicht impliziert wird.
1.1 Gradatio als Steigerung Im Gegensatz zu dem ‚antiken‘ Gradationstypus ist dem zweiten ‚späteren‘ Typus der Figur die Semantik der Steigerung inhärent. Der ‚spätere‘ Typus ordnet die Begriffe so an, dass sie „nach Umfang, Gewicht oder Gefühlswert ansteigen“17. Die grundsätzliche Vorstellung, dass durch schrittweises Fortschreiten in der Rede die Eindringlichkeit gesteigert werden kann, findet sich bereits bei Demetrios von Phaleron („De elocutione“) im 3. Jahrhundert v. Chr.18 Allerdings wird lange Zeit die Steigerung mehr als ein Effekt oder eine Nebenerscheinung der Figur beschrieben, nicht jedoch als Zweck und bestimmendes Element des Stilmittels. Bis in die Renaissance verwendet man zumeist die Begriffe auxesis/amplificatio oder incrementum, die ‚Zunahme‘ oder ‚Wachstum‘ bedeuten, um eine Steigerung zu bezeichnen. Quintilian widmet der Steigerung und Abschwächung in seiner Ausbildung des Redners (95 n. Chr.) ein eigenes Unterkapitel (VIII, 4). Darin gliedert er sie nicht in die Wort- oder Sinnfiguren ein wie die Gradation, sondern ordnet sie als Mittel zur Wirkungssteigerung der Rede der rhetorischen amplificatio-Figur zu. Quintilian macht vier Typen der Steigerung aus: Zuwachs (incrementum), Vergleichung (comparatione), Schlussverfahren (ratiocinatio) und Häufung (congerie).19 Er beschreibt im Folgenden: Die Form des Zuwachses [incrementum] ist am eindrucksvollsten, wenn das als groß erscheint, was sogar weniger bedeutet. Dies geschieht entweder in einer Steigerungsstufe oder in mehreren [aut uno gradu fit aut pluribus] und kommt nicht nur zum Gipfel, sondern zuweilen gewissermaßen noch über diesen hinaus […][,] so etwa, wenn es bei Vergil von Lausus heißt: ‚dem vergleichbar an Schönheit keinen es gab ausgenommen den Leib des Laureners des Turnus‘. Denn den Gipfel bezeichnet ja das ‚dem vergleichbar an Schönheit keinen es gab‘, dann aber wird noch etwas hinzugesetzt, das noch darüber hinausgeht.20
Quintilian verhandelt in der Form des incrementum also bereits das, was später Aufgabe der Gradation wird: ein Steigerungsmodell des Zuwachses.21 Das 17 Kirby/Poster, Klimax, 1108. 18 Ebd., 1109. 19 Quintilianus, Ausbildung des Redners, 190 f. 20 Ebd., 191. 21 Das gleiche Prinzip gilt für die Verminderung, die minutio, „denn die Stufen sind ebenso viele, wenn man hinauf-, wie wenn man herabsteigt.“ Ebd., 201.
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II Transformationen der Gradatio
incrementum beinhaltet nicht allein die Idee von Stufen, anhand derer die Steigerung vollzogen wird, sondern es finden sich Anzeichen für ein kontinuierliches Modell, wenn Quintilian sagt: Der Zuwachs der Rede [crescit oratio] erfolgt weniger offensichtlich, aber vielleicht gerade deshalb umso wirkungsvoller, wenn ohne Absetzen im Zusammenhang und Verlauf [cum citra distinctionem in contextu et cursu] immer etwas nachfolgt, das mehr ausmacht als das Vorhergehende […].22
Quintilians Steigerungs- und Abschwächungsmodell ist geprägt von einem kontinuierlichen Wachstumsdenken. Eben diese Eigenschaft wird seit dem 16. Jahrhundert zunehmend der Figur der Gradation zugeschrieben – was die amplificatio/auxesis und das incrementum obsolet werden lässt.23 Dass die ‚spätere‘ Gradatio als eine verfeinerte Steigerungsfigur beschrieben wird, sieht man in Ansätzen schon bei Thomas Wilson in seiner Schrift The Arte of Rhetorique (1560), der betont, dass bei der Gradation Wörter hinzugefügt werden „that encreaseth the matter“, wobei der Satz in einige Stufen unterteilt ist („desse[v]ered by degrees“).24 Oder bei George Puttenham, der eine besonders anschauliche Beschreibung der „Clymax or the Marching figure“ in seinem Text The Arte of English Poesie (1589) wiedergibt: Ye have a figure which as well by his Greeke and Latine originals, and also by allusion to the maner of a mans gate or going may be called the marching figure, for after the first steppe all the rest proceede by double the space, and so in our speach one word proceedes double to the first that was spoken, and goeth as it were by strides or paces; it may aswell be called the clyming figure, for Clymax is as much to say as a ladder […].25
In dieser Definition wird die Idee der Steigerung in Form von größer werdenden Schritten ausgedrückt (wie der Ursprung gradus auch impliziert) und die Klimax als „Marschfigur“ bezeichnet, wodurch aber gleichzeitig die Struktur des fortschreitenden Nachvollzugs von Gedanken evoziert wird, wie es die ‚antike‘ Figur vorsieht. Dies deutet darauf hin, dass Elemente aus ‚anti22 23
24 25
Ebd., 191 f. Diese Beobachtung macht auch Bartel, Figurenlehre, 126. Da auxesis und incrementrum jedoch generelle Prinzipien der Steigerung sind, die sowohl die inventio als auch die elocutio betreffen können, kann nicht von einem Verschwinden dieses Steigerungsprinzips gesprochen werden. Vielmehr ist die stärkere theoretische Behandlung der Figurenlehre, sowie das polysemantische Vorkommen des Begriffs (d. h. sein Bezug zur Naturlehre) wohl Grund dafür, dass die Gradatio seit dem 17. und 18. Jahrhundert in zahlreichen rhetorischen Schriften in den Fokus rückt. Thomas Wilson: The Arte of Rhetorique, hg. G. H. Mair, Oxford: Clarendon Press 1909, 204. George Puttenham: The Arte of English Poesie, hg. E. Arber, Birmingham: Montague 1869, 217.
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ker‘ und ‚späterer‘ Figur in einigen Definitionen auch gemeinsam auftreten. Implikationen der Figur werden nun häufiger als prozesshaft und steigernd dargestellt und die Zeitstruktur zugunsten eines fortschreitenden Modells – im Gegensatz zu den verweilenden Schritten – verändert. Auch anhand der Einträge im Grimm’schen Wörterbuch lässt sich belegen, dass die Gradation vor allem seit dem 18. Jahrhundert zunehmend mit den Worten „abstufung, abschattierung, allmählicher übergang, abgestufte veränderung“26 umschrieben wird. Gottsched trifft die Unterscheidung der rhetorischen Elemente incrementum und gradatio, im Sinne einer anwachsenden gegenüber einer stufenweisen Steigerungsfigur, nicht mehr: Der Eintrag zu ersterem verweist in seinem Werk Ausführliche Redekunst (1736) auf den Artikel ‚Gradatio‘.27 In seiner Critischen Dichtkunst lautet die Definition: „Das Aufsteigen (Gradatio), wenn man gleichsam stuffenweise von einer geringern Sache zu etwas höherm fortschreitet, und also immer was wichtigers sagt.“28 Die Beispiele, die Gottsched anführt, stammen von Opitz und folgen beide dem Prinzip der Steigerung („Pan aber schläfet nicht,/ er geht, er ruft, er schreyt mit sehnlichem Verlangen […].“29), wobei das erste Beispiel dem Kettenprinzip (x|x … y|y) und einer negativen Steigerung, also Antiklimax folgt (Welt – Länder – Stadt): Was wollen wir uns denn um dessentwegen grämen. So andern wiederfährt, und der Natur uns schämen? Die Welt kann nicht bestehn, die Länder nicht in ihr, In Ländern keine Stadt, in keinen Städten wir.30
Obwohl also die grundsätzliche Definition eine Steigerung beinhaltet, findet das Kettenprinzip auch weiterhin als Element der Gradation Verwendung. Die zunehmende Tendenz zu einem semantischen Wandel in der Beschreibungssprache lässt sich nicht nur im deutschen Sprachraum feststellen, sondern auch in anderen Ländern, z. B. bei dem Engländer Joseph Priestley, der in seinen Lectures on Criticism (1777) einen ganzen Vortrag über die Klimax hält.31 Priestley beginnt mit einer universellen Idee des Wachstums, die in unserer Welt vorherrschend sei: 26 27
Grimm, Gradation, 1683. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer; Geistlichen und weltlichen Rednern zu gut, in zween Theilen verfasset und mit Exempeln erläutert, Leipzig: Breitkopf 1736, 284. 28 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Nachdr. d. 4. Aufl., Leipzig 1751, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 51962, 344. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Joseph Priestley: „Lecture XXXI. Of Climax, and the Order of Words in a Sentence“, in: Ders.: A Course of Lectures on Oratory and Criticism, Dublin: William Hallhead 1781, 329–
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II Transformationen der Gradatio In a world constituted as this is, a view of a gradual rise and improvement in things cannot fail to make an agreeable prospect. The continual observation of this furnishes us with a stock of pleasing ideas, which are constantly accumulating, and which are easily transferred, by association, upon every thing, either in composition, or in any other field of view, which presents a similar appearance. How agreeable to all persons is the idea of the days growing longer, of spring advancing, and of children growing up to men! (329)
Dieser Auftakt siedelt die Figur nicht länger in den semantischen Bereich der durch Stufen gegliederten Leiter oder Treppe an, sondern im Bereich des Wachstums, wie an den Ausdrücken „gradual rise“, „continual“, „constantly accumulating“, „growing“, „advancing“, „growing up“ deutlich wird. This is one, but not the only cause of the remarkably striking effect which a well-conducted climax hath in composition. When a series of terms rise, by nearly-equal degrees, above one another in greatness and strength, they stand in the fairest situation for being compared and contrasted to one another; by which means the terms mentioned last in such a succession affect the mind much more strongly than if they had occurred singly. Likewise, together with the preceding terms, they contribute (as was observed before) to form the sublime. (329f)
Dieser Abschnitt hebt die Bedeutung des Effekts hervor und legt den Fokus darauf, die Zuhörenden zu bewegen. Den Effekt der Bewegung erzeugen die „nearly equal degrees“.32 Hier deutet sich eine Tendenz zur feineren Nuancierung innerhalb der Abstufungen an, wenn das Wortgewicht nur noch in kleinen, kaum wahrnehmbaren Schritten zunimmt. Ganz wie in der Naturlehre scheinen im Kontext der rhetorischen Figur dem Gradbegriff aufgrund seiner verfeinerten Skalierung zunehmend Intensitätsimplikationen eingeschrieben zu sein, die sich zudem an subjektive Empfindungen knüpfen. Auch das Wort „succession“ weist auf eine Veränderung in der Struktur der Gradation hin: Es wird deutlich, dass weniger Wert auf die einzelnen bedachten Gedanken und erklommenen Stufen innerhalb des Gedankengangs gelegt wird, als auf die Figur als ein nuanciert-sukzessives und damit dynamisches33 Stilmittel. Damit ist die Gradation bzw. Klimax auch nicht
32
33
335. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. Auch in Diderots Encyclopédie wird die Gradation als „figure de Rhétorique“ bezeichnet, „par laquelle le discours s’elève ou descend par degrés“. Edme-François Mallet: Art. „Climax“ (1752), in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 3: Ch-Co, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1966, 536a. Der Begriff der Dynamik geht schon auf Aristoteles zurück und bezeichnet dabei eine Wirkkraft (dynamis). Bereits Kommentatoren Aristoteles’ übertrugen den Begriff auf die Physik, um damit Bewegungsänderungen zu beschreiben. Insbesondere zwischen dem 14. und
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mehr eindeutig einer rhetorischen Wortfigur (figura verborum) zuzuordnen, die sich auf die grammatikalische oder syntaktische Struktur und Wortstellung bezieht, sondern kann den Sinnfiguren (figurae sententiae) zugeordnet werden. Cicero definiert den Unterschied dieser Figuren darin, dass „man die Figuren des Ausdrucks [d. i. Wortfiguren, J. F.] zerstört, wenn man die Worte ändert, während die des Gedankens [d. i. Sinnfiguren] bestehen bleiben, welcher Worte man sich auch bedient“34. Beruht das Prinzip der ‚späteren‘ Gradation also, wie Priestley anschließend sagt, auf „cause and effect, of time or place, and of worth, dignity, and importance“35 in ihrer Gesamtheit und nicht mehr in ihren einzelnen Gliedern, so lässt sich eine Tendenz hin zur Sinnfigur konstatieren. Es geht Priestley nicht primär um einen Effekt, der durch grammatische Anordnung erzeugt wird, sondern um die gezielte semantische oder sinnhafte Steigerung von Gedanken, die auch eine Übersteigerung ins Erhabene erklärbar macht.36 Priestleys Vortrag schließt mit den Worten: „Besides, that order of terms which constitutes the happiest climax generally coincides with the order of time and nature, in which the things they express really stand related to, or are connected with one another.“37 Die Anordnung der Worte erfolgt nach der „Ordnung von Zeit und Natur“. Man versucht damit, die empirische Welterfahrung und Natur als Vorbild zu nehmen und diese abzubilden, um eine 18. Jahrhundert erlebt der Begriff eine Konjunktur und wird (vor allem durch Leibniz’ funktional-mathematische Ausrichtung) auf sämtliche Wissensbereiche übertragen (z. B. Psychologie, Soziologie, sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Musik durch Hans Georg Nägeli, vgl. Kap. IV.2 dieser Arbeit). H. M. Nobis: „Dynamik“, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2: D-F, Basel: Schwabe 1972, Sp. 4495–4497. Wenn im Folgenden von einer dynamischen Ausrichtung der Gradatio gesprochen wird, so geschieht dies also unter der diskursiv verbürgten semantischen Anreicherung des Begriffs. 34 Cicero zit. n. Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, 309 f. 35 Priestley, Lecture XXXI, 331. 36 Bodmer/Breitinger sprechen 1727 in ihrer Schrift Von dem Einfluß und Gebrauch der Einbildungs=Krafft in Anlehnung an Pseudo-Longinus vom Erhabenen als von „dem höchsten Grade der Vollkommenheit/ zu welchem die Seele in dem Punct der Wolredenheit hinauf steigen kann.“ Damit ist der rhetorische genus sublime mit der Steigerung des Gefühlszustands zusammenzudenken, der „nicht durch sprachliche Merkmale, sondern durch seine intensive Gefühlswirkung definiert“ wird. Beide Zitate in Christian Begemanns Aufsatz: „Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts“, in: DVjs 58 (1984), 74–110; hier: 94. Es zeichnet sich also auch in der Definition der Stilarten ein Wandel ab, der eine zunehmend wirkungsästhetische, emotional grundierte Ausrichtung nahelegt: Als sublime definiert auch Burke dasjenige, „[that] is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling“ und schreibt ihr eine unaufhaltsame Kraft auf die Passionen zu: „Hence arises the great power of the sublime, that far from being produced by them, it anticipates our reasonings, and hurries us on by an irresistable force.“ Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, hg. J. T. Boulton, London: Routledge and Kegan Paul 1958, 39; 57. 37 Priestley, Lecture XXXI, 331.
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„happy climax“ zu erzeugen. Die Nachempfindung einer „natürlichen“ Darstellung vermag es also, Gedanken miteinander zu verbinden und erfordert somit nicht länger, eine ‚artifiziell‘-rhetorische Anordnung vorzunehmen.38 Die semantische und funktionale Veränderung der Figur geht schließlich so weit, dass die rhetorische Gradatio zum Teil gar nicht mehr aus einer produktionsästhetischen Sicht heraus beschrieben wird, um den Rhetor zu lehren, wie die Worte angeordnet werden, sondern gänzlich auf ihre Wirkung hin. Eindrücklich geschildert wird dies in Richard Whatelys Elements of Rhetoric (1828), das – außerhalb des Beobachtungszeitraums liegend – die zunehmende Tendenz auf die wirkungsästhetische Ausrichtung belegt. Als eine der „most powerful means of exciting or heightening any emotion“ bezeichnet Whately den ‚Vergleich‘, und als eine besonders wirksame Form dieses Vergleichs stellt er die ‚Klimax‘ dar: When several successive steps […] are employed to raise the feelings gradually to the highest pitch, (which is the principal employment of what rhetoricians call the climax,) a far stronger effect is produced than by the mere presentation of the most striking object at once.39
Analog zu dem Einsatz vergleichender Satzglieder wird hier also der graduelle Zuwachs der Gefühle bis zur höchsten Spitze beschrieben. Whately vergleicht diesen Vorgang – nun ganz im Sinne spätaufklärerischer Naturerfahrung – mit einer Wanderung in den Alpen: It is observed by all the travellers who have visited the Alps, or other stupendous mountains, that they form a very inadequate notion of the vastness of the greater ones, till they ascend some of the less elevated, (which yet are huge mountains,) and thence view the others still towering above them. And the mind, no less than the eye, cannot so well take in and do justice to any vast object at a single glance, as by several successive approaches and repeated comparisons.40
Ähnlich wie bei Priestley bewegt sich diese Form der Steigerung im Kontext des Erhabenen, nicht umsonst wird eine Wanderung in den Alpen anzitiert, wie sie spätestens seit Kants Kritik der Urteilskraft auch in Deutschland einen beliebten Topos bildet.41 Eine derartige Übertragung auf die äußere Natur 38
Heutzutage findet man in den meisten Handbüchern zur Rhetorik entweder die syntaktische oder die semantische Form der Klimax vor. Elemente der Verkettung werden als zweitrangig angesehen, die Möglichkeit der absteigenden oder zirkulären Gradation wird meist gar nicht mehr erwähnt, hingegen die Häufung als selbstverständlich angesehen (Kirby/Poster, Klimax, 1114) – die Implikation der Steigerung hat sich also langfristig eingeschrieben. 39 Richard Whately: Elements of Rhetoric, Nashville: Southern Methodist 1861, 183. 40 Ebd. 41 In Kants „Analytik des Erhabenen“ heißt es in der grammatikalischen Steigerungsform des Komparativs (§ 28): „Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich
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und Naturerfahrung des ursprünglich genuin rhetorischen Begriffs des Erhabenen, der der Stilart des genus sublime zugeordnet wird, konnte erst im 18. Jahrhundert stattfinden.42 Voraussetzungen für diese Übertragung sind die psychologische und subjektive Ausrichtung des Begriffs, geknüpft an den Wandel zu einer neuen Naturerfahrung und einem neuen Naturgefühl. Diese kurbeln einen Steigerungsprozess innerhalb des subjektiven Vermögens an,43 so dass das Erhabene zunehmend an die Vorstellung einer infiniten seelischen Kraftgröße gebunden wird, deren „Größe und Beschaffenheit sinnlich unendlich ist“44. Zugleich wird hier eine Überlagerung verschiedener Gradationsmodelle deutlich: Die Steigerung der Seelenstärke wird zusätzlich geknüpft an ein zunehmendes Perzeptionsvermögen und damit auch an eine Verlagerung in die Einbildungskraft. Diese Kongruenz verschiedener Seelenvermögen ist eine spezifische Entwicklung des 18. Jahrhunderts und wird im Folgenden noch näher beleuchtet werden (vgl. Kap. II.3). Gerade hierin liegt auch die Anziehungskraft der Gradatio: Durch die gleitende Intensivierung auf ein „ideales Grenzmoment hin“, wird das gerade für die Genieästhetik so zentrale Streben nach Entgrenzung eingelöst, welches „auf einen gleitenden Sinngewinn hinausläuft.“45 Wenn Whately dieses veränderte Erfahrungs- und Wirkungsmodell mit der rhetorischen Klimax zusammenführt, so resultiert dies aus dem semantischen Wandel der Gradatio und signalisiert die Überschreitung des rhetorischen in zunehmend psychologische und (wirkungs-) ästhetische Bereiche.
auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, […] machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen“. Immanuel Kant: „Kritik der Urteilskraft“, in: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Werke III, hg. M. Frank, V. Zanetti, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1996, 479–880; hier: 596. Der schauerlich-genussvolle Anblick der Alpen und das damit verbundene Gefallen an unermesslichen Größen ist allerdings auch schon im 17. Jahrhundert vereinzelt (v. a. in England) zu finden. Vgl. Begemann, Erhabene Natur, 92. 42 Begemann, Erhabene Natur, 76. 43 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 177. 44 Johann August Eberhard: Theorie der schönen Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen [1783], Halle: Buchhandlung des Waisenhauses 21786. 45 Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 114.
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1.2 Transformationen der Gradatio I: Der Wandel zur ‚Affekt-Rhetorik‘ Man kann die wichtigsten Veränderungen der Figur geradezu schematisch zusammenfassen.46 Während die ‚antike‘ Figur Metaphern wie Stufen, Leitern und Treppen heranzieht, setzt die ‚spätere‘ Verwendung47 ein Gradsystem als Beschreibungsmodell ein. Im ersten Fall sind die üblichen Merkmale der Gradation Wiederholung, Reihung und Häufung, im zweiten Fall ist die Steigerung das prädominante Merkmal der Figur. Damit ändert sich auch die zeitliche Vorstellung des Figurenvollzugs: Auf der einen Seite ist die Figur gekennzeichnet von durch Pausen zersetztem schrittweisen Fortschreiten, auf der anderen Seite bildet sich eine Figur des Wachstums, der Kontinuität, des Fließens aus. Dieser strukturelle Unterschied deutet auf eine weitere Tendenz hin, die die unterschiedlichen Gradationstypen voneinander unterscheidet: Während der ‚antike‘ Typ als Figur des Gedankenvollzugs eine Wortfigur darstellt, die ihren Fokus auf die syntaktische Anordnung legt, steht beim ‚späteren‘ Typ die Semantik, der Effekt und die Wirkung im Mittelpunkt. Damit ist die erste Ausprägung eine ‚gelehrte‘ Variante der Figur: Sie zielt auf Überzeugung, Insistieren, Nachdruck und ist aufgrund ihrer ‚künstlichen‘ Anordnung der ars-Rhetorik zuzuordnen.48 Demgegenüber folgt die zweite Ausprägung einer auf ‚Natürlichkeit‘ abzielenden Anordnung, die die Wirkung der Emotion in den Mittelpunkt stellt: Zwischen Rhetor und Rezipienten wird ein Moment des Austauschs inszeniert, so dass sich die Emotion auf das Gegenüber in sympathetisch-fließender49 Weise überträgt.
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Dabei handelt es sich freilich um Tendenzen – bis heute mischen sich ‚antike‘ und ‚spätere‘ Form der Figur. Dennoch kann ein solcher Vergleich dazu dienen, tendenzielle Neuverortungen innerhalb der Beschreibungssprache zu veranschaulichen. Genau genommen ist hier die spezifische Ausrichtung der ‚späteren‘ Definition gemeint, die seit dem 17. Jahrhundert zu beobachten ist. Sie tritt in jenem Moment ein, in dem eine feinere Nuancierung durch das Gradsystem artikuliert wird, wie oben dargestellt. Damit meine ich eine Figur, die ihren Fokus auf die Technik bzw. das Handwerk der Rhetorik setzt, die konstruierter wirkt als der zweite Typus, dessen mimetische, emotionsgebundene Natur noch genauer zu erläutern sein wird. Der Wandel um 1700 von einer ars-Rhetorik zu einer Affekt-Rhetorik folgt einer These von Dietmar Till in seinem Aufsatz „Affekt contra ars: Wege der Rhetorikgeschichte um 1700“, in: A Journal of the History of Rhetoric, Vol. 24, No. 4 (Autumn 2006), 337–369. Freilich hat im Laufe des 18. Jahrhundert der Begriff der Sympathie seine „magisch-korporalen Implikationen“ eingebüßt, so dass er in eine „rein psychologische Größe umfunktioniert“ wurde: „die sympathetischen Wirkungen [werden] auf das Terrain der Empfindung verlagert und als nervlich-psychisches Geschehen entdeckt.“ Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 47 f.
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Mitunter weisen die unterschiedlichen Konzeptionen der Gradatio auf einen zentralen Wandel innerhalb des rhetorischen Systems hin: So hat Dietmar Till gezeigt, dass um 1700 eine „Transformation der Rhetorik“50 einsetzt, oder wie Volker Kapp für die französische Rhetorik feststellt, ein „Umstrukturierungsprozeß, […] in dessen Rahmen einzelne Typen von Rhetorik untergegangen sind“51. Es handelt sich hierbei um den Wandel der ars-Rhetorik zu einer „Affekt-Rhetorik“, die sich innerhalb der Rhetorik-Lehrbücher abspielt.52 Während die ars-Rhetorik den Aspekt der Lehr- und Lernbarkeit hervorhebt und den Dichter als poeta faber bezeichnet, der durch langes Studium und viel Erfahrung zum gelehrten Redner heranreift, ändert sich diese Ansicht um 1700: „Der in der antiken Theorie organisch gedachte Zusammenhang von ars und natura/ingenium wird aufgelöst“53 und es kommt zu einer Abwertung der Gelehrtenrhetorik. Grund für den Wandel sind – verkürzt dargestellt – Veränderungen im wissenschaftlichen Umfeld, besonders in medizinisch-psychologischen Theorien, die bewirken, dass Emotionen zur unbedingten Schreibvoraussetzung jeder Rede werden. „Zentral an dem Konzept der ‚Affekt-Rhetorik‘ ist, daß sie ihre Plausibilität nicht mehr durch 50
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So der Titel der empfehlenswerten Monographie Dietmar Tills: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2004. In seinem Buch setzt Till auf einleuchtende Weise den ‚klassischen‘ Forschungspositionen von Rhetorik-Kritik (‚Untergang/Ende der Rhetorik‘) und Rhetorik-Affirmation (‚Ubiquitäts-‘ oder ‚Kontinuitätsmodell‘) im 18. Jahrhundert eine in meinen Augen sehr plausible Alternative entgegen, nämlich die vorherrschende Rhetorik-Kritik im Sinne einer Abwendung von bestimmten Rhetorik-Teilmodellen (z. B. der officia-Schulrhetorik) zu verstehen. Diese Herangehensweise ermöglicht es, die beiden paradox wirkenden Forschungspostulate zusammenzuführen und distinkte Analysen der Rhetorik-Schriften durchzuführen. Vgl. hierzu vor allem Teil I: Gegenwärtige Semantiken des Rhetorikbegriffs, 11ff in Tills Monographie. Volker Kapp: „Beredsamkeit ohne Rhetorik. Zur französischen Rhetorik-Diskussion im späten 17. Jahrhundert“, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): „Diversité, c’est ma devise“: Studien zur französischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Festschrift für Jürgen Grimm zum 60. Geburtstag, Paris/Seattle/Tübingen: Narr 1994, 261–280, hier: 272. Kapp macht den Wandel innerhalb der Rhetorik auch an einem genderspezifischen Aspekt fest: Durch Konversation, vor allem unter der weiblichen gesellschaftlichen Elite, rückt die regelhafte Gelehrtenrhetorik in den Hintergrund und wird zunehmend durch eine ‚natürlichere‘ und praktisch angewandte Rhetorik abgelöst, wie er anhand Madame de Staëls De l’Allemagne oder auch Madame de Sévignés Briefen zeigt. Till, „Affekt contra ars“, 339 f. Obwohl im Anschluss an das folgende Kapitel (II.2) der Affekt-Begriff in der Verwendung Tills nicht ganz passend scheint, da das Affektsystem zunehmend mit einem Empfindungssystem in Konkurrenz tritt und damit zu fragen ist, ob nicht ein anderer Emotionsbegriff angemessener wäre, bleibe ich an dieser Stelle bei Tills Begrifflichkeit. Nicht zuletzt ist auch in der zeitgenössischen Selbstbeschreibung bis weit ins 18. Jahrhundert keine einheitliche Verwendung der Emotionsbegriffe gegeben, weshalb die Verwendung seine Berechtigung findet. Zur Begrifflichkeit und Einordnung unterschiedlicher Emotionsbegriffe siehe Kap. II.2 in dieser Arbeit. Ebd., 356.
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den topischen Rekurs auf die antike Theoriebildung gewinnt, sondern anthropologisch aus der ‚Natur des Menschen‘ ableitet.“54 Oder in zeitgenössischer Formulierung: „Die Sprache der Leidenschaften unterwirft sich keinem Gesetze der Sprachkunst, auf eine sclavische Art. Die Leidenschaften haben ihre eigene Sprache.“55 Dass die Autorität der Antike zunehmend in Frage gestellt wird, spiegelt sich nicht zuletzt in den Querelles des anciens et des modernes wider.56 Die Veränderungen haben in der Rhetorik sowohl produktionsästhetische als auch wirkungsästhetische Folgen: Der reflektierte, kalkulierte Produktionsprozess wandelt sich in einen ungeregelten, ‚natürlichen‘ Affektausdruck, wie Till unter anderem anhand der rhetorischen Figur der exlamatio bei Quintilian und Bodmer/Breitinger57 zeigt. Zudem bewirken die Transformationen einen epistemischen Wandel: Ehemals genuin rhetorische Teilbereiche werden zunehmend neuen Wissensbereichen wie der Philosophie oder Anthropologie zugeordnet.58 Daraus folgt eine Duplizierung der Rhetorik, die sich in die Teildisziplinen der „Beredsamkeit“ und der „Wohlredenheit“ aufgliedern lässt, wie Gottsched in seiner Ausführlichen Redekunst formuliert.59 Tills Beobachtungen lassen sich direkt mit der semantischen Neuverortung des Gradationsbegriffs verbinden. Denn gerade anhand der Stilfiguren, die im Laufe des 17. Jahrhundert zunehmend ins Zentrum rhetorischer Schriften rücken, wird deutlich, wie stark Sprachdarstellung sich der Vorherrschaft des Emotionshaushalts unterordnet. Dabei ist auch eine Umbewertung der Emotionen zu beobachten. François de la Rochefoucauld schreibt 1665 in seinen Réflexions ou sentences et maximes morales: „Les passions sont les seuls orateurs qui persuadent toûjours. Elles sont comme un art de la nature dont les regles sont infaillibles: & l’homme le plus simple qui a de la passion persuade mieux que le plus eloquent qui n’en a point.“60 Emotionen 54 55 56 57 58
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60
Ebd., 106 f. Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt, Nachdr. des Faksimile 1744, Frankfurt a. M.: Athenäum 1971, 129. Till, Transformationen der Rhetorik, 89. Vgl. Till, „Affekt contra ars“, 361 f. Das Schließen vieler Rhetorikschulen und der Abbau von Rhetorikprofessuren im 18. Jahrhundert ist häufig als ‚Verfall der Rhetorik‘ gedeutet worden. Till zeigt dagegen, dass die Transformation hin zu einer Affekt-Rhetorik auch eine Umstrukturierung auf institutioneller Ebene zur Folge hatte. Till, Transformationen der Rhetorik, 515 f. Beredsamkeit soll hier das Ideal der persuasio erfüllen, der unmittelbaren und performativen Überzeugung, bei der Wohlredenheit hingegen stehen elocutio und elegantia im Mittelpunkt, wodurch sie wortzentrierter erscheint. Letztere kommentiert Gottsched abwertend. François de la Rochefoucauld: Réflexions ou sentences et maximes morales. Revüe, corrigée & augmentée depuis la troisiéme, Lyon: Pierre Compagnon & Robert Taillandier 41685, 3 (Maxime 8).
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sind nicht länger triebhafte Laster, von denen der Körper befreit werden soll, sondern erfahren eine Aufwertung im Sinne einer intrinsischen naturgegebenen Sprache. Dabei werden gerade die Stilfiguren zu unmittelbaren Übertragungsmedien der Seele, wie Bernard Lamys La Rhétorique ou l’art de parler (1675) zeigt.61 Hier sind die Figuren nicht länger Teil ‚künstlicher‘ Figurenlisten, sondern werden als „effets naturels de la passion“62 gesehen, die ihren Ursprung im Herzen haben. „Il n’y a point de meilleur livre que son propre coeur; & c’est une folie de vouloir chercher dans les écrits des autres ce que l’on trouve chez soy“63 – das beste Buch der Rhetorik ist also das eigene Herz, so Lamy. Da die Passionen als graduell verschieden beschrieben werden, folgen auch die Figuren einem Gradationsprinzip unterschiedlicher Stärkegrade: „Les passions ont plusieurs degrez. Toutes les coleres ne sont pas également grandes: toutes les Figures n’ont pas aussi la même force.“64 Figuren sind damit nicht länger erlernbar. Diejenigen Redner, die es nicht vermögen, den Figurengebrauch entsprechend ihrer Emotionen zu dosieren, werden als „froid“ bezeichnet. Dies wiederum bewirkt, dass auch die Zuhörenden „kalt“ bleiben: „on les écoute avec froideur, laquelle est d’autant plus sensible, que l’on n’est agité d’aucune de ces émotions qu’ils avoient voulu exciter.“65 Eine Rede kann also nur beim Publikum ankommen, wenn sie einer gewissen ‚thermodynamischen‘ Logik folgt: Es muss ein sich zunehmend aufwärmender emotionaler Austausch entstehen, bei dem es das Ziel ist, kalte Seelen (des Redners und des Rezipienten) zu erhitzen und die Übertragungsleistung in Gang zu bringen.66 In den ‚heißen Zonen‘ kann dann ein empathischer Austausch stattfinden, das Gegenüber wird affiziert und die Emotion übertragen. Einige Schriftsteller der Zeit bedienen sich in Bezug auf die Stilfiguren einer Feuer-Metaphorik, die damit das Ansteckungs-, Ausbreitungs- und dynamische Bewegungspotential der figuralen Rede aus-
61
62 63 64 65 66
Wie deutlich Figuren mit Emotionen in eins gesetzt werden, ist in Johann Georg Sulzers Artikel „Figur“ seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774) zu erkennen: „Denn eigentlich ist jede Art zu reden, jedes Wort, in so fern es außer seiner Bedeutung, außer seinem Sinn, etwas an sich hat, das aus dem Affekt der redenden Person entsteht, ein Figur.“ Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 384–385; hier: 385. Bernard Lamy: De l’art de parler/ Kunst zu reden, hg. E. Ruhe, München: Fink 1980, 121; Vgl. Till: Transformationen der Rhetorik, 332. Lamy, L’art de parler, 121. Ebd., 129. Ebd., 130. Vgl. Cornelia Zumbusch: „Probleme mit dem Pathos. Zur Einleitung“, in: Dies., Robert Buch (Hg.): Pathos: Zur Geschichte einer problematischen Kategorie, Berlin: Akademie Verlag 2010, 7–24; hier: 14.
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drückt.67 Diese stark auf ein Wirkungspotential ausgerichtete Emotionsrhetorik hat ein grundsätzlich „sympathetisches“ Körperbild68 zur Voraussetzung und deutet damit nicht nur auf Veränderungen im Rhetoriksystem hin, sondern insbesondere auf einen anthropologischen Wandel, wie das nächste Teilkapitel zeigen wird. Bei der Übertragung von Emotionen muss noch eine weitere zentrale Dimension innerhalb der Rhetorik berücksichtigt werden: der Vortrag. Denn auch an ihm lassen sich Veränderungen konstatieren, die jedoch zunächst nur angerissen werden sollen. Quintilian schreibt ein eigenes Kapitel zur actio, die für ihn einen zentralen Platz einnimmt, denn es kommt ja nicht so sehr darauf an, wie gut das ist, was wir selbst in unserem Inneren verfaßt haben, als darauf, wie es vorgetragen wird: denn es wird ein jeder so, wie er sie hört, von der Rede gepackt [nam ita quisque, ut audit, movetur]. […] Alle Gefühlswirkungen [adfectus] müssen matt werden, wenn sie nicht ihr Feuer erhalten durch die Stimme, das Mienenspiel und nahezu alles in der Haltung des Körpers.69
Anders als die Textproduktion ist die actio schon früh an ein Natürlichkeitsideal gebunden, nämlich insofern, als die Disposition und natura des Redners letztlich ausschlaggebend für das Gelingen des Vortrags sind.70 Dennoch lassen sich auch Transformationen in actio und pronuntiatio erkennen, bei denen die Abkehr einer abgemessenen „Affektiertheit“ angestrebt wird, die stattdessen eine „[u]nverstellte Einfalt“ fordert, welche die eloquentia corporis zu einer eloquentia cordis verwandelt.71 Zugleich lässt sich eine Ausdifferenzie-
Bei Georg Friedrich Meier heißt es in seiner Theoretischen Lehre von Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) „Das Feuer, so in ihm [dem Redenden, J. F.] brennt, wird durch alle Glieder ausbrechen, und es ist kein Zweiffel, daß es nicht solte die benachbarten Hertzen seiner Zuhörer gleichfals in Feuer und Flammen setzen.“ Meier, Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt, 15. Sulzer richtet sogar einen eigenen Artikel dafür ein: Unter „Feuer (Schöne Künste)“ seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste heißt es: „Das Feuer, welches sich in den Werken der Kunst zeiget, ist anstekend, es reißet uns schnell fort, unsre Seelenkräfte werden zu einer starken Anstrengung gereizt, und es kann uns in Bewundrung setzen; folglich gränzet es in Ansehung seiner Würkung an das Erhabene.“ Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 381–383; hier: 382. 68 Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, vor allem Kap. II und III: Substitutionen 1 und 2. 69 Quintilianus, Ausbildung des Redners, 609. 70 Till, Transformationen der Rhetorik, 351. 71 Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1992, 175. Dies führt hingegen nicht zu einer „Destruktion“ (178) der actio-Lehre, wie Geitner schreibt; vielmehr muss man auch hier von einem Umbau der Systematik sprechen, einem Wandlungsprozess, der die actio-Lehre in andere Wissensbereiche einspeist, beispielsweise in die Schauspielkunst, um sie dort neu zu theoretisieren. 67
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rung der rhetorischen Wissenschaften beobachten: Während die actio in der Antike noch untrennbarer Teil der Rhetorik ist, behandelt man im 18. Jahrhundert Produktion und Performanz von Texten zunehmend separat und theoretisiert sie in verschiedenen Wissenschaftsbereichen. So entsteht beispielsweise die Disziplin der Deklamatorik72 am Ende des 18. Jahrhunderts, die eine „neue Stufe europäischer Texthörigkeit“73 darstellt: Gerade am Vortrag, der actio, lassen sich also wichtige Veränderungen im rhetorischen System festmachen, die parallel zu Entwicklungen in der Schauspielkunst verlaufen, wie u. a. Hans-Christian von Herrmann und Alexander Košenina gezeigt haben.74 Diese Veränderungen werden im Verlauf der Arbeit noch eine wichtige Rolle spielen. Doch sind Gründe der angeführten Neuerungen nicht allein in der Abwendung von einer klassischen officia-Rhetorik zu suchen. Wenn Sulzer in seinem Artikel zur Figur „die mühesame und schweerfällige Aufzählung und Erklärung so sehr vieler Arten der Figuren aus den für die Jugend geschriebenen Rhetoriken“75 beklagt und sie zu verbannen wünscht, scheint er zwar einerseits das verschulte Rhetorik-System zu kritisieren. Häufig lassen sich die rhetorikkritischen Schriften jedoch auf eine generelle Sprachkritik zurückführen. So heißt es im selben Artikel: Die Erfindung der Figuren dürfen wir eben keiner überlegten Kunst zuschreiben. Sie sind vermuthlich alle so alt als die Sprachen selbst. Der Affekt, das Feuer des Redners, seine Begierde nachdrüklich zu seyn, seine Begriffe sinnlich darzustellen, und zum Theil der Mangel der Sprache, haben sie natürlicher Weise ohne Ueberlegung hervorgebracht.76
Bei Sulzer äußert sich zum einen ein erneuter Angriff auf die Künstlichkeit des rhetorischen Systems. Der eigentliche Ursprung der Figuren liege – ähnlich wie es Lamy formuliert – in der Natur des Menschen: Figuren bildeten sich „auf natürliche Weise“ und „ohne Überlegung“ aus und entspringen damit einer intrinsisch-unmittelbaren Ausdrucksweise. Wenn jedoch die Entstehung von Figuren zudem auf den „Mangel der Sprache“ zurückzuführen 72 73
74 75 76
Vgl. Kap. III.2 in dieser Arbeit. Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München: Fink 2005, 92. „Diese neuartige Verknüpfung von Sprache und Körper, die von der Redesituation zum Ausdruck übergeht, impliziert zugleich eine neue Mündlichkeit, die die Sprache von der statischen Visualität der Schrift löst und in Bewegung setzt.“ (91) Ich danke Jan Behnstedt-Renn für diesen hilfreichen Literaturhinweis. Herrmann, Archiv der Bühne, insbesondere Teil II.2: Das Theater der Seele (1800); Alexander Košenina: Anthropologie der Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1995. Vgl. auch Kap. III.3 in dieser Arbeit. Sulzer, Figur, 385. Ebd., Hervorh. J. F.
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ist, wie Sulzer schreibt, so kann der Wandel in eine Affekt-Rhetorik noch weiter zugespitzt werden: Denn viele Aspekte, die am Rhetoriksystem kritisiert werden, lassen sich letztlich auf eine Kritik am Sprachsystem (und eben nicht am Rhetoriksystem per se) zurückführen. Ganz in diesem Sinne schreibt auch Georg Friedrich Meier in seiner Theoretischen Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt (1744): „Die Natur ist die beste Lehrmeisterin dieser Sprache [der Leidenschaften, J. F.]. Man entzünde sich selbst, so wird die Glut durch den gantzen Körper hervorbrechen, und wir werden gerade so reden, als es die Bewegung des Gemüths erfordert.“77 Eine mangelnde Mannigfaltigkeit der Sprache wird zunehmend wahrgenommen und kritisiert, weshalb ihr die Fähigkeit, Emotionen abzubilden und auszudrücken, zunehmend abgesprochen wird und Sprache sich dem Vorwurf der „Inkommunikabilität von Echtheit“78 stellen muss. Ruft man sich zudem die eingangs zitierte gradationale Beschreibung der Natur durch Herder ins Gedächtnis, so wird deutlich, dass die dort durchgeführte Anordnung in wiederholenden Schritten einem fließenden Übergang letztlich widerspricht. Mit sprachlichen Mitteln, so auch die gängige Meinung der Zeit, lässt sich der Eindruck einer kontinuierlich gleitenden Steigerung kaum vermitteln. Im Hintergrund des rhetorischen Wandels bildet sich so ein generelles Sprachmisstrauen aus, das am Ende des 18. Jahrhunderts in eine übergreifende Zeichendiskussion mündet (vgl. Kap. II.3). Wie sich in diesem Teilkapitel bereits angedeutet hat, liegt der Kern solcher semiotischen Neubestimmungen an einem strukturellen Umdenken innerhalb der Naturwahrnehmung und -darstellung. Diese lässt sich besonders deutlich veranschaulichen, betrachtet man die Veränderungen, die sich innerhalb der Beschreibung des menschlichen Emotionshaushalts vollziehen, wie sie im nächsten Teilkapitel dargestellt werden.
77 Meier, Theoretische Lehre, 291. 78 Luhmann, Liebe als Passion, 54.
2 Transformation der Passionen
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2 Transformation der Passionen: Zergliederung, Vermannigfaltigung, Gradation Rien ne se fait tout d’un coup. Gottfried Wilhelm Leibniz, 170479
Als Begründung für die in der Forschung konstatierten Veränderungen im 18. Jahrhundert wird zumeist der in dieser Zeit entstehende anthropologische und psychologische Diskurs herangezogen. So nennt Dietmar Till die „auf die Anthropologie des Affekts gegründete Beredsamkeit“80 als Grund für die von ihm dargestellten Transformationen, die gleichermaßen bei den Studien Alexander Košeninas oder Rüdiger Campes im Mittelpunkt stehen.81 Wenn rhetorische Figuren in ihrer herkömmlichen ‚gelehrten‘ Form nicht mehr ihren Zweck erfüllen, Affekte im Gegenüber zu erregen, stellt sich hingegen die Frage, inwiefern nicht auch das gesamte Körperbild und der Affekthaushalt, sowie deren Beobachtung, Beschreibung und Konzeption, Gegenstand einer Transformation geworden sind. Die zunehmende Beschäftigung mit Emotionen, ihre (veränderte) Darstellung und die Erschließung ihres Wirkungszusammenhangs können vor allem seit dem 17. Jahrhundert beobachtet werden. Man kann dieses Jahrhundert geradezu als „siècle des passions“82 bezeichnen, betrachtet man die Fülle an theoretischen Schriften, die seit dieser Zeit über Emotionen entstehen. Nicht zuletzt verdeutlicht die Tatsache, dass Aristoteles die Affektenlehre in seine Rhetorik eingegliedert und mit seiner Tragödiendefinition verknüpft hat, dass, neben gesellschaftspolitischem oder medizinischem Nutzen, „der Frage nach den Affekten die prinzipielle Frage nach Ziel, Zweck und Wesen der Kunst vorausging“83. Die Passionsschriften84 erörterten somit neben medizinischen, theologischen oder moralistischen vor allem auch ästhetische Fragestellungen. Obwohl sich die Emotionsbegriffe noch weit bis ins 19. Jahrhundert nicht klar zuordnen lassen und keine einheitliche Verwendung finden, wer79
Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais, Philosophische Schriften, Bd. 6, Berlin: Akademie Verlag 1962, 56. 80 Till, Transformationen der Rhetorik, 515. 81 Košenina, Anthropologie der Schauspielkunst; Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1990. 82 Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg: Meiner 2008, 92. 83 Hermann Wiegmann (Hg.): Die ästhetische Leidenschaft. Texte zur Affektenlehre im 17. und 18. Jahrhundert, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1987, 2. 84 So Catherine Newmarks Bezeichnung derjenigen philosophisch-medizinischen Schriften, die sich mit Emotionen befassen in ihrer Studie Passion – Affekt – Gefühl.
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den im Folgenden die Begriffe „Passion“ und „Emotion“ als Überbegriffe für die jeweiligen Emotionsbezeichnungen85 eingesetzt. „Affekt“ und „Leidenschaft“ dienen zur Beschreibung ‚älterer‘ Formen der Emotion, die in Abgrenzung zu „Empfindungen“ und „Gefühlen“ stehen, welche für eine jüngere Emotionssystematik stehen. Diese Unterscheidung soll der Tatsache Rechnung tragen, dass die Vorstellung von Emotion eng an ihre diskursive und kulturelle Formung geknüpft ist. Sie ist gebunden an Wahrnehmungsund Repräsentationsstrukturen, an anthropologische wie sozialpsychologische und ästhetische Vorstellungen; Umstände, denen in der Forschung häufig zu wenig Beachtung geschenkt wird.86
2.1 Passionsbegriffe: passiv/produktiv Der Begriff „Affekt“ ist eine spezifische Übersetzung des griechischen Worts pathos und kann mit dem Ausdruck passio gleichgesetzt werden.87 Lange Zeit gilt er als zentrale Gattungsbezeichnung der (vornehmlich nichtrationalen oder nicht rationalisierbaren) Emotionen.88 Passio kann hier als ein passives „Erleiden“ einer äußeren Einwirkung übersetzt werden. Dies drückt sich auch in der Substantivierung des Verbs afficere (lat. hinzutun, einwirken, antun, anregen) aus: Es beinhaltet die Vorstellung, dass etwas von außen Bewirktes auf den Menschen einwirkt, ihn mitunter verletzt.89 Der Mensch wiederum reagiert auf diese Einwirkungen mit typisierten emotionalen Gemütszustän-
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Vgl. hierzu auch die Einleitung von Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 9 ff. Vgl. Janine Firges, Juliane Vogel: „Gradatio. Zur Darstellung des Gefühls im Theater des 18. Jahrhunderts“, in: Martin v. Koppenfels, Cornelia Zumbusch (Hg.): Handbuch Literatur & Emotionen, (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 4), Berlin/Boston: De Gruyter 2016, 313–328; hier: 313. In den folgenden Ausführungen ergeben sich Parallelen zu diesem Artikel. So heißt es bei Augustin: „Quae Graeci παϑη, nostri autem quidam, ut Cicero, perturbationes, quidam affectiones vel affectus, quidam vero de Graeco expressius passiones vocant“, zit. n.: Jakob Lanz: „Affekt“, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A-C, Basel: Schwabe 1971, 89–100; hier: 91. Vgl. auch Newmark: Passion – Affekt – Gefühl, 9 f. Vgl. Lanz, Affekt, 94, sowie Stefan Hübsch: „Vom Affekt zum Gefühl“, in: Ders., Dominic Kaegi (Hg.): Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg: Winter 1998, 137–150; hier: 138. „Wortgeschichtlich lässt sich jede affektive Zustandsänderung mit einem Gewaltakt in Verbindung bringen. Die spezifische Passivität, die im Begriff des Affekts gefasst ist, setzt eine Überwältigung oder einen Anfall voraus, die auf der Seite der Überwältigten als ein Leiden beschrieben werden. Aristoteles spricht von einer ‚körperlichen Beschädigung‘.“ Juliane Vogel: „Ergreifung und Ergriffenheit. Der Raub der Sabinerinnen“, in: Cornelia Zumbusch, Robert Buch (Hg.): Pathos: Zur Geschichte einer problematischen Kategorie, Berlin: Akademie Verlag 2010, 45–55; hier: 45. Vgl. auch Luhmann, Liebe als Passion, 73.
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den.90 Traditionell ist den Affekten also ein ‚tyrannischer‘ Charakter eigen: Der Mensch wird von ihnen befallen, es gilt die Passionen zu bändigen und sich von ihnen zu reinigen.91 Gerade der „Überblendungsbereich von Ergreifung und Ergriffenheit“ im Moment des Affektbefalls und die damit verbundenen „Formprozesse“ werden seit der Antike vor allem literarisch, aber auch künstlerisch verarbeitet.92 Diese Beobachtung leitet über zu einer funktionalen Seite innerhalb der Passionsschriften, denn Affekte können auch nutzbar gemacht werden: Vor allem in der Rhetorik werden sie zweckmäßig angesprochen, um Wirkungsziele zu erreichen. Die durch Affekte hervorgerufene Steigerung der Lust hat zudem einen karthatischen Effekt und kann die Freude an künstlerischen Objekten fördern, wie Aristoteles in seiner Poetik schreibt.93 Zur gleichen Zeit besitzen Passionen in ihrer aktiven wie passiven Form als soziale Vermittlungselemente handlungstheoretische und gesellschaftspolitische Funktionen: Gerade in der Nikomachischen Ethik wird dies deutlich, denn hier gibt Aristoteles erstmals auch Anweisungen zur Affektkontrolle bzw. -mäßigung an, die dem Menschen als soziales Wesen dienlich sein können.94 Ob passiv oder produktiv bzw. eine Mischung dieser Eigenschaften95 – in jedem Fall werden Affekte als fassbare Einheiten von Gemütsbewegungen in zahlreichen Schriften seit der Antike beschrieben, aufgelistet und damit auch eingegrenzt, domestiziert und bestimmbar gemacht. Nach Rüdiger Campe besteht das Passionswissen und die Beschäftigung mit den Affekten in der antiken Tradition „wesentlich in der Aufzählung der Affekte und in dem Versuch, eine Ordnung dieser Aufzählung zu errichten“96. ‚Herkömmliche‘ Affekte besitzen (im Unterschied zu den später in Konkurrenz tretenden Empfindungen) „einfache Qualitäten“97 und lassen sich damit lokalisieren und auch kategorisieren. Die enumeratio hat als Methode der Affektanalyse ihre 90
Hartmut Grimm: Art. „Affekt“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. K.-H. Barck et al., Bd. 1: Absenz – Darstellung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, 16–49; hier: 18b. 91 Grundlegend vor allem in Bezug auf das „krankhafte“ Potential der Affekte und ihre „Behandlung“ bzw. Strategien der „Immunisierung“: Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik, Berlin: Suhrkamp 2012; v. a. Kap. 1: Übertragungen zwischen Medizin, Moral und Ästhetik. 92 Vogel, Ergreifung und Ergriffenheit, 51. 93 Grimm, Affekt, 20b. 94 Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 48. 95 Ulrich Port hat diese den Affekten innewohnende Doppelung von passio und actio gerade im 18. Jahrhundert als „ein konstitutives Schema“ beschrieben, „das eher wie eine Kippfigur funktioniert denn als Alternative.“ Port, Pathosformeln, 24. 96 Campe, Affekt und Ausdruck, 119. 97 Albrecht Koschorke: „Selbststeuerung. David Hartleys Assoziationstheorie, Adam Smiths Sympathielehre und die Dampfmaschine von James Watt“, in: Inge Baxmann (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2000, 179–190; hier: 180.
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Herkunft in der aristotelischen Topik und Dialektik und ist als Verfahren der Verallgemeinerung somit die gängige Praxis, um Affekte zu beschreiben.98 Wenn es aber im 16. Jahrhundert vornehmlich darum geht, „die Affekte aus ihrer halben Verborgenheit, aus dem Inneren des Herzens und des Vorderhirns (wo man die Phantasie zumeist ansiedelte) hervorzuholen, sie sichtbar zu machen und die Ordnung in ihrer Aufzählbarkeit vor Augen zu stellen“99, bewirkt dies zur gleichen Zeit eine Neubegründung des Affekts. Der Akt des „Hervorholens“ erzeugt zugleich die Frage nach dem Entstehen der Passionen, da er die Aufmerksamkeit auf die Leerstelle im Wirkungszusammenhang lenkt.100 So geraten die Aufzählungen seit dem 17. Jahrhundert unter Kritik und fallen zunehmend aus den Passionsschriften heraus. Insgesamt kann man im Laufe der Tradition von einer Verengung des Affektbegriffs sprechen, vergleicht man die Zuordnungen und Beschreibungen seit der Antike bis ins 18. Jahrhundert.101 Begriffe wie „Gefühl“ oder „Empfindung“ sind dabei verhältnismäßig junge Emotionsbegriffe, die zuvor unter den Ausdrücken „Affekt“ oder im Englischen und Französischen „passion“ subsumiert wurden.102 Das Aufkommen neuer oder neu etablierter Bezeichnungen, bzw. die vermehrte Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten ist einerseits an sehr unterschiedliche Vorstellungen des Menschenbildes und dessen Konzeption gebunden. Andererseits sind Verschiebungen inner98
Klaus Hammacher: „Einleitung“, in: René Descartes: Les passions de l’âme. Die Leidenschaften der Seele, französisch-deutsch, hg. u. übers. K. Hammacher, Hamburg: Meiner 21996, XV-XCVIII; hier: XLV. 99 Campe, Affekt und Ausdruck, 331. 100 So wird im Artikel „Leidenschaften“ in Johann Georg Sulzers Allgemeinen Theorie der Schönen Künste kritisiert: „Aristoteles sagt, das Trauerspiel diene durch Erwekung des Mitleidens und Schrekens, die Gemüther von dergleichen Leidenschaften zu reinigen; aber er erkläret sich nicht, auf was Art das dieses geschehe.“ Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 692–703; hier: 698, Hervorh. J. F. 101 Lanz, „Affekt“, 94. 102 Ebd. Das franz. und engl. passion ist als Leiden (Christi) seit dem 10. bis 12. Jahrhundert belegbar, als Seelenbewegung seit dem 13. und 14. Jahrhundert. Hermann Wiegmann spricht von der ersten Übertragung des Wortes affectus ins Deutsche im Jahre 1526 und von der ersten Verwendung des Wortes „Leidenschaft“ 1647 durch Philipp von Zesen (Wiegmann, Ästhetische Leidenschaft, 1). Insgesamt muss man von einer sehr heterogenen Verwendung der unterschiedlichen Emotionsbegriffe, wie Passion, Affekt oder Leidenschaft sprechen, die größtenteils – zumindest bis ins 18. Jahrhundert – synonym verwendet werden. Dies gilt nicht für die Wörter „Empfindung“ und „Gefühl“, auch wenn sie in der Forschung häufig undifferenziert und zumeist anachronistisch Anwendung finden. Auch Klaus Hammacher übersetzt in der dt.-frz. Standardausgabe der Passions de l’âme das Wort sentiment teilweise mit „Gefühl“, was in diesem Fall nicht haltbar ist, da das Konzept des Gefühls als reflexive verinnerlichte Emotionseinheit nicht mit Descartes’ Systematik übereinzubringen ist (das Wort bezeichnete zu dieser Zeit lediglich den äußeren Tastsinn!). Sinnvoller wäre die Verwendung „Empfindung“ oder „Eindruck“ gewesen, zumindest vertritt Descartes diese Vorstellung in seiner Emotionsbeschreibung.
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halb der Systematik des Emotionswissens für Neuzuordnungen verantwortlich – wobei sich hier eine gesamteuropäische Transformation im 18. Jahrhundert nachvollziehen lässt.103 So ist die „neue Ordnung vom Innern des Menschen“ letztlich Ergebnis einer „Umgestaltung der emotionalen Selbstbeschreibung“.104
2.2 Destruktion der Affekte Dass das menschliche Körperbild seit dem 17. Jahrhundert einen paradigmatischen Umbau erfährt, hat Albrecht Koschorke eingehend dargestellt.105 Er geht davon aus, dass im 18. Jahrhundert eine „Veränderung der sozialen Zirkulation“ und eine Neueinrichtung des menschlichen Körpers eine Grenzziehung und Schließung des Körpers zur Folge hat, die eine neuartige Körpersemiotik etabliert. Die höfische Gesellschaft, eine „Kultur der körperlichen Exhibition“106, der es gänzlich an „Tiefe“ mangelt, wird abgelöst durch eine intime Gefühlskultur, bestimmt durch ein „fluide universel“107 und durchzogen von einem „Netz sympathetischer Relationen“108. Dies hat auch Folgen für das Passionssystem im Inneren des Menschen: „Man empfindet anders, je nachdem ob man den Ursprung seiner Empfindungen in den im Unterleib aufbereiteten Säften oder in dem durch die fortschreitende Zivilisation geschwächten Nervensystem lokalisiert“109. Eine zentrale Beobachtung ist also die buchstäbliche Sensibilisierung des Menschen, die mit
103 Erich Auerbach hat in seinem Aufsatz „Passio als Leidenschaft“ bezüglich der Bedeutungsfelder in der Antike dafür plädiert, dass diese „zwar anders aufgeteilt“ seien, „die Inhalte des inneren Lebens aber sämtlich vorhanden und sehr genau entwickelt sind; dies gilt auch für ‚Gefühl‘.“ (Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern/München: Francke 1967, 161–175; hier: 162) Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist diese Aussage nicht so ohne Weiteres tragbar. Denn die Systematik der emotionalen Selbstbeschreibung verändert sich maßgeblich und das nicht zuletzt aufgrund veränderter epistemologischer Voraussetzungen. Gerade das Gefühl erfährt im 18. Jahrhundert eine so spezifische Auslegung, dass eine Gleichsetzung mit antiken Vorstellungen meiner Meinung nach nicht sinnvoll ist. 104 Jutta Stalfort: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850), Bielefeld: transcript 2013, 277. 105 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, v. a. Kap. II.4: Der Umbau des Menschen. Vom humoralen Gefäßleib zum nervösen Organismus (112 ff). 106 Ebd., 16. 107 Ebd., 120. 108 Ebd., 131. Dieser Umbau, durch den dynamische Körperströme beginnen im Inneren des Menschen zu zirkulieren, hat auch einen entscheidenden Einfluss auf die Kommunikationsstruktur und mediale Verhältnisse, wie Koschorke anhand der Etablierung einer zunehmend verinnerlichten Schriftkultur zeigt. 109 Koschorke, Selbststeuerung, 179.
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Einführung des Nervensystems einhergeht, das die Temperamentenlehre110 ablöst. An Koschorke anschließend liegt der Fokus der folgenden Beobachtungen auf Beschreibungsformen des Emotionssystems, um zu erörtern, wie Emotionen gedacht wurden und welcher Mechanismen und Denkkategorien es für ihre Darstellung bedurfte. Mit der Neueinrichtung des menschlichen Körpers verändert sich zur gleichen Zeit die Systematik der Beobachtung: Der medizinisch sezierende Blick auf den Körper wird vor allem seit dem 17. Jahrhundert ergänzt durch einen physikalischen Blick, der am Funktionieren der Körper-‚Maschine‘ interessiert ist.111 So schreibt Descartes in einem Brief an seinen Freund Claude Picot bezüglich seiner Passionsschrift Les passions de l’âme (1649): „[M]on dessin n’a pas été d’expliquer les Passions en Orateur, ny mesme en Philosophe moral, mais seulement en Physicien“112. Als ‚Physiker‘ zerlegt und zergliedert er die menschliche ‚Maschine‘ analytisch, untersucht sie, um dann ihre Funktionsweise zu bestimmen. So lautet bereits der 2. Artikel in Descartes’ Schrift: „Que pour connoistre les Passions de l’ame, il faut distinguer ses fonctions d’avec celles du corps“113. „Distinguer“, also das Unterscheiden, Sezieren und Zergliedern kann als maßgebliche Operation ausgemacht werden, um Pas-
110 Galen (2. Jh. n. Chr.) verknüpfte die aus der Humoralpathologie stammende „Viersäftelehre“ mit vier unterschiedlichen Temperamenten und teilte sie in vier Menschentypen ein: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker. Die Zuordnung erfolgte je nachdem, welcher der Körpersäfte (Blut, Schleim, schwarze und gelbe Gallenflüssigkeit) im Menschen überwog. Bis weit in die Neuzeit war dies eine gängige anthropologische und medizinische Vorstellung des Flüssigkeitshaushalts im Menschen. Anleihen finden sich auch in Descartes’ Schrift Les Passions de l’âme. 111 Präziser formuliert muss hier von aktualisierten naturphilosophischen Erkenntnissen gesprochen werden, die eingehende Veränderungen innerhalb des Passionswissens bewirken, denn letztlich kann auch Aristoteles Ergründung des Seelenlebens in seiner Passionsschrift De anima als eine physikalische Herangehensweise bezeichnet werden, indem er die Passionen in Form einer kinetischen Wirkkette beschreibt. Vgl. Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, v. a. 36–39. 112 Descartes zit. n. Ernst Cassirer: Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Hamburg: Meiner 1995, 95. Beschreibungen eines „physikalischen Blicks“ auf die Leidenschaften scheinen sich seit dem 16. Jahrhundert zu häufen. So plädiert Francesco Piccolomini in seiner Universa philosophia de moribus (1595): „Die vollständige Definition der Leidenschaften kann nicht die politische Philosophie liefern, sondern nur die Physik. Das Geschäft des Physikers ist ja nicht allein die Beobachtung des physischen Körpers, sondern auch die Theorie ihrer Prinzipien und Affektionen. Weil nun Leidenschaften Affektionen von Lebewesen sind, so müssen sie eben auch vom Naturphilosophen exakt definiert werden. Der Physiker macht sich seine Vorstellungen und Definitionen zu wissenschaftlichen Zwecken, der Rhetor zu Zwecken des Überzeugens und Abratens, der politische Philosoph bildet sich seine Vorstellung von den Leidenschaften, insoweit sie moralisch geformt und gebessert werden sollen, die Definitionen aber holt er sich im Prinzip vom Physiker, bzw. er wendet dessen Definitionen an.“ Piccolomini zit. n. Campe, Affekt und Ausdruck, 131. 113 Descartes, Passions de l’âme, 4.
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sionen oder Affekte114 zu untersuchen und sie damit von anderen körperlichen Prozessen zu unterscheiden. Descartes Vorstellung des menschlichen Körpers ist das einer Uhr oder eines Automaten, einer „machine qui se meut de soy-mesme“115, also ein System der Selbsterhaltung, welches signalisiert, dass die Darstellung eines sich in Einheit befindenden Organismus grundsätzliche angelegt ist. Die anatomischen Beschreibungen und der Verweis auf William Harveys Darstellung des Blutkreislaufs (1628) deuten ebenfalls auf ein derartig in sich abgeschlossenes System hin. Zugleich lässt die LeibSeele Trennung auf mehrere „Regelkreise“ innerhalb des Körpers schließen. Bezüglich der Emotionen führt Descartes im Grunde herkömmliches und neuartiges Passionswissen zusammen, was sich vor allem am Aufbau seiner Schrift veranschaulichen lässt.116 Eine Neuigkeit stellt der erste Teil der Schrift dar, der sich auf den physiologisch-anatomischen und mechanischen Wirkungszusammenhang der Passionen konzentriert und den traditionelleren Teilen vorangestellt ist. Bereits die Ergänzung durch diesen ersten Teil verdeutlicht, dass eine alleinige Aufzählung der Affekte im Sinne der enumeratio nicht länger ausreichend für die Darstellung „de toute la nature de l’homme“117 ist. Ihm folgt im zweiten und dritten Teil ein Affektkatalog, der an die stoisch-traditionelle Darstellungsweise der Leidenschaften anknüpft. Diese Teile dienen der Bestimmung der Nutzbarkeit von Affekten und heben damit ihren intentionalen Charakter hervor.118 Allerdings weicht Descartes erneut von der traditionellen Form ab: Er benennt nur sechs Hauptaffekte, womit er sich von der bis ins 17. Jahrhundert gängigen thomistischen elfgliedrigen Affektliste und der Trennung in passiones concupiscibiles und passiones
114 Descartes verwendet in der lateinischen Ausgabe seiner Schrift Les passions de l’âme die Wörter affectus und passio synonym. Grimm, Affekt, 29a. 115 Descartes: Passions de l’âme, 10. Schon in seiner Schrift Discours de la Methode nutzt Descartes das Bild des Menschen als Uhr. Vgl. Linus Gemmeke: Ethik contra Moral. Ein Vergleich der Affektenlehre Descartes’ und Spinozas, Berlin: Logos 2003, 21. 116 Es ist dennoch wichtig, die häufig geäußerte Forschungsmeinung über eine „natürlichere“ oder „naturwissenschaftlichere“ Konzeption der Leidenschaften seit Descartes differenzierter zu betrachten, wie auch Catherine Newmark betont (Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 170 ff.). Bereits Aristoteles behandelt Affekte als Naturphänomene, die von dynamischen Bewegungskonzepten wie dem appetitus-Modell geprägt sind, also der Vorstellung eines sinnlichen Strebevermögens der Seele. Insofern geht es mir hier eher um die zeitgenössische Beschreibung der Affekte und besonders um Methoden des Erkenntnisgewinns, die letztlich Aufschluss darüber geben können, dass sich den Theorien seit dem 17. Jahrhundert vor allem eine veränderte Systematik der Affektbehandlung ausbildet, die sich unter anderem in der Beschreibungssprache niederschlägt und letztlich, wie erwähnt, auf aktualisierten naturwissenschaftlichen Konzepten beruht. 117 Descartes, Passions de l’âme, 2. 118 Paola-Ludovica Coriando: Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen. Wege einer Ontologie und Ethik des Emotionalen, Frankfurt a. M.: Klostermann 2002, 53.
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irascibiles abgrenzt.119 Unter den „einfach[en] und ursprünglich[en]“120 Hauptaffekten Verwunderung, Liebe, Haß, Begehren, Freude und Traurigkeit (Art. 69) ist die Admiration die erste oder ursprünglichste, auf die Descartes mehrmals zu sprechen kommt.121 Der Grund dieser Privilegierung liegt unter anderem in der Plötzlichkeit der Emotion: Die Überraschung wird Voraussetzung der Leidenschaft: „si l’objet qui se presente n’a rien en soy qui nous surprene, nous n’en sommes aucunement émeus, & nous le considerons sans passion.“122 Deutlich wird hier die Übereinstimmung der zeitlichen Struktur der plötzlichen „Verwunderung“ mit der herkömmlichen Beschreibung eines Affekts, der den Menschen auch plötzlich befällt und dadurch bewegt. Gerade diese strukturelle Übereinstimmung macht die Admiration also zu einem exemplarischen Affekt. Zeitlichkeit und Zeitbezug werden damit zu einem Maßstab der Ordnung des Affekts. Im dritten Teil der Schrift behandelt Descartes schließlich die Nebenaffekte, deren Anzahl theoretisch unendlich ist123 und die Mischformen der sechs ursprünglichen Affekte oder Spezifikationen („especes“) von diesen sind. Grundsätzlich muss man bei Descartes hier zwei „fonctions“124 und damit zwei Passionsformen voneinander unterscheiden, so wie er sie am Anfang im Sinne des „distinguer“, des Zergliederns, vorschlägt: Emotionen werden einerseits über ihren gegenständlichen Bezug, als soziales Vermittlungselement, andererseits als Teil der „substantia cogitans“, als mechanistische Seelenbewegungen, als Empfindungen bestimmt. Die beiden Formen unterscheiden sich wesentlich in ihrer Konzeption, was sich vor allem in der Beschreibungssprache niederschlägt, sowie in ihrer räumlichen Anordnung als äußere Einwirkung (gegenständlich) bzw. innere Bewegung (mechanistisch). Aus gegenständlicher Sicht werden Passionen als eine „agitation, dont les esprits meuvent la petite glande qui est au milieu du cerveau“125 beschrieben, also als (nach damaliger Wortbedeutung) „Erschütterung“126, welche 119 120 121 122 123 124 125 126
Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 134. Descartes, Passions de l’âme, 109. „[I]l me semble que l’Admiration est la premiere de toutes les passions.“ Ebd., 94. Ebd. Es ist auffällig, dass die Beispiele, die Descartes anführt, um das Einwirken der verschiedenen Passionen auf den Menschen zu beschreiben, im Bereich der „Plötzlichkeit“ und „Überraschung“ angesiedelt sind (Vgl. Passions de l’âme, Art. 27, 35–36, 53). „[L]eur nombre est indefini“, ebd., 106. Ebd., 4. Ebd., 90. Klaus Hammacher übersetzt an dieser Stelle mit „Unruhe“ (Descartes, Passions de l’âme, 91). Im Dictionnaire de l’Academie Française (1694) hingegen liest man: „Agitation. s. f. v. Esbranlement, secouëment. L‘agitation du vaisseau. du cheval, du carosse.“ Stichwortsuche des ARTFL-Projekts der University of Chicago, welches unterschiedliche Wörterbücher der Zeit vergleicht: http://artflsrv01.uchicago.edu/cgibin/dicos/pubdico1lookpl?strippedhw=agitation&headword=&docyear=1600-1699&dicoid=ALL, zuletzt besucht am 17. 02. 14. Man
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den Menschen überraschend befällt und vermittels der Zirbeldrüse zur seelischen Bewegung transformiert. Dieser plötzliche und unerwartete „Eindruck“127 ist letztlich auch der Grund dafür, dass die enumeratio, die rational bestimmte Katalogisierung der Emotionen, überhaupt noch ihre Berechtigung hat: Die äußerlich einwirkende passion selbst besitzt keine Verlaufsform, sie ist in ihrer Plötzlichkeit eingrenzbar und benennbar. Nicht so die seelisch-mechanistischen Passionen: Diese versteht Descartes als Kraftprinzip, welche die Leidenschaften erhalten und auch verstärken können.128 Die erste vollständige Definition der passions in Descartes’ Traktat bezieht sich damit auch auf diese seelischen Emotionen, auf diejenigen „passions de l’âme“, welche man von den anderen Gedanken innerhalb der Seele unterscheiden solle als „des perceptions, ou des sentimens, ou des émotions de l’ame, qu’on raporte particulierement à elle, & qui sont causées, entretenuës & fortifiées par quelque mouvement des esprits.“129 Descartes’ Trennung in der Beschreibung der gegenständlichen und mechanistisch-physikalischen Betrachtungsweise von Passionen eröffnet einen neuen Raum emotionaler Selbstbeschreibung. Die Wichtigkeit dieses Raums ist im Sinne der sich transformierenden Passionstraktate nicht zu unterschätzen. Denn hier ist der Einsatzpunkt zu suchen, an dem Affektkataloge nicht länger als ausreichendes Bestimmungsverfahren der Emotionen gelten können. Es gibt andere, konfuse, dunkle und näher zu bestimmende Emotionsformen, die sich einer Fassbarkeit zunächst zu entziehen scheinen. Denn auch wenn sich im Gesicht und insbesondere in den Augen die Passionen wiederspiegeln und man auch versteht, was sie bedeuten, so führt Descartes im 113. Artikel aus, il n’est pas aysé pour cela de les descrire, à cause que chacune est composée de plusieurs changemens, qui arrivent au mouvement et en la figure de l’œil, lesquels sont si particuliers & si petits, que chacun d’eux ne peut estre aperceu separement, bien que ce qui resulte de leur conjonction soit fort aysé à remarquer.130 sieht an diesem Beispiel, dass Kraftbegriffe terminologisch noch nicht auf gleiche Weise ausdifferenziert es heute der Fall ist: agitation ist also einerseits eine ruckartige Bewegung (fr. ébranlement = Schock, Erschütterung; fr. secouement = Rütteln), andererseits ein Schwanken (z. B. des Schiffs). Im Kontext gesehen, nämlich insofern die Plötzlichkeit der körperlichen Affekte immer wieder hervorgehoben wird, halte ich mich hier entsprechend an die Wortbedeutung einer Erschütterung. 127 Descartes, Passions de l’âme, 109. 128 Mehrmals (Art. 27, 29, 36) beschreibt dies Descartes in der Formel „entretenuës & fortifiées“. 129 Ebd., 46. 130 Ebd., 172. Dass diese Überlegungen Descartes maßgeblich für den ästhetischen Diskurs und insbesondere für die Schauspieltheorie sind und dort wiederaufgenommen werden, beweist Johann Jakob Engel, der genau mit diesem Beispiel in seinen Ideen zu einer Mimik (1785/1786) die Unfassbarkeit der Emotionen veranschaulicht und zugleich die Wichtigkeit des mimischen Schauspiels hervorhebt. Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik. Erster
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Die äußeren Zeichen verweisen zwar auf das, was im Inneren vor sich geht. Jene dort befindlichen mechanistischen Emotionen entziehen sich jedoch ihrer Beschreibbarkeit, da sie wandelbar, zu klein und zu stark zusammenhängend sind, um sie voneinander zu unterschieden und um sie zergliedern zu können. So kann hier veranschaulicht werden, wie diese ‚neuen‘ Emotionen, anders als der klar umrissene Affekt, sich ihrer Fassbarkeit entziehen und neue Wege gefunden werden müssen, um sie zu beschreiben. Durch die Ansiedlung der Emotionen im Bereich der kleinen zusammenhängenden perceptions und sentiments lässt sich zudem feststellen, dass das hier ausgelöste Insich-‚Hineinhorchen’ ein Moment der Introspektion bewirkt: In Descartes’ Gesamtkonzeption der passions gewinnt damit die Funktion des Emotionssystems als Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat an Bedeutung.131 So lässt sich zusammenfassen, dass die Neuartigkeit in Descartes’ ‚physikalischer‘ Herangehensweise vor allem darin besteht, innere Zusammenhänge, Wirkungen und Verlaufsformen der Passionen zu erschließen und diese im Sinne einer Kräftelehre neu auszudeuten: Es kommt zur „Aktivierung der Passion“132. Dieser Wandel lässt sich beobachten, auch wenn sich der fundus animae noch als obskurer, unergründlicher Grund entpuppt, der sich einer deutlichen Beschreibbarkeit entzieht. Der Affektkatalog als solcher nimmt zwar weiterhin einen zentralen Platz in der Schrift ein, um eine rationale Fassbarkeit zu realisieren, doch bezeichnet er nur noch eine bestimmte Funktion der Emotion, nämlich eine rein gegenständliche: Der Aufzählungscharakter des Katalogs dient vor allem dazu, den sozialen Nutzen der Passionen zu bestimmen, damit „das emotionale Leben unter die regulierende Kraft des Verstandes gebracht werden kann“133. Dem diffusen Teil seelischer Perzeptionen, Empfindungen und Emotionen vermag das Format des Katalogs hingegen nicht länger gerecht zu werden. Emotionen beginnen sich so ihrer Kategorisierbarkeit zu entziehen. Es tritt der Vorgang ein, den Rüdiger Campe als „Destruktion der komplexen Affekteinheiten“134 beschrieben hat, wobei das Aufbrechen dieser Einheiten auch Teil [= Ideen I] (Faksimile d. Ausg. Berlin 1804), J. J. Engels Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M.: Athenaeum 1971, 74–76. Vgl. Kap. III.2 in dieser Arbeit. 131 Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 135. Auch die Privilegierung der Admiration als Hauptaffekt legt nahe, dass die Passionstheorie Descartes einen wahrnehmungszentrierenden Fokus im Sinne des cogito ergo sum setzt. Vgl. ebd. 132 Luhmann, Liebe als Passion, 75. 133 Coriando, Affektenlehre, 44. 134 Campe, Affekt und Ausdruck, 163. In dem Moment, in dem das Wissen der Affekte aus unterschiedlichen Wissenschaften zusammengesetzt wird, „bricht die Einheit des Affekts und das ihn einfassende zusammengesetzte Wissen auseinander, und man hält Wissenschaften in der Hand, die nicht mehr explizit miteinander kommunizieren“, ebd.
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einen epistemologischen Umbruch zur Folge hat. Beim Übergang von einer Ablösung des Affektkatalogs durch eine Ausdifferenzierung des Emotionalen in unterschiedliche Wissensbereiche lassen sich gewisse Zwischenformen ausmachen. So liefert Baruch de Spinoza zwar im dritten Teil seiner Ethik (1677, posthum erschienen), „De affectibus“, eine ausführliche „Definiton“ bzw. Auflistung von Haupt- und Nebenaffekten, doch entpuppt sich diese als durchgehend problematischer Affektkatalog. Im Grunde geht Spinoza von einer Übergänglichkeit der Affekte aus, welche auf dem Grundprinzip der potentia agendi, der Vermehrung und Verminderung des körperlichen und geistigen Tätigkeitsvermögens beruht. Der 11. Lehrsatz im dritten Teil lautet: „Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das Denkvermögen unseres Geistes.“135 Tätigkeits- und Denkvermögen folgen damit einem Prinzip von Zu- und Abnahme („auget vel minuit“). Spinoza spricht auch nur noch von drei Hauptaffekten: „Ich erkenne also […] nur drei ursprüngliche oder primäre Affekte an, nämlich Lust, Unlust und Begierde“.136 Alle weiteren Affekte sind „von den drei ursprünglichen Affekten abgeleitet“ oder, wie er später ausführt, Mischformen bzw. Verbindungen dieser Affekte mit anderen „Ideen“137. Der Affekt wird damit infinitesimalisiert. Er kann nur mehr abgeleitet werden von seinem Ursprung, aber ist letztlich kaum mehr eingrenzbar, sondern in unendlichen Mischformen vervielfacht. Performativ dekonstruiert Spinoza damit seinen Affektkatalog: Der Affekt der Unlust beispielsweise wird explizit als „Übergang des Menschen von größerer zu geringerer Vollkommenheit“ bezeichnet, also nicht als Zustand, sondern als „Geschehen, wodurch das Tätigkeitsvermögen des Menschen vermindert oder gehemmt wird.“138 Schon zuvor schließt Spinoza eigentlich die Möglichkeit eines Affektkatalogs gänzlich aus (Lehrsatz 56), denn: Es gibt ebenso viele Arten von Lust, Unlust und Begierde und folglich auch von jedem Affekt, der aus ihnen zusammengesetzt ist, wie das Schwanken des Gemüts oder was daraus abgeleitet ist, wie Liebe, Haß, Hoffnung, Furcht usw., wie es Arten von Objekten gibt, von denen wir affiziert werden.139
135 Benedictus de Spinoza, Die Ethik. Lateinisch und Deutsch, übers. v. J. Stern (rev. I. RautheWelsch), Stuttgart: Reclam 2002, 279. 136 Catherine Newmark sieht in der Behandlung von Lust und Unlust eine wichtige Konstante innerhalb der Emotionstheorien. „Als eigenständiges Phänomen werden sie aber kaum je thematisiert, vielmehr wird in der Tradition überall vorausgesetzt, dass sie als ständige Begleiter der Sinneswahrnehmung kontinuierlich in der Seele präsent seien.“ Passion – Affekt – Gefühl, 24. 137 Spinoza, Ethik, 399. 138 Ebd., 397. 139 Ebd., 379.
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Letztlich ist ein Affekt also ein fluctuatio animi, ein Schwanken der Seele. Dieses wird definiert als „Zustand des Geistes, der […] aus zwei entgegengesetzten Affekten entsteht“, und ist nicht klar umrissen, sondern „die wirkende Ursache beider Affekte“140. Er ist damit grundsätzlich vermischt und lediglich durch die verschieden einwirkenden Kräfte bestimmbar. Der Affekt wird bei Spinoza als zusammengesetzt, abgeleitet und durch andere Affekte affiziert beschrieben. Er ist kein statisch greifbares Phänomen: Die klaren Ränder des Affekts verflüssigen sich zunehmend. Spinozas Affektkonzeption ist dabei von einem grundsätzlichen Prinzip geprägt, nämlich von der Vorstellung gleitender Kraftgrößen, die nicht von einem Affekt zum nächsten springen, sondern ineinanderfließen können und sich auch gegenseitig, über eine Operation der Assoziation, affizieren. Aufgrund dieses Prinzips ist es überhaupt erst möglich, ein anwachsendes oder abnehmendes Steigerungsmodell zu denken, wie es das Spinoza’sche Tätigkeitsvermögen beschreibt. So definiert Spinoza nach seiner Aufzählung der einzelnen Affekte verallgemeinernd: „Ein Affekt, auch Leidenschaft des Gemüts genannt, ist eine verworrene Idee [confusa idea], durch die der Geist eine größere oder geringere Existenzkraft seines Körpers bejaht als vorher“141. Tatsächlich, das wird vor allem im vierten Teil der Schrift „Über die menschliche Knechtschaft oder die Macht der Affekte“ deutlich, begreift Spinoza die Natur als ein von Kräften durchdrungenes, durch Steigerung und Überbieten gekennzeichnetes Kontinuum. Es herrscht ein unermüdlicher Trieb zur Selbsterhaltung, und das Tätigkeitsvermögen wird zur „Existenzkraft (vis existendi)“142. Der Mensch strebt auf eine unendliche, vollkommene Größe (Gott oder auch Natur), eine „absolute Aktivität“143 zu, ohne diese jedoch erreichen zu können. Denn: „Es gibt in der Natur kein Einzelding, das nicht von einem anderen mächtigeren und stärkeren übertroffen würde.“144 Dass Emotionen hier als Potential und Steigerungsprinzip beschrieben werden, verdeutlicht die Aufwertung des Passionsgeschehens, das seit Descartes zu beobachten ist, welches mit der sich zunehmend ausbildenden „Geschichte des Sichselbstwissens im Selbstgefühl“145 einhergeht.
140 Ebd., 293. 141 Ebd., 430 f. 142 Achim Engstler: „Spinozas Begriff des Affekts“, in: Ders. (Hg.): Affekte und Ethik. Spinozas Lehre im Kontext, Hildesheim/Zürich: Olms 2002, 106–128; hier: 111. 143 Ebd., 109. 144 Spinoza, Ethik, 445. 145 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart: Metzler 1974, 67.
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Die Leidenschaften werden aber auch – und vielleicht zum ersten Mal146 – in ihrer intensiven, das heißt durch Zu- und Abnahme gekennzeichneten und übergänglichen Verfasstheit, dargestellt. Wie Erich Kleinschmidt gezeigt hat, setzt eine gleitende Gradualisierung immer einen Rahmen voraus, innerhalb dessen eine intensitäre Stufung vollzogen wird: „Intensität wird deshalb erst denkbar, wenn es für ihre Konturierung eine Theorie der Extreme gibt. […] Dazwischen liegen ansteigende und abfallende Zustände, die sich stetig zueinander verhalten.“147 Die drei von Spinoza anerkannten Affekte Lust, Unlust und Begierde können hier Angelpunkte in seiner Kräftelehre darstellen, innerhalb derer die transitorischen Affekteinheiten changieren. Eine komplette Befreiung von Affekten ist insofern bei Spinoza nicht zu denken. Die Schwankungen der Seele, das Vermögen jederzeit affizierbar zu sein, ist durch das kontinuierliche Tätigkeitsvermögen gesichert – im Gegensatz dazu lässt Descartes beispielsweise auch die Möglichkeit zu, ohne Passionen zu sein.148 Vor allem das Einschreiben von Intensität in ein Affektmodell, die Idee von einer unterschiedlichen Stärke der intensiven Einwirkung auf den Menschen, das entsprechend unterschiedlich starke Affekte bewirken kann, scheint hier ein Novum in der Auseinandersetzung mit der Affektkonzeption zu sein. So heißt es wörtlich, dass wir von manchen Dingen „intensiver [intensius] affiziert“149 werden, als von anderen. Bei Spinoza nehmen die Affekte als confusa idea „einen diffusen, flüchtigen Aggregatzustand an. Die Bemühungen gehen dahin, sie im Anschluß an die Fortentwicklungen der Physik jener Zeit auf energetischer Basis zu redefinieren“150. Damit rücken Verlaufsformen, Prozessdenken und Entwicklungs- oder Kontinuitätsgedanken zunehmend in den Mittelpunkt der Beobachtung. Ein physikalisches 146 Kleinschmidt setzt in seinem Buch Die Entdeckung der Intensität die Verwendung des Begriffs später an, nämlich erst bei Leibniz und Wolff (a. a.O. 15 ff.), was insofern seine eigene Berechtigung hat, als Spinoza keine Systematisierung des Intensitätsbegriffs vornimmt. Dennoch ist das Vorkommen des Begriffs (Spinoza, Ethik, 463) in dieser Bedeutung bemerkenswert. 147 Ebd., 17 f. Kleinschmidt weist an dieser Stelle darauf hin, dass der französische Mathematiker Pierre Fermat (1601–1665) erstmals für die Optik ein derartiges „Minimalprinzip“ formulierte (ebd.). Mathematische Errungenschaften wie die infinitesimale Variationsrechnung und Differenzialfunktionen liefern im 17. und 18. Jahrhundert zudem Möglichkeiten diese Prinzipien zu berechnen und zu beschreiben. 148 So sagt Descartes, dass „man auch ohne sie [die Passionen, J. F.] glücklich werden kann.“ In aristotelischer Manier widerspricht er jedoch der Meinung, sich gänzlich von den Passionen zu befreien, da sie „sogar manchmal um so nützlicher sein [können], je mehr sie zum Exzeß neigen.“ Descartes, Brief an Elisabeth von der Pfalz zit. n. Hilge Landweer, Catherine Newmark: „Seelenruhe oder Langeweile, Tiefe der Gefühle oder bedrohliche Exzesse? Zur Rhetorik von Emotionsdebatten“, in: Martin Harbsmeier, Sebastian Möckel (Hg.): Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, 79–106; hier: 91. 149 Spinoza, Ethik, 463. 150 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 101.
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oder medizinisches Beschreibungssystem, mithilfe dessen eine solche „Redefinition“ der Affekte durchgeführt werden könnte, ist bei Spinoza jedoch nicht zu finden.
2.3 Der Ausschluss der Plötzlichkeit: Leibniz’ „loi de la continuité“ Sowohl ein System, das es vermag, gleitende Kraftgrößen zu bezeichnen, als auch ein diesem zugrundeliegendes physikalisch-mathematisches Gesetz entwickelt Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1704).151 Ähnlich Spinozas Idee eines kontinuierlich bewegten Tätigkeitsvermögen geht er davon aus, dass es keinen Moment der Ruhe gibt: „[J]e soutiens que naturellement, une substance ne sauroit estre sans action, et qu’il n’y a même jamais de corps sans mouvement“152. Dennoch herrsche eine grundlegende Harmonie und Ordnung, „la matiere organique par tout, rien de vuide, stérile, negligé, rien de trop uniforme, tout varié, mais avec ordre“153. „[M]annigfaltig, aber in Ordnung“154, so ist auch das Innenleben der Monade zu beschreiben, welche alles Lebendige, das in der Natur existiert, bezeichnet.155 Gilles Deleuze hat diesen Gedanken von Vielheit mit dem Begriff der ‚Falte‘ umschrieben: „Das Vielfältige ist nicht nur dasjenige, 151 Erschienen sind die Nouveaux Essais erst ab 1765, was eine etwas problematische Rezeptionsgeschichte mit sich bringt. Da das Prinzip des loi de la continuité jedoch auch in anderen Schriften, bspw. der Monadologie (1714) abgehandelt wird, kann von einer Verbreitung des Leibniz’schen Denkens schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts ausgegangen werden. Gerade die führenden Enzyklopädisten standen in regem Austausch mit dem Herausgeber Dutens, der 1768 das Opera omnia von Leibniz veröffentlichte. Ursula Winter: „Diderot und Leibniz. Die Leibniz-Rezeption in der Naturphilosophie der Französischen Aufklärung“, in: Studia Leibnitiana, 36/1 (2004), 57–69; hier: 62. 152 Leibniz, Nouveaux Essais, 53. In John Lockes Essay Concerning Human Understanding (1690), dem Leibniz in seiner Schrift in chronologischer Weise folgt und den er kommentiert, ist das Prinzip der absoluten Ruhe hingegen gegeben. 153 Ebd., 72. 154 Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers. E. Cassirer, Hamburg: Meiner 1971, 35. 155 Auf die Monadologie als ein wesentlicher Bestandteil von Leibniz’ Erkenntnistheorie gehe ich hier nicht näher ein, sondern konzentriere mich auf die innerhalb der Monade vorgehenden Prozesse, welche maßgeblich für die Konstitution der Passionen sind. Als Hintergrund sei erwähnt, dass auch der Monade als Grundprinzip die action inhärent ist. Sie gilt als Zentrum der Seele, das bestimmt ist durch den appetitus, das Strebevermögen, an welches untrennbar die Wahrnehmungspartikel gebunden sind, die petites perceptions, die kontinuierlich perzipieren. Seelen- und Erkenntnisvermögen sind hier also unmittelbar verschränkt. Vgl. Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 176. Vgl. auch den Prolog der Arbeit. Vor allem aber steht die Monade für ein absolut geschlossenes System, absolute Innerlichkeit bzw. für „die Autonomie des Innern“, und beschreibt den Kern eines individuellen Selbstgefühls des Subjekts. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, 50.
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das viele Teile hat, sondern was auf viele Weisen gefaltet ist“.156 Bei Leibniz lässt sich damit eine kontinuierlich-geordnete Vermannigfaltigung der einzelnen Bestandteile beobachten, welche ein grundsätzliches Prinzip innerhalb der Natur bildet und die Zwei-Welten-Theorie des Cartesianismus endgültig verabschiedet. Denn die Teile eines Körpers lassen „sich nicht in Teile von Teilen trennen, sondern […] vielmehr ins Unendliche in immer kleinere Falten unterteilen, welche immer noch eine gewisse Kohäsion bewahren“157. Im Zentrum des Leibniz’schen Systems steht die Beobachtung, dass keine Lücke, kein Sprung in der Natur angelegt ist, nichts plötzlich geschieht.158 Stattdessen herrscht das mathematisch-physikalische Gesetz, das „loi de la continuité“, welches lautet: „[L]a nature ne fait jamais des sauts“159 – Die Natur macht niemals Sprünge.160 Die „Plötzlichkeit“, die bei Descartes noch Voraussetzung jedes Affekts war, verbannt Leibniz nun aus dem System bzw. löst sie in Kontinuitäten auf. Ein solches Kontinuitätsmodell lasst sich jedoch nur einführen, wenn nicht mehr „in Stufen“ gedacht wird, sondern sich ein System etabliert, das auf einer fein nuancierten Graduierung beruht und welchem somit eine „dem Grenzwerttheorem des Infinitesimalkalküls entlehnte Mobilitätsidee“161 eingeschrieben ist. Bei Leibniz geschieht dies, indem er ein Wahrnehmungssystem einführt, das aus sogenannten petites perceptions besteht. Diese beschreibt er folgendermaßen: D’ailleurs il y a mille marques, qui font juger qu’il y a à tout moment une infinité de perceptions en nous, mais sans apperception et sans reflexion, c’est à dire des changements dans l’ame même, dont nous appercevons pas, parce que ces impressions sont ou trop petites et en trop grand nombre, ou trop unies, en sorte qu’elles n’ont rien d’assez distinguant à part, mais jointes à d’autres, elles ne laissent pas de faire leur effect, et de se faire sentir au moins confusément dans l’assemblage.162
156 Deleuze, Die Falte, 11. 157 Ebd., 15. Weiter heißt es: „Das einfachste wäre zu sagen, daß Entfalten Vermehren, Wachsen ist und Falten Vermindern, Reduzieren, ‚Rückkehr in die Tiefe einer Welt‘“ (Deleuze, Die Falte, 20). Dabei ist ein Merkmal in Leibniz’ System ist, dass kein epigenetisches, entwickelndes Modell angestrebt wird, sondern vielmehr ein präformatives. Alle Formen sind grundsätzlich in der Monade angelegt, ebenso deren Veränderungen: Es handelt sich um Modifikationen von Grundformen. Vgl. ebd., 23. Diese Tatsache macht Leibniz Essais zu einem Übergangsdokument, das zwar wesentliche Vorbereitungen zu evolutionären Gedanken liefert, dennoch zeitgenössischen Vorstellungen anhaftet. 158 Leibniz, Nouveaux Essais, 56. 159 Ebd. 160 Zur Omnipräsenz dieses Grundsatzes siehe den Prolog dieser Arbeit. 161 Kleinschmidt, Entdeckung der Intensität, 79. 162 Leibniz, Nouveaux Essais, 53.
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Die mannigfaltigen Eindrücke bewirken, dass infinitesimal kleine Perzeptionen, Bewegungen der Seele selbst, ununterbrochen im Körper aktiv sind, die sich dem Verstand entziehen und so nicht „apperzipiert“, also nicht bewusst wahrgenommen werden können. Die petites perceptions werden nicht wahrgenommen, weil sie zu klein sind, weil es zu viele gibt, oder sie zu stark miteinander verbunden sind, so dass sie nicht auseinandergehalten werden können und man sie nur als ein konfuses Ganzes wahrnimmt. Dadurch führt Leibniz eine intensiv-gestaltete Konzeption der Seelenbewegungen ein: Je nach Intensitätsgrad treten die Wahrnehmungen zu Tage oder nicht. Bewusstsein (perception) und reflexive Erkenntnis (apperception) werden zwar voneinander unterschieden, sind aber dennoch beide über das loi de la continuité miteinander verbunden. Mit der Einführung der unbewussten Wahrnehmungen stellt Leibniz einen Gegensatz zu Descartes oder Locke dar, die keine unbewussten Vorgänge für ihr System zulassen163, und bietet gleichermaßen die Grundlagen für ästhetische Sichtweisen auf den fundus animae, den er erstmals als unbestimmten, „klar und verworrenen“ Seelengrund identifiziert und ihn mit einer eigenen Qualität ausstattet. Tatsächlich folgt die Vorstellung der petites perceptions einem (neuartigen) Gradationsprinzip. Wenn Leibniz das Gesetz der Kontinuität im Folgenden ausführt, so erscheint es wie die Definition einer graduellen Wachstumsfigur: Elle [das Kontinuitätsgesetz, J. F.] porte qu’on passe toujours du petit au grand, et à rebours par le mediocre, dans les degrés comme dans les parties […]. Et tout cela fait bien juger, que les perceptions remarquables viennent par degrés de celles, qui sont trop petites pour estre remarqueés.164
Die in Grade unterteilten perceptions, die intensiv anwachsend zu Tage treten, sind hier also verantwortlich, ob Empfindungen im Innern wahrgenommen werden können oder nicht. Auch die Passionen sind auf sie zurückzuführen: „Toutes nos actions indélibérées sont des resultats d’un concours de petites perceptions, et même nos coustumes et passions, qui ont tant d’influence dans nos deliberations, en viennent“165. Sowohl unwillentliche Handlungen als auch Angewohnheiten und Emotionen werden aus dem Wirken der kleinen Perzeptionen gebildet. Wie bereits gezeigt wurde, beobachtete auch Spinoza intensiv anwachsende und abnehmende Affekte. Leibniz hingegen vermag es nun, diese Beobachtung vermittels der graduierten Perzeptionen, also von vornherein infinitesimal gedachte Wahrnehmungseinheiten, in ein 163 Dies zeigt Constanze Peres in ihrem Aufsatz: „Die Grundlagen der Ästhetik in Leibniz’ und Baumgartens Konzeption der Kontinuität und Ganzheit“, in: Melanie Sachs (Hg.): Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden: VS Verlag 2009, 139–162; hier: 144–145. 164 Leibniz, Nouveaux Essais, 53. 165 Ebd., 115 f.
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System zu überführen und damit auch physikalisch-mathematisch beschreibbar zu machen.166 Trotz dieser Beschreibungen erscheint die Bestimmung der Leidenschaften bei Leibniz vage, und das Passionswissen (in einem traditionellen Sinn) wird explizit in Frage gestellt,167 wobei dies auch auf seine Argumentationsfolie, John Lockes Essay Concerning Human Understanding (1690) zurückzuführen ist, der den Passionen ebenfalls nur einen verhältnismäßig geringen Platz einräumt.168 Erklären lässt sich dieser Umstand aber auch damit, dass die Passionen über das Prinzip der petites perceptions mitabgehandelt werden, die in Modi der Graduierbarkeit der Wahrnehmung von Lust und Schmerz – und damit traditionellen Komponenten der Passionsschriften – integriert werden. So beschreibt Leibniz in seinen Nouveaux Essais, dass es sich beispielsweise bei den Schmerzen oft nur um Vorstufen169 handelt: „Il est vrai, que cette perception quelques fois ne différe de celle qui’il y a dans la douleur que du moins au plus, mais c’est que le degré est l’essence de la douleur, car c’est une perception notable“170. Dieser graduelle Unterschied zwischen merkbaren und unmerklichen Schmerzen wird anhand des Beispiels von Appetit und Hunger erklärt, denn erst wenn beim Appetit das Verlangen zu stark anwächst, wird Schmerz empfunden.171 Die Einrichtung der graduellen Stufung der Perzeption, verhilft dem Menschen überhaupt erst zur Wahr166 Eine mathematische Erläuterung des Kontinuitätsgesetzes, dem Gesetz geordneter Übergänge und „stetig zunehmender Bewegung“ (G. W. Leibniz: Specimen Dynamicum, LateinDeutsch, hg. u. übers. v. J. Aeichelin et al., Hamburg: Meiner 1982, 47), findet sich in seiner Schrift Specimen Dynamicum (II, ca. 1695, unveröffentlicht), in der Leibniz das „dem Begriff des Unendlichen und des Stetigen“ entspringende Ordnungsprinzip beschreibt: „Wenn sich im Gegebenen ein Fall einem anderen Fall stetig nähert und schließlich in diesen hinein verschwindet, dann ist es notwendig, daß sich auch im Gesuchten die Folgen dieser Fälle stetig einander nähern und schließlich ineinander aufgehen“ (ebd., 49.) Mit seinen Ausführungen interpretiert Leibniz „Gegensätze wie Ruhe und Bewegung, Gleichheit und Ungleichheit, die prima facie kontradiktorische zu sein scheinen […], als konträre Gegensätze […]. [So] gewinnt dieses Gesetz eine Form, welche die Kontinuität der Bewegung mathematisch faßbar macht.“ (Ebd., Anmerkungen, 144) 167 An einer Stelle heißt es „on ne sent pas ce que c’est que la joye et la tristesse“ (Nouveaux Essais, 88), wobei Textvarianten für „on ne sent pas“ lauten: „car nous n’entend“ und „car on ne sait pas assez“. An letztere Version hält sich auch Ernst Cassirer, der übersetzt: „denn von dem, was Lust und Unlust ist, gibt es eigentlich kein Wissen“ (Neue Abhandlungen, 57). 168 Analog zu Locke vor allem im 20. Buch des 2. Teils der Nouveaux Essais Passionen behandelt, nämlich als Modi der Lust und des Schmerzes. Locke schreibt den Passionen, insbesondere dem Schmerz, eine „anthropologisch zweckmäßige, handlungsmotivierende Rolle“ zu und löst damit „tendenziell die Unterscheidung zwischen Passion und Willen“ auf (Newmark, Affekt – Passion – Gefühl, 179). Bei Leibniz hingegen sind es nicht die Leidenschaften, sondern die petites perceptions, die für die Handlungsmotivation zuständig sind. 169 „[U]ne disposition et préparation à la douleur“, Leibniz, Nouveaux Essais, 164. 170 Ebd. 171 „[L]orsque nous avons de l’appetit et du desir étoit assés grossi, il nous causeroit de la douleur“, ebd., 164 f.
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nehmung echter Lust; Leibniz beschreibt sie als „continuelle victoire“ und im physikalischen Sinne eines dynamischen Schwungs,172 was einmal mehr die Aufwertung der Passionen unterstreicht.173 Dabei ist noch eine weitere Beobachtung zu treffen, die bereits angesprochen wurde, nämlich die Verengung des Passionsbegriffs. Vermutlich in Anlehnung an Locke verwendet Leibniz vor allem die sensuellen Begriffe der sensation oder des sentiment, um das Passionsgeschehen zu beschreiben, das Wort „Affekt“ selbst benutzt Leibniz kaum.174 Begrifflich wird das sentiment dabei im Laufe des 18. Jahrhundert zunehmend in den Bereich der Affekte
172 „[A]u lieu que cette continuelle victoire sur ces demies douleurs, qu’on sent en suivant son desir et satisfaisant en quelque façon à cette appetit ou à cette demangeaison, nous donne quantité de demi-plaisirs, dont la continuation et l’amas (comme dans la continuation de l’impulsion d’un corps pesant qui descend et qui acquiert de l’impetuosité) devient enfin un plaisir entier et veritable.“ Ebd. 173 Auch die Tatsache, dass der Mensch sogenannte demi douleurs oder petites douleurs inapperceptibles besitzt, wird im Folgenden positiv bewertet, denn würde der Mensch immer alle Schmerzen fühlen, wäre er dauerhaft unglücklich (ebd., 165). 174 Zur Etymologie des Begriffsfelds des ‚Sentiments‘: Vgl. Renate Rieve: „Sentiment, sentimental“, in: Europäische Schlüsselwörter; 2. Kurzmonographien I: Wörter im geistigen und sozialen Raum, Heft 2, München: Hübner 1964, 167–189. Das Wort stammt ursprünglich aus dem Französischen und konnte sowohl sententia, opinio, als auch sensus, animi affectio bedeuten (ebd., 167). Im 14./15. Jahrhundert bezeichnet das Wort sentement im Englischen generell „das mit Sinnen Erfahrbare oder Erfahrene“ (ebd.). In seltenen Fällen, in denen das Wort in der Bedeutung eines Gefühls zu finden ist, sind äußere Empfindungen gemeint (168). Im 15. und 16. Jahrhundert verschwindet es fast gänzlich und wird erst Mitte des 17. Jahrhunderts als sentiment aus dem Französischen wiedereingeführt (169), rückt nun aber in sprachliche Nachbarschaft zur Bedeutung opinion. Damit nähert sich der Begriff im Englischen rational-moralischen Vorstellungen an (170f). Ein Beleg für sentiment als „refined and tender emotion“ findet sich seit dem frühen 18. Jahrhundert, z. B. bei Shaftesbury (179). In Deutschland folgt die Einführung eines äquivalenten Wortes endgültig erst 1768 mit der Übersetzung von Laurence Sternes „Sentimental Journey“ als „Empfindsame Reise“ durch J. J. C. Bode. Siehe Jürgen Viering: „Empfindsamkeit“, in: Fricke, Harald, Müller, Jan-Dirk, Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin: De Gruyter 32007, 438–441; hier: 438b-9a. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Wandel des französischen Worts sentiment im Dictionnaire de l’Academie française, vergleicht man die 1. Auflage (1694) mit der 4. Auflage (1762): Hier wird die Veränderung einer „Impression que font les objets sur les sens“ zu einer „Perception que l’ame a des objets, par le moyen des organes des sens“ performativ vollzogen – von einem äußeren zu einem verinnerlichten und wahrnehmungszentrierten Konzept des Gefühls (Stichwortsuche des ARTFL-Projekts der University of Chicago: http://artflsrv02.uchicago.edu/cgi-bin/dicos/pubdico1look.pl?strippedhw=sentiment, zuletzt besucht am 26.10.15). Vgl. auch die Wortgeschichte des Begriffs sensibilité, der von seiner Bedeutung „qui frappe les sens“ (17. Jahrhundert) zu „qui a des sentiments humain“ (18. Jahrhundert) sich semantisch zu einer „Empfindungsfähigkeit“ verändert; auch in diesem Fall zeugt diese Verschiebung von einem Wandel der Beobachtungsrichtung ‚außen‘ – ‚innen‘. Vgl. auch zum englischen und deutschen Begriffsfeld: Sauder, Empfindsamkeit, 1–11.
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und passions integriert, wie es in dem von Louis de Jaucourt verfassten Artikel „Passions“ der Encyclopédie beschrieben wird: Le plaisir & la peine sont donc les pivots sur lesquels roulent toutes nos affections, connues sous le nom d’inclinations & de passions, qui ne sont que les différens degrés des modifications de notre ame. Ces sentimens sont donc liés intimement aux passions; ils en sont les principes, & ils naissent eux-mêmes de diverses sources […].175
Inwiefern hier die affections, inclinations, passions und sentiments, die auf engstem Raum miteinander in Verbindung gebracht werden, zusammenhängen oder sich differenzieren lassen und welche Kräfte welcher „diversen Quellen“ entspringen ist kaum nachvollziehbar. Deutlich wird jedoch ihre Struktur „in unterschiedlichen Graden und Modifikationen“. Alle diese unterschiedlichen wahrnehmbaren und halbwahrnehmbaren Empfindungen nehmen so „einen beträchtlichen Teil des Territoriums [ein], welches in den Affektenlehren bisher den Passionen zugeschrieben wurde“176. Die Verwendung veränderter Begrifflichkeiten folgt schließlich auch aus den zunehmend empirischen Herangehensweisen und induktiven Methoden, die auf Kosten traditioneller Seelenlehren Überhand nehmen.177 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich seit Leibniz die Einteilung des inneren Seelenlebens in graduelle Stufen immer wieder der Idee des kontinuierlichen Anwachsens und Abschwächens bedient. „Sowohl materiell wie immateriell gibt es unendlich Kleines, aber kein Nichts. Es gibt keinen Tod bei Leibniz, nur Unempfindlichkeit, Unmerklichkeit, Unbewußtheit: Minderung also, im Gegenzug auch Steigerung.“178 Bezüglich der Passionsschriften hat dies zur Folge, dass der Affekt als deutlich eingrenzbare Emotionseinheit selbst zunehmend in die Peripherie der Beobachtung rückt oder gesondert behandelt wird. Ins Zentrum der anthropologischen, philosophischen und schließlich ästhetischen Schriften rücken kontinuierlich-fließende intensivierende Perzeptionen, sensations und sentiments. Empfindungen beginnen sich im Innern auszubreiten und im Körper wie in den
175 Louis de Jaucourt: „Passions“, in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 3: Ch-Co, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1966, 138–153; hier: 138a. 176 Newmark, Affekt – Passion – Gefühl, 180. 177 Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1988, 37. 178 Ulrich J. Schneider: „Einleitung“, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften, hg. und übers. v. U. Schneider, Hamburg: Meiner 2002, VII–XXXII; hier: XVI.
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Schriften zu ‚entfalten‘: In der Seele ist „nichts im Sprunge“ und alles „auf dem Wege der Kontinuität“.179
2.4 Innerlichkeit: Das sinnliche Passionswissen Zu Beginn des 18. Jahrhunderts stehen sich damit unterschiedliche Darstellungsweisen der Passionen gegenüber. Einerseits werden Affektkataloge in Anlehnung an die antike Tradition angefertigt, andererseits lässt sich ein Heraustreten der Emotionen aus eben diesen Katalogen beobachten: Ein zunehmendes Problem scheint darin zu liegen, die Passionen greifbar und eingrenzbar zu machen, nicht zuletzt weil die enumeratio zunehmend durch analytisch-physikalische Ursachenforschung abgelöst wird. Es etabliert sich ein alternatives Modell, welches ermöglicht, das Seelenleben in seiner Dynamik beschreibbar zu machen: Ein graduell eingerichtetes Beschreibungssystem, das auf sensuellen Eindrücken und Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühlen beruht und dabei sich einer Beschreibungssprache bedient, die den physikalischen und mathematischen Formeln und der Kräftelehre entlehnt ist. „Kraft“ wird zum „Inbegriff menschlicher Seelentätigkeit“180, so dass die einzelnen Vermögen sich nicht länger inhaltlich unterscheiden, sondern vielmehr in ihrem Intensitätsgrad. Wenn die Aufmerksamkeit sich auf derartige Kraftpotentiale im Inneren konzentriert, lässt sich die Blickrichtung der Passionsschriften als maßgeblich verändert bestimmen: Statt einer tendenziellen Beschreibungsposition von außen, bei der der Mensch passivisch und unmittelbar von Emotionen ‚befallen‘ wird, verlagert sich die Blickrichtung auf ein bewegtes, veränderliches Innen: „Das Empfinden geht unmittelbar unsern innern Zustand an; denn bey jeder neuen Empfindung sind wir uns einer Verändrung in uns selbst bewußt“181. Das so entstehende Modell der Passionen kann als eines der „Sinnlichkeit“ beschrieben werden und zwar eine, die innerlich wahrgenommenen wird: Eigentlich wird das sinnlich genennt, was wir durch die äußeren Sinnen des Körpers empfinden; man hat aber die Bedeutung des Worts auch auf das ausgedähnet, was wir blos innerlich, ohne Zuthun des körperlichen Sinnen empfinden, wie Be179 Johann Gottfried Herder: „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ [1778], in: Ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, Bd. 4, hg. M. Bollacher, J. Brummack, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994, 1090–1127; hier: 1114 f. 180 Ulrike Zeuch: „‚Kraft‘ als Inbegriff menschlicher Seelentätigkeit in der Anthropologie der Spätaufklärung (Herder und Moritz)“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), 99–122; hier: 111; 108. 181 Johann Georg Sulzer: „Sinnlich“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, 1083–1089; hier: 1084.
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gierde, Furcht, Liebe u. d. gl. Dieses Sinnliche das man auch empfindbar nennen könnte, wird von dem Erkennlichen, wenn ich dieses Wort brauchen därf unterschieden.182
„Sinnlichkeit“ und das „Sinnliche“ heißt hier also nicht, dass etwas „durch die Sinne vermittelt“ ist, es bezeichnet vielmehr ein „affektives Begehren“,183 den Wahrnehmungs- und Empfindungsbereich gradationaler Seelenkräfte. Das weite semantische Feld des Sinnlichen bereitet dabei einen Nährboden für Philosophie und die neu entstehende Wissenschaft der Ästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Bereich gradueller Seelenaktivitäten, die zu einer Aufwertung des fundus animae, des unergründlichen Seelengrundes führen.184 Neben dem Sinnlichen, der unmittelbaren Bewusstwerdung einer Veränderlichkeit im Inneren, bedarf es aber auch einer Instanz der Distanzsetzung und Reflexivität, welche nach Sulzer dem Bereich des „Erkennlichen“ zugeordnet wird, und die eine Kraft ist, mit deren Hilfe wir etwas „als von uns getrennt, ansehen. Beym Erkennen sind wir Zuschauer dessen, was vorgeht.“185 Generell führt die neue Aufmerksamkeit auf die Gradationen der Seelenkräfte also zu einer Identifizierung des Wahrnehmungsapparats als Instanz der aktivischen Perzeption einerseits und der Erkenntniskraft als Reflexionsinstanz andererseits.186 Es zeigt sich so, „daß die beschriebenen Körperumschichtungen mit einem Definitionswandel des Menschen von einem rezeptiven zu einem wirklichkeitskonstituierenden Wesen einher-
182 Ebd., 1083. 183 Rüdiger Campe: „Der Effekt der Form. Baumgartens Ästhetik am Rande der Metaphysik“, in: Eva Horn (Hg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München: Fink 2006, 17–33; hier: 23. 184 „Wie viel Begriffe paaret die Deutsche Philosophie mit diesem Worte! Sinnlich leitet auf die Quelle und das Medium gewisser Vorstellungen, und das sind Sinne: es bedeutet die Seelenkräfte, die solche Vorstellungen bilden, das sind die sogenannten untern Fähigkeiten des Geistes: es charakterisiert die Art der Vorstellung, verworren und eben in der reichen, beschäftigenden Verworrenheit angenehm zu denken, d. i. sinnlich: es weiset endlich auch auf die Stärke der Vorstellungen, mit der sie begeistern, und sinnliche Leidenschaften erregen – auf alle vier Gedankenwege zeigt das vielseitige Wort sinnlich, sensitiv, nach Wolfs, Baumgartens, und Moses Bestimmung.“ Herder, Viertes Wäldchen, 378. 185 Sulzer, Sinnlich, 1084. 186 Dass dem Wahrnehmungsapparat vor allem seit dem englischen Sensualismus eine zentrale Rolle zugeschrieben wird, soll hier nur angedeutet werden. So beschäftigt sich John Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding sehr knapp mit den Affekten, behandelt hingegen ausführlich die Genese der Ideen (II, 20), die durch die Passionen beim Menschen hervorgerufen werden und durch sinnliche (sensations) und reflektierende (reflections) Wahrnehmungen entstehen. Zur herausragenden Bedeutung Lockes vor allem als derjenige, in dessen Terminologie und Denken von seiner Zeit an über das Innere des Menschen gesprochen wird, siehe Stalfort, Erfindung der Gefühle, 276 ff.
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geht.“187 Beide Kräfte, Erkennen und Empfinden, sind schließlich Prozesse, die wesentlich an der Ausprägung eines „Gefühlskörpers“ beteiligt sind, der zentralen Vorstellung des Körperbilds, das sich am Ende des 18. Jahrhunderts ausbildet. Ein souveräner und entschiedener Umgang mit Emotionsbegriffen und der Einteilung der Seelenräume ist jedoch in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht abzusehen, wie sich gerade anhand des Gefühlsbegriffs veranschaulichen lässt. Noch bis ins 17. Jahrhundert ist das Wort „Gefühl“ nicht in allen Wörterbüchern zu finden188 und wird erst im 18. Jahrhundert theoretisiert und terminologisch fixiert.189 Noch im Vierten Kritischen Wäldchen (1769) verwendet Johann Gottfried Herder den Begriff gleichbedeutend mit dem Tastsinn.190 Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt geprägt durch den englischen Empirismus, entstehen einige Schriften, die sich mit der Definition unterschiedlicher Passionsbegriffe beschäftigen. Auch Henry Home bemüht sich um eine Begriffserklärung in seinen Elements of Criticism (1762) und spiegelt hier zur gleichen Zeit die heterogene Verwendung des Worts wider: „The term feeling is frequently used in a less proper sense to signify what we feel or are conscious of; and in that sense it is a general term for all our passions and emotions and for all our pleasures and pains.“191 Eine begriffsordnende Rolle spielt am Ende des 18. Jahrhunderts Kants Kritik der Urteilskraft (1790), die das Gefühl als „Grundbegriff für das Emotionale“192 etabliert und es damit an unseren heutigen Sprachgebrauch heranrückt. 187 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 130. 188 Art. „Gefühl“, in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 5 (= Bd. 4, Abt. 1/2): Gefoppe-Getreibs, München: München: dtv 1999, 2167–2187; hier: 2167. Siehe auch Stalfort, Erfindung der Gefühle, 265. 189 Ursula Franke, Günter Oesterle: Art. „Gefühl“, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3: G-H, Basel: Schwabe 1974, Sp. 82–89; hier: 82. Auch bei Christian Wolff taucht das Gefühl noch als reines „Werkzeug des Fühlens“ auf, also als Tastsinn: „Das Gefühle erstreckt sich durch die gantze Haut / wie wir dann finden / daß sie über die maassen empfindlich ist / wenn das Häutlein [d. i. eine obere Schicht der Haut, die keine Empfindungen wahrnehmen kann, außer wenn sie sich von der Haut löst, vgl. § 144, J. F.] davon loß gegangen.“ Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem Gebrauche der Theile in Menschen, Thieren und Pflantzen, hg. C. A. Corr, Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 8 (Nachdr. d. Ausg. Frankfurt u. Leipzig 1725), Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1983, 430. 190 Hiervon leitet Herder seine ganz eigene Theorie des Sensuellen ab. Vgl. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München: Fink 1998, Kap. II. 191 Henry Home of Kames: Elements of Criticism, Bd. 2, Philadelphia: M. Carey 1816, 377. Vgl. Franke/Oesterle, Art. Gefühl, 82 f. Wobei es hier einer eigenen Untersuchung bedürfte, um die jeweiligen Semantiken von englisch feeling, deutsch „Gefühl“, französisch sentiment im 18. Jahrhundert genauer zu bestimmen und voneinander abzugrenzen. 192 Newmark, Passion – Affekt – Gefühl, 205.
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2.5 Transformationen der Gradatio II: Gradation als emotionale Beschreibungsfigur Let us suppose the painful passions to be shades, the pleasing lights; we shall then find that many of our passions are composed of mid-tints, running more or less into lights or shade, pleasure or pain, according to the nature, motive, or degree of the passion.193
Daniel Webb dokumentiert in dieser Textstelle im Wesentlichen den Umbau der emotionalen Transformationen und der Kritik am herkömmlichen System. Der Vorwurf der zu vagen Einteilung in extreme, sich entgegenstehende, absolute Emotionszustände kann dem graduell eingerichteten Emotionshaushalt nicht länger gerecht werden. Durch den Vorschlag einer Einteilung in Schattierungen und Lichtgradationen trägt Webb somit dem veränderten Emotionswissen Rechnung. Emotionen können nun als beweglich gleitende, graduell vermischte Partikel beschrieben werden, die zwischen Lust und Unlust kontinuierlich changieren. Damit lassen sich einige der Transformationen in der Konzeption des Seelenlebens wie folgt zusammenfassen: Im Wesentlichen ist der Umbau geprägt durch unterschiedliche Operationen, denen die Gradation als Denk-, Ordnungs-, und Beschreibungsform unterliegt: Es sind Operationen der Zergliederung, Vermannigfaltigung, und Verbindung, auf deren Rolle im Kontext des Naturbilds im Prolog dieser Arbeit bereits hingewiesen wurde. Durch diese Operationen werden Affekteinheiten zu -vielheiten aufgebrochen oder zergliedert. Im Moment der Zergliederung in unendlich kleine Teile verleiht die Gradation den einzelnen Gliedern graduelle Einheitsgrößen. Dank des Wissens um infinitesimal kleine Einheiten können diese in einem nächsten Schritt verbunden und eine kontinuierliche Vermannigfaltigung erfahren. Die Operationen sind Voraussetzungen dafür, dass die Gradation fließenden Übergängen im Körper eine Form zu geben vermag und das loi de la continuité in ihr eine Beschreibungsfigur erhält. Emotionen lassen sich damit durch ein sinnliches Empfindungsmodell ausdrücken, welches sich mittels verbundener Glieder durch stetige Steigerung und Abnahme auszeichnet und damit auch die Wahrnehmung und Beschreibung feinster Seelenbewegungen und Empfindungen erlaubt. Prozessdenken, Übergänglichkeiten und Verlaufsformen rücken so ins Zentrum der Passionsschriften. Fortan wird das Seelenleben ganz im Sinne der graduellen Zu- und Abnahme (frz.: augmenter/
193 Daniel Webb: „Observations on the Correspondence between Poetry and Music“ [1769], in: Ders.: Ästhetische Schriften. Nachdr. d. Ausg. von 1761, 1762 u. 1769, Einl. I. Kerkhoff, München: Fink 1974, 1–155; hier: 32.
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diminuer par degrés) begriffen, wie auch Etienne Bonnot de Condillacs in seinem Traité des sensations (1754) schreibt: Le plaisir peut diminuer ou augmenter par degrés; en diminuant, il tend à s’éteindre, et il s’évanouit avec la sensation. En augmentant, au contraire, il peut conduire jusqu’à la douleur, parce que l’impression devient trop forte pour l’organe. Ainsi il y a deux termes dans le plaisir. Le plus faible est où la sensation commence avec le moins de force; c’est le premier pas du néant au sentiment: le plus fort est où la sensation ne peut augmenter, sans cesser d’être agréable; c’est l’état le plus voisin de la douleur.194
Während der fließende Übergang von schwachen Sensationen in stärker werdende Empfindungen bis hin zu starken Schmerzen als graduelle Skala eingerichtet ist, wird der (herkömmliche) Affekt selbst entweder aus dem Seelenleben ausgegliedert und abgesondert behandelt oder in das seelische System als besonders intensive oder heftige Gemütsbewegung integriert. Vor allem aber wird er zunehmend als pathologische Gefahrenquelle gedeutet: Die plötzlichen Affekte werden zu „Krankheitserscheinungen des Logos“, die den Menschen „aktionsunfähig“ machen.195 Kant bezeichnet Leidenschaften und Affekte in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) schließlich als „schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung“, die „die Vernunftvorstellung […] nicht aufkommen lässt“: Der Affekt ist „Krankheit des Gemüts“196 und wandert zunehmend in pathologische197, psychologische198 und kriminalistische199 Wissensbestände ab. Der hier nachvollzogene Übertritt der Passionslehre in eine Gefühlsund Erkenntnislehre am Ende des 18. Jahrhunderts hat zur Konsequenz, 194 Etienne Bonnot de Condillac: Traité des sensations, Paris: Librairie Arthème Fayard 1984, 24. 195 Pohlenz zit. n. Zumbusch, Immunität der Klassik, 24. 196 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. R. Brandt, Hamburg: Meiner 2000, 169. 197 Z. B. in die Literatur „ohnmächtiger Frauen“ am Ende des 18. Jahrhunderts. Diese Literatur „inszeniert etwa den psychophysischen Ausnahmezustand, aus dem die Ohnmacht hervorgeht, als Entsetzen über die Überschreitung moralischer Grenzen. Der kollabierende Körper markiert diese Schwelle, und der weibliche, zur Emotion fähige Leib nimmt damit die Rolle eines moralischen Kompasses ein.“ Cécile Ellwanger: Zwischen Stabilität und Konflikt: ohnmächtige Frauen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2011, 48 (http://edoc.ub.uni-muenchen.de/16540/1/Ellwanger_ Cecile.pdf, zuletzt besucht am 15.02.15). 198 Z. B. in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793). 199 Z. B. in die neu aufkommenden kriminalistischen Fallgeschichten am Ende des 18. Jahrhunderts von Meißner, Moritz, Lenz, Schiller, Kleist u. a. Zur literarischen und kontextuellen Verortung dieser in der Spätaufklärung äußerst populären Gattung vgl. die Dissertation von Sarah Seidel: ‚Erfunden von mir selbst ist keine einzige dieser Geschichten’: August Gottlieb Meißners Fallgeschichten zwischen Exempel und Novelle, Hannover: Wehrhahn Verlag 2018.
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dass Passionen als „keine reellen Leiden, sondern Handlungen der Seele“200 beschrieben werden und führt zu einer generellen Aufwertung des Emotionalen als Vermögen eigenen Werts. Daraus folgt die Epistemologisierung der Empfindungen, die sich in der Herausbildung der Wissenschaft bzw. Kunst der Ästhetik begründet sieht. So entsteht eine aisthetische (aiesthesis = wahrnehmbar, sinnlich) Empfindungslehre, ein „Gesamtkomplex“, der sich aus unterschiedlichen Komponenten und Wissensformen zusammensetzt.201 Anthropologisches Wissen ist somit eng geknüpft an Veränderungen in der Beschreibung und Verarbeitung von Wahrnehmung und Empfindung: Die drei Disziplinen Erfahrungsseelenkunde, Anthropologie und Ästhetik, die allesamt im 18. Jahrhundert neu begründet werden, dienen der „Vertiefung ihres Wissens vom Menschen“202, sowie von dessen Seelengründen. Die Verschriftlichung grundlegender Gedanken zur Ästhetik setzt voraus, dass ein System ins Zentrum rückt, welches ein Modell für die Umdeutung des Körperbilds, des Wahrnehmungsapparats sowie der Beschreibungsfiguren bereitstellt – kurz: „Entstanden ist die Ästhetik als Diskurs über den Körper“203. Während im Rahmen der Sinnlichkeit die aktiven Kräfte des Seelenlebens als Stärke und Potential des aufgeklärten, empfindsamen Menschen gesehen werden, entsteht hingegen das Problem einer adäquaten Übersetzung des Emotionalen in ein sprachliches oder künstlerisches Zeichensystem. Man muss nun überlegen, wie sich die sukzessiven, schwankenden Emotionen darstellen lassen – was die Literaten vor gänzlich neue Probleme stellt. So beobachtet Joseph Franz von Goez, dass unter allen uns bekanten Dingen dem feinsten Kunstsin wenige, schwerer zu verfolgen und festzuhalten vorkommen: als eben die Aeusserung dieser sukzessiven auf- oder absteigenden Grade menschlicher Empfindungen; noch schwerer aber die Art und Weise: wie das Resultat der Bemerkungen anschaulich und deutlich dargestelt werden mag.204
200 Meier, Theoretische Lehre, 52. 201 Dieter Kliche: „Ästhetik und Aisthesis. Zur Begriffs- und Problemgeschichte des Ästhetischen“, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), 485–505; hier: 485. 202 Ebd., 489. 203 Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, übers. K. Laermann, Stuttgart/ Weimar: Metzler 1994, 13. 204 Joseph Franz von Goez: Versuch einer zalreichen Folge leidenschaftlicher Entwürfe für empfindsame Kunst- und Schauspiel-Freunde. Erfunden, gezeichnet, geäzt und mit Anmerkungen begleitet von J. F. von Göz, Augsburg: Akademische Handlung 1783, 3. Goez (auch Göz oder Götz) (1754–1815) war ein Maler, Graphiker und Verfasser des Melodrams Lenardo und Blandine (1784). Vgl. Kap. IV.3.
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Die Ästhetik als ‚Wissenschaft der Empfindungen‘ findet an dieser Stelle ihren Einsatz, indem sie ein System aktiviert, mit dessen Hilfe das schwankende, flüchtige fluctuatio animi eingefasst werden soll.
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3 Operationen der Verbindung – die Entfaltung ästhetischer Kräfte Es ist eine wesentliche Eigenschaft der Werke des Geschmaks, daß alle Theile desselben unter einander verbunden seyn. Johann G. Sulzer, 1771205
Die maßgeblichen Veränderungen, die sich im 18. Jahrhundert in Bezug auf das menschliche Körperbild vollziehen, beschreibt Terry Eagleton mit folgenden Worten: „Es ist, als würde sich die Philosophie auf einmal des Umstands bewußt, daß es auf einem Gebiet jenseits ihrer geistigen Enklave nur so von Phänomenen wimmelt, die ihrer Gewalt voll und ganz zu entgleiten drohen.“206 Die anthropologischen Transformationen, die sich innerhalb der Passionsschriften abzeichnen, stehen in einer Wechselwirkung sowohl mit philosophischen als auch mit ästhetischen, sprachlichen, künstlerischen Gegenständen sowie medialen Konstellationen. „Mir scheinen in unsrer Sprache noch unendlich viele Handlungen und Empfindungen in unserer Seele namenlos“207, bemerkt Jakob M. R. Lenz. In jenem Moment, in dem Leibniz die augenscheinliche Mannigfaltigkeit zum Prinzip der Natur erhebt, müssen neue Beschreibungs- und Darstellungsformen gesucht werden, die vermögen, die ‚wimmelnden‘ Phänomene einzufassen, um einen ordo maxime compositus herzustellen und in ein zusammenhängendes vollkommenes Ganzes zu überführen.208 Nach einer „fundamentalen Gliederung des Sichtbaren“209 ist auch die Abbildbarkeit einer Ordnung des Sichtbaren zu überdenken. Wenn aber Herder klagt: „Welch ein unaufgeräumter Kopf! welch ein Schwall von Begriffen!“210 – so wird zugleich deutlich, dass es einer systematischen Ordnung bedarf, die die ‚wimmelnden‘ Phänomene begrifflich stärker ausdiffe205 Johann Georg Sulzer: Art. „Verbindung“, in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, 1208–1210; hier: 1208. 206 Eagleton, Ästhetik, 13. 207 Jakob Michael Reinhold Lenz: „Ueber die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau und den benachbarten Gegenden. In einer Gesellschaft gelehrter Freunde vorgelesen“ [1775], in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. L. Tieck, Berlin: G. Reimer 1828, 318–325; hier: 321. 208 Baumgartens ästhetischer Ordnungsbegriff entstammt seinen Meditationes, wird aber auch in der Aesthetica regelmäßig aufgegriffen, in § 518 umschreibt er ihn etwa als eine „einzigartige Ordnung des noch anmutiger Verbundenen, eine Harmonie des Aufeinanderfolgenden“. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik, hg. u. übers. D. Mirbach, Bd. 1, Hamburg: Meiner 2007, 495. 209 Foucault, Ordnung der Dinge, 180. 210 Herder, Viertes Wäldchen, 254.
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renziert, fassbar macht und innerhalb neuer Wissenssysteme anordnet. Es lässt sich dabei vor allem eine ästhetische Operation ausmachen, die in zahlreichen Schriften benannt wird: die Operation der Verbindung, die eingesetzt wird, um Kontinuitäten und Zusammenhänge zu stiften, worauf bereits das Zitat Sulzers am Anfang des Kapitels hinweist. Verbindungsoperationen, wie sich im Folgenden noch genauer zeigen wird, werden zur zentralen Voraussetzung ästhetischer und damit emotional grundierter Gegenstände. Sie überwinden Brüche, füllen Lücken und ermöglichen damit überhaupt erst Darstellungen kontinuierlicher, graduell anwachsender und schwindender Steigerungsfiguren. Jedenfalls ist der Bedarf an Repräsentations- und Darstellungsmitteln, die Gemütsbewegungen erfassen, hoch: Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden unterschiedliche Stimmen laut, die bemängeln, dass das Innenleben der Seele in seiner prozesshaften Übergänglichkeit nur mangelhaft beschrieben werden könne. An genau diesem Punkt findet die Ästhetik als Wissenschaft ihren Einsatz, indem sie für eine Ergründung des Seelenlebens und deren Fassbarkeit eintritt. Denn Ästhetik ist, bevor sie in künstlerische Reflexion überführt wird, zunächst eine auf der Anthropologie gegründete Lehre der sinnlichen Kräfte und schließt damit auch unmittelbar an das vorherige Kapitel an: Sie ist ohne die Transformation emotionaler und erkenntnistheoretischer Selbstbeschreibung, wie sie seit dem 18. Jahrhundert zu verzeichnen ist, nicht denkbar. Die neuen Erkenntnisse der Anthropologie bilden so die Voraussetzung für die Epistemologisierung einer ‚Wissenschaft der Empfindung‘.211 Alexander Gottlieb Baumgarten beginnt in diesem Sinne seine Theoretische Ästhetik mit den folgenden Worten: „Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“212 Wenn der Wahrnehmungsvorgang, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, zuvor ein Parallelvorgang war, der aus einem sinnlich-taktilen Äußeren und einem wahrnehmend reflexiven Inneren bestand, wird er nun (in Anschluss an Leibniz)213 als zusammenhängend kausales Kontinuum, als verbundene Tätigkeit gedacht. Dabei verleiht Baum211 „Ästhetik als Desiderat der Gnoseologie ist also anfangs der Versuch einer Wissenschaft von der Erfahrung, von den Sinnen, von dem, was dem Intellektualismus der Schulphilosophie ‚verworren‘ und ‚dunkel‘ war. Sie ist nicht originär Kunstlehre oder Lehre vom Kunstschönen, wenngleich das Schöne und die Künste – als Domänen der ‚sinnlichen‘ Erkenntnis – ihre prominenten Gegenstände sind.“ Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg: Meiner 1990, IX. 212 Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58), übers. u. hg. H. R. Schweizer, lateinisch-deutsch, Hamburg: Meiner 1983, 2. 213 Vgl. Adler, Prägnanz des Dunklen, 3.
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garten der sinnlichen Empfindung explizit einen vernunftähnlichen Status („der Vernunft analog[…]“). Er zitiert in § 7 einmal mehr das Leibniz’sche Kontinuitätsgesetz, um zu beschreiben, dass der Erkenntnisweg einer zutage tretenden Empfindung graduell-anwachsender Natur ist und fügt sinnbildlich hinzu: „Ex nocte per auroram meridies“214. Der „verworrenen“ Empfindung wird hier als „Morgenröte“ eine eigene, notwendige und durchaus ‚ästhetisch-schön‘ konnotierte Zwischenstufe auf dem kontinuierlichen Weg zur Erkenntnis zugesprochen, was den gängigen Satz des Rationalismus, „confusio mater erroris“, Verworrenheit sei die Mutter des Irrtums, wiederlegen möchte. Im Sinne einer Wissenschaft der (transformierten) Emotionen führt auch Sulzer den Begriff der Ästhetik ein: [Ästhetik:] Die Philosophie der schönen Künste, oder die Wissenschaft, welche sowol die allgemeine Theorie, als die Regeln der schönen Künste aus der Natur des Geschmaks herleitet. Das Wort bedeutet eigentlich die Wissenschaft der Empfindungen, welche in der griechischen Sprache Αιϑησες [sic] genennt werden. Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf die Erwekung eines lebhaften Gefühls des Wahren und des Guten, also muß die Theorie derselben auf die Theorie der undeutlichen Erkenntniß und der Empfindungen gegründet seyn.215
Ästhetik spielt sich in ihrem Ursprung als „Wissenschaft der Empfindungen“ und „untere Erkenntnislehre“ wesentlich im obskuren Raum des fundus animae216, im „trüben Dunstkreis der Gefühle“217 ab. Als Erforschende der Empfindungen befassen sich Ästhetiker also mit den neuartigen dynamischen Schwankungen innerhalb der Seele. Wenn Baumgarten die Seele nun – in Anlehnung an Leibniz’ Tätigkeitsvermögen innerhalb der Monade – als „Kraft“ bestimmt,218 so ist Ästhetik eine nuancierte, verfeinerte Kräftelehre, die durch Steigerungs- und Schwächungssowie durch unterschiedliche Staffelungspotentiale geprägt ist. Die Beschäf214 Baumgarten, Theoretische Ästhetik, 4. 215 Johann Georg Sulzer: „Aesthetik“ in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 20–22; hier: 20. Noch 1771 gehört die Ästhetik zu den „noch wenig ausgearbeiteten philosophischen Wissenschaften“ (ebd.), so Sulzer. 216 Zur Herleitung dieses Konzepts, dem „Grund der Seele“, das Baumgarten erstmals beschreibt, siehe Hans Adler: „Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung“, in: DVjs 62 (1988), 197–220. Adler zeigt hier, wie das am Grunde liegende Dunkle „sich immer mehr vom Störfaktor zum Nährboden“ wandelt und die dunkle Erkenntnis zum „Urstof“ (Sulzer) klarer Erkenntnis avanciert (208). 217 Friedrich Schiller: „Über die Tragische Kunst“, in: Ders.: Theoretische Schriften, hg. R.-P. Janz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2008, 251–275; hier: 263. 218 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik, Halle: Hemmerde 1766, 269 (§ 545–546). Vgl. Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, 20 ff.
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tigung des Ästhetikers dreht sich im Wesentlichen also um die Bestimmung von graduellen Verlaufsformen, etwa von Graden der Vollkommenheit, der Empfindung, der (sinnlichen) Erkenntnis oder der Lebendigkeit innerhalb der medialen Vermittlung. Für den Künstler bedeutet das wiederum, dass, um ein ästhetisches Werk herzustellen, auch er die Expertise der feinen Grade und Gradationen beherrschen, bzw. diese durch Übung erreichen und vermehren muss.219 Einbildungs- und Empfindungskräfte, die sich innerhalb der Seele des Künstlers zu entfalten beginnen, sind dabei nicht zuletzt „Vermögen des Subjekts“ und somit maßgeblich an der Ausbildung eines subjektiven „Inneren und Eigenen“ beteiligt.220 Diese auf Subjektivität und Empfindung gründende Basis ästhetischer Operationen ist nämlich für eine veränderte Konzeptionen des Schönen verantwortlich: „Schönheit“, so heißt es bei Lenz, sei „ein Wort das sich nicht umschreiben läßt: es muß empfunden werden“.221 Entsprechend wird das Urteil über den als „schön“ wahrgenommenen Gegenstand – analog zum emotionalen Haushalt – nicht länger aufgrund feststehender Konventionen gefällt. Schönheit wird in einer aktiven und graduell zutage tretenden Prozesshaftigkeit und auf dem Gefühl basierend bestimmt, wie sich besonders eindrücklich anhand Denis Diderots Konzept des beau zeigen lässt, das den Blick auf ein „Kontinuum des Schönen“222 offenbart.
3.1 ‚Kontinuum des Schönen‘ und das Wissen infinitesimaler Empfindungen (Diderot) In seinem Artikel „Beau“ nimmt sich Denis Diderot nicht weniger vor, als die Bestimmung der nature, d. h. des grundsätzlichen Wesens des Schönen.223 Dabei beschränkt er sich nicht auf die Anwendbarkeit des Konzepts auf die Kunstwerke,224 sondern versucht sich an einer Herleitung des Begriffs, den er aus seinem Kontext oder seiner Wirkmächtigkeit herauslöst: Er ist daran 219 Menke, Kraft, 29–33. 220 Ebd., 35 f. 221 Jakob Michael Reinhold Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. Faksimiledruck d. Ausg. Frankfurt u. Leipzig 1780, hg. C. Weiß, Mörlenbach: Röhrig 1994, 3. 222 Xenia Baumeister: Diderots Ästhetik der Rapports, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1985, 30. 223 Denis Diderot: Art. „Beau“, in: Ders., Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 2: B-Ce, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1966, 169–181; hier: 170b. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. 224 Dies kritisiert er beispielsweise an Christian Wolff und Jean-Pierre de Crousaz (letzterer veröffentlichte 1715 einen „Traité du Beau“, auf den sich Diderot hier bezieht), die den Begriff des Schönen mit den Wirkungen gleichsetzen, welche im Gemüt bei dem Anblick von etwas Schönem hervorgerufen werden: Ihre Definitionsversuche seien „n’est point prise de la nature du beau, mais de l’effet seulement qu’on éprouve à sa présence.“ Ebd.
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interessiert, wie sich die Wahrnehmung von Schönem im Subjekt ausbildet. Dass er mit dieser Bestimmung Neuland betritt, wird schnell deutlich, wenn man Diderots Argumentationsfolie, Francis Hutchesons Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue (1725) in Betracht zieht. Hutcheson geht davon aus, dass das Schöne den Menschen unmittelbar befalle („[it] strikes us […] immediately“225), und beschreibt den sogenannten Internal Sense, welcher für das ästhetische Bewusstsein zuständig sei, als „Power of receiving“226, als passives Perzeptionsvermögen. Im Gegensatz dazu begründet Diderot seine Vorstellung des beau anthropologisch als Ergebnis der Operationen des Denkvermögens: Nous naissons avec la faculté de sentir et de penser; le premier pas de la faculté de penser, c’est d’examiner ses perceptions, de les unir, de les comparer, de les combiner, d’apercevoir entre elles des rapports de convenance et de disconvenance, etc. (175a)
Eine grundlegende und angeborene Kompetenz des Denkens besteht darin, Wahrnehmungen zu verbinden, zu vergleichen, zu kombinieren, Verbindungen der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung herzustellen, so Diderot. Sie befähigt den Menschen Wahrnehmungen „d’ordre, de rapports, de proportion, de liaison, d’arrangement, de symmétrie“ (175b) und damit grundlegende Maßstäbe (herkömmlicher) Schönheitskonzepte auszumachen. Diese Wahrnehmungen der Ordnung und Verbindung beruhen wiederum auf Erfahrung („sont expérimentales“, ebd.) und werden durch die Sinne vermittelt. Deutlich wird hier die aktivische Seite des Denkapparats, die bei Diderot im Vordergrund steht. Er steht dem Internal Sense von Hutcheson, der als passive oder rezeptive Power of receiving konzipiert ist, somit diametral entgegen. Das Schöne ist nicht etwas, das den Menschen unmittelbar ‚befällt‘, sondern: „J’appelle donc beau hors de moi, tout ce qui contient en soi de quoi réveiller dans mon entendement l’idée de rapports“ (176a).227 225 Francis Hutcheson: An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in two Treatises, London: J. & J. Knapton et al. 31729, 11. Vgl. Baumeister, Rapports, 14. Noch bei Burke findet sich die Formulierung des Einfalls in seinem Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757): „since it is no creature of our reason, since it strikes us without any reference to use, […] we must conclude that beauty is, some quality in bodies, acting mechanically upon the human mind by the intervention of the senses.“ Burke, Philosophical Enquiry, 112. Dennoch nimmt Burke hier eine Zwischenposition ein: Der letzte Zusatz der „intervention of the senses“ lässt auf ein stärker wahrnehmungszentriertes Konzept schließen. So auch wenn Burke auffordert, „to consider attentively in what manner those sensible qualities are disposed, in such things as by experience we find beautiful, or which excite in us the passion of love, or some correspondent affection.“ (113) 226 Hutcheson, Inquiry, 7. Vgl. Baumeister, Rapports, 22. 227 Ein Vergleich mit der in Kap. II.2 nachgezeichneten Veränderung der emotionalen Selbstbeschreibung drängt sich hier geradezu auf. Auch dort wird der unmittelbare ‚Befall‘ der
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Alles, was in der Denktätigkeit also Ideen der Verbindung228 erweckt, wird als das Schöne bezeichnet. Das ästhetische Empfinden ist nicht angeboren, wie bei Hutcheson, sondern wird erst ausgebildet, wie der Begriff „réveiller“ impliziert: „la beauté commence, s’accroît, varie, décline & disparoît avec les rapports“229. Die Wahrnehmung der Schönheit selbst folgt damit einem Prinzip der Zu- und Abnahme, das als kontinuierlicher Prozess gedacht werden muss. In seinen Lettre sur les Aveugles (1749) schlägt Diderot vor, „qu’il faut peut-être que l’œil apprenne à voir, comme la langue à parler“230 – Schönheit zu erkennen ist damit eine Praxis, die, ähnlich wie das Sprechen oder Lesen, erlernt werden kann und einer gewissen Übung bedarf. Der Blick muss geschult werden, um der rapports gewahr zu werden. Hierbei ist das Schöne eher eine Sache des Gefühls als des Verstands. Diese empfindende Wahrnehmung, die „notion de rapports“ ist das Mittel, um die unterschiedlichen Grade der Schönheit zu bestimmen, denn, wie er wiederholt äußert: „[L]a beauté commence, augmente, varie à l’infini, décline et disparaît“231. Proportion und Symmetrie können zwar eine Form der Beurteilung des Schönen darstellen, aber – und diese Inklusion kann durchaus als neuartig gelten – es gibt auch das asymmetrische, disproportionale, beispielsweise das zufällig gestaltete Schöne, welches mit bisherigen Maßstäben nicht erfasst werden konnte.232 Aus eben diesem Grund führt Diderot die Operation der rapports ein, welche unabhängig von gesetzten Bestimmungen eine graduelle Skala des Schönen repräsentiert: „Selon la nature d’un être, selon qu’il excite en nous la perception d’un plus grand nombre de rapports, & selon la nature des rapports qu’il excite, il est joli, beau, plus beau, très-beau, laid, bas, petit, grand, élevé, sublime, outré, burlesque ou plaisant“233. Es würde den Rahmen des Artikels sprengen, führte man alle unterschiedlichen existierenden Bezeichnungen auf, so DidePassionen durch ein aktives Tätigkeitsmodell im Inneren, den petites perceptions abgelöst – in beiden Fällen, bei der Konzeption der Emotionen wie der ästhetischen Wahrnehmung, verlagert sich die Blickrichtung der Beschreibung von außen nach innen. 228 Im Dictionnaire de l’Académie Française (1762) wird „rapport“ u. a. definiert als: „L’espèce de liaison & de relation que certaines choses ont ensemble.“ http://portail.atilf.fr/cgi-bin/ dico1look.pl?strippedhw=rapport&headword=&docyear=ALL&dicoid=ALL&articletype=1, zuletzt besucht am 01. 04. 14. 229 Diderot, Beau, 177b. 230 Denis Diderot: „Lettre sur les Aveugles“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 1: Philosophie, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1994, 139–185; hier: 175. 231 Diderot, Beau, 176a. Diderots Ausführungen zum Schönen schreiben sich dabei in den Diskurs der Infinitesimalisierung der Natur ein und zeugen von einem expliziten Gradationsbewusstsein, wenn er weiterhin von einem „maximum de beauté“ (ebd.), von einer Variation „à l’infini“ (ebd.) und den „nuances du beau“ (178b) spricht. 232 Auch in Burkes Ideas of the Sublime and Beautiful findet sich die Äußerung, Proportion sei „not the cause of beauty“ (Burke, Enquiry, 92; 95; 96). Statt des Begriffs der deformity setzt Burke so den Begriff der ugly/ugliness als Gegensatz zum beautiful (Burke, Enquiry, 102). 233 Diderot, Beau, 177a.
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rot. Ohnehin gebe es keine einheitliche Wahrnehmung unter den Menschen, die ein Objekt „au même degré“ (181a) beurteilten – Diderots Schönheitsvorstellung fußt also explizit auf einem Subjektivierungsvorgang. Dementsprechend könne es auch kein Zeichen geben, das so genau definiert sei („qui soit assez exactement défini“, ebd.), dass man unter all diesen Nuancen der Beurteilung obendrein noch zu einer Einstimmigkeit im sprachlichen Ausdruck komme. Der Umstand, dass Diderot eben nicht wie beispielsweise Charles Batteux234 ein singulär übergeordnetes Prinzip des Schönen sucht, sondern das „Primat der Mannigfaltigkeit der Phänomene“235 zum Ausganspunkt seiner Theorie des Schönen macht, bedeutet eine von Grund auf veränderte Vorstellung und Repräsentation der Natur. So kritisiert Diderot auch Du Bos direkt, wenn er fragt: „Qu’est-ce donc qu’on entend, quand on dit à un artiste, imitez la belle nature?“236. Diese Frage gehört zu den grundsätzlichen des 18. Jahrhunderts und verweist auf eine gewisse Unsicherheit im Zeichenumgang: Die Natur nachzuahmen heißt vor dem 18. Jahrhundert, mit einem metaphysisch verbürgten Zeichenapparat umzugehen. Natur darzustellen stellt hingegen seit dem 18. Jahrhundert die Künstler vor die Aufgabe, die Natur zu zergliedern und vermittels des Wahrnehmungsapparats neu zu ordnen und schließlich zu verbinden, um sie überhaupt beschreiben zu können. Um die Mannigfaltigkeit der Phänomene dann auch semiotisch zu erfassen, bedarf es eines Zeichenapparats, der diesen gerecht werden kann: der Natur in ihrer Gleichzeitigkeit, kontinuierlichen Prozesshaftigkeit und Mannigfaltigkeit darzustellen vermag. Und genau dieses Vermögen spricht Diderot dem sprachlichen Zeichen ab, wenn er sagt, es gebe nicht genug Begriffe, um das Schöne zu bezeichnen. Neben der Zeitstruktur, die nicht länger durch ein plötzliches Einwirken, sondern eine allmähliche Genese des ästhetischen Empfindens geprägt ist, verändert Diderot vor allem die Beschreibungssprache des Schönen selbst: Die Wahrnehmung von Schönem wird graduell wachsend beschrieben und erscheint in struktureller Analogie zur Darstellung emotionaler und erkenntnistheoretischer Prozesse. Zudem veranschaulicht der dargestellte Wandel die Vorstellung eines zunehmend individuellen und wirklichkeitskonstituierenden Schönheitsbegriffs, welcher im Subjekt ausgebildet wird und sich auf alle Künste und Wissenschaften übertragen lässt.237 234 In seiner Schrift Les Beaux Arts réduits à un même Principe (1746). 235 Baumeister, Rapports, 35. 236 Diderot, Beau, 177a. 237 „Ne croyez pas, Mademoiselle, que ces principes ne s’étendent qu’à l’architecture. Le goût en général consiste dans la perception des rapports. Un beau tableau, un poème, une belle poème, une belle musique ne nous plaisent que par les rapports que nous y remarquons. Il en est même d’une belle vue comme d’un beau concert.“ Denis Diderot: „Lettre à Made-
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3.2 Sprachmisstrauen Die von Diderot bereits im Kontext des Begriffs beau angedeutete Kritik am sprachlichen Zeichen verweist auf ein zentrales Diskurselement ästhetischphilosophischer Schriften im 18. Jahrhundert: Es herrscht ein immer wieder geäußertes Sprachmisstrauen, da die sprachlichen Zeichen nicht länger als adäquate Ver- und Übermittlungsinstanzen der Weltdarstellung betrachtet werden. Die tendenziell negative Bewertung des sprachlichen Zeichens wird mit dem Vorwurf verbunden, dass es die eigentliche „Naturwahrheit“ eher verdecke als verdeutliche. John Locke kann hier als ein Vorreiter dieses Sprachmisstrauens gelten. Er spricht im dritten Buch seines Essays Concerning Human Understanding von der „imperfection“ der Wörter und beschreibt sie als einen Nebel, der sich wie ein Schleier vor unsere Augen, unser Erkennen und unsere Wahrheit lege: „[Words] interpose themselves so much between our understandings and the truth […] like the medium through which visible objects pass, their obscurity and disorder does not seldom cast a mist before our eyes and impose upon our understanding.“238 Das „Wort“ wird hier zum medialen Zerrspiegel, denn es vermag nicht, eine adäquate Abbildung des Wahrgenommenen zu realisieren: Ein Raum der „Repräsentation“ hat sich dazwischengeschaltet, in dem das Wortzeichen „mit sich selbst spielt, sich zerlegt und sich wieder zusammensetzt“239 und nicht länger unmittelbare Bedeutung in sich trägt. Eine derartig kritische Haltung gegenüber der Sprache macht sich in ganz Europa bemerkbar: „Die Zeichen sind gleichsam der Umschlag der Sachen“, urteilt etwa Georg Friedrich Meier, „[s]ie verhüllen und bedecken die Sachen. Diese Schaale der Sachen muß zerbrochen werden, und die Sachen entkleidet und nackend den Augen des andern dargestelt werden. Der andere muß die Sachen selbst fühlen.“240 Es ist diese Suche nach einem natürlichen Zeichen, nach einem ‚nackten‘ inneren Wesenskern der Sprache, der von allem künstlichen Material entschlackt und vermittels eines sympathetischen Empfindungsaustauschs seine unmittelbare Übertragung finden soll. Das philosophische Sprachzeichen, das ja letztlich wesentlich zum Erkenntnisgewinn beitragen sollte, erfährt dieselbe Kritik: Während lange Zeit die moiselle… [Additions pour servir d’éclaircissements a quelques endroits de la Lettre sur les Sourds et Muets]“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 52–61; hier: 58. Dieselbe Ansicht findet sich bereits in: Denis Diderot: „Aus den ‚Allgemeinen Prinzipien der Akustik‘“ [1748], in: Ders.: Ästhetische Schriften, Bd. I, hg. F. Bassenge, West-Berlin: deb 1984; 17–26; hier: 23. 238 John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, hg. P. H. Nidditch, Oxford: Clarendon Press 1975, 488 (III.IX, § 21). 239 Foucault, Ordnung der Dinge, 107. 240 Meier, Theoretische Lehre, 272 f.
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antike Vorstellung im Sinne des aliquid stat pro aliquo (‚etwas steht für etwas anderes‘) galt, gerät eine derartige „duplizierende“241 Übersetzung, eine „Bewußtseinskopie“242 in sprachliche Zeichen, welche dem Prinzip der Ähnlichkeit243 gehorchen, im Laufe der Aufklärung ins Wanken. Dass Christian Wolff Begriffe auf einer Skala zwischen Dunkelheit und Klarheit, Undeutlichkeit und Deutlichkeit, Unausführlichkeit und Ausführlichkeit sowie Unvollständigkeit und Vollständigkeit graduell beschreibt und verortet, kann dabei als wesentliche Konsequenz dafür gedeutet werden, dass eine unmittelbare Übersetzung einer Vorstellung in einen Begriff nicht länger denkbar ist. Statt einer „Duplizierung“ beschreibt Wolff eine Semiose, einen Zeichenbildungsprozess, der von einer Verknüpfungsoperation gefolgt wird und das Ziel der prozesshaft eingerichteten Perfektibilität der Worte verfolgt.244 Sprache verliert damit ihre eindeutige Bezeichnungskraft und ist zunehmend durch „Dispersion“245 gekennzeichnet: „les mots ne sont et ne peuvent être que des signes approchés d’une pensée, d’un sentiment, d’une idee“246 – Worte sind nichts als Annäherungen an Gedanken, Empfindungen und Ideen und keinerlei Garanten eindeutig übermittelter Sinneinheiten. Gerade aufgrund des vermannigfaltigten Naturbilds sowie der Vorstellung eines infinitesimalisierten und graduell eingerichteten Seelenlebens wird die Sprache als „so dürftig, so unvollkommen“ wahrgenommen: „Die Ausdrücke die wir noch haben, bezeichnen nur sehr allgemeine Classen für die äußerste Nothdurft“247, schreibt Johann Jakob Engel. Für die „Nüancen“, das „Flüchtige, so Vorübergehende“248, stelle die Sprache kaum ein geeig-
241 David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge et al.: Cambridge UP 1984, 10. Auch Wellbery führt die veränderte Konzeption der Sprache u. a. auf die „methodologization of knowledge“ zurück, die zur Folge hat, dass ein gewisses Bedürfnis der Verfeinerung der Sprache entsteht, um methodischen Anforderungen der Zeit zu entsprechen (36ff). 242 Koschorke, Selbststeuerung, 180. 243 Im Sinne Foucaults besteht die Welt vor dem klassischen Zeitalter aus einem „Schatz von Zeichen, die durch Ähnlichkeit mit dem verbunden sind, was sie bezeichnen können.“ Auch die Sprache „gehört zur großen Distribution der Ähnlichkeiten und Signaturen“ und wird deshalb im Paradigma der (gottgegebenen) Natur erklärbar. Eben dieser Wesenszug, dass Sprache „unmittelbar den Dingen ähnelt, die sie bezeichnet“, verliert sich zunehmend. Foucault, Ordnung der Dinge, 68f; 71. 244 Wellbery, Laocoon, 24 f. Vgl. hierzu Kapitel V „Vom philosophischen Stil“ in Wolffs Discursus praeliminaris. In: Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere/ Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, übers. u. hg. G. Gawlick, L. Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1996. 245 Foucault, Ordnung der Dinge, 98. 246 Denis Diderot: „Paradoxe sur le Comédien“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 1377–1426; hier: 1379. 247 Engel, Ideen I, 77. 248 Ebd., 78.
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netes Vermittlungsinstrument dar. Die Sprache bietet zwar Klassifizierungsmöglichkeiten und Taxonomien, sie wird „ordnungsfähig“249 und vermag es, Unterscheidungen zu treffen,250 es mangelt ihr jedoch an Beweglichkeit, Mannigfaltigkeit, Nuanciertheit: „There is a stubbornness in the nature of language, which often renders it unapt to fall into that order and succession to which the affection leads us.“251 Im Plädoyer gegen das „sture“ Zeichen äußert sich das Desiderat, eine Sprache zu entwickeln, die sowohl Feinheiten als auch kontinuierliche Prozesshaftigkeit darstellen kann, sowie eine Sprache, die den Seelen- und Gedankenbewegungen zwar nahe, dennoch unabhängig von individuellem Verständnis und Ausdruck ist. Es bedurfte „der Erfindung einer Sprache, die eher Symbolik als Sprache war und die deshalb für das Denken in der Bewegung“, ein „Gleiten der Sprache“ ermöglichte auf der einen Seite,252 und einer verfeinerten, präzisierten, ‚neutralen‘ Sprache, die gleichermaßen einen Innovationscharakter in sich trug, welcher den Bedarf einer „unverbrauchten Begrifflichkeit“253 deckte auf der anderen Seite.254 Die damit verbundenen sehr verschiedenen Vorstellungen und Konzepte von Sprache veranschaulichen, weshalb die Verunsicherung im Zeichenumgang überhaupt eine derartige Brisanz erhält, ja geradezu eine Publikationswut auslöst, die die Produktion zahlreicher Akademie- und Streitschriften in ganz Europa zur Folge hat: „The sign is at once essential and accidental, the medium of knowledge and the source of error.“255 Diese Ambiguität des sprachlichen Zeichens schlägt sich sowohl in dem Vorwurf der Abstraktheit, Ungenauigkeit und Willkür sowie in der Wahrnehmung seiner prekären Systematik nieder.256 249 Foucault, Ordnung der Dinge, 99. 250 Ebd., 192. 251 Webb, Observations, 19. 252 Foucault, Ordnung der Dinge, 363. 253 Erich Kleinschmidt: „Entregelte Poetik. Zum dichtungstheoretischen Sprachaufbruch im 18. Jahrhundert“, in: Jürgen Dittmann, Hugo Steger (Hg.): Erscheinungsformen der deutschen Sprache. Literatursprache, Alltagssprache, Gruppensprache, Fachsprache. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hugo Steger, Berlin: Schmidt 1991, 77–91; hier: 78. 254 „Auf der einen Seite steht der Versuch einer vollständigen Objektivierung der Sprache und ihrer kategorialen Trennung von den Instanzen ihrer Beobachtung, Beschreibung und Reflexion, auf der anderen Seite die Radikalisierung sprachlicher Selbstbezüglichkeit hin zu einer völligen Tilgung jener Objektivierbarkeit.“ Stephan Jaeger, Stefan Willer: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, 7–30; hier: 8. 255 Wellbery, Laocoon, 35. 256 „Unsre und keine Sprache ist von einem Philosophen ausgedacht, der die atmosphärische Natur abstrakter Begriffe gleichsam von oben herab in Worte geordnet hätte. Die Erfinder der Benennungen stiegen von unten hinauf: sie bemerkten und benenneten einzeln: so müssen wir ihnen nachsteigen, alsdenn sammeln, alsdenn übersehen.“ Herder, Viertes Wäldchen, 289.
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Andererseits kann man auch im 18. Jahrhundert gewisse Sprachprojekte ausmachen, die darauf ausgerichtet sind, die Zeichen so zu bilden und zu verwenden, dass sie Wissensgehalte den zeitgenössischen Ansprüchen entsprechend abbilden können. Es gibt Beispiele, bei denen eine Übertragung des seelischen oder geistigen Innenlebens in ein Zeichensystem als gelungen bezeichnet wird, wie Lessing für die griechische Sprache feststellt: Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem ersten Prädikate, und läßt die andern nachfolgen; […] So wissen wir mit eins wovon er redet, und werden, der natürlichen Ordnung des Denkens gemäß, erst mit dem Dinge, und dann mit seinen Zufälligkeiten bekannt. Diesen Vorteil hat unsere Sprache nicht.257
Die Übersetzung der analysierten Sinneseindrücke in Sprache kann also vor allem dann als erfolgreich gelten, wenn sie den (als solche anerkannten) Verfahren des Wahrnehmungsapparats oder den Empfindungsprozessen möglichst entspricht. Auch die weitläufige Debatte über Vor- und Nachteile der Inversion in der Wortstellung, die im Kontext der Ablösung des Lateinischen als Gelehrtensprache zu verorten und an Diskussionen um die jeweiligen Nationalsprachen als Wissenschaftssprachen geknüpft ist, wird in diesem Sinne geführt.258 Das im 18. Jahrhundert zunehmende Nachdenken über sprachliche Zeichen und ihre Leistungsfähigkeit lässt sich mit den anthropologischen Veränderungen der Zeit zusammendenken. Ideen sind nicht länger „Bildganzheiten“, so wie Emotionen nicht länger statische Affekte sind, sondern sie werden in immer kleinere Elemente auf infinitesimale Weise zergliedert. In jenem Moment also, in welchem graduelle Abstufungen klarer und unklarer Ideen und Empfindungen vorgenommen werden, wird auch die Frage nach einer adäquaten symbolischen Übertragung virulent. Den Kern dieses Übersetzungsproblems fasst Diderot in seinem Taubstummenbrief in einer vielzitierten Stelle zusammen: Notre âme est un tableau mouvant, d’après lequel nous peignons sans cesse: nous employons bien du temps à le rendre avec fidélité: mais il existe en entier, et tout à la fois: l’esprit ne va pas à pas comptés comme l’expression. Le pinceau n’exécute qu’à la longue ce que l’oeil du peintre embrasse tout d’un coup. La formation des langues exigeait la décomposition, mais voir un objet, le juger beau, éprouver une sensation 257 Gottfried Ephraim Lessing: „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: Ders.: Laokoon. Werke 1766–1769, hg. W. Barner, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2007, 9–206; hier: 133. 258 Vgl. Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München: Fink 2007, 88 ff. Ein zentraler Kritikpunkt Herders an Baumgarten ist so auch die Verfassung der Aesthetica auf Latein: „Seine Philosophie ist in’s Lateinische verhüllt […]. Ich würde sie gern auf deutsch lesen.“ Herder zit. n. Adler, Prägnanz des Dunklen, 69 (Anm. 113).
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II Transformationen der Gradatio agréable, désirer la possession, c’est l’état de l’âme dans un même instant, et ce que le grec et le latin rendent par un seul mot. Ce mot prononcé, tout est dit, tout est entendu. […] [L]a diction la plus vive est encore une froide copie de ce qui s’y passe!259
Das tableau mouvant, das bewegte Gemälde,260 steht hier sinnbildlich für das innere Seelenleben: Da in der Seele sämtliche Vorgänge zur gleichen Zeit verdichtet präsent sind, laufen Prozesse und Ideenfolgen zu schnell ab, um eine klare Reihenfolge bestimmen zu können261. Bei der Übertragung in Zeichen ist deshalb eine Zergliederung notwendig, um einen Gedanken klar zum Ausdruck zu bringen und die zahlreichen präsenten Ideen müssen fixiert werden („envisager fixement“262). Die Sprache kann somit immer nur eine „kalte Kopie“ („froide copie“) der Wirklichkeit sein.263 Das Problem der Zeitlichkeit von Sprache, ihr sukzessiver Prozesscharakter, der wiederum einer anderen Struktur folgt als die Gedanken,264 deutet auf das grundsätzliche Übersetzungsproblem hin, das entsteht, wenn Sprache durch die Kenntnis im Prozess befindlicher Ideen- und Seelenbewegungen instabil wird. Auch Moses Mendelssohn sieht die Mangelhaftigkeit der Sprache in ihrer Zeitlichkeit und unterstellt den Zeichen eine gewisse Trägheit und ‚Abkürzung‘: Die Begriffe folgen in einer Leidenschaft so schnell aufeinander, daß die Zeichen, durch welche sie ausgedrückt werden, öfter zu langsam sind, und die Kürze selbst, 259 Diderot, Denis Diderot: „Lettre sur les Sourds et Muets. A l’usage de ceux qui entendent et qui parlent. Adressée a M**“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 11–50, 30. 260 Bei der Vorstellung des Tableaus geht Diderot von einer (nahezu) simultanen Entstehung der Gedanken aus („sinon à la fois, du moins avec une rapidité si tumultueuse“; Diderot, Lettre sur les Sourds et Muets, 28). Dabei unterscheiden sich diese Ideen aber in ihrer Struktur von der sukzessiven Ordnung der Sprache: „la sensation n’a point dans l’âme ce développement successif du discours; et si elle pouvait commander à vingt bouches, chaque bouche disant son mot, toutes les idées précédentes seraient rendues à la fois.“ (27f) Zur ästhetischen Konzeption des Tableau bei Diderot vgl. Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting & Beholder in the Age of Diderot, Berkeley/Los Angeles/London: California UP 1980, sowie Kap. III.1 in dieser Arbeit. 261 „[L]eur succession est […] si rapide, qu’il es souvent impossible de démêler celle qui nous frappe la première“, ebd., 26. 262 Ebd., 30. 263 Ebd. Dieses Problem der unterschiedlichen Zeitlichkeit oder Simultaneität von Gedanken kann laut Diderot lediglich durch die Bildung sogenannter „expressions énergique“ (28) gelöst werden, die eine verdichtete Form mannigfaltiger Bedeutungen in sich tragen. Die Idee der Verdichtung stellt auch an anderen Stellen Lösungen für das Sprachmisstrauen bereit, z. B. im Einsatz von Metaphern. Siehe hierzu das Unterkap. „‚Verbindungs=kunst‘: Versinnlichung, Verlebendigung und ‚freies Spiel‘ (Lessing)“ in dieser Arbeit. 264 So werden Zustand der Seele, persönlicher Eindruck, Gesamtempfindung, Aufmerksamkeit, Ideenfolge und Analyse von Diderot als ganz unterschiedliche Gegenstände identifiziert, die von der Sprache nur als eine Sache erfasst werden können und die in einer sukzessiven Zeitlichkeit stattfinden. Vgl. Diderot, Lettre sur les Sourds et Muets, 29.
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deren man sich beim Ausdrucke eines Affekts befleißiget, öfter nicht zureicht, sie mit der gehörigen Geschwindigkeit zu verfolgen. Man muß also in der Folge der Begriffe, die man auszudrücken hat, diejenigen übergehen, welche der Leser oder Zuschauer selbst hinzudenken kann. Daher entstehen in dem Ausdrucke der Affekte öfters Sprünge, die in der Seele selbst nicht statt finden. Man hat aber bei diesen Sprüngen zu beobachten, daß man den Faden der Gedanken, den man unterbrochen, an einer solchen Stelle wieder ergreifen muß, aus welcher die Lücke von den beschäftigten Gedanken der Leser ausgefüllt werden kann.265
Wenn mit Leibniz aber feststeht, dass die Natur gerade keine Sprünge macht und sich der ästhetische Gegenstand an der Natur orientiert, so müssen die entstandenen Lücken ausgefüllt werden. Es müssen Verbindungsoperationen eingesetzt werden, um den Zeichen Abhilfe zu schaffen: Die sprachlichen Zeichen sind darauf angewiesen, „durch andere Mittel zu ersetzen [zu] suchen, was ihnen durch die Natur ihrer Zeichen abgeht.“266 Im Folgenden wird sich zeigen, wie sämtliche Bestrebungen bezüglich der Suche nach adäquaten medialen Konstellationen und Darstellungsmitteln auf Verbindungskünste hinauslaufen: Zweck der Verbindung ist die Herstellung von Kontinuität. Diese erzeugt nicht nur eine „Illusion der Distanzlosigkeit“267, sondern verhindert auch die Vereinzelung des Objekts, die dem Naturideal entgegenstehen würde. Denn was „abgelöset da steht, wird anstößig“268. Sämtliche ästhetisch-philosophische Begriffe folgen dieser Idee der Verbindung und bilden Voraussetzungsstrukturen für die Darstellung gleitender Dynamiken im Sinne einer gradationalen Ästhetik. Sie werden als Verbindungskonzepte eingesetzt, um Kontinuitäten zu stiften, Lücken zu füllen und Brüche zu verrechnen. Die Verbindungsoperationen avancieren so zu zentralen Prämissen der ästhetischen Darstellung seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie sollen Unmittelbarkeit herstellen, eine Sehnsucht der „innigen Verschmelzung“ zwischen Objekt, Vorstellung und Bezeichnung, wie es Johann Jakob Engel formuliert. Denn weil „in der Seele die Vorstellung des Objects, und die der Rührung welche das Object hervorbringt, so ganz unzertrennt, so innig verschmolzen, so Eins sind“, solle auch „der Mensch diese Vorstellungen, […] in ihrer Bezeichnung, gleich innig will verschmelzt, gleich genau will vereinigt wissen.“269 Das Phantasma einer Verbindung von
265 Moses Mendelssohn: „Gedanken vom Ausdrucke der Leidenschaften“, in: Ders.: Ästhetische Schriften, hg. A. Pollok, Hamburg: Meiner 2006, 137–144; hier: 137. 266 Johann August Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen, Berlin: Voß und Sohn 1786, 76. 267 Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, 85. 268 Sulzer, Verbindung, 1208a. 269 Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik. Zweiter Teil [= Ideen II] (Faksimile d. Ausg. Berlin 1804), J. J. Engels Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M.: Athenaeum 1971, 117.
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Sprache und Welt oder Sprache und Subjekt wird so versucht, über die Vorstellung der innigen Verbindung von Zeichen einzulösen.
3.3 „Verbindungs=kunst“270: Versinnlichung, Verlebendigung und ‚freies Spiel‘ (Lessing) Wenn das starre, „sture“ sprachliche Zeichen in seiner Struktur den fließenden Seelenbewegungen widerspricht, bedarf es gewisser Umstrukturierungen, Substitutionen und Ergänzungen, um Sprache als adäquates Ausdrucksmedium zu legitimieren. Dirk Oschmann hat diese „spezifische Form der Arbeit an der Sprache“ am Ende des 18. Jahrhunderts, die Aufgabe der Sprache also, als Substitut für das Leben zu fungieren,271 als „Versinnlichung“272 bezeichnet. Versinnlichung operiert als eine Verbindungsinstanz zwischen abstraktem Zeichen und lebendigem Seeleninnenleben, die einen „Prozeß der Steigerung […], daß also etwas ‚noch sinnlicher‘ gemacht werden soll“273 in Gang setzt. Wenn Baumgarten die Dichtkunst in seinen Meditationes (1735) als „Oratio sensitiva perfecta“274, als „vollkommene sinnliche Rede“ bezeichnet, so verlegt er auch die Bestimmung des ästhetischen Zeichens vollständig auf die Ebene der subjektiven und individuellen Sinnlichkeit und Einbildungskraft. Nur hier vermag sich die mannigfaltige Lebendigkeit der Gedanken voll zu entfalten. Das Projekt einer Versinnlichung der Sprache wird für den Produktionsvorgang eine wichtige Aufgabe, insofern über eine
270 Den Begriff der Verbindungskunst hat Christian Wolff eingeführt. Er steuert damit ein philosophisches Sprachideal an, welches zunächst die Begriffe gänzlich von den Sinnen und Empfindungen absondert und über die „geschickte Verknüpfung“ dieser „blosse[n] Zeichen […] alle mögliche Wahrheit heraus zu bringen“ hofft (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [= Metaphysik] [Nachdr. d. Ausg. Halle 1751], Einl. u. krit. Apparat v. C. A. Corr, Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 2, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1983, 179 f., § 324). Während Wolff also vor allem einen gesteigerten Erkenntnisgewinn zum Telos erklärt, werden im Folgenden Beispiele für ein sinnlich-ästhetisches Erfordernis solcher Verbindungskünste dargestellt. 271 Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 307. 272 Oschmann, Bewegliche Dichtung, 37. „Die diagnostizierte Entsinnlichung als Entfernung der Sprache von Ursprung und Körper zieht gegenstrebige Strategien der Versinnlichung nach sich, die Sprache wieder zu ‚verkörpern‘“ (27). 273 Ebd., 42. Oschmann bezieht sich hier auf den Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch, in dem beschrieben wird, dass „die wirkung der partikel ver auf die bedeutung von sich versinnen“, bewirken, dass die „handlung bis zu einer gewissen übertreibung fortgeführt wird“. Durch das „sich in gedanken verlieren, vertiefen“, wird so „stets die Vorstellung festgehalten, dasz der sinn befangen ist, dasz die gedanken sich mehr wie von selbst aneinanderketten, nicht verstandesmäszig streng verknüpft werden.“ Zit. n. ebd. 274 Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, Nachdr. der Ausg. 1735, hg. B. Croce, Napoli: Vecchi 1900, 7 (§ XI).
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Steigerung der Sinnlichkeit die Mittelbarkeit und ‚Kälte‘ des Mediums Sprache überwunden werden kann: „Il passe alors dans le discours du poète un esprit qui en meut et vivifie toutes les syllabes.“275 Die Idee der Lebhaftigkeit und Verlebendigung des Mediums wird somit zur maßgeblichen Aufgabe der Künste, denn diese ästhetischen „Kräfte“ sollen Empfindungen übertragen, um Rührung zu erzeugen. Es wäre also nicht richtig zu sagen, dass das Sprachmisstrauen und die im 18. Jahrhundert wahrgenommene Vieldeutigkeit von Zeichen ausschließlich als Mangel begriffen würden. Was in der philosophischen Sprache tendenziell als Defizit dargestellt wird, die Vagheit, Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit von Zeichen, lässt sich in ästhetischen und poetischen Zeichensystemen als Potential begreifen. Der Raum der Unbestimmtheit wird zum neuen Freiraum, der produktiv gemacht werden kann: Die Verunsicherung im Zeichenumgang führt dazu, dass die Rolle der Einbildungskraft forciert und als Potential des ‚freien Spiels‘ (Lessing) erkannt wird. Unter den hier geschilderten Voraussetzungen, die eine sinnliche Verbindungstätigkeit der Zeichenprozesse befördern, lässt sich so beispielsweise die Wertschätzung von Metaphern erklären, wie sie unter anderem in der Encyclopédie oder bei Sulzer zu finden ist. Gerade das der Metapher eigene „nomadische Wandern und ständige Sich-Verschieben“, die Tatsache, dass sie „das unendliche Spiel der Analogien mobilisiert“ 276, wird im 18. Jahrhundert auch in philosophischer Hinsicht positiv gewendet,277 indem mit spezifischen physiologischen Belegen argumentiert wird. In dem von Nicolas Beauzées verfassten Eintrag in der Encyclopédie heißt es: Nous avons déja remarqué que les langues n’ont pas autant de mots que nous avons d’idées; cette disette de mots a donné lieu à plusieurs métaphores: par exemple, le cœur tendre, le cœur dur, un rayon de miel, les rayons d’une roue, &c. L’imagination vient, pour ainsi dire, au secours de cette disette; elle supplée par les images & les idées accessoires aux mots que la langue peut lui fournir; & il arrive même, comme nous l’avons déja dit, que ces images & ces idées accessoires occupent l’esprit plus agréablement que si l’on se servoit de mots propres, & qu’elles rendent le discours plus énergique: par exemple, quand on dit d’un homme endormi qu’il est enseveli dans le sommeil, cette métaphore dit plus que si l’on disoit simplement qu’il dort.278
275 Diderot, Lettre sur les Sourds et Muets, 34. 276 Wolfgang Riedel: „Die Macht der Metapher. Zur Modernität von Jean Pauls Ästhetik“, in: Jean-Paul-Gesellschaft: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 34 (1999), 56–94; hier: 62. 277 Dagegen zeigt Riedel, dass lange Zeit das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik als ein „feindschaftliches“ bestimmt werden konnte und zitiert George Berkeleys De Motu (1721), der empfiehlt, Philosophen sollten sich vor Metaphern hüten. Ebd., 57. 278 Nicolas Beauzée: Art. „Metaphore“, in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 10: Mam-My, StuttgartBad Cannstatt: frommann-holzboog 1966, 436–440; hier: 437, Hervorh. J. F.
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Auf eine generelle Sprachkritik, wie sie in zahlreichen Artikeln in der Encyclopédie zu finden ist, die erneut auf die Ausdrucksarmut der Sprache anspielt, folgt eine Begründung dafür, warum die Verwendung von Metaphern empfehlenswert sei. Sie sieht sich im Einsatz der Einbildungskraft begründet: Aufgabe der Imagination sei es, dem Mangel („disette“) der Sprache abzuhelfen. Die Einbildungskraft erfüllt die Sprache mit Energie und lädt sie – buchstäblich – intensivierend mit Bedeutung auf. Sie besitzt damit einen Kräfte bündelnden, verbindenden („combine“) und damit intensivierenden („approfondit“) Effekt auf die Künste, wie der von Voltaire verfasste Artikel „Imagination“ veranschaulicht.279 Die Metapher definiert sich gerade über die durch die Sprache entstandenen Lücken und „Sprünge“, deutet diese als Freiräume, die Platz dafür bieten, dass imaginative Kräfte zu Tage treten können und den Raum für ein „auratisches Deutungspotential“ eröffnet, der „gerade durch seine Diffusität anziehend“ erscheint.280 Auch Lessing deutet die Problematik der Ungenauigkeit von Sprache in seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) entsprechend für die poetische Sprache und Literatur um: Die Mehrdeutigkeit wird produktiv gemacht, indem sie der Einbildungskraft ein „freies Spiel“281 ermöglicht. Dabei verlagert Lessing die Sprachdiskussion auf die Ebene sprachlicher und künstlerischer ‚Erzählungen‘, sie wird also innerhalb eines Zeichenzusammenhangs verortet. Damit sich die Einbildungskraft entfalten kann, so Lessings Argumentation, bedarf es eines „fruchtbaren“ Moments, eines Moments also, der eine gewisse Prägnanz (‚bedeutungsschwanger’) und eine Entwicklungsfähigkeit in sich trägt. Lessing definiert: „Dasjenige aber nur ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt.“282 Diese Möglichkeit, der Einbildungskraft Spielräume zu verschaffen, ist laut Lessing der Dichtung als Zeitkunst generell eigen: Sie vermag es, Gegenstände sukzessiv-entwickelnd darzustellen – wie am Beispiel von Homer gezeigt wird, der das Schild des Achilles „nicht als ein fertig vollendetes, sondern als ein werdendes Schild“283 beschreibt. Die Wahl des Stoffs muss also so eingerich-
279 „Elle [die Imagination, J. F.] combine sans cesse ses tableaux, elle corrige ses erreurs, elle éleve tous ses édifices avec ordre. […] L’imagination forte approfondit les objets, la foible les effleure, la douce se repose dans des peintures agréables, l’ardente entasse images sur images, la sage est celle qui emploie avec choix tous ces différens caracteres, mais qui admet très-rarement le bisarre, & rejette toûjours le faux.“ Voltaire: Art. „Imagination“, in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 8: H-It, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 1967, 560–564; hier: 561 f. 280 Kleinschmidt, Entregelte Poetik, 88. 281 Lessing, Laokoon, 32. 282 Ebd. 283 Ebd., 135.
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tet sein, dass die Entwicklung einer Erzählung hergestellt werden kann bzw. vorherige und nachfolgende Bindeglieder evoziert werden. Grundsätzlich traut Lessing dabei der Sprache eine Gradationsfähigkeit zu, so dass nicht nur zeitliche Folgen von Gegenständen, sondern selbst weit auseinanderliegende Gemütszustände sprachlich vermittelt werden können. Auf welche Weise der Dichter dazu in der Lage ist, beschreibt Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769): „er tut das nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun.“284 Die Sprache eignet sich also emotional grundierte, gradationale Techniken an, um Kontinuitäten herzustellen. Aber kann das auch der bildende Künstler? Kaum, muss man im Sinne Lessings antworten, denn in der plastischen Kunst oder Malerei, den sogenannten Raumkünsten, besteht eine deutlich größere Schwierigkeit derartig kontinuierliche Abfolgen zu realisieren, da sich diese Künste auf Momentaufnahmen beschränken.285 Diese Momentaufnahme läuft Gefahr abstoßend zu wirken, da sie die Idee der Diskontinuierlichkeit aufbringt, wie Lessing anhand der Laokoon-Statue veranschaulicht: Die bloße weite Öffnung des Mundes, – bei Seite gesetzt, wie gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden, – ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut.286
Der Schreck vor dem „Fleck“, vor der gewaltsamen Verzerrung, der „Oberflächenentstellung“287 und „ekel“-haften Vertiefung ist übersetzbar mit dem Unbehagen eines „diskontinuierlichen Zeitschnitts“288, eines grimassenartigen Stillstands, den der Schrei verkörpert. Der in der Rezeption ausgelöste Ekel, der aufgrund seiner Reizstärke einen „extremen Ausschlag auf der Skala der Unlust-Affekte“289 bewirkt und den Menschen unmittelbar über284 Gotthold Ephraim Lessing: „Hamburgische Dramaturgie“, in: Ders.: Werke, Bd. 2: Schriften I: Schriften zur Poetik, Dramaturgie, Literaturkritik, hg. K. Wölfel, Frankfurt a. M.: Insel 3 1986, 121–533; hier: 229. (27. Stück) 285 „[Den] Augen das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet.“ Lessing, Laokoon, 32. 286 Lessing, Laokoon, 29. 287 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, 94. 288 Bernhard Siegert: „Schüsse, Schocks und Schreie. Zur Undarstellbarkeit der Diskontinuität bei Euler, d’Alembert und Lessing“, in: Inge Baxmann, Michael Franz, Wolfgang Schäffner (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2000, 291–305; hier: 301. 289 Menninghaus, Ekel, 7.
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fällt, steht einer sukzessiven Einwirkung auf das Gegenüber diametral entgegen. Stillstand, Lähmung, diskontinuierlicher Schnitt, die eine extreme Einwirkung auf das rezipierende Subjekt darstellen, sollen also um jeden Preis verhindert werden. Damit eine derartig krisenhafte Situation vermieden werden kann, so Lessing weiter, müssten in der Malerei „unzählige Kunstgriffe“ angewendet werden, mit dem Ziel „eine Folge von Augenblicken“ herzustellen, um „uns entstanden zu zeigen, was wir bei dem Dichter entstehen sehn.“290 Lessing verfolgt hier kein geringeres Ziel als eine Verzeitlichung der bildenden Künste. Er veranschaulicht dies erneut anhand der LaokoonStatue: Wenn Laokoon seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst Ächzen, oder sieht ihn schon tot.291
Erst die Einbettung in ein graduell sich entwickelndes Steigerungs- und Minderungsmodell, so wird hier deutlich, lässt das Kunstwerk als gelungen erscheinen, denn nur auf diese Weise kann eine „ästhetisierende ‚Zähmung‘ der ‚Natürlichkeit‘“292 stattfinden und die Gewalt der starken Empfindung des „Ekels“ verhindert werden. „Keine erschöpfende maximal erfüllende Darstellung also, sondern eine Ökonomie des Vorbehalts, des Erhalts offener Steigerungsmöglichkeiten, einer ‚Staffel‘, die immer noch eine Sprosse zu erklimmen übrig läßt“293 strebt Lessing an. Das bedeutet für eine Raumkunst wie die Malerei, welcher derartige zeichenhafte Gradationen nicht zur Verfügung stehen, dass sie mithilfe der Einbildungskraft in eine Zeitkunst transformiert werden muss, um kontinuierliche Sukzessivität und Gradation herzustellen. Eine Möglichkeit, in der Malerei Kontinuität darzustellen, sieht Lessing dann bezeichnenderweise in der Darstellung der Falte, die seit Leibniz für das Prinzip von Kontinuität steht: Die Falte vermag es, „zwei verschiedene Augenblicke in einen einzigen zusammen“ zu bringen, indem der Faltenwurf den „vorige[n] Augenblick des Gewandes und de[n] itzigen Stand des Gliedes“294 verknüpft. Die Falte erfüllt damit die Idee der Kontinuität insofern „die zwei verschiednen Augenblicke so nahe und unmittelbar an einander grenzen, daß sie ohne Anstoß für einen einzigen gelten können.“295 290 Lessing, Laokoon, 118. 291 Ebd., 32. 292 Markus Wilczek: Das Artikulierte und das Inartikulierte. Eine Archäologie strukturalistischen Denkens, Berlin/Boston: De Gruyter 2012, 17. 293 Menninghaus, Ekel, 46. 294 Lessing, Laokoon, 131. 295 Ebd., 132. Vgl. Siegert, Schüsse, Schocks, Schreie, 302.
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Nicht allein die Malerei muss sich dem Problem der Diskontinuität stellen: Auch die Dichtung läuft Gefahr, Kontinuitäten nicht in der angemessenen Nuancierung herzustellen. So schreibt Lessing über Vergil: Allein mich befremdet nicht das Geschrei [des Laokoon, J. F.], sondern der Mangel aller Gradation bis zu diesem Geschrei, auf welche das Kunstwerk den Dichter natürlicher Weise hätte bringen müssen, wann er es, wie wir voraussetzen, zu seinem Vorbilde gehabt hätte.296
Geschrei ist nur dann darstellbar, wenn es in eine verbundene Abfolge integriert wird, denn „jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich macht“ führt zu dem eigentlichen Ziel der Kunst, nämlich insofern es „Grade der Illusion näher bringt“297. Zu zentralen Aspekten in Lessings Theorie der Nachahmung in den Künsten avancieren also erstens die Idee der imaginären Verbindung, die einer Versinnlichung der Sprache nachkommt und zweitens – und daraus folgend – die Darstellung gradationaler Kontinuität. In „Erdichtungen darf also kein Sprung seyn, dessen übergangene Zwischengründe nicht könnten durch die Einbildungskraft ergänzt werden. Ein solcher fehlerhafter Sprung verursacht in der Erdichtung eine Lücke“298, wie auch Eberhard in seiner Theorie der schönen Wissenschaften (1783) warnt. Gradationsfiguren dienen also der Illusionsförderung. Als Ordnungs- und Kontrollfiguren sorgen sie aber auch dafür, dass die ‚Natürlichkeit‘ nicht in ‚rohe‘, ‚ekelhaft‘ dargestellte Natur umschlägt: Sie werden zu disziplinierenden Figuren des „Maß halten[s]“299. Die Verbindungsoperationen in Lessings Theorie lassen sich dabei auf eine anthropologisch-wahrnehmungstheoretische Grundlage zurückführen, die in ihrem Ursprung ebenfalls der Tradition Leibniz – Wolff – Baumgarten folgt.300 Die ihr zugrunde liegende „Verbindungskunst“ ist im Einsatz sinnlicher Kräfte angelegt und zielt auf eine „Ästhetik des transitorischen Reizes“301. Dichtung kann in diesem Zusammenhang als diejenige Kunst gelten, die in Lessings Theorie der Struktur innerseelischer Operationen am nächsten kommt: Die Prozesshaftigkeit, als grundsätzliches Merkmal der Dichtung und das „transitorische[ ] Schöne[ ]“302, das ihr eigen ist, lassen so erneut auf eine Parallelität zwischen Operationen der Vorstellungskraft und der poetischen Sprache schließen. Denn die Dichtung kann mithilfe der Einbildungskraft jenes Entwicklungsdenken einlösen, so dass einzelne Zeichen 296 Lessing, Laokoon, 64. 297 Ebd., 113. 298 Eberhard, Allgemeine Theorie, 76. 299 Lessing, Laokoon, 35. 300 Ebd., 124. 301 Herrmann, Archiv der Bühne, 94. 302 Lessing, Laokoon, 155.
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in einen kontinuierlichen Zusammenhang integriert werden. Dichtung ist somit immer mehr als Sprache, insofern der Rezipient das konventionelle Zeichen vermittels der Einbildungskraft zu übersteigen vermag. Nur durch diese mentale Erweiterung der Wörter, die Lücken nivelliert und Kontinuität schafft, kann Poesie darstellen. Im Gegensatz zur Malerei, bei deren Betrachtung man (mit Ausnahmen) aufgrund ihrer simultanen Darstellungsweise immer auch der Gefahr der Überforderung ausgesetzt ist, hat Dichtung den Vorteil „that it replaces the confusing, distracting and overwhelming simultaneity of features in perception with the successive unfolding of these features as represented in the successive signs of the poem.“303 Das Laokoon-Beispiel ist nur eines unter vielen, das den großen Argumentationsaufwand bezeugt, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrieben wird, um abstrakte, ‚sture‘ Zeichen, Sprache, Erzählungen und Dichtungen in ein Kontinuitätsmodell zu überführen. „Quand on écrit, faut-il tout écrire? Quand on peint, faut-il tout peindre! De grâce, laissez quelque chose à suppléer par mon imagination“304, fordert auch Diderot in einer für die Zeit gängigen Argumentation. In gleicher Weise gilt es damit in den anderen Künsten, die Einbildungskraft sich frei entfalten zu lassen. In der Malerei vermag dies laut Diderot die Skizze weitaus besser, als das Gemälde:305 Denn in der Skizze sei das „Feuer“, die „Hitze“, der „Schwung“ des Künstlers noch präsent, seine Seele könne sich frei auf der Leinwand ausbreiten. Das Ungenaue, Vage, welches sich jeglicher Reflexion entzieht, kommt also dem emotionalen Ausdruck näher als eine präzise und detailreiche Darstellung. Einerseits könnten Empfindungen also durch das Skizzenhafte besser übertragen werden, andererseits fühle sich die Einbildungskraft „wohl“ („à l’aise“), da sie sich erst im Raum dieser vagen Vieldeutigkeit richtig entfalten könne, so Diderot.
3.4 Überwindung des Mittelbaren Die bisher genannten Beispiele thematisieren als eine zentrale Aussage der Repräsentationsskepsis von Zeichen ihren abstrakten, distanzschaffenden Charakter, ihren hohen Grad an Mittelbarkeit. In den genannten Fällen wer303 Wellbery, Laocoon, 204. 304 Denis Diderot: „Salon de 1763“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 236–290; hier: 247. Vgl. Baumeister, Rapports, 70. 305 „Les esquisses ont communément un feu que le tableau n’a pas; c’est le moment de chaleur de l’artiste, la verve pure, sans aucun mélange de l’apprêt que la réflexion met à tout, c’est l’âme du peintre qui se répand librement sur la toile. […] Or plus l’expression des arts est vagues, plus l’imagination est à l’aise.“ Denis Diderot: „Salon de 1765“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 291–466; hier: 388.
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den Verbindungen hergestellt, die die abstrahierende Eigenschaft der unterschiedlichen Zeichen in ein Kontinuum einbetten. Die kreative Kraft der Einbildung integriert ein gradationales Entwicklungsdenken in Form von Energie in die Zeichentheorie. Das Sprachmisstrauen äußert sich hier jedoch nicht allein als Zeichenkritik, sondern auch als Medienmisstrauen, denn die Übertragung in Zeichen geschieht immer innerhalb der Begrenztheit der einzelnen Künste, so dass der Künstler sich gezwungen sieht, entsprechend der Beschränkung des Mediums sein Material einzupassen306 und zuzurichten307. Der in der Renaissance befeuerte Wettstreit der Künste im Sinne des Paragone konzentriert sich nun vor allem auf die semiotischen und medialen Voraussetzungen der Künste, sowie ihre Wirkungs- und Ausrucksmöglichkeiten. So liegt das Problem des Dichters nicht allein in der Zeichenübertragung, sondern in der zusätzlichen medialen Vermittlung durch Schrift: Die Tinte, der ‚tödliche‘ „Kanal schwarzen Safts“308 ist nicht nur eine Begrenzung, sie kann den Empfindungswallungen und „Körperströmen“ kein Medium für eine adäquate Umsetzung sein. Sie ist ebenso kalt und starr wie die unbelebte, tote Sprache und schränkt den Ausdruck ein. Zudem entpuppt sich das Schreiben auch als ein Problem der Artikulation im Sinne eines „Strukturprinzips“309. In seiner Sprachursprungsschrift schreibt Herder über die Problematik der Vermittlung von „Tönen der Empfindungen“: In ihrem lebendigen Zusammenhange, im ganzen Bilde der würkenden Natur, begleitet von so vielen andern Erscheinungen sind sie rührend und gnugsam; aber von
306 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 305. Vgl. auch Stephan Gregory: „Das begeisterte Wort. Tote Buchstaben und inspirierte Reden“, in: Ulrike Hanstein, Anika Höppner, Jana Mangold (Hg.): Animationen. Szenen des Auf- und Ablebens in Kunst, Literatur und Geschichtsschreibung, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2012, 175–191. 307 Mit dem Begriff der Zurichtung des Materials, der insbesondere im Hinblick auf die Bearbeitung der Sprache als textuelle Praktik zu beobachten sein wird, soll im Laufe dieser Arbeit ein mitunter gewaltvolles ‚Entregeln‘ der Strukturen bezeichnet werden, ein Beschneiden und Verletzen der Zeichen, was zugleich Kanäle für das Eintreten anderer medialer Zeichenvermittlungen eröffnet. Vgl. Juliane Vogel: „Zurüstungen für den Medienverbund. Zur Selbstaufgabe der Dichtung im Melodram um 1800“, in: Bettine Menke, Armin Schäfer, Daniel Eschkötter (Hg.): Das Melodram – Ein Medienbastard, Berlin: Theater der Zeit 2013, 36–50, v. a. 41. 308 „Empfindungen durch eine gemalte Sprache in Büchern [auszudrücken] ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den toten Gedanken das Gebiet der toten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt malen, sie durch den Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen.“ Johann Gottfried Herder: „Über die neuere deutsche Literatur. Dritte Sammlung“, in: Ders.: Frühe Schriften 1764–1772, Bd. 1, hg. U. Gaier, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, 367–545; hier: 402. Vgl. Koschorke, Körperströme, 305. 309 Wilczek, Das Artikulierte und das Inartikulierte, 94.
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II Transformationen der Gradatio allen getrennet, herausgerissen, ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern. Die Stimme der Natur ist gemalter, verwillkürter Buchstabe.310
Die „Interjektionen“ der Buchstaben, deren ‚Stäbe‘ sich über die Empfindungsströme legen und damit den Bereich des Inartikulierten durch Artikulation strukturieren,311 widersprechen der Struktur der Empfindungen und ihrem „lebendigen Zusammenhange“ gänzlich. Eine Möglichkeit, die mediale Barriere der strukturierenden Eingrenzung durch Sprache zu überwinden, sieht Herder hingegen darin, die Sprache intensiv zu beleben und somit „mediale Effekte wieder auferstehen zu lassen“312. Dies kann beispielsweise mithilfe einer Unterstützung durch andere Medien geschehen. Für Herder zeichnen sich vor allem die Ton- und Gebärdensprache durch einen unmittelbaren Ausdruck aus: du mußt Einfalt, und Reichtum, Stärke und Kolorit, der Sprache in deiner Gewalt haben, um das durch sie zu bewürken, was du durch die Sprache des Tons und der Gebärden erreichen willst – wie sehr klebt hier alles am Ausdrucke: nicht in einzelnen Worten, sondern in jedem Teile, im Fortgange derselben und im Ganzen.313
Diese gradualisierte und progressive Konzeption fordert Herder auch für die Textur der Lyrik, wenn er in einem Brief an Christoph Friedrich Nicolai ein Gedicht Klopstocks als „Ausguß der Empfindung“, als „eine wahre fortgehende Melodie der Worte zur Empfindung, zur Bewegung des Verses“ beschreibt.314 Auch hier beruht der Erfolg der Wirkung des Gedichts auf der richtigen Nuancierung der Worte, da „durch den Zauberkunstgrif des Genies u. der Empfindung die Worte durch sich selbst sanfter, dort härter werden, der Abschnitt jetzt so, u. so falle, kurz Seele des Liedes im Klange sei, im Gang“315. Das Silbenmaß wird dabei ganz im Sinne musikalischer, sukzessiver Zeichen gedacht, wenn er in einem anderen Brief sie als „eine Melodie, als Eine Succeßion von Bewegungen“316 beschreibt. Ziel ist also, dass die Empfindung mit der Textur des künstlerischen Werks eins wird, was Herder vermittels einer grundlegenden Regel, dem Einsatz von Energie317, erreichen will. Nur 310 Johann Gottfried Herder: „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, in: Ders.: Frühe Schriften 1764–1772, Bd. 1, hg. U. Gaier, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, 695–810; hier: 699 f. Vgl. Wilczek, Das Artikulierte und das Inartikulierte, 95. 311 Wilczek, Das Artikulierte und das Inartikulierte, 86. 312 Gregory, Begeistertes Wort, 186. 313 Herder, Über die neuere deutsche Literatur, 403. 314 Brief Herder an Nicolai vom 2. Juli 1772, in: Johann Gottfried Herder, Briefe, Bd. 2, hg. G. Arnold, W. Dobbek, Weimar: Böhlau 1977, 186 f. 315 Ebd., 187. 316 Brief Herder an Nicolai vom 23. November 1772, in: Ebd., 267. 317 So Herder in seinem 1. Kritischen Wäldchen: „Musik, und alle energische Künste wirken nicht bloß in, sondern auch durch die Zeitfolge, durch einen künstlichen Zeitwechsel der
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so durchziehe das Gedicht eine „fortwährende, wachsende Wirkung von Anfang des Stücks bis zu dessen Ende“318, so dass „Ströme der Empfindung“319 freigesetzt würden. Die sukzessiv-fortschreitende und von Musik durchdrungene Bewegung der Lyrik ist dabei nicht allein in ihren Teilen verbunden, sondern intensiv steigernd angelegt. Sobald also die Textur an den Empfindungshaushalt gekoppelt ist – und das ist sie im Sinne Herders allein aufgrund ihrer musikalisch-energischen Bewegungsform – werden die verbundenen Elemente zu sich intensivierenden und dynamisierenden gradationalen Strömungen: Kraft, energeia und Empfindungsströme werden zu zentralen operierenden Medien der Wirkungsästhetik.320 Die Idee einer Überwindung des Mittelbaren vermittels ästhetischer Kräfte und Ströme kann hier also als maßgebliches poetologisches Prinzip angesehen werden, auch wenn dies notwendigerweise nur ein Ausweichen auf neue Medien bedeuten kann: Denn „[d]er Traum der Unmittelbarkeit gebiert neue Medien; der Kampf gegen die Buchstaben bringt neue Buchstaben hervor.“321
3.5 Fließende Körperzeichen In der Lyrik ist es laut Herder vor allem die Musik, die in die syntaktisch losen Wortgefüge eintritt, um Empfindungsströme bestmöglich in fließende natürliche Zeichenkontinua zu überführen. Doch es gibt ein weiteres Zeichensystem, welches als besonders geeignet für eine versinnlichte, verlebendigte und damit ‚natürliche‘ Sprache gewertet wird: Gestische und mimische Zeichen erhalten insbesondere seit Diderots Schriften Lettre sur les Sourds et Muets (1751), De la poésie dramatique (1758) und Lessings Hamburgischer Dramaturgie (1767–69) eine größere Aufmerksamkeit. Durch die Lettres sur la Danse et sur les Ballets (1760) des Tanzmeisters und Reformators Jean-Georges Noverre avanciert das Ballett zur „Art de peindre les mouvements de l’ame, par les
Töne. Ließe sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegriff bringen, da sie durch willkürliche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt?“ In: Johann Gottfried Herder: „Erstes Kritisches Wäldchen“, in: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, Bd. 2, hg. G. E. Grimm, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, 63–245; hier: 194. 318 Johann Gottfried Herder: „Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst“, in: Ders.: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, Bd. 8, hg. H. D. Irmscher, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, 117–130; hier: 129. 319 Ebd., 124. 320 Christoph Menke spricht diesbezüglich von der „ubiquitären Verwendung“ des Kraftbegriffs im Sinne eines „Ausdrucksbegriff“. Menke, Kraft, 53. 321 Gregory, Begeistertes Wort, 191.
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gestes“322. Dabei führt der seit Batteux unternommene Vergleich der Künste anhand ihrer medialen und semiotischen Eigenheiten zu einer dichotomischen Aufteilung in „Seelenkünste“ und „Künste der Vernunft“: La parole nous instruit, nous convainc, c’est l’organe de la raison: mais le ton & le geste sont ceux du cœur: ils nous émeuvent, nous gagnent, nous persuadent. La parole n’exprime la passion que par le moyen des idées auxquelles les sentimens sont liés, & comme par réflexion. Le ton & le geste arrivent au cœur directement & sans aucun détour. En un mot la parole est un langage d’institution, que les hommes ont fait pour se communiquer plus distinctement leurs idées: les gestes & les tons sont comme le dictionnaire de la simple nature; ils contiennent une langue que nous savons tous en naissant, & dont nous nous servons pour annoncer tout ce qui a rapport aux besoins et à la conservation de notre être: aussi est-elle vive, courte, énergique.323
Laut Batteux folgen, das ist für den Argumentationszusammenhang dieser Arbeit besonders wichtig, musikalischer und körperlicher Ausdruck einem „identischen Wirkungsmodus“324. Sie wirken als Ausdruck einer „simple nature“ und werden als Mittel angeborener, energievoller Ausdruckskraft im Sinne einer Affekt-Rhetorik („ils nous émeuvent, nous gagnent, nous persuadent“) eingesetzt, die an die Stelle des strukturierten, ordnenden distinkten Worts tritt.325 Die Übertragung in und die Verbindung von Körperzeichen bildet somit ein weiteres zentrales Diskurselement innerhalb der Sinnes- und Zeichendiskussion des 18. Jahrhunderts, an das eine Neubestimmung der Schauspiel- und Tanzkunst gebunden ist. Gesten und Gebärden erfahren in diesem Zuge besondere Aufmerksamkeit, da sie als ein Kommunikationsmittel gehandelt werden, das in einer gewissen ‚Ursprünglichkeit‘ verhaftet ist, wie beispielsweise Georg 322 Jean-Georges Noverre: Lettres sur la danse et sur les ballets, Lyon/Stuttgart: A. Delaroche 1760, 15f (Lettre II). 323 Batteux, Les Beaux Arts, 263 f. 324 Arne Stollberg: „‚Strom der Empfindung‘, vom Maß des Auges begrenzt. Rhythmus und Form in der Ästhetik Johann Gottfried Herders“, in: Patrick Primavesi, Simone Mahrenholz (Hg.): Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung Bd. 1, Schliengen: Edition Argus 2005, 178–192; hier: 183. 325 Diesen ‚identischen Wirkmodus‘ bestätigt Sulzers Eintrag zur „Musik“, in dem es heißt: „Es bestehet eine so natürliche Verbindung zwischen Gesang und Tanz, daß man beyde unzertrennlich vereiniget bey allen noch rohen Völkern antrift, wo die Kunst noch in der Kindheit liegt. Daher läßt sich vermuthen, daß dieses die älteste Anwendung der Musik sey.“ Johann Georg Sulzer: „Musik“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, 780–791; hier: 786. Damit muss Hartmut Grimms Einschätzung klar widersprochen werden, dass „strukturelle Bezüge“ zwischen Musik und Geste im 18. Jahrhundert „sehr selten“ seien (Hartmut Grimm: „Töne und Gesten. Die Grundlegung einer Theorie musikalischer Universalien im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Musiktheorie 26 (2011), 357–368; hier: 362). Gerade diese strukturellen Übereinkünfte der Künste werden im Folgenden sehr deutlich.
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Christoph Lichtenberg schreibt: „Ohnstreitig gibt es eine unwillkürliche Gebärden-Sprache, die von den Leidenschaften in allen ihren Gradationen über die ganze Erde geredet wird.“326 Auch in den Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts spielt die Beziehung zwischen Wort und Geste eine wesentliche Rolle, allen voran in Condillacs Essai sur l’origine des connoissances humaines (1746), in dem die Gestensprache als langage d’action ein sprachtheoretisches Fundament bildet. Zentral ist dabei die Tatsache, dass die Beobachtung und Beschreibung der Körperzeichen erneut prozesshaft erfolgt: Mittels der „Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen, nach allen ihren Gradationen und Mischungen“327 kann durch die Verbindung gestischer Zeichen der Eindruck von Kontinuität und damit Naturwahrheit vermittelt werden. Die Entstehung neuer Wissensbereiche wie die Pathognomik ergänzen zusätzlich das Wissen um kontinuierliche Bewegungssysteme. Lichtenberg argumentiert in seiner Schrift „Über Physiognomik“ (1778) explizit (wie es im Untertitel heißt) „wider die Physiognomen“. Diese gingen nämlich von einer „absoluten Lesbarkeit“ des Menschen aus, der Idee also, dass „der innere Mensch auf dem äußeren abgedruckt“ sei.328 Diesem statischen Untersuchungsmodell, das sich beispielsweise in Porträts oder dem „abstrakte[n] Schattenriß“329 mit „Zeichen stehenden Charakters oder Anlage“ befasst, setzt Lichtenberg die Pathognomik entgegen, die ihren Gegenstand als „Zeichen vorübergehender Handlung“ beschreibt.330 Die Kenntnis des pathognomischen Wissens ist somit Voraussetzung für die Analyse der „unwillkürlichen Gebärden-Sprache“: Die Pathognomik vermag es, durch ihre Fähigkeit, transitorische Bewegungen zu erfassen, ihre Gegenstände „nach allen ihren Gradationen“ zu beschreiben. Um den Charakter eines Menschen und sein Seelenleben zu ergründen, gilt es folglich „hauptsächlich die Reihe der Veränderungen“ von Körperzeichen zu beschreiben, sowie „die beweglichen Teile und die verschiedenen Folgen in den Bewegungen“.331 Denn 326 Georg Christoph Lichtenberg: „Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis“, in: Ders.: Schriften und Briefe, Bd. 3, hg. W. Promies, München: Hanser 1967, 256–295; hier: 277. 327 Ebd., 263. 328 Ebd., 264. Physiognomie bestimmt Lichtenberg als „Fertigkeit“ die es sich zur Aufgabe macht „aus der Form und Beschaffenheit der äußeren Teile des menschlichen Körpers, hauptsächlich des Gesichts, ausschlüßlich aller vorübergehenden Zeichen der Gemütsbewegungen, die Beschaffenheit des Geistes und Herzens zu finden.“ Lichtenberg, Über Physiognomik, 263. Gerade dieser Ausschluss des beweglichen Seelenlebens sowie anderer Einflüsse auf den Menschen ist zentraler Kritikpunkt Lichtenbergs, da der Physiognome nicht wie der Physiker den „natürlichen Gang“ (266) der Phänomene beobachte. 329 Ebd., 286. 330 Ebd., 277. 331 Ebd., 286.
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„[j]eder Bewegung der Seele korrespondiert in verschiedenen Graden von Sichtbarkeit, Bewegung der Gesichts-Muskeln“332. Auch im Bereich der gestischen und mimischen Zeichen wird also die Suche nach einer sprach-substituierenden oder -ergänzenden Zeichenverbindung zur zentralen Aufgabe der Ästhetik, welche sich durch Sukzession und Unmittelbarkeit auszeichnet. Nicht erst bei Johann Jakob Engel stellt sich die Frage: „Sollte eine Sprache durch Mienen und körperliche Bewegungen nicht eine eben so mögliche Sache seyn, als eine Sprache durch Laute?“333 Pantomime und Gestik werden seit Mitte des 18. Jahrhunderts als „portion du drame“, also als ein Teil des Dramas angesehen, mit dem sich der Autor unbedingt beschäftigen solle, wie Diderot im Abschnitt „De la Pantomime“ seiner Schrift De la poésie dramatique anweist.334 Er plädiert dabei für das Notieren der gestischen Zeichen, denn sie geben „l’énergie ou de la clarté au discours“ und sie verbinden den Dialog („lie le dialogue“335). Aber auch für die romans domestique wie Samuel Richardsons Pamela (1739/40) hat die Beschreibung der Gesten eine zentrale Bedeutung: „Voyez quelle force, quel sens, et quel pathétique elle donne à son discours“336. Die Geste wird hier als verbindende energetisch-intensivierende Kraft der literarischen Werke ausgezeichnet. Gleichermaßen ist sie Ausdruck des Seeleninnenlebens. Louis de Cahusac, der die zentralen Artikel in der Encyclopédie zu diesem Thema veröffentlichte,337 schreibt in seinen Ausführungen zur Geste, dass diese „une des premieres expressions du sentiment donnés à l’homme par nature“ sei.338 Die Theatergeste müsse immer dem Wort vorangehen, ihr Feuer könne die Zuschauer erhitzen, bewegen und mitreißen, denn: „c’est la passion elle même qui parle“339. Ebenso bezeichnet Sulzer die „verschiedenen Bewegungen und Stellungen des Körpers und einzeler [sic] Gliedmaßen desselben“ als „Aeußerungen dessen […], was in der Seele vorgeht.“340 Einmal mehr wird 332 Ebd., 289. 333 Engel, Mimik II, 110 f. 334 Denis Diderot: „De la poésie dramatique“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 1271–1350; hier: 1337. 335 Ebd., 1338. 336 Ebd. 337 Cahusac war sowohl als Librettist Rameaus als auch durch sein Traktat La danse ancienne et moderne ou traité historique de la danse (1754) ein in den Bereichen Musik, Tanz und Schauspielkunst bestens bewanderter Literat seiner Zeit. U. a. verfasste er die Artikel „Danse“, „Ballet“ und „Pantomime“ in der Encyclopédie. 338 Louis de Cahusac: „Geste“, in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 7: Fo-Gy, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 1966, 651–653; hier: 651. 339 Ebd., 652. 340 Johann Georg Sulzer: „Gebehrden (Schöne Künste)“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 427–430; hier: 427 f.
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ein Medium identifiziert – in diesem Fall sind es die verbundenen Körperzeichen, die fließende Bewegung der Geste – , welches als die Seelenbewegungen unmittelbar übertragbar und der Struktur des Seeleninnenlebens analog beschrieben werden kann. Diese „intuitive“ Art der Übersetzung in eine Gestensprache folgt dem Paradigma der Kontinuität und verbannt folglich alles Plötzliche, Abrupte. So formiert sich das Konstrukt oder „Phantasma“ einer „natürlichen Gestalt“, die dem „kollektiven Imaginären“ entspringt, wie es Günther Heeg beschrieben hat: „Als Zeichen, das, seinen Zeichencharakter leugnend, ihn im ‚reinen Ausdruck‘ gleichsam überspringen will, bleibt es ein Wunschbild des ‚Unmittelbaren‘, das doch aus einer Mischung heterogener Zeichen hervorgegangen ist.“341
3.6 Gesten en Action (J.-G. Noverre) „[L]a Danse est l’art des gestes“342 – Der Tanz avanciert zur Kunst der Gesten. Das Ballett zeichnet sich dabei durch „la représentation d’une action par les gestes, les pas, & les mouvemens du corps“343 aus. Die Einführung dieses sogenannten Ballet d’Action löst das Ballet du Cour ab,344 welches vor allem auf der tänzerischen Abbildung von „Figuren“ im Sinne geometrischer Raumwege basierte345 und seine zentralperspektivische Blickrichtung „auf den ‚Platz des Königs‘ ausgerichtet“346 hatte. Erneut wird hier ein an der rhetorischen Praxis der „eloquence du corps“347 angelehntes Figuren-System durch ein Ausdruckssystem mit ‚emotionaler Grundierung‘ ersetzt. Das neue Ballett verabschiedet so zunehmend die Prinzipien der Symmetrie, die formalisierte Gestensprache und die virtuosen, abgemessenen Schrittkombinationen der
341 Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Basel: Stroemfeld/Nexus 2000, 38. Vgl. auch grundlegend: Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, 3 Bde., Tübingen: Narr 52007. 342 Cahusac, Geste, 651. 343 Louis de Cahusac: „Ballet“, in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 2: B-Ce, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 1966, 42–46, hier: 43. 344 Diese Ablösung lässt sich seit den 1740er Jahren in Frankreich beobachten. Vgl. Heeg, Phantasma, 70. 345 Stephanie Schroedter: Vom „Affect“ zur „Action“. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 412. 346 Herrmann, Archiv der Bühne, 107. 347 Ivana Rentsch: „Verkörperte Konvention. Le Bourgeois gentilhomme und die Verhaltensnorm in der französischen Tanzmusik des 17. Jahrhunderts“, in: Musiktheorie 26 (2011), 293–308; hier: 297.
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II Transformationen der Gradatio
„Tanzmaschienen“348 des 17. Jahrhunderts, die das höfische Protokoll im Sinne einer maßvollen Affektkontrolle erfüllten.349 Das „Taktgefühl“ 350 hatte hier sowohl tänzerische als auch moralische Konnotationen und bedeutete für das galante Hofpersonal ein Bändigen der Passionen („moderer ses passions“351) im regelmäßigen Schreiten. Abgelöst wird diese höfische Tanzpraxis durch ein tänzerisches Ausdrucksprinzip, durch expression: Es wird gefordert, dass die abgemessene symmétrie „sera toujours bannie de la Danse en action“352, eine Forderung, die Noverre von Diderot übernommen hat, der dieses Prinzip für die Malerei geltend gemacht hatte.353 Stattdessen sollte die symmetrische Anordnung einer natürlichen Handlung Platz machen.354 Diese action, die Handlung des neuen Tanzes, bestand aus zusammenhängenden, unmittelbar aufeinanderfolgenden Seelenschwankungen und nicht länger aus in sich geschlossenen, sich abwechselnden Affekt-Gesten. In Form des ge348 Jean-Georges Noverre: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, Hamburg: Cramer 1769, 225. Die deutsche Übersetzung der Lettres wurde von Lessing und Johann Joachim Christoph Bode angefertigt, wobei nicht geklärt ist, wie viel der Arbeit Lessing zuzuschreiben ist und grundsätzlich Bode der größere Anteil zugesprochen wird (Ralf Stabel: „‚Große Männer müssen nur große Dinge schaffen‘. Jean-Georges Noverre und seine Reform des Balletts“, in: Jean-Georges Noverre: Briefe über die Tanzkunst, hg. Ders., Leipzig: Hensel 2010, 207–232; hier: 220). Die Übersetzung wurde 1769 publiziert und ist für diese Untersuchung insofern besonders relevant, als sie in der Übertragung ins Deutsche verstärkt Semantiken wählt, die ganz im Sinne der hier vertretenen These einer Infinitesimalisierung des Gefühls, der zunehmenden Aufmerksamkeit auf Mimik und Gestik und der Dynamisierung in fließende Körperzeichen Rechnung trägt (auch dann, wenn diese Nuancen im Französischen weniger angelegt sind). Durch diesen Vorgang zeitgenössischer Semantisierung erhält die Übersetzung ihren ganz eigenen Stellenwert und soll deshalb im Folgenden an einigen Stellen mitberücksichtigt werden. 349 „[L]a Danse étoit trop composée & le mouvement symmétrique des bras trop uniforme, pour que les Tableaux pussent avoir de la variété, de l’expression & du naturel; il faudroit donc si nous voulons rapprocher notre Art de la vérité, donner moins d’attention aux jambes, & plus de soin aux bras; abandonner les cabrioles pour l’intérêt des gestes; faire moins de pas difficiles, & jouer davantage de la physionomie; ne pas mettre tand de force dans l’exécution, mais y mêler plus d’esprit; s’écarter avec grace des regles étroires de l’Ecole, pour suivre les impressions de la nature & donner à la Danse l’ame & l’action qu’elle doit avoir pour intéresser.“ Noverre, Lettres, 261 f. (Lettre X). 350 „Das im Tanz unter Beweis zu stellende sprichwörtliche Taktgefühl war untrennbar an seine praktische Bedeutung gekoppelt.“ Rentsch, Verkörperte Konvention, 300. 351 „L’une des plus importantes & des plus universelles maximes que l’on doiue en ce commerce, est de moderer ses passions.“ Nicolas Faret, L’Honneste-homne, ou l’Art de plaire à la Cour (1630), zit. n. Rentsch, Verkörperte Konvention, 295. 352 Noverre, Lettres, 12 (Lettre I). 353 „La symétrie, essentielle dans l’architecture, est bannie de tout genre de peinture. La symétrie des parties de l’homme y est toujours détruite par la variété des actions et des positions“. Denis Diderot: „Pensées détachées sur la peinture, la sculpture et la poésie. Pour servir de suite aux salon“, in: Ders.: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 1013–1058; hier: 1017. Vgl. Fried, Absorption and Theatricality, 82; 208 f. 354 Noverre, Lettres, 8.
3 Operationen der Verbindung – die Entfaltung ästhetischer Kräfte
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stischen Ausdrucks, der „poësie muette qui parle, selon l’expression“355, entspricht sie somit auch an dieser Stelle der Beschreibung des transformierten emotionalen Systems fließender Gemütsbewegungen. Die Beobachtungen, die Noverre in seinen Lettres trifft, können als maßgebliche Reform der Tanzkunst gelesen werden, die fließende, fein nuancierte gestische Zeichen ins Zentrum der Darstellung rücken: L’action en matière de Danse est l’art de faire passer par l’expression vraie de nos mouvements, de nos gestes & de la physiognomie, nos sentiments & nos passion dans l’ame des Spectateurs. L’action n’est donc autre chose que la Pantomime. Tout doit peindre, tout doit parler chez le Danseur; chaque geste, chaque attitude, chaque port de bras doit avoir une expression différente; la vraie Pantomime en tout genre, suit la nature dans toutes ses nuances.356
Der wahre Ausdruck der äußerlichen wie innerlichen Bewegung findet über die Handlung, die prozesshafte Darstellung fein graduierter Gesten und ihren „Verflößungen“357 statt, welche die abgemessenen Figuren („figures symmétriques & compassées“358) obsolet werden lassen, denn diese würden nur die Wahrheit verändern, die Wahrscheinlichkeit ‚schockieren‘, die Handlung schwächen und das Gemüth erkalten lassen.359 Von zentraler Bedeutung ist auch hier der Aspekt der Verbindung, wenn es darum geht, die einzelnen – statischen – Stellungen in einen Ablauf zu bringen, denn nur so können Pantomime und Tanz sich von dem „feu d’artifice“ des alten Tanzes und der Divertissements verabschieden, welches nur entzündet wurde, „pour amuser les yeux“.360 Auch hier sind die Verbindunsoperationen also Voraussetzung, damit überhaupt ein graduell eingerichteter emotionaler Ausdruck hergestellt werden kann. Der neue Tanz habe also die Aufgabe, „d’émouvoir & de captiver le Spectateur par le charme de l’illusion la plus parfait“361, und diese entstünden nur, wenn eine Verbindung der statischen Stellungen vorgenommen würde.362 Die daraus resultierenden gradationalen 355 Cahusac, Ballet, 43. 356 Noverre, Lettres, 262f (Lettre X). 357 So lautet die Übertragung ins Deutsche: „Die wahre Pantomime in jeder Gattung, folgt der Natur in allen ihren Verflößungen“ (Noverre, Briefe, 197), was den Semantisierungsvorgang in der deutschen Ausgabe erneut vor Augen führt. 358 Noverre, Lettres, 10 (Lettre I). 359 „[L]es figures […] ne peuvent être employées sans altérer la vérité, sans choquer la vraisemblance, sans affoiblir l’action & refroidir l’intérêt.“ Ebd. 360 Ebd., 4 f. 361 Ebd., 5. 362 Noverre veranschaulicht den Aspekt der Verbindung auch anhand eines literarischen Beispiels: Die Wörter „fait .. pas .. le .. la .. honte .. non .. crime .. & .. l’échafaud“ würden ihn ebenso wenig rühren, wie die einstudierten Tanzschritte eines „homme machine“ (ebd., 28). Durch die Vereinzelung der Wörter könne keine ‚Empfindungssprache‘ entstehen. „Cependant ces
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II Transformationen der Gradatio
Darstellungsformen dienen also der Herstellung von Illusion: Das auf diese Weise entstehende Handlungsballett, welches sich auf die Hervorbringung transitorischer Gesten konzentriert, sieht sich so in der Lage, Ausdruck363 zu garantieren. Wenn die Haltung der Arme, die Mimik und die „position justes“ folglich eine Nachzeichnung der „mouvements successifs des passions“ darstellten364, dann könne der Tanz auch ohne Worte auskommen: [L]es récits dès-lors deviendront inutiles; tout parlera, chaque mouvement dictera une phrase; chaque attitude peindra une situation; chaque geste dévoilera une pensée; chaque regard annoncera un nouveau sentiment; tout sera séduisant parce que tout sera vrai, & que l’imitation sera prise dans la nature.365 mots arrangés par le grand homme composent ce beau Vers du Comte d’Essex: Le crime fait la honte & non pas l’échafaud.“ (Ebd.) Es bedarf also eines Genies, das die Worte arrangiert und verbindet („arrange les lettres, forme & lie les mots“, 29). Übertragen auf den Tanz muss auch dieser durch Verbindungsoperationen ergänzt werden, „embellie par le sentiment, & conduite par le génie“ (ebd.). 363 Der Begriff Ausdruck bezeichnet bei den Aufklärern jenen Prozess eines „von innen nach außen umsetzenden Ausdrucksverhältnis[ses] und dessen Lesbarkeit“ (Hilmar Kallweit: „Ausdruck: Homogenisierung des Textes“, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): ‚Aufführung’ und ‚Schrift’ in Mittelalter und Früher Neuzeit, DFG-Symposion 1994, Stuttgart: Metzler 1996, 633–653, hier: 633. Auch D’Alembert beschreibt die „expression“ in der Encyclopédie als „maniere de peindre ses idées, & de les faire passer dans l’esprit des autres“. Jean D’Alembert: „Expression (Belles Lettres)“, in: Denis Diderot, Ders. (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 6: Et-Fn, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1967, 315. Dass dabei jede Kunst unterschiedlichen Gesetzen folgen muss, wird sowohl in der Encyclopédie als auch in Sulzers Allgemeinen Theorie deutlich. Sulzer nennt hier insbesondere den Tanz als Beispiel für eine Kunst, die sich bei der Realisierung eines an der Natur angelehnten Ausdrucks mit Schwierigkeiten konfrontiert sieht: „Nicht nur jede Hauptleidenschaft, sondern bei nahe jede Schattierung derselben Leidenschaft, hat ihren eigenen Ausdruck in der Stellung und Bewegung des Körpers. Diese sind die wahren Elemente, das Alphabet des echten Tanzens oder diese Kunst beruht auf gar keinen Grundsätzen. Diese Elemente aufzusuchen, sie in ordentlichen und zusammenhängenden Bewegungen wieder darzustellen, aus verschiedenen zusammenhängenden Bewegungen ein ganzes Balett zusammen zu setzen, das eine bestimmte Handlung ausdrückt, ist das eigentliche Werk des Tänzers.“ Johann Georg Sulzer: „Ausdruk (Schöne Künste)“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 100–112, hier: 109. 364 Ebd., 122. 365 Ebd. Dass dies in der Umsetzung jedoch nicht so einfach möglich ist, berichtet Johann Friedrich Schink, der in der Besprechung des Tanzstücks Der gerächte Agamemnon von Noverre feststellen muss: „Eine […] Ursach des Mangels des Interesse war die Undeutlichkeit dieser Handlungen selbst; war, daß das meiste davon dem Zuschauer unverständlich blieb, so bekannt er auch immer mit der Fabel sein mochte; war, daß dem Zuschauer nur immer verworrene Begriffe von dem, was der Tänzer schilderte, beiwonten, die er ohne Noverrens Program sich gar nicht ergänzen konnte; und warum das? weil Noverre sehr oft Dinge durch die Geberde ausdrükken zu lassen unternam: die sich durch die blosse Geberde gar nicht ausdrükken lassen.“ Johann Friedrich Schink: Dramaturgische Fragmente, Bd. 1, Graz: Widmanstättensche Schriften 1781, 77. Die Diskrepanz zwischen Anlage der Stücke und ihrer Rezeption wird noch häufiger auffallen und interessieren, vgl. Kap. III.3 und IV.3 in dieser Arbeit.
3 Operationen der Verbindung – die Entfaltung ästhetischer Kräfte
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Den Empfindungswallungen entsprechend, die sich in „Staffeln von dem Wenigern zum Mehrern“366 ausdrücken, erfolgt bei Noverre eine Dynamisierung von Gestik und Mimik, die sukzessiv und graduell eingerichtet ist.367 Die Bestrebungen, eine den Empfindungsschwankungen angepasste ‚Sprachfähigkeit‘ vermittels der Geste zu erlangen, die bewirken, dass „Tänze Empfindung seyn“ und die Akteure „mit dem ganzen Körper sprechen“,368 befördert zugleich einen neuen Umgang mit Darstellungsmitteln und theatralischen Repräsentationsformen. Dies führt so weit, dass etablierte Gattungen wie die Oper neu überdacht werden, wie Herder in seinem kurzen Text Über die Oper (1769) veranschaulicht, in dem er den Plan hegt: Sprechen, wo man spricht: singen, wo man singt! Oder nein! statt sprechen, ganze Auftritte durch nur Pantomime, und denn singen, wo man empfindet – – das ist eine Oper! […] Der Taube muß die Oper verstehen können! […] Der Plan muß Empfindung sein: nur diese spricht durch Minen, nur sie singt durch Lieder! Nichts also, als Menschliche Scenen, alle Malereien durch Worte fielen weg. – – 369
3.7 Transformationen der Gradatio III: Emotional-ästhetische Figur und Denkform Die neue Aufmerksamkeit, die Gestik und Mimik erfahren, kann als wesentliche Konsequenz des in diesem Kapitel beobachteten Misstrauens in Sprache, Zeichen und Medien gesehen werden. Im Anschluss an diese Beobachtungen, die gezeigt haben, auf welche Weise mediale Substitutionen die Mangelhaftigkeit der Zeichen vermittels Operationen der Verlebendigung, Versinnlichung und Verbindung beheben sollen, um Kontinuitäten zu stiften, wird auch deutlich, dass dieses Misstrauen die Evaluation neuer Darstellungsformen befördert. Hier ist auffällig, dass die neuen Zeichenkonstellationen vor allem dann als ‚natürlich‘ oder ‚unmittelbar‘ bezeichnet wurden, wenn sie der Struktur des Seeleninnenlebens möglichst entsprechen konnten – was insbesondere in Bezug auf Töne und Gesten beobachtbar wurde und damit bei sukzessiven und performativen Zeichen. Dieser Beobachtung folgend, wird im nächsten Kapitel der Fokus auf diejenige Kunst
366 Noverre, Briefe, 11. 367 Dies führt u. a. dazu, dass der Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode geneigt ist, das Port de Bras, die Haltung der Arme, in der Übertragung ins Deutsche mit einem „Armgang“, also einer verzeitlichten, sukzessiven Form, zu übersetzen (Noverre, Briefe, 199). 368 Johann Gottfried Herder: „Über die Oper“, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 4, Berlin: Weidmann 1878, 483–486. 369 Ebd., 484.
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gerichtet, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich besonders stark und auf unterschiedlichen Ebenen mit den vermittels der unterschiedlichen Verbindungsoperationen realisierbaren Gradationsfiguren auseinandersetzt: die Schauspielkunst. Es wird sich zeigen, inwiefern die wesentlichen ästhetischen Bestrebungen, die eingesetzt wurden, um die Mittelbarkeit der Zeichen zu überwinden, auch und insbesondere für das Theater eine zentrale Rolle spielen. Mitunter werden anhand dieser Bestrebungen fundamentale Transformationen des Theaters bezüglich der Konzeption der Bühne, der Schauspielkunst sowie des dramatischen Texts beobachtbar, denen die Gradation als wesentliche Denkform unterliegt.
III Gradatio der Schauspielkunst Gradation wird in diesem Kapitel als zentrale Denkform der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts dargestellt. Dabei wird deutlich, wie sich Formen des Wachstums und der Minderung als ‚Verbindungskünstler‘ und ‚Maß‘-gebende Figuren, als emotionale Übertragungsmedien, als Strukturprinzipien und theatertechnische Accessoires in den dramatischen Texten und ihrer Theorie insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts niederschlagen. Die entstehenden Formen lassen sich auf wesentliche ästhetische Desiderate der Zeit zurückführen, welche sich wiederum durch ihren Einsatz einlösen lassen. Zugleich machen sie sichtbar, wie das Drama im 18. Jahrhundert unterschiedliche Neuausrichtungen und Umstrukturierungen erfährt, um die Darstellung von Übergänglichkeit, Allmählichkeit, graduellem Wachstum und Verminderung innerhalb der Schauspielkunst zu garantieren. Nicht allein im Sinne von Gradationsfiguren innerhalb der Schauspielkunst wird die Gradation zur maßgeblichen Denkform: Insofern wesentliche Überlegungen zur dramatischen Theorie und Praxis überhaupt erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts angestellt werden, kann hier ganz wörtlich von einer Gradation der Schauspielkunst gesprochen werden als einer allmählichen Wachstumsbewegung und Entwicklung der dramatischen Gattung.1 Zwar hatte eine Theoretisierung der Schauspielkunst auch jenseits des Dramentexts bereits im Theater der Neuzeit stattgefunden, jedoch beschränkten sich diese Vorstöße zunächst auf die „Ausarbeitung perspektivischer Raumkonstruktionen im Lauf des 16. Jahrhunderts.“2 Die Etablierung einer eigenständigen Schauspielkunst samt ihrer theoretischen Erfassung blieb also lange Zeit aus. Noch in seiner berühmten Aussage aus dem 81. Literaturbrief (7. 2. 1760) seiner Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759–1765) beklagt Lessing den desolaten Zustand des Theaters in Deutschland: „Wir haben kein Theater. Wir haben keine Schauspieler. Wir haben keine Zuhörer.“3 Und in der Ankündigung seiner Hamburgischen Dramaturgie beschreibt er die Situation Die Bezeichnung als Gradatio soll hier jedoch keine wertende Implikation hervorrufen, sondern lediglich die zunehmende Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung mit der Schauspielkunst umschreiben. 2 Herrmann, Archiv der Bühne, 17; sowie 35–47. 3 Gotthold Ephraim Lessing: „Briefe, die neueste Litteratur betreffend“, in: Ders.: Werke, Bd. 4: 1758–1759, hg. G. E. Grimm, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997, 453– 777; hier: 700 (81. Literaturbrief). 1
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III Gradatio der Schauspielkunst
ganz im Sinne einer (potentiellen) Wachstumsbewegung: „Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe, natürlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist.“4 Die Wahrnehmung dieser prekären Lage beflügelt zugleich eine Diskussion über die Schauspielkunst, die ihrerseits eine neue Aufmerksamkeit erhält: Seit dem 18. Jahrhundert rückt die Figur der Schauspielerin und die des Schauspielers selbst in den Mittelpunkt, und damit einhergehend verhandelt man auch „die Aufführung als ästhetisches Ereignis“5. Die Schauspielkunst inkorporiert die kursierenden anthropologischen Konzepte6 und wird damit an neue Diskurse anschlussfähig. Man erfasst sie außerdem erstmals in ihrer Plurimedialität,7 so dass Text, Aufführung, Ausstattung, Deklamation, Mimik und Gestik als gleichermaßen wichtige Teile in der immer anwachsenden Anzahl von Publikationen diskutiert werden, und schließlich wird sie auch einem größeren Publikum zugänglich. Dabei ist die sozialgeschichtliche Entwicklung insofern von Bedeutung, als der Schauspielstand zunehmend eine berufliche Institutionalisierung erfährt und somit die Schauspielerinnen und Schauspieler an „stehenden“ Theatern im 18. Jahrhundert sesshaft „und zu bürgerlichen Existenzen mit staatlichem Bildungsauftrag“8 werden. Gerade an diesen neu instutionalisierten Bühnen entstehen so neuartige „Tendenzen […], die auf den verschiedensten Ebenen für ein handlungsintensiveres, spannungsgeladeneres, abwechslungsreicheres und beschleunigtes Bühnengeschehen sorgten“9, so dass Dynamisierung als eines der zentralen Merkmale der Institution in ganz unterschiedlichen Bereichen – auf schauspielerischer, theoretischer wie soziokultureller Ebene – gesehen werden kann.10 Inwiefern man von einer sich ausbildenden „werdenden“ Schauspielkunst auch jenseits von Deutschland sprechen kann, ist anhand einer Schrift des 4 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 122 (Ankündigung). 5 Herrmann, Archiv der Bühne, 17. „Die ‚natürliche Anlage‘, die laut Aristoteles zum Schauspielerberuf befähigt, wird nun aus6 druckspsychologisch diskursiviert und zur Grundlage einer autonomen Schauspielkunst, die statt auf rhetorische Vergegenwärtigung und bildliche Repräsentation auf sinnliche Gegenwart und Verlebendigung setzt.“ Herrmann, Archiv der Bühne, 17. Vgl. auch Košenina, Anthropologie der Schauspielkunst. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, München: Fink 61988, 24 f. 7 8 Herrmann, Archiv der Bühne, 30. 9 Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 1995, 154. 10 Dies gilt insbesondere für die „nicht-romanischen Theaterkulturen“, welche sich „von der Dominanz des französischen und italienischen Theaters zu lösen begannen.“ Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 2, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996, 497.
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Dramatikers, Schauspieltheoretikers und zeitweiligen Leiters des berühmten Drury Lane Theatres in London, Aaron Hill, darstellbar. Dieser hatte 1746 selbst erklärt, dass seine Ideen zur Schauspielkunst einen Neuheitswert besäßen („when Subjects are so new as in the following little Piece“11). Dabei setzt er seinem Gedicht The Art of Acting eine anthropologische Herleitung der kontinuierlichen Zusammenhänge „in its general Gradations“12 voran, und beschreibt in seiner Schrift einen Körper des Schauspielenden, der eine unmittelbare Interdependenz der Passionen, der Gesichtsmuskeln (Mimik), der Modulationen der Stimme und der Geste vorstellt. Denn obwohl der Mensch durch die Passionen ‚in Gang gebracht‘ werde („are actuated by“), „we find no Difficulty greater, than to represent’em, in their due Distinctions.“13 Der Grund für das neue Interesse an der Schauspielkunst liegt auch hier im Mangel der Darstellbarkeit des Seelenlebens, der eine anthropologische Herleitung unabdingbar macht. Die Systematik von Schauspielschriften wird somit – ähnlich wie die der Passionsschriften des 17. Jahrhunderts – maßgeblich erweitert. Für die Zukunft prophezeit Hill der „poor Stage“14 des zeitgenössischen „tastless Age“15 in seinem Gedicht hingegen: The Time shall come – (nor far the destin’d Day!) When Soul-touch’d Actors shall do more, than PLAY: When Passion, flaming, from th’asserted Stage, Shall, to taught Greatness fire a feeling Age: Tides of strong Sentiment sublimely roll, Deep’ning the dry Disgraces of the Soul[.]16
Hills emphatische Prophezeiung von Schauspielerinnen und Schauspielern, die nicht länger nur „spielen“ und sich nicht von Gesetzen „beflecken“ lassen,17 äußert sich als Desiderat, welches einmal mehr auf das Telos der Darstellung schwankender, schwellender Gemütsbewegungen ausgerichtet ist, die eine „tiefere“ und damit der Seele näher stehende dramatische Kunst ermöglicht. Die neue Schauspielkunst soll einem Prinzip folgen, welches Hill bereits im Untertitel seiner Schrift konkret benennt: „Touching the PASSIONS in a Natural Manner“. Dabei plädiert er für Akteure, die zu von der Seele berührten Medien, also Vermittlungsinstanzen der Passionen avan-
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Aaron Hill: The Art of Acting. Part I, Deriving Rules from a New Principle, for Touching the Passions in a Natural Manner, London: Osborn 1746, III. 12 Ebd., IV. 13 Ebd. 14 Ebd., VIII. 15 Ebd., 5. 16 Ebd., 8. 17 „Why was the Actor stain’d, by Law’s Decree? –“, ebd., 9.
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cieren. Als „Passion’s Refiner“18 ist ihre Aufgabe das moralische, aber auch ästhetische Verfeinern der Passionen, eine Forderung, die vor allem auf die englischen Moral Sense-Theorien zurückzuführen ist.19 Schauspielerinnen und Schauspieler garantieren also das Hervorrufen nuancierter Gemütsschwankungen in „a feeling Age“20 – im Zeitalter des Gefühls, welches nun anbrechen soll. In ihnen vereint sich Wahrnehmung und Übertragung der Emotion, sie ver‑körpern unmittelbaren Ausdruck und werden so selbst zum natürlichen Zeichen.21 Eben diesen Aspekt des Drama als Ort der natürlichen Zeichen hebt auch Lessing einige Jahre später hervor, wenn er schreibt: „[D]ie höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkürlichen Zeichen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in dieser hören die Worte auf willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge.“22 Wenn im vorigen Kapitel hinsichtlich der Herstellung natürlicher Zeichen dargestellt wurde, wie Gradationsfiguren als Übertragungsmittel eintraten, um die Mittelbarkeit der Zeichen zu überwinden, so werden gerade solche Maßnahmen und ‚Ausrichtungen‘ auch in der Schauspieltheorie und den dramatischen Texten an unterschiedlichen Stellen sichtbar, wie die folgenden Kapitel beleuchten.
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Ebd., 9. Vgl. Sauder, Empfindsamkeit, 73 ff. Hill, Art of Acting, 8. „Percept, and Practice, in One Teacher, join’d,/ Bodied Resemblance of the copied Mind“, Hill, Art of Acting, 9. Brief Lessing an Friedrich Nicolai, Hamburg, 26. Mai 1769 (Brief Nr. 489), in: Ders.: Werke, Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743–1770, hg. H. Kiesel, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, 608–611; hier: 610.
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1 Schauspielkunst 1750–1800 I: Die Ausrichtung der Bühne Jeder nur einigermaßen nachdenkende Mensch fühlt, daß in den Werken der Kunst Gradation Statt finden müsse, weil die Natur sie überall zeigt. Aesthetisches Wörterbuch, 179423
In seiner Studie Das Archiv der Bühne zeigt Hans-Christian von Herrmann, wie diskursive und nicht-diskursive Praktiken, welche über eine Beobachtungsinstanz zweiter Ordnung sichtbar gemacht werden können, bewirken, dass sich das Theater „um 1800“ transformiert und neu konstituiert.24 Dies lässt sich mitunter anhand der Veränderungen der Bühne, der Bühnenbeleuchtung und Dekoration veranschaulichen. Im Wesentlichen, so Herrmann, könne hier ein Wandel der Bühne beschrieben werden, welche zunächst „im Zeichen perspektivisch-räumlicher“ Verhältnisse stehe, aber zunehmend „dynamisch-zeitliche“ Aspekte in den Blickpunkt rücke.25 Während also die Bühne seit der Renaissance durch mathematische und geometrische Gesetze bestimmt ist und sich gänzlich über den „symbolischen Platz des Königs“ formiert, wird diese Ausrichtung durch einen „Blick aus Fleisch“ ersetzt, welcher den Menschen als solchen in den Fokus nimmt und der die Dynamik der von ihm produzierten transitorischen Zeichen zu beschreiben sucht:26 „Der perspektivische Ausblick in die helle Weite von Palästen, Straßen und Landschaften, den die Bühnenbilder des 17. Jahrhunderts eröffneten, weicht damit einem überwachenden Einblick in das Dunkel menschlicher Intimität.“27 Der schnelle, kontrastreiche Kulissenwechsel des barocken Theaters, der mittels höchst aufwändiger Bühnenmaschinerie durchgeführt wurde, weicht allmählich den heimischen Räumen der bürgerlichen Familie, die seit Diderot durch eine vierte Wand28 abgedichtet wurden. Diese neuen Räume ermöglichen
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Art. „Gradation“, in: Carl-Heinrich Heydenreich (Hg.): Aesthetisches Wörterbuch über die bildenden Künste, nach Watelet und Levesque, Bd. 2, Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1794, 432–436; hier: 433. 24 Herrmann, Archiv der Bühne, 20. 25 Ebd., 94. 26 Ebd. 27 Ebd., 122. 28 Das Konzept der ‚vierten Wand‘ bedeutet, dass eine imaginäre unsichtbare Wand zwischen Publikum und Akteuren eingezogen wird. Es verfolgt nicht länger die Idee der Interaktion zwischen den beiden Parteien, sondern fördert eine voyeuristische Außenperspektive des Publikums auf das Bühnengeschehen einerseits und die Illusion eines ‚ungestörten‘ Agierens der Akteure auf der Bühne andererseits.
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III Gradatio der Schauspielkunst
eine neue Form der Konzentration und Intensität auf der Bühne, wo Empfindungen wallen und Tränenflüsse strömen können.29 Diese Neuausrichtung der Bühne kann mitunter auch als eine Reaktion auf die veränderten Darstellungsmodi gesehen werden, die zudem zu einer technischen Anpassung der Seh- und Hörverhältnisse führte. So sollte verhindert werden, dass „une partie des spectateurs était condamnée à ne rien voir et une autre à rien entendre“30. Neue Licht- und Klangräume sollten die Schauspielkunst entsprechend ihrer nun geforderten Ansprüche in Szene setzen, um so ein synästhetisches und Illusion produzierendes Theatererlebnis garantieren zu können. Techniken einer visuellen Gradation kommen dabei zum Einsatz, insofern sie illusionsstiftend und dynamisierend wirken, wie es im Folgenden zu zeigen gilt.
1.1 Räume des chiaroscuro Man könnte vermuten, dass sich die gradationale Ausrichtung innerhalb der Schauspielkunst auf den ‚modernen‘ panoptischen Bühnenraum beschränkt, wie ihn von Herrmann seit Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmt hat. Die ‚Ausleuchtung‘ des Schauspielerkörpers31 befördert das Interesse daran, die infinitesimalisierte Seele in Form mannigfaltiger transitorischer Körperzeichen darzustellen. Dabei thematisieren die Schauspielschriften in dieser Zeit sehr deutlich, auf welche Weise die Bühne ausgerichtet werden muss, um die fein nuancierten mimischen und gestischen Bewegungsfolgen bestmöglich sichtbar zu machen. Hingegen ist bemerkenswert, dass Gradation und Abschattierung gerade auch im (auslaufenden) perspektivischen Raummodell einen zentralen Stellenwert einnehmen, was sich vor allem 29
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Somit finden auch auf der Bühne lediglich über sympathetische Kräfte Austauschprozesse zwischen Akteuren und Publikum statt. Die Nähe zu den von Albrecht Koschorke gemachten Beobachtungen zur Briefkultur des 18. Jahrhunderts ist offensichtlich: Auch die Schauspielkunst gebärdet sich „als ein Strömen und Zusammenfließen“ zwischen Akteuren und Rezipienten, obwohl sich die Distanz zum Publikum aufgrund der vierten Wand konzeptionell betrachtet vergrößert hat. Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 213, sowie insgesamt Kap. III: Substitutionen 2; 169–262. Es bedürfte jedoch einer eigenen Untersuchung, um die einzelnen Prozesse der Verschriftlichung mit den theatral-medialen Verhältnissen zu vergleichen und Unterschiede herauszustellen. Antoine-Laurent de Lavoisier: „Mémoire sur la manière d’éclairer les salles de spectacle“, in: Œuvres de Lavoisier, publiées par les soins de S. Exc. le Ministre de l’instruction publique, Bd. 3: Mémoires et rapports sur divers sujets de chimie et de physique pures […], Paris: Imprimerie Impériale 1865, 91–102. Vgl. Carl-Friedrich Baumann: Licht im Theater. Von der Argand-Lampe bis zum Glühlampen-Scheinwerfer, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1988, 68 ff.; Herrmann, Archiv der Bühne, 132. Schauspielerinnen sind in dieser Bezeichnung im Folgenden als inbegriffen zu verstehen.
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an denjenigen theoretischen Schriften veranschaulichen lässt, die sich der spezifischen Bühnenbeleuchtung, Dekoration, den Kulissen und der Ausstattung widmen. Dass die Schattierungstechniken der Malerei sehr eng mit einer diskursiven Formation des Gradationalen in Zusammenhang stehen, hat Thomas Leinkauf gezeigt: Er vertritt die These eines „geistesgeschichtlichen und auch sachlichen Zusammenhang[s]“ zwischen der „dynamischen Entfaltung der Implikationen des Perspektivraumes (Lichtraum, Hell-Dunkel, Entfaltung von Raumtiefe, Bildgrund)“ und dem (insbesondere durch Leibniz geprägten) philosophischen Gedankengut, welches „mit einem dynamisch konzipierten Entfaltungsgedanken verknüpft, in Bezug auf die Selbstentfaltung des Natürlichen, des Seelischen und des Göttlichen ebenfalls ein hochdifferenziertes, sich in Gradations- und Abschattierungstiefen darstellendes System ausarbeitet“.32 In der Malerei hatte man sich, unter anderem ausgelöst durch die theoretischen Reflexionen Leonardo Da Vincis in seinem Trattato della Pittura, seit dem 15. Jahrhundert zunehmend mit den Effekten des chiaroscuro33, dem Helldunkel, auseinandergesetzt, eine Technik, die zur Entfaltung des Tiefenraums führte.34 Insbesondere Da Vincis ‚verschmelzende‘ Technik des sfumato, welche „die abstrakten Begrenzungslinien aufgelöst“ hatte und zu einer Durchbrechung und Erweiterung des Perspektivraums führte,35 stellte eine zentrale Innovation innerhalb der künstlerischen und theoretischen Auseinandersetzung mit Lichtverhältnissen dar. Die Helldunkelgestaltung, bei der die Farbe einen Übergang zwischen Helligkeit und Dunkelheit bildet, durchläuft seit dieser Zeit eine stetige Verfeinerung, bis sie im 17. Jahrhundert – beispielsweise bei Rembrandt oder Vermeer – zum „Prinzip des Übergänglichen“36, als „lückenlos ausgefülltes Kontinuum“37 32 Thomas Leinkauf: „Philosophische Implikationen des Begriffs ‚Grund‘ am Beispiel der Vorstellung eines propre fonds bei Leibniz“, in: Gottfried Boehm, Matteo Burioni (Hg.): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München: Fink 2012, 279–299; hier: 282. 33 Erste Ansätze des Helldunkels finden sich bereits in der transalpinen Tafelmalerei des 14. Jahrhunderts. Lorenz Dittmann: Farbgestaltung in der europäischen Malerei. Ein Handbuch, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2010, 58. Da Vinci kommt hingegen die Pionierarbeit der theoretischen Reflexion der Technik zu. 34 Thomas Leinkauf, Thomas Fink, Philipp Weiss: „Intensitätsraum und Lichtentfaltung. Zur Raum- und Lichtauffassung im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Lichtgefüge. Das Licht im Zeitalter von Rembrandt und Vermeer, hg. Museumslandschaft Hessen Kassel und Forschungsgruppe Historische Lichtgefüge, Petersberg: Imhof 2011, 183–193; hier: 188. 35 Leinkauf/Fink/Weiss, Intensitätsraum, 188. 36 Kaspar H. Spinner: „Helldunkel und Zeitlichkeit. Caravaggio, Ribera, Zurbaran, G. de la Tour, Rembrandt“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 34/3 (1971), 169–183; hier: 180. Spinner stellt u. a. eine Zunahme der graduell verfeinerten Übergänglichkeit von Caravaggio („extreme Helldunkelgegensätze“, „fragmentarisch“, 170) bis Rembrandt („Rembrandts Gemälde sind durchwegs Übergang, von dunkel zu hell, von sichtbar zu unsichtbar, von einer Form zur andern, von einer Farbe zur andern“, 180) fest. 37 Leinkauf/Fink/Weiss, Intensitätsraum, 189.
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avanciert. Die durch die Schattierungen entstehende Tiefe wird dabei zu einer „Latenz-Form“, welche einen kontinuierlichen und „dynamische[n] Entfaltungs- und Einfaltungshorizont“ im Bildraum begründet.38 Die Schattierungsmöglichkeiten der malerischen Techniken verweisen so zugleich auf „ein Interesse der Weltdeutung, das diese als einen dynamischen Entfaltungsvorgang denkt“39, so Leinkauf. Diese Annahme lässt sich mitunter durch Diderots Schrift Pensées détachées sur la peinture (1777) untermauern, die im Abschnitt „Du coloris, de l’intelligence des lumières, et du clair-obscur“ die Technik des Helldunkel mit Leibniz’ Kontinuitätsgesetz in Verbindung bringt: „Dans l’art, ainsi que dans la nature, rien par saut; nihil per saltum; et cela sous peine de faire ou des trous d’ombre, ou des ronds de clair, et d’être découpé.“40 Das chiaroscuro lässt sich damit als ein weiteres Phänomen der gradationalen Denkweise bestimmen, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in unterschiedlichen Diskursen zu beobachten ist. Bestenfalls, so wird sich im Folgenden zeigen, wird dieses Verfahren eingesetzt, um grobe Unterschiede zu vermeiden und Mannigfaltigkeit zu etablieren. Denn auf diese Weise kann ein Wirkungsprozess – eine sukzessive Erfahrung des beau – im Betrachter überhaupt erst in Gang gesetzt werden. Die unterschiedlichen Verfahren der gradationalen Denkform – die der Vermischung und der Intensivierung, die zwar unter dem Sammelbegriff der Gradation gefasst werden, jedoch verschiedene Erfahrungsgrößen prozessieren und sich medial wie strukturell voneinander unterscheiden, werden dabei immer wieder miteinander in Verbindung gebracht: Sie stehen im Verhältnis von Verfahren und Wirkungsprinzip zueinander. Das Wissen um die Lichtverhältnisse, das chiaroscuro, Schattierungen der graduellen Stufung und Mitteltinten, spielt – neben ihrer Bedeutung für die perspektivische Dekoration, welche den illusionistischen Bühnenraum des 16. (Italien) und 17. Jahrhunderts (England, Frankreich, Niederlande, Deutschland) begründete41 – auch für unterschiedliche Bereiche des Theaters eine wichtige Rolle. Beispielsweise beklagt sich der italienische Schriftsteller Francesco Algarotti in einem Aufsatz aus dem Jahr 1755 über das verstreute Licht, welches auf die Opernbühnen fällt, das doch viel bessere Effekte erzielen 38 Leinkauf, Philosophische Implikationen, 282 f. 39 Ebd., 291. 40 Diderot, Pensées, 1040. 41 „In the perspective scene the designer for the first time in Europe undertook to present on the stage a complete illusionistic picture of an actual place.“ George R. Kernodle: From Art to Theatre. Form and Convention in the Renaissance, Chicago/London: Chicago Press 4 1964, 176; 201. Dabei nennt Kernodle das Ballet du cour als denjenigen Ort in Frankreich, an dem bereits Ende des 16. Jahrhunderts immer mehr perspektivische Kulissen verwendet wurden (202).
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würde, wenn es nicht einheitlich („non [con] quella uguaglianza“), sondern aus stärkerer und schwächerer Quelle („più e meno forti“) stammen würde.42 In seiner Überarbeitung des Aufsatzes aus dem Jahr 1763, die sich insgesamt ausführlicher gestaltet, folgt dabei ein Verweis auf die Kunst des chiaroscuro bei Rembrandt und des sfumato als Technik des ‚Abdämpfens‘ („smorzare“), welches wie im Bild mithilfe des Lichts produziert werden solle43 – Kontraste werden damit durch Schattierungstechniken ersetzt. Auch Noverres Lettres sur la danse et sur les ballets veranschaulichen ein zunehmendes Interesse an den theatralen Lichtverhältnissen. Noverre, der bereits im Kontext seiner Reformen im Ballett behandelt wurde und dort für mehr Transitorik, action und die Darstellung fließender Körperzeichen eintrat (vgl. Kap. II.3), beschäftigt sich auch auf der Bühne eindringlich mit Gradationstechniken. So solle sich der Ballettmeister an der rechten Mischung der Farben und Schattierungen und dem „clair-obscur“44 an der Malerei orientieren, gleichermaßen diene die Anatomie den Studien der „connoissance intime de la succession harmonique des membres“45. Die beiden ästhetischtheatralen Interessensbereiche vereint, dass es bei ihnen um die Darstellung „dynamischer Entfaltungsvorgänge“ (Leinkauf) geht, die im Mittelpunkt der Ausrichtung der Bühne stehen. Zunächst empfiehlt Noverre, dass sich der Ballettmeister mit der Beleuchtung der Bühne befassen solle, vor allem hinsichtlich ihrer ästhetischen Wirkung, wie er unter anderem im sechsten Brief ausführt: „Le mêlange des couleurs, leur dégradation & les effets qu’elles produisent à la lumiere, doivent fixer encore l’attention du Maître de Ballets“46. Noverre berichtet, er habe selbst in den Balletten Les Jalousies und Les Fêtes du serrail derartige „Degradationen“47 angewendet, bei denen im Vordergrund starke Farben 42 43
44 45 46 47
„Meravigliosi farebbno [sic] gli effetti che produrebbe il lume, quando fosse distribuito quà e là in masse più e meno forti; e non quella uguaglianza, e così alla spicciolata, come ora si costuma.“ Francesco Algarotti: Saggio Sopra L’Opera in Musica, Venedig: k. A. 1755, 25. „Mirabili cose farebbe il lume, quando non fosse compartito sempre con quella uguaglianza, e così alla spicciolata, come ora si costuma. Distribuendolo artificiosamente, mandandolo come in massa sopra alcune parti della scena, e quasi privandone alcune altre, non è egli da credere, che producesse anche nel teatro quegli effetti di forza, e quella vivacità di chiaroscuro, che a mettere ne’ suoi intagli è giunto il Rembrante? E quella amenità di lumi e d’ombre, che hanno i quadri di Giorgione, o di Tiziano, non faria [sic] forse anche impossibile trasferirla alle scene. […] Il lume vi è introdotto a traverso di carte oliate, che ne smorzano il troppo acuto; e la pittura ne viene a ricevere un tale sfumamento, un tale accordo, che nulla più.“ Francesco Algarotti: Saggio Sopra L’Opera in Musica, Livorno: Marco Coltellini 1763, 68. Vgl. Baumann, Licht im Theater, 61 f. Noverre, Lettres, 68. Ebd., 70. Ebd., 91. Der Begriff hat dabei keinerlei pejorative Bedeutung etwa im Sinne einer Deklassierung oder Degradierung, sondern bezeichnet schlichtweg die Technik der graduellen Abstufung.
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standen, daraufhin weniger helle, und in der Vertiefung zarte und „duftige“ („couleurs tendres & vapoureuses“48). In einem anderen Stück (Ballet Chinois) hatte er diese Gradationstechniken nicht angewendet und reflektiert diesen Mangel dementsprechend: Da alle Teile der Bühne in diesem Stück gleichermaßen stark hervortraten, hätte das Ballett eine ‚schockierende‘ Wirkung auf die dadurch verletzten Augen gehabt, alles habe geflackert und sei konfus geworden, da die Farben und Eindrücke zu stark auf die Zuschauenden gewirkt hätten, so dass diese keine Form mehr von einer anderen hätten unterscheiden können.49 Die Empfehlung, graduelle Abstufungen anzubringen, bezieht Noverre einerseits auf die Dekoration, die Kulisse, andererseits aber auch auf die Figuren selbst, sowie deren Kleidung, welche möglichst „stuffenweise in alle ihre Schattirungen genau vertheilet“50 werden sollten. So durfte der Grund der Kulisse nicht zu leuchtend und stark sein, wenn Akteure auf der Bühne bereits mit auffällig farbigen Kleidern ausstaffiert waren, umgekehrt sollten die Kleider vor dem ruhigen Hintergrund hervortreten („trancher“, „détacher“51). Neben der Kleidung sollte die Anordnung der Figuren einen Effekt der Abstufung erzeugen: So hatte Noverre selbst die „effets admirables que produisent les dégradations“52 in einem Jägerballett angebracht. Hier wirkt der Einsatz der Gradationstechniken nicht im Sinne der visuellen Schattierungen, sondern aufgrund der rein optischen Wirkung, indem Noverre mithilfe der unterschiedlichen Größen seiner Tänzerinnen und Tänzer sowie dem Einsatz von Kindern eine perfekte Staffelung inszenierte: [L]a décoration représentoit une Forêt, dont les routes étoient paralleles au Spectateur. Un Pont terminoit le Tableau, en laissant voir derriere lui un Paysage fort éloigné. J’avois divisé cette entrée en six classes toutes dégradées; chaque classe étoit composée de trois Chasseurs & de trois Chasseresses, ce qui formoit en tout le nombre de trente-six Figurant ou Figurantes; les tailles de la premiere classe traversoient la route la plus proche du Spectateur; celles de la seconde les remplaçoient en parcourant la route suivante; & celles de la troisieme leur succédoient en passant à leur tour sous la troisieme route, ainsi du reste, jusqu’à ce qu’enfin la derniere classe composée de petits enfants termina cette course en passant sur le Pont.53
48 49
50 51 52 53
Ebd., 92. „[L]e mauvais arrangement des couleurs & leur mêlange choquant blessoit les yeux; toutes les Figures papillotoient & parassoient confuses, […] tout étoit riche, tout étoit brillant en couleurs, tout éclatoit avec la même prétention; aucune partie n’étoit sacrifiée, & cette égalité dans les objets privoit le Tableau de son effet […].“ Noverre, Lettres, 93 f. Noverre, Briefe, 82. Erneut wird hier der Vorgang zeitgenössischer Semantisierung in der deutschen Übersetzung besonders offensichtlich, vgl. Kap. II.3. Noverre, Lettres, 98. Ebd., 102. Ebd., 104.
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Die Degradation der Figuren sei so korrekt ausgeführt worden, wie Noverre selbstbewusst berichtet, dass sie eine Augentäuschung hervorgerufen habe.54 Die Zuschauenden glaubten, dass es sich immer um die gleichen Akteure handelte, die sich in die Vertiefung verloren, obwohl es in Wahrheit unterschiedlich große Menschen waren, die den Weg in die illusorische Ferne verfolgten. Unterstützt wurde diese Degradationstechnik von der Musik, welche parallel zu der Entfernungsbewegung ein Decrescendo vollzog: „La musique avoit la même degradation dans ses sons, & devenoit plus douce, à mesure que la chasse s’enfonçoit dans la forêt“55. In unterschiedlichen Medien werden hier also Gradationstechniken eingesetzt, um eine optimale Illusionssteigerung zu erzielen und zugleich einen Effekt der Absorption56 bei den Zuschauenden hervorzurufen, welche sich in diese „fiction“ des „effet de l’Art & des proportions“ hineingezogen fühlten, die „avoit l’air le plus vrai & le plus naturel“57. Hintergrund dieser Gradationstechniken, die auf das Ballett angewendet werden, bildet die Vorstellung eines ‚belebten Gemäldes‘. Vor allem in Anlehnung an Diderot, der sowohl die seelischen Vorgänge als auch das Drama als Tableau vivant bezeichnete,58 möchte Noverre dieses Konzept im Ballett einführen: „Un Drame n’est autre chose qu’un grand Tableau qui doit en offrir successivement & avec rapidité une multitude“59. Bemerkenswert ist dabei Noverres Anmerkung, dass lediglich die fixierten Tableaus einer solchen Gradationstechnik bedürften: „C’est dans les Tableaux fixes & tranquilles de la Danse que la dégradation doit avoir lieu; elle est moins importante dans ceux qui varient & qui se forment en dansant“60. Wenn Noverre es also nicht für nötig hält, die ohnehin bewegten Tanzelemente mit derartigen Effekten auszustatten, so gibt dies Aufschluss über die Funktion der Degradationstechnik: Diese bewirkt nämlich eine Dynamisierung, das heißt ein Einschreiben von Sukzessivität in das stillgestellte Tableau. Die Be54 55 56
„[Q]ue l’œil s’y trompoit“, ebd. Ebd., 105. Im Sinne Michael Frieds, der Absorption als „merging of […] responses in a single collective act of heightened attention“ beschreibt. Fried, Absorption, 55. 57 Ebd. 58 „Il faut mettre des figures [des Dramas, J. F.] ensemble, les rapprocher ou les disperser, les isoler ou les grouper, et en tirer une succession de tableaux, tous composés d’une manière grande et vraie.“ Diderot, De la poésie dramatique, 1342. 59 Noverre, Lettres, 132. Vgl. Kap. II.3 in dieser Arbeit. Insgesamt gilt für Diderot und seine Zeitgenossen, dass in der Bewertung der bildenden Kunst vor allem jene Bilder positiv evaluiert wurden, die den Menschen in ihrer Bewegung zeigten: „the human body in action was the best picture of the human soul; and the representation of action and passion was therefore felt to provide“, was die bildende Kunst zu einer Ausdrucksform machte, die als „explicitely dramatic“ beschrieben werden kann. Fried, Absorption, 75. 60 Noverre, Lettres, 100.
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schreibung des Diminuierens der Jägerinnen und Jäger, die sich im Raum verlieren, zeigt, dass die Tableaus en action gesetzt werden – ein Vorgang, der dort erforderlich ist, wo die sukzessiv-performativen Tanzelemente zum statischen Gemälde fixiert wurden. Ruft man sich dabei Diderots Beschreibung der Seele als einem Tableau mouvant ins Gedächtnis, welches ein durchaus bewegtes Seelenbild vorstellt, dem auch Noverre folgt61, so scheint sich Noverre an einer in dieser Zeit omnipräsenten Problematik abzuarbeiten: Es ist der Versuch, der Transitorik des Leibes – einer „Zeitkunst“ – und der bislang vor allem als Raumkunst wahrgenommenen Schauspielkunst gleichermaßen gerecht zu werden und diese miteinander zu verbinden. Zugleich ist es gerade die Konzeption des Tableau, die bewirkt, dass die Bühne eine Neuausrichtung erfährt: „Das Tableau setzt als Rezeptionsbedingung die nur zu einer Seite hin geöffnete Guckkastenbühne und das strukturelle Auseinandertreten von Zuschauerraum und Bühne voraus.“62 Noverres tänzerische Tableaus markieren damit eine Übergangsphase, welche bemüht ist, die unterschiedlichen Darstellungsformen und Zeichenkonstellationen miteinander in Einklang zu bringen. Die Lichtverhältnisse, die Einrichtung und Komposition der Bühne, des Bühnengeschehens und der Dekoration rücken also aus unterschiedlichen Gründen in den Fokus schauspieltheoretischer Schriften. Sie sollen illusionsfördernd eingesetzt werden – denn: „Le peintre de théâtre est borné aux circonstances qui servent à l’illusion“63. Illusion impliziert hier die Idee einer neuen ‚Natürlichkeit‘, welche ein kontinuierlich zusammenhängendes Ganzes präsentieren soll: Ihr liegen also Verbindungs- und Versinnlichungsprozesse zu Grunde. Zusätzlich sind es zunehmend anthropologische, d. h. die Darstellung und Erscheinung der Schauspielerin oder des Schauspielers betreffende Argumente der eloquentia corporis, die angeführt werden, um die Bühne neu auszurichten. Man beklagt sich über die Beleuchtung des Schauspielerkörpers, der auf völlig unnatürliche Weise angestrahlt wurde. Insbesondere die untere Beleuchtung der Fußrampe, welche ‚monströse‘ und ‚barbarische‘ Verzerrungen produzierte und somit „diamétralement oposée
Insgesamt stellt Noverre einen Tableau-Begriff vor, dem Sukzession inhärent sein soll: So beschreibt Noverre, dass sich das Ballett besser noch als mit einem einzelnen Tableau, mit einer ganzen Bildergalerie vergleichen lässt: „je mettrai le Ballet en action, en parallele avec la galerie du Luxemburg, peinte par Rubens: […] de Scene en Scene on arrive au dénouement“. Noverre, Lettres, 45. 62 Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Fink 2004, 88. Die Guckkastenbühne findet jedoch erst im 19. Jahrhundert ihre Vervollkommnung. Ebd., 102. 63 Diderot, De la poésie dramatique, 1334.
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aux loix de la nature“64 sei, bemängeln die zeitgenössischen Schriften.65 Dabei komme es, so erneut Noverres Argumentation, weniger auf die Menge oder das symmetrische Arrangement der Lichter an, sondern vielmehr auf ihre richtig nuancierte Verteilung.66 Bei den Überlegungen zur Beleuchtung geht es also nicht allein um die technische Seite einer Bühnenbeleuchtung,67 die der illusorischen Wirkmächtigkeit auf der Bühne dienen soll, vielmehr reflektiert Noverre die Idee der ‚Ausleuchtung‘ des Schauspielerkörpers im Sinne der Darstellbarkeit der vermannigfaltigten Emotionen: Denn das Gesicht des Menschen – wie schon Descartes betont hatte – sei der Ort, an dem „les passions s’impriment, que les mouvements & les affections de l’ame se déploient & que le calme, l’agitation, le plaisir, la douleur, la crainte & l’espérance se peignent tour-à-tour.“68 Ergänzt wird diese Erkenntnis nun durch technische Anweisungen. Nur durch angemessene Lichtverhältnisse könnten alle Seelenregungen, welche sich auf dem Schauspielerkörper in seinen feinen Nuancen der Mimik und Gestik ablesen lassen, „tour-à-tour“, also der Reihe nach sichtbar gemacht werden und somit „transitorische Bild- und Tonereignisse für Augen und Ohren“69 erzeugt werden, welche eine ‚natürliche‘ Darstellung ermöglichten.70 In seinem Vortrag Sur la manière d’éclairer les salles de spectacle, den Antoine-Laurent de Lavoisier vor der Académie royale im Jahr 1781 hält, gibt dieser den Grund für den spezifischen Einsatz der Beleuchtungen und konkaven Metallspiegel („réverbères“) in ähnlicher 64
Jean-Georges Noverre: Observations sur la construction d’une nouvelle salle de l’Opera, Amsterdam/Paris: P. de Lormel 1781, 29. 65 „De toutes les lumieres, de toutes les manieres de les distribuer, il n’en est point de si incommodes, ni de si ridiculement placées; rien de si faux que ce jour qui frappe le corps du bas en haut.“ Noverre, Observations, 28. 66 „[C]e n’est pas la grande quantité de lampions jetés au hazard, ou arrangés symmétriquement qui éclaire bien un Théatre & qui fait valoir la Scene; le talent consiste à savoir distribuer les lumieres par parties ou par masses inégales […]. Rien ne seroit si mauvais qu’une décoration peinte dans les même ton de couleur & dans les mêmes nuances […] & le Tableau sera sans effet.“ Noverre, Lettres, 151 f. (Lettre VIII). 67 Dass diese verbesserungswürdig ist, zeigt sich auch an unterschiedlichen Berichten, die die schlechte Beleuchtung kritisieren, z. B. von Charles Burney, der eine Opernaufführung verlässt, da die Lichter im Opernhaus „affected […] [seine, d. h. Burneys, J. F.] eyes in a very painful manner“, Charles Burney: The Present State of Music in France and Italy. Or, The Journal of a Tour through those Countries […] [1771], London: T. Becket and Co. Strand 2 1773, 106. 68 Noverre, Lettres, 195. 69 Herrmann, Archiv der Bühne, 131. 70 Herrmann hat zudem darauf hingewiesen, dass diese Ausleuchtung des Theaters zugleich eine disziplinarische Ausleuchtung der Seele darstelle: Das „operational gewordene Licht verdrängt die zentralperspektivische Bildlichkeit der Bühne und entbirgt in Zusammenspiel mit dem Dramentext das physiognomische Spiel der Schauspieler zu einer Sichtbarkeit, die wie die nächtliche Straßenbeleuchtung zugleich eine polizeyliche Überwachung ist.“ Herrmann, Ebd., 133.
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Weise an: Sie sollten einerseits ermöglichen, dass das Licht in allen feinen Nuancierungen und Farbtönen erschien, um Illusion hervorzurufen71 und andererseits der Beleuchtung des Schauspielers dienen, denn c’est lui qui anime la scène, c’est par lui que le sentiment passe dans l’âme du spectateur; le moindre mouvement, la moindre altération dans ses traits, tout soit être senti, rien ne doit échapper, et personne n’ignore que ce sont ces détails qui constituent la perfection de jeu […].“72
Der Grund für eine solche dezidierte Ausleuchtung des Schauspielerkörpers liegt also neben der Sichtbarmachung der feinen Seelenschwankungen in der Forderung nach einer infinitesimalisierten Darstellung von Bewegung und damit zusammenhängend der Entwicklung einer „Poetik des Kleinen“73, die zu einer minimalistischen Beobachtungshaltung in der Theaterkritik führt, wie sie auch bei Lessing und Engel eine wichtige Rolle spielen wird. Sie ist Voraussetzung dafür, dass man „die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen […] ertappen“74 kann. Aber gerade auch in Bezug auf das dramatische Personal, das keine typisierten Figuren, keine uniformité75, sondern eine Mannigfaltigkeit, Varietät und nuancierte Schattierung unterschiedlicher Charaktere auf die Bühne bringen soll, wird die Verbesserung der Sichtbarmachung zur Notwendigkeit, da nur auf diese Weise die Feinheiten des darstellerischen Spiels zum Ausdruck kommen können. Hatte Charles Batteux noch empfohlen, dass die Charaktere kontrastiert werden sollten, so dass eine Abhebung und Differenz der einzelnen Charaktere wahrnehmbar war,76 so findet auch in dieser Sache zunehmend die nuancierte Schattierung Gefallen. Die „Abstufung der […] untergeordneten Charakter […] [und] Mannigfaltig-
71
„[D]onneraient à la lumière toutes les teintes […] pour faire naître et pour entretenir l’illusion“ Lavoisier, Mémoire, 95. 72 Ebd. 73 Alexander Košenina: „Entstehung einer neuen Theaterhermeneutik aus Rollenanalysen und Schauspielerportraits im 18. Jahrhundert“, in: Yoshio Tomishige, Soichiro Itoda (Hg): Aufführungsdiskurse im 18. Jahrhundert. Bühnenästhetik, Theaterkritik und Öffentlichkeit, München: Iudicium 2011, 41–74; hier: 66. 74 Friedrich Schiller: „Die Räuber. Vorrede zur ersten Auflage“, in: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 3: Die Räuber, hg. H. Stubenrauch, Weimar: Böhlaus Nachf. 1953, 5–8; hier: 5. 75 „Je serois fort embarrassé […] si toutes les têtes de ses [des Künstlers, J. F.] Figures étoient uniformes comme le sont celles de l’Opéra, & si les traits & les caracteres n’en étoient pas variés.“ Noverre, Lettres, 197 (Lettre IX). 76 „Enfin, les caractères seront contrastés: c’est-à-dire, que chacun aura le sien, avec une différence sensible, & qu’on les montrera, de sorte que la comparaison les fasse sortir mutuellement.“ Batteux, Les Beaux Arts, 172. Auch Batteux orientiert sich am Vorbild der Malerei.
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keit“77, „die feinsten Schönheiten“ und „untergeflossenen Flecken“78 deuten auch im Hinblick auf die personale Ausstattung des Schauspiels darauf hin, dass weniger Kontrast, sondern vielmehr eine zunehmende Übergänglichkeit zwischen den einzelnen Figuren hergestellt werden soll, ein sfumato der Charaktere: „Je veux que les caractères soient différents; mais je vous avoue que le contraste me déplaît“79, sagt Diderot. Und weiter heißt es: Wenn der DichterMaler „ne veut pas être aussi froid qu’un peintre qui placerait des objets blancs sur un fond blanc, il aura sans cesse les yeux sur la diversité des états, des âges, des situations et des intérêts“80. In dieser Hinsicht wird Lessing ihm folgen, wenn er in seiner Hamburgischen Dramaturgie schreibt: „Diderot hat recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloß verschieden, als wenn sie kontrastiert sind.“81 Diese Prozesse der Verfeinerung und Ausdifferenzierung des Rollenrepertoires machen ebenso wie die ‚Verfließungen‘ zwischen den kontrastierten Charakteren, die gemischte Charaktere hervorbringen, eine Neuausrichtung der Bühne erforderlich, insofern sie eine immense Konzentration auf die Feinheiten und Nuancierungen des Schauspiels zur Voraussetzung haben, welche durch neue technische Erfordernisse realisiert werden sollten.
1.2 Klangräume In einem Brief an Diderot beklagt sich Marie Jeanne Riccoboni 1758 nicht allein über die Beleuchtung der Bühne, welche auf solche Weise eingerichtet war, „qu’à trois pieds des lampes un acteur n’a plus de visage“, sondern auch darüber, „que l’acteur qui tourne assez la tête pour voir dans la seconde coulisse, n’est entendu que du quart des spectateurs.“82 Auch in klanglicher Hinsicht sollten die Theater so eingerichtet sein, dass sie die Stimmen weit trugen und von den Zuhörerinnen und Zuhörern gut wahrnehmbar waren, „pour que la voix ne se perde pas […], mais pour qu’elle se porte avec facilité, & qu’elle soit propagée dans la partie occupée par le Spectateur.“83 Tatsächlich waren die akustischen Gegebenheiten der Theaterräume mangelhaft und 77
Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, hg. Ders., Hildesheim/New York: Georg Olms Verlag 1971, 300. 78 Friedrich Schiller: „Die Räuber. Unterdrückte Vorrede“, in: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 3: Die Räuber, hg. H. Stubenrauch, Weimar: Böhlaus Nachf. 1953, 243–246; hier: 246. 79 Diderot, De la poésie dramatique, 1312. 80 Ebd., 1314. 81 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 466 (86. Stück). 82 Denis Diderot: „Lettre de Madame Riccobini et Réponse de M. Diderot“, in: Ders.: Œuvres (Bibliotheque de la Pléiade 25), hg. A. Billy, Paris: Éditions Gallimard 1951, 1283–1296; hier: 1284. 83 Noverre, Observations, 20.
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die Zuschauerschaft alles andere als leise, so dass es nicht immer einfach war, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen.84 In seiner Schrift Observations sur la construction d’une nouvelle salle de l’Opera (1781), die Noverre unter anderem schrieb, da er selbst Augenzeuge einiger Theaterbrände war, legt er neben pragmatischen Innovationen, wie Brandschutzregeln und die Anstellung von Feuerwehrmännern, grundlegende Maßstäbe der Illusionsbühne fest. So sollten Bühnengeräusche und Gespräche, die nichts mit dem Theatergeschehen zu tun haben, durch eine Mauerkonstruktion im Bühnenportal eingedämmt werden. Als illusionsfördernd vermerkt er auch den richtigen Abstand des Schauspielers oder der Schauspielerin zu den Rezipienten.85 Dass gerade die musikalische Entwicklung, wie sie im folgenden Kapitel noch darzustellen sein wird, neue Klangräume erforderte, bemerkt nicht zuletzt der literarisch und musikalisch gleichermaßen bewanderte Christian Daniel Schubart: Niemand verstand die Kunst besser, seinen Satz nach den Wirkungen des Schalls einzurichten, als Jomelli [sic]. In kleinen Zimmern und Sälen thun seine meisten Sätze eine sehr schlechte Wirkung, hingegen in großen Schauspielhäusern, wie z. B. in Wien, Neapel, Stuttgart, ist ihr Effect desto erstaunenswürdiger. Das ganze Opernhaus scheint eine Tonsee zu seyn, wo jede Woge, jede Welle, oft das Platschern jeder einzelnen Note bemerkt werden kann.86
In der Mitte des 18. Jahrhunderts wird neben der Sichtbarkeit eine zunehmend verbesserte Hörbarkeit zum zentralen Diskussionselement und Desiderat. Dies lässt sich ebenso für die Stimmwirkung beobachten, wenn beispielsweise Lessing kritisiert, dass der „gänzliche Mangel intensiver Akzente […] Monotonie“ 87 verursache und versichert, dass die „Wirkung […] unglaublich“ sei, die ein „beständig abwechselndes Mouvement der Stimme“ habe, „nicht bloß in Ansehung der Höhe und Tiefe, der Stärke und Schwäche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen“, die „Grade der Verschiedenheit“ also „unendlich“ seien.88 Die Diskussion erhält aufgrund solcher gesteigerten deklamatorischen und musikalischen Ansprüche eine zunehmende Brisanz. Die akustischen Forderungen zogen eine Revision der architektonischen Mittel nach sich. Die Geschichte der Architektur und der Physik „kreuzen sich dabei zu einem Zeitpunkt, von dem an die universale 84 85 86 87 88
Jacques Scherer: La dramaturgie classique en France, Paris: Librairie Nizet 1959, 269 f. Noverre, Observations, 22 f. Christian Daniel Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Nachdr. Wien 1806, Hildesheim: Olms 1969, 48. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 154 (8. Stück). Ebd., 155.
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Harmonie von gottgegebenen Proportionen auf der einen Seite im Funktionsbau zu implodieren beginnt und auf der anderen Seite in Frequenzen zerlegt wird.“89 Während beim Theaterbau in der Vergangenheit vor allem als ‚schön‘ wahrgenommene Formen gewählt worden waren, wie beispielsweise glockenförmige Hörsäle, deren akustische Wertigkeit auf der Ähnlichkeit zum Klangkörper beruhte, so werden diese Prinzipien nun grundlegend hinterfragt.90 Wie aber sollte über die Form und Architektur von Theatern gesprochen werden, wenn man über die Verbreitung der Stimme noch keine klaren Vorstellungen hatte, fragt sich der Architekt George Saunders in seinem Treatise on Theatres (1791).91 Mit anderen Theoretikern ist Saunders maßgeblich daran beteiligt, den Zeitpunkt einzuläuten, an welchem Klangräume über physikalische Experimente neu erschlossen werden und die Ergebnisse in den Bau neuer Theater- und Opernhäuser einfließen. „Encore une fois, ayez des salles mieux construites, faites-vous un système de déclamation qui remédie à ce défaut, approchez-vous de la coulisse; parlez, parlez haut et vous serez entendus“92, fasst Diderot in seinem Antwortbrief an Mme Riccoboni die neuen klanglichen Anforderungen an die Bühne zusammen.93 Aber nicht allein hinsichtlich ihrer Resonanz wurden die Schauspielräume überdacht, auch seitens des Publikums sollten Räume der Aufmerksamkeit geschaffen werden, mit denen eine neuartige Disziplinierung der Zuschauenden durch alle Schichten einherging: Einerseits musste die Aristokratie auf die beliebten Bühnensitze verzichten, um eine maximale theatralische Illusion zu ermöglichen.94 Sie war damit nicht länger interagierender
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Susanne Holl: „Phänomenologie des Schalls“, in: Kaleidoskopien 2 (1997): Surround. Zur Architektonik akustischer Räume, 31–47; hier: 31. 90 Ebd., 32. 91 „But how was it possible to draw any just conclusions respecting theatres, whilst the progress of sound remained so little ascertained? In designing a theatre, the first question that naturally arises is, In what form does the voice expand? To me it is matter of surprise, that so simple a question should not have yet engaged a serious examination. We have many considerable tracts on the propagation, refraction and reflection of sound, but on the last two of these subjects very inconclusive.“ George Saunders: A Treatise on Theatres, London: I. and J. Taylor 1791, X. Vgl. Holl, Phänomenologie, 35. 92 Diderot, Lettre de Madame Riccoboni, 1288. 93 Im Zweifelsfall, so räumt Diderot jedoch in für ihn typischer moderater Haltung ein, müsse eben die Einbildungskraft des Publikums dafür sorgen, dass das Theater zum Ort der Illusion würde und die Mängel auf diese Weise nivelliert würden. Ebd., 1289. 94 Von dem Brauch des Bühnensitzes und dem Ärgernis Voltaires berichtet unter anderem Lessing im 10. Brief seiner Hamburgischen Dramaturgie: „[B]esonders beleidigte ihn [Voltaire, J. F.] die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Bühne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist.“ Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 164 (10. Stück). Auch Unterbrechungen der Stücke, Zwischenrufe und Interaktionen zwischen den Inhabern der Bühnensitze und den Akteuren waren keine Seltenheit.
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Teil der Stücke, sondern gezwungen, in Logen und anderen Sitzreihen eine ausschließliche Beobachtungshaltung einzunehmen. Der „exzessive[ ] Ausbau des Logensystems, das das Publikum in kleine intime Einheiten parzellierte“, führte zu einer tendenziellen „Vereinzelung der Subjekte“, trennte die höheren Schichten zudem vom Publikum im Parkett, ließ einen „forcierte[n] Bühnenillusionismus“ entstehen und verlangte von der Zuschauerschaft „die stärkere Konzentration auf das Bühnenereignis und band dessen kommunikatives Interesse.“95 Andererseits wurde durch neuinstallierte Sitzbänke auch die insbesondere in Frankreich existierenden, günstigeren und damit auch für eine breitere Öffentlichkeit zugänglichen Stehplätze abgeschafft. Diese Maßnahme, ergänzt durch den Einsatz von Ordnungswächtern, diente vor allem dazu, zu verhindern, dass die tumultierenden Mittelstände die Stücke durch Zwischenrufe, Pfiffe und sonstige Unterbrechungen störten. Zugleich bewirkte sie, dass die unüberschaubare Vielheit geordnet und diszipliniert wurde: „car ordinairement c’est la foule qui occasionne le désordre, et le scandale se cache dans la foule“96, wie der konservative französische Kritiker und Dichter Jean-Françoise de La Harpe anmerkt.97 Die Akteure wurden so aus dem Bereich jenseits der imaginierten ‚vierten‘ Trennwand zwischen Bühnen- und Zuschauerraum, Theater- und Zuschauerwelt, Fiktion und realer Welt beobachtet: „Die Wendung der Schauspieler zum Publikum, die auch das Hoftheater ausgezeichnet hatte, wich nun einem hinter der vierten Wand isolierten Ensemblespiel, das die Geschlossenheit der Illusion garantierte.“98 All diese Ausrichtungen sollten also zur gleichen Zeit eine neue Dimension des facettenreichen, Hör- und Sichtbarkeit garantierenden Schauspiels ermöglichen, wie es das intime Drama einer auf die Inszenierung von Gradationsfiguren ausgerichteten Theaterkultur einforderte. 95 Brauneck, Die Welt als Bühne, 496. 96 Jean-Françoise de La Harpe: Correspondance Littéraire, adressée a son altesse imperiale M. Le Grand Duc […]. Depuis 1774 jusqu’à 1789, Bd. 4, Paris: Migneret 21804, 313. Vgl. Jeffrey S. Ravel: „Seating the Public: Spheres and Loathing in the Paris Theaters, 1777–1788“, in: French Historical Studies 18/1 (1995), 173–210; hier: 187. Die ‚Disziplinierungsmaßnahmen‘ durch die Einführung von Sitzbänken im ‚stehenden‘ Parterre geschieht also in der Hoffnung, „that a seated parterre would be more predictable and better behaved“: „Not only would the installation of benches restore to the playwright a degree of control over the reception of his or her work, it would also redress the erosion of class distinctions that had occurred in the standing pit over the last several decades.“ (Ebd., 177; 191) Auch Lessing bezeichnet den Zustand der Bühne in Paris abwertend und beschreibt das Theater als „ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk drängt und stößt“, Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 164 (10. Stück). 97 Diderot selbst hingegen war ein Gegner dieser Maßnahmen: „Ces fusilier insolents préposés à droite et à gauche pour tempérer les transports de mon admiration, de ma sensibilité et de ma joie et qui font de nos théâtres des endroits plus tranquilles et plus décents que nos temples, me choquent singulièrement.“ Diderot, Lettre de Madame Riccoboni, 1289. 98 Herrmann, Archiv der Bühne, 137.
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1.3 Intensitätsräume „Imaginez au bord du théâtre un grand mur qui vous sépare du parterre; jouez comme si la toile ne se levait pas.“99 Mit diesen Worten führt Diderot in seiner Schrift De la poésie dramatique das Konzept der vierten Wand im Theater ein. Diese Begrenzung hat weitreichende Folgen für das dramatische Spiel. Denn sie ermöglicht überhaupt erst, dass ein ‚wahres‘, ‚natürliches‘ Spiel auf der Bühne entsteht, da eine bewusste Trennung vom Publikum vollzogen wird und das Drama eine in sich selbst geschlossene Handlung präsentiert. Dagegen gilt das Spiel in jenem Moment, in dem die Schauspielerin oder der Schauspieler sich ihrer theatralen Kunst bewusst sind, als künstlich und die Illusion als zerstört: „Dans une représentation, il ne s’agit non plus du spectateur que s’il n’existait pas. Y a-t-il quelque chose qui s’adresse à lui? L’auteur est sorti de son sujet, l’acteur entraîné hors de son rôle. Ils descendent tous les deux du théâtre. Je les vois dans le parterre“.100 Auffällig ist, dass es gerade diese auf einen Raum hin abgedichteten Dramen sind, welche gradationale Techniken erstmals aktiv in die Schauspielkunst integrieren. Es scheint geradezu, als würden diese abgedichteten Räume ganz im physikalischen Sinne eine Intensität auf die Bühne bringen, die zuvor nicht gleichermaßen intendiert war. Denn die Beschränkung auf den häuslichen Wohnraum, den Diderot in seinem Père de famille (1758)101 vollzieht, impliziert zugleich genau das: Intensität, Intimität, Darstellung der familiären Ordnung (die gestört wird) und des Seeleninnenlebens der Figuren. Die Konzentration auf den Raum bewirkt eine Konzentration auf den Handlungs- und Gefühlsverlauf: „Point de distraction, point de supposition qui fasse dans mon âme un commencement d’impression autre que celle que le poète a intérêt d’y exciter.“102 Der spezifische Einsatz der räumlichen Dekoration hat somit unbestreitbar wirkungsästhetische und rezeptionssteuernde Ziele. Das Schreien gegen die Vertiefung der Bühne103 und explizite Einbinden der Begrenzung104, wie sie der Nebentext in Diderots Drama an zahlreichen Stellen vorgibt und die den Raum in verschiedene ZwischenRäume staffelt,105 das Wegsperren der heimlichen Geliebten des Sohnes, So99 Diderot, De la poésie dramatique, 1310. 100 Denis Diderot: „Entretiens sur le fils naturel“, in: Ders.: Œuvres (Bibliotheque de la Pléiade 25), hg. A. Billy, Paris: Éditions Gallimard 1951, 1201–1273; hier: 1221. 101 Denis Diderot: „Le Père de famille“, in: Ders: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996; 1191–1270. 102 Diderot, De la poésie dramatique, 1334. 103 Vgl. III.5, V.6. 104 Vgl. II.4, II.10, IV.10, V.3, V.5, V.7, V.9. 105 Besonders deutlich wird diese Staffelung in Akt II.1 und II.9, in welchen zwei Szenen parallel laufen und in IV.10, die als einzige in einem „Anti-Chambre“, einem Vorzimmer des Saals
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phie, in einen anderen Raum, der den Hauptfiguren nicht zugänglich ist: alle diese Einsätze der Räumlichkeiten sind Mittel, um die eigentliche Handlung auf der Bühne zu verdichten, die Rezeption zu lenken und eine Absorption des Publikums zu garantieren. Dazu gehört, dass die Zierrate der Kostüme, der Prunk, die vergoldeten Säle abgeschafft werden sollten, da diese die Zuschauerinnen und Zuschauer nur verwirrten: „La richesse […] peut éblouir l’œil, mais non toucher l’âme.“106 Diderots Drama beginnt in der Nacht, also nahezu in Dunkelheit: Bereits zu Beginn des ersten Auftritts sind die Kerzenlichter im Begriff auszugehen, was eine längere Periode des Wartens impliziert. Ruft man sich in Erinnerung, dass die Schauspielsäle ohnehin schlecht ausgeleuchtet waren, so entspricht dieser Einsatz mit schwacher Beleuchtung durchaus den realen Bühnenbegebenheiten, was der illusionären Wirkung folglich durchaus entgegenkam. Dunkelheit und Unruhe, wie sie die Figur des Commandeur sowie der auf seinen Sohn wartenden Vater ausdrücken, geben dem insgesamt friedlichen Tableau zu Anfang der Szene eine düstere und unruhige Grundierung107 – es wird dem Rezipienten somit ein Einblick in die verworrenen, dunklen Seelenkräfte des fundus animae gewährt. Immer wieder laufen die Figuren im Stück auf und ab, wobei die Intensität dieser gestisch-pantomimischen Einlagen im Laufe des Dramas zunimmt. Der unruhige Zustand des Hausvaters wird bereits in der fünften Szene als wachsend ankündigt, wenn er zu seinem inzwischen eingetroffenen Sohn Gremeuil sagt „vois combien ton ignorance doit ajouter à mon inquiétude“108. Grund dafür ist einerseits die Sorge um seine Kinder, andererseits sein Schwager, der Commandeur D’Aulnoi, dessen „vues ambitieuses, et l’autorité qu’il a prise dans ma maison, me deviennent de jour en jour plus importunes“109. Durch diese schwierige Ausgangslage ist der Hausvater nicht nur als eine Figur konzipiert, deren Seelenzustand von Beginn an offengelegt wird, sondern gibt zugleich
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stattfindet, in welcher eine Art Metatheater der Figurenpaare Saint Albin/Sophie und Cécile/ Germeuil inszeniert wird, indem der Nebentext Letztere als „spectateurs“ ausgibt (Diderot, Père de famille, 100). Diderot bezeichnet sie in seiner Poésie dramatique als „scènes composées“, Szenen, welche Pantomime und Rede gleichermaßen vereinen. Gespräch und Pantomime beziehen sich dabei wechselseitig aufeinander („où l’on verrait la pantomime de l’une correspondre au discours de l’autre“, Diderot, De la poésie dramatique, 1323) und erhöhen somit das Maß unmittelbarer Wirkung auf das Publikum. Diderot, De la poésie dramatique, 1334. In vergleichbarem Zustand befindet sich auch Dorval zu Anfang des Fils naturel (1757) von Diderot, über den es im Nebentext heißt: „Il paroît agité.“ Denis Diderot: „Le Fils Naturel. Ou les épreuves de la vertu“, in: Ders: Œuvres, Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hg. L. Versini, Paris: Robert Laffont 1996, 1081–1127; hier: 1084. Ebd., 1203. Ebd., 1202.
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Anlass zur Beobachtung der Entfaltung dieses Seelenzustands.110 Aufgrund der Beunruhigung über die Störung der natürlichen Familienordnung, die der ‚Eindringling‘ D’Aulnoi verkörpert,111 wird gleichzeitig ein erster kontinuierlicher Handlungsstrang vorbereitet, der sich bis an das Ende des Dramas nachvollziehen lässt. Dieser ist in der stetigen Zunahme der Unruhe begründet, die durch die verschiedenen hinzutretenden Komplikationen verstärkt wird: Der Commandeur will die Familienordnung stören, der Sohn Saint-Albin hat sich in die tugendhafte aber mittellose Sophie verliebt, die Tochter Cécile will – vermeintlich – ins Kloster gehen, Germeuil und Cécile verstecken Sophie etc. Es ist bezeichnend, dass sich diese leitmotivische Kontinuität des Stücks auf eine Empfindung beruft: Die Darstellung der zunehmenden Beunruhigung wird zu einer Grundhandlung des Dramas, wobei der Zustand der Figuren ständig aktualisiert und in Modi der Zu- und Abnahme bestimmt wird. Diese Konzentration auf eine Empfindung ist auch das, was Diderot in seiner Poésie dramatique fordert: „Ce ne sont pas des mots que je veux remporter du théâtre, mais des impressions. […] Le poète excellent est celui dont l’effet demeure longtemps en moi.“112 Nur durch diese Vermittlung von Eindrücken und Empfindungen kann der Effekt im Rezipienten also über längere Zeit bestehen und ihn anhaltend rühren. Entsprechend dieser Forderung nach Kontinuität stellt der Hausvater in seiner Lage fest: „A peine délivré d’une inquiétude, je retombe dans une autre…“113. Zugleich ermahnt er seinen Sohn, nachdem der Hausvater Sophie kennengelernt hat, vor einer Zunahme der Komplikationen, die seinen eigenen Zustand nur verschlimmern würden: „ne venez pas aggraver vos torts et mon chagrin.“114 Bei Saint-Albin selbst äußert sich die Unruhe als Verzweiflung115, die vor allem durch immer heftigere Gesten ausgedrückt wird, wie sie im Nebentext angelegt sind.116 Saint-Albin wird vom dritten Akt an als „violent, désolé, éperdu“ beschrieben und verwandelt sich zunehmend in einen mordbereiten
110 „Placé dans la circonstance la plus difficile de sa vie, elle [die Seele, J. F.] suffira pour déployer toute son âme.“ Diderot, De la poésie dramatique, 1292. 111 Da die Bemühungen dahin gehen, Räume nach außen hin abzuschließen, wirken sich gerade von außen eindringende Auftritte, wie der von D’Aulnoi, „als Störungen von Intimität“ aus. Juliane Vogel, Christopher Wild: „Auftreten: Wege auf die Bühne“, in: Dies. (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne, Recherchen 115, Berlin: Theater der Zeit 2014, 7–20; hier: 8. 112 Diderot, De la poésie dramatique, 1284. 113 Diderot, Père de famille, 1209. 114 Ebd., 1220. 115 „Mon père, écoutez la prière d’un fils désespéré“, ebd., 1239. 116 „Il marche. Il se plaint; il désespère. Il nomme Sophie par intervalles. Ensuite il s’appuie sur les dos d’un fauteuil, les yeux couverts de ses mains.“ Ebd., 1231.
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Verzweiflungstäter117, was im letzten Auftritt des Stücks durch den Versuch, Germeuil umzubringen, seinen Höhepunkt findet. Insbesondere der sich in der Mitte des Raumes befindliche Sessel ist ein (auch in den folgenden Dramen immer wiederkehrendes) Requisit, der als Gradmesser, als Seismograph des ‚intimen‘ Theaters fungiert, denn auf diesem kann man nachdenken, zusammensinken, sich stützen, von ihm plötzlich aufspringen u. v.m., so dass er dem Facettenreichtum schwankender Empfindungen dienlich ist. Mit seinen fortlaufenden Regieanweisungen folgt Diderot jedenfalls ganz einem Grundsatz, den er ebenfalls in der Poésie dramatique näher ausführt und der bezeugt, dass in der Konzeption seiner Dramen Dynamisierung und Intensivierung grundlegende Prinzipien darstellen: „L’action marche toujours“118 heißt es hier, auch nicht durch Zwischenaufzüge solle die Handlung unterbrochen werden. So wie aber im physikalischen Fall ein Felsbrocken immer schneller wird, wenn er hinabfällt119 und entsprechend seine Kraft anschwillt, gilt dasselbe für die Handlung: Hier bedarf es im Laufe des Stücks einem Weniger der Worte und dafür einem Mehr an Handlung120 – was den zunehmenden Einsatz der gestischen und akustischen Verzweiflungsakte (in den Sessel fallen lassen, Niedersinken, Hineinstürmen, Schreien) als Teil des Dramenkonzepts bestimmt. Nur aufgrund dieser Konzentration auf eine Grundemotion – im Gegensatz zum Hervorrufen verschiedener Gemütsbewegungen – könne also der Nachvollzug der Empfindungen, das Wirkungsziel des allmählichen Anwuchses der Leidenschaften im Rezipienten, erreicht werden: „il ne s’agit pas d’élever dans mon âme différents mouvements, mais d’y conserver celui qui y règne, et de l’accroître sans cesse.“121 Das Gleichnis des fallenden Steins, der akkumulierend immer größere Kraft entfaltet, lässt sich auch auf die Handlung des Père de famille übertragen. Denn dass die Unruhe im Verlaufe des Stückes insgesamt zunimmt, wird vor allem dadurch hervorgerufen, dass sich immer mehr Figuren von dieser anstecken lassen: Cécile befindet sich bereits im dritten Akt in einer „agitation extrême“, welche den Rezipienten kontinuierlich in Erinnerung gerufen wird122 und die sich im fünften Akt mit den Worten äußert: „je meurs d’in-
117 So heißt es in IV.4: „Saint-Albin entre à pas lents; il a l’air sombre et farouche, la tête basse, les bras croisés e le chapeau renfoncé sur les yeux.“ Ebd., 1251. 118 Diderot, De la poésie dramatique, 1288. 119 „[S]a vitesse s’accroît à mesure qu’elle descend“, ebd. 120 „[S]’il est vrai qu’il y ait d’autant moins de discours qu’il y a plus d’action, on doit plus parler qu’agir dans les premiers actes, et plus agir que parler dans les derniers.“ Diderot, De la poésie dramatique, 1288. 121 Ebd., 1318. 122 „[V]ous m’impatientez… Songez que je suis dans un trouble qui ne me laissera rien prévoir, rien prévenir. […] Ciel! dans quel état je suis!“ Diderot, Père de famille, 1237.
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quiétude et de crainte“123. Schließlich bringt sie eine Szene später nur noch in kurzen Sätzen hervor: „Le trouble me suit… Tout semble me menacer… Tout m’effraie“124. Unweigerlich fühlen sich die Figuren der alles durchdringenden Emotion ausgesetzt und vermögen es kaum, deren Verlauf zu unterbrechen: Sie werden als in ihrer Empfindung vollkommen absorbiert dargestellt, ein Zustand, der sich zugleich auf den Rezipienten übertragen soll.125 Die Unruhe verstärkt sich noch dadurch, dass die Beunruhigten durch andere Figuren beobachtet werden, beispielsweise wenn Germeuil, Céciles Geliebter, feststellt: „Je vois votre inquiètude; et j’attends vos reproches.“126 Dies bewirkt, dass der Zustand der einzelnen Figuren immer wieder aktualisiert wird und die Rezipienten von der Zunahme der Beunruhigung durchgehend informiert werden. Wenn hingegen D’Aulnoi als ‚Eindringling‘ und eigentlicher Ruhestörer die Unruhe der anderen beobachtet, zeigt sich dieser nicht gerührt, sondern tut sie mit Häme ab und beweist damit einmal mehr seine unmoralische und unausgleichende Rolle innerhalb des Dramas: „Inquiète, je te conseille de l’être. Tu ne sais pas ce qui t’attend… Tu auras beau pleurer, gémir, soupirer; il faudra se séparer de l’ami Germeuil“127. Mit der Trennung, dem Separieren der Familie, ist der Commandeur von vornherein beschäftigt, und diese Handlung ist es, die das Unheil für die Familie bedeutet: Der père de famille kämpft letztlich um eine „perte de famille“ – „Tu me fuis, et je ne peux t’abandonner“128 wirft er seinem Sohn vor.129 Bereits im Kontext von Noverre wurde darauf hingewiesen, dass derartige Bewegungsmuster die Grundkonzeption des Tableau ansprechen, bei der es darum geht, eine Figurenkonstellation im Sinne des Zerstreuens und Annäherns, des Isolierens und Gruppierens herzustellen: „Il faut mettre des figures ensemble, les rapprocher ou les disperser, les isoler ou les grouper“130. So sind es auch im Père de famille die Gesten des aufeinander Zugehens, die am Ende doch einen glücklichen Ausgang und eine Wiederherstellung des Familientableaus erzeugen. Die Idee der Annäherung, des rapprocher, ist somit ein weiterer stetiger, gradueller und zugleich der Zerstreuung gegen123 Diderot, Père de famille, 1258. 124 Ebd. 125 „[Die Personen, J. F.] forment le nœud sans s’en apercevoir, que tout soit impénétrable pour eux; qu’ils s’avancent au dénoûment sans s’en douter. S’ils sont dans l’agitation, il faudra bien que je suive et que j’éprouve les mêmes mouvements.“ Diderot, De la poèsie, 1306. 126 Diderot, Père de famille, 1250. 127 Ebd., 1261. 128 Ebd., 1248. 129 Auch St. Albins Unglück besteht vor allem darin, dass Sophie sich von ihm abwendet und vor ihm fliehen will. Dabei wird Sophie selbst zum hilflosen Flüchtling: „Je suis une infortunée qui cherche un asile… […] Secourez-moi, sauvez-moi… sauvez-moi d’eux, sauvez-moi de moi-même.“ Diderot, Père de famille, 1236. 130 Diderot, De la poésie dramatique, 1342.
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läufiger Vorgang, der das Drama bestimmt. So in der zweiten Szene des dritten Akts, in welchem in einer rührseligen Szene Cécile sich Sophie annimmt und der Nebentext kommentiert: „Ici la pitié succède à l’agitation dans le cœur de Cécile. […] Cécile s’approche d’elle, et lui tend les mains.“131 Cécile ist diejenige Figur, die für diese Wiederannäherung steht. Sie beobachtet im fünften Akt: „Mon père a vu mes alarmes. Plongé dans la peine et délaissé par ses enfants, que voulez-vous qu’il pense, sinon que la honte de quelque action indiscrète leur fait éviter sa présence et négliger sa douleur?…Il faut s’en rapprocher.“132 Zerstreuung führt zur Krise, das Zusammenführen, die Herstellung eines zusammenhängenden Ganzen, führt zur Wiederherstellung der natürlichen Ordnung. Die Neuausrichtungen der Bühne, wie sie in diesem Kapitel aufgezeigt wurden, spiegeln sich dabei implizit auch in Diderots Drama wieder. Die räumliche Einrichtung ist im Dramenbau mitverbürgt: Während im Roman „notre attention s’y partage sur une infinité d’objets différents“, solle sich im Drama die Aufmerksamkeit nur auf eine Sache konzentrieren: „au théâtre, où l’on ne représente que des instants particuliers de la vie réelle, il faut que nous soyons tout entiers à la même chose.“133 Und aus diesem Grund sei auch die Einhaltung der drei Einheiten sinnvoll – nämlich so lange diese wahrscheinlich, wahr und begründet sind. Indem Diderot die Handlung auf wenige Stränge konzentriert, die in der Gesamtkonzeption alle darauf ausgelegt sind, Ruhe, Einheit und Ausgleich – „balance“134 – (wieder)herzustellen, wird die Begrenzung des Raums zur unbedingten Notwendigkeit: Sie führt zu einer unausweichlichen, direkten Konfrontation der Figuren auf engstem Raum und legt die Entfaltung des Seelenlebens bestmöglich offen. Nuancierte Mimik und das mannigfaltige Gestenspiel erfordern zugleich eine zunehmende Konzentration seitens der Rezipienten. Diderot richtet sein Drama am Prinzip des Tableau aus – Malerei und Schauspiel sind für ihn dafür prädestiniert, sich gegenseitig zu befruchten.135 Trotz der Orientierung an einer Raum- und Augenkunst zeichnet sich bei ihm ab, dass Sukzession und gradationale Entwicklung den Wesenskern der neuen Schauspielkunst, der Dramen sowie der Ausführung ausmachen. Dadurch fällt der Fokus auf den transitorischen Körper. Auf eine (malerische) Einfassung des Dramas insbesondere zu Beginn und am Ende des Stücks ist Diderot dabei angewiesen: Er bleibt dem Modell der visuellen Künste ver131 Diderot, Père de famille, 1236. 132 Ebd., 1258, Hervorh. J. F. 133 Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1206. 134 Diderot, Paradoxe, 1389. Dieser Ausgleichsgedanke durchzieht die dramatische Konzeption Diderots, sowohl was die Anlage des Stücks, als auch was das Verhältnis der Schauspielenden untereinander betrifft. 135 „De quel secours le peintre ne serait-il pas à l’acteur, et l’acteur au peintre? Ce serait un moyen de perfectionner deux talents importants.“ Diderot, De la poésie dramatique, 1342.
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haftet.136 Denn ein Problem liegt darin, dass die schwankenden Empfindungen ohne Einfassung über ihre Ränder treten und in ein Extrem ausschlagen könnten. Dies würde die Illusion der ‚Natürlichkeit‘ gefährden, was die Rückkehr ins Tableau am Ende des Stücks auffängt. Ein tragischer Ausgang würde also der Tableau-Logik Diderots widersprechen: Das Zusammenführen und Wiederherstellen der (Familien-)Ordnung ist für seine häuslichen Dramen gattungskonstitutiv. Die bis hierhin beobachteten Neuerungen, die die visuellen und klanglichen Räume betrafen, sowie die Disziplinierung und „mediale Distanzregelung“137 des Publikums arbeiten den neuen dramaturgischen Anforderungen zu: Während gradationale Vermischungsverfahren eingesetzt werden, um vor allem eine bühnentechnische Illusionsförderung voranzutreiben, lösen diese zugleich im Publikum einen Intensivierungsprozess aus, wenn dieses in hoher Konzentration zunehmend von den Handlungen absorbiert wird und angehalten ist, den emotionalen Verläufen selbst nachzuspüren und sie nachzuempfinden, denn: „Der eigentliche Schauplatz aller Handlung ist die denkende und empfindende Seele.“138 Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, wie sehr sich diese Ausrichtung auf gradationale Techniken auch auf den Schauspielerkörper übertragen lässt.
136 Dies soll nicht heißen, dass Diderot der Musik eine zentrale Funktion unter den Künsten aberkannt hätte. Vgl. Jean-Christophe Rebejkow: „La musique dans les Entretiens sur le fils naturel de Diderot“, in: Revue Romane 31/1 (1996), 99–113. 137 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 235. 138 Johann Jakob Engel: „Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung“ [1774], in: Ders., J. J. Engels Schriften, Bd. 4: Reden und ästhetische Versuche, Reutlingen: Johann Jakob Mäcken 41803, 37–207; hier: 128.
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2 Schauspielkunst 1750–1800 II: Die Ausrichtung des Schauspielerkörpers Nichts wirkt stärker und schöner auf die Menge, als eine richtig durchgeführte und wahr wiedergegebene Gradazion. August Wilhelm Iffland139
Die Tatsache, dass gerade in den Theaterschriften der Fokus so auffällig häufig auf die Darstellung des Übergangs, der nuancierten Staffelung und Schattierung, der Steigerung und Abnahme fällt, hängt unter anderem mit den Transformationen zusammen, die die Schauspielkunst selbst im Laufe des 18. Jahrhunderts erfährt, insofern sie zum „Schauplatz epistemischer Transformationen“140 wird: Denn der Schauspielerkörper „ist nun kein kostümierter, bildhaft-statischer Träger der Rede mehr“141, er repräsentiert nicht länger eine Figur, sondern wird zum Darstellungsmedium unmittelbarer Empfindungssprache, die sich symptomatisch an Mimik und Gestik – teilweise die Rede unterlaufend142 – ablesen lässt: Theater im 18. Jahrhundert ist „Theater der Seele“143 – „die Kunst des Schauspielers ist […] transitorisch.“144 Die theoretischen Schauspielschriften der Zeit versuchen, die „unfaßbare Transitorik des lebendigen Leibes“ 145, mit welcher sich die Bühnen konfrontiert sehen, fassbar und beschreibbar zu machen, was die Kritiker, die der Sprache und den Medien misstrauisch gegenüberstehen, einmal mehr vor erhebliche Schwierigkeiten stellt: Wie schwierig muß es nun nicht seyn, die Darstellungen eines Schauspielers, welche aus Deklamation, also aus einer Art Musik, aus Mimik, oder einer Reihe verrauschender Gemählde, bestehen, aufzufassen und darzustellen, besonders da keine Kunstwörter da sind, welche den Verstandesstoff subsummiren, und die Beschreibung aufklären und verkürzen. Es sind hier so viele Irrthümer möglich, ja unvermeidlich; man übersieht so vieles und oft grad das Feinste und Gedachteste […].“146 139 August Wilhelm Iffland: Beiträge zur Schauspielkunst. Briefe über die Schauspielkunst, Fragmente über Menschendarstellung auf den deutschen Bühnen, hg. u. Nachw. A. Košenina, Hannover: Wehrhahn Verlag 2009, 73. 140 Herrmann, Archiv der Bühne, 138. 141 Ebd., 18. 142 Košenina, Anthropologie der Schauspielkunst, 23. 143 Den Titel „Das Theater der Seele (1800)“ trägt das Kapitel II.2 in von Hans-Christian von Herrmanns sehr lesenswerter Studie Archiv der Bühne. 144 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 123 (Ankündigung). 145 Herrmann, Archiv der Bühne, 18. 146 August Ferdinand Bernhardi: „Ueber Ifflands mimische Darstellungen“ [1799], in: Klaus Gerlach (Hg.): Eine Experimentalpoetik. Texte zum Berliner Nationaltheater, HannoverLaatzen: Wehrhahn 2007, 37–47; hier: 37.
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Dass die Vorstellungen von ‚Wahrheit‘ und ‚Natürlichkeit‘ in der Darstellung aber dennoch diskursiv verbürgte Konstrukte sind und bleiben, wird im 18. Jahrhundert durchaus mitreflektiert. „Réfléchissez un moment sur ce qu’on appelle au thêatre être vrai“147, fordert der erste der beiden Gesprächspartner in Diderots Paradoxe sur le comédien den anderen auf. „Est-ce y montrer les choses comme elles sont en nature?“148 Die Natur darzustellen, so kommt er zum Schluss, heiße eben nicht, das Alltägliche auf der Bühne zu zeigen, vielmehr müsse in der Darstellung ein Prozess der Abstraktion stattfinden, durch den das wirkliche Handeln, Sprechen und Gebärden mithilfe der Einbildungskraft (imagination) an ein dichterisches Ideal angeglichen würde: „C’est la conformité des action, des discours, de la figure, de la voix, du mouvement, du geste, avec un modèle idéal imaginé par le poète, et souvent exagéré par le comédien.“149 Gerade die „passions outrées“, die übertriebenen Emotionen, führten hingegen dazu, dass die Gesichter der Schauspielerinnen und Schauspieler sich in Grimassen verwandelten, es ihnen an darstellerischer Würde mangelte: „Nous voulons que cette femme tombe avec décence, avec mollesse, et que ce héros meure comme le gladiateur ancien […] avec grâce, avec noblesse, dans une attitude élégante et pittoresque.“150 Ein weiches Fallen der Frauen und eine pittoreske Eleganz des Helden, Techniken der Verminderung und der „ästhetisierenden Zähmung“ (Wilczek) sollen die Gefahr einer abrupten Darstellung oder eines grimassenhaften Gesichts eindämmen. Das „fratzenweit[e]“151 Öffnen des Mundes – mit Lessing ein abrupter, verzerrter Zeitschnitt – wird hingegen als immer wiederkehrendes Beispiel für eine mimische Extremlage herangezogen, das dem Ideal des gemäßigten transitorischen Minenspiels gegenübersteht: „Der höchste Ausdruk der Leidenschaft, darf weder bei dem Dichter, noch bei dem Schauspieler zur Grimasse werden. Denn Grimasse macht Ekel, was Ekel macht, kann nicht gefallen“152. In Analogie zur Mimik ist man also auch im sprachlichen Ausdruck ständig der Gefahr ausgesetzt, „où l’Acteur est continuellement d’exprimer ou trop ou trop peu.“153 Es bedarf also insgesamt innerhalb der visuellen, akustischen und sprachlichen Darstellung einer einschränkenden Bearbeitung der rohen Natur, welche die Extreme 147 Diderot, Paradoxe, 1387. 148 Ebd. 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Engel, Ideen II, 105. 152 Schink, Dramaturgische Fragmente, 19. Die Schriften des Dramaturgen, Librettisten und Kritikers Johann Friedrich Schink (1755–1835) sind Johann Jakob Engel gewidmet und in der schauspieltheoretischen Tradition von Diderot und Lessing anzusiedeln. 153 François Riccoboni: L’Art du Théâtre. Suivi d’une lettre de M. Riccoboni fils à M… au sujet de l’art du théatre, Genf: Slatkine 1971, 42. Die Schrift stammt aus dem Jahr 1750.
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aus der Darstellung verbannt und eine „balance“ (Diderot) herstellt: „Vous voyez qu’il n’est pas même permis d’imiter la nature, même la belle nature, la vérité trop près, et qu’il est des limites dans lesquelles il faut se renfermer.“154 In diese Grenzen aber, so wird sich zeigen, treten Gradationsfiguren einmal mehr als ordnungsstiftende Elemente ein: Vermittels der Identifizierung der einzelnen graduellen Stufen, die zu allmählich fließenden Bewegungen des Anwachsens und der Minderung verbunden werden, können die Forderungen des Maß-Haltens und der graduellen Nuancierung eingelöst werden. Eine solche Maßnahme der Disziplinierung, so hat Michel Foucault gezeigt, ist eine spezifische Technik des 18. Jahrhunderts: Der Körper wird nun „im Detail“ bearbeitet, wobei bis „ins Kleinste“ vorgedrungen wird: „Bewegungen, Gesten, Haltungen, Schnelligkeit. Eine infinitesimale Gewalt über den tätigen Körper.“155 Der Schauspieler ist deshalb ohne die Expertise der feinen Grade und „Mittelaffecten“156 nicht fähig, seine Rolle angemessen zu spielen; er muss zum Ökonomen des leidenschaftlichen Ausdrucks werden. Das gezielte Mäßigen und Verstärken der Emotion ist dann auch derjenige Moment, in welchem das alltägliche Handeln in ein ‚natürliches‘, ‚wahres‘ Schauspiel übergeht – „au moment où il tempère ou force ce cri, ce n’est pas lui, c’est un comédien qui joue.“157 Die Aufgabe der Schauspielerinnen und Schauspieler besteht also immer wieder darin, „die Fehler der Natur zu verbessern, das Falsche zu berichtigen, das zu Starke auf den gehörigen Grad herabzusetzen, das zu Schwache bis zur gehörigen Kraft zu verstärken“158 und so die Natur zu bearbeiten, zu ergänzen, zu beschneiden und ihr mithilfe einer Kompetenz der graduellen Verfeinerung den „Regel[n] der Mä-
154 Diderot, Paradoxe, 1424. Diese Empfehlung der Bearbeitung der rohen Natur findet sich in zahlreichen Schriften seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder und berührt nicht notwendigerweise die Frage des von Diderot aufgebrachten Paradox des Schauspielers (also die Frage, ob der Schauspieler sich von der Emotion distanzieren oder sich in sie einfühlen solle). So heißt es auch bei Rémond de St. Albine (der im Gegensatz zu Diderot tendenziell für die zweite Position steht) im Le Comédien (1747): „Peu de personnes sont en état de juger de la mesure d’esprit qui est nécessaire à un Comédien pour ne prendre jamais le change sur le sentiment pour ne point l’outrer & ne point l’affoiblir; pour remarquer les differens degrés par lesquels l’Auteur veut faire passer le cœur & l’esprit des Auditeurs, & passe lui-même d’un mouvement à un mouvement opposé.“„On trouve bon qu’un Comédien aille quelquefois plus loin que la nature ne va ordinairement, mais on ne veut point que pour nous donner du comique, il nous donne des monstres.“ Rémond de St. Albine: Le Comédien. Ouvrage divisé en deux parties, Paris: Vincent fils 21749, 24; 219, Hervorh. J. F. 155 Michel Foucault: „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“, in: Ders.: Die Hauptwerke, Nachw. A. Honneth u. M. Saar, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, 701–1019; hier: 839. 156 Engel, Ideen II, 369. 157 Diderot, Paradoxe, 1398. 158 Engel, Ideen I, 20.
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ßigung“159 beizukommen. Erst wenn „der anschauende Mensch fühlt; Hier ist nichts zu viel, nichts zu wenig – hier fehlt nichts: so ist sie Natur.“160
2.1 „… heavens, what a transition!“161: Gradation der Körperzeichen Vor allem in denjenigen Texten, welche sich mit den mimischen und gestischen Körperzeichen und ihrer Darstellungsweise befassen, werden die gradationalen Techniken ganz grundlegend in Betracht gezogen und eingefordert. Diese trifft für französische, deutsche und englische Theaterschriften gleichermaßen zu. Immer wieder werden Schauspielerinnen und Schauspieler gerade für solche Fähigkeiten gelobt, die belegen, dass sie Garanten des mannigfaltigen Ausdrucks, der allmählichen Entwicklung und der ‚natürlich‘ fließenden Gradationen in Mimik und Gestik sind: der „staffelmäßige Abfall und Anwuchs seiner [des Schauspielers, J. F.] Heftigkeiten“ sowie die „Schattierungen und Uebergänge in seiner Physiognomie“162 werden zu Qualitätsmerkmalen ‚natürlicher‘ Schauspielweise. Wie schon bei Descartes werden Gesicht und insbesondere die Augen zum „Spiegel der Seele“ erklärt: „C’est chez eux [les yeux] que doivent se peindre tous les mouvemens intérieurs, aussi faut-il les avoir d’une couleur marquée, & d’une vivacité qui s’apperçoive de loin, pour joüer du visage d’une façon sensible“, denn die dort befindlichen Runzeln und in „différens degrés“ gelegten Falten, „marquent les différentes expressions.“163 Der Anspruch an die Schauspielerin und den Schauspieler gestaltet sich als zunehmend komplex, das Schauspielen beinhaltet dabei embrasser toute l’étendue d’un grand rôle, y ménager les clairs et les obscurs, les doux et les faibles, se montrer égal dans les endroits tranquilles et dans les endroits agités, être varié dans les détails, harmonieux et un dans l’ensemble, et se former un système soutenu de déclamation qui aille jusqu’à sauver les boutades du poète[.]164 159 Ebd., 116. Vgl. auch Engel, Ideen II, 174: „[D]ie Erhebung des Körpers soll leicht, nicht steif geschehen; die Arme sollen sich nicht zu sehr der geraden Linie nähern; Auge und Mund sollen sich nicht bis zu der ungebührlichen Weite einer Fratze öffnen; das Schmachten der Liebe soll nicht Ohnmacht, ihre Entzückung nicht Contorsion, Verachtung soll nicht wirklicher Ekel werden: sonst ist aller Enthusiasmus, alle Schwärmerei des Ausdrucks, Ihnen willkommen.“ 160 Iffland, Beiträge, 40. 161 Richard Cumberland: Memoirs of Richard Cumberland. Written by himself, London: Lackington, Allen & Co 1806, 60. Diese Bemerkung trifft Cumberland in Bezug auf einen Auftritt David Garricks. 162 Noverre, Briefe, 69. 163 Riccoboni, L’Art du Théâtre, 76 f. 164 Diderot, Paradoxe, 1420 f.
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Die immer wiederkehrenden Forderungen bestehen somit in der Darstellung von Schattierungen, Intensität, Mannigfaltigkeit der Details und deren Einheit im Ganzen und einer Deklamation, die über die Schwächen des Dichters hinwegsieht bzw. diese so ergänzt, dass die Mängel verschwinden. Schlechtes Schauspiel äußert sich hingegen als „passager, brusque, sans gradation, sans préparation, sans unité“165. Damit sind jene ästhetischen Maximen angesprochen, die das Naturbild des 18. Jahrhunderts als solches bestimmen und die zugleich der gradationalen Denkform entspringen. Um diese ästhetischen Forderungen einzulösen, kommt es zu maßgeblichen Neuerungen nicht nur, was die Anleitung zum Schauspielen, sondern ebenso, was die Ausstattung des Schauspielerkörpers betrifft. Eine wichtige Veränderung stellen die Abschaffung von Maske und Reifrock sowie der Verzicht auf eine Kostümierung dar, welche „poupées poudrées, frisées, pomponnées“166 produzierten. So lobt Diderot die „actrice courageuse“, Mlle Clairon, die sich zum ersten Mal ihrer steifen Kleidung entledigte, ein einfacheres Kostüm wählte und damit ausschließlich den Gesetzen ihres Genies und der Natur folgte.167 Auch Noverre beschwert sich über die Reif- und Korbröcke168 und empfiehlt stattdessen „des beaux plis, de belles Masse“ und „des draperies“, mannigfaltig fließende Gewänder, die die transitorischen Gesten unterstützen. Zudem fordert er die Abschaffung bzw. Zerstörung der Masken („détruisons les masques, ayons une ame“), welche das Gesicht unbeweglich machten („triste & uniforme, froid & immobile“) und verhinderten, dass „toutes les nuances imperceptibles“, „les passions dans toutes leurs dégradations“ und die „variété immense“ sich auf dem Gesicht abspielen konnten.169 Die „barokke, widersinnige, kunterbunte, Arlekinsmäßige Komposizion“, die die ausladenden Kostüme erzeugten und die die Schauspielerinnen wie „Frachttiere“ erscheinen ließen,170 sollten zugunsten eines Prinzips der „Abstufung in den Kleidern“ (das zudem der Idee einer Varietät der einzelnen Charaktere Rechnung trug) ersetzt werden.171
165 Ebd., 1420. 166 Diderot, De la poésie dramatique, 1335. 167 Dies beschreibt Diderot mit den emphatischen Worten: „La nature, la nature! on ne lui résiste pas. Il faut ou la chasser, ou lui obéir.“ Ebd. 168 „[L]es tonnelets ou ces paniers roides qui ôtoient toute aisance à l’Acteur, & qui en faisoient, pour ainsi dire, une machine mal organisée“, Noverre, Lettres, 188 (Lettre VIII). 169 Noverre, Lettres, 184, 189, 260, 196, 200. 170 Schink, Dramaturgische Fragmente, 276. 171 August Wilhelm Iffland: „Ueber das Kostume“, in: Klaus Gerlach (Hg.): Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland. August Wilhelm Iffland als Theaterdirektor, Schauspieler und Bühnenreformer, Berlin: Akademie Verlag 2009, 9–10; hier: 10. In Deutschland ist diese zunehmende Aufmerksamkeit für die Kostüme seit den 1770er Jahren zu beobachten. Zunehmend wird nun versucht, eine ‚individuellere‘, an das vorherrschende historische Ver-
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Diese Reformen sollten eine zunehmende Sichtbarkeit und Beobachtbarkeit der Vielfältigkeit und Feinheit von Körperzeichen garantieren, was eine wichtige Voraussetzung für gradationale Techniken ist. Dies gilt auch für den „Nebenraum des Textes“, wie Anke Detken in ihrer Studie gezeigt hat, als ein Raum, der einer Infinitesimalisierung der Körperzeichen ebenfalls Rechnung trägt: Die Regiebemerkungen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts – parallel zu einer anthropologischen Erforschung des Schauspielerkörpers – immer häufiger und ausführlicher ausfallen, fördern ein „Akzentuierungspotential“172 und eine zunehmend durch den geniehaften Dichter gesteuerte Verfeinerung des mimischen und gestischen Schauspiels. Die Aufgabe des Dichters besteht also darin, dass „er nicht seine Worte so wählen [soll], dass Ton Miene Gestus dazu nicht erst dürfen gefunden“, sondern „dass sie vielmehr dadurch angegeben werden“.173 Und dennoch steht das dichterische mit dem schauspielerischen Genie in Konkurrenz: August Wilhelm Iffland untersucht in seinen Fragmenten über Menschendarstellung (1785), „in wiefern die verschiedene[n] Interpunkzionen dem Schauspieler Regeln seyn können, oder nicht“174 und plädiert für eine freiere Interpretation des geschriebenen Texts. Grundsätzlich spricht Iffland dieser Interpunktion einen durchaus belebenden Effekt zu,175 unterstellt ihrem Gebrauch aber zugleich eine gewisse Willkür: „Wo ein Komma, ein Semikolon und Punkt hingehört, das ist berichtigt, aber wo giebt es Regeln für den Gebrauch jener Mode? Keine! […] Ohnmöglich aber können Schauspieler und Redner das Opfer dieses Mißbrauchs werden!“176 Denn im Wesentlichen müsse diese Interpunktion doch auch für den Akteur geschaffen sein, das heißt, es muss „seiner Figur, Körperkräften, Blutumlauf, Temperament und Erziehung zufällig angemessen“177 und angepasst werden. Statt ständnis angepasste Ausstattung zu realisieren. Vgl. im selben Band: Klaus Gerlach: „Ifflands Kostümreform oder die Überwindung des Natürlichen“, 11–29. 172 Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 2009, 13. 173 Engel, Ideen I, 22. Dieses neue Vertrauen in die eloquentia corporis nimmt auch Einfluss auf wesentliche Strategien der ‚Seelenschau‘ im Drama: Da Mimik, Gestik und Deklamation es besser vermögen, das Seeleninnenleben nach außen zu kehren und zur Darstellung zu bringen, werden auch etablierte Einrichtungen, beispielsweise das ‚Beiseite-Sprechen‘, obsolet: Die nuancierte Deklamation und ‚redende‘ Pantomime, welche Ausdruck der immediaten Empfindungen sind, ersetzen das explizite Ausartikulieren des Seelenzustands. Vgl. Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1231. 174 Iffland, Beiträge, 69. 175 „In den letztern Zeiten […] haben einige grosse Männer sich ein Interpunkzion auch für den Ausdruck des Gefühls oder der Eigenheit gewählt, und da gebraucht, wo Geistesstärke, Eigenheit der Wendung, Neuheit des Dialogs und der Sprache, die gewöhnliche Interpunkzion der trockenen Moral und Amtsbescheide nicht vertragen konnten.“ Iffland, Beiträge, 69 f. 176 Iffland, Beiträge, 70. 177 Ebd.
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dem „gedruckte[n] Blatt“ solle das „Blut interpunktieren“, denn „der Befehl des Bluts, gereizt von der Gabe der Versetzung, das Hinreissen des augenblicklichen auf den höchsten Grad verfeinerten Geschmacks, ist Stempel der Wahrheit.“178 Anlage des Texts und tatsächliche Ausführung – ergänzt durch die ‚natürliche‘ Anlage des Schauspielerkörpers – können also auseinanderklaffen.179 Auch die Auslegung des Dramentexts verlangt von den Schauspielkünstlerinnen und ‑künstlern die Herstellung gradueller Übergänge: „Denn der mimische Künstler soll nicht bloß wiedergeben, was die Worte seiner Rolle sagen, sondern die ganze Reihe von Mittelgliedern, welche der Dichter entweder gar nicht oder nur leise andeuten konnte, unsichtbar sichtbar dem Zuschauer vorüberführen.“180 Diese Beispiele machen deutlich, wie sich eine auf Verfeinerung angelegte Beobachtung des Schauspielerkörpers etabliert. Es ist die Entdeckung der kleinen Geste und damit die Forderung, „daß der Ausdruck Präcision haben muß“181, welcher in Beobachtung und Ausführung ins Zentrum rückt.182 „Die Betrachtung dieser Nüancen“ sei wiederum wichtig für eine Darstellungsweise, in der „der ganze Körper an dem Ausdrucke dieses Affectes Theil nehmen, und jede Bewegung jedes Gliedes zu seiner Darstellung mitwirken“183 lässt, ohne die eine illusionäre – „unsichtbar sichtbare“ – Naturwahrheit nicht garantiert werden kann. Als in dieser Hinsicht vorbildlicher Schauspieler wird unter Zeitgenossen gerne David Garrick angeführt, der das infinitesimale Potential in der mimischen und gestischen Darstellung vollends auszunutzen wusste. Dies verhalf ihm zu internationalem Ruhm, wie insbesondere die Schilderungen jenseits von England durch Diderot, Noverre, C. G. Lichtenberg oder Iffland belegen. Einem Bericht Diderots zufolge brauchte Garrick nur durch einen Türspalt zu schauen, um dem Publikum in kürzester Zeit ein Spektakel des Minenspiels zu offenbaren: Garrick passe sa tête entre les deux battants d’une porte, et, dans l’intervalle de quatre à cinq secondes, son visage passe successivement de la joie folle à la joie 178 Ebd., 71. 179 Es wird noch zu zeigen sein, inwiefern dies auch den Text unterlaufende Effekte produzieren kann. Vgl. Kap III.3, Unterkap. „Kontrast oder Gradatio? Diskrepanzen zwischen Theorie, Text und Bühne“ dieser Arbeit. 180 Johann Schulze: Ueber Iffland’s Spiel auf dem Weimarischen Hof-Theater im September 1810, Weimar: Verlag des Landes-Industrie-Comptoirs 1810, 6. 181 Engel, Ideen I, 379. 182 So hebt Engel Lessings 13. Stück der Hamburgischen Dramaturgie hervor, in dem dieser von der Schauspielerin Sophie Friederike Hensel berichtet, die in der Rolle der Sara Sampson einen „gelinde[n] Spasmus“ (Engel, Ideen I, 55) anbrachte, der sich allein „in den Fingern des erstarrten Arms“ äußerte (ebd.) und zitiert einen Ausspruch des Schauspielers David Garrick, der nach dem Lob der Darstellung eines Schauspielers bemängelt haben soll, dass der linke Fuß des Darstellers „zu nüchtern“ (ebd., 354) gewesen sein soll. 183 Engel, Ideen I, 356.
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modérée, de cette joie à la tranquillité, de la tranquillité à la surprise, de la surprise à l’étonnement, de l’étonnement à la tristesse, de la tristesse à l’abattement, de l’abattement à l’effroi, de l’effroi à l’horreur, de l’horreur au désespoir, et remonte de ce dernier degré à celui d’où il était descendu.184
Diese Aufzählung beschreibt nicht nur die gradationale Verknüpfung der Körperzeichen, sondern manifestiert sich zugleich als sprachliche Verkettung, ganz im rhetorischen Sinne der Gradatio als Stilfigur (vgl. Kap. II.1), als emphasis-Figur. Die sprachliche Übertragung der Beschreibung wird dabei semantisch ergänzt und nuanciert, um den feinen Abstufungen auch in übermittelter Form gerecht werden zu können: Die Schlüsselwörter „successivement“ und „remonter de ce dernier degré“ suggerieren die graduelle Übergänglichkeit, den lückenlosen transitorischen Wandel, den das Mienenspiel durchläuft. Sie zeugt vom facettenreichen, mannigfaltigen Spiel David Garricks, das Diderot hier beschreibt. Selbst einen einschlafenden Menschen soll Garrick durch seine gradationale Spielweise überzeugend dargestellt haben.185 Der kontinuierliche Übergang, der dem abrupten Wechsel, der Plötzlichkeit und den Kontrasten gegenübersteht, wird so zur Voraussetzung der als ‚natürlich‘ wahrgenommenen schauspielerischen Darstellungspraxis Garricks’, die das Publikum in seinen Bann zog. Weshalb Garrick ein solches variierendes Mienenspiel beherrschte, sieht Noverre dann auch darin begründet, dass er nicht allein seine Rollen sorgfältig einstudierte: „il étudie ses rôles, & plus encore les passions.“186 Die Kenntnis und Umsetzung des Zusammenhangs zwischen den Gemütsbewegungen und der Mimik/Gestik wird hier als maßgebliche Grundlage für eine gelungene Darstellung etabliert. Und erneut ist der Einsatz der Gradation zu erkennen, wie sie Lessing auf prägnante Weise im 16. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie bestimmt: Der Akteur muß aus einer Gemüthsbewegung in die andere übergehen, und diesen Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu machen wissen, daß der Zuschauer durch-
184 Diderot, Paradoxe, 1394. 185 „Whoever has seen him sit down in his Chair, must acknowledge that Sleep comes upon him by the most natural Gradations: Not the minutest Circumstance about a Man in that Situation escapes him: The Struggle between Sleep and his Unwillingness to give way to it is perfectly just: The Lid depressed, yet faintly raised; the Change of his Voice from distinct Articulation to a confused Murmuring: The sudden Oppression of his Senses and the Recovery from it; his then beginning again his broken Chain of Thoughts, and the malicious Smile that unexpectedly gleams from him, till he is at length totally overpowered, are all such acknowledged Strokes of Art, that they keep the whole House agitated at once with Laughter, and Admiration.“ Sir John Brute, London Chronicle, 1–3 March 1757 zit. n. Cecil Price: Theatre in the Age of Garrick, Oxford: Basil Blackwell 1973, 25 f. 186 Noverre, Lettres, 212 (Lettre IX), Hervorh. J. F.
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III Gradatio der Schauspielkunst aus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird.187
Diese Betonung der Übergänglichkeit, die sich von der formalisierten Gestensprache des barocken Theaters deutlich abhebt, findet sich seit den 1740er Jahren beispielsweise in Rémond de St. Albines Schauspielschrift Le Comédien (1747) wieder und lässt sich auf die Transformationen im Emotionshaushalt und die daraus resultierenden Verbindungsoperationen kontrastierter Affekte zurückführen. So empfiehlt St. Albine: „Il est du devoir du Comédien d’avoir la même attention, & de ménager habilement les passages par lesquels il fait succeder une passion à une passion contraire.“188 Die Fähigkeit, Emotionen ineinander übergehen zu lassen, „le don de passer rapidement de l’une à l’autre“189, verbindet die einzelnen Affekte zu fließenden sentiments. Insofern aber der Emotionshaushalt unmittelbar mit den Körperzeichen in Verbindung steht, da diese „expressive Zeichen innerer Emotionen“190 sind, bedeutet dies, dass auch Mimik und Gestik den gradationalen Struktureigenschaften entsprechen müssen.
2.2 Gesetze der Allmählichkeit, Stetigkeit und Kontinuität (J. J. Engel) In kaum einem anderen Text der Zeit stehen gradationale Techniken des allmählichen Anwachsens und der Minderung in Mimik und Gestik so im Mittelpunkt, wie in Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik (1785/1786). In dieser Schrift werden die Körperzeichen so behandelt, dass sie nicht allein eine „malende“ und das heißt mimetisch-nachahmende Funktion besitzen sollen, sie erhalten eine eigene Wertigkeit, indem sie „die Sprache begleiten, unterstützen lehren“191. Ähnlich wie schon bei Diderot und Noverre wird ihnen somit ein autonomes Ausdruckspotential zugesprochen. Analog zur Sprache mit ihren unterschiedlichen Akzentuierungsmöglichkeiten – „Inflexion, Erhebung, Verstärkung der Stimme; durch gewichtigere, langsamere Aussprache des Worts, das eine vorzüglich merkwürdige Idee bezeichnet“ (I, 61 f.) – kann auch die Geste derartige Nuancierungen vornehmen:
187 188 189 190 191
Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 188 (16. Stück). St. Albine, Le Comédien, 25. Ebd., 36. Bernhardi, Ueber Ifflands mimische Darstellungen, 40. Engel, Ideen I, 33. Im Fließtext wird im Folgenden den Seitenzahlen die Ziffer I für den 1. Teil und die Ziffer II für den 2. Teil der Schrift Engels vorangestellt.
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Eine ähnliche Hülfe aber, wie der Ton der Aufmerksamkeit giebt, giebt ihr auch die Bewegung: die ausgestreckte Hand, der erhobene Finger, der oft seiner ganzen Länge nach ausgereckte Arm […], ein sanfter Schlag der einen Hand in die andre; ein vorwärts gethaner Schritt, ein kleiner Nachdruck mit dem Haupt, u. s.w.; ohne dass dabei noch eigentlich gemalt oder ausgedrückt würde. (I, 62)
Dagegen wirke „ein übelangebrachtes, übelabgestuftes“ Wort oder eine dementsprechende Geste „beleidigend“ auf den Rezipienten (I, 63). Es ist diese Nuancierung der Geste, die Voraussetzung für Ausdruckszeichen, graduelle, feine Abstufungen und Folgen bildet. So legt Engel neben der Zergliederung der Affekte und Körperzeichen, sowie der daraus folgenden Verfeinerung der Beobachtung und Ausführungsanleitung des mimischen und gestischen Ausdrucks in seiner Schrift ein besonderes Augenmerk auf die Verbindung und den Übergang der Körperzeichen – zwei immer wiederkehrende Schlüsselbegriffe des Texts. Gerade der zweite Teil, in dem Engel die Darstellung der „Gebehrden, in ihrer Folge betrachtet“ (II, 385) zum Gegenstand macht, zeugt vom Schwerpunkt auf Verbindungsoperationen und Verlaufsformen in Mimik und Gestik. Das „Gebehrdenspiel“ besteht für Engel aus verschiedenen Arten, die sich einmal mehr auf die infinitesimalisierten Gemütszustände zurückführen lassen: „All die Ausdrücke der verschiedenen Seelenzustände […] erheben sich durch unnennbar viele Stufen von dem ersten Anfange, dem ersten Verdacht des Affects, bis zu seiner gänzlichen Ausbildung, seiner Vollendung.“ (II, 168) Eine abrupte Abfolge gänzlich kontrastierender gestischer und mimischer Ausdruckszeichen, wie beispielsweise „erst die Faust gleichsam zum Dolchstoße mit grimmigem Blick zu erheben, dann die Hand mit gerührter liebevoller Miene vorwärts zu strecken, dann sie wieder strafend emporzuheben und auf der Stirne den strengen Ernst des unerbittlichen Richters zu zeigen“, würde dabei nur „lächerlich, läppisch“ wirken (II, 281 f.). Der Grund liege darin, dass die Phantasie eine „so schnelle Folge so entgegengesetzter Ausdrücke“ nicht verarbeiten und „der Seele so ganz verschiedne Fassungen unmittelbar hinter einander“ nicht vermitteln könnte (II, 282). – Die Idee der Gradation in der Verbindung der Körperzeichen hat also wirkungsästhetische und wahrnehmungsphysiologische Gründe, und sie besitzt normativen Charakter: Denn eine abrupte Darstellung verletze die „Hauptregel von der Continuität des Spiels“ (ebd.), wie Engel weiter ausführt. Während die Rede durch Unterbrechung und Stillstand gekennzeichnet sei, gebe es derlei im Gebärdenspiel nicht; „die kleinste Pause im Ausdruck [wäre] Pause in der Illusion“ (II, 284, Hinzuf. J. F.). „Jede Folge von Veränderungen, die keine merkliche Bewegung der Seele bewirken, muß überall durch gewisse mittlere Zustände und Veränderungen fortgehen“ (II, 285 f.). Alles muss „zusammenhängen, verschmelzen“ (II, 287), alle Übergänge einer Degradation in der Bewegung
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müssen durch „ein allmähliches Sinken und Abschwächen“ (II, 290) geebnet werden. Denn wenn Ruhe „zu plötzlich auf den Sturm der Leidenschaft folgt, vermissen wir zu unserm Verdrusse das Stetige, das Allmähliche, das hier überall Gesetz der Natur ist.“ (II, 293) Die Gesetze, die Engel aufstellt, zeugen allesamt von einem Gedanken, der auf den Ausschluss alles Plötzlichen, Abrupten, Unberechenbaren abzielt, um Kontinuität und Stabilität zu garantieren: „[D]as Aufsprengen kontinuierlicher Übergänge und berechenbarer, stetig verlaufender Affektkurven besitzt offenbar etwas Irritierendes, ja Provozierendes“192, die eine solche Disziplinierung notwendig erscheinen lässt. Die Gradation avanciert in dieser Problemlage nicht allein zur Figur des Maßhaltens, sondern auch zu einer der kalkulierenden Berechnung, welche das Zufällige, Überraschende zu beherrschen sucht.193 Die gradationale, kontinuierlich-fließende Ausrichtung in Engels Konzeption der Schauspielkunst beschränkt sich dabei nicht auf Mimik und Gestik, sondern erstreckt sich über sein Konzept der Sprache, der Deklamation sowie des Dramenaufbaus, worauf im Folgenden noch näher einzugehen sein wird. Metaphorisch schreibt sich aber bei Engel noch eine weitere Nuance ein. Er beschließt seinen zweiten Band mit einer „Lehre von der Verbindung mehrerer leidenschaftlicher Bewegungen“ (II, 301), welche ab dem 41. Brief folgt, und teilt die Verbindungsoperationen dabei in zweierlei Arten des „Anschwellen[s] und Abnehmen[s]“ (ebd.) ein. Wenn dabei der „Übergang“, der nichts Anderes sei „als Wachsthum durch Grade, als Stufenfolge“ (II, 308) zum Grundprinzip der Darstellung der Empfindungen und damit der Schauspielkunst wird und die Seele mit dem „Wogen des Meers“, der „empörte[n] Fluth“ und dem „sanften Wallen“ verglichen wird (II, 332), so bedient sich Engel an dieser Stelle einer vollständig dynamisierten Wasser-Metaphorik, auf der seine Theorie des Schauspielens fußt. Tatsächlich ist eine Besonderheit an Engels Schrift, dass er sich bei seiner Konzeptualisierung der Körperzeichen von dem Vorbild der Malerei zunehmend abzuwenden scheint – oder anders gesagt: Er erkennt und benennt erstmals ihre im Vergleich zur Schauspielkunst begrenzten Darstellungsmöglichkeiten. Malerei kann immer nur das „Mimisch-malbare“ (I, 91) darstellen, welches visuelle oder „transcendentelle Ähnlichkeiten“ (I, 102) besitzt und damit abbildbar ist, wie „Figur, Stellung, Bewegungen eines dem unsrigen ähnlichen Körpers“ (I, 91). Die „sichtbare Darstellung sichtbarer [oder vorstellbarer, J. F.] Phänomene“ (I, 96) steht im Zentrum – beispielsweise das Ausbreiten der Arme und Spreizen der Finger, also Gesten, die andeuten, einen Gegenstand von wei192 Port, Pathosformeln, 76. 193 Dies unterstreicht einmal mehr den disziplinierenden Charakter der „Ausleuchtung“ und polizeilichen Überwachung, den Herrmann für die Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts festgestellt hat. Vgl. Herrmann, Archiv der Bühne, 133.
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tem Umfang zu umspannen (II, 69). Dahingegen sei der gestische Ausdruck stärker an die „Fassung, die Wirkungen, die Veränderungen“ (I, 111) der Empfindungen gebunden: „Malerei ist mir […] jede sinnliche Darstellung der Sache selbst, welche die Seele denkt; Ausdruck, jede sinnliche Darstellung der Fassung, der Gesinnung, womit sie sie denkt“ (I, 90). Die Malerei kann also nur solche Gegenstände verwenden, die auf abbildbare, sichtbare Weise in der Welt existieren. Eine Gesinnung, Emotion oder Seelenbewegung, also alles, was innerhalb der Seele präsent ist, kann dagegen nicht gemalt, sondern nur ausgedrückt werden. Wenn Engel an anderer Stelle bezüglich der Musik empfiehlt, der Komponist solle „ausdrücken, nicht malen“194, so kann diese Idee gleichermaßen auf die Schauspielkunst übertragen werden: die wahre Gebehrde ist in jedem Falle nur die, welche die jetzige eigne, in der Seele des Redenden herrschende, Empfindung darstellt; und da ich diese allein Ausdruck, jede andre hingegen Malerei nenne, so würde die nun bestimmtere Regel so lauten: daß Schauspieler und Redner durch ihre Gebehrden nicht malen, daß sie nur ausdrücken sollen. (II, 41)
Dies ist insofern bemerkenswert, als die Schauspielkunst traditionellerweise sehr stark von einem visuellen gestischen Repertoire geprägt ist, führt man sich zum Beispiel die Abbildungen in der Methode pour apprendre à dessiner les passions (1698, posthum) des Versailler Hofmalers Charles Le Brun oder die in Franz Langs 1727 erschienene Abhandlung für das Jesuitendrama Dissertatio de Actione Scenica vor Augen. Während aber für den Affektkatalog Le Bruns’ oder die stillgestellten Gesten in Langs Schrift die zeichnerische Abbildung noch als ein adäquates Medium der Darstellung bezeichnet werden kann, da sie sich auf die katalogisierte und damit eingegrenzte, sichtbare Form der Emotionen beruft, so reflektiert Engel das Manko der Abbildungen sowie der Kupferstiche in seiner eigenen Schrift mit. Er kritisiert an Charles Le Bruns’ Darstellung der Affekte zum Teil, dass sie „ein wenig Carricatur“ (I, 161) enthielten, zum Teil, dass „Nüance[n] […] nicht bemerkt“ (I, 167) würden. Zugleich verweist Engel auf die Schwierigkeit, „die wesentlichen Grundzüge der Affecten“ anzugeben, „die sich bei aller Mannichfaltigkeit ihrer Modificationen erhalten“ (I, 271) und die bildliche Darstellung ebenso erschwerten wie die sprachliche Erläuterung. Nicht zuletzt ist es aber auch die Unbeweglichkeit des Bildes, die Engel an den Kupferstichen seiner eigenen Schrift bemängelt. Nicht allein der Affektkatalog, auch die Begrenzung malerischer Abbildung wird durch die schwankenden Empfindungen gesprengt: Es scheint, dass die statische bildliche Darstellung der zur Erläuterung angebrachten Kupferstiche Johann Wilhelm Meils einer transito194 Johann Jakob Engel: „Über die musikalische Malerei“, in: Ders.: Schriften. Der Philosoph für die Welt, Bd. 1, Berlin: Mylius 1844, 136–156; hier: 150.
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risch-sukzessiven Gemütsbewegung und ihrem mimischen oder gestischen Körperzeichen kaum noch gerecht werden kann, betrachtet man folgende Abbildung, unterer Stich und die dazugehörige Beschreibung: [Es ist Freude, aber fast nur in ihrem Entstehen oder Verschwinden, fast nur auf jenem äußersten Puncte, wo sie gleich bereit ist, zu höhern Graden emporzuschwellen, oder zu sanfter stiller Ruhe hinabzusinken. […] Sie haben, denk’ ich, der Beispiele genug, um im Allgemeinen den Unterschied, den ich im Sinne habe, zu fassen; den Unterschied des ganz entschiednen, vollendeten, gehaltenen, und des weniger ausgeführten, weniger bleibenden Ausdrucks, bei dem noch höhere Grade möglich sind, der eben deswegen auch leichter verschwinden, leichter Nüancen annehmen, sich mischen, sich in verschiedenartige Ausdrücke umwandeln kann. (II, 170–172)
Das Schwellen und Hinabsinken, welches im Kupferstich nur in seiner Potentialität angedeutet ist, steht im Mittelpunkt der Beschreibung. Engel fordert für die Abbildung also keinen „vollendeten“, „bleibenden“ Ausdruck, sondern eine Möglichkeit zur Entfaltung der ‚vermischten‘ Affekte. Dabei erinnert die Passage sehr stark an Lessings Idee des „fruchtbaren Moments“ im Laokoon, der den „Erhalt offener Steigerungsmöglichkeiten“ (Menninghaus) garantieren soll195 und somit niemals Gefahr laufen kann, in ein ‚grimassenhaftes‘ Extrem umzuschlagen.196 Es galt nach Lessing solche Affekte zu verhindern, die „plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden“, die ein „widernatürliches Ansehen“ besitzen, vor dem es uns „ekelt oder grauet“: ein Augenblick, der „durch die Kunst ein unveränderliche Dauer“ erhalten hat, kann nur ausdrücken „was sich nicht anders als transitorisch denken läßt.“197 Die mediale Vermittlung der gradationalen transitorischen Schauspielkunst im Bild muss sich also auf eine Momentaufnahme beschränken, die eine 195 Vgl. Kap. II.3 in dieser Arbeit. 196 Es ist auffällig, dass die in Engels Schrift angebrachten Abbildungen sich insgesamt durch einen – wenn überhaupt – nur leicht geöffneten Mund auszeichnen. Eine Ausnahme bilden lediglich zwei Kupferstiche, einmal die Darstellung des Schreckens (Teil I, Abb. 24), welche als „widerwärtige[ ] Bewegung[ ]“ (Ideen I, 223) beschrieben ist und einmal bei der Beschreibung einer Tänzerin, die Engel als schlechtes Beispiel „mimische[r] Malerei“, also einer nachahmenden Pantomime, heranzieht (Teil II, Abb. 43): „Erst wies die Tänzerinn nach hinten, vermuthlich auf die Gegend hin, wo man sich Rom denken sollte; dann bewegte sie die Hand mit Heftigkeit gegen die Erde; dann riß sie fratzenweit – nicht den Rachen eines Ungeheuers, sondern ihren eigenen kleinen zierlichen Mund auf, und warf mehrmalen hintereinander ihre geballte Faust dagegen hin, als ob sie mitten im gierigsten Schlingen begriffen wäre“ – „wie niedrig, wie lächerlich, selbst wie ekelhaft ward die Vorstellung!“ (II, 105) – So kommentiert Engel die Abbildung – die letztlich verglichen mit den Zeichnungen Le Bruns keinesfalls einen weit aufgerissenen Mund darstellt. Die Bearbeitung der ‚rohen Natur‘ hat hier im bildlichen Medium also bereits stattgefunden. 197 Lessing, Laokoon, 32. Vgl. auch Port, Pathosformeln, 77.
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Entwicklungs- und Staffelungsmöglichkeit transportiert, um überhaupt eine adäquate Abbildung der Körperzeichen zu ermöglichen, die eben nicht ‚ekelhaft‘ – zu deutlich – oder gar nicht wahrnehmbar – „verschwindend“ – ist. Der bereits zitierte 41. Brief stellt eine ähnliche Problematik der visuellen Darstellung von Gradation dar, welche sich auf eine Szene aus Joseph Marius von Babos Schauspiel Otto von Wittelsbach (1782) beruft. Akribisch erläutert Engel dort das allmähliche Annähern des Kaisers an seinen vorlesenden Ritter, die Mimik und Gestik, das „Schwellen“ des Erstaunens (II, 307), die nuancierte Veränderung des Ausdrucks (Abb. 3): Doch auch hier können die statischen Kupferstiche die Idee der Gradation und Ausdruckssteigerung nicht ausreichend transportieren. So schreibt Engel an seinen fiktiven Briefpartner: Ich weiß nicht, ob für Andre diese Beschreibung klar oder lebhaft genug wäre, um sie die ganze Richtigkeit der Gradation, die ganze Wahrheit des Fortschritts198 durch alle die kleinsten Bewegungen, fühlen zu lassen; für Sie, hoff’ ich, soll sie es seyn, da Sie durch eigne Wiedererinnerung die Mängel derselben so leicht ersetzen können. (II, 308)
Es ist die Vorstellungskraft, die hier einmal mehr mobilisiert werden muss, um Übergänge zu stiften und aus der statischen Skizze eine adäquate Darstellung der transitorischen Körperzeichen herzustellen, welche in der sprachlichen und bildlichen Umsetzung nicht zum Ausdruck kommt.199 Ähnliche Argumente, wie sie für das Sprachmisstrauen gültig wurden, werden hier also auch auf die bildliche Darstellung übertragen, so dass man bei Engel geradezu von einem „Bildmisstrauen“ sprechen könnte. Ein Grund für diese zunehmende Tendenz liegt offensichtlich in der Forderung eines neuen Ausdrucksprinzips, welches sich in der gradationalen Darstellung der Emotionen begründet sieht. Dies betrifft nicht allein die Umsetzung im darstellenden Spiel, sondern auch die Textur des Dramas, wie es Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie fasst: Der dramatische Dichter solle, wenn er „ein rührendes Drama“ schreiben wolle, „die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern 198 Diese Reformulierung als „Fortschritt[…] durch alle die kleinsten Bewegungen“ belegt Engels Konzeption der gradatio als prozessuale verfeinerte Figur besonders deutlich. 199 Die Problematik einer adäquaten sprachlichen oder bildlichen Darstellung zieht sich dabei durch beide Teile der Schrift. Immer wieder räumt Engel ein, dass er „keinen Anspruch auf Vollständigkeit“ habe, und überlässt „was fehlt […] [der] eigenen Einbildungskraft, oder vielmehr Ihrem eignen Beobachtungsgeiste“ (I, 291), wie er seinem (fiktiven) Briefpartner mitteilt, da er sich „der unendlichen Fülle der Materie“ (I, 378) durchaus bewusst ist und entweder es ihm „an Geschicklichkeit oder der Sprache an Reichtum“ (II, 336) fehle. Und ganz im sprachmisstrauischen Ton seines Jahrhunderts schreibt er: „Ich denke, es ist nur die Schuld der Sprache, die so wenig Ausdrücke für die endlose Mannichfaltigkeit unsrer Seelenbewegungen hat, daß oft auch der Scharfsichtigste seine Beobachtungen für etwas anders nimmt, als sie sind.“ (II, 369)
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Abb. 2: Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, Zweiter Teil, Kupferstich 49.
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vor den Augen des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen […] lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu nötig ist.“200 Die Rahmung eines Tableaus wird zu Gunsten einer transitorischen Schauspielkunst im Dienste der Intensivierung aufgehoben. Sie konzentriert sich allein auf die Darstellung einer stetig anwachsenden Gemütsbewegung, einer Schwellung, eines Crescendo201 – beziehungsweise: die gradationale Entwicklung wird selbst zu ihrem Rahmen und zur maß-gebenden Struktur des Dramas samt seines Inventars.
2.3 Sprechen/Singen „Deklamation ist immer die erste Klippe, woran unsere mehreste[n] Schauspieler scheitern gehen, und Deklamation wirkt immer zwei Dritteile der ganzen Illusion.“ 202 Weiter heißt es in Schillers Theaterschrift: „Musik hat den rauhen Eroberer Bagdads bezwungen, wo Mengs und Korregio alle Malerkraft vergebens erschöpft hätten.“203 Akustik spielt für die Schauspielkunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine zunehmend wichtige Rolle: Eine Theorie der Stimmwirkung wird schon in der rhetorischen Deklamation behandelt, verbindet sich aber insbesondere seit dem Humanismus auch mit schauspielerischen Praktiken.204 So heißt es in Klopstocks kurzem Aufsatz „Von der Deklamation“: Von der Deklamation zu handeln haben die Redekunst und die Schauspielkunst oder auch etwa die Poetik nicht mehr Ansprüche, als die Grammatik. Denn nicht nur der Redner, der Schauspieler und der Vorleser verbinden, mit dem Aussprechen der Wörter, sehr viele, und sehr fein abgestufte Töne, die einen erklärenden oder empfindenden oder leidenschaftlichen Ausdruck haben; sondern es ist auch kein Auftritt des gemeinen Lebens, der ganz ohne diesen Ausdruck sei; und es sind viele bei denen er in sehr hohem Grade vorkommt.205
200 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 125. (1. Stück) 201 Als „Crescendo der Leidenschaften“ hat Ulrich Port dieses Zitat Lessings umschrieben – in uneigentlicher Bedeutung. Port, Pathosformeln, 96. 202 Friedrich Schiller: „Über das gegenwärtige teutsche Theater“ [1782], in: Ders.: Theoretische Schriften, hg. R.-P. Janz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2008, 167–175; hier: 174. 203 Ebd. 204 Jutta Sandstede: „Deklamation“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. G. Ueding, Bd. 2: Bie-Eul, Tübingen: Niemeyer 1994, Sp. 481–507; hier: 495a. 205 Friedrich Gottlieb Klopstock: „Von der Deklamation“, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. K. A. Scheiden, München: Hanser 1962, 1048–1049; hier: 1048 f.
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Abb. 3: Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, Zweiter Teil, Kupferstich 52–55.
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Das aptum des rhetorischen Vortrags erfährt eine Zergliederung, denn dieses wird nun weniger dreigliedrig im Sinne der Stillehre (humile, medium, grande) gedacht, sondern richtet sich nach fein nuancierten auditiven Faktoren aus und orientiert sich am veränderten Emotionsgeschehen, wie es in Klopstocks Zitat beschrieben wird. Der Wandel der Affekt-Rhetorik (Kap. II.1) lässt sich somit auch anhand der Deklamatorik begründen, wie sich unter anderem an Heinrich Gottfried Bernhard Frankes Schrift Ueber Declamation (1789) zeigen lässt. Darin wird die Rhetorik paradoxerweise zunächst ihrer sprachlichen Vermittlungsfunktion gänzlich enthoben: „Man muß zuerst Aufmerksamkeit zu erregen wissen und den Ohren nicht missfallen. Dieses absolute Gefallen ist eine Musik ohne Text.“206 Erst im Anschluss würde „man den Vortrag in Verbindung mit dem, was der Vorleser lieset“ (29) herstellen. So muss das Publikum zunächst in eine Stimmung versetzt werden, damit sich die Sympathie auf die Rezipienten übertragen und „ergieß[en]“ (30) kann. Erst danach tätigt der Verstand „sein Urtheil nach dem Vorlesen“ (ebd.). Vermittels des Sprachklangs wird also ein Klangteppich geschaffen, der notwendig für die Übertragung der Emotion ist und daran anschließend treten die rationalen Kräfte ein, um den eigentlichen Gegenstand zu ergründen. Diesem akustischen Paradigma folgend, ist auch die Gradatio in Frankes Schrift zu einer klanglichen Figur avanciert: Unter den Arten der „Tonverschiedenheit“, die einen großen Einfluss auf die Zuhörer haben, hebt Franke die Gradation als „besonders wirkend“ hervor (151 f.). Wenn sie sich des Weiteren durch „zunehmende Stärke, steigende Höhe und wachsende Geschwindigkeit“ (152) auszeichnet, so scheint ihr eine lautliche Dynamik zu Teil geworden zu sein, die in der herkömmlichen Figur nicht angelegt war. Dieser „Anwachs der Stärke“ wirke auf die Rezipienten so, dass „die einmahl gehobene Seele des Zuhörers von Stufe zu Stufe mit immer hinreißender Geschwindigkeit einer immer zu nehmender Stärke zum höchsten Gipfel der Leidenschaft geschleudert“ (ebd.) würde – eine auf diese Weise eingerichtete deklamatorische Überzeugungskraft scheint das Publikum auf eine wahre Klimax zu führen und es in Bann zu schlagen: Die „Gradation trägt die Aufmerksamkeit mit sich fort“ (164). Entsprechend dieser Wirkungsabsicht sollte die erste „Uebung in der Declamation“ sein, „die Stimme tönend zu machen, wodurch sich die Rede dem Gesang nahet, und allein mit Anmuth und Leichtigkeit nach dem verschiedenen Einhauch des Herzens in verschiedne, tönende Schwingung geräth“ (128). Wenn Deklamation ähnlich „einer Art Musik“ beschrieben wird, insofern sie „ganze Sätze als Schall darstellt, unabhängig von dem Sinne, welchen 206 Heinrich Gottfried Bernhard Franke: Ueber Declamation. Erster Theil, Göttingen: Johann Christian Dieterich 1789, 29. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
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er einschließt, aber auf das innigste verbunden mit den Emotionen der Seele des Redenden“ ist,207 so scheint hier die Idee eines „Sprachgesangs“208 auf, wie ihn insbesondere Rousseau und Herder als Ursprungssprache ergründet haben: Es seien weniger die gewählten Worte als vielmehr „des cris, des mots inarticulé“209, welche den Rezipienten wirklich bewegen würden.210 Das ‚natürliche‘ Sprechen soll sich möglichst einem ungebrochenen Fluss des seelennahen Ausdrucks annähern, wie es das Singen repräsentiert. Diese Argumentation findet sich bereits in Schauspielschriften seit Mitte des 18. Jahrhunderts wieder: „Le moyen de faire sortir sa voix avec un son plein, flateur & naturel, est une des études les plus nécessaires pour le Théâtre.“211 Entsprechend der nuancierten Gemütsbewegungen, welche „change à chaque instant de pensée & de sentiment, il faut donc à chaque moment changer de ton.“212 Es gilt damit auch im Ausdruck des Tons dessen unendliche Mannigfaltigkeit213 zu berücksichtigen. Diese Varietät äußert sich beispielsweise in Rhythmus und Bewegung, welche „in der Musik das Mouvement heißt, […] der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird.“214 Während also eine gewisse Beweglichkeit und damit Verlebendigung der Wörter die Wirksamkeit steigern soll, ist die analogische Verknüpfung des Seeleninnenlebens mit Tönen durch eine gradationale Denkweise bestimmt: Die Leidenschaften haben überhaupt, um dies hier beiläufig zu sagen, jede ihre eigene Gradation, die nicht so schlechthin nur in Erhebung und Verstärkung der Stimme, sondern in größerer Vollendung des besondern einer jeden zukommenden Tons liegt. […] Es wäre so leicht, Ihnen zu zeigen, wie bei jeder kleinen Abänderung eines Affects, bei jeder Mischung desselben mit andern, auch der Ton der Stimme sich abändert.215 207 Bernhardi, Ueber Ifflands mimische Darstellungen, 37; 39. 208 Herder, Viertes Wäldchen, 360. 209 Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1220. 210 Siehe hierzu Kap. IV.1 dieser Arbeit. Franke, wie auch Rousseau (Essai sur l’origine des langues), argumentiert dies im Hinblick auf eine rückschrittliche Entwicklung der Sprache: Einerseits hebt er hervor, dass sich die Alten noch sehr stark mit dem Zusammenhang zwischen Musik und Sprache befasst hätten (15–18), andererseits bedauert er, dass sich die Sprache in seiner Zeit zunehmend von ihrer Verlautbarung entfernt habe: „Bey uns lesen Geschichtsschreiber ihre Werke nicht auf dem Markte; singen und declamiren Dichter ihre Poesien nicht, und man hat keine Belohnung für einen geschickten Vorleser; wir halten sehr selten, oder gar nicht mehr politische Reden; unsere Staatsverfassung erfordert dieses nicht. Reden – darnach ist jetz die Frage nicht mehr; schreiben, schreiben muß man –“ Franke, Ueber Declamation, 19. 211 Riccoboni, L’Art du Théâtre, 14. 212 Ebd., 25. 213 „[I]nnombrables variétés qui peuvent se rencontrer dans l’expression d’un mot“, ebd., 34. 214 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 154 (8. Stück). 215 Engel, Ideen II, 150 ff. Bei Engel sind selbst die verschiedenen Sprachrhythmen nicht etwa durch unterschiedliche Zäsuren gekennzeichnet, sondern vielmehr bestimmt als ein Sprachfluss, der aus mehr oder weniger wahrnehmbaren Graden besteht. „Was ich hier Arten des
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Ziel der Stimmführung ist es also, dass die gradationale Gemütsbewegung und die nuancierte Abänderung der Stimme in eins fallen. Erneut hat dieser Einsatz der Deklamation eine Versinnlichung des Wortes zum Ziel und dient gleichermaßen der „Oeconomie des Tones“, dem austarierten Maßhalten in der Sprechweise.216 Ein Referenzpunkt für die Sprache ist dabei immer wieder das Singen, diejenige Kunst, die sich also auf das Anschwellen und Absenken der Stimme bereits seit Jahrhunderten spezialisiert hat217 und damit in eine strukturelle Analogie zum Seelenleben gestellt wird. Diderot empfiehlt den Dichtern, ihre Texte ähnlich einzurichten, wie es die Musiker tun: „Dans les cantabile, le musicien laisse à un grand chanteur un libre exercice des son goût et de son talent; il se contente de lui marquer les intervalles principaux d’un beau chante. Le poète en devrait faire autant, quand il connaît bien son acteur.“218 Joseph Franz von Götz fordert sogar, eine am Gesang angelehnte Notationsweise für die Deklamation einzuführen.219 Auch Karl Friedrich Bahrdt zählt in seinem Versuch über die Beredsamkeit (1782) zu den Naturgaben eines Deklamators, wenn dieser die „Gewalt über die […] Töne“ besitzt und nicht nur der Anbringung von „Bebungen, zum Vereinzeln, abstoßen, vorschlagen, Laufern [sic]“ befähigt ist, sondern gleichermaßen „zu langsamem oder plötzlichem Steigen und Fallen – piano, forte, crescendo, decrescendo etc“220. Und der Lieblingsschauspieler Goethes, Pius Alexander Wolff, beschreibt rückblickend auf seine Schauspieltätigkeit die Stimme als „das edelste und kostbarste aller Organe für den Schauspieler“, da sie „Dolmetscherin der LeidenRhythmus nenne, sind wohl nicht so eigentlich Arten; es sind die am deutlichsten unterschiedenen Hauptgrade, zwischen denen eine unbestimmbare Menge anderer mittlerer Grade liegt, die aber schon zu schwach schattiert sind, schon zu sehr in einander fließen, als daß sie noch mit einiger Schärfe gefasst werden können. Diesen verschiednen Arten des Rhythmus entsprechen eben so viele verschiedene Arten der Declamation.“ Engel, Ideen II, 160. 216 Franke, Ueber Declamation, 107. Laut Franke kann man mithilfe der Deklamation „Fehler freundschaftlich zudecken, jede kleine Schönheit auszeichnen und den Dichter durch Unterschieben der Leidenschaft da heben und tragen, wo ihn die Worte sinken lassen; da kann man alles, was sein Ausdruck im Dunkeln läßt durch den Ton erhellen und bereichert vortragen und Schatten und Licht angenehm vertheilen; jeden Uebergang ausfüllen, den zu hohen Schwung mäßigen, das Rauhe sanft machen, und so ein schönes Gemälde für Geist und Herz aufstellen.“ Franke, Ueber Declamation, 31 f. 217 Vgl. Kap. IV.2 dieser Arbeit. 218 Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1220. 219 „Solte die stuffenweise Erhöhung der Stimme in dem Vortrage, und der, verschiednen Leidenschaften angemessne, Grundton sich nicht, nach dem Beispile des Gesanges, durch angenomne Zeichen andeuten und zwekmässiger ordnen lassen, als es bisher durch die Tribe einer ungeordneten Erziehung und Fantasie geschiet?“ Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 64. 220 Karl Friedrich Bahrdt: Versuch über die Beredsamkeit nur für meine Zuhörer bestimmt, Leipzig: Haugs Wittwe 1787, 175. Auch Franke bezeichnet die Verstärkung und Minderung der Stimme mit den musikalischen Termini forte und piano. Franke, Ueber Declamation, 33.
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schaften“ sei und in manchen Rollen sogar „die Stelle einer schönen Gestalt“ vertrete.221 Erneut lässt sich hier das Ineinanderfallen von Sprechen und Singen beobachten, wenn Wolff schreibt: „Der Declamator muß seine Aufgabe wie der Sänger behandeln. Er muß sich seine Reden auf Noten setzen“.222 Bei dieser Ansicht beruft sich Wolff auf Goethe selbst, welcher in der Manier „eines Kapellmeisters“ seine Dramen inszenierte und sich dabei „die Musik zum Vorbilde“ nahm.223 Wolff berichtet über Goethe, dass dieser als Leiter des Weimarer Hoftheaters (1791–1817) seinen Leseproben eine Sprechprobe vorangestellt habe, welche „ganz in der Art geleitet“ worden sei, „wie eine Oper eingeübt ist. Die Tempis, die Fortes und Pianos, das Crescendo und Diminuendo u. s. w. wurden von ihm bestimmt, und mit sorgfältiger Strenge bewacht“.224 All diese Beispiele, die die zunehmende Ausrichtung der Sprache am Gesang veranschaulichen, zeugen von der Konzentration der Schriften auf eine transitorisch-sukzessive und dynamisierte Schauspielkunst. Musik avanciert aufgrund ihrer so wahrgenommenen Nuancierungsfähigkeit und unmittelbaren Wirkungskraft zunehmend zu einer vorbildlich idealen Kunst; mitunter wird eine „‚Musikalisierung‘ des Körperausdrucks“225 beobachtbar, wie sie im IV. Kapitel wieder aufgegriffen werden soll. Zusammenfassend konnten die letzten beiden Kapitel III.1 und III.2 zeigen, dass Verbindungstechniken und Gradationsfiguren in den schauspieltheoretischen und ‑technischen Schriften, die vor allem seit Mitte des 18. Jahrhunderts Konjunktur haben, in ganz unterschiedlichen Bereichen eine Rolle spielen. Sie werden zum Argument für die bühnentechnische Ausstattung, sie tauchen als Strukturmerkmal der Konstruktion des Dramas auf, sie finden sich ganz besonders in den Beobachtungen zur Mimik, Gestik und Stimmwirkung wieder und sind insofern für die Wirkungsästhetik von Be221 Pius Alexander Wolff: „Bemerkungen über die Stimme und ihre Ausbildung zum Vortrag auf der Bühne. Aus den Papieren eines Freundes mitgetheilt“ [1827], in: Max Martersteig: Pius Alexander Wolff. Ein biographischer Beitrag zu Theater- und Literaturgeschichte, Leipzig: L. Fernau 1879, 294–300; hier: 294. 222 Pius Alexander Wolff: „Ueber den Vortrag im Trauerspiel“ [1827], in: Martersteig, Pius Alexander Wolff, 300–306; hier: 302. Vgl. Herrmann, Das Archiv der Bühne, 141 (die Literaturangaben sind dort unpräzise). 223 Ebd., 304. 224 Ebd. Da von den Schauspielerinnen und Schauspielern im 18. Jahrhundert ohnehin erwartet wurde, dass sie in Dramen und Singspielen gleichermaßen auftraten und auch umgekehrt Sängerinnen und Sänger Sprechrollen in Schauspielen übernehmen mussten, hat eine solche Annäherung von Singen und Sprechen zudem soziokulturelle Geltung. Ulrich Kühn: SprechTon-Kunst: musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel- und Musiktheater (1770–1933), Tübingen: Niemeyer 2001, 55. 225 Arne Stollberg: „Leitmotiv – Gebärde – Charakter. Zum Verhältnis von Körperausdruck und musikalischer Dramaturgie in Georg Anton Bendas Melodram Medea“, in: Musiktheorie 17 (2002), 135–150; hier: 136.
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deutung, als sie als Beschreibungsfigur des Emotionalen und dessen Wirkung einerseits auf Seiten der Schauspielerinnen und Schauspieler und andererseits auf Seiten des Publikums maßgebliche Einflussgrößen bilden. Während Verbindungstechniken immer in einem ersten Schritt eingesetzt werden, um Kontinuitäten zu stiften, wird die gradationale Ausrichtung vor allem da deutlich, wo diese Kontinuitäten eine emotionale und damit intensivierende Grundierung erhalten. Hierbei zeigt sich, dass insgesamt eine große Aufmerksamkeit in der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts darauf gerichtet wird, Figuren des Anwachsens, der graduellen Steigerung, sowie der Verminderung zu realisieren, eine Beobachtung, die sich bemerkenswerterweise jenseits spezifischer epochaler und nationaler Strömungen der hier behandelten Texte in dieser Zeit treffen lässt. Die zunehmende Ausrichtung an der Musik, die insbesondere in der Deklamatorik zu beobachten ist, ergibt sich dabei vor allem aus dem Umstand, dass die Musik als diejenige Zeichenkunst gehandelt wird, die strukturell den Empfindungsströmen vergleichbare Medien einsetzt: Kontinuierliche stimmliche und melodische Verläufe gelten als den gradationalen Bewegungen der Leidenschaften äquivalente Äußerungsformen, welche somit eine Vorbildfunktion für die gestische, mimische und stimmliche Darstellung einnehmen. In einem nächsten Schritt wird zu untersuchen sein, wie die durch den Gradationsgedanken neu ausgerichtete Schauspielkunst sich auf die Einrichtung und Machart des Dramas auswirkt. Im Zentrum soll dabei die Frage stehen, auf welche Weise die Gradation den dramatischen Text strukturiert, organisiert und in ihm operiert.
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3 Gradationale Einrichtung des dramatischen Texts [Der Poet wird] suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen. Gotthold Ephraim Lessing, 1767226
Die gradationale Entwicklung der Emotionen steht im Mittelpunkt des Dramas, wie Lessings Zitat aus der Hamburgischen Dramaturgie belegt. Es wurde bereits anhand von Diderots Konzeption des drame bourgeois gezeigt, wie sehr sich der Aufbau der Theaterstücke auf eine Handlung konzentriert, die die Darstellung der Seelenbewegungen vorgibt – eine Tendenz, die sich im bürgerlichen Trauerspiel und den musikalisch ausgerichteten (Melo-)Dramen in Deutschland noch verstärkt. Nicht nur die Bühne, die Ausstattung und der Schauspielerkörper werden zur Inszenierung gradationaler Strategien hin geöffnet, nicht nur dort wird der „Grad der Emotion zum individuellen Regulativ der einzelnen Darstellung“227 – auch der Text erfährt eine maßgebliche Aus- und Zurichtung in dieser Hinsicht. Denn, so Engel, „der bloße Anblick und die Folge der Empfindungen macht die Erzählung, oder scheint sie vielmehr zu machen – denn im Grunde macht sie der Zuschauer sich selbst.“228 Mit diesem Zitat ist eine triadische Konstellation angesprochen, bestehend aus Text, Aufführung und Publikum, eine Trias, die sich immer wieder im Laufe dieser Untersuchung bemerkbar machte. Zentral ist nämlich auch hier das Hinzutreten der kognitiv-sinnlichen und zugleich hermeneutischen Leistung, die das Publikum selbst zu erbringen hat: Gefragt ist die „phantasmatische Intensivierung der Reize“229, welche die Rezipienten selbst herstellen müssen. Auch wenn also sämtliche Komponenten des Dramas auf die Inszenierung kontinuierlicher emotionaler Bewegungen zugespitzt werden, so bleibt als letzte Instanz das Publikum, welches vermittels der Einbildungskraft Operationen der Verbindung tätigt und ein kontinuierlich-ganzes Dramengeschehen wahrnimmt sowie Sinn erschließen kann. Aufgabe des Dramendichters ist dabei, den Text so einzurichten, dass überhaupt eine Staffelungsmöglichkeit in der Wahrnehmung durch die Rezipienten erreicht werden kann: Es gilt, entlang der Auflösung des Dramas, ein stetes Erwärmen – eine emotionale 226 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 249 (32. Stück). Hinzuf. J. F. 227 Bernhardi, Ueber Ifflands mimische Darstellungen, 46. 228 Engel, Ideen II, 83 f. 229 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 203. Erneut bezieht sich Koschorke mit dieser Formulierung allerdings auf die Lesepraktiken der Roman- und Briefkultur im 18. Jahrhundert.
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Einbindung des Publikums zu erzeugen – „acquiert de nouveaux degrès de chaleur, à mesure que l’intrigue se dénoue“230. Die Frage der Möglichkeit der Übertragung von und Ansteckung durch Emotion, welche sich an einer Art graduell eingerichtetem Wahrnehmungsbarometer des Publikums äußert, ist immer eng gekoppelt an die Frage der graduell eingerichteten Bewegung, die nicht durch Brüche und Sprünge unterbrochen werden darf: Wer sich an diese Gattung gewagt hat, der kennt das unendlich Schwere der Forderung: eine ganze ununterbrochene Folge von Empfindungen durch die Rede so zu schildern, daß jede ihren wahren Grad der Stärke, ihre gehörige Dauer, ihre richtige Nüance erhalte, und nirgend etwas Grundloses, nirgend eine Lücke, ein Sprung sei.231
Denn in dem Moment, in welchem zu große Sprünge produziert werden, ist die Verbindungsleistung der Einbildungskraft nicht mehr ausreichend, und die emotionale Darstellung kann nur noch ‚kalt‘ auf den Rezipienten wirken: Die Übertragung der Emotion ist gescheitert. Nur wenn man das Publikum – pädagogisch gesprochen – da abholt, wo es steht, beginnend mit einem niedrigen, ‚kalten‘ Grad der Anteilnahme, welcher immer weiter bis ins Höchste und Wärmste gesteigert wird, kann eine dramatische Gattung hergestellt werden, „die uns alles als werdend zeigt“232 und damit einen emotionalen Nachvollzug garantiert: „[L]e poète nous cache assez pour nous piquer, il nous en laisse toujours apercevoir assez pour nous satisfaire“233. In Bezug auf die textuelle Einrichtung, auf die „Zurichtung des Stoffes“234, schlägt sich die Gradation vor allem als strukturelle Ordnungsfigur nieder, die den Aufbau des Dramas maßgeblich bestimmt. Zudem lässt sich aber auch eine motivische und accessorische Ausstattung im Drama beobachten, die die gradationale Entwicklung befördert, wie sich im Folgenden zeigen wird. Nachdem zunächst Beobachtungen zur Einrichtung des Dramenbaus erfolgen, richtet sich der Fokus auf Marivaux’ Drama Le jeu de l’amour et du hasard (1730), Gellerts Zärtliche Schwestern (1747), Lessings Miss Sara Sampson (1755), Gerstenbergs Ugolino (1768) und Schillers Die Räuber (1781), um anhand dieser Stücke exemplarisch zu verdeutlichen, in welchen unterschiedlichen Funktionen gradationale Strategien zum Einsatz kommen und die Organisation und Struktur des dramatischen Texts bestimmen.
230 Noverre, Lettres, 25. 231 Engel, Ideen II, 239. 232 Ebd., 258. 233 Diderot, De la poésie dramatique, 1295. 234 Johann Gottfried Herder: „Gerstenberg, H. W. v.: Ugolino. Eine Tragödie, in fünf Aufzügen: Rezension“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 11,1, Berlin/Stettin: Friedrich Nicolai 1770, 8–22; hier: 10.
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3.1 Verknüpfungstechniken: Liaison und Dé-nouement im Drama Ruft man sich den von Edme-François Mallet verfassten Eintrag „Continuité“ der Encyclopédie ins Gedächtnis, der im Prolog dieser Arbeit zitiert wurde, so ist dort Kontinuität zunächst physikalisch als ein Zustand zweier oder mehrerer Teile definiert, welche „un tout non interrompu“ bilden, bei denen also „aucun espace intermédiaire“ wahrzunehmen ist.235 Es folgt die Bestimmung „Continuité (loi de)“, das Gesetz welches, wie bereits gezeigt (Kap. II.2), als durch Leibniz vermittelt dargestellt wurde und eine „gradation dans tout“236 deklarierte. Der nächste Abschnitt beschreibt dann die „Continuité“ in den belles-lettres: „dans la poëme dramatique, c’est la liaison qui doit regner entre les différentes scenes d’un même acte.“237 Im Hinblick auf das Drama folgt das Prinzip der Kontinuität damit grundsätzlich dem Regulativ der doctrine classique. Mallet beruft sich nämlich an dieser Stelle auf das Beispiel der liaison des scènes238, der kontinuierlichen Verknüpfung der Szenen, die dadurch gewährleistet wird, dass die Bühne zwischen den Auftritten nie leer ist. Vielmehr muss eine Motivation der Auf- und Abtritte so eingerichtet sein, dass die Figurenkonstellation das Verbleiben mindestens einer Person auf der Bühne garantieren kann (mit Ausnahme des Aufzugsendes, bei der die Bühne ‚geleert‘ werden soll). In Mallets Artikel heißt es diesbezüglich: „On dit que la continuité est observée, lorsque les scenes qui composent un acte se succedent immédiatement, sans vuide, sans interruption, & sont tellement liées, que la scene est toûjours remplie.“239 Damit also ein kontinuierlicher Handlungsstrang geknüpft und eine durchgehende Bewegung ermöglicht werden kann, bedarf es des stetigen Auffüllens potentiell entstehender Lücken, sowohl was die personelle Ausstattung, als auch was den Stoff der Handlung betrifft. Während die liaison jedoch im klassischen Theater noch dem höfischen Auftrittsprotokoll diente, wird hier durch die unmittelbare Einbindung des Prinzips in Gegenstände der Naturlehre das Argument neu eingepasst. Bemerkenswert ist also, auf welche Weise sich das physikalische Prinzip der Kontinuität in das Prinzip der (konservativen) Regelpoetik inner-
235 Edme-François Mallet: Art. „Continuité“ (1752), in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 3: Ch-Co, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1966, 116a-117a; hier: 116a. 236 Ebd., 116b. 237 Ebd., 177a. 238 Vgl. zu diesem seit ungefähr 1650 in Frankreich praktizierten Prinzip ausführlich: Scherer, La dramaturgie classique, 266–284. Zur Übernahme und Transformation des Prinzips in Deutschland vgl. Juliane Vogel: „Aus dem Takt. Auftrittsstrukturen in Schillers Don Carlos“, in: DVjs 86, 4 (2012), 532–546. 239 Mallet, Continuité, 177a.
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halb der Encyclopédie auf subtile Weise einschreibt. Denn semantisch setzt der Artikel das Prinzip der Naturlehre fort und überträgt ihn auf die Literatur. Auch Diderot übernimmt den Grundsatz der liaison: „[P]uisque l’action ne s’arrête point, il faut que, lorsque le mouvement cesse sur la scène, il continue derrière. Point de repos, point de suspension.“240 Die Idee der „union intime“241 und das Prinzip, dass „aucun être ne passe d’un état à un autre, sans passer par les états intermédiaires“242, die dem physikalischen und empirischen Wissen der Naturlehre entspringen, überträgt Diderot direkt auf die Struktur des Dramas. Diese Bezugnahme erklärt zudem, warum die coups de théâtre vermieden werden sollen, denn diese sind plötzlich eintretende Geschehnisse, die den Zustand der Personen auf einmal verändern, wie das „Ich“ in Diderots Entretiens sur le fils naturel (1757) beschreibt: „Un incident imprévu qui se passe en action, et qui change subitement l’état des personnages, est un coup de théâtre“243. Da man hingegen weiß, dass in der Natur „point d’inflexions ni de rebroussement subits“244 existieren, muss dementsprechend auch die Dramenstruktur sich dieses Prinzips erwehren. Anstelle plötzlicher Einbrüche und Kehrtwenden sei deshalb die Verbindung der Ereignisse von höchster Wichtigkeit: „[L]a règle invariable des vraisemblances dramatique, me paraîtraient s’attirer les uns les autres [die Ereignisse, J. F.] par des liaisons nécessaires.“245 Aus dieser Regel folgt auch, dass die Konzentration auf wenige Ereignisse, wie sie bereits für den Père de famille herausgearbeitet wurde, wichtiger ist als die Darstellung von Vielheiten: „J’aime mieux qu’une pièce soit simple que chargée d’incidents. Cependant je regarde plus à leur liaison qu’à leur multiplicité.“246 Die Empfehlung, die Auftritte innig zu verknüpfen („liât intimement le premier Acte avec le second, le second avec le troisieme, &c.“) könne so eine „unité de dessein“ herstellen, „afin que toutes les Scenes se rapprochent & aboutissent au même but“, wie sie auch Noverre für seine Ballette wünscht.247 Dagegen könne das Missachten der Verbindungsoperationen nur dazu führen, dass der Faden des Stücks verlorenginge, das Gerüst zerbreche, die Handlung verpuffe und das Interesse und das Gefallen am Stück schwänden.248 Die Einheit des Orts hängt dabei 240 Diderot, De la poésie dramatique, 1318. 241 Mallet, Continuité, 116a. 242 Ebd., 116b. 243 Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1211. Vgl. Fried, Absorption, 95. 244 Mallet, Continuité, 116b. 245 Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1206. 246 Ebd. 247 Noverre, Lettres, 133; 124. 248 „[O]r n’est-il pas extravagant de le diviser par lambeaux, d’en interrompre la suite, d’en suspendre l’intrigue, & d’en détruire l’ensemble & l’harmonie? […] [D]ès-lors le plan de l’Auteur disparoit, le fil échappe, la trame se brise, l’action s’évanouit, l’intérêt diminue & le plaisir s’enfuit.“ Noverre, Lettres, 132.
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eng mit der liaison zusammen, denn jeder Ortswechsel gefährdet die Verbindung der Szenen. Diderot nutzt also einen Grundsatz der doctrine und überführt diesen in eine Poetik, die gerade diese Regelmäßigkeit aus der Darstellung verdammen möchte und sie einem (veränderten)249 Natürlichkeitspostulat unterwirft. Die Idee der liaison, die zugleich synonym steht für eine kausale, kontinuierlich nachvollziehbare Absicht und Motivation der Handlung,250 gründet auf der natürlichen Einrichtung der Welt: Die dramatische Dichtkunst soll die Ereignisse unmerklich verbinden,251 weil auch in der Natur alles untereinander verbunden ist. Dabei besteht die Kunst der liaison vor allem darin, die Verbindungen ebenso unmerklich zu machen, wie dies in der Natur geschieht.252 Dieses offensichtliche Einschreiben von Prinzipien aus der Naturlehre in den Aufbau des Dramas sowie die Äußerung „qu’il n’y a point de principe général“253, bedeutet damit aber zugleich ein Abwenden von der eigentlichen Regelpoetik der doctrine classique, welche letztlich nur über ‚künstliche‘ Regulative und eine „strengste Regelmäßigkeit“254 bestehen kann: Die Verbindungsoperation der liaison ist nicht länger konventionell, sondern essentiell notwendig, da sie in der Natur der Dinge begründet ist: Aus dem „Saame der künftigen Veränderungen“ entsteht eine Handlung, wenn die Zustände so verknüpft werden, „daß der eine auf den andern einfließt, ihn erweckt, ihn veranlaßt“255.
249 Wie Jacques Scherer vermerkt, beruft sich auch die liaison des scènes der dramaturgie classique auf ein Modell der Natur, nämlich auf den „horreur du vide“ und damit auf das Prinzip der Fülle (vgl. den Prolog dieser Arbeit). Folgt man dieser Aussage, so muss man zwar von einer Abwendung von der Konvention der doctrine classique, ihrer Form der Künstlichkeit und artifiziellen Abmessung im Sinne ihrer Wirkung, präzisierend aber auch von einer Neuausrichtung sprechen, bei der die liaison auf veränderte Erkenntnisse in der Naturlehre reagiert. Vgl. Scherer, La dramaturgie classique, 271. 250 „Es ist nicht genug, daß eine Person sagt, warum sie kömmt, man muß auch aus der Verbindung einsehen, daß sie darum kommen müssen. Es ist nicht genug, daß sie sagt, warum sie abgeht, man muß auch in dem Folgenden sehen, daß sie wirklich darum abgegangen ist.“ Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 306 (45. Stück). Vgl. für weitere Bsp. Scherer, La dramaturgie classique, 279–284. 251 Die Dichter sollten darauf achten, „que des fils imperceptibles lient tous vos incidents“, Diderot, De la poésie dramatique, 1294. 252 „L’art dramatique ne prépare les événements que pour les enchaîner; et il ne les enchaîne dans ses productions, que parce qu’ils le sont dans la nature. L’art imite jusqu’à la manière subtile avec laquelle la nature nous dérobe la liaison de ses effets.“ Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1240. 253 Ebd., 1247. 254 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 308. (46. Stück) 255 Engel, Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung, 114; 124. Engel erarbeitet dabei eine Vorstellung von Handlung, die sich auf das Drama, den Roman, das Gedicht, aber auch auf wissenschaftliche Texte übertragen lassen. Dem Begriff der Handlung entgegen steht der
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Der Handlungsstrang im Drama folgt somit Verknüpfungstechniken, die von einem ‚natürlich‘-kontinuierlichen Substrat durchzogen sind, was auch Einfluss auf das Schürzen des dramatischen Knotens hat: Die liaison wird zur unbedingten Voraussetzung dafür, dass kontinuierliche Verlaufsformen der Zu- und Abnahme überhaupt realisiert werden können und der Knoten nicht plötzlich ‚zerschlagen‘, sondern allmählich ‚aufgelöst‘ wird. Bezugnehmend auf die Poetologie Aristoteles’, der den Dramenaufbau als symmetrisches Spannungsgebilde aus desis, der Kunst der Verknüpfung, sowie lysis, ihrer Lösung, sieht, stand seit der französischen Regelpoetik fest: „Le nœeud & le dénouement, sont les deux principales parties du poëme épique & du poëme dramatique“256. Die französische Klassik berief sich dabei auf die Betonung der Artifizialität und des dichterischen Handwerks einer „Knotenkunst“257, untermauerte die Symmetrie zwischen Knoten und Lösung und bemühte sich „in einer gegenüber der antiken Vorlage gesteigerten Weise um eine Regulierung latenter Knotengewalt“258. Bezüglich dieser Verknüpfungskünste lässt sich hier ebenfalls beobachten, dass „die Wahrscheinlichkeitsforderung der klassischen Regelpoetiken des 17. Jahrhunderts durch die Natürlichkeitsforderungen des 18. Jahrhunderts überlagert und ergänzt“ wurden und die Bemühungen dahingehend liefen, „die Verlaufsdramaturgie des Dramas immer feiner auszudifferenzieren“.259 So galt für das Wesen des Knotens nun: „[d’]être toujours naturel & tiré du fond de l’action“260. Die Kraft und das gewaltige Potential des Knotens wird mit einer solchen Strategie entschärft, Fäden, die „kläglich verworren und durcheinander geschlungen“261 sind, entwirrt. „Es ist ein plumper Begriff von dramatischer Handlung, die sich nicht anders, als in einer Katastrophe, die viel Geräusch macht und nichts mehr, zu gedenken“, kritisiert Herder die herkömmliche Form des Dramas und schlägt stattdessen eine Alternative vor: „[O]hne Zweifel ist auch eine Umwälzung der Empfindungen, und eine Aggradation bis zu einem Knoten, wo sie sich lösen müssen, Handlung und zwar allerdings die würksamste Handlung auf unser Gefühl.“262 Im Rahmen einer Wirkungsdramatik, die sich ganz dem Prinzip der Gradation verschreibt, Begriff der „bloße[n] Bewegung“, von der man dann sprechen kann, wenn „in einer Folge von Veränderungen dieser Zusammenhang fehlt“ (124 f.). 256 Louis de Jaucourt: „Nœud (Poésie dramat. & épiq.)“, in: Denis Diderot, Jean D’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, I, Bd. 11: Na-Pa, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann holzboog 1966, 185; hier: 185a. 257 Juliane Vogel: „Verstrickungskünste. Lösungskünste. Zur Geschichte des dramatischen Knotens“, in: Poetica 40 (2008), 269–288, hier: 269; 275. 258 Ebd., 275. 259 Ebd, 277 f. 260 Jaucourt, Nœud, 185b. 261 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 398 (69. Stück). 262 Herder, Ugolino Rezension, 11 f.
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erfährt das Drama eine Akzentverschiebung im Zeichen der „Verbindung“, „Entwicklung“ und „Auflösung“, um „[n]atürlich“ zu wirken:263 In Handlungen die sich zur epischen und dramatischen Poesie schiken, wird die Verwiklung und allmählige Auflösung ofte [sic] durch eine Menge kleiner Umstände bestimmt, die zusammengenommen, das Ganze bewürken. Läßt der Dichter einen davon weg, oder sezet er einen falschen, an die Stell eines wahrhaften, so wird alles unnatürlich. Oft aber, wenn er alles, was zur Natur der Sache gehöret, anbringen will, wird er schweerfällig, oder verworren. Darum ist es so sehr schweer im Drama das Natürliche in Anlegung der Fabel und Entwiklung der Handlung zu erreichen. […] Es ist nicht genug, daß im Drama alles da sey, was die Folge der Handlung bestimmt; es muß auf eine ungezwungene Weise da seyn.264
Genau aber mit dieser Forderung von „Ungezwungenheit“265 wird die Absage an die Regelpoetik formuliert und durch eine Poetik der Entwicklung ersetzt, welche die Gemütszustände der Figuren „nach und nach Schwellen“266 lassen, um dann in einer gradationalen, „allmählige[n] Auflösung“ zu enden. Erneut entpuppt sich diese Forderung aber auch als Vermeidungsstrategie plötzlicher Elemente, die die coups de théatre, unnatürlichen dei ex machina267 und illusionsstörenden Erscheinungen268 von der Bühne verdammen. Der 263 Zu diesen Begriffen existieren Einträge in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste, die sich jeweils unter anderem mit den Verlaufsformen des Dramas beschäftigen. 264 Johann Georg Sulzer: „Natürlich“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, 812–814; hier: 813b. 265 „In Ansehung der Knüpfung und Auflösung des Knotens kommt die Hauptsache darauf an, daß alle würkenden Ursachen, es sey, daß sie Schwierigkeiten veranlassen, oder sie überwinden, natürlich und wahrscheinlich seyen. […] Er [der Dichter, J. F.] muß nichts geschehen lassen, ohne uns deutlich merken zu lassen, daß es nothwendig hat geschehen müssen, oder daß es aus der Lage der Sachen und dem Charakter der Personen natürlich erfolget.“ Johann Georg Sulzer: „Knoten“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, 597–601; hier: 599a. 266 Sulzer, Knoten, 598b. 267 Darauf spielt Lessing an, wenn er den plötzlichen Eingriff der dei ex machina in einem schlecht konstruierten Drama als Erlösung beschreibt: „[W]ie glücklich sehen wir durch irgendeinen unter Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden Gott oder durch einen frischen Degenhieb den Knoten auf einmal zwar nicht aufgelöset, aber doch aufgeschnitten, welches insofern auf eines hinauslauft, daß auf die eine oder die andere Art das Stück ein Ende hat“. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 398 (69. Stück). Vgl. Vogel, Verstrickungskünste, 279. 268 Vgl. die Gegenüberstellung des Einsatzes von Gespenstern bei Shakespeare und Voltaire: „Voltaires Gespenst ist nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessiert uns für sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid. […] Man überlege auch nur dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Stände des Reichs, von einem Donnerschlage angekündiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehört, daß Gespenster so dreist sind?“ Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 167 (11. Stück).
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Dichter muss also den Text als kontinuierlichen Zusammenhang konstruieren, der Plötzlichkeiten nur dann erlaubt, wenn sie im Anschluss erklärbar werden.269 Auch da, „[w]o sich Begebenheiten so drängen, können sicherlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns sovieles überrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als überraschen.“270 Alle Elemente des Dramas müssen so auf ein vollkommenes Ganzes hin angelegt sein; unbegründetes Beiwerk wird obsolet, wie Lessing in der Kritik von Voltaires Essex über die Figur der Herzogin von Irton bemängelt: Dieser Charakter würde sehr schön sein, wenn er zur Verwicklung etwas beitrüge; aber hier vertritt sie bloß die Stelle eines Freundes. Das ist fürs Theater nicht hinlänglich. Mich dünket, daß alles, was die Personen in dieser Tragödie sagen und tun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmet ist. Die Handlung muß deutlich, der Knoten verständlich und jede Gesinnung plan und natürlich sein: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln.271
Gerade anhand der Figuren, so Lessing im 48. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie, könne man eine Auflösung des Dramas sehr gut erzeugen. Zentral ist dabei allerdings die Herstellung einer Diskrepanz des Wissens der Figuren und der des Publikums: Einerseits sollten die Figuren so angelegt sein, dass sie von den Begebenheiten nicht unterrichtet sind, dass für diese „alles undurchdringlich“ ist. Man sollte sie „ohne daß sie es merken, der Auflösung immer näher und näher“ bringen.272 Dahingegen sei es falsch zu glauben, man müsse die Auflösung vor dem Publikum zurückhalten: Lessing stellt sich gar ein Stück vor, in welchem die Entwicklung bereits in der ersten Szene bekannt ist.273 Andererseits gilt also: „Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles, was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts Bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen
269 „Wie in der Natur kein Sprung statt hat, so muß auch der Dichter bey seinen Auflösungen keinen machen. Läßt er eine Paßion, oder eine Unternehmung, für die kein guter Ausweg vorzusehen war, plötzlich einen solchen finden, so geschehe es so, daß aus der Lage der Sachen, erst nach dem Erfolg begreiflich werde, wie die Sachen haben kommen können.“ Johann Georg Sulzer: „Auflösung“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 86–89; hier: 87a. 270 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 197 (19. Stück). 271 Ebd., 218 (24. Stück). 272 Ebd., 315 (48. Stück). Lessing orientiert sich dabei fast wörtlich an Diderot, De la poésie dramatique, 1285. 273 Ebd., 316. Auch hier vgl. Diderot, De la poésie dramatique, 1306. Deshalb sei der erste Akt auch besonders schwierig zu gestalten: „Le premier acte d’un drame en est peut-être la portion la plus difficile. Il faut qu’il entame, qu’il marche, quelquefois qu’il expose, et toujours qu’il lie.“ Ebd., 1318.
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soll.“274 An dieser Stelle sind wieder die hermeneutischen und sympathetischen Kompetenzen der Rezipienten als ‚Komplizen‘ des Dramas gefragt, um eine Auslegung des Stücks voranzutreiben, um nach Verwirrung und Verknotung „Ordnung wieder herzustellen“275. Mit diesen Gedanken schließt Lessing direkt an Diderot an, welcher ebenfalls vor einer zu komplizierten Darstellung warnt,276 sich gegen die Geheimhaltung der Ereignisse vor den Rezipienten ausspricht und stattdessen empfiehlt, „[de] tenir la catastrophe toujours présente“277. Er verspricht sich eine viel größere Wirkung, wenn das Unheil (wörtlich: das Unwetter) erst langsam angekündigt und lange Zeit herausgezögert wird.278 Die Verzögerung, Suspension, Ausdehnung und allmähliche Lösung des Knotens wird so als ergiebige Rezeptionsweise des Dramas angeraten: „Überraschungen […] erfolgten nicht, sondern sie entstünden.“279 Eine Verfeinerung im Verlauf des Stücks lässt sich so auch in der Rezeption beobachten, da sich im Publikum widerspiegelt, wie das Binden und Auflösen weniger im Modus eines plötzlichen Eintritts, als in sanften Verlaufskurven nachvollzogen wird: Während der Knoten das Interesse weckt („fait naitre une douce impatience d’en voir la fin“), sorgt das Ent-wickeln, das dénouement dafür, die Beunruhigung zu mildern: Es entsteht „une certaine satisfaction de voir finir une aventure où l’on s’est vivement intéressé.“280 Die Ursache, warum das Lösen des Knotens eine besondere Wirkung auf den Rezipienten hat, begründet Engel erneut im Duktus des loi de la continuité, nämlich damit, dass „[a]lles, was dem Allmählichen der Natur entgegen ist, aller Sprung, aller plötzliche Übergang eben darum weil es nicht kann nachempfunden werden, die Täuschung, und mit der Täuschung die Wirkung, hindern [würde]“281. Dagegen könne „bei der vollständigen Kenntniss ihrer [der Figuren, J. F.] geheimsten Denkungsart und der ganzen Beschaf274 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 316. 275 „Da bemüht sich der Geist die Ordnung wieder herzustellen: je schneller und vollkommener dieses geschieht, wenn nur vorher die Anstrengung aufs höchste gestiegen ist, je größer ist das Vergnügen.“ Sulzer, Auflösung, 86a. Vgl. Vogel, Verstrickungskünste, 280. 276 „La pièce compliquée a perdu son effet. […] Si vous obtenez de l’intérêt et de la rapidité par des incidents multipliés, vous n’aurez plus de discours; vos personnages auront à peine le temps de parler; ils agiront au lieu de se développer. J’en parle par expérience.“ Diderot, De la poésie dramatique, 1286 f. 277 Diderot, De la poésie dramatique, 1309. 278 „Le poète me ménage, par le secret, un instant de surprise; il m’eût exposé, par la confidence, à une longue inquiétude. Je ne plaindrai qu’un instant celui qui sera frappé et accablé dans un instant. Mais que deviens-je, si le coup se fait attendre, si je vois l’orage se former sur ma tête ou sur celle d’un autre, et y demeurer longtemps suspendu?“ Ebd., 1306. 279 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 319 (49. Stück). 280 Jaucourt, Nœud, 185a. 281 Engel, Ideen II, 229.
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fenheit ihrer äußeren und innern Lage“ die „innigste[ ] Theilnehmung“282 erreicht werden. Nachempfindung und Anteilnahme werden somit zu zentralen Rezeptionsbedingungen und Wirkungsprinzipien. Aus diesem Grund müssten auch alle Teile des Dramas so eingerichtet sein, dass eine Identifikation mit der Person stattfinde: „Die Seele des Menschen hat ein untrügliches Gefühl ihrer selbst; sie sucht ihre eigne Natur in Andern, kann sich nur insofern in diese Andern versetzen, als sie ihre eigene Natur in ihnen wiederfindet.“283 Gerade weil im Drama eine Vermittlungsinstanz fehlt, weil es „uns gleichsam die Leidenschafften und geheimsten Bewegungen des Herzens in eigenen Aeusserungen der Personen schildert“284, wie auch Schiller bemerkt, sei es besonders geeignet, um mit den Gemütsbewegungen der Figuren, „mit jeder der kleinsten Veränderungen ihrer Seele, mit jedem schwachen abwechselnden Eindrucke, den sie, während ihrer gegenseitigen ununterbrochenen Einwirkung, Augenblick vor Augenblick, auf einander machen“ mitzuempfinden, denn „eben diese Vergegenwärtigung ist es, wovon die ganze specielle Wirkung des Drama abhängt.“285 Die Verknüpfung der Szenen, der Ereignisse, die Auflösung des dramatischen Knotens sowie die Rezeptionshaltung im Publikum werden allesamt unter Prinzipien gradationaler Verbindungstätigkeiten gestellt, insofern allen die ‚natürliche‘ Idee inniger Verknüpfung, kontinuierlicher Entwicklung und gradueller Zu- und Abnahme unterliegt. Begründet wird diese spezifische Einrichtung des Dramas vor allem mit der Ermöglichung einer Vergegenwärtigung und damit einer emotionalen Nachvollziehbarkeit, die insbesondere für Lessings Poetik des Mitleids noch von zentraler Bedeutung sein wird. Entsprechend hat diese Einrichtung auch Konsequenzen für die Stoffwahl des Dramas. Hier müssen solche Gegenstände und Motive gewählt werden, welche eine Ermöglichung von kontinuierlichen Entwicklungen garantieren bzw. eine entsprechende Rezeptionshaltung im Publikum hervorrufen können, so dass die Rezipienten die Verlaufsformen selbst generieren und ihre Seelen von einer „unmerklichen Gradation gepackt“ werden, bis zu einem Punkt der Rührung, an dem die Schluchzer das Publikum zu ersticken drohen, es von Tränen überflutet und vom Genuss der Trauer übermannt wird.286
282 Ebd., 220. 283 Ebd., 221. 284 Schiller, Unterdrückte Vorrede, 243. 285 Engel, Ideen II, 219. 286 „[L]’ame […] est amenée par une gradation insensible, jusqu’à ce point d’attendrissement où les sanglots nous étouffent, où les armes nous inondent, où l’ame succombe au sentiment délicieux de sa douleur.“ Jean-François Marmontel: Poétique Françoise, Œuvres completes de Marmontel, Bd. 5, Liège: Bassompierre fils 1777, 77.
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3.2 Les gradations de l’amour287: Allmählich wachsende Liebe (Marivaux, Gellert) Von einem Konzept der Liebe, das den Menschen von außen befällt, wie es die Pfeile des Amors sinnbildlich in unserem kulturellen Gedächtnis veranschaulichen, ist in der empfindsamen Literatur des 18. Jahrhunderts kaum die Rede. Vielmehr steht im Mittelpunkt das Bedürfnis, Schwankungen der Empfindungen, Verlaufsformen der anwachsenden und abnehmenden Liebe darstellbar und kommunizierbar zu machen. Und so verwundert es kaum, dass sich seit den 1730er Jahren das Konzept der Gradation als Darstellungsmittel solcher Seelenschwankungen verbreitet. Michel Delon hat dies für Claude Prosper Jolyot Crébillon (genannt Crébillon fils) gezeigt, der als einer der ersten das Konzept der fein nuancierten gradations anwendet, um in seinem roman-mémoires Les Égarements du cœur et de l’esprit (1736) die Idee wachsender Liebe zum Ausdruck zu bringen.288 Dies geschieht ab dem Moment, in welchem der Protagonist und Erzähler M. de Meilcour durch die erfahrene Mme de Lursay in die Welten der Liebe eingeführt wird: Elle ajouta à cela mille choses finement pensées, et me fit enfin entrevoir de quelle nécessité étaient les gradations. Ce mot, et l’idée qu’il renfermait, m’étaient totalement inconnus. Je pris la liberté de le dire à Madame de Lursay, qui, en souriant de ma simplicité, voulut bien prendre la peine de m’instruire. Je mettais chaque précepte en pratique à mesure qu’elle me le donnait, et l’étude importante des gradations aurait pu nous mener fort loin, si nous n’eussions entendu dans l’antichambre un bruit qui nous força à l’interrompre.289
Statt eines coup de foudre, einer „amour violent“, die plötzlich, „tout d’un coup“ entspringt, ist hier eine Verlaufsform beschrieben, bei der die Liebe nach dem Prinzip des „naître par degrés“ erweckt wird.290 Die Gradation wird einerseits zum Inbegriff der Verführung, des imaginär-Sexuellen („[l]e recours au rêve pour nourrir le réel“291), andererseits und erneut aber auch zur Figur des moderaten Maß-Haltens, welches Anwendung findet, um die bienséance 287 So lautet der Titel einer Gedichtsammlung des französischen Schriftstellers Jean François de Bastide aus dem Jahr 1772: die Gradatio ist hier zur Beschreibungsfigur der (ehelichen) Liebe avanciert. 288 Michel Delon, L’idee de gradation chez Crébillon. Delon verweist jedoch darauf, dass bereits Montaigne die Vorstellung der gradation im Sinne einer gemäßigten Liebe in seinen Essais (1580) einführt. Ebd., 111. 289 Crébillon fils [Claude Prosper Jolyot Crébillon]: Les Égarements du cœur et de l’esprit, Paris: Éditions du Boucher 2002, 78. Vgl. Delon, L’idee de gradation, 105 f. 290 „Prétexte assez bien imaginé, dans le fond, pour se rendre promptement sans donner mauvaise opinion d’elle: puisqu’il n’y a point d’homme qui ne soit plus flatté d’inspirer tout d’un coup un amour violent, que de le faire naître par degrés.“ Crébillon fils, Les Égarements, 151 f. 291 Delon, L’idée de gradation, 118.
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immer zu bewahren: „[L]a gradation marque à la fois un entraînement et une résistance, une négociation entre deux désirs, un équilibre entre plaisir physique et plaisir moral.“292 Diese „politique des petits pas“293 spielt sich dabei im intimen Kreis zweier Liebender ab und wird durchbrochen, sobald die Außenwelt – hier angedeutet durch den Krach im Vorzimmer – die Intimität zerstört und den Blick auf das Seeleninnenleben gewaltvoll unterbricht.294 Gerade in der französischen Komödie des frühen 18. Jahrhunderts, welche eine Verbindung zwischen der italienischen Komödie und der galanten Literatur herstellt, eröffnen sich neue Spielräume für die Darstellung solcher schwankender sentiments und gradations. Dabei lässt sich eine Annäherung der zwei gegensätzlichen Gattungen beobachten, die durchaus in einem „Spannungsverhältnis“295 stehen: Die Inszenierung eines maßvoll galanten Verhaltens, welches nur die äußere Erscheinung im Blick hat, wird hier durch eine Ergründung des Seeleninnenlebens ergänzt. Dabei nutzt man die Freiräume der Komödie, welche traditionsgemäß mit dem Unterlaufen der höfischen Etikette spielt.296 Die „höfische Rationalität gerät bei Marivaux unter die Voraussetzungen des empfindsamen Charakters, der âme sensible, und sie wird damit komisch gebrochen.“297 Entsprechend steht auch in der Komödie Le Jeu de l’amour et du hasard von Marivaux die Darstellung einer
292 Ebd., 106. 293 Ebd. 294 Wenn das Hinführen zur Klimax einen zentralen Stellenwert in der empfindsamen Literatur des 18. Jahrhunderts einzunehmen scheint, stellt sich die Frage, was mit dem ‚Überrest‘, dem Teil, der aus dem Empfindsamkeitsdiskurs ausgeklammert wird, passiert: der unkontrollierbare Bereich sexueller Liebe, Begierde und Befriedigung. Dass nämlich die „art de jouir“, so der gleichnamige Titel einer revolutionären Schrift Julien Offray de La Mettries aus dem Jahr 1751, ebenfalls entsprechend der Einrichtung der Natur erfolgt, macht die Gradation zu einer durchaus ambivalenten Figur der Liebe – denn sie rechtfertigt letztlich zugleich das Ausleben einer in der Natur gegründeten Skala der Wollust: „La Volupté a son échelle, comme la Nature; soit qu’elle monte ou la descende, elle n’en saute pas un degré; mais parvenue au sommet, elle se change en une vraye & longue extase, espéce de catalepsie d’amour qui fuit les debauchés & n’enchaîne que les volupteux.“ Julien Offray de La Mettrie: L’art de jouir, Kythira: k. A. 1751, 51. Vgl. Delon, L’idée de gradation, 114. Ein derartig offener, freidenkerischer und die Wollust und Sexualität aufwertender Kommentar bleibt zwar eine Seltenheit im 18. Jahrhundert. Dennoch lässt sich kaum abstreiten, dass in einigen Schriften, die die Gradation als Figur anwachsender Liebe oder Rezeptionsfigur der Erregung darstellen, sich eine sexuelle Konnotation einschreibt und dessen Ausleben zumindest imaginär – seitens der Rezipienten – angelegt ist. Vgl. Epilog dieser Arbeit. 295 Rainer Warning: „Die Komödie der Empfindsamkeit. Steele – Marivaux – Lessing“, in: Eckhard Heftrich, Jean-Marie Valentin (Hg.): Gallo-Germanica: Wechselwirkungen und Parallelen deutscher und französischer Literatur (18.-20. Jahrhundert), Nancy: Pr. Univ. de Nancy 1986, 13–28; hier: 13. 296 Pierre Frantz, Sophie Marchand (Hg.): Le théâtre français du XVIIIe siècle. Histoire, textes choisis, mises en scène, Paris: Éditions L’avant-scène théâtre 2009, 197. 297 Warning, Komödie der Empfindsamkeit, 17.
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„amour naissante“298 im Zentrum, die Ver- und Entwicklungen einer entstehenden Liebe, die sich die „Gewinnung empfindsamer Identität“299 zum Ziel setzt. Empfindungen sind also gerade keine bereits bestehenden spürbaren und deutlichen Zustände. Die Dramen der Empfindsamkeit machen sich vielmehr zur Aufgabe, sie in ihrem allmählichen Entstehen und ihrer Entwicklungsfähigkeit zur Darstellung zu bringen: Es entsteht das „Drama der Seelenzergliederung“300, welche graduelle Schwankungen im Dramenverlauf zu Tage befördert. Auch wenn sich Marivaux nicht explizit des Begriffs der Gradation bedient, so verschreibt sich das Konzept der „amour naissante“ sehr deutlich ihrer Denkform, die ganz ähnlich wie bei Crébillon fils von der „Idee der Gradation“ innerhalb der Literatur zeugt. Silvia soll standesgemäß Dorante heiraten. Da sie einige Zweifel hegt, möchte sie, bevor sie sich dazu endgültig entschließt, ihren Angetrauten besser kennen lernen („examiner un peu“, I.2, 615) und so – analog zu der Verwicklung des Stücks – Dorantes Seele zergliedern bzw. „aufdröseln“ („à démêler Dorante“, I.4a, 618). Sie schlägt deshalb ihrem Vater Orgon einen Rollentausch mit ihrer Zofe Lisette vor, um zu prüfen, ob sie sich in Dorante verlieben kann. Was Silvia nicht weiß, ist, dass auch Dorante seine Rolle mit seinem Bediensteten Arlequin tauscht, mit dem Ziel „[de] saisir quelques traits du caractère de notre future et la mieux connaître“ (I.3, 617). Die Erforschung der Vorzüge der Verlobten findet somit auf beiden Seiten statt (Silvia-Dorante), symmetrisch verdoppelt durch das ‚niedrige‘ Liebespaar (Lisette-Arlequin). Die Entwicklungen der Seelenzustände werden dabei durch die Protagonisten minutiös artikuliert und vom Vater sowie Silvias Bruder Mario durchgehend beobachtet. Letztere sind Zeugen der Art und Weise sowohl wie die Paare sich untereinander „commencez à […] [s’]aimer“ (I.5b, 619) und wie Silvia „se tirera d’intrigue“ (I.3, 617); damit stehen sie ganz im Zeichen der Beobachtung einer allmählichen Ver- und Ent-wicklung. Mehr noch – Orgon und Mario werden zu den eigentlichen Regisseuren einer Art Metatheater, das zugleich einer Art Versuchsexperiment gleicht.301 298 Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux: „Le Jeu de l’amour et du Hasard“, in: Ders: Théatre complet (Bibliotheque de la Pléiade 79), hg. H. Coulet, M. Gilot, Paris: Éditions Gallimard 1993, 609–657; hier: 628. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. Vgl. zu Marivaux’ Text den von Juliane Vogel verfassten Teil des Aufsatzes: Firges/Vogel, Gradatio, 321. 299 Warning, Komödie der Empfindsamkeit, 22. 300 Peter André Alt: Tragödie der Aufklärung: Eine Einführung, Tübingen: Francke: UTB 1994, 193. Alt bezieht seine Aussage auf Lessings Miss Sara Sampson. Ich möchte zeigen, dass diese Attribuierung auf alle in diesem Kapitel behandelten Dramen zutrifft. 301 Auch Ivan Nagel hebt diesen Wesenszug der Dramen Marivaux’ hervor. Da die Stücke meistens abgelegene Häuser zum Schauplatz wählen, die eine Abgeschlossenheit von der Außenwelt garantierten, glichen sie „Versuchsanordnungen, die, vor äußeren Einflüssen geschützt, den Kräften der Wirklichkeit zu reiner, beispielhafter Erscheinung verhelfen“. Ivan Nagel:
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Eben darin liegt das jeu de hasard, das Glücksspiel des Stücks, begründet: in der Frage nämlich, ob die Versuchsanordnung tatsächlich zur Liebe führen kann und auf welchen unterschiedlichen Wegen dies bei den beiden Liebespaaren geschieht. Genussvoll betrachten Vater und Bruder das Spiel und stacheln ihre Figuren zusätzlich an: „C’est une aventure qui ne saurait manquer de nous divertir, je veux me trouver au début, et les agacer tous deux.“ (Ebd.)302 Die Gradationen der Liebe verlaufen dabei jedoch in ganz unterschiedlichen Zeitrahmen. Gleich bei seinem ersten Auftritt als Dorante fällt der Arlequin – ein relikthaftes Personal der italienischen Komödie – mit der Tür ins Haus: „[J]e viens pour épouser, et ils m’attendent pour être mariés, cela est convenu, il ne manque plus que la cérémonie, qui est une bagatelle.“ (I.VIIa, 623) Diese vorschnelle Aussage bemerkt Lisette und kommentiert: „[L]e cœur de Dorante va bien vite; tenez, actuellement je lui plais beaucoup, ce soir il m’aimera, il m’adorera demain“ (II.1, 626). Lisette schiebt dieses überschwängliche Verhalten des Arlequin-Dorante auf sein (vermeintlich) galantes Wesen und erinnert ihn daran, dass seine Liebe noch gar nicht so groß sein könne, denn sie sei doch gerade erst geboren worden: „Monsieur, c’est par galanterie que vous faites l’impatient, à peine êtes-vous arrivé! votre amour ne saurait être bien fort, ce n’est tout au plus qu’un amour naissant.“ (II.3, 628) Arlequin sieht das ganz anders: ARLEQUIN: Vous vous trompez, prodige de nos jours, un amour de votre façon ne reste pas longtemps au berceau; votre premier coup d’œil a fait naître le mien, le second lui a donné des forces et le troisième l’a rendu grand garçon; tâchons de l’établir au plus vite, ayez soin de lui puisque vous êtes sa mère. (Ebd.)
Arlequin und Lisette versuchen zwar Repräsentanten einer galanten Sprechund Verhaltensweise darzustellen, verfallen jedoch sowohl in der Wortwahl, als auch in der Art des Umgangs in eine artifizielle, übertriebene und völlig übereilte Form des Liebesbekenntnisses. Arlequin muss erst mehrmals von unterschiedlichen Figuren ermahnt werden, seine impatience zu unterdrücken, um in seiner Rolle als Dorante zu überzeugen. Dennoch kann er sein wahres Dasein als Diener nie ganz verleugnen: „Retournez-vous-en, ma fille, nous avons ordre de nous aimer avant qu’on nous marie, n’interrompez point nos fonctions.“ (II.6, 631, Hervorh. J. F.) Das ‚niedrige‘ Paar steht stellvertretend für die plötzliche Liebe „auf den ersten Blick“, der ein wahrer, tugendhafter „Nachwort“, in: Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux: Das Spiel von Liebe und Zufall. Komödie in drei Akten, übers. G. Scheffel, Stuttgart: Reclam 1992, 65–76; hier: 67. 302 Das grundsätzliche Wohlwollen des Vaters birgt dabei eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zur Gattungsbildung einer empfindsamen Komödie kommen kann: „Das zentrale Hindernis, das die Liebenden in dieser neuen Komödie zu überwinden haben, ist nicht väterliche Autorität, sondern es liegt im Bereich des sozialen Ichs der Liebenden selbst.“ Warning, Komödie der Empfindsamkeit, 17.
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Innenblick, eine allmähliche Prüfung und Bewusstmachung der Liebe, verwehrt ist. Vernunft und Liebe stehen hier in keinem Widerspruch: Da erstere scheinbar kaum vorhanden ist, steht dem sofortigen Verlieben nichts im Weg. Zugleich erscheint diese Vorführung der übereilten Staffelung wie eine Parodie der Liebesverläufe des ‚hohen‘ Paars: Denn bezüglich Silvia und Dorante berichtet Lisette dem Vater Orgon „il la regarde et soupire […] … elle rougit“ (II.1, 627). Diese unmittelbaren Körperzeichen verraten, dass die amour naissante zwischen den beiden längst ihren Lauf genommen hat und die Empfindungen den „mikrokosmisch maßlosen [Gang] der Seele“303 verfolgen. Doch stehen hier Gefühl und Vernunft im Widerstreit, so dass die stete Entwicklung der Liebe nach außen hin verhindert wird und dennoch ‚unterbewusst‘ allmählich zu wachsen beginnt. Während Dorante aufgrund der abweisenden Haltung Silvias mehr und mehr verzweifelt, befindet sich Silvia in einem zunehmend verwirrten Zustand, den Orgon und Mario noch weiter verstärken. Denn Silvia versucht sich zwar in Arlequin-Dorante zu verlieben, doch ist ihr sein Betragen völlig zuwider. Lisette rät ihrer Herrin deshalb, abzuwarten: „Vous n’avez pas eu le temps de l’examiner beaucoup. […] Donnez-vous le temps de voir ce qu’il est, voilà tout qu’on vous demande.“ (II.8, 632) Auch Orgon bittet sie: „[I]l faut, s’il vous plaît, que vous ayez celle de suspendre votre jugement sur Dorante, et de voir si l’aversion qu’on vous a donnée pour lui est légitime.“ (II.11, 638) „[A]ttends encore“ (II.11, 640) – Das Suspendieren der Zeit wird so zu einem Leitmotiv des Stücks: Während Orgon und Mario das Aufschieben aus Unterhaltungsgründen befördern, bewirkt es ironischerweise eine stete Konfrontation zwischen dem ‚echten‘ Dorante und Silvia, die die Verzweiflung auf beiden Seiten erhöht, zugleich aber eine Wendung des Dramas ermöglicht. Der zeitliche Aufschub bewirkt also, dass überhaupt ein gradationaler Verlauf der amour naissante entstehen kann und Dorante schließlich Silvia seine wahre Identität preisgibt: nur auf diese Weise kann die Maske fallen und Dorante sich als Adliger öffentlich bekennen. Bezeichnenderweise ist damit auch der Moment der Agnorisis („Ah! je vois clair dans mon cœur“, II.12, 641), der komischen Entdeckung, den Silvia erfährt, weniger als plötzlicher Einfall, als im Modus einer Verlaufsform inszeniert, der vom Dunkeln bis hin zur klaren Erkenntnis („clair“) erst einmal alle Grade durchlaufen muss. Erst jetzt, in voller Vergegenwärtigung und Klarheit über ihre Liebe, beschließt sie, den weiteren Verlauf des Stücks selbst zu dirigieren und Dorante in einer letzten Szene der graduellen Annäherung zu prüfen, ob er sie auch als Zofe lieben würde. Als er dies beweist, ist die Auflösung vollkommen: „Enfin, j’en suis venue à bout“ (III.IX, 656) beendet Silvia das Liebes-Experiment. Am Ende kommen beide Paare ans 303 Nagel, Nachwort, 69.
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Ziel, den verschiedenen Zeitverläufen der Liebe und unterschiedlichen Intensitäten der gegenseitigen Ausforschung zum Trotz. Auch in Christian Fürchtegott Gellerts Drama Die zärtlichen Schwestern304 stehen solche gestaffelten Verlaufsformen der Liebe im Zentrum. Dabei verschreibt sich schon der Titel des Stücks einem „Schlüsselwort“ der Empfindsamkeit: der Zärtlichkeit, mit Nikolaus Wegmann einem „diskursiven Ausdruck, der Gestaltung und Durchführung intensivierter zwischenmenschlicher Beziehungen und Umgangsweisen regelt.“305 So beruft sich der Begriff des Zarten, lediglich Angedeuteten, der das „gemäßigte Feuer“ umschreibt, auf eine Poetik der maßvollen Nuancierung und „Feinheit“.306 An diese regulierende Form gedämpfter Emotionen gebunden, verweist der zärtliche Diskurs auch auf eine klare räumliche Anordnung, nämlich auf eine „Zone aus Vertrautheit, Intimität und Privatheit“, innerhalb derer sich die „verdichteten zwischenmenschlichen Beziehungen“ der Figuren zu entfalten vermögen.307 Nur im vertrauten Umgang unter Mitmenschen können derartig feine Grade der Emotion überhaupt artikuliert werden, so dass die familiäre Umgebung zum prädestinierten – da nach außen hin abgeschlossenen – Ort der Darstellung gradueller Empfindungen avanciert, ähnlich wie es bereits bei Diderots Père de famille zu bemerken war: Auch dort wurde der geschlossene Raum zum notwendigen Raum.308 304 Christian Fürchtegott Gellert: „Die zärtlichen Schwestern“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Lustspiele, hg. B. Witte, Berlin: De Gruyter 1988, 195–261. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. Vgl. auch zu diesem Abschnitt den von Juliane Vogel verfassten Teil in: Firges/Vogel, Gradatio, 321, dem ich wesentliche Anregungen für dieses Unterkapitel verdanke. 305 Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, 41. 306 „Die Zärtlichkeit hingegen bedienet sich nie der Phantasie und der Sinne, den Verstand zu verwirren, sondern tritt mit demselben in ein genaues Verbündnis und theilet ihm diese abgezogene Feinheit, dieses gemässigte Feuer mit, welche ihre eine gewisse Stärke und Richtigkeit zurück geben, die sie mit den grossen Grundsätzen der Ehre, der Redlichkeit und der Tugend erfüllen.“ Christian Nicolaus Naumann, Von der Zärtlichkeit (1753), zit. n. Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, 42. Zärtlichkeit wird zudem im Sinne eines Attributs der innigen Verknüpfung verwendet, wie sie Leibniz auch in der Natur beobachtet: So findet sich im Grimm’schen Wörterbuch ein Zitat aus Leibniz’ Deutschen Schriften: „weil sie (die atome) ihrer natur nach zwar divisibiles, aber doch wegen ihrer wunderlichen z[ärtlichkeit] von uns nicht können getheilt werden“, Art. „Zärtlichkeit“, in: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 31 (= Bd. 15): Z-Zmasche, München: dtv 1999, Sp. 307–311; hier: Sp. 308. 307 Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, 41. Der Begriff der Zärtlichkeit sei zudem symptomatisch für die „Ausdifferenzierung des Empfindsamkeitsdiskurses“, der auf eine „deutliche Abgrenzung zur lebensweltlichen Alltagskommunikation wie auch zu anderen, möglicherweise konkurrierenden Diskursen“ hinweise. Ebd. 40. 308 Bezüglich Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim (1771) stellt auch Albrecht Koschorke fest, dass „[h]äuslicher Rahmen, privatisierter und intimisierter Verkehr, Mißtrauen gegenüber größeren öffentlichen Gesellschaften […] die Koordinaten für ein neues Ethos des
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Doch nicht nur die private Räumlichkeit als solche ist durch Eingrenzung gekennzeichnet, die Grenzen des Handlungsverlaufs werden ebenfalls bereits im ersten Akt abgesteckt. So ist die Verlaufsform der Empfindungen innerhalb des Stücks durch die ältere der beiden ‚zärtlichen‘ Schwestern, Lottchen, vom Anfang bis zum Ende klar vorgegeben: Julchen soll dazu gebracht werden, Herrn Damis zu heiraten. Dazu muss sie sich zunächst ihrer Liebe bewusst werden: „Sie liebt den Herrn Damis, und weiß nicht, daß sie ihn liebt. […] Wir brauchen nichts, als sie dahin zu bringen, daß sie sieht, was in ihrem Herzen vorgeht.“ (I.3–4, 203) Dabei gilt es, den „kleinen Eigensinn“ (I.1, 200), der sich in Julchen gebildet hat, nämlich die Tatsache, dass sie „keine Lust zur Heyrath“ (I.9, 212) mit Herrn Damis hat, „in eine beständige Liebe [zu] verwandeln“ (I.1, 200). Lottchen macht sich deshalb zur Aufgabe, mithilfe einer stetigen Ausfragetaktik unterschiedlicher Figuren des Stücks, Julchens Empfindungen zu „erregen“ (ebd.) und somit den Gang der Empfindungen bis zur Erkenntnis der Liebe zu führen. Es ist erneut der Versuchsaufbau einer amour naissante, bei der die Außenstehenden – samt Publikum – Zeugen einer sich vergegenwärtigenden, entstehenden Liebe werden sollen und so „nach und nach“ Julchens „ganzes Herz sehen lassen“ (I.4, 204). Erst wenn ihr Herz „in Unordnung“ gebracht ist, wird „die Liebe gegen den Herrn Damis hervorbrechen“ (ebd.), prophezeit die Schwester. Aufgabe aller Beteiligten ist damit das Hervorlocken und die Steigerung der Empfindungen bei Julchen, bis ihr die Liebe bewusst sein wird.309 Den Verlauf des Stücks treibt dabei die stetige Aktualisierung des Seelenzustands Julchens voran: Dies geschieht zunächst in Selbstbeobachtung durch einen Monolog, in welchem Julchen den Grad der in ihrer wachgerufenen Emotion zu bestimmen versucht: „Aber warum bin ich so unruhig? Ich liebe ihn ja nicht – – – Nein, ich bin ihm nur gewogen.“ (I.7, 207) Die Tatsache, dass das Herz bereits „in Unordnung“ gebracht wurde, informiert die Rezipienten zugleich über die ersten Anzeichen der amour naissante, wobei diese noch undefiniert am dunklen Grund unbewusster verwirrter Empfindungen schlummert. Die doppelten und dreifachen Gedankenstriche, die immer wieder in Julchens, aber auch in der Rede anderer Figuren auftauchen, stehen dabei sowohl für einen Moment des Innehaltens und des Ergründens der eigenen Seele, als auch für die Unartikulierbarkeit des eigentlichen Gefühlszustands. Dabei reflektiert Julchen nicht allein ihre eigenen Gemütsbewegungen, sie versucht auch die des Herrn Damis zu deuten: „Er ist ja sonst so vernünftig und so großmüthig – – – Nein, nein, er liebt mich nicht.“ (Ebd.) Die Gedankenstrich können hier auch symptomatisch für eine Geschlechterumgangs“ sind, in welchen „Körper in seelische Individualitäten verwandel[t]“ werden. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, 30. 309 Vgl. Firges/Vogel, Gradatio, 321.
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Steigerung der Empfindungen stehen: die Aposiopese, die Verstummung, verschafft Raum für ein Hervortreten des Unsagbaren, des sich intensivierenden Gefühls.310 Dieses kann offensichtlich nicht länger vermittels der (mangelhaften) Sprache ausgedrückt, sondern muss in der Einbildungskraft durch die Rezipienten verbunden und mit Sinn aufgefüllt werden, oder durch mimisch-gestische Zeichen ersetzt werden. „Wegen der Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntnis sind die großen Leidenschaften stumm, äussern sich nur durch natürlichen Ausdruck […] oder durch abgebrochene und unvollendete Sätze und unzusammenhängende Reden“311, umschreibt Johann August Eberhard diese gerade für die Literatur der 1760er bis 1780er Jahre charakteristische Dekonstruktion der dramatischen Rede: Die Bearbeitung und Zersetzung des Texts hat dabei eine gewaltvolle Zurichtung312, eine Entregelung des Satzgefüges zur Folge. Im Vergleich zur klassizistischen Tragödie sind diese Zurichtungen gewaltig: Die zunehmende Lockerung des Versmaßes von der gebundenen Rede und der daran gebundenen „Alexandrinerroutine“, die Verabschiedung formalisierter Reden und affektierter Sprache, das Lösen der Syntax und die Entschlackung von hypotaktischen Konstruktionen wird zugunsten „lose[r] Kopplungen“ durchgeführt, die „elliptische Textgebilde“ produzieren.313 Im vierten Aufritt des zweiten Aufzugs wird diese ‚Zerstörung‘ im Gespräch zwischen Damis und Julchen bis zur Unkommunizierbarkeit vorangetrieben. Jeder einzelne Gedankenstrich scheint dabei Platzhalter eines neuen Grads der intensivierten Emotion zu sein: „Wo immer man empfindsam ist, hat auch der Gedankenstrich Hochkonjunktur. Mit der Steigerung des Gefühls wird er immer zahlreicher, trennt er immer kürzere Wortfolgen, schließlich nur noch einzelne Worte: Der Gedankenstrich wird zum einzigen Satzzeichen.“314 Julchens Gemütszustand wird aber nicht nur durch Selbst-, sondern ebenso durch Fremdbeobachtungen anderer Figuren ununterbrochen aktualisiert. Wie ein Arzt versucht der Magister die Seele Julchens zu erforschen: „Was verursacht Ihre Unruhe? Ists der Affect der Liebe, oder des Abscheus? Der Furcht, oder des Verlangens? Ich wollte wünschen, daß Sie ein anschauendes Erkenntniß davon hätten.“ (I.9, 211) Der komisch wirkende schulmeisterliche Moralphilosoph möchte zunächst an die Vernunft Julchens 310 Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, 84. 311 Eberhard, Allgemeine Theorie, 91. 312 Auch hier soll der Begriff der Zurichtung den Charakter des Bearbeitens und Überschreibens, mitunter auch des gewaltvollen ‚Verletzens‘ (von Regeln, Satzkonstruktionen etc.) verdeutlichen und steht damit dem Begriff der Ausrichtung (der Bühne, des Schauspielerkörpers), der eine Öffnung und Ermöglichung gradationaler Prinzipien beschreibt, zur Seite. Vgl. Kap. II.3 in dieser Arbeit. 313 Vogel, Zurüstungen, 41. 314 Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, 84.
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appellieren, damit sie ihre Liebe zulässt. Doch diese entgegnet immer nur trotzig: „Ich will ungelehrt lieben. Ich will warten, bis mich die Liebe durch ihren Reiz bezaubern wird.“ (Ebd.) – Dem Gelehrtentum setzt Julchen also eine empirisch-sensible Ergründung der Leidenschaften entgegen. Bevor ihr diese aber gelingt, bedarf es einer ununterbrochenen Folge unterschiedlicher Selbst- und Fremdbeobachtungen durch verschiedene Figuren, wobei immer wieder Thema unter den Figuren bleibt, „wie weit“315 Julchen und Damis mit ihrer Liebe sind.316 Für die Staffelungslogik der amour naissante bedarf es so auch in den Zärtlichen Schwestern der Suspension der Zeit, bis die Liebe, die sich zunächst als stetig wachsende Unruhe äußert, in Julchens Bewusstsein treten und endgültig erkannt werden kann. In diesem Fall ist es Julchen, die um Aufschub bittet: „Ach Papa! lassen Sie mir Zeit. Ich bin heute unruhig, und in der Unruhe könnte ich mich übereilen.“ (II.1, 217)317 Während der Vater und Lottchen immer wieder auf eine schnelle Entscheidung drängen, bedarf es eines graduellen Erkenntnis- und eines „kommunikativen kulturellen Lernprozesses“318, um eine Liebe hervorzurufen, die nicht ‚gelehrt‘ vernünftig, sondern „vernunftsinnlichzärtlich“319 ist, bei der also ein „zu erstrebendes Gleichgewicht von Denken und Empfinden“320 bzw. von Vernunft und Sinnlichkeit hergestellt wird. Nur durch einen prozessualen Bildungsweg kann Julchen im dritten Aufzug schließlich am Ende aussagen: „Ja. Nunmehr weis ichs gewiß, daß ich Sie liebe“ (III.3, 243). Hier wird also deutlich, wie zentral die Expertise der feinen Stufen, die die Gradation realisieren kann, für diese Verlaufsform des Dramas ist. In Gellerts rührendem Lustspiel scheint es auch keine Alternative zu diesem Weg der Bewusstwerdung zu geben: Lottchen, die sich von Beginn an sicher ist, dass sie den ihr zugedachten Siegmund liebt, die aber mehr auf ihr Herz als auf ihren Verstand vertraut, durchläuft nicht diesen Weg und möchte stattdessen zuletzt, obwohl sie davor gewarnt wird, ihre Verlobung beschleunigen (III.10, 249). Dies endet für sie schlecht: Siegmund 315 I.10, 212; II.3, 220; II.21, 237. 316 „Ob mir Herr Damis gefällt? Vielleicht Papa. Ich weis es nicht gewiß“ (II.1, 216); „Sie liebt mich wohl, ohne es recht zu wissen“ (II.3, 221); „Sie liebt ihn noch nicht – –“ (II.12, 229); „Sie bleibt unbeweglich“ (II.15, 232); „Ich weiß nicht, wem ich glauben soll, ob dem Magister, oder Lottchen? Diese spricht, Julchen liebt den Herrn Damis, und jener spricht, nein“ (II.16, 233); „Wenn ich nur wüßte ob ich ihn etwan schon gar liebte! Nein Papa, ich liebe ihn noch nicht“ (II.21, 239). 317 Am Ende des zweiten Aktes bittet Julchen erneut ihren Vater: „Papa, ich bin unentschlossen, und ungeschickt, die Sache recht zu überlegen. Lassen Sie mir noch Zeit.“ (II.21, 239) 318 Sibylle Schönborn: „Christian Fürchtegott Gellert: Die zärtlichen Schwestern. Dramatisierung der Affekte“, in: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung, hg. H. Pörnbacher, Stuttgart: Reclam 2000, 224–248; hier: 230. 319 Ringeltaube, Von der Zärtlichkeit (1765), zit. n. Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, 43. 320 Sauder, Empfindsamkeit, 125.
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entpuppt sich als Betrüger und beschert dem Drama ein letztes tragisches Denouement. Lottchen geht ohne Partner aus, so dass sie als bemitleidenswertes Wesen übrigbleibt mit den Worten, denen gleichermaßen eine Appellfunktion an das Publikum (und an dessen Tränenproduktion) innewohnt: „Bedauern Sie mich.“ (III.20, 261)321 Dem moralischen Exempel gegenüber steht das Erfolgskonzept, die gradationale Entwicklung der Liebe, wie sie in der amour naissante vollzogen wird, die einen maßvollen, tugendhaften Verlauf der Liebe befördert, der damit vernunftmäßig kontrollierbar wird – ein Aspekt, der die Dramen Marivaux’ und Gellerts vereint: Die hier dargestellte Liebe ist keine „heroische Liebe“ der Tragödie, vielmehr lässt die Komödie „kaum die Anfänge dieser Empfindung“ zu, wie Gellert in seiner von Lessing übersetzten Abhandlung für das rührende Lustspiel (1751) schreibt: [E]s ist nicht jene lermende Liebe, welche von einer Menge von Gefahren und Lastern begleitet wird; nicht jene verzweifelnde Liebe: sondern eine angenehm unruhige Liebe, welche zwar in verschiedene Hindernisse und Beschwerlichkeiten verwickelt wird, die sie entweder vermehren oder schwächen, die aber alle glücklich überstiegen werden, und einen Ausgang gewinnen, welcher, wenn auch nicht für alle Personen des Stücks angenehm, doch dem Wunsche der Zuschauer gemäß zu seyn pflegt.322
3.3 „Langsame Martern“323: Motivische Gradation in Lessings Miss Sara Sampson Lottchens bemitleidenswertes Schicksal, welches sich etwas unvermittelt erst im letzten Akt der Zärtlichen Schwestern offenbart, ist letztlich keines, das – gattungsbedingt – im rührenden Lustspiel zu großer Entfaltung kommen kann:324 Da es um die allmählichen Wachstumsprozesse der Liebe gehen soll, 321 Auch die Darstellung als „gelehrte[s] Frauenzimmer“ (Schönborn, Gellert, 239) weist Lottchen als einen Typus Frau aus, der im 18. Jahrhundert insgesamt große Abneigung erfährt (vgl. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, 19). Ihr bedauernswertes Ende ist somit in gewisser Weise vorprogrammiert. Dass Gellerts Figuren typisierte Züge tragen, lässt sich vor allem an derartigen Determinierungen festmachen. 322 Christian Fürchtegott Gellert, Gotthold Ephraim Lessing [Übers.]: „Des Herrn Prof. Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel“, in: Ders.: Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften, hg. K. Lachmann, Bd. 4, Berlin: Voß’sche Buchhandlung 21838, 134–155; hier: 138. 323 Gotthold Ephraim Lessing: „Miss Sara Sampson. Ein Bürgerliches Trauerspiel, in fünf Aufzügen“, in: Ders.: Werke, Bd. 3: 1754–1757, hg. C. Wiedemann, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2003, 431–527; hier: 464. (II.7) Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. 324 Vgl. Schönborn, Gellert, 229.
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würde eine Gegenbewegung den Rahmen des Stücks zu sprengen drohen. Verhindert von der Achtsamkeit der anderen Figuren325 wird ein tragischer Ausgang lediglich angedeutet: Nicht etwa der Tod, sondern Lottchens Alleinsein ist ihre Bestimmung und hinterlässt an ihrer Seite eine Leerstelle, welche nur noch mit dem Bedauern und den Tränen des Publikums gefüllt werden kann. Für die Entwicklung einer drastischeren Katastrophe Lottchens bedarf es eines anderen Genres, nämlich des bürgerlichen Trauerspiels, das tugendhafte Frauen in problematische Situationen bringt, deren Schicksale aber nicht im letzten Akt, sondern im Zentrum stehen und weitaus tragischer enden, als Gellerts Lustspiel. Im Trauerspiel gilt, so ein Diktum Lessings: „Der Tod löset alle Verwirrungen am besten.“326 – Dass dieser ganz im Sinne der gradationalen Ent-wicklung steht, wird im Folgenden zu zeigen sein. Peter Michelsen hat erhellend dargestellt, dass auch in Lessings Miss Sara Sampson zahlreiche Beispiele dafür zu finden sind, wie mit großem Aufwand gradationale Emotionsverläufe vermittels der Figuren inszeniert werden: Im Zentrum der Monologe und Reden stehe nicht, die „Empfindungen und Gedanken […] als fertige, vollendete Tatsachen“ darzustellen, sondern vielmehr „das Entstehen der Empfindungen“ zu zeigen,327 so dass seelische Bewegungen erlebbar und nachvollziehbar gemacht werden. Das an den Anfang dieses Kapitels gestellte Motto, ein Zitat aus der Hamburgischen Dramaturgie, in welchem Lessing dafür plädiert, die Emotion durch „allmähliche Stufen“ zu führen, bestätigt diese Beobachtung zusätzlich. Es scheint geradezu der essentielle Wesenszug in Lessings dramaturgischer Poetik zu sein, Verlaufsformen der graduellen Steigerung und Minderung auf die Bühne zu bringen. Diese gradationale Darstellung der Seelenbewegung drückt sich in Miss Sara Sampson allerdings nicht wie im rührenden Lustspiel als ansteigende Liebe aus, sondern ist vielmehr auf der Seite der tragischen Gegenstände und verzweifelten Gemütswelt angesiedelt. Egal, ob die Hauptfiguren eher im Bereich des Lasterhaften (Marwood), der Tugend (Sara), oder in einem Bereich dazwischen anzusiedeln sind (Mellefont), sie alle zeichnen sich durch eine Gemütsdisposition aus,328 die Lessing an anderer Stelle als „innere Mischung des Guten und Bösen in dem Menschen“329 beschrieben hat und die Voraussetzung für die Einführung des ‚mittleren Charakters‘ ist. Damit wohnt jeder Figur ein immenses Skalierungspotential inne, das, je nach Situation, in die sie gebracht wird, im Zeichen der gradationalen Steigerung oder Verminderung 325 Vgl. insbesondere Gellert, Zärtliche Schwestern, 249 ff. (III.10). 326 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 130 (2. Stück). 327 Peter Michelsen: „Die Problematik der Empfindungen. Zu Lessings ‚Miß Sara Sampson‘“, in: Ders.: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, 163–220; hier: 182 f. 328 Vgl. ebd., 201. 329 Lessing, Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 646 (63. Literaturbrief).
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in die eine oder andere Richtung ausschlagen kann – auch wenn die Figuren ihrer grundsätzlichen Gemüts-Sphäre verhaftet bleiben. Wenn Lessing die Schauspielkunst gleich im Vorwort seiner Hamburgischen Dramaturgie als „transitorisch“330 bezeichnet hat, so ist das Drama Miss Sara Sampson eben um diese Inszenierung von Transitorik bemüht, was sich auf die Darstellung des Seeleninnenlebens, deren Veräußerung in Körperzeichen, die motivische Einrichtung und selbst auf die räumliche Anordnung des Stücks applizieren lässt.331 Marwood, als eine Figur mit einer „Lust an der Überschreitung“332, ist sicherlich diejenige Person, bei der die Steigerungen am Extremsten verlaufen. Da sie von Mellefont alleingelassen wurde, versucht sie mit allen Mitteln, ihren ehemaligen Geliebten zurückzugewinnen oder sich in irgendeiner Form an ihm zu rächen. Dramentechnisch stellt ihre Figur einen Kontrast zur tugendhaften Sara dar, der neuen Geliebten Mellefonts. Denn während Sara durchgehend als schwache, zärtliche und größtenteils passive Figur dargestellt wird, so ist Marwood nicht nur skrupellos, sondern zugleich aktive Meisterin der Verwandlung und Verstellung. Ihre wahre Identität und ihr Gemütszustand wird vor allem dann deutlich, wenn sie alleine ist: so im fünften Auftritt des vierten Aufzugs, wenn sie endlich „unbemerkt einmal Atem schöpfen“, „und die Muskeln des Gesichts in die ihnen jetzt natürliche Lage fahren lassen“ (IV.5, 496) kann. Gerade Diderot hatte in dieser Hinsicht auf die vorzügliche Wirkung von Monologen hingewiesen, die den Zuschauer in die „desseins secrets“ des Personals einführen können.333 In 330 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 123 (Ankündigung). 331 Das Wirtshaus, in dem sich Sara anfangs befindet, ist „kein Ausgangspunkt, sondern ein Durchgangsort, der keiner der beteiligten Personen mehr feste Raumordnungen oder Bewegungsbahnen vorschreibt. […] In den Kontext einer nun verbürgerlichten Tragödie werden die Raumteilungsbehelfe einer Theaterkultur eingebracht [dem Wandertheater, J. F.], die eben so ruhe- und ortlos wie es die Figuren in Lessings Trauerspiel sind. […] Die bürgerlichen Bühnenhandlungen spielen an Orten des unendlichen Verkehrs“. Juliane Vogel: „Raptus: Eröffnungsfiguren von Drama und Oper des 18. Jahrhunderts“, in: DVjs 83 (2009), 507–520; hier: 508 f. Vgl. auch Martin Schenkel, der das Wirtshaus als Übergangsort versteht, dem „das Moment des ‚Stationären‘ inhärent ist“, der zugleich „ex negatione de[n] idealtypischen Ort der Familie evoziert“. Ders.: Lessings Poetik des Mitleids im bürgerlichen Trauerspiel ‚Miß Sara Sampson‘: poetisch-poetologische Reflexionen. Mit Interpretationen zu Pirandello, Brecht und Handke, Bonn: Bouvier 1984, 53 f. Gerade die Unabgeschlossenheit der Orte produziert dabei wesentliche Problemkonstellationen und trägt zum tragischen Ausgang bei, beispielsweise wenn Sara Mellefont den Vergebungsbrief ihres Vaters vorliest, der nur für die beiden bestimmt ist. Marwood hört ihn mit an, woraufhin ihre Wut und Rachegelüste gesteigert werden (III.5). Marwood selbst weiß hingegen, dass sie ihre Verstellungskünste nur in ihrem eigenen geschlossenen Zimmer und nur gegenüber ihrer vertrauten Zofe Hannah Preis geben darf (II.1). 332 Heeg, Phantasma, 88. 333 „Pourqoui certains monologues ont-ils de si grands effets? C’est qu’ils m’instruisent des desseins secrets du personnage; et que cette confidence me saisit à l’instant de crainte ou d’espérance.“ Diderot, De la poésie dramatique, 1308.
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Dialogen hingegen vermag Marwood es, ihre Gegenüber auf eine solche Weise zu manipulieren, dass diese ihr gesamtes Seeleninnenleben sukzessive preisgeben. Mellefont gibt sich als „Meineidiger, ein Verführer, ein Räuber, ein Mörder“ (II.4, 458) zu erkennen, als Marwood ihn zunächst aus eigener Überzeugungskraft und dann mithilfe der gemeinsamen Tochter Arabella Stück für Stück zu erweichen sucht. Schrittweise beeinflusst sie auch Sara, die zunächst keine Schuld bei Mellefont sucht, dann aber immer mehr verzweifelt, als sie diese zunehmend erkennt. Erst vergibt Sara zwar Mellefont seine Lasterhaftigkeit sowie die Tatsache, dass er Geheimnisse vor ihr hat. Aber schließlich, als Marwood, die sich als eine Verwandte Mellefonts ausgegeben hat, ihre wahre Identität preisgibt, reagiert sie heftig, wenn sie „voller Erschrecken aufspringt und sich zitternd zurückzieht“ (IV.9, 509). Als Ausdruck der höchsten emotionalen Steigerung fällt sie ‚offstage‘ in Ohnmacht, wie man im fünften Aufzug nachträglich erfährt. Dass Sara nicht auf der Bühne ohnmächtig wird, zeugt von einer Vermeidungsstrategie des abrupten „Abbruchs“ eines kollabierenden Leibs, der den Gesetzen der Kontinuität und Allmählichkeit widersprechen würde. Gradationen und Degradationen verlaufen im Stück auf unterschiedlichen Ebenen, auf emotionaler, aber auch auf motivischer Ebene. Bezeichnenderweise antizipiert Marwood auf dem Höhepunkt ihrer Wut, nämlich kurz bevor sie Mellefont mit einem Dolch erstechen will, den Ausgang des Stücks im Sinne einer stetigen motivischen Verminderung334, wenn sie ausruft: Sieh in mir eine neue Medea! […] Oder wenn du noch eine grausamere Mutter weißt, so sieh sie gedoppelt in mir! Gift und Dolch sollen mich rächen. Doch nein, Gift und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge! Sie würden dein und mein Kind zu bald töten. Ich will es nicht gestorben; ich will es sterben sehen! Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat sich verstellen, verzerren und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen, und das kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird, als ein empfindungsloses Aas. Ich, ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süße die Rache sei! (II.8, 464)
Hier zeigt sich Marwood einmal mehr als diejenige Figur, bei der, in den Worten des Vaters Sampson, „sich die Grenzen der menschlichen Bosheit noch viel weiter erstrecken“ (III.1, 468) als es bei den anderen Figuren der Fall ist. In ihrer Vorstellung, ihr eigenes Kind grausam sterben zu sehen, um 334 Der Bezug zu Lessings poetologischer Äußerung im Laokoon, in der er kein „fertig vollendetes, sondern […] ein werdendes Schild“ fordert, ist offensichtlich, wenn auch als brutales Extrem inszeniert. Lessing, Laokoon, 135.
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sich am Vater des Kindes zu rächen, bestimmt sie dabei denjenigen Tod, den Sara selbst am Ende sterben wird: einen sukzessiv „verschwindenden“ Tod – ein Tod im Zeichen der steten Abnahme. Zugleich stellt die Schilderung der Todesart, ein imaginäres „Folter-Crescendo“335, wie es immer wieder in Form von entfesselten „theatralen Outriertheiten“336 im bürgerlichen Trauerspiel zu finden ist, ein Kontrastprogramm zu dem empfindsamen Bühnenpersonal und deren seelendramatischen Äußerungen dar. Doch auch wenn die outrierten Affektentladungen zwar eine dynamisiertere, extremere Skala der Emotionen darstellen, folgen sie ebenso einer gradationalen Logik. Gleich, in welcher Gemütsdisposition die Figuren stecken, sie zeugen alle davon, dass das innere Geschehen zur eigentlichen Handlung des Stücks geworden ist: „Die Kernzone des Tragischen hat sich bei Lessing ins Innere der Protagonisten verlagert. Das äußere Geschehen des Dramas vollzieht nur nach, was sich im Reich der Leidenschaften und Empfindungen bereits zugetragen hat“337 – mitunter auch, was sich im Bereich des Imaginären zugetragen hat, wie sowohl Marwoods Folterszenario als auch Saras Traum im ersten Aufzug veranschaulichen, in welchem sie den Ausgang des Stücks bereits durchlebt. Diese Konzentration auf eine Entfaltung der inneren Mannigfaltigkeit statt der Darstellung zahlreicher Vorfälle und verwirrender Nebenhandlungen wird zur zentralen Forderung der dramatischen Einrichtung, indem man empfiehlt, „den Mangel des mannigfaltigen, in Ansehung des Aeusserlichen der Handlung, durch desto grössere Mannigfaltigkeit und durch die Wichtigkeit dessen, was innerlich in den Gemüthern vorgeht, reichlich zu ersetzen.“338 Wie stark die inneren Seelenvorgänge mit dem Handlungsverlauf korrelieren, lässt sich insbesondere in der Figur der Sara verdeutlichen, die motivische und emotionale Gradation vereint. Saras Konstitution und ihr Gemütszustand sind von Beginn an durch Unruhe (I.6, 439), schreckliche Alpträume, die ihr Unheil bereits voraussagen (I.4, 438), und Trauer geprägt. Bei ihrem ersten Auftritt wird sie als „schwach“ beschrieben (I.7, 440), so dass sie sich, kaum dass sie auf die Bühne tritt, schon auf das bereitgestellte Sessel-Requisit setzen muss, das auch hier zum Gradmesser ihrer Konstitution wird. (Vgl. Kap. III.1) Sara ist als Gegenstück zu Marwood Inbegriff der femme fragile. Die Verzögerung der Hochzeit, die Mellefont zu verschulden 335 Port, Pathosformeln, 142. Port bezieht sich bei diesem Ausdruck auf eine vergleichbare Stelle in Goethes Clavigo, wenn Beaumarchais sich in kannibalischen Fantasien verliert. Des Weiteren führt er Klingers Medea als Beispiel für solche „jähen extremisierten Pathoskurven“ an. (150) 336 Ebd. 337 Alt, Tragödie der Aufklärung, 209. 338 Johann Georg Sulzer: „Drama. Dramatische Dichtkunst“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 274–278; hier: 275b.
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hat, verschlimmert ihren Zustand noch. Das Suspendieren der Zeit dient hier nicht der Liebesentwicklung, es schwächt die Protagonistin vielmehr zunehmends und treibt den tragischen Verlauf sukzessive voran. Lediglich der Versöhnungsbrief des Vaters kann Sara für kurze Zeit beruhigen, wie ihr Dienstmädchen Betty bemerkt: „je mehr ich Sie ansehe Miß […] – je mehr finde ich Sie verändert. Es ist etwas ruhiges, etwas zufriednes in ihren Blicken.“ (III.6, 484) Für kurze Zeit macht sich die Hoffnung auf ein rührendes Ende breit.339 Doch dieser „Strahl von Glückseligkeit“ wird bald, wie Sara im ersten Auftritt des vierten Aufzugs schon ahnt, „in die dickste Finsternis zerfließe[n]“ (IV.1, 486), was in dem Moment geschieht, als Sara auf Marwood trifft. Die „langsamen Martern“, die Sara nun durchsteht, sind nicht mehr nur verbaler Art, wie sie die Worte Marwoods am Ende des vierten Aufzugs auslösten. Vielmehr wird ihr Tod durch eine stetige Abnahme der Kräfte zur Darstellung gebracht, die der Einsatz des Gifts einleitet, welches Marwood ihr jenseits des Bühnengeschehens zwischen viertem und fünftem Aufzug verabreicht hat. Beginnend mit dem Nebentext, der sie erneut „schwach in einem Lehnstuhle“ (V.1, 510) lokalisiert, beobachten die unterschiedlichen Figuren und das Publikum das stete Vergehen Saras: Zunächst spürt sie noch „Zuckungen“ und „Stiche“ (V.1, 511), dann, in einer lehrbuchartigen mimischen Gradation, nimmt Mellefont den „plötzliche[n] Übergang von Bewunderung zum Schrecken“ (V.1, 515) bei ihr wahr.340 Sara spürt zunehmend die „Annäherungen des Todes“ (V.8, 519): Im neunten Auftritt kann sie nicht einmal mehr aufstehen, als sie ihren Vater begrüßen möchte. Sie „fällt aus Schwachheit in den Lehnstuhl zurück“ (V.9, 520), so dass Sampson feststellen muss: „Ich sehe du wirst von Augenblick zu Augenblick schwächer“ (V.9, 522). Kaum bringt Sara noch Kräfte auf, den Abschiedsbrief Marwoods zu zerreißen (V.10, 523), um schließlich in einer durch Pausen zersetzten Abschlussrede ihr Ende anzukündigen: „Der Augenblick ist da! Mellefont – mein Vater –“ (V.10, 525). Selbst den Tod erfasst Mellefont ein letztes Mal nicht etwa im Modus des grammatischen Perfekts, sondern in seiner Kontinuität – er sieht sie nicht gestorben, sondern sterben, wie Marwood zuvor antizipiert – wenn er zu guter Letzt ruft: „Sie stirbt! ‑“ (Ebd.) Wesentliches Accessoire der Verminderung ist Marwoods Einsatz des Gifts. Die Vergiftung ermöglicht Lessing eine gänzlich neue, nämlich grada339 Auch die von Waitwell zu Beginn des ersten Akts in Aussicht gestellte Wiedervereinigung, dass Sampson Sara wieder in seine Arme schließen wird, erweckt zumindest einen Anflug der Hoffnung auf ein solch rührendes Ende, welches man aus den Schlussszenen der Lustspiele und drames bourgeois kennt (I.1). 340 Vgl. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 188 (16. Stück), wo es heißt, der Schauspieler bzw. die Schauspielerin solle den „Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu machen wissen, daß der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird.“
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tionale Form des Bühnentods.341 Wenn Orsina in Lessings Emilia Galotti ausruft „Gift ist nur für uns Weiber; nicht für Männer“342 und Odoardo im gleichen Zug einen Dolch in die Hand drückt – die gleiche Konstellation der Mordinstrumene also wie im Falle Saras und Mellefonts –, so scheint die Todesform zudem eine spezifisch weibliche und an das tugendhafte und unschuldige Wesen der Figur gebundene Form des Sterbens darzustellen. Die Unschuld, die durch die Figur der Sara personifiziert wird, „suggeriert die nahtlose Verbindung der präskriptiven Vernunft mit dem materiellen Leib, bruchlose Einswerdung von moralischem Anspruch und sinnlicher Verkörperung. Indem sie [die Gestalt der Sara, J. F.] den Riß zwischen der Artikulation des Leibes und seiner Bedeutung als Zeichen einzuschmelzen vorgibt, übertrifft sie die geläufigen allegorischen ‚Gestalten der Unschuld‘ an unmittelbarer Wirkung.“343 Die tugendhafte Sara löst damit die ästhetische Forderung der Schauspielkunst schlechthin ein: Sie ist selbst natürliches Zeichen, insofern alle ihre Regungen als unmittelbare Ausdruckszeichen des inneren Seelenlebens erscheinen.344 Dieses natürliche Zeichen durch einen plötzlichen Tod von der Bühne zu bringen, käme einer Annullierung der Ästhetik des ‚Natürlichen‘ gleich. Ein natürliches Zeichen kann sich also nur auf ‚natürliche‘ Weise allmählich, in fein nuancierter Gradation aus dem Bühnengeschehen verflüchtigen. Lessings Vorstellung einer „transitorischen“ Schauspielkunst, die eine „illusorischen Stetigkeit“ fordert, mit der die Leidenschaften im Drama „wach-
341 Lessing ist in Deutschland wohl einer der ersten Autoren, der das Gift auf die Bühne bringt. Mögliches Vorbild ist neben antiken Stoffen sicherlich Shakespeare, der in einigen seiner Dramen das Gift als „vergleichsweise bequemes und bühnenmäßiges Mittel zur Herbeiführung der Katastrophe, zum gewaltsamen Schlußeffekt“ anbrachte (Erich Harnack: Das Gift in der dramatischen Dichtung und in der antiken Literatur. Ein Beitrag zur Geschichte der Giftkunde, Leipzig: Vogel 1908, 8). Zumeist dient das Gift dort jedoch der schnellen, plötzlichen und effektvollen Herbeiführung des Tods. Im 17. Jahrhundert wird hingegen in anderem Kontext ein medizinischer Diskurs um eine langsame Wirkung von Giftstoffen geführt, wie unter anderem in Friedrich Schillers Räubern thematisiert wird, wenn Franz von Moor feststellt, man habe mit der „Giftmischerey […] die Natur durch Experimente gezwungen, ihre Schranken anzugeben“ (Schiller, Die Räuber [Schauspiel], II.1, 39), da man nun angeblich einen Tod bereits wochenlang im Voraus planen konnte. Für diese Tötungsform durch das sogenannte „poudre de succession“ wurde die Marquise de Brinviller zu einer der bekanntesten Giftmörderinnen überhaupt. Vgl. Harnack, Gift, 57. Der Einsatz von Gift war somit zunehmend mit der Idee eines allmählichen Dahinsiechens verbunden, was ihn für den motivischen Einsatz im Drama interessant machte. 342 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Hist.-krit. Ausgabe, hg. E. M. Bauer, Tübingen: Niemeyer 2004, 63 (IV.7). 343 Heeg, Phantasma, 37. 344 Ebd.
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sen“ sollen, so dass das Publikum „sympathisieren muß“345, die sich ganz explizit auf eine allmähliche Entwicklungslogik beruft und die auf dem „natürlichsten, ordentlichsten Verlauf“346 jeden Stücks gründet, verdeutlicht: Die Poetik Lessings ist in weiten Zügen eine Poetik der Gradatio. Dies kann anhand zahlreicher weiterer Beispiele in der Hamburgischen Dramaturgie belegt werden.347 Auf implizite oder explizite Weise behandelt Lessing die Gradation als Strukturprinzip und organisierendes Element der Schauspielkunst, was sowohl die Einrichtung der Bühne und des Schauspielerkörpers als auch die Aus- und Zurichtung des dramatischen Texts betrifft. Das Organisationsprinzip des letzteren wird besonders anschaulich im 32. Stück erläutert. Darin beschreibt Lessing eine „magere Kürze der Fabel“, die jedoch mithilfe der gradationalen Einrichtung des Texts zu verschwinden scheint.348 Lessing stellt eine Anlage der genetischen Entwicklung des dezimierten Stoffs vor, die allein durch ihre spezifische Anordnung, nämlich durch das graduelle Wachstum der „allmählichen Stufen“ der Leidenschaften, eine umso größere Wirkung hervorbringen kann.349 Die Beschaffenheit des Texts im Sinne der Kürze wird insbesondere in Abgrenzung zu einem Gegenbeispiel bedeutsam, welches Lessing im Anschluss gibt: Abfällig äußert er sich zum Prinzip der Accumulatio, bei der der Dichter „nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure, Dinge genug häufen zu können glaubt“ und er „seine Zuflucht zu den außerordentlichsten, gräßlichsten Unglücksfällen und Freveltaten nehmen zu müssen vermeinet.“350 Es reiche also nicht aus, „Lücken […] mit Dingen auszufüllen“, woraufhin der Dichter-Kompilator sein Sammelsurium „nur immer mit Häcksel und Mehl zusammenknete[t]“ und „seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen“ klebt.351 Entgegen dieses Verfahrens der Copia, das einer Poetik der Fülle zuarbeitet, bestimmt Lessing die Aufgabe des Dichters so, 345 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 125 (1. Stück). 346 Ebd., 249. 347 Hervorgehoben seien hier das 1. Stück, 4. Stück, 5. Stück, 14. Stück, 16. Stück, 21. Stück, 26./27. Stück, 30. Stück, 32. Stück, 49. Stück, 70. Stück, 75. Stück, 79. Stück und 95. Stück. In den meisten Fällen stellt Lessing dabei einen expliziten Bezug zur natürlichen Einrichtung des Dramas im Sinne des loi de la continuité her, dessen fundamentale Basis der unbedingte innige Zusammenhang der Dinge in ihrer Mannigfaltigkeit bildet. 348 „[E]s bekümmert ihn [den Dichter, J. F.] nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfällen fünf Akte füllen wolle; ihm ist nur bange, daß fünf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergrößert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet.“ Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 249 (32. Stück). 349 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 249 (32. Stück). 350 Ebd., 249 f. 351 Ebd., 250.
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III Gradatio der Schauspielkunst daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft, bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; daß uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurückbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreißt, und voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahin reißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben. – 352
Diese eindrucksvolle Passage macht deutlich, dass auch das Wirkungsprinzip des Mitleids in seiner strukturellen Einrichtung der Ordnungsfigur der Gradation unterliegt, denn es kann nicht anders hervorgerufen werden, als durch eine allmähliche graduelle Steigerung der Emotionen. Damit eine „innige“ Mitleidsempfindung entstehen kann, muss die Möglichkeit zur MitEmpfindung durch das Drama selbst kreiert werden. Ihr Hervorrufen hat hingegen zur Prämisse, dass man eine Nähe, eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem dramatischen Gegenstand herstellen kann. Lessing plädiert dabei auch für eine Mitleidswirkung bei den bösen Charakteren, denn „auch der Bösewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen moralischen Unvollkommenheiten Vollkommenheiten genug behält, […] um bei dieser etwas Mitleidähnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden.“353 Wenn hingegen ein „abscheulicher Kerl“ auf die Bühne tritt, „ein so eingefleischter Teufel, in den wir so völlig keinen einzigen ähnlichen Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube, wir könnten ihn vor unsern Augen den Martern der Hölle übergeben sehen, ohne das geringste für ihn zu empfinden“354, bleibt auch das Mitleid aus. Diese Voraussetzung zur Entstehung von Mitleid hat aber auch notwendige Folgen für die Disposition des Mitleids selbst.355 Denn um überhaupt eine konzentrierte einheitliche Gradation der Empfindungen hervorrufen zu können, bedarf es einer Vereinheitlichung der Wirkungsziele. So setzt der Lessing’sche Mitleidsbegriff – im Gegensatz zu dem von Mendelssohn und Nicolai ausgehenden „Pluralismus der Wirkungsbegriffe“356, welcher eine 352 Ebd. 353 Ebd., 425 (76. Stück). 354 Ebd., 436. 355 Da der Mitleids-Diskurs um Lessing und insbesondere im Kontext der Briefwechsels mit Nicolai und Mendelssohn, aber auch in Bezug auf Rousseau stark beforscht ist, sollen im Folgenden nur diejenigen Aspekte im Vordergrund stehen, die in direktem Zusammenhang mit einer gradationalen Einrichtung des Mitleids stehen. Für einen Überblick über das Konzept des Mitleids siehe stellvertretend: Alt, Tragödie der Aufklärung, 175–190; Michelsen, Der unruhige Bürger, 107–136; Schenkel, Lessings Poetik des Mitleids; Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch: Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München: Beck 1980, 34–45. 356 Alt, Tragödie der Aufklärung, 175.
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Differenz von Schrecken, Mitleid und Bewunderung betont – eine Verähnlichung voraus, eine Nivellierung der Unterschiede in den Wirkungszielen, die sich nunmehr nicht anders als gradweise unterscheiden lassen. Dabei steht grundsätzlich für Lessing fest: „[I]ch finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden.“357 Diese Verähnlichung besteht einerseits in der Identifizierung von Mitleid und Moral, welche die aristotelische Forderung der Katharsis, das Primat der Reinigung durch die Affekte als Wirkungsziel obsolet werden lässt, da „der Akt der sittlichen Besserung zum konstitutiven Element der dramatischen Affekterregung“358 geworden ist. Das bedeutet also, dass die emotionale Gradation automatisch zugleich eine gradationale Besserung der Tugend und Sittlichkeit vollzieht. Andererseits besteht die Verähnlichung in der Auflösung von Schrecken und Bewunderung als dem Mitleid untergeordnete, graduelle Vorstufen. „Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunderung. Die Leiter aber heißt: Mitleid; und Schrecken und Bewunderung sind nichts als die ersten Sprossen, der Anfang und das Ende des Mitleids.“359 Die einzelnen Wirkungsziele werden so zu graduellen Stufen eines einzigen gradational eingerichteten Mitleidsverlaufs, der sich im Seeleninneren der „mitleidigste[n]“ und damit „beste[n]“ Menschen abspielt360, einem Menschen, dem eine „[v] erfeinerte Sensibilität und moralisches Urteilsvermögen“361 gleichermaßen innewohnen.362 Im Kontext der Mitleidsdramaturgie kreiert Lessing so ein Kontinuum des Mitleids. Die Gradation kann in ihrer ordnenden Funktion hier die plötzlichen und unerwarteten Affekte auf eine Weise integrieren und domestizieren, dass sie kalkulierbar werden, insofern sie alle dem verähnlichten Mitleidsbegriff untergeordnet werden. Die graduelle Einrichtung des Mitleids, welches nunmehr sukzessiv im Stück hervorgerufen werden soll, spielt damit einem philanthropischen Menschenbild zu, welchem ein großes Potential an Einfühlung, Sensibilität und Mit-Menschlichkeit zugesprochen wird. Dieses kann bis auf seine höchste Stufe getrieben werden und den Menschen ein tugendhaftes moralisches Dasein einüben lassen sowie „unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern“363.
357 Brief Lessing an Friedrich Nicolai im Nov. 1756 (Nr. 103), in: Ders.: Werke, Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743–1770, hg. H. Kiesel, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, 116–122; hier: 118. 358 Alt, Tragödie der Aufklärung, 180. 359 Lessing an Nicolai, Brief 103, 119. 360 Ebd., 120. 361 Alt, Tragödie der Aufklärung, 184. 362 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 417 (47. Stück). 363 Lessing an Nicolai, Brief 103, 120.
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3.4 „Verhungerung“: Tod im Zeichen der Verminderung (Gerstenberg) Ähnlich wie in Lessings Sara Sampson setzt auch Gerstenberg in seiner Tragödie Ugolino364 unterschiedliche Mittel ein, um Tod im Sinne einer allmählichen Degradation auf die Bühne zu bringen. Dabei kommt nicht allein Gift zum Einsatz. Vielmehr steht das ganze Drama im Zeichen eines beständigen Abnehmens im wörtlichen Sinne: „Der Gang und das Ziel meines Dramas war eine Verhungerung“365, schreibt Gerstenberg in einem Brief im Mai/Juni 1768 an Lessing. Das motivische Hervorrufen der Verminderung bietet auf der anderen Seite erneut Anlass dazu, das stete Anwachsen und eine Intensivierung der Empfindungen in graduellen Verlaufsformen zur Darstellung zu bringen. Die Handlung des Dramas zeichnet sich zunächst durch ihre starke Reduktion aus: Ugolino Gherardesca ist aufgrund einer politischen Intrige gemeinsam mit seinen drei Söhnen Francesco, Anselmo und Gaddo in einen Hungerturm eingesperrt worden. Abgesehen vom Fluchtversuch des ältesten Sohns Francesco und einem entsandten Brief durch Ugolino, zwei Anläufe, die einen kurzen Hoffnungsschimmer in das Stück bringen, die Situation letztlich aber nur noch verschlimmern, dreht sich das gesamte Drama anschließend um die Steigerung des Hungers (Gaddo), um den zunehmenden Wahnsinn (Anselmo), die Wirkung des Gifts (Francesco) und die immer größer werdende Verzweiflung (Ugolino). Außer bei Ugolino enden alle Steigerungsverläufe im Tod. „Ihre Personen leiden alle.“366 – So kommentiert Lessing Gerstenbergs Stück nicht ohne kritischen Unterton. Der Schauplatz des Hungerturms kann dabei erneut als ein Ort gedeutet werden, der prädestiniert ist, um derartige Empfindungsgradationen anschaulich zu machen: Er steht symbolisch für eine unmittelbare Eingrenzung und Ausweglosigkeit und wird zur unbedingten Voraussetzung für die zunehmende Intensität des Stücks, die keinerlei Rettung verspricht. Lediglich das kleine Loch, das Francesco entdeckt, durch das ein Lichtstrahl hereinfällt, bedeutet einen sinnbildlichen wie örtlich begründeten Hoffnungsschimmer;
364 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Ugolino. Eine Tragödie in fünf Aufzügen. Mit einem Anhang und einer Auswahl aus den theoretischen Schriften, hg. C. Siegrist, Stuttgart: Reclam 2011. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. 365 Brief Gerstenberg an Lessing, Kopenhagen Mai/Juni 1768 (Nr. 417), in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743–1770, hg. H. Kiesel, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, 515–519; hier: 516. 366 Brief Lessing an Gerstenberg vom 25. 02. 1768 (Nr. 410), in: ebd., 503–507; hier: 505.
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doch auch dieser wird bereits zu Beginn des dritten Aufzugs – im wahrsten Sinne des Wortes – zu Grabe getragen, worauf zurückzukommen sein wird.367 Gerstenberg hat so in jeglicher Hinsicht ein Drama der geschlossenen Form konzipiert: Nicht nur die Einheit des Orts („ein schwach erleuchtetes Zimmer im Turm“), auch die der Zeit („eine stürmische Nacht“), ganz zu schweigen von der Handlung („Gang einer Verhungerung“) wird doktringetreu eingehalten.368 Die liaison vollzieht sich ebenso überdeutlich, denn der jüngste Sohn Gaddo verlässt zu keinem Zeitpunkt die Bühne, so dass sich dessen Verminderung immer mitverfolgen lässt. Drei Handlungsstränge des Stücks sind in Bezug auf die gradationale Einrichtung des Dramas besonders bedeutsam und werden deshalb im Zentrum dieser Untersuchung stehen: Zunächst das Motiv der „Verhungerung“, das vor allem durch die Figur Gaddo repräsentiert wird, dann der Gifttod sowohl von Ugolinos Frau Gianetta als auch von Francesco und schließlich Ugolinos zunehmende Verzweiflung, die zunächst zum Mord an seinem eigenen Sohn Anselmo führt und die am Ende in eine Art Erlösungsdrama überführt wird. Herder hebt in seiner Rezension den langsamen Tod Gaddos als besonders gelungen hervor: „Insonderheit hungert der arme kleine Gaddo so recht von innen aus mit allen Symptomen der fühlenden zarten Menschheit in einem Kinde: wir sehen ihn Schritt vor Schritt, mit seinen Erholungen und Rückfällen dem Tode näher, bis er erblasset.“369 Gleich die ersten Sätze des Dramas gelten dem Jüngsten der Söhne, wenn Anselmo seinen Vater
367 Der Raum wird geradezu überbetont als ein geschlossener inszeniert: Francesco konnte bei seiner missglückten Flucht anhören, dass der Turm verschlossen und der Schlüssel versenkt werden solle. Als die Figuren im vierten Aufzug zunächst Schritte vernehmen, dann man die Turmtüre „stark zuschlagen“ hört und Anselmo mehr als deutlich bestätigt: „Sie wird verschlossen“, führt dies auf eine noch höhere Stufe der Verzweiflung, ausgedrückt durch ein „sehr langes und schreckenvolles Schweigen“ unter den Figuren (IV, 45). 368 Von einer sturen Regelkonformität auszugehen, scheint hingegen wenig angebracht: Christoph Siegrist spricht von „Relikte[n] der klassizistischen Dramatik“, welche ein „Ungenügen an dem immerhin kühnen Vorstoß“ produzierten; in: Ders.: „Nachwort“, in: Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Ugolino. Eine Tragödie in fünf Aufzügen. Mit einem Anhang und einer Auswahl aus den theoretischen Schriften, hg. Ders., Stuttgart: Reclam 2011, 143–157; hier: 150. Vielmehr ist eine Parallele zu der Einrichtung der Bühne bei Diderot naheliegend, der doch eine unbedingte Konzentration auf der Bühne gefordert hatte („Point de distraction, point de supposition qui fasse dans mon âme un commencement d’impression autre que celle que le poète a intérêt d’y exciter“), die durch einen auf diese Weise abgedichteten Raum bestmöglich realisiert werden konnte. Diderot, De la poésie dramatique, 1334. Eine Parallele zu Diderot lässt sich auch insofern knüpfen, als, ähnlich wie in dessen Konzeption der steten Dynamisierung („on doit plus parler qu’agir dans les premiers actes, et plus agir que parler dans les derniers“, ebd., 1288), auch im Ugolino eine Zunahme und Intensivierung des mimischen und gestischen Spiels im Laufe des Dramas zu beobachten ist. 369 Herder, Ugolino Rezension, 21.
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anfleht: „Hilf dem armen Gaddo, mein Vater! Sein Anblick dringt mir ans Herz. […] Ich kann sein eingefallnes bleiches Gesicht nicht ohne Schmerz ansehen.“ (I, 7) Die stete Verminderung Gaddos ist im Nebentext mitangelegt, wird aber auch von den anderen Figuren wahrgenommen, wenn es im zweiten Aufzug bereits heißt, dass Gaddo „mit schwacher Stimme“ spricht und Anselmo bemerkt: „Sieh, Gaddo ist kränker.“ (II, 29) Während Gaddos Flehen nach Essen im dritten Aufzug noch eindringlicher wird („Gib mir Speise, Francesco, oder ich sterbe!“, III, 32), zeigen sich erste Anzeichen des Todes im vierten Aufzug, wenn Gaddo sagt, er sei gelähmt (IV, 45). Von nun an kann sich Gaddo kaum noch bewegen, er ist so schwach, dass er getragen werden muss (IV, 52). Sein Tod wird als graduelle Abnahme seiner Lebenskräfte inszeniert, indem er im fünften Aufzug nicht mehr als kriechen kann, bis er „kraftlos zurücksinkt“ und nur noch „mit gebrochener Stimme“ zu sprechen vermag (V, 61). Schließlich gibt er seine letzten Worte, kontinuierlich vermindert, „mit schwächrer Stimme“ (V, 62) von sich und stirbt in Ugolinos Armen, der nunmehr die Körperzeichen des sterbenden Kindes beschreibt: „Nun hast du’s! Dies Zucken kenn ich. Fahre wohl, schöner Knabe, fahr wohl!“ (V, 63) Die „Verhungerung“ Gaddos wird dabei nicht nur durch seine sichtbare Schwachheit ausgedrückt, seine Stimme ist zudem von einem fortwährenden Diminuendo gekennzeichnet. Auch der doppelte Gifttod Francescos und Gianettas wird im Zeichen des allmählichen Sterbens inszeniert. Zu Beginn des dritten Aufzugs werden dabei gleich zwei Hoffnungsträger des Stücks, in der Person Francescos, der dem Turm zu entfliehen versucht und in der Form eines Briefs, den Ugolino seiner Frau durch Mithilfe eines Wächters schicken will, auf einen Schlag vernichtet: Francesco wird von Ugolinos Widersacher gefangen und der Brief entpuppt sich aufgrund eines verräterischen Wächters zum Mordinstrument an Gianetta. So werden gleich zu Anfang des Aufzugs zwei Unglück verheißende Särge auf die Bühne gestellt. In einem der Särge befindet sich der noch lebendige Francesco, der über den Tod seiner Mutter rückblickend berichtet. Der Brief, den Ugolino geschrieben hatte, war abgefangen worden und Ruggieri hatte ihn mit Gift getränkt. Francesco beschreibt die fortschreitende Vergiftung Gianettas, in welcher Tinte, Gift und der Fluss der Empfindungen verschmelzen und sich in ihrem Körper schleichend ausbreiten,370 womit das erste Familienmitglied der Familie Gherardesca einen langsamen Tod gestorben ist. Die Funktion allmählicher Todesformen ana370 „Sie trank die Züge deiner werten Hand in sich – ah Getäuschte! Sie drückte den geliebten, verrätrischen, vergifteten Brief an ihr Herz – […] Ungefürchtet wirkte die verborgne Natter fort: in jede Nerve, in jede kleinste Blutader, in jeden liebevollesten ihrer Blicke sandte Ruggieri seinen Tod, und mit dem trübentfliehenden Tage, früher als der Abend sich neigte, eilte ihr Geist zum Himmel auf.“ III, 36.
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lysiert Ugolino daraufhin geradezu metatheatralisch. Der Plan zum Giftmord durch Ruggieri liest sich dabei wie eine Poetik des Dramas selbst, in der unterschiedliche gradationale Todesmöglichkeiten durchgespielt werden: Ugolino (mit starken Schritten auf und ab gehend.) Es gibt mancherlei Todesarten, mein Sohn. Kein Geschöpf ist sinnreicher, Todesarten zu erfinden, als der Mensch. Ich will dir nur einen nennen. Der Erzfeind hätte seine Freude daran finden können, mir ein Glied nach dem andern absägen zu lassen, erst die Gelenke an den Zehen, dann die Füße, dann die Beine, dann die Schenkel; so stünde ich Torso da: und nun setzte man mir das zackichte Eisen an die Finger, die Hände, die Arme, eins nach dem andern, mit Ruhezeiten, daß der Zeitvertreib nicht zu kurz dauerte; ganz zuletzt zerstieße man mir, nicht aus Mitleid! das wunde Herz, bis ich in meinem Blute erläge, das mit viel Schweiß herabränne, aber nicht mit Tränen! Wie könnt’ ich weinen? Man sollte denken, dieser Tod sei schon unterhaltend genug: allein der Erzfeind hat’s besser überlegt. Hier würde ich an meinem eignen Fleische leiden: eine Kleinigkeit! Ich soll in meinen Kindern langsam sterben, eine volle Weide an euerer Marter nehmen und dann fallen! Mein Weib mußte erst fallen, durch die Worte meiner Liebe fallen, in diesem Sarge hergeschickt werden, du ihr Vorläufer, dem Tode geopfert, aber später zum Grabe reif! O es ist der Hölle so würdig! (III, 38; Hervorh. J. F.)
Diese Passage führt die Gradationen von Leid und Schrecken sehr klar vor Augen. Es wird deutlich, dass den „Martern“ auch hier eine allmähliche Zeitökonomie unterliegt. Ugolino reflektiert die grausame Psychologie hinter der sadistischen Todesabsicht Ruggieris, nämlich die Tatsache, dass es nicht allein darum gehe, Ugolino zu quälen, sondern vielmehr das Leid dadurch noch zu steigern, dass er miterleben muss, wie seine ganze Familie stirbt. Die Suspension der Zeit führt zur Steigerung des Grauens. Die gradationale Todesabsicht wird derart zur strukturellen Grundierung des Dramas: Die sukzessive Verhungerung und allmähliche Verminderung der Figuren führen zugleich zu einer Steigerung der Verzweiflung und des Leids Ugolinos. Die hier ausgeführte Zergliederung der Todesarten stellt eine misanthrope Schilderung des Menschen vor, der eben nicht aus Mitleid handelt, sondern sich am „langsamen Sterben“ seines Feindes ergötzt. Doch es bleibt nicht bei einem Giftmord: Wie Ugolino in seiner Reflexion bereits andeutet, muss auch Francesco an Gift sterben. Dieser gibt auch gleich den Zeitrahmen seines Sterbeakts an: „Innerhalb einer Stunde“ (III, 39), regelpoetisch konform, wird er sterben, wobei er jetzt schon merkt, wie das Gift in ihm wirkt: „Mein Leben neigt sich; ich fühl es zu sehr.“ (III, 41) Im Vergleich zu Sara Sampsons Sterbeszene ist Francescos Dahinsterben verhältnismäßig wenig graduiert. Es lassen sich nur noch vereinzelte Schritte der Wirkung des Gifts ausmachen, und die Tatsache, dass der jüngere Bruder Anselmo dem sich windenden Opfer im letzten Akt beim Sterben beiwoh-
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nen muss, führt zu einer „entsetzliche[n], ja fast abscheuliche[n]“371 Übersteigerung der dargestellten Emotionen und damit zum Umschlagpunkt in Ekel, wie Herder beklagt. Diese Gefahr der Übersteigerung zeigt sich an mehreren Stellen, beispielsweise wenn Anselmo im Anflug des Wahnsinns seinen kleinen kranken Bruder Gaddo bei der Kehle fasst (IV, 50), und er im fünften Aufzug in kannibalischem Akt vor lauter Hunger seine eigene Mutter „zernagen“ möchte (V, 59). Die größte Übersteigerung findet am Ende statt, wenn Ugolino selbst den Verstand verliert und er, nachdem Francesco und Gaddo gestorben sind, seinen eigenen Sohn Anselmo erschlägt. Dies ist nun endgültig zu viel des Grauens für den Kritiker Herder: „Ob der Ugolino, der seinen Sohn Anselmo selbst, und das in Raserey, zum Todesopfer in seinem Blute macht – ob der Vater Mitleid erregen könnte? – – Ob nicht der Schauder über ihn sich zu oft mit Abscheu, dem bittersten Abscheu mischte?“372 Zwar sei es nicht falsch, Grausamkeit zu inszenieren, aber es „muß doch immer Sympathie, Mitgefühl der erste Zweck des Drama bleiben, und wo auch das Entsetzen, der Schauder nicht ein sympathetischer Schauder, nicht ein theilnehmendes Entsetzen, sondern widerlicher Abscheu ist, da würke er nicht. – – “373 Herder verurteilt so die Mordszene Ugolinos als „unnatürlich“ und „wider alle guten Gesetze der rasenden Logick.“374 Zwar besitzen die Szenen im Ugolino allesamt graduelle Steigerungsverläufe, die einer Poetik der Gradatio Rechnung tragen375 und rufen damit „Rührung“376 theoretisch hervor, doch liegt die Kritik, die von Lessing gleichermaßen geteilt wird, vor allem im Vorwurf einer maßlosen Steigerung, bei der das Mitleid „zur Last“ wird und „zu einer gänzlich schmerzhaften Empfindung“ degeneriert.377 Die Gradation wirkt hier nicht länger als Regulativ, sondern als Möglichkeit zur Grenzüberschreitung, die „so gegen die Sympathie des Zuschauers“378 läuft und „Abscheu“ verspüren lässt. Vor allem der Schluss des Dramas stößt bei Lessing auf Kritik: Nachdem nur mehr der halbtote Anselmo übriggeblieben ist und „in seinem Blute“ am Boden liegt und „jammert“ (V, 64), bleibt Ugolino als letzte handlungsfähige Figur nur noch, ein paar Griffe auf der Laute zu spielen – eine typische Geste der Zurückgezogenheit, der Einsamkeit und der empfindsamen Seelenschau 371 Herder, Ugolino Rezension, 11. 372 Ebd., 14. 373 Ebd. 374 Ebd., 15. 375 So bestätigt Herder, „dass Schauder und Abscheu große Längen hinab sich meiner ganzen Natur bemeistert, und Hauptempfindungen dieses Stücks sind, die verrauschen, und immer von neuem, und immer fürchterlicher durch unsere Glieder zurück fahren“, ebd., 9. 376 Lessing an Gerstenberg, Brief 410, 504. 377 Ebd. 378 Herder, Ugolino Rezension, 15 f.
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in der Literatur der Zeit. Im Anschluss an diese „wird eine sanfte traurige Musik gehört“ (V, 64), welche örtlich nicht näher lokalisierbar ist. Für die letzten Minuten des Aufzugs übernimmt damit die Musik selbst den Handlungsverlauf, sie wirkt – ganz melodramatisch (vgl. Kap. VI.3) – als Handlungsträger an Stelle der Sprache: Statt der Worte „fährt“ die Musik „fort“ (ebd.) und fungiert damit als emotionales Substitut innerhalb einer Handlung, deren Grausamkeit kaum noch mit sprachlichen Mitteln ausdrückbar ist.379 Die Musik soll dabei eine Agnorisis auslösen, denn erst jetzt erkennt Ugolino seine grausame Tat, dass er Anselmo erschlagen hat. Noch einmal wird die Musik leiser, bei den letzten Worten Anselmos, der eine Strophe aus Klopstocks Erlösungsepos Messias (1773) anzitiert: „Ist am Ziel denn nicht Vollendung?/ Nicht im Tale des Tods Wonnegesang?“ (V, 65) Durch das ‚Ausblenden‘ der Musik erhalten die letzten Worte des nun sterbenden Sohns einen hervorgehobenen, entrückten Charakter, wobei zu bedenken ist, dass Klopstocks Werk in zeitgenössischer Wahrnehmung mit einer hohen Musikalität verbunden war.380 Der letzte daraufhin folgende Monolog Ugolinos besteht nur noch aus Gedankenfetzen, aus Schuldfragen, Wiederholungen, Klagen, Hoffnung auf eine Erlösung, bis Ugolino schließlich nur noch „mit erstickter Stimme“ (V, 66) spricht und weint. Erneut findet sich hier das Phänomen einer gänzlich entregelten, zersetzten Sprache, die nur mithilfe anderer Medien noch Sinn bzw. Emotion transportieren kann. So findet die Musik ihren Einsatz, transportiert die traurige Stimmung weiter und steigert sie, indem sie „klagender“ wird (ebd.). Ugolino wird durch seine „unmännliche Träne“ bewegt, sich in „edler Stellung“ zu posieren (ebd.). Parallel dazu – oder vielmehr diese Pose anleitend – verändert sich die Musik nochmals und schließt „erhaben“ (ebd.). Geradezu scheint es, als ob die Musik selbst Ugolino ein letztes Mal Mut fassen lässt.381 Er stirbt so im Glauben christlicher Erlösung und Vollendung und sieht diesem Ziel schließlich entschlossen entgegen, wenn er ausruft: „Ganz nahe bin ich am Ziel!“ (ebd.) – womit er eine letzte Annäherungs-
379 Was sich nicht zuletzt auch in Herders Rezension selbst ausdrückt, insofern der Text durch zahlreiche Gedankenstriche zersetzt ist. Diese Beobachtung verdanke ich Simone Warta. 380 Wie bereits teilweise zitiert (Kap. II.3) meint Herder: „Als Musikalische Sprache haben Klopstocks Gedichte dünkt mich eine Musik, die wenig Deutsche haben“, sie sei „wahre fortgehende Melodie der Worte zur Empfindung zur Bewegung des Verses.“ Herder, Brief an Christoph Friedrich Nicolai (2. Juli 1772), 187. Poesie und Musik übertragen laut dieser Auffassung Emotionen mit ähnlichen Mitteln. 381 Dass diese verstärkende, anleitende Rolle eine zentrale Aufgabe der Musik im Gegensatz zur Dichtkunst ist, hatte bereits Batteux bestimmt: Während man in der Poesie solche Mittel einsetzt, welche „die Handlungen zubereiten und hervorbringen“, so sei die Musik neben der Tanzkunst zuständig, sich des Stoffs „anzunehmen, zu unterstützen, herbey zu leiten und zu verbinden.“ Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen übersetzt von Joh. Ad. Schlegel, Leipzig: Weidmann 21759, 219 f.
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bewegung beschreibt. Die Musik selbst vollzieht eine nuancierte Emotionswandlung und ‑steigerung und ist damit der Seele näher, als es Worte sind. Gerade der Übergang der Musik von „klagend“ bis hin zum Erhabenen lässt sich kaum anders realisieren als durch einen gradationalen Übergang mit den musikalischen Mitteln einer Crescendo-Technik, welche im 18. Jahrhundert zu einem präferierten musikalischen Ausdrucksmittel der Seelendynamik avanciert.382 Zugleich ist die Musik heilig und erlösend, ein „Wonnegesang“, der den Menschen das „Ziel“ erahnen lässt und eine Annäherung daran verspricht.383 In jeglicher Hinsicht ist dieser Schluss damit im Zeichen der Gradation, der annähernden, graduellen (Über-)Steigerung angelegt, die in unterschiedlichen Medien das Drama beschließt. Am Ende kann Gerstenbergs Ugolino als die dramatische Entfaltung der Lessing’schen Laokoon-Konstellation beschrieben werden:384 Die motivische und strukturelle Darstellung von Leid, welches ein Vater und seine Söhne durchleben, findet hier seine gradationale Ausgestaltung im Medium des Dramas – ein Projekt, welches unter den zeitgenössischen Rezipienten hingegen nicht die erhoffte Resonanz erntete. Denn bemerkenswert ist, dass Herder und Lessing sich in der Beurteilung des Ugolino sehr einig sind: Für beide steht fest, dass eine solche grausame „Aggradation bis zu einem Knoten hin“, ein solches „Hinunterwallen“385 schrecklicher Empfindungen das Publikum in seinem Leid überfordert und das Mitleid zur „Last“ werden lässt, so dass Herder nichts bleibt als zu resümieren: „welch ein entsetzliches, ja fast abscheuliches Gemählde!“386 Herder rezensiert nach Selbstaussage dabei nicht als Kunstrichter – sondern: „ich folge zuerst dem Strome meiner Empfindung.“387 Aber gerade weil Herders Hauptaugenmerk nicht etwa auf der Einhaltung oder Nichteinhaltung von vorgeschriebenen Gesetzen einer doctrine liegt,388 sondern er sich auf die Darstellung der Empfindungen und ihrer Wirkung auf ihn als Rezipienten konzentriert, auf die „Verflößung der
382 Diese musikalische Dynamik, deren Aufkommen in Deutschland Mitte des 18. Jahrhunderts anzusiedeln ist, ist auf engste Weise an die Vorstellung emotionaler Steigerung und Minderung gebunden und steht in direkter Verwandtschaft zur rhetorischen Gradatio, wie in Kapitel IV.2 in dieser Arbeit ausführlich gezeigt wird. 383 So heißt es in Klopstocks von Anselmo zitierten 20. Gesang des Messias weiter: „Als sie es sangen, erblickten sie fern bei der glänzenden Aehre/ Seelen und Cherubim, welche die Seelen herauf zum Versöhner Führten. […] Es ist vollendet!“ Friedrich Gottlieb Klopstock: „Messias“, in: Klopstocks Sämmtliche Werke in einem Bande, Leipzig: Göschen 1840, 1–436; hier: 407 (20. Gesang, V. 144–147). 384 Diese treffende Beobachtung stammt von Juliane Vogel. 385 Vgl. Herder, Ugolino Rezension, 10. 386 Ebd., 11. 387 Ebd., 8. 388 „Wir kritisieren nicht aus Hedelin oder Racine, sondern aus unserm Gefühl.“ Ebd., 12.
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Leidenschaft“389, kritisiert auch er eine mangelnde Gradation, eine nicht angemessene Nuancierung. Denn nach Herders Empfinden liegt es an der zu schwach ausgeprägten Hoffnung, die das Stück mangelhaft macht: [I]st […] die Farbe dieser Empfindung nicht viel zu wenig angedeutet, als daß sie neuer Ton, und Knote des Stücks seyn sollte? – Und da dies nicht ist, sind nicht die andern Empfindungen viel zu einartig und monotonisch, als daß sie mit ihren kleinen Schattierungen Handlung ins Stück bringen konnten? […] Wäre die Hoffnung der Familie etwas angedeuteter geworden: um so empfindbarer wäre nachher der Contrast des gehäuften Elendes.390
Weil die Hoffnung zu Beginn kaum wahrnehmbar sei, trete sie im Ugolino nur in Form plötzlicher Einbrüche auf, weshalb Herder Francesco als „tollkühne[n] Thurmspringer“ verurteilt, der „der ganze Deus ex machina“ sei.391 Schrecken oder Furcht sollten aber eben nicht unvermittelt in das Stück einbrechen, sie müssten entwickelt werden. Nur so könne das Mitleid, für Lessing das höchste und einzige Wirkungsziel der Tragödie, hervorgerufen werden. Dass die Gradation der Handlung, die Leid und Verzweiflung ins Höchste steigert und die Gradation der Musik, die ein rettendes, erlösendes Element in das Stück bringen soll, also letztlich konfligieren, da die grausame Steigerung sich unerwartet und abrupt in ein erhabenes, hoffnungsvolles Gefühl transformiert, welches ansonsten im Stück kaum wahrnehmbar ist, darin mag ein Grund liegen, weshalb auch Lessing der Schluss des Stücks missfiel. Er forderte Gerstenberg so auf, das Stück mit einem Selbstmord zu endigen, um „endlich […] seiner [Ugolinos, J. F.] und meiner Marter auf die kürzeste und beste Art ein Ende zu machen“392. Gerstenberg hingegen verteidigte sein Ende gegen einen leibhaftig dargestellten Abbruch und argumentierte dabei ganz im Sinne einer gradationalen Ausrichtung des Dramas, im Sinne der Darstellung einer kontinuierlichen, grenzenlosen und versinnlichten Steigerungsidee: „[O]b die Vorsehung den unglücklichen Menschen retten, ob er seinem Charakter gemäß ausdulden wird, das ist der Knoten: diesen Knoten durch Selbstmord zerhauen, was kann leichter sein? aber wie unzusammenhangend mit der vorgesetzten Absicht wäre es gewesen?“393 Nicht den Knoten zerhauen, sondern ihn allmählich auflösen, ist die Intention Gerstenbergs. Um dies umzusetzen, bedient er sich einer „Art abgebrochner Phantasie, die von der Action des Schauspielers oder der Mitempfindung des 389 390 391 392 393
Ebd., 18. Ebd., 12. Ebd., 13. Lessing an Gerstenberg, Brief 410, 507. Gerstenberg an Lessing, Brief 417, 516.
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Lesers notwendig ergänzt werden muß.“394 Die Nivellierung des Bruchs, der durch diese Kehrtwende entsteht, müssen also schließlich die Einbildungsund sympathetischen Kräfte der Rezipienten erbringen, die den Verlauf zu seiner Vollendung bringen sollen. Hierbei unterstützen insbesondere der erweiterte Medienrahmen, mitunter der Einsatz musikalischer ‚seelennaher‘ Dynamiken diese Versinnlichungs- und Verbindungsleistungen. Gerstenberg, der selbst maßgeblich an der Einführung des Melodrams in Deutschland beteiligt war, weist mit seiner Tragödie auf die vielseitigen Einsatzbereiche gradationaler Steigerungs- und Verminderungstechniken voraus, die seit den 1770er Jahren zu „Zurüstungen im Medienverbund“395 führen und als Folge neuartige mediale Verbindungen und Mischformen unter den Gattungen hervorbringen, wie sie im nächsten Teil (Kap. IV) der Arbeit im Zentrum stehen. Die Reaktionen Herders und Lessings hingegen sind als Rezeptionsweisen beispielhaft für eine Diskrepanz zwischen der Anlage des Stückes und seiner Wirkung.
3.5 Kontrast oder Gradatio? Diskrepanzen zwischen Theorie, Text und Bühne (Schiller) Die Poetik der Gradatio, welche sich in den hier exemplarisch angeführten Dramen des 18. Jahrhunderts ausmachen lässt, scheint auf unterschiedlichen Ebenen den dramatischen Text zu strukturieren und zu organisieren. Als emotionale Steigerungs- und Minderungsfigur ist sie in einem Theater, welches die Darstellung von Empfindungen und Rührung der Rezipienten in den Mittelpunkt stellt, zentrales Gestaltungsprinzip solcher Verlaufsformen. Sie bildet ein Element, das bemerkenswerterweise unabhängig von den sich ausdifferenzierenden Gattungen festzustellen ist. Gerade in wirkungsästhetischer Hinsicht scheinen derartige Staffelungsvorgänge der langsamen ‚Erwärmung‘, Absorption und damit Involvierung des Publikums zuzuarbeiten. Auch die Motivik, die im Zeichen der Verminderung und Steigerung steht, dient einem solchen Zweck des intensivierenden Wachstums von Anteilnahme und Mitleid, wie sich insbesondere anhand von Lessings Ausführungen zeigen lässt. Auch Schiller führt, Lessing rezipierend, als eine unter vier Bedingungen für die Erweckung von Mitleid in seiner Schrift Über die tragische Kunst (1792) die Gradation an: Während der schriftstellerische Anfänger „den ganzen 394 Ebd., 517. In einer späteren Fassung von 1815 nimmt er hingegen schließlich die Kritik Lessings auf und lässt das Stück mit Ugolino enden, der mit einem Dolch in der Hand im Begriff ist, sich zu töten. 395 Vgl. Vogel, Zurüstungen.
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Donnerstrahl des Schreckens und der Furcht auf einmal und furchtlos in die Gemüter schleudert“, so würde der geübte Künstler „Schritt vor Schritt durch lauter kleine Schläge zum Ziel“ führen, „und eben dadurch die Seele ganz [durchdringen], dass er sie nur allmählich und gradweise rührte.“396 Wenn die Rezipienten hingegen nicht innerhalb dieser gradationalen Entwicklung zum zunehmenden Mitleid geführt würden, käme es zu einem „[A]usschweifen“397 des Affekts, der eine Art Übersteuerung der Rührung zur Folge hat, welche in Entsetzen und Abscheu umschlägt, wie dies im Ugolino nach Aussage Herders und Lessings geschehen ist. Da man nämlich Rührung „nur dann über eigenes Unglück empfinden [kann], wenn der Schmerz über dasselbe gemäßigt genug ist, um der Lust Raum zu lassen“398, läuft das Mitleid immer auch Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten, so dass die empfundene Last größer ist als die Lust. Mit dem vorgestellten Rührungskonzept, welches niemals abrupt, sondern immer „gradweise“, allmählich ausgelöst werden muss und in der Form einer „Gradation der Eindrücke“399 verläuft, ist dabei auch Lessings Konzeption des Mitleids mitangesprochen, auf das sich Schiller hier in weiten Teilen beruft.400 Auf einen ersten Blick scheinen Schillers Ausführungen zum Mitleid also einer Gradationslogik zu entsprechen, wenn er diese ganz explizit zu einem zentralen Prinzip der Wirkungsästhetik erhebt: Es kommt also darauf an, daß wir die vorgestellte Handlung in ihrem ganzen Zusammenhang verfolgen, daß wir sie aus der Seele ihres Urhebers durch eine natürliche Gradation unter Mitwirkung äußrer Umstände hervorfließen sehen. So entsteht und wächst und vollendet sich vor unsern Augen die Neugier des Oedipus, die Eifersucht des Othello. So kann auch allein der große Abstand ausgefüllt werden, […] der sich zwischen der ruhigen Gemütsstimmung des Lesers am Anfang und der heftigen Aufregung der Empfindungen am Ende der Handlung findet.401
396 Schiller, Über die tragische Kunst, 269, Hinzufüg. J. F. 397 Ebd., 262. 398 Friedrich Schiller: „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“, in: Ders.: Theoretische Schriften, hg. R.-P. Janz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2008, 234– 250; hier: 239. 399 Schiller, Über die tragische Kunst, 268. 400 Dies soll nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Schiller sich in vielen Aspekten seiner Auffassung der Wirkungsästhetik von Lessing unterscheidet: Schiller folgt zwar zunächst Lessing in seinem designierten Wirkungsziel der Tragödie, sie solle primär Mitleid hervorrufen, doch bewirkt das Mitleid laut Schiller zugleich einen Angriff auf die sittliche Vernunft, die im gleichen Atemzug ein Überwinden des Mitleids nötig macht. Vgl. Stellenkommentar, in: Friedrich Schiller: Theoretische Schriften, hg. R.-P. Janz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2008, 1298. Dagegen besteht für Lessing eine Identität von Mitleid und Moral, wie bereits dargestellt. 401 Schiller, Über die tragische Kunst, 271.
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Die Schrift Über die tragische Kunst, ist mit zehnjährigem Abstand zu seinen ersten Dramen Die Räuber (1781), Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783), Kabale und Liebe (1784) und Don Karlos (1787) entstanden und könnte damit ein rückblickendes Fazit setzen, das an Lessings Mitleidstheorie anschließt.402 Dies ist sicherlich nicht ohne Weiteres anzunehmen, denn gerade in dieser Schaffensphase deutet sich eine immer stärkere Ausrichtung an eine Poetik des Erhabenen an, die durch die intensive Kant-Lektüre Schillers bestärkt wurde und eine zunehmende Überwindung des Mitleids einleitet. Und umso mehr nicht, als Schiller in seiner bereits 1782 entstandenen Stellungnahme Über das gegenwärtige teutsche Theater sich gerade über die zweifelhafte (moralische) Wirkung des Theaters ausgelassen hatte, die durch die Lessing’schen Gradationstechniken hervorgerufen worden waren. So übt Schiller Kritik an Lessings Emilia, da diese „so verführerisch jammert, so nachlässig schön dahinsinkt, so voll Delikatesse und Grazie ausröchelt“, dass sie mit ihren „sterbenden Reizen die wollüstige Lunte“ entfache, den Menschen also zur Überschreitung statt zur Moral erziehen würde.403 Auch sei es wohl kaum der Fall, dass weniger Frauen verführt würden, nur weil Sara Sampson einen Gifttod sterben musste. Mitleid und Moral sind für Schiller also nicht identisch wie für Lessing, denn der Eindruck, den die herkömmlichen Dramen auf das Publikum machten, sei so seicht, dass schon innerhalb kürzester Zeit „ein lärmendes Allegro die leichte Rührung hinweg[schwemmte]“.404 Es ist nicht abzustreiten, dass Schiller sich mit der Frage einer Textanlage und Wirkungsästhetik im Sinne der Gradation befasst hat, denn, wie er in derselben Schrift bemerkt, über den „Ausdruck der Empfindung herrscht eben die schnelle, und ewigbestimmte Sukzession als von Wetterleuchten zu Donnerschlag“405, welche kaum anders zu umschreiben ist, als mit dem Begriff des graduellen Anstiegs: Theatralische Darstellung und ihre Wirkungsweise einerseits sowie Gradation andererseits sind auch für Schiller unmittelbar miteinander verknüpfte Prinzipien der Schauspielkunst. Bemerkenswert ist hingegen die Veränderung der Bildlichkeit des Ausdrucks 402 Der Text geht auf eine Vorlesung über die Theorie der Tragödie zurück, die Schiller im Sommer 1790 in Jena gehalten hatte. Die Tatsache, dass in diesem Aufsatz nicht der Begriff des Erhabenen, sondern der des Mitleids im Zentrum steht, zeugt von einer Widersprüchlichkeit, die sich in Schillers Auseinandersetzung mit der Wirkungsästhetik äußert. Die Frage, ob Mitleid das primäre Wirkungsziel oder vielmehr eine Zwischenstufe zum Erhabenen darstellt, lässt sich anhand des Texts nicht beantworten. Zwar erhält sich in der Schrift eine „Grundtendenz“ zur „Überwindung des Mitleids“ und zum Abändern der „Substanz Lessings […] zugunsten des Erhabenen“ (Stellenkommentar, in: Schiller, Theoretische Schriften, 1298 f.), dennoch ist bemerkenswert, dass Schiller zu diesem Zeitpunkt zumindest versucht, Lessings Mitleidstheorie zu integrieren. 403 Schiller, Über das gegenwärtige teutsche Theater, 169. 404 Ebd. 405 Ebd., 172.
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der Empfindung: Wenn die Gemütsbewegungen bis hin zum Donnerschlag gesteigert werden, so scheinen hier nicht mehr Maßfiguren vorgestellt zu werden, sondern vielmehr gesteigerte Figuren des Effekts, die als Unwetter tönen. Nicht zuletzt hatten die Stücke der ‚Stürmer und Dränger‘, die in den 1770er Jahren entstanden waren und für die Ugolino als Vorreiter gilt, die Grenzen des Ausdrucks deutlich erweitert und bis in seine Extreme ausgereizt. Betrachtet man also die genannten Schiller’schen Erstlingswerke unter dem Blickwinkel einer gradationalen Bauweise und einer allmählichen Entwicklung im Drama, so wie sie bei Lessing gegeben ist, scheint man vergeblich nach der Umsetzung einer solchen Anlage zu suchen. Nicht nur ist auffällig, wie bereits von Peter Michelsen bemerkt wurde, dass sich in den ersten Jahren von Schillers schriftstellerischer Tätigkeit eine Diskrepanz zwischen theoretischer Auseinandersetzung und theatralischer Praxis bemerkbar macht.406 Es scheint mehr noch ein Konfliktpotential zwischen Theorie, Dramentext und Aufführungspraxis bei Schiller zu geben, welches im Folgenden anhand des Dramenerstlings Die Räuber erörtert werden soll. Denn unbestreitbar setzt sich das Drama Die Räuber von einer empfindsamen Dramaturgie ab. Es ist vielmehr gekennzeichnet durch drastische Gemütswechsel, heftige Gestik, die Grenzen des Anstands übertretende Rede und führt die emotionale Maßlosigkeit, die bei Ugolino kritisiert worden war, in ein neues Extrem über. Egal, ob man den Dramenaufbau betrachtet, die Einrichtung der Charaktere oder die Verläufe der Emotionen, die die Anlage der Körperzeichen ausdrücken: Das Schiller’sche Erstlingswerk scheint einer gradationalen Einrichtung gänzlich zu widersprechen. Die am häufigsten vorkommenden Gesten der Figuren sind „aufspringend“407, „auf den Boden stampfend“408, „auf und abgehen“409, die zumeist mit Attributen wie „heftig“410, „wild“411 umschrieben werden und dabei nicht nur von einer extremen Dynamik zeugen, sondern ebenso von einem sehr hohen Lautstärkepegel, wenn die Figuren „schreyen“412 und das „Schiessen und Lermen“413 zu einer dauerhaften Geräuschkulisse des Dramas wird. Ganz zu schweigen von den außergewöhnlichen Gesten: „gelassen an die Wand werfen“ (25), „gräß406 Vgl. Michelsen, Bruch mit der Vaterwelt, 11. 407 Schiller, Die Räuber (Schauspiel), S. 22, 25, 30, 32, 36, 45, 48, 56, 60, 67, 82, 101, 106, 124, 130; außerdem „auffahrend“, S. 25, 34, 39, 46, 99. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. 408 Ebd., S. 21, 31, 37, 41, 49, 55, 86. 409 Ebd., S. 30, 33, 65, 83, 86, 90, 99, 122. 410 Ebd., S. 30, 34, 48, 86, 93, 98, 113, 127. 411 Ebd., S. 41, 47, 73, 77, 79, 101, 123. 412 Ebd., S. 32, 48, 52, 69, 77, 110 (hier sind es strenggenommen Eulen, die schreien), 111, 125. 413 Ebd., S. 32, 60, 73, 106, 125, 126.
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lich schreyend, sich die Haare ausraufend“, „schreyend, sein Gesicht zerfleischend“(48), „wider die Wand“ bzw. „Eiche rennen“ (99, 131), die durch zahlreiche implizite Regieanweisungen ergänzt werden – Schiller schließt hier deutlich an die von den Stürmern und Drängern erprobten krassen schauspielerischen Ausbrüche an, die unter anderem von einer verstärkten Shakespeare-Rezeption herrührten. In horizontaler Auf- und Abbewegung, sowie in vertikaler Spannungslage zwischen Aufschrecken und Bestürzung werden damit sämtliche Extremlagen der Figuren durchgespielt, Bewegungen vektoral ausgeschöpft und in abruptem Wechsel beständig alterniert. Es ist nicht ersichtlich, wie aufgrund einer solchen Anlage beim Rezipienten – in zeitgenössischer Logik – eine graduell steigende Anteilnahme hervorgerufen werden könnte.414 Auch die Konzeption der Charaktere ist nur noch im Ansatz vergleichbar mit den empfindsamen Figuren des bürgerlichen Trauerspiels. Karl Moor, der sich in studentischer Freiheitsliebe einer Gruppe von Libertinern angeschlossen hat und damit seinen tugendhaften Werdegang vorübergehend an den Nagel hängt, will seinen Vater in einem Brief um Vergebung für diese Verfehlung bitten – doch hatte sein Bruder Franz den Brief unterdrückt und gefälscht. Während Franz also von Beginn des ersten Akts an damit beschäftigt ist, intrigierend seinen Bruder als Verbrecher darzustellen, ihn zu usurpieren und sich an dessen Verlobten Amalia zu vergreifen, schließt sich Karl, im Irrglauben, sein Vater wolle ihm nicht vergeben, der Räubergruppe an und schwört ihr ewige Treue – eine Konstellation, aus der die vollständige Handlung sich entwickelt und letztlich den tragischen Ausgang bereits im ersten Akt besiegelt. Das Geschwisterpaar steht dabei für zwei isolierte Handlungsstränge, die erst im vierten Akt zusammenfinden, wobei sich bis zum Schluss die beiden Antagonisten niemals begegnen. Dies baut einen hohen Grad an Kontrastpotential auf, was sich sowohl innerhalb der Struktur des „Doppeldramas“ manifestiert, als auch in der Gegenüberstellung der Figuren.415 So steht der zielstrebige, von Beginn an auf ein Telos ausgerichtete durchweg durch Lasterhaftigkeit geprägte Handlungsstrang des ‚bösen‘, ehrgeizigen, geld- und rachsüchtigen Bruders Franz der Handlung des ver414 Peter Michelsen führt die extremen Gesten zudem auf den Einfluss der zeitgenössischen Opernpraxis zurück. So weist er nach, dass zwischen dieser und Schillers Räubern einige Parallelen bestehen: „die ausladenden Gebärden, die Outriertheit der Affekte, die Kontrastierung der Typisches, nicht Individuelles akzentuierenden Charaktere sowie die chorische Behandlung von Massen“ (Michelsen, Bruch mit der Vaterwelt, 56). Die vorherrschenden Opernund Ballettkompositionen wurden zu Schillers Schulzeit an der Karlsschule zur Aufführung gebracht. Vgl. auch meinen Aufsatz „Schiller und das Crescendo. Eine musikalische Dynamik als Figur der dramatischen Steigerung in den Räubern“, in: Variations. Literaturzeitschrift der Universität Zürich 20/2012: Musik und Literatur, hg. F. Bissig, G. Escher, F. StruzekKrähenbühl, Bern: Peter Lang 2012, 93–108. 415 Vgl. Herbert Stubenrauch: „Einführung“, in: Friedrich Schiller: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 3: Die Räuber, hg. Ders., Weimar: Böhlaus Nachf. 1953, VII–XXXI; hier: XIII f.
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irrten, freiheitsliebenden, aber eigentlich ‚guten‘ Karls gegenüber – der nur ‚für einen guten Zweck‘ raubt und mordet; beide Stränge lassen sich bis zum Schluss nicht zusammenführen. In seiner zeitgleich zu den Räubern entstandenen Dissertation Über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) hatte Schiller noch, ein Gedicht Albrecht von Hallers zitierend, vom Menschen als das „unseelige Mittelding von Vieh und Engel“416 gesprochen. Schillers Menschenverständnis basiert damit ganz dem anthropologischen Diskurswissen entsprechend, welches sich auch in der Dramentheorie niederschlägt, auf dem „Fundamentalgesetz der gemischten Naturen.“417 Instinkte könnten dabei auch extreme Taten des Menschen bewirken, „worüber die Menschlichkeit schauert, er wird wider Willen Verräter und Mörder, er wird Kannibal“418 – woraufhin Schiller die kannibalistische Szene aus Gerstenbergs Ugolino zitiert. Wenn aber „[j]ede Überspannung von Geistestätigkeit […] jederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zu folge“419 hat, so werden auch die Überreaktionen der Figuren in den Räubern erklärbar. Zumindest kann dies für den Räuber Moor gelten, dessen Handlungsweise als diejenige einer „gemischten Natur“ bezeichnet werden kann, die auf eine gewisse Unentschiedenheit zwischen Tugend und Laster, eine Hybridität innerhalb des Charakters schließen lässt.420 Lediglich Franz erscheint als völlig einseitig böser Charakter, dessen Taten kaum entschuldbar sind. Die vorgeschobenen Gründe im ersten Akt, er sei gegenüber Karl benachteiligt worden und hässlich, wirken im Vergleich zu seinen Taten nicht schwer genug. Die Bösartigkeit des Franz Moor ist in empfindsamer Logik also nicht ausreichend begründet. Zumindest haben die zeitgenössische Kritik und sogar Schillers eigene Kommentare eine überstiegene Kontrastierung zwischen Franz und Karl aufgegriffen. Zwar hatte Schiller in seiner Vorrede des Schauspiels noch die Notwendigkeit gesehen, „dass die Guten durch die Bösen schattiert werden, und die Tugend im Kontrast mit dem Laster das lebendigste Kolorit erhält“421, doch scheint sich diese Einstellung nach der Aufführung des Stücks 416 Friedrich Schiller: „Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“, in: Ders.: Theoretische Schriften, hg. R.-P. Janz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2008, 119–163; hier: 130 f. 417 Ebd., 141. 418 Ebd. 130 f. 419 Ebd. 420 Dies gilt auch für andere Figuren. Amalia, die Geliebte Karls, bedient letztlich zahlreiche Topoi der empfindsamen Frau: als diejenige, die bei dem armen Vater, den Alten Moor, bleibt und sich um ihn kümmert; als Angetraute Karls, die bis auf den Tod ihm treu bleibt; als empfindsame Klavier- und Lautenspielerin. Zugleich tritt sie als selbstbestimmte Frau auf, die den aufdringlichen Franz ohrfeigt und ihn mit dem Degen davonjagt (III.1). 421 Schiller, Vorrede, 5.
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gewandelt zu haben. So entschuldigt sich Schiller in seiner anonymen Selbstrezension indirekt für diese Anlage: [W]ir finden zu all denen abscheulichen Grundsätzen und Werken keinen hinreichenden Grund, als das armselige Bedürfnis des Künstlers, der, um sein Gemälde auszustaffieren, die ganze menschliche Natur in der Person eines Teufels, der ihre Bildung usurpiert, an den Pranger gestellt hat.422
An anderer Stelle wiederum rechtfertigt er selbstbewusst sein Stück mit dem Ausbrechen aus den Schranken der ‚Militärischen Pflanzschule‘, der Karlsschule in Stuttgart, die unter strikter Aufsicht des Herzogs Carl Eugen stand und in der Schiller seine Schulzeit verbracht hatte. Schiller schließt aus dieser Vergangenheit: Die Räuber seien konsequentes Resultat eines „naturwidrige[n] Beischlaf[s] der Subordination und des Genius“423 – was er folglich produziert hatte, war ein „Dramatischer Roman“424 von gänzlich hybrider Natur, wie die Gattungsbezeichnung ebenfalls verdeutlicht. Rückblickend gesteht Schiller dabei, dass die Figuren überzeichnet seien, dass sein „Pinsel notwendig die mittlere Linie zwischen Engel und Teufel verfehlen“ musste und er stattdessen ein „Ungeheuer“ (statt einem „Mittelding“) hervorgebracht hätte.425 Die mangelnde Abstufung in seiner Figur Franz, durch die nur „die gröbern Räder des seelenvollsten Uhrwerks“426 zum Vorschein kamen, rechtfertigt Schiller mit der mangelnden Menschenkenntnis, die Ergebnis der militärischen, gleichmachenden Erziehung war. Diese Kritik hat freilich apologetischen Charakter und man kann den biographischen Hintergrund als einen, aber sicherlich nicht als einzigen Grund für den hybriden Charakter des Stücks gelten lassen.
422 Friedrich Schiller: „Selbstrezension“, in: Ders.: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 22: Vermischte Schriften, hg. H. Meyer, Weimar: Böhlaus Nachf. 1958, 115–135; hier: 122. 423 Friedrich Schiller: „Ankündigung [der Rheinischen Thalia]“, in: Ders.: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 22: Vermischte Schriften, hg. H. Meyer, Weimar: Böhlaus Nachf. 1958, 92–101; hier: 94. 424 In seiner sog. „Besprechung [Anonyme Selbstrezension im Wirttembergischen Repertorium, Erstes Stück 1782]“ gesteht Schiller, „daß er nie an die Bühne dachte“, als er Die Räuber verfasste (in: Schillers Werke [Nationalausgabe], Bd. 22: Vermischte Schriften, hg. H. Meyer, Weimar: Böhlaus Nachf. 1958, 115–131; hier: 121), sondern sich die bildende Kunst zum Vorbild genommen hätte. Immer wieder hebt Schiller also ein lesendes Publikum als idealen Rezipienten seiner Werke hervor. So beispielsweise auch in der Unterdrückten Vorrede seiner Räuber: „Der Zuschauer vom gewaltigen Licht der Sinnlichkeit geblendet, übersieht offt eben sowohl die feinsten Schönheiten, als die untergeflossenen Flecken, die sich nur dem Auge des bedachtsamen Lesers entblößen.“ Schiller, Unterdrückte Vorrede, 246. Dies deutet darauf hin, dass er, den rationalen, „überschauenden“ Kräften eine zentrale Rolle zuschreibt. Vgl. Kap. IV.1 dieser Arbeit. 425 Ebd. 426 Schiller, Versuch über den Zusammenhang, 120.
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Auf den ersten Blick scheinen also die Struktur des Dramas, aufgrund ihrer Verdopplung, sowie die Charaktere des Stücks einer gradationalen Anlage gänzlich zu widersprechen. Zugleich wäre es falsch zu sagen, dass man bei Schiller gar keinen Anschluss an die gradationale Dramatik, wie sie in diesem Kapitel dargestellt wurde, finden würde. Schiller integriert nämlich eine Zeitreflexion, die eine ganz ähnliche Funktion besitzt, wie sie im Ugolino eingesetzt wird, so dass seine Gedankenwelt – ähnlich auch wie bei Marwood – direkt nachvollziehbar erscheint. Franz Moor reflektiert in der ersten Szene des zweiten Akts über das Gelingen seines Plans: „Es dauert mir zu lange“ (II.1, 38). Franz will den Tod seines Vaters herbeiführen, um an sein Erbe zu gelangen. Dies soll aber auf ‚natürliche‘ Weise geschehen, er möchte „ihn nicht gern getödtet, aber abgelebt“ (ebd.) wissen. Ziel ist also nicht ein „Queerstreich [sic]“ der Natur (oder Theaterstreich im Drama) und damit der plötzliche Tod des Vaters, an dem Franz am Ende auch noch Schuld tragen würde. Franz hat vielmehr vor, den „Körper vom Geist aus […] verderben“ (II.1, 39) zu sehen. Damit bezweckt er, in angemessener Geschwindigkeit den Tod hervorzurufen, ohne dass „des Zergliederers Messer […] Spuren von Wunde oder korrosivischem Gift“ (II.1, 40) finden könnte. Die Zeiten des szenisch retardierenden Gifts scheinen also vorbei, Franz bedient sich stattdessen moderner, psychotechnischer Mittel, die zum Tode führen sollen, ohne dass ihm eine Schuld nachgewiesen werden kann. So geht er eine Methode nach der anderen durch, immer mit dem Hintergedanken, seinen Vater im rechten Zeitraum sterben zu lassen: Und wie ich nun werde zu Werk gehen müssen, diese süsse friedliche Eintracht der Seele mit ihrem Leibe zu stören? Welche Gattung von Empfindnissen ich werde wählen müssen? Welche wohl den Flor des Lebens am grimmigsten anfeinden? Zorn? – dieser heißhungrige Wolf frißt sich zu schnell satt – Gram? – Dieser Wurm nagt mir zu langsam – Sorge? – diese Natter schleicht mir zu träge – Furcht? – die Hoffnung läßt sie nicht umgreiffen[.] (II.1, 39)
Ähnlich wie in Ugolinos und Marwoods Todesarten-Reflexion bestimmt auch Franz den Tod über (letztlich metatheatralische) Zeitangaben. Am Ende landet er bei dem Mittel der sukzessiven Verzweiflung: „So fall ich Streich auf Streich, Sturm auf Sturm dieses zerbrechliche Leben an, bis den Furientrupp zuletzt schließt – die Verzweiflung! Triumf! Triumf! – Der Plan ist fertig – Schwer und Kunstvoll wie keiner – zuverläßig – sicher –“ (II.1, 40). Und tatsächlich bedarf es lediglich des Auftritts von Herrmann, dem bestochenen Diener Franzens, um diesen Plan zu verwirklichen. Kaum berichtet dieser vom Tod Karls, beginnt der Alte Moor mit furioser Gestikulation „wider sich selber“ zu wüten (II.2, 49), was sogleich eine Reaktion der Verzweiflung hervorruft:
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III Gradatio der Schauspielkunst Der Alte Moor: Tausend Flüche donnern dir nach! Du hast mir meinen Sohn aus den Armen gestohlen voll Verzweiflung hin und her geworfen im Sessel.427 Wehe, Wehe! Verzweifeln, aber nicht sterben! – Sie fliehen, verlassen mich im Tode – meine gute Engel fliehen von mir, weichen alle die Heilige vom eisgrauen Mörder – Wehe! Wehe! will mir keiner das Haupt halten, will keiner die ringende Seele entbinden? Keine Söhne! keine Töchter! keine Freunde! – – Menschen nur – will keiner, allein – verlassen – Wehe! Wehe! – Verzweifeln aber nicht sterben! (II.2, 50)
Während im Ugolino und bei Miss Sara Sampson ganze Akte aufgebracht werden, um die sukzessiven Todesformen hervorzurufen, ist der Alte Moor also schon in kürzester Zeit von der Handlung, die ihm den Tod bescheren soll, affiziert, die vormals geordnete zeitliche Abfolge beginnt sich geradezu zu überschlagen. Da das „Doppeldrama“ zudem immer wieder zwischen den episodischen Räuberszenen einerseits und Franz’ Rachehandlung andererseits springt, kann überhaupt nicht auf gleiche Weise eine liaison und sukzessive gradationale Entwicklung stattfinden. Schließlich steckt Franz den Alten Moor in einen Hungerturm (!), um den Vater endgültig aus dem Weg zu räumen. Nicht mit der sukzessiven Verminderung, – diese wird ins Off verlagert und nacherzählt – nur mit dem Ergebnis wird der Rezipient konfrontiert, wenn der Alte Moor in Akt IV.5 als ausgemergeltes „Gerippe“ auftritt. Die Verlaufsformen, die bei Ugolino im Zentrum standen, scheinen hier nur noch in Form von Zitaten oder Topoi (z. B. Hungerturm) angebracht zu sein. Sie dienen nicht der unmittelbaren Ausgestaltung nuancierter Abschwächung oder Steigerung, sondern bieten in ihrer verkürzten Form vielmehr Anlass, um den extremen Gemütslagen Ausdruck zu verleihen und radikale Verminderungen schockierend-effektvoll zu inszenieren. Emotionen sind nicht länger geordnete Verlaufsformen, sie sind „Sprung des Geblüts“ (V.1, 121): „Empfindung ist Schwingung einiger Saiten, und das zerschlagene Klavier tönet nicht mehr“ (ebd.) – Die sprunghaft‑bebenden Emotionen, die in stark beschleunigten Staffelungssequenzen über die Bühne jagen, werden damit zu Zeichen eines „ewige[n] Chaos“ (IV.5, 112): „[D]ie Geseze der Welt sind Würfelspiel worden, das Band der Natur ist entzwey, die alte Zwietracht ist los, der Sohn hat seinen Vater erschlagen.“ (IV.5, 114) Dass Schiller sein Schauspiel selbst als für die Bühne nicht notwendigerweise geeignet empfunden haben muss, wird nicht nur durch seine Bezeichnung des Stücks als „Dramatischer Roman“ deutlich, sondern erklärt auch die Überarbeitung zum Trauerspiel 1782 für die Mannheimer Bühne, die eine
427 Natürlich darf auch hier das Requisit des Sessels nicht fehlen: Doch erneut wird deutlich, wie er zwar als Seismograph, aber als einer des outrierten Affekts eingesetzt wird.
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„Umschmelzung“428 des Stücks zur Voraussetzung hatte. Insgesamt zeichnen sich Schillers frühe Kommentare durch ein gewisses Misstrauen gegenüber der dramatischen Umsetzung aus.429 Nicht ohne Unwillen passte Schiller sein Drama in die „Gränzen der Bühne, dem Eigensinn des Parterre, dem Unverstand der Gallerie“ (35) entsprechend ein – eine Popularisierung des Stücks war ihm zuwider. Durchaus sah er auch die Problematik der immensen Dynamik des Stücks und äußerte die Befürchtung, „daß der hinreißende Strom der Handlung den Zuschauer an den feinen Nüancen vorüberreißt, und ihn also wenigstens um den dritten Theil des ganzen Charakters bringt“ (36) und dass es nicht von ihm zu erwarten sei, dass er „Charaktere der Menschlichkeit für die Bequemlichkeit der Schauspieler verstümmle.“ (37) Aber erst aufgrund dieser Bühnenbearbeitung stieß das Stück auf seine große Resonanz.430 Ohne hier auf die Abänderungen der Mannheimer Bearbeitung näher einzugehen,431 wird doch an unterschiedlichen Reaktionen auf das Stück klar, dass seine Wirkung auf eine von der ursprünglichen Fassung gänzlich veränderte Aufnahme der Räuber beruht. Hatte Schiller noch die Rolle des Karls in seiner Bühnenadaption mit besonderer Spannung erwartet, so war es am Ende die Rolle des Bruders Franz, die am meisten Aufmerksamkeit erhielt. Sie wurde von niemand Geringerem als August Wilhelm Iffland verkörpert, der für diese Rolle, die er bis ins hohe Alter immer wieder spielen sollte, berühmt wurde. Schillers Freund Andreas Streicher berichtet: Durch die Art aber wie Iffland die Rolle des Franz Moor nicht nur durchgedacht, sondern dergestalt in sich aufgenommen hatte, daß sie mit seiner Person eins und dasselbe schien, ragte er über alle hinaus, und brachte eine nicht zu beschreibende Wirkung hervor, in dem keine seiner Rollen, welche er früher und dann auch später gab, ihm die Gelegenheit verschaffen konnte, das Gemüth bis in seine innersten Tiefen so zu erschüttern, wie es bei der Darstellung des Franz Moor möglich war. […] Damals war Iffland 26 Jahre alt, von Körper sehr schmächtig, im Gesicht
428 Andreas Streicher: Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785, Stuttgart/Augsburg: Cotta’sche Buchhandlung 1836, 34. Im Folgenden zitiert Streicher aus einem Brief Schillers an den Mannheimer Theaterintendanten Wolfgang Heribert von Dalberg. Die Nachweise erfolgen durch Angabe der Seitenzahl im Fließtext. 429 Vgl. hierzu die Anmerkung, dass „ein lärmendes Allegro“ jegliche Rührung oder Wirkung hinwegschwemmen würde, wie er es in seiner Rede Über das gegenwärtige teutsche Theater äußert: Letztlich unterstreichen diese Aussagen Peter Michelsens Thesen, dass Schiller seine Theatererfahrungen auf seine Opernerfahrungen am Hof Karl Eugens rückbezieht, eine Oper also, die mit kontrastreichen und pompösen Effekten arbeitet und kaum Raum für Differenzierungen lässt. 430 Vgl. Herbert Stubenrauch: „Entstehungsgeschichte und Quellen“, in: Friedrich Schiller: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 3: Die Räuber, hg. Ders., Weimar: Böhlaus Nachf. 1953, 260–343; hier: 309 f. 431 Vgl. hierzu Stubenrauch, Entstehungsgeschichte, v. a. 305–324.
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III Gradatio der Schauspielkunst etwas blaß und mager. Dieser Jugend ungeachtet war sein Spiel auch in den kleinsten Schattierungen so durchgeführt, daß es ein nicht zu vertilgendes Bild in jedem Auge, das ihn sah zurückließ.432
Nicht nur auf die Zuschauerschaft, auch auf Schiller machte diese Partie einen besonderen Eindruck, der seine hohen Erwartungen noch übertroffen hatte.433 Womit ist dieser immense Erfolg in der Darstellung zu begründen? Konsultiert man die Reaktionen der Kritiker Ifflands, so scheint es, dass dieser ganz im Sinne der Forderungen der ‚natürlichen‘ (und damit auf einer Ästhetik der Gradation beruhenden) Ausführung die Rolle des Franz Moor verkörperte – eine Ästhetik, die in der Textanlage zu dieser Zeit wohl epigonal gewirkt hätte, in der Schauspielkunst jedoch nach wie vor ein zentrales wirkungsästhetisches Element darstellte. In seiner Schrift Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen (1796) versucht Karl August Böttiger, den Ambitionen Johann Jakob Engels folgend, eine „getreue, den Künstler bis in seine feinsten Schattierungen und Farbengebungen verfolgende Beschreibung und Beurtheilung“434 Ifflands darzulegen. Seiner Verkörperung des Franz Moor stellt er dabei ein Zitat der Encyclopédie voran: „Rien n’est plus difficile, que d’être naturel dans un rôle qui ne l’est pas.“ (290) Damit ist die Grundspannung der schauspielerischen Anforderung bereits benannt: Auf welche Weise kann eine Darstellung ‚natürlich‘ sein, die in ihrer Anlage dem Natürlichkeitspostulat gänzlich zu widersprechen scheint? Folgt man den Ausführungen Böttigers, so scheint Iffland die Problematik durch eine eigenwillige, den Text unterlaufende und bearbeitende dramaturgische Darstellung gelöst zu haben: „Die gehaltene Ökonomie seines Spiels und die kluge, schon oft bewunderte Aussparung des Lichts auf einige, diesmal nicht im Vorgrund stehende Hauptpartien war heute sichtbarer, als je vorher gewesen.“ (292) Zum einen sind es also Schattierungstechniken, seine „haushälterische Vertheilung des Lichts und Schattens“ (297), d. h. eine nuancierte Darstellungsweise, die Iffland hier anzuwenden scheint. Andererseits verzichtet er aber auch auf die „Hülfe der Caricatur“ (293), die im Stück angelegt sei, indem Schiller Franz als Ausgeburt der Hässlichkeit angelegt
432 Streicher, Schillers Flucht, 40. 433 „Ihnen gesteh ich es, diese Rolle, die gar nicht für die Bühne ist, hatt ich schon für verloren gehalten, und nie bin ich noch so angenehm betrogen worden. Iffland hat sich in den letzten Szenen als Meister gezeigt.“ Friedrich Schiller: „Anhang über die Vorstellung der Räuber“, in: Ders.: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 3: Die Räuber, hg. H. Stubenrauch, Weimar: Böhlaus Nachf. 1953, 309–311; hier: 310. 434 [Karl August] Böttiger: Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprilmonath 1796, Leipzig: Göschen 1796, VIIIf. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
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hatte:435 Es sind Techniken des berechnend-ökonomischen Maß-Haltens, die hier durch Ifflands Darstellung realisiert werden und damit eine Grundlage für gradationale Techniken bieten. Schließlich lobt Böttiger auch den Spannungsbogen, die Entwicklungsfähigkeit des Franz, der sich anfangs kalt zeigt, jedoch nicht, ohne dass er „bey mehrern Gelegenheiten die in seinem Innern kochend und tobende Leidenschaft hätte durchschimmern lassen.“ (299) Das hervorgehobene Lob Böttigers betrifft dabei die „vorbereiteten Winke[ ]“, die „kunstvollste[ ] Gradation“, die Iffland beherrschte, welche die leidenschaftlichen Ausbrüche „mit dem raschern Fortgange des Stücks immer häufiger und stärker werden“ ließen (ebd.). Als Beispiel für diese vorbildliche Darstellung wählt Böttiger keine andere als die oben bereits besprochene Todesartenreflexion: Mahlerisch und bis auf die geringste Schattierung wahr erblickten wir im krampfhaften Zucken der Hände, und in der rückwärts gebogenen Stellung das Schrecken. Er schien die eiskalte Umarmung dieses Giganten in seinem Innersten zu ertasten. Aber wie fein wußte das richtige Urtheil des Künstlers hier die Mahlerey im Mienenund Gebehrdenspiel, wofür wir diesen Ausdruck des Schreckens nur halten durften, gegen den Ausdruck des selbstempfundenen Schreckens in einem der letzten Auftritte des Stücks abzustufen! – Wie fürchterliche, und doch auch verrätherisch für die untergründliche Bosheit dieses Bösewichts war das liebkosende Lächeln, womit er die wohlthätigen Grazien, Vergangenheit und Zukunft, zu Henkerinnen und Gehülfinnen seines Plans einweiht, und wie richtig gehalten der Jubelausruf der Hölle: „Triumph! Triumph! der Plan ist fertig!“ womit das Ungeheuer abtritt! […] Iffland sprach diesen Schluß mit fester Selbstzuversicht, aber ohne alle kreischende Ekstase.“ (300–303)
Es ist wohl nicht von geringer Bedeutung, dass Böttiger eine der wenigen Szenen im Drama diskutiert, die bereits in ihrer Anlage den Gradationsgedanken, oder zumindest eine Anspielung darauf in sich tragen. Hier ist es besonders einleuchtend, dass die Schattierungs- und Stärkeregulierungen auch auf Mimik, Gestik und Deklamation übertragen werden können. Die anderen Stellen, die Böttiger hervorhebt, zeugen ebenfalls von der Realisierung einer Schauspielkunst im Zeichen der Gradatio mit ihrem „schnellen und doch sehr fein nüancierten Übergang von der Glutröthe des Zorns zum Verblassen zitternder Ohnmacht“ (304), der „Präcision bis auf die kleinste Schattirung“ (305), dem Durchlaufen der „Stufenleiter“ (306), dem steten „Fortschwellen und Anwachsen der Leidenschaft“ (307), der „Continuität des Spiels und die bis zum letzten Moment steigende Heftigkeit“ (319). Bötti435 „Iffland glaubte dieses äußern Zusatzes von Häßlichkeit völlig entbehren zu können, und der verständigere Zuschauer wird ihm dies gern als ein Verdienst anrechnen. Denn ist Mißgestaltung des Dichters und Schauspielers unwürdig, der sich besserer Hülfsmittel bewußt ist?“ Ebd., 294.
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ger scheint sich in seiner Bewertung der Schauspielkunst letztlich stärker an den Ausführungen zu orientieren, wie sie Engel im Sinne einer ‚natürlichen‘ Darstellung gemacht hat, als an den eigentlichen Vorgaben, die Schiller in seiner Anlage anbringt: Text und Darstellung fallen auseinander, ersterer dient nur noch einer Orientierung, die Vorlage für das deklamatorische, mimische und gestische Extemporieren wird, welches vor allem dem breiteren Publikum gefallen sollte. Dies geschieht hingegen – und das ist die wesentliche Neuerung im 18. Jahrhundert – ganz in einer Rechtfertigungsstrategie der ‚natürlichen‘, wahrhaften Darstellung – in den bereits zitierten Worten Johann Schulzes: „Denn der mimische Künstler soll nicht bloß wiedergeben, was die Worte seiner Rolle sagen, sondern die ganze Reihe von Mittelgliedern, welche der Dichter entweder gar nicht oder nur leise andeuten konnte, unsichtbar sichtbar dem Zuschauer vorüberführen.“436 Wenn die ästhetische Prämisse verlangt, „durch andere Mittel zu ersetzen suchen, was der Natur der Zeichen abgeht“437, so scheinen insbesondere Mimik und Gestik hier einzutreten, um die „Lücken, Auswüchse, kleine[n] Disharmonieen“ durch „ausfüllen, wegschneiden, durch Bessers [zu] ersetzen“438 und auf diese Weise die ‚mangelhafte‘ Anlage des Texts zur ‚vollkommenen‘ Darstellung zu bringen. Nicht zuletzt bringt diese Konzentration auf die Körperzeichen und Deklamation, eine ‚Output‘- und Effekt-Orientierung, auch einen gewissen Schwund der ursprünglichen textuellen Anlage mit sich. Schließlich ist aber durch eine solche Darstellungsweise als ein „zusammenhangende[s], nach innerer Nothwendigkeit fortschreitende[s] Spiel“439 auch eine entsprechende Wirkungsästhetik eingeschrieben. Denn mit dem ‚natürlichen‘ Spiel Ifflands scheinen ja gerade diejenigen von Lessing geforderten Wirkungsmechanismen zu greifen, den allmählichen Nachvollzug und die „Annäherung eines Ziels“, die die Mitleidsdramaturgie erforderlich machte: Jedes Spätere ist durch das Frühere eingeleitet, und indem Er bei den Worten und Bewegungen, welche als Endreime eine ganz innere Vergangenheit abschließen oder als Assonanzen eine ganze innere Zukunft ankündigen, gehörig verweilt: sieht man den Keim, die Blüte und Frucht einer jeglichen Handlung, und alles erscheint als nothwendig, weil alles aus dem Guß Eines Gefühls entspringt.440
Wenn es richtig ist, dass die Einfühlung und Absorption des Publikums bei einer solchen gradationalen Umsetzung, wie Iffland sie vollzogen hat, mög436 Schulze, Ueber Iffland’s Spiel, 6. 437 Eberhard, Allgemeine Theorie, 76. 438 Engel, Ideen I, 22. 439 Schulze, Ueber Iffland’s Spiel, 12. 440 Ebd., 6.
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lich ist, wenn die Anlage des Texts zugunsten einer medialen Ergänzungsstrategie „umgeschmolzen“ wird, wenn die transitorischen, sukzessiven Körper- und Ausdruckszeichen zum eigentlichen Primat der Schauspielkunst erklärt werden, so verdeutlicht dies umso mehr die ungeheure Durchschlagskraft, aber auch die zunehmende Popularisierung des ästhetischen Prinzips der Gradation. Wenn also Böttiger vermittels Iffland Gradationen in der Schauspielkunst Schillers zu sehen meint, so zeigt das, wie sich ein ästhetisches Prinzip als omnipräsente Beschreibungsform einer konstruktartigen illusionistischen ‚natürlichen‘ Darstellungsweise durchzusetzen vermag und damit dem allgemeinen Publikumsgeschmack entsprechen wollte.
3.6 Transformationen der Gradatio IV: Von der ‚Affekt‘- zur Effektfigur An diesem Punkt lässt sich eine weitere Transformation der Gradationsfigur beobachten, die schließlich am Ende des nächsten Kapitels im Melodrama wiederaufgegriffen und vertieft werden wird. Dass die Gradatio eine Figur des Seelenlebens ist, ist zur Zeit Schillers längst anerkannte Konvention. Während sich die Textur der Dramen in den 1770er Jahren tendenziell veränderte (und Schiller ist dabei ein spätes Beispiel dieser Tendenzen), indem man von einer Ordnung der Gefühle zunehmend Abstand nahm und stattdessen versuchte, deren Grenzen durch Extremlagen zu erweitern, werden die Gradationstechniken vor allem zu performativen Elementen. Zentral an solchen performativen Ausdrucksformen gradationaler Steigerungs- und Schwächungsfiguren ist vor allem ihr effektvoller Charakter: In Analogie kann das musikalische Crescendo als prädestiniertes Beispiel einer Dynamik gelten, welches aufgrund seiner überwältigenden Wirkung als emotionale Effektfigur sich einer großen Beliebtheit erfreute. Allein durch die musikalische, kontinuierlich-vereinnahmende Verlautbarung derartiger spektakulärer Ausdrucksformen, dienten sie in besonderem Maße einer gewaltvollen Flutung des Publikums. Und so wird durch diese Akzentverschiebung der Funktion der Gradation im Drama auch erklärbar, weshalb sich Schiller in seiner Rede Über das gegenwärtige teutsche Theater letztlich gegen eine Zentrierung auf die „Fesselung“ des Publikums ausspricht, wie sie durch so rührseligen zeitgenössischen Dramen ausgelöst worden waren, die nun mehr degenerierte Formen des von Lessing intendierten Dramentypus darstellten: Gemälde voll Rührung, die einen ganzen Schauplatz in Tränen auflösen. – Gruppen des Entsetzens, unter deren Anblick die zarten Spinneweben eines hysterischen Nervensystems reißen. – Situationen voll schwankender Erwartung, die den leisern
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III Gradatio der Schauspielkunst Odem fesselt, und das beklommene Herz in ungewissen Schlägen wiegt. – Alles dieses, was wirkt es denn mehr, als ein buntes Farbenspiel auf der Fläche, gleich dem lieblichen Zittern des Sonnenlichts auf der Welle.441
Die vollständige Absorption, das gänzlich übermannte Nach- und Mitempfinden birgt die Gefahr, die vernünftigen, reflektierenden Sinne außer Kraft zu setzen. Das Theater als „moralische Anstalt“ bedurfte hingegen in Schillers Poetik eben solcher Kontrollmechanismen, um ihren erzieherischen Anspruch zu entfalten. Eine vollständige Übermannung durch das Gefühl konnte Schiller somit nicht gutheißen. Von der Wirkung seines Stücks, das lässt sich an seinen eigenen Aussagen zeigen, war er zwar angenehm überrascht. Dennoch fürchtete er offensichtlich eine Trivialisierung und bloße Effekthascherei und das „lärmende Allegro“ in seinem Stück. Die Diskrepanz, die zwischen der dramatischen Anlage, der Aufführungspraxis Schillers früher Dramen und seiner theoretischer Texte festzustellen war, scheint also geradezu auf einen Verhandlungsraum zuzusteuern, in dem die Wirkungsästhetik neu ausgelotet wird. Diesbezüglich spielt auch eine große Rolle, inwiefern die Kontrollierbarkeit der Empfindungen zusätzlich durch die Vernunft gesteuert werden muss, oder der kontrollierte ‚Gang der Empfindungen‘, der von den Rezipienten nachvollzogen wurde und einen moralisch-mitleidenden Menschen ausmachte, wie Lessing ihn vorstellte. IV Crescendo-Kulturen
441 Schiller, Über das gegenwärtige teutsche Theater, 168.
IV Crescendo-Kulturen Ein allumfassender Gradualismus befördert, das haben die vorangegangenen Kapitel gezeigt, eine neuartige Auseinandersetzung mit der Darstellung der Welt. Ins Zentrum rückt die Frage, auf welche Weise mit semiotischen Mitteln ein Bereich erfasst werden kann, der sich einer Beschreibung (durch die vorherrschenden Möglichkeiten) letztlich gänzlich entzieht, „jedoch ohne den Akt des Bezeichnens völlig in der Absenz bliebe“1: Das Interesse von Philosophie, Ästhetik und Literatur dreht sich um die Systematisierung bislang nicht zu fassender Überschüsse. Das neu etablierte graduelle Empfindungs- und Wahrnehmungssystem erfordert und produziert dabei veränderte Darstellungsnormen. Während Sprache zunehmend als defizitäres Mittel der Welterschließung und -repräsentation evaluiert wird, gewinnen andere Zeichensysteme an Bedeutung, vor allem solche, die der sukzessiven transitorischen Natur eine strukturanaloge mediale Ergänzung bieten können. In der Schauspielkunst sind es vor allem die mimischen und gestischen Zeichen, aber auch der nuancierte Einsatz von akustischen Zeichen und Musik, die der ‚sturen‘ Sprache eine adäquate, nämlich verfeinert-dynamisierende Supplementierung zur Seite stellen. Da Gradation im 18. Jahrhundert sowohl das Seelenleben als auch den ästhetischen Bereich strukturiert, spielen Gradationsfiguren auch in Hinsicht auf poetologische Prinzipien und Motive eine zunehmend wichtige Rolle. In dem Moment, in welchem die Textur des Werks und die Empfindungswallungen in eins fallen, entstehen in zeitgenössischer Wahrnehmung ‚natürliche‘ Werke. Diejenigen Texte, deren Anlage solchen gradationalen Texturen aber widersprechen, werden entweder durch andere Medien ergänzt, oder die Rezipienten selbst sind aufgefordert, vermittels Techniken der Versinnlichung und Einbildung ein ‚vollkommenes Ganzes‘ herzustellen. Die induktiven Methoden und „tote[n] Regeln“2 der herkömmlichen Regelpoetik geraten dabei zunehmend in Kritik.
1 2
Claudia Albes: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800, Würzburg: Könighausen & Neumann 2003, 9–28; hier: 9. Johann Gottfried Herder: „Shakespear [1773]“, in: Herder, Johann Gottfried: Werke, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. G. E. Grimm, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, 498–521; hier: 500.
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Eng an diesen auf der anthropologischen Ästhetik gegründeten Umbau der Zeichen- und Darstellungssysteme geknüpft sind Verhandlungen der Sinneshierarchie, wie bisher nur angedeutet wurde: Verkürzt gesagt sollte vermittels des Einsatzes der Sinne ergründet werden, welche Kunst der Seele am nächsten steht und damit, welche es vermag, gradationale Empfindungswallungen in natürliche Zeichen zu übersetzen, diese somit darstellbar zu machen und den Rezipienten bestmöglich zu rühren. Die Schauspielkunst und der Tanz konnten bereits als künstlerische Umsetzungen identifiziert werden, die insbesondere durch mimische und gestische Zeichen der Transitorik des Leibes ein den Forderungen entsprechendes Übertragungsmedium bieten. Hierbei ist – vor allem bei Engel – eine Tendenz zu erkennen: die zunehmende Abwendung von malerischen Prinzipien, eine zunehmende Skepsis also an der Schauspielkunst als einer (vornehmlichen) Augenkunst. Die damit implizierte Frage danach, welche Sinne in den Künsten privilegiert werden, löst eine „Jahrhundertdiskussion“3 aus: Denn die verschiedenen Sinne „erschließen nicht nur völlig unterschiedliche Klassen von Gegenständen […], sie begründen auch radikal unterschiedliche Selbst- und Weltverhältnisse.“4 Besonders Seh- und Hörsinn treten dabei am Ende des 18. Jahrhunderts in Konkurrenz, und damit auch die Frage der Rezeptionsposition: Die Anschaulichkeit und Form eines ästhetischen Objekts wird so der Idee des kontinuierlich-transitorisch Erfahrbaren gegenübergestellt. Für Kant ist das Auge gerade aufgrund seines Abstands zur Seele der bevorzugte Sinn: Der Sinn des Gesichts ist, wenn gleich nicht unentbehrlicher als der des Gehörs, doch der edelste: weil er sich unter allen am meisten von dem der Betastung, als der eingeschränktesten Bedingung der Wahrnehmungen, entfernt und nicht allein die größte Sphäre derselben im Raume enthält, sondern auch sein Organ am wenigsten affiziert fühlt (weil es sonst nicht bloßes Sehen sein würde), hiemit also einer reinen Anschauung (der unmittelbaren Vorstellung des gegebenen Objekts ohne beigemischte merkliche Empfindung) näher kommt.5
Während der Sehsinn eine ‚objektive‘ Anschauung befördert, spielt das Gehör und die damit verbundene Kunst der Musik für den vernunftfähigen Menschen eine untergeordnete Rolle, zumindest wenn man nicht ihren Eindruck auf das Gemüt, sondern ihren Wert „nach der Kultur schätzt, die sie im Gemüt verschaffen, und die Erweiterung der Vermögen, welche in 3
Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München: Fink 1990, 93. 4 Inka Mülder-Bach: „Kommunizierende Monaden. Herders literarisches Universum“, in: Caroline Welsh, Christina Dongowski, Susanne Lulé (Hg.): Sinne und Verstand. Ästhetische Modellierungen der Wahrnehmung um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 41–52; hier: 44. 5 Kant, Anthropologie, 46.
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der Urteilskraft zum Erkenntnisse zusammen kommen müssen, zum Maßstab nimmt.“6 Insofern das Ohr vermittels der Sprachlaute „keine Objekte, sondern allenfalls nur innere Gefühle“ vernimmt, ist auch Musik nur „Spiel der Empfindungen des Gehörs“ und „gesellschaftlicher Genuß“: Musik ist „eine Sprache bloßer Empfindungen (ohne alle Begriffe)“7 und entzieht sich somit dem Verstand. Sie kann keinen deutlichen Erkenntnisgewinn erzielen, weil sie von „transitorischem Eindrucke“8 ist. Das Ohr scheint also kein Organ der Vernunft zu sein.9 An dieser Stelle lässt sich an Schillers Kritik zurückdenken, der das „lärmende Allegro“ fürchtete, welches keinen dauerhaften moralischen Nutzen befördern konnte, während der lesende Rezipient einer feineren Wahrnehmung fähig sei.10 Die diffuse Klangkulisse ist dem rationalen Erfassen hinderlich, da sie Verwirrung stiftet und den Über-Blick stört: „Im Unterschied zum Auge, das in hohem Maße zentrierbar ist, sind die Wahrnehmungen des Ohres eher diffus. Schwerer als das Auge, das sich auf Ausschnitte richtet, kann das Ohr seine Wahrnehmungen differenzieren.“11 Entgegen einer augenzentrierten Beurteilung der Sinne im ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts setzen sich einige Literaten verstärkt für die Emanzipation des Ohrs vor dem Auge in der Sinneshierarchie ein; ein Zugang, der zumindest als Alternative zu einer aufklärerischen „Okulartyrannis“ (U. Sonnemann) diskutiert wird und „Erkenntnis“ im Sinne des „entendement“ (frz. entendre = hören, verstehen) neu formuliert.12 Diese Autoren verhandeln die Vorstellung einer Fassbarkeit des Unsagbaren über sukzessive, fließende Zeichen und im Paradigma der (kontinuierlich-prozessierenden) Gegenwärtigkeit, welche sich einer reflexiven „Überschaubarkeit“ entzieht, denn „Ohrenkunst, wie Klangwahrnehmung überhaupt, ist immer nur innerhalb eines Zeitablaufs möglich.“13 Empfindungen werden hier in einem klanglich-kontinuierlichen Paradigma bestimmt, was auch eine Emanzipa6 Kant, Kritik der Urteilskraft, 685. 7 Kant, Anthropologie, 45. Kant, Kritik der Urteilskraft, 685. 8 9 Auch in anderen zeitgenössischen philosophischen Schriften liest man diesbezüglich: „Philosophische Schriften dürfen nicht laut gelesen werden, weil uns das Vernehmen der Töne an dem [Ü]berschauen des Ganzen hindert. Wir vergessen, was wir gelesen haben, und denken immer nur an das, was gegenwärtig ist.“ Johann Adam Bergk, Kunst, Bücher zu lesen (1799), zit. n. Joh. Nikolaus Schneider: Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800, Göttingen: Wallstein 2004, 9. 10 Vgl. Kap. III.3 dieser Arbeit. 11 Christoph Wulf: „Das mimetische Ohr“, in: Paragrana 2 (1993) 1–2; 9–14; hier: 11. 12 Vgl. Jürgen Trabant: Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, München: Beck 2006, 179; 224. 13 Rudolf Arnheim: „Das Weltbild des Ohres“, in: Ders.: Rundfunk als Hörkunst und weitere Aufsätze zum Hörfunk. Nachw. H. H. Diederichs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, 18–21; hier: 19.
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tion der Musik als Transportmittel der Emotionen und zugleich ausdrückender Kunst zur Folge hat: Vorübergehend also ist jeder Augenblick dieser Kunst und muß es sein: denn eben das kürzer und länger, stärker und schwächer, höher und tiefer, mehr und minder ist seine Bedeutung, sein Eindruck. Im Kommen und Fliehen, im Werden und Gewesensein liegt die Siegskraft des Tons und der Empfindung. Wie jener und diese sich mit mehreren verschmelzen, sich heben, sinken, untergehn und am gespannten Seil der Harmonie nach ewigen, unauflösbaren Gesetzen wieder emporkommen und neu wirken, so mein Gemüt, mein Mut, meine Liebe und Hoffnung.14
Insbesondere in der Synthese von Musik, (gesprochenem) Wort und Geste wird ein Mehrwert erkannt, denn über eine Strategie der Supplementierung und Synästhesie können die Optative der Unmittelbarkeit und Seelennähe bestmöglich eingeholt werden. Dieser Zusammenschluss ist mitunter auch Gegenreaktion der zuvor vorgenommenen (rationalistischen) Sinneszergliederung: „Eine Philosophie des Geschmacks, des Schönen u. s.w., die nur von Einem Sinne ausginge, müßte zur Philosophie der gesammten Empfindungen nothwendig nur unvollkommene Bruchstücke liefern.“15 Als künstlerische Gegenreaktion auf Herders Kritik an einer Konzentration auf nur einen Sinn, können die am Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden Mischgattungen oder „Mischspiel[e]“16 wie das Melodram gedeutet werden. Anhand von ihnen lässt sich veranschaulichen, wie hybride Gattungswesen zu „Verbindungskünsten“ avancieren und damit Vorformen synästhetischer „Gesamtkunstwerke“ bilden: „Musik mit Sprache in Verbindung gebracht und dann von Gebärden unterstützt, öffnet ein neues Feld der Dichtkunst.“17 Die Neuausrichtung am Hören, wie sie im Folgenden dargestellt wird, produziert dabei „Crescendo-Kulturen“, die sich in Literatur, Musik und Drama sowie deren Verbindungen niederschlagen.18 Aus dem „ein14 15
16 17 18
Johann Gottfried Herder: „Kalligone. Von Kunst und Kunstrichterei. Zweiter Teil“, in: Ders.: Schriften zur Literatur und Philosophie 1792–1800, Bd. 8, hg. H. D. Irmscher, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, 757–857; hier: 819 f. Johann Gottfried Herder: „Über Bild, Dichtung und Fabel“ (1787), in: Ders.: Werke, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. M. Bollacher, J. Brummack, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994, 631–677; hier: 634. Vgl. Adler, Prägnanz des Dunklen, 149. Johann Gottfried Herder: „Händel“, in: Ders.: Werke, Bd. 10: Adrastrea (Auswahl), hg. G. Arnold, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2000, 539–558; hier: 542. Vgl. Vogel, Zurüstungen, 47. Johann Gottfried Herder: „Tanz. Melodrama“, in: Ders.: Werke, Bd. 10: Adrastrea (Auswahl), hg. G. Arnold, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2000, 306–317; hier: 308 f. Zeitlich finden diese Kulturen ihren Einsatz etwa in der Jahrhundertmitte und ließen sich vermutlich bis Nietzsche weiterverfolgen. Im Rahmen dieser Arbeit enden sie mit dem Ende der Hochphase deutscher melodramatischer Projekte um 1800.
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geschränkten Feld“ der Künste gilt es dabei, die Darstellungsformen „in das weitere der Musik hinüberzuspielen“19, um das Seelenleben in seiner Transitorik und Kontinuität unmittelbar zu erfassen. Mit diesem Kapitel vollzieht auch die Arbeit einen acoustic turn, indem ich argumentiere, dass die strukturellen Transformationen der Gradatio sowohl im Sinne einer sprachlichen, als auch im Sinne einer emotionalen Figur auf eine zunehmende Privilegierung des Gehörsinns und der Musik zulaufen, die sich in den Bestrebungen der literarischen und musiko-dramatischen Theorien und Projekte am Ende des 18. Jahrhunderts niederschlägt.
19 Engel, Ideen II, 136.
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1 Entendement, tönende Empfindung und ‚Wohl-laut‘ Hier öffnet sich ein neuer Sinn, eine neue Pforte der Seele, und empfindet Ton, Töne. […] Töne, die das unmittelbarste Instrument auf die Seele sind. Johann G. Herder, 176920
Es ist wohl kein Zufall, dass Leibniz an einer Stelle, an der er das Prinzip der „petites perceptions“ erklären möchte, ein akustisches Beispiel heranzieht. Der Konzeption der kleinen Perzeptionspartikel unterliegt die tönende Struktur einer Klangwelt: [P]our juger encor mieux des petites perceptions que nous ne saurions distinguer dans la foule, j’ay coustume de me servir de l’exemple du mugissement ou du bruit de la mer dont on est frappé quand on est au rivage. Pour entendre ce bruit comme l’on fait, il faut bien qu’on entende les parties qui composent ce tout, c’est à dire les bruits de chaque vague, quoyque chacun de ces petits bruits ne se fasse connoistre que dans l’assemblage confus de tous les autres ensemble, et qu’il ne se remarquoit pas de cette vague, qui le fait, estoit seule.21
Wenn ich das Meer rauschen und tosen höre, kann ich es entweder als Ganzes, als konfuse Geräuschkulisse wahrnehmen, oder als eine Akkumulation zahlreicher kleiner einzelner Wellen. Diese Vorstellung lässt sich gleichermaßen auf das von Leibniz konzipierte Seelenleben übertragen: Auch hier kann man nicht der einzelnen Empfindungen gewahr werden, sondern nimmt diese als ein verworrenes Ganzes wahr. Es herrscht keine Distanzsetzung bei der Beobachtung, die Perzeptionen sind Eindrücke, die den Menschen umgeben, die die Unendlichkeit einhüllen, alles hängt in kontinuierlicher Verbindung zusammen.22 Insofern Leibniz seine Essais akroamatisch, d. h. für Hörer konzipiert, lässt sich sein Denken als „fundamental auf dem Hören aufbauendes Denken“23 beschreiben. 20 Herder, Viertes Wäldchen, 405. 21 Leibniz, Nouveaux Essais, 54. 22 „[C]es impressions [die Eindrücke der petites perceptions, J. F.] que les corps environnans font sur nous, et qui enveloppent l’infini; cette liaison que chaque estre a avec tout le reste de l’universe.“ Ebd., 55. Vgl. Trabant, Europäisches Sprachdenken, 180. 23 Trabant, Europäisches Sprachdenken, 179. Jürgen Trabant hat in sehr einleuchtender Weise dargestellt, wie diese akroamatische Vorgehensweise einen Paradigmenwechsel vom Auge zum Ohr vorzeichnet: Während Lockes Essay in der Metaphorik des Erkennens schreibt, welches vom Auge geleitet ist, als „Er-blicken“ einer diskreten Momentaufnahme, sind Leibniz’ Beispiele dem Bereich des Hörens entnommen, wenn er seine Vorgehensweise beschreibt (akroatai waren in der aristotelischen Lehre die Zuhörenden). Auch die petites perceptions werden im Paradigma des Klangs beschrieben (Bsp. der Wahrnehmung des Wasserfalls und der
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Herder wird im Anschluss an Leibniz in seiner Kalligone-Schrift (1799) ebenfalls von dem Menschen als „allgemeine[n] Teilnehmer“, einem „Akroatiker im Universum“ sprechen: Er ist Mit-Mensch, der aufgrund der zu ihm dringenden Stimmen anderer Wesen, die über das Ohr sich seinem „empfindenden Gemeinsinn“ nähern, ein Mit-Gefühl entwickelt und somit sich in ein kontinuierlich verbundenes Menschheitsverständnis eingliedert.24 Herder kommt zu dem Schluss, dass „wir fast mit unserm ganzen Körper hören.“25 Während das visuelle Er-kennen eine diskrete Wahrnehmung ist, nimmt das Ohr die Außenwelt kontinuierlich auf.26 „Von festen Umrissen und Formen, wie das Auge zeigt“, so weiß Herder, „kann bei Empfindungen, sogar bei Gestalten, die durch Gehör zu uns kommen, auch nicht die Rede sein, da das Ohr eigentlich nie fest gestaltet.“27 Leibniz’ und Herders Denkräume sind als tönende, sonale28 Klangräume konzipiert. Denn der Klang ist „um mich herum, die wahrgenommene Welt ist daher phänomenal nicht von vornherein ein Gegen-Stand (Objekt), sondern vor allem etwas Umgebendes.“29 So wie die Leibniz’sche Umgebung als „sphärisch“ und „pneumatisch“30 („tout est conBewegung der Mühle, welche im Hintergrund wahrgenommen werden): „Klang ist sphärisch, Leibnizens Welt ist sphärisch und kontinuierlich.“ (180) Insofern kann auch auf Ebene der Wissensakquise und -formation die Transformation eines diskreten in einen kontinuierlichen Denkraum (vermittels der Sinne: Sehen vs. Hören) beobachtet werden. 24 Herder, Kalligone, Zweiter Teil, 812. 25 Ebd. 26 Gerade hierin sieht Kant einen zentralen Kritikpunkt an der Musik, der „ein gewisser Mangel der Urbanität an[hängt], daß sie vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente ihren Einfluß weiter, als man ihn verlangt, (auf die Nachbarschaft) ausbreitet und so sich gleichsam aufdringt, mithin der Freiheit andrer außer der musikalischen Gesellschaft Abbruch tut; welches die Künste, die zu den Augen reden, nicht tun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will.“ Kant, Kritik der Urteilskraft, 686. 27 Johann Gottfried Herder: „Kalligone. Vom Erhabenen und vom Ideal. Dritter Teil“, in: Ders.: Schriften zur Literatur und Philosophie 1792–1800, Bd. 8, hg. H. D. Irmscher, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, 859–964; hier: 902. 28 Der Begriff des Sonalen wurde auf der Tagung Diskurse des Sonalen, die vom 24.–26. 06. 2015 an der Universität Münster stattgefunden hat, als Arbeitsbegriff vorgeschlagen. Er soll, im Anschluss an Untersuchungen der Sound Studies und Überlegungen zum Begriff des Sonischen, ein „dynamisches, operatives Dazwischen“ bilden, welcher sich „zwischen dem Realen des Akustischen und dem Symbolischen des Klangs“ ansiedeln lässt, so Wolfgang Ernst: „Zum Begriff des Sonischen (Mit medienarchäologischem Ohr erhört/vernommen)“, in: PopScriptum 10 (2008), 1–18; hier: 1. Das Sonale folgt also dem Ansatz, sowohl auf die Materialität des Mediums zu verweisen, also auch das hörende Subjekt miteinzuschließen und ist damit „kulturalisierter Schall“ (Peter Wicke: „Das Sonische in der Musik“, in: PopScriptum 10 (2008), 1–21; hier: 3). 29 Trabant, Europäisches Sprachdenken, 180. 30 Leibniz, Nouveaux Essais, 56: „En un mot les perceptions insensibles sont d’un aussi grand usage dans la Pneumatique, que les corpuscules dans la physique; et il est également déraisonnable de rejetter les uns et les autres, sous pretexte qu’elles sont hors de la portée de nos sens.“ Vgl. Trabant, Europäisches Sprachdenken, ebd.
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spirant“31) beschrieben wird, ist auch der Klang, die „tönende Empfindung“ (Herder) und die Perzeption kontinuierlich-sphärisch gedacht. Das Ohr wird zum Organ der Verbindung zwischen dem seelischen Innen und dem körperlichen Außen, und es wird „Gemeinsinn“: Das Hören ist derjenige Sinn, der den Menschen mit seinen Mitmenschen verbindet. Als Gewährsmann gegen Kants Abwertung der Musik in dessen Kritik der Urteilskraft, die oben bereits zitiert wurde, führt Herder in seiner Kalligone dann auch Leibniz an, der in einer Schrift32 nicht nur die Macht der Musik hervorhebt, sondern vor allem den „Eindruck durch Töne“, welcher intensiver sei als der durch Gemälde, „denn er enthält Bewegung“, so dass „durch Töne ein Mensch in alle Affekten [sic], in jeden Zustand versetzt werden“ kann. Der Musik ist damit bereits in ihrer Anlage das Wirkungsziel des movere eingeschrieben.33 Allein aufgrund der wahrgenommenen strukturellen Ähnlichkeit mit dem Seeleninnenleben haftet den Tönen eine Idee der Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit an, die den anderen Zeichen im Laufe des 18. Jahrhunderts abhanden gekommen ist. Am Ursprung in Rousseaus Essai sur l’origine des langues (1781, posthum34) stehen so die Töne, die „sons inarticulés“35 als noch strömende, den Leidenschaften entsprungene Klangphänomene: „Il est donc à croire […] que les passions arrachérent les prémiéres voix“36 „et voila pourquoi les prémiéres langues furent chantantes et passionnées avant d’être simples et méthodiques.“37 Nicht die Vernunft oder das Bedürfnis zur Kommunikation formen die ersten Worte: Es sind die Passionen, die den Menschen als grundsätzlich sensibles, intuitives Wesen auszeichnen. Rousseau inszeniert seinen Sprachursprung somit als einen tönenden: Musik und Sprache entspringen ein und derselben Quelle, nämlich dem sangbaren, klanglichen durch die Passionen angegebenen Ton.38 Die ersten Wörter sind wenig artikuliert, nur vereinzelte Konsonanten durchbrechen den kontinuierlichen 31 32 33 34
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Leibniz, Nouveaux Essais, 55. Vgl. Trabant, Europäisches Sprachdenken, 181; Adler, Prägnanz des Dunklen, 93. Otium Hanoveranum, erstmals veröffentlicht 1718. Herder kannte offenbar die 1768 von Dutens in Genf erneut publizierte Ausgabe des Werks. Herder, Kalligone, Zweiter Teil, 823. Vorarbeiten des Essais stammen bereits aus dem Jahr 1755, was gegen eine direkte Beeinflussung durch Leibniz spricht, dessen Werk erst ab 1765 publiziert wurde. Wie jedoch bereits angemerkt, waren einige Gedanken von Leibniz bereits durch andere Schriften bekannt geworden. Jean-Jacques Rousseau: „Essai sur l’origine des langues. Où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale“, in: Ders.: Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 371–429; hier: 382. Ebd., 380. Ebd., 381. „Il faloit dire que l’une et l’autre eurent la même source et ne furent d’abord que la même chose.“ Ebd., 411.
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Vokalstrom, um den Fluss und die leichte Aussprache natürlicher Laute zu bewahren39. „Klang hat also etwas mit dem Dahinströmen im offenen Raum zu tun, Artikulation mit dem Überwinden von Hindernissen“40. Die Artikulation ist zwar Voraussetzung von Sprache, tritt aber zugleich als Gefahr der ursprünglichen, musikalischen Empfindungssprache auf. Das Dahinströmen, der transitorische Charakter der Melodie, den Kant später kritisieren wird, wird hier als Vorteil dargestellt: die Sprachmusik zeichnet sich als ein natürlicher Zeichenapparat aus, der Empfindungen ohne semantischen Verlust in Zeichen übersetzen kann – welche sogar dem eigentlichen Wort an Ausdruckskraft überlegen sind.41 Die Menschen als „Sprachgeschöpfe“42 finden ihren Zugang zur Seele vermittels sonaler Strategien, das Gehör ist „die eigentliche Tür zur Seele, und das Verbindungsband der übrigen Sinne geworden“43. Das „Gattungsverständnis“ der poetischen Sprache im 18. Jahrhundert kann dabei als „in starker Affinität zur Ausdrucksart und zur Wirkung der Musik gesehen“44 werden. Sprache ist verlautet45: „Sie hat eine vibrierende Natur angenommen, die sie vom sichtbaren Zeichen löst, um sie der Musiknote anzunähern.“46
1.1 Die Wirkungen des Sonalen Es häufen sich somit nicht nur Aussagen zum zentralen Stellenwert des Gehörsinns, sondern auch zur unerklärlichen Wirkung, welche die mit ihm verbundene Kunst, die Musik, auf den Rezipienten ausübt: La peinture montre l’objet même, la poésie le décrit, la musique en excite à peine une idée. Elle n’a de ressource que dans les intervalles et la durée des sons […][.]
39
„[P]our les rendre coulantes et faciles à prononcer“. Rousseau, Essai sur l’origine des langues, 383. 40 Wilczek, Das Artikulierte und das Inartikulierte, 83. 41 „La mélodie en imitant les inflexions de la voix exprime les plaintes, les cris de douleurs ou de joye, les menaces, les gémissemens; tous les signes vocaux des passions sont de son ressort. Elle imite les accens des langues, et les tours affectés dans chaque idiome à certains mouvemens de l’ame; elle n’imite pas seulement, elle parle, et son langage inarticulé mais vif, ardent, passionné a cent fois plus d’énergie que la parole même. Voila d’où nait la force des imitations musicales; voila d’où nait l’empire du chant sur les cœurs sensibles. […] Les sons dans la mélodie n’agissent pas seulement sur nous comme sons, mais comme signes de nos affection, de nos sentimens […].“ Rousseau, Essai sur l’origine des langues, 416 f. 42 Herder, Abhandlung, 747. 43 Ebd., 746. 44 Schneider, Ins Ohr geschrieben, 16. 45 „Das ganze Sein der Sprache ist jetzt lautlich. […] In seiner vorübergehenden und tiefen Klanghaftigkeit wird das Sprechen souverän.“ Foucault, Ordnung der Dinge, 349 f. 46 Ebd., 350.
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Comment se fait-il donc que des trois arts imitateurs de la nature, celui dont l’expression est la plus arbitraire et la moins précise parle plus fortement à l’âme?47
Diderot widerspricht an dieser Stelle sehr deutlich der Ansicht Abbé Du Bos’, der in seinen Réflexions critiques noch sagt, „que l’œil est plus près de l’ame que l’oreille“48. Der (Instrumental-)Musik wurde lange Zeit keine eigenständige Ausdrucksfähigkeit zugesprochen, vielmehr kritisierte man sie aufgrund ihres vagen transitorischen Charakters, welcher ohne Hinzunahme der Sprache aussagelos blieb.49 Mit der Aufwertung des fundus animae und der Reevaluation der Sinne verändert sich diese Sichtweise, und Musik wird aufgrund ihres zwar unpräzisen, zugleich aber besonders intensiven und unmittelbaren Einflusses auf die Seele neu bewertet.50 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts häufen sich Aussagen, die sich im Kern um die Auffassung einer direkten, unmittelbaren Einwirkung auf das Gemüt der Rezipienten drehen: „Musik rühret unmittelbar und übertrift darinn die Mahlerey unendlich.“51 Auch lassen sich nun zahlreiche Belege für die Vorstellung anführen, dass „[d]er Weg des Ohrs […] der gangbarste und nächste zu unsern Herzen [sei]“52 oder dass „[d]ie Natur […] eine ganz unmittelbare Verbindung zwischen dem Gehör und dem Herzen gestiftet [habe]“53. Zwar wird der Musik seit jeher eine starke Wirkung auf die Seele zugeschrieben und sie wurde auch mit musikalischen Strukturen verglichen,54 jedoch wird diese Vorstellung 47 Diderot, Lettre à Mademoiselle…, 60. 48 Jean-Baptiste Abbé Du Bos: Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. Prémière partie [1719], Paris: Pierre-Jean Mariette 41740, 387. 49 „Son hiéroglyphe est si léger et si fugitif, il est si facile de le perdre ou de le mésinterpréter“, Diderot, Lettre à Mademoiselle…, 60. 50 So zitiert bereits Johann Mattheson in seinem Vollkommenen Kapellmeister (1739) eine Schrift des Barockdichters Daniel Casper von Lohenstein mit den Worten: „Das Gesicht, der Geruch, der Geschmack und das Fühlen dienen dem Leibe; der ein[z]ige Sinn des Gehörs aber ist unsrer Seele und unser Sitten bestimmet und vorbehalten.“ Daniel Caspar von Lohenstein, Großmütiger Feldherr Arminius, 1689, zit. n. Johann Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister (1739), Faksimile-Nachdruck, hg. M. Reimann, Kassel et al.: Bärenreiter 1954, 12. 51 Christian Gottfried Krause: Von der musikalischen Poesie, Berlin: Johann F. Voss 1753, 54. 52 Schiller, Über das gegenwärtige teutsche Theater, 174. 53 Sulzer, Musik, 780. 54 Z. B. in Aristoteles Politica heißt es in musikpädagogischer Fragestellung: „Das wir nun tatsächlich in einer bestimmten Weise [von Musik, J. F.] beeinflusst werden, zeigt sich deutlich besonders an den Kompositionen des Olympus; denn diese versetzen unbestritten Seelen in einen Zustand von Ekstase, Ekstase ist aber ein Affekt, der in der Seele den Charakter erfasst.“ Und weiter: „Wir ändern uns ja in der Seele, wenn wir solchen (Rhythmen und Melodien) zuhören […]. Die Tonarten sind von vornherein ihrer Natur nach so verschieden, dass man beim Hören auf jede von ihnen mit einer je besonderen Gemütsstimmung reagiert und nicht unverändert bleibt […]. Und es scheint eine gewisse Verwandtschaft (zwischen der Seele) und den Tonarten und Rhythmen zu geben. Das erklärt auch den Ausspruch vieler Weiser, von denen einige sagen, die Seele sei eine Harmonie, die anderen, sie habe eine Harmonie.“
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durch die veränderten Emotionskonzepte (vgl. Kap. II.2), durch eine veränderte Musikästhetik (vgl. Kap. IV.2) sowie die physikalisch-medizinischen Erkenntnisse neu kodiert und bewertet. In der Regel dienen physiologische und physikalische Argumente der Erklärung der unmittelbaren Seelennähe und ‑wirkung der Musik.55 Zudem spielt ein anatomisches Argument eine Rolle: Allein aufgrund seines größeren räumlichen Abstands zum Herzen und seiner Lage am „Äußeren“ des Körpers sei das Auge gegenüber dem Ohr benachteiligt: Das Gehör allein, ist der Innigste, der Tiefste der Sinne. Nicht so deutlich, wie das Auge ist es auch nicht so kalt: nicht so gründlich wie das Gefühl ist es auch nicht so grob; aber es ist so der Empfindung am nächsten, wie das Auge den Ideen und das Gefühl der Einbildungskraft.56
Darüber, dass der Gehörsinn der Seele nahe steht (bzw. nahesteht) und die Musik dementsprechend einen stärkeren Eindruck auf sie hat als andere Künste, sind sich ohnehin viele Literaten einig. Dass der Grund nun jedoch in der Strukturähnlichkeit zwischen musikalischen Gradationen und Empfindungswallungen gesucht wird, ist ein neuer Gedanke. Der Komponist Caspar Ruetz schreibt der Musik, einen Gedanken Batteux’ präzisierend, eine für die gradationalen Techniken charakteristische Ausgleichsfunktion zu, die verhindere, dass Musik als ästhetisches Medium überhaupt „Ekel“ – also ein Zuviel – produzieren könne: „Die Musik steiget niemals über die Gränzen der Natur hinaus, sie mag declamieren oder künstlich singen; wenn nur die Sätze den Leidenschaften gemäß sind. […] Sie ist nicht alleine eine Nachahmerin der Natur, sondern die Natur selbst“57. Musik ist damit ein den Empfindungen entsprechendes Medium, denn „ihre eigenthümliche[n] Ausdrücke, welche sie nicht von andern Dingen entlehnet, haben ein geheimes
Aristoteles: Politik, Buch VII/VIII, Über die beste Verfassung, übers. E. Schütrumpf, in: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung, hg. H. Flashar, Bd. 9: Politik Teil IV, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, 54 ff. Diesen Hinweis verdanke ich Ursula Kummer. 55 „Dieser Unterschied [der unterschiedlichen Wirkung von Musik und Malerei, J. F.] kommt ohne Zweifel daher, daß die Materie, wodurch die Nerven des Gehörs ihr Spiehl bekommen, nämlich die Luft, gar sehr viel gröber und körperlicher ist, als das ätherische Element des Lichts, das auf das Auge würkt. Daher können die Nerven des Gehörs, wegen der Gewalt der Stöße, die sie bekommen, ihre Würkung auf das ganze System aller Nerven verbreiten, welches bey dem Gesichte nicht angeht. Und so läßt sich begreifen, wie man durch Töne gewaltige Kraft auf den ganzen Körper, und folglich auch auf die Seele ausüben könne.“ Sulzer, Musik, 780. 56 Herder, Viertes Wäldchen, 357. 57 Caspar Ruetz: „Sendschreiben eines Freundes an den andern über einige Ausdrücke des Herrn Batteux in der Musik“, in: Friedrich Wilhelm Marpurg: Beyträge zur Aufnahme der Musik, Bd. 1, Berlin: Joh. Jacob Schützens sel. Wittwe 1755, 273–311; hier: 292.
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Verständnis“58 mit den Seelenbewegungen. Sie können daher eine breitere Skala der Empfindungen erfassen, als es die Sprache vermag: Nicht allein die Gemüthsbewegungen und Leidenschaften, welche zugleich Vorwürfe der Poesie und der Redekunst sind, sondern auch tausend andere Empfindungen, die eben deswegen nicht können genant und beschrieben werden, […] sind der Musik unterworfen.59
Neben anatomischen und ästhetischen Begründungen der Wirkung von Klängen und Musik auf das Gemüt des Menschen wird also mit einer gradationalen Ordnung des Seelenlebens argumentiert. „[I]l faut avouer que la tâche du Musicien est la plus grande“, bemerkt auch Rousseau, denn: „L’imitation de la peinture est toujours froide, parce qu’elle manque de cette succession d’idées et d’impression qui échauffe l’ame par degrés, et que tout est dit au premier coup d’oeil.“60 Es ist die Idee eines verzeitlichten Gradualismus, der die Musik in eine größere Nähe zur Seele stellt als die Malerei. Auch Daniel Webb schreibt in ähnlicher Argumentation (Observations on the Correspondence between Poetry and Music, 1769): „[I]f music owes its being to motion, and, if passion cannot well be conceived to exist without it, we have a right to conclude, that the agreement of music with passion can have no other origin than a coincidence of movements.“61 Die Übereinstimmung der Bewegung, „the idea of increase or diminution“ (50), mit der musikalischen Sukzession erklärt Webb zum Hauptgrund der musikalischen Wirkung. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Webb dabei der „transition […] from the piano into the forté“ (45), welche in der Musik einen großen Gefallen findet, weil „it proceeds from the spirits being thrown into the same movement as when they rise from sorrow into pride, or from an humble into a sublime affection.“ (45) Das Absteigen vom Forte zum Piano hat einen vergleichbaren Effekt, da man, aus einer hohen Anspannung kommend, „the sweet relief of a gradual relaxation“ (46) fühle. Die musikalischen Tonfolgen beschreiben analog zu den emotionalen Gefühlswallungen eine Crescendound Diminuendo-Bewegung, eine musikalische Dynamik, die auch in der Instrumentalmusik seit Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend praktiziert und perfektioniert wird, wie im nächsten Teilkapitel dieser Arbeit dargestellt wird. Nicht zufällig führt Webb in seiner Schrift den Musiker Niccolò Jommelli an, der unter Zeitgenossen als „Erfinder“ des Crescendo gehandelt wurde, 58 Ebd., 293. 59 Ebd. 60 Jean-Jacques Rousseau: „Opéra“, in: Ders.: Dictionnaire de Musique. Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 948–962; hier: 959, Hervorh. J. F. 61 Daniel Webb, Observations, 7. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
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wenn er ein Beispiel für die Wirkung der Musik auf den Rezipienten veranschaulichen will (11). Diese Wirkung soll zur gleichen Zeit belegen, dass eine Emotion wie die Freude kein permanenter Zustand sein kann, wie manche Menschen glauben würden: „[I]t springs from a succession of impressions, and is greatly augmented by sudden or gradual transitions from one kind of vibrations to another“ (47), denn: „It is contrary to the nature of passion to rest at any fixed point. […] Where there can be no gradation in an object, its influence on the mind is too suddenly determined.“ (50 f.) Die Transformation der Affekte in schwankende Empfindungen wird in diesem Zitat also explizit mitreflektiert und als Grund für den besonderen Vorzug der Musik vor anderen Künsten angegeben. Die Beispiele in Webbs Schrift ähneln in ihrer Beschreibungssprache dabei auffallend den ‚Affekt‘-rhetorischen Argumenten zur Gradatio, wie sie oben (Kap. II.1) bereits angeführt worden sind. Webbs Text veranschaulicht, wie die Musik in struktureller Analogie zum Seelenleben definiert, ihr deshalb eine besonders intensive Wirkung zugesprochen wird und sie damit eine eigene Wertigkeit erlangt, weil ihr ein unmittelbares Ausdruckspotential immanent ist. Und wenn Webb beklagt, „our modern lyric poesy is a school for painters, not for musicians“ (133), so spiegelt dieser Wunsch, Lyrik solle sich an der Musik orientieren, eine „Sehnsucht der Sprache nach der Musik“62 wider, die sich schon vor der „Literatur um 1800“, nämlich in einigen Schriften der 1760er-1780er Jahre, mit großer Deutlichkeit niederschlägt. Bereits Herder fordert in seinem Vierten kritischen Wäldchen 1769 eine Abwendung vom vorherrschenden ästhetischen Beurteilungsprinzip der Schönheit hin zu einer Ästhetik des „Wohllauts“.63 Mit dem Ziel, eine Ästhetik des tonartig Schönen zu etablieren, tritt er also „gegen die Kolonialisierung durch einen vom ‚Gesichtssinn‘ entlehnten Formbegriff“64 an. Dass diese Hinwendung zur Musik zugleich den Eindruck einer tendenziellen Abwendung von der Malerei vermittelt, hängt zudem mit dem weiteren semantischen Feld von ‚Malerei‘ zusammen: Denn wie bereits anhand der Schauspielkunst gezeigt wurde (vgl. Kap. III.2), bezeichnet ‚Malerei‘ unter anderem das Nachahmungsprinzip einer rein abbildenden Funktion der Künste. Von dieser ist auch die Musik selbst nicht frei: Johann Jakob Engel empfiehlt – wie bereits zitiert – den Komponisten in seinem Aufsatz „Über die Musikalische Malerei“ (1780): „Er soll ausdrücken, nicht malen.“65 62
So lautet der Buchtitel einer von Barbara Naumann herausgegebenen Anthologie zur musikalischen Poetik um 1800. 63 Herder, Viertes Wäldchen, 293. 64 Stollberg, Strom der Empfindung, 186. 65 Engel, Über die musikalische Malerei, 150. Bekanntermaßen ist Ludwig van Beethoven dieser Empfehlung in seiner Sinfonie Nr. 6 F-Dur, op. 68 gefolgt, indem er diese mit den Worten „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ kommentierte.
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Dieser Ausdrucksbegriff ist darauf angelegt, dass Musik nicht Gegenstände – „eine Schlacht, ein Gewitter, einen Orcan“66 – lautmalerisch nachahmen, sondern stattdessen das „Subjective darstellen“ soll, das heißt, sie muss die Vorstellung einer Empfindung transportieren, sie „muß eine solche Reihe von Empfindungen enthalten, wie sie sich von selbst in einer ganz in Leidenschaft versenkten, von außen ungestörten, in dem freien Lauf ihrer Ideen ununterbrochenen Seele nach einander entwickeln.“67 Auch die Musik kann also erst dann eine autonome Ausdrucksfähigkeit erreichen, wenn sie dem Lauf der Empfindungen, der Gradation der Leidenschaften, folgt. Gelingt ihr dies, so kann sie die Sprache in ihrer Ausdrucksfähigkeit übertrumpfen: „‚Die Musik herrscht vorzüglich, wo sie ausdrückt, was die Sprache nicht vermag, oder wo die Sprache augenblicklich ist‘“68, erklärt Lockmann, der männliche Protagonist in Wilhelm Heinses Roman Hildegard von Hohenthal (1795/96), der wesentliche zeitgenössische Ansichten zusammenführt. Es „lässt sich das innere Gefühl […] ein Wallen des Herzens, die hohe Fluth in Adern und Lebensgeisters durch nichts besseres ausdrücken.“69 Wie bereits bei Rousseau festgestellt, scheint ein großer Bedürfnis danach zu bestehen, Sprache und damit auch die Poesie zurück an ihre Anfänge des „Sprachgesangs“ (Herder) zu verlegen und sie mithilfe des Paradigmas Musik neu zu bestimmen. Denn hierin äußert sich erneut der Versuch, die Mittelbarkeit des Mediums zu überwinden: Wir sehen, hören, fühlen, jammern, vergessend des Mediums der Sprache und Töne. So allenthalben, wo Bewegung der Natur in Tönen geschildert wird. Die Musik kann sie trefflich nachahmen; nur dann aber ahmt sie solche mit Wirkung nach, wenn dieser, aus Bewegung des menschlichen Herzens entsprungen, Bewegungen desselben Herzens zueilen, mithin Natur und Herz sich gleichsam verschmelzen.70
66 Engel, Über die musikalische Malerei, 138. 67 Ebd., 147 f. 68 Wilhelm Heinse: Hildegard von Hohenthal, Hamburg: Tredition Classics 2012, 192. 69 Ebd. 70 Herder, Händel, 551, Hervorh. im Original.
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1.2 „Musikalische Poesie“71: Die Verbindung von Wort und Musik „Uebrigens bleibts dabey, Schwester, daß wir beyde, Poesie und Musik, zusammen gehören, und vereint auch die größte Wirkung hervorbringen“72. In Herders Göttergespräch (1785), einem Streit, in dem die Töchter des Apollo, Malerey und Tonkunst, ihre jeweiligen Vorzüge diskutieren, steht am Ende die Verbindung von der hinzutretenden Tochter Poesie mit der Musik als diejenige künstlerische Verbindung, welche den höchsten Wert davonträgt, da sie am stärksten wirken kann. Insbesondere seit den 1760er Jahren geben unterschiedliche Autoren verschiedene Begründungen für diese ihrer Ansicht nach besonders sinnvolle Verbindung. Um die Eignung dieser Verbindung zu erklären, beruft man sich auf semiotische, anthropologische, wirkungsästhetische und strukturelle Argumente, die zumeist Hand in Hand gehen. Lessing hat sich in seinen Paralipomena (1762/66), den Nachtragungen zum Laokoon, aus denen eigentlich noch zwei weitere Teile entstehen sollten, im 27. Abschnitt zur Verbindung von Musik und Poesie geäußert. Er geht davon aus, dass die Möglichkeit, verschiedene Künste untereinander zu verbinden, grundsätzlich von der „Verschiedenheit der Zeichen“ abhinge, so dass auch die resultierende „intime Verbindung wiederum ihre Grade“ habe.73 Er kommt durch diese semiotische Bestimmung der Künste zu dem Schluss: Die Vereinigung willkürlicher, aufeinander folgender hörbarer Zeichen, mit natürlichen, aufeinanderfolgenden hörbaren Zeichen ist unstreitig unter allen möglichen die vollkommenste, besonders wenn noch dieses hinzukömmt, daß beiderlei Zeichen nicht allein für einerlei Sinn sind, sondern auch von eben demselben Organo zu gleicher Zeit gefaßt und hervorgebracht werden können. Von dieser Art ist die Verbindung von Poesie und Musik […].74
Aufgrund dieser semiotischen Analogie musikalischer und poetischer Künste geht Lessing – wie Rousseau und Herder – von einem gemeinsamen Ursprung von Musik und Poesie aus, wenn er sagt, dass „die Natur sie nicht sowohl zur Verbindung, als vielmehr zu einer und eben derselben Kunst
71 Herder, Viertes Wäldchen, 366. Der Begriff der „Musikalischen Poesie“ ist also nicht erst seit Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) auch für die Literatur „paradigmenbildend“, wie Christine Lubkoll schreibt. (Christine Lubkoll: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg: Rombach 1995, 9.) Bereits 1752 verfasst Christian Gottfried Krause ein Kompendium „Von der Musikalischen Poesie“. 72 Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung, Gotha: Carl Wilhelm Ettinger 1785, 133–164; hier: 158 f. 73 Gotthold Ephraim Lessing: „Paralipomena zum Laokoon“, in: Ders.: Laokoon. Werke 1766– 1769, hg. W. Barner, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2007, 207–321; hier: 314. 74 Ebd., 313.
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bestimmt zu haben scheinet.“75 Da musikalische und poetische Zeichen also beide aufeinanderfolgend und hörbar, somit in ihren semiotischen Eigenschaften – als Zeit-Künste – identisch sind und zudem beide über das Ohr rezipiert werden, ist ihre „gemeinschaftliche Wirkung“76 besonders vollkommen. Dies unterscheidet sie deutlich von der Verbindung von Poesie und Malerei: Aufgrund der semiotischen Differenz zwischen Zeit- und RaumKunst kann hier nur eine Verbindung entstehen „bei welcher die eine der andern untergeordnet ist“77. Das Argument der Zeitlichkeit wird auch in anderen Schriften angeführt, beispielsweise von dem oben bereits zitierten Daniel Webb. Er knüpft es jedoch an ein wirkungsästhetisches Argument: „[P]oetry and musick move the passions, by a quick and growing succession of impressions; the images of the one and vibrations of the other, gentle at first, accumulate, and press upon us, with such an impetuous re-iteration, as bear all before it.“78 Gerade die gemeinsame, „akkumulierende“ Wirkung von Musik und Poesie hebt Webb hervor, da sie als Zeitkünste beide den sukzessiven Emotionen entsprächen: So wie Musik sei auch der Vers durch Bewegung („motion“) bestimmt, „and verse produceth pleasure, which is likewise motion.“79 Poesie und Musik lassen sich aber nicht nur aufgrund dieser strukturellen Analogie so gut verbinden, sondern auch, weil sie sich gegenseitig komplementieren: [L]et eloquence co-operate with music, and specify the motive of each particular impression, while we feel an agreement in the sound and motion with the sentiment, song takes possession of the soul, and general impressions become specific indications of the manners and the passions.80
Da die Musik der Seele näher ist, kann sie den Konnex zwischen Laut und Bewegung unmittelbar stiften. Es wird zu ihrer Aufgabe, die verlorengegangene Verknüpfung zwischen Wort und Seele wiederherzustellen und vermittels ihrer sukzessiven Vereinnahmung seelischer Bewegungen eine Verbindungskunst zu sein. Dennoch bleibt sie dem Bereich des Vagen ver75 Ebd. 76 Ebd., 316. 77 Ebd. 78 Daniel Webb: „An Inquiry into the Beauties of Painting“, in: Ders.: Ästhetische Schriften. Nachdr. d. Ausg. von 1761, 1762 u. 1769, Einl. I. Kerkhoff, München: Fink 1974, 1–200; hier: 188. Zwar meint Webb mit „Musik“ meist einen Sprachklang oder eine Sprachmelodie innerhalb der diskutierten Gedichte, er streut jedoch zugleich immer wieder unterschiedliche Beispiele aus der Instrumentalmusik ein, was bezeugt, dass die Theorie von Musik und (Sprach-) Klang hier als eins behandelt werden. 79 Ebd., 12. 80 Ebd., 11 f.
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haftet und kann keine spezifische Emotion bestimmen.81 Dafür muss die Sprache hinzutreten, die allgemeine Eindrücke in spezifische Zeichen verwandelt. Die Perfektion ist erreicht, „when the words are so happily chosen, and the sounds are so connected with the idea, that they seem all to spring from one and the same motion of the soul.“82 Auch hier empfiehlt Webb das Konzept der „fine gradations“, „which give a kind of growing energy to a thought, and form a principal beauty in the versification“83, wobei die rhetorische (‚Affekt‘-)Figur und die emotionale Gradation sich im Gedicht zu einer Bewegung vereinen. Die Aufteilung der ‚Aufgabenbereiche‘ Musik/Empfindung und Poesie/spezifische Idee vertritt auch von Gerstenberg, der im 20. seiner Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767) schreibt: Die Musik kann und muß nur allgemeine Ideen ausdrücken, und diese Ideen müssen Empfindungen seyn. In der Rhapsodie des zweyten Theils der Krause= und Rammlerischen Oden=Melodien hören Sie den Tritt der Elephanten, das Gemurmel der Bäche, den Gesang der Nachtigall, sogar das Wallen der Saaten. Spielen Sie das Ganze ohne die darunter geschriebene Erklärung; und sie haben nichts gehört. […] Folglich drückt sich nicht jeder Gegenstand der Empfindung durch den Gesang aus; sondern die Empfindung selbst, in welche die verschiedenen Gegenstände zusammenfließen, löst sich in Töne auf, und wird der simple einfache Gesang der Natur.84
Während die Musik kontinuierliche Empfindungen ausdrückt oder ‚Tongemälde‘ produziert, hat das Wort einen statischen, bezeichnenden Charakter: „Worte können theils als Töne, theils als Ideen betrachtet werden. Eine jede Idee, die ein Wort wird, ist eine bestimmte Modifikation unserer Seele, das Resultat, nicht das Resultierende“85. Das Wort als fixierter Zustand vermag es nicht, den Menschen zu rühren: „Lesen Sie z. E. – Mein Herz wallt von Liebe, – Furcht und Hoffnung kämpfen in meiner Seele, – Entzückung durchströmt mein Herz: – dieses Wallen, Kämpfen, dieses Strömen ist Ihnen doch nur ein Zustand, wozu Ihnen das Wie fehlt.“86 Das „Wie“, eine sukzessive, bewegte und tönende Zeichenhaftigkeit muss hinzutreten, damit 81 „[M]usic cannot, of itself, specify any particular passion“. Ebd., 10. 82 Daniel Webb: „Remarks on the Beauties of Poetry“, in: Ders.: Ästhetische Schriften. Nachdr. d. Ausg. von 1761, 1762 u. 1769, Einl. I. Kerkhoff, München: Fink 1974, 1–123; hier: 55. 83 Ebd., 51 f. 84 Gerstenberg, Briefe, 374 f. (3. Sammlung, 20. Brief). 85 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: „Über Recitativ und Arie in der italienischen Sing-Komposition. An ***“ [1770], in: Ders.: Vermischte Schriften, Von ihm selbst gesammelt und mit Verbesserungen und Zusätzen, Bd. 3, Altona: J. F. Hammerich 1816, 352–381; hier: 358. Auch hier wird – durch die Verwendung des nachgestellten Wortbildungssegments „-end“, das semantisch eine Handlung ausdrückt – der Bezug zu Lessings „werdendem Schild“ hergestellt, wenn Gerstenberg das Resultat zum Resultierenden transformiert. 86 Ebd., 359.
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Resultierendes und Resultat verbunden werden und so der „Wortbegriff […] durch die Verbindung mit jenen malerischen Äußerungen, Handlungen, Minen, Gebehrden, Accenten, Tonfolgen“87 ergänzt wird: Hören Sie aber den Ton der nämlichen Worte, Accent, Modulation; sehen Sie die Mine, mit der ich sie ausspreche: – So, ach! so wallt mein Herz von Liebe! – So kämpfen Furcht und Hoffnung in meiner Seele. – So durchströmt Entzückung mein Herz […]. So wird aus Worten, aus Resultaten, das Tongemälde der Empfindungen, das Resultierende.88
Ganz explizit bedarf es hierbei des Hörens des Tons (im Vergleich zum stillen Lesen), um eine Wirkung im Rezipienten hervorzurufen. Gerstenberg folgt damit einer sonalen Ausrichtung der Poesie. „Versuchts und leset sie laut“89, lautet auch Herders Diktum zum Rezipieren literarischer Texte. Und bei Diderot findet sich die Empfehlung, dass gerade Liebesgespräche „n’était pas des choses à lire, mais des choses à entendre“, da nur dadurch das Hören das „tremblement de voix“, die „voix de la passion“, „les armes, les regards qui l’accompagnèrent“ ausdrücken könne.90 Die Verlautbarung ist die wesentliche Voraussetzung der intensivierten Wirkung von Sprache. Diese Hervorhebung und Neubewertung des Tons und der Musik als ergänzende Kunst ist unter musikhistorischem Gesichtspunkt nicht unbedeutend. Denn der Streit darüber, welche Kunst in der Verbindung von Wort und Musik die vorherrschende sei, ist mindestens so alt wie die erste Oper.91 Das Bonmot „prima le parole e poi la musica“, „erst die Worte, dann die Musik“, war noch zu Zeiten Christoph Willibald Glucks (1714–1787) eine zentrale Forderung. Vor diesem Hintergrund ist ein Brief an Gluck vom 5. November 1774 als bemerkenswertes Dokument zu lesen, in welchem Herder dem Komponisten sein Musikalisches Drama Brutus zusendet: Der große Zwist zwischen Poesie u. Musik, der auch beide Künste so weit auseinander gebracht hat, ist die Frage: welche von beiden soll dienen? welche herrschen? […] [W]äre es, daß der Dichter nachgäbe, daß er nur vorzeichnete, ebauchirte, gleichsam Worte nur einstreute, u. die sonst unbestimmten Empfindungen 87 88 89 90 91
Ebd., 358. Ebd., 359 f. Johann Gottfried Herder: „Das Drama“, in: Ders.: Werke, Bd. 10: Adrastrea (Auswahl), hg. G. Arnold, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2000, 317–361; hier: 318. Diderot, Entretiens sur le fils naturel, 1221. D. i. Claudio Monteverdis Orfeo, die 1607 in Mantua uraufgeführt wurde. Monteverdi vertrat dabei die Ansicht, die Sprache solle sich nicht der Musik unterordnen: „L’orazione sia padrona dell’armonia e non serva“ („Die Rede sei Herrin der Harmonie, nicht Dienerin“; J. F.); Monteverdi zit. n. Heinz Brandes: Studien zur musikalischen Figurenlehre im 16. Jahrhundert, Diss. Berlin: Triltsch & Huther 1935, 81 f.
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der Musik bestimmte – u. dazu Hochgeschätzter Herr ist dieser Versuch. Er soll nur seyn, was die Unterschrift am Gemälde oder Bildsäule ist, Erklärung, Leitung des Stroms der Musik, durch dazwischen gestreute Worte. Dazu also, Verehrter Mann, das Abgebrochne, dem Lesen nach Einzelne u. Wüste. Es soll nicht gelesen werden, es soll gehört werden. Die Worte sollen nur den rührenden Körper der Musik beleben, u. diese soll sprechen, handeln, rühren, fortsprechen, nur dem Geist u. dem Umriß des Dichters folgen.92
Das Projekt, welches Herder hier vorstellt, scheint der Idee des „prima le parole“ zunächst entgegengesetzt, wünscht er doch ganz grundsätzlich ein „Nachgeben“ des Dichters gegenüber der Musik. Worte sind „abgebrochen“, vereinzelt, und werden rhapsodisch in die Musik „eingestreut“. Doch auch wenn die Poesie nur skizzenhaft vorzeichnet, wirkt sie als die tönenden Empfindungen bestimmende Orientierung und ist in ihrer Wirkung „belebend“. Sie bildet Umrisse, die notwendig sind, um den „Strom“ der „unbestimmten Empfindungen“ zu leiten. Tatsächlich enthält das „Drama zur Musik“ Brutus (1772/1774) zahlreiche Ausrufe und Aposiopesen. „Ungebundenheit“, so schreibt Herder an anderer Stelle, „scheint also die erste Bedingung der Gesangessprache zu sein“93 – es kommt, ähnlich wie im Drama des 18. Jahrhunderts, zu einer zunehmenden Entregelung der Sprache. Die erste Szene beginnt dabei inmitten eines Ungewitters, welches zugleich mit dem seelischen Zustand in Analogie gesetzt wird, wenn die erste Rede des Cassius lautet: „Wie ist die Nacht so schauervoll/ wie meine Seele!“94 Die musikalische Malerei des Gewitters dient der Untermalung eines tumultösen Seelenzustands, dessen innere Unruhe äußerlich und akusmatisch zur Darstellung gebracht wird.95 Die zahlreichen Wiederholungen, die in der Rede angebracht werden96, zeugen tatsächlich von einer „abgebrochnen“ Sprache, die hier lediglich „eingestreut“ wird und die zugleich das Verstricktsein in der Seelenwelt auch 92 93 94 95
96
Johann Gottfried Herder: „Herder an Gluck [5. 11. 1774]“, in: Ders.: Briefe, Bd. 3: Mai 1773-September 1776, hg. A. Günter, W. Dobbek, Weimar: Hermann Böhlau 1985, 124 f. Herder, Händel, 543. Johann Gottfried Herder: „Brutus“ [1774], in: Poetische Werke, hg. C. Redlich, Bd. 4, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1884, 52–68; hier: 52. In seiner ältesten Fassung aus dem Jahr 1772 hatte Herder noch entsprechend dieser musikalischen „Affekt-Malerei“ angegeben, der Donner solle „kurz gemahlt sein! weil Affekt herrschen soll!“ Johann Gottfried Herder: „Brutus“ [1772], in: Poetische Werke, hg. C. Redlich, Bd. 4, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1884, 11–27; hier: 11. „Erde kleben,/ Ohne Muth,/ Wurm im Blut/ bebender Würme Beben/ Elend Leben!/ Freiheit!/ Freiheit!/ all’ mein Gut!/ Freier Muth!/ Freies Blut!/ Freies Leben! –/ Erde kleben/ Ohne Muth,/ Wurm im Blut/ bebender Würme Beben/ Elend Leben!“ Herder, Brutus [1774], 53 f. Diese stark formalisierte Wiederholungsstruktur erinnert zugleich an die regulärtraditionelle Arienform der Barockoper, die DaCapo-Arie, die einer A-B-A-Struktur folgt. Vgl. Kap. IV.2.
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sprachlich transportiert. Die Gemütsbewegungen werden handlungsleitend eingesetzt: „des Menschen Herz/ es hat nimmer Ruh/ immer wallend/ steigend, fallend/ ein Abgrund weit!“97 Dass die Vereinigung von Wörtern und Musik vor allem auf die Darstellung einer steten, gradationalen und damit implizit seelischen Verlaufsform, einen „Strom der Empfindung“98 ausgerichtet ist, wird nicht zuletzt durch die Anweisungen deutlich, die Herder in seiner ersten Fassung des Brutus aus dem Jahr 1772 gibt. Während die erste Szene „in höchster Stuffe“ endet, so ist „die ganze erste Handlung […] ein Ganzes, wo die Tonmischung Stuffenweise abnimmt und ins Stille geht“, durch „alle Grade herabgedämpft“.99 Gerade die Musik ist es, die diese gradationale Entwicklung „unvermerkt“100 (ebd., 15) geschehen lässt. Denn, so heißt es schon im Vierten Kritischen Wäldchen: „Menschlicher Ausdruck durch die Sprache […] ist zwar deutlicher; aber nur gar zu deutlich. Das diese willkürlich, da sie mit der Natur der Empfindungen also nicht so innig verbunden ist: so wird sie zwar aufklären, aber nicht verstärken.“101 Obwohl der hier entstehende „Interferenzraum von Musik und Sprache“102 zwar eine Zurichtung, eine systematische „Entbindung oder Entmessung gebundener Sprache“103, zur Voraussetzung hat, ist Sprache unabdingbar und wird als die tönende Empfindung präzisierend eingesetzt. Was Herder also eigentlich anstrebt, ist nicht die Herrschaft der einen Kunst über die andere. Dieses Ungleichgewicht habe die beiden Künste vielmehr zunehmend voneinander entfernt: „Der Musikus will, daß die seine herrschen soll; der Dichter auch, u. daher stehen sie sich oft im Wege. Jeder will ein schönes Ganze[s] liefern, u. bedenkt oft nicht, daß er nur einen Theil liefern müsse, damit in der Würkung aller beiden erst das Ganze werde.“104 Herder setzt sich also für eine Gleichwertigkeit der beiden Künste ein, was einem neuen Anstoß der alten Privilegierungsthematik gleichkommt, den bereits Lessing angedeutet hatte.105 Denn, wie Herder einige Jahre später in seiner Adrastrea (1802) schreibt: „Spazieren seine [des Tonkünstlers, J. F.] Töne in der Luft, verschlingen sie sich nicht unmittelbar mit Worten und Szenen der
97 Herder, Brutus [1774], 60. 98 Herder, Händel, 543. 99 Ebd., 13, 16, 18. 100 Ebd., 15. 101 Herder, Viertes Wäldchen, 407. 102 Vogel, Zurüstungen, 37. 103 Ebd., 41. 104 Herder, Brief an Gluck, 124. 105 Diese Vorstellung klingt an, wenn er darauf hinweist, dass „verschiedne Regeln in Collision“ kommen, wenn eine Kunst der anderen dient und sich vollständig nach ihr richtet. Denn obwohl Musik und Poesie gleichermaßen Zeitkünste sind, besitzen sie ein unterschiedliches „Maß der Zeit“. Lessing, Paralipomena, 314.
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Empfindung: so dringen sie nie ans Herz, sie bleiben im Ohre.“106 Auch die Musik muss also durch andere Zeichen ergänzt werden, um zu bewegen, sie bedarf eines gewissen „Maßes“, einer „Kontur“ und „Leitung des Stroms“. Umgekehrt sei der Text ohne die Musik „nur Fachwerk u. Netz“107, ihm fehlt also das belebende sukzessive Moment. Erneut sind es die rationalen Tätigkeiten, die die Seelenbewegungen ergänzen, um Strukturen herzustellen – die Versinnlichung dieser Strukturen ist wiederum Aufgabe der Musik. Am Ende liefen Herders Bemühungen um eine Gluck’sche Vertonung des Brutus ins Leere, eine Antwort Glucks ist nicht überliefert. Dennoch sind gerade diese Bestrebungen, Musik und Wort zu vereinen – dabei jedoch beiden Künsten einen eigenen Aufgabenbereich zuzuteilen – Hinweise, die auf die Konjunktur des Melodrams108 deuten, die aus eben solchen semiotischen Anforderungen erwächst. Sie steht zugleich im Zusammenhang mit Bestrebungen, eine eigene deutsche Oper zu etablieren.109 Die Idee des Melodrams äußert sich dabei vor allem in der Vorstellung, jede Kunst in ihrer „Sphäre“ zu belassen, um dennoch zusammengenommen eine ganz besondere Wirkung erzielen zu können: Das Melodram ist „Mischspiel, das sich nicht mischt.“110 Um aber überhaupt eine Gleichwertigkeit von Sprache und Musik herzustellen, das deutete sich in diesem Kapitel bereits an, bedurfte es einer Autonomisierung der Musik, wie sie im folgenden Kapitel anhand der „Erfindung“ des Crescendo veranschaulicht werden soll.
106 Herder, Tanz. Melodrama, 312 (II. Band, 4. Stück). 107 Johann Gottfried Herder: „Brief an Karoline Flachsland [23. Mai 1772]“, in: Ders.: Briefe, Bd. 2: Mai 1771-April 1773, hg. W. Dobbek, G. Arnold, Weimar: Hermann Böhlau 1977, 172–173; hier: 173. 108 Wolfgang Schimpf siedelt diese Hochphase des deutschen Melodramas zwischen 1772 und 1800 an. Ders.: Lyrisches Theater. Das Melodrama des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, 12. 109 „O eine neu zu schaffende Oper! Auf Menschlichem Grund und Boden; mit Menschlicher Musik und Deklamation und Verzierung, aber mit Empfindung, Empfindung; o grosser Zweck! großes Werk!“ Herder, Über die Oper, 484. 110 Herder, Händel, 542. An dieser Stelle kritisiert Herder das Melodram bereits rückblickend, da Töne und Worte seiner Meinung in dieser „mißlichen Gattung“ durch ihre ‚ungemischte Mischung‘ „unvereinbar“ seien – eine Kritik die das Melodram von vielen Seiten ernten wird (ebd.). Vgl. Kap. IV.3.
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2 Das Crescendo – Musikalische Transformationen Eine der schönsten und wirksamsten Figuren ist die Gradation (Steigerung). Johann N. Forkel, 1788111
Musik fungiert als mediale Ergänzung oder Fundament der Dichtung und lässt zugleich ihre eigentliche Medialität vergessen – „de se faire oublier ellemême“112 – da sie unmittelbar, als natürliches Zeichen rührt: Das ist eine Essenz, die man aus den im letzten Teilkapitel betrachteten Schriften von Schriftstellern wie Herder, Rousseau, Webb und Gerstenberg herauslesen kann. Dabei erfährt die Musik eine zunehmende Anerkennung, wie auch Jean-Georges Noverre bemerkt, der ihre Entwicklung zwar noch am Anfang, ‚in der Wiege‘ sieht („quoiqu’encore au berceau“), ihr dennoch zuspricht, dass sie beginne „à s’éxprimer avec noblesse.“113 Dass der Musik zunehmend eine größere Aufmerksamkeit unter den Künsten zuteil wird, da sie als eine dem graduell eingerichteten Empfindungshaushalt entsprechende, unmittelbar wirkende Kunst beschrieben wird, ist nur erklärbar, wenn man den Wandel innerhalb der Musiklehre und ‑ästhetik mitberücksichtigt, welcher im Sinne einer „Umdeutung“ zu lesen ist.114 Dabei lassen sich bemerkenswerte Parallelen zwischen rhetorischen, anthropologischen und musikästhetischen Transformationen herstellen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Auch Lessing bemerkt einen Unterschied zwischen Vokal- und Instrumentalmusik und die Problematik, Empfindungen in letzterer auszudrücken: In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwächste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstärkt: in der Instrumentalmusik hingegen fällt diese Hilfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt.115
Im Laufe des 18. Jahrhunderts lässt sich allerdings beobachten, dass der Instrumentalmusik zunehmend ein eigener Ausdrucksgehalt zugesprochen wird, und die „Symphonie même apprit à parler sans le secours des paroles“116. Auch diese Transformationserzählung lässt sich anhand der Gradatio als musikalisch-rhetorische sowie ästhetische Figur sehr deutlich vor Augen 111 Johann Nikolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, Graz: Akadem. Dr.- u. Verl.Anst. 1967, 58. 112 Rousseau, Opéra, 954. 113 Noverre, Lettres, 117 (Lettre VII). 114 Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel et al: Bärenreiter 21987, 105. 115 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 227 (26. Stück). 116 Rousseau, Opéra, 953.
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führen, so dass dieses Kapitel große Übereinstimmungen mit den bereits zur rhetorischen Figurenlehre getroffenen Beobachtungen aufweist (vgl. Kap. II.1). Dass sich Musik zu autonomisieren beginnt und – als eine notwendige Vorstufe zur ‚absoluten‘ Musik – als unmittelbarer „Seelenausdruck“ neu kodiert werden kann, setzt dabei voraus, dass sie sich von der sprachlichen Vorherrschaft entfernt. Das Crescendo kann als Gradationsfigur verstanden werden, die einerseits diesen Autonomisierungsprozess der Musik indiziert. Andererseits löst dieses musikalische Ausdrucksmittel wesentliche ästhetische Desiderate des 18. Jahrhunderts ein, allen voran die Idee der unmittelbaren Übertragung seelischer und damit dynamischer Expression. Um dies zu zeigen, wird erneut vor allem die Semantik der Beschreibungssprache von Musik in den Fokus rücken. Denn „das Denken ‚über‘ Musik ist von dem Denken ‚in‘ Musik“ nicht weit entfernt: „Man versteht Musik genauer, wenn man die Mühe nicht scheut, sich die Struktur der Sprache, in der über sie geredet wird, bewußt zu machen“, bemerkt Carl Dahlhaus.117 Die im Folgenden nachvollzogenen Transformationen innerhalb der Musiklehre und -ästhetik erstrecken sich auf unterschiedliche Ebenen, die sich kontinuierlich gegenseitig durchdringen und beeinflussen, weshalb eine temporale Verkettung des ‚Vorher/Nachher‘ schwierig bis nicht darstellbar ist.118 Im Wesentlichen beschäftigt sich das folgende Kapitel dabei mit drei Transformationslinien: 1. die Zergliederung des musikalischen Affekts in musikalische Empfindungen; 2. der Wandel einer musikalischen Rhetorik hin zu einer musikalischen Ausdruckssprache; 3. der Übergang der musikalischrhetorischen Gradatio in ein außersprachliches Crescendo. An diese Transformationen gebunden sind gesellschaftspolitische sowie musikhistorische und -technische Veränderungen, die in ihren Ansätzen ebenfalls mitreflektiert werden.
117 Carl Dahlhaus: Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber: Laaber-Verlag 1988, 329. 118 Auch sollen die folgenden Betrachtungen jenseits der ohnehin problematischen Epocheneinteilungen des Sturm und Drang, der Klassik und Romantik sowie deren uneinheitlich verwendeten Vorläufern („Rokoko“, „Vorklassik“ etc.) erfolgen, um der Problematik interdisziplinärer Gattungsbezeichnungen aus dem Weg zu gehen, die wichtige Kontinuitätslinien womöglich verstellen würden. Vgl. zur Kritik an einer musikalischen Sturm und Drang-Epoche: Peter Schleuning: „Sturm und Drang in der Musik – Sturm im Wasserglas oder Drang der Forschung“, in: Bert Siegmund (Hg.): Sturm und Drang in Literatur und Musik. Michaelsteiner Konferenzberichte Heft 65, Dößel: Stekovics 2004, 31–50. Diese Problematik ist auf die ‚Vorklassik‘ insgesamt übertragbar: „Bis jetzt fehlen allgemein anerkannte Termini, um die Gesamtheit der Wesenszüge der Musik zwischen 1720/30er und 1781/82 (dem Beginn der Wiener Klassik im engeren Sinne) angemessen zu beschreiben. Die Hilfskonstruktion ‚Vorklassik‘ kann dies nicht hinreichend abdecken.“ Lenz Meierott: „Das 18. Jahrhundert“, in: Karl H. Wörner (Hg.): Geschichte der Musik: ein Studien- und Nachschlagebuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 81993, 277–371; hier: 278.
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Abschließend ist es das Ziel dieses Kapitels zu zeigen, inwiefern sich das Crescendo als erweiterte gradationale Denkform des 18. Jahrhunderts etabliert. Denn die folgenden Erörterungen stellen eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, im nächsten Unterkapitel die Figur des Crescendo als Beschreibungsgröße des Melodrams zu etablieren, die sich weit über eine rein metaphorische Verwendung erstreckt.119 Wenn in diesem Kapitel etwas weiter ausgeholt wird, als es die an sich bereits gut beforschte Thematik vielleicht bedürfte, so geschieht dies aufgrund der faszinierenden und erstaunlichen Parallelen, die sich zu den vorherigen Kapiteln bezüglich der Transformationen der Rhetorik, der Emotionen sowie der Darstellungsnormen ergeben, die bislang nicht in diesen Interrelationen dargestellt worden sind.
2.1 Musik und Rhetorik Io la Musica son ch[’]ai dolci accenti
So far tranquillo ogni turbato core Et or di nobil’ira & or d’Amore Poss’infiammar le più gelate menti.120
Mit diesem Auftakt singt die ‚Musica‘ über ihre eigene Kunst in der gattungsbegründenden Oper, Monteverdis Orfeo. Die Musik zeichnet sich hier vor allem durch ihre Wirkung aus: Es sind ihre „dolci accenti“, die es vermögen, verwirrte Herzen zu beruhigen und edlen Zorn und Liebe in den noch so erkalteten Sinnen zu entflammen. Nicht Melodien, sondern der Sprache entlehnte „süße Akzente“121, setzt die ‚Musica‘ ein, um Affekte zu erregen – sie folgt in ihrer Wirkungsabsicht somit einem genuin rhetorischen Modell. Das 119 Es ergeben sich Parallelen zwischen diesem Unterkapitel und meinem Aufsatz: „Gradatio/ Crescendo – Eine Geschichte der Steigerung. Transformationen rhetorischer und musikalischer Gradationsfiguren im 18. Jahrhundert“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, hg. D. Till, Bd. 33: Rhetorik im 18. Jahrhundert, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 27–41. 120 Claudio Monteverdi: L’Orfeo/ Favola in Musica/ Da Claudio Monteverdi/ […], Venezia: Ricciardo Amadino 1615, 2 f. 121 Zwar kann das Wort accento auch mit „Ton“ übersetzt werden, es zeigt sich aber in zeitgenössischen italienischen Wörterbüchern (z. B. im Vocabolario degli Accademici della Crusca, 1612) noch die eindeutige sprachliche Herkunft, insofern das Wort synonym mit „Silben“ und „Wörtern“ gesetzt wird. Noch Rousseau (Dictionnaire de Musique, 1764) versteht unter dem „Accent“ „toute modification de la voix parlante, dans la durée, ou dans le ton des syllabes et des mots dont le discours est composé.“ Jean-Jacques Rousseau: „Accent“ in: Ders.: Dictionnaire de Musique. Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 613–617; hier: 613, Hervorh. J. F.
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„Parlare in canto“, wie Monteverdi diese Gesangs-Sprache nennt, schließt dabei Redeweise, Sprechakt und Affektabsicht mit ein.122 Unterstützung erfuhr diese Sprachbezogenheit auch von musikalischer Seite: Die Einführung des Generalbass-Satzes, der die vokalen und instrumentalen Oberstimmen von ihren harmonischen Aufgaben befreite, bot der Melodie und der Sprache ein solides Fundament und räumte somit größere Freiheiten und die Möglichkeit einer textnahen Sprechweise ein.123 In Giulio Caccinis Nuove Musiche (1601/2) wird so diejenige Musik gelobt, welche den Sinn des Textes bestens transportieren kann, die die Dichtung nicht „zerreißt“ („laceramento della Poesìa“), sondern die in der Harmonie spricht („in armonia favellare“), getragen durch die Leichtigkeit des Gesangs („una certa nobile sprezzatura di canto“), um so Affekte auszudrücken („per esprimere qualche affetto“).124 Neben dieser Beziehung zwischen Musik und Sprache, die implizit an rhetorische Prinzipien anschließt, lassen sich auch ganz explizite Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik beobachten, die insbesondere in Schriften deutscher Musiktheoretiker ihren Niederschlag finden.125 In Deutschland hatte die humanistische Wiederbelebung der Rhetorik seit dem 16. Jahrhundert zur Folge, dass diese auf dem Bildungsplan der Schulen und Universitäten zu den wichtigsten Disziplinen zählte. Zur gleichen Zeit wurde der praktische Musikunterricht an den Lateinschulen in der Nachbarschaft der artes dicendi, also der Grammatik, der Dialektik und der Rhetorik angesiedelt,126 was insgesamt von einer Entfernung von der Mathesis (und damit der Nachbarschaft zur Arithmetik, Geometrie und Astronomie) zeugt.127 Zwar hat es 122 Volker Kalisch: „Musik“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. K.-H. Barck et al., Bd. 4: Medien – Populär, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, 276–308; hier: 279. 123 Grimm, Affekt, 37. 124 Giulio Caccini: „Le Nuove Musiche“ (1601/1602), in: Frauke Schmitz: Guilio Caccini, Nuove Musiche (1602/1614). Text und Musik, Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges. 1995, 11–38; hier: 15–17. Mit der „sprezzatura“ des Gesangs meint Caccini dabei eine Gesangsart, die sich der „natürliche[n] Sprache“ annähert, wie er im Vorwort seiner Oper Euridice schreibt. Sie kann beschrieben werden als ein „Aufbrechen des strengen Taktes zugunsten der Verdeutlichung des Textsinns“ (ebd., Anm. 16). 125 Auch einige englische und französische Quellen bestätigen den Einfluss der Rhetorik auf die Musik, vor allem indem sie Bezug auf die musikalischen Figurenkataloge nehmen. Vgl. Hartmut Krones: „Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft“, in: Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, Bd. 2, Berlin/New York: De Gruyter 2009, 1932–1949; hier: 1939. 126 Arno Forchert: „Musik und Rhetorik im Barock“, in: Schütz-Jahrbuch 7/8 (1985/86), 5–21; hier: 7. Jedoch ging es hier lediglich um die praktische Ausübung, um Notenlesen, Blattsingen, eine Einführung in die Tonartenlehre und manchmal Hinweise zum musikalischen Vortrag, hingegen nicht um die Kompositionslehre (ebd., 10). Insofern bleibt zu fragen, in welchem Maße Rhetorik- und Musikunterricht auch in ihrer theoretischen Ausrichtung an der Schule Gemeinsamkeiten teilten. 127 Vgl. Christian Kaden: „Musik“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. K.-H. Barck, Bd. 4: Medien – Populär, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, 256–275; hier: 272.
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eine musikalische Rhetorik „als eigene Disziplin“128 nie gegeben. Dennoch kann die Rhetorik insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert als ein vorherrschendes „Wertesystem“ betrachtet werden, da sie zu einem „Orientierungssystem“ avanciert, „das ständig zu neuen Reflexionen herausforderte.“129 Die Omnipräsenz der Rhetorik als wissenschaftlicher Zugang und Theorem konnte an der Musik nicht ohne Weiteres vorübergehen, zumal diese schon in der Antike als eine „sprachverwandte Kunst“130 gehandelt wurde, die beispielsweise bei Platon eine „Umklammerung von Wort und Tongebung“131 wie selbstverständlich miteinschloss.132 Die Lehre der Rhetorik kann also als „Anregung zur Ausdehnung der musikalischen“ Lehre verstanden werden und lieferte Kriterien für die Anleitung und Analyse von Kompositionen der Zeit.133 Wenn Burmeister die Musik in seiner Musica Poetica (1606) in die drei Stilgenres des genus humile, grande und mediocre einteilt und sie durch einen genus mixtum und weitere musikspezifische genera ergänzt134 und Christoph Bernhard in seinem Ausführlichen Bericht vom Gebrauche der Con- und Dissonantien (ca. 1660) schreibt, dass „die Musica so hoch kommen [sei], daß wegen Menge der Figuren, absonderlich aber in dem neu erfundenen und bisher immer mehr ausgezierten Stylo Recitativo, sie wohl einer Rhetorica zu vergleichen“135 sei, so wird hier der Bezug zur rhetorischen Systematik bereits ganz explizit. Wenn des Weiteren eine Kompositionslehre in Johann Gottfried Walthers Musica128 Andreas Liebert: Die Bedeutung des Wertesystems der Rhetorik für das deutsche Musikdenken im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang 1993, 21. 129 Ebd., 25. 130 Krones, Rhetorik und Stilistik, 1932. 131 Kaden, Musik, 258. 132 Außerdem ist zu bedenken, dass ein Musiktheoretiker, der im 17. und frühen 18. Jahrhundert schreibt, weder mit ästhetischen Paradigmen, noch mit einer ausgeprägten Sprachreflexion oder dem Vergleich unterschiedlicher künstlerischer Zeichen argumentieren konnte. Wenn man sich also nicht auf mathematische Grundlagen beziehen wollte, war der „Umweg“ über die Rhetorik quasi unabdingbar, um „überhaupt kunsttheoretische Grundlagen formulieren zu können.“ Janina Klassen: „Klang-Rede und musikalische Syntax“, in: Musik & Ästhetik 11 (2007), 43–61; hier: 49. Diese Beobachtung bestätigt sich durch Joachim Burmeisters Ausführungen, der als Grund für die Übertragung rhetorischer Figuren auf die Musik den „Mangel an Benennungen“ angibt, den es zu beseitigen gelte, damit man „die musikalischen Dinge in geeigneter Form kennenlernen kann“, um schließlich „solche Beobachtungen schriftlich niederzulegen, für die Nachwelt zu sammeln […] und ihnen den Character von Vorschriften zu geben.“ Burmeister zit. n. Bartel, Figurenlehre, 21 f. 133 Ebd., 27; 31. 134 Krones, Rhetorik und Stilistik, 1941. 135 Christoph Bernhard: „Ausführlicher Bericht von dem Gebrauche der Con- und Dissonantien“, in: Joseph Müller-Blattau (Hg.): Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, Kassel et al.: Bärenreiter 1999, 132–153; hier: 147. Vgl. Carl Dahlhaus: „Musica poetica und musikalische Poesie“, in: Archiv für Musikwissenschaft 23/2 (1966), 110–124; hier: 115.
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lischem Lexicon (1732), die „Musica Melopoetica“, beschrieben wird als „die Wissenschafft oder Kunst, die Klänge nach einander auf eine angenehme Art zu stellen und zu disponiren, woraus die Melodie und der Beau Chant entstehet“136 und schließlich Johann Mattheson in seinem Vollkommnen Capellmeister (1739) im 14. Hauptstück für den Aufbau einer Komposition empfiehlt, neben der inventio auch die drei Produktionsstadien der „Einrichtung, Ausarbeitung und Zierde“ („Dispositio, Elaboratio & Decoratio“) anzuwenden, da die „musikalische Disposition […] von der rhetorischen Einrichtung einer blossen Rede nur allein in dem Vorwurff, Gegenstande oder Objecto unterschieden“137 sei, ist in allen hier genannten Fällen die Orientierung an rhetorischen Strukturen und Elementen, an ihrem Ordnungsgedanken und ihrer Systematik vorherrschend und offensichtlich.
2.2 Musik und Emotionen Der musikalische Vortrag kann mit dem Vortrage eines Redners verglichen werden. Ein Redner und ein Musikus haben sowohl in Ansehung der Ausarbeitung der vorzutragenden Sachen, als des Vortrages selbst, einerley Absicht zum Grunde: sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affect zu versetzen.138
Dieses Zitat aus Johann Joachim Quantz’ Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen (1752) bezeugt, dass sich Musik und Rhetorik auch ihren Hauptgegenstand teilen, denn in beiden Disziplinen steht die Erregung der Affekte im Zentrum. „[L]a bona musica“ schreibt bereits Monteverdi im Vorwort seines VIII. Madrigalbuchs (1638) „[ha il] fine del movere“: Die Musik hat das Ziel, seine Rezipienten zu bewegen.139 An die Aufgabe des „mo136 Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec, Leipzig: Wolfgang Deer 1732, 433. Vgl. Liebert, Wertesystem der Rhetorik, 33. Liebert hat in seiner Studie gezeigt, dass vor allem die drei rhetorischen Arbeitsschritte der inventio, dispositio und elocutio in zahlreichen musikalischen Schriften, insbesondere des 17. und 18. Jahrhunderts, wiederzufinden sind. 137 Mattheson, Kapellmeister, 235. 138 Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen. Reprint d. Ausg. Berlin 1752, Vorw. H.-P. Schmitz, Nachw. H. Augsbach, München: dtv 1992, 100. 139 Claudio Monteverdi: Madrigali Guerrieri, et Amorosi. Libro Ottavo, Venedig: Alessandro Vincenti 1638, 3. Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Piper 1991, 351. Eggebrechts Forschung ist für diese Untersuchung kaum zu umgehen, auch wenn sie aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit (er gehörte der Feldgendarmerie Abteilung 683 an, die für eine Massenexekution auf der Krim zuständig war) in ihren ideologischen Aussagen kritisch hinterfragt werden muss. Ich versuche mich deshalb nur auf diejenigen Thesen zu berufen, die
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vere affectus“ durch die Musik ist im Laufe des 16. Jahrhunderts auch eine theoretische Reflexion gebunden, nämlich die Frage nach der Möglichkeit und Form, Affekte kompositorisch darzustellen („exprimere affectus“140). „Musica movet affectus“ – dass Musik Emotionen auszulösen vermag, kann als Kontinuitätslinie seit der Antike nachvollzogen werden. Dagegen ist die spezifische Zuspitzung auf den Affektbezug, welcher zentrale Wesensbestimmung, Zweck und Berechtigungskriterium für Musik darstellt, eine Vorstellung, die sich insbesondere seit Ende des 16. Jahrhunderts verbreitet.141 Seit Entstehung der sogenannten musica reservata im 16. Jahrhundert lässt sich die Ausbildung einer expressiven musikalischen Affektsprache beobachten, deren musikalische Umsetzung der Bezug zur Sprache legitimiert: Der „Affektgesang“ ahmt den Tonfall des Redenden nach, welcher in einem von der Seele erzeugten Affekt spricht.142 Es geht dabei nicht um eine subjektive, individuelle Aussage, sondern vielmehr darum, den „sensus textuum“ in typisierter Form zu transportieren.143 Für Monteverdi sind unter allen „passioni, od’affetioni“ die Wut, die Mäßigung und die Demut („Ira, Temperanza & Humiltà“) am wichtigsten, welche sich entsprechend der drei Stimmbereiche Hoch-, Tief-, Mittellage und der Wesensbezeichnung ‚aufgeregt‘, ‚sanft‘ und ‚gemäßigt‘ („concitato, molle e temperato“) in der Vokalmusik repräsentieren lassen. Insbesondere die Kontraste bewirken einen starken Einfluss auf die Seele, was verdeutlicht, dass die Affektenlehre sich an typisierten ‚einfachen‘, d. h. klar umrissenen Affekten ausrichtet.144 Während die Anzahl der Affekte in den einzelnen Schriften schwankt (Athanasius Kircher zählt
ich als historisch abgesichert und vor allem – soweit ich das beurteilen konnte – als ‚ungefärbt‘ werte. Bezügl. der Vergangenheit Eggebrechts seien an dieser Stelle auf die Artikel in der Zeit verwiesen: Volker Hagedorn: „Unheimliches Abendland“, Die Zeit N°52/2009, 16. Dezember 2009, (http://www.zeit.de/2009/52/Eggebrecht-NS, zul. besucht am 17.03.15); Boris von Haken: „Spalier am Mördergraben“, Die Zeit N°52/2009, 20. Dezember 2009, (http://www.zeit.de/2009/52/Eggebrecht-Kriegsverbrechen, zul. besucht am 17.03.15), sowie auf Boris von Hakens historische Studie Holocaust und Musikwissenschaft. Biografische Untersuchungen zu Hans Heinrich Eggebrecht. Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik, München: Beck 2012. 140 „[E]sprimere i concetti dell’animo col mezzo delle parole“ („Die Vorstellungen der Seele mit den Mitteln der Worte ausdrücken“, Übers. J. F.) heißt es bei Vincenzo Galileo (dem Vater Galileo Galileis) in seinem Dialogo della musica antica et della moderna (1581). Galilei zit. n. Caccini, Nuove Musiche, 7; Anm. 17. 141 Vgl. Thieme, Ulrich: Die Affektenlehre im philosophischen und musikalischen Denken des Barock – Vorgeschichte, Ästhetik, Physiologie, Celle: Moeck Verlag 1984, 8. 142 Eggebrecht, Musik im Abendland, 350. 143 Thieme, Affektenlehre, 9. 144 „[G]li contrarii sono quelli che movono grandemente l’animo nostro“ Monteverdi, Madrigali, 3. Monteverdi hat jedoch an keiner Stelle eine Affektenlehre systematisch ausgeführt.
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in seiner Musurgia universalis von 1650 beispielsweise acht Affekte auf) und auch die Frage der Repräsentation dieser Affekte unterschiedlich ausfällt,145 so lässt sich übergreifend feststellen, dass die musiktheoretischen Schriften im 16. und 17. Jahrhundert eine Anleihe in der (rhetorisch-philosophischen) Affektenlehre nehmen, die sich mit der Katalogisierung und damit Eingrenzung typisierter Seelenzustände beschäftigte. Noch bis weit ins 18. Jahrhundert finden sich Affektkataloge in einschlägigen musiktheoretischen Schriften.146 Als vielleicht bekanntestes Beispiel dieser Affektpolitik in der musikalischen Praxis sei hier die vorherrschende Arienform in der italienischen Barockoper (opera seria), die dreigliedrige DaCapo-Arie angeführt. Diese war neben Italien insbesondere in England und Deutschland weitverbreitet und wies einen hohen Strukturierungs- und Typisierungsgrad einer Affektsituation auf, welche kontrastiv angeordnet war.147 Die Arienform diente dabei sowohl im höfischen Protokoll affektregulierend, als auch dem Wettstreit unter den Primadonnen und Kastraten und damit gleichermaßen dem Spektakel für das aristokratische Publikum. Der Gesang konnte in dieser Form sich als „weitgehend sprachunabhängiges Ausdrucksmedium“ der Affekte etablieren, welcher der Melodie mehr Priorität einräumte, als den Harmonien.148 Wichtig ist dabei, darauf weist noch Sulzer in seinem Artikel „Arie“ hin, dass für diese Kompositionsform ein typisierter ‚einfacher‘ Affekt für die Darstellung gewählt wurde, denn: „Eine zu heftige und zugleich unruhige Leidenschaft, die überall Gelegenheit sucht auf verschiedene Weise auszuschweifen, schiket sich zur Arie nicht, weil die Einheit der Empfindung,
145 Eggebrecht, Musik im Abendland, 353. 146 Z. B. noch in Friedrich Wilhelm Marburgs Kritischen Briefen über die Tonkunst (1763). Dass diese sich dabei fast ausschließlich auf die Vokalmusik und die Oper berufen, ist dem Umstand geschuldet, dass der Instrumentalmusik keine eigenständige „Sprachfähigkeit“ zugestanden wurde: Instrumentalmusik könne lediglich allgemeine Affekte darstellen (Freude, Trauer), nicht aber solche, die sich auf ein Objekt beziehen (Liebe, Hass), so die Ansicht Athanasius Kirchers. Vgl. Thieme, Affektenlehre, 11. 147 Die DaCapo-Arie nahm einen bestimmten Affekt (z. B. Trauer) zum Ausgangspunkt, schwenkte dann im B-Teil in einen anderen Affekt (z. B. Wut) über, um im dritten Teil wieder zum A-Teil, in diesem Beispiel dem Affekt der Trauer, zurückzukehren (da capo = ital. von Beginn) und die Arie einschließlich virtuoser Improvisationen zum Abschluss zu bringen. Gebunden an diesen Affektwechsel waren ebenso Tonarten- und Tempowechsel, die bestimmten Konventionen folgten, so dass man auch ohne auf den Text zu achten ungefähr wusste, um welchen Affekt es sich handelte. Nicht zuletzt sollte auch diese streng regulierte, tendenziell statische Form der Arie einerseits durch ihre klar umrissene Struktur der Affektkontrolle dienen und somit Leidenschaften in eine ‚gesellschaftstaugliche‘ Form überführen. Andererseits gab sie den Opernsängerinnen und ‑sängern am Ende die Möglichkeit, in Variationen und Improvisationen ihr Können vollends unter Beweis zu stellen. 148 Lubkoll, Mythos Musik, 45.
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die hier nöthig ist, in diesem Fall nicht wol könnte beybehalten werden.“149 Dieses Zitat lässt bereits erahnen, dass sich die seit dem 17. Jahrhundert ausbreitenden schwankenden Gemütsbewegungen und Empfindungen, die gerade nicht deutlich und eingrenzbar sind, ein Problem für den Typus der DaCapo-Arie darstellen, da sie das Potential in sich tragen, einerseits formsprengend zu wirken, andererseits – und daran anschließend – den Bereich des Schönen zu übertreten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts treten in Bezug auf die Arienformen wichtige Veränderungen innerhalb der Opera seria ein. Zum Beispiel gibt es eine Tendenz zur Streichung des (wiederholten) DaCapo-Teils, so dass die Arie in ihrem B-Teil verharrt und die Affektkontrolle als misslungen bezeichnet werden muss: Der Affekt hat in diesen Momenten über die Bändigung gesiegt.150 Wiederholungen gelten dabei zunehmend als unnatürlich, wie der deutsch-schwedische Komponist Joseph Martin Kraus konstatiert: „Der Musiker kann nicht mit der Geschwindigkeit, als der Dichter, seine Ideen vorbringen: – Er zergliedert. Muß die Leidenschaft hier nicht verlieren? […] Über dies Zergliedern – deutliche Auseinandersetzen der Worte –“, damit umschreibt Kraus das Wiederholen, „hört die Leidenschaft auf, Leidenschaft zu seyn.“151 Das zirkuläre Modell der DaCapo-Arie scheint der Struktur sukzessiv-strömender Leidenschaften gänzlich entgegenzustehen. Die Aufwertung des Recitativo Accompagnato um 1730 kann als eine Reaktion auf derartige Vorwürfe gesehen werden. Während das Rezitativ ursprünglich deklamatorischen Charakter besaß, zeichnete sich das mit einem Orchestersatz ausgestattete Rezitativ (accompagnare = ital. begleiten) dadurch aus, dass die Begleitung die emotionale Situation unterstützen konnte, was zudem eine Aufwertung der Instrumentalmusik mit sich brachte. Dort wurden schnellere und feiner nuancierte Affektwechsel durchgeführt (im Gegensatz zu einem Einheitsaffekt), so dass der vermehrte Einsatz des begleiteten Rezitativs den Übergang in eine ‚empfindsamere‘ Darstellung
149 Johann Georg Sulzer: „Arie“, in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 77–80; hier: 77. 150 Exemplarisch sei hierfür Georg Friedrich Händel genannt, bei dem eine solche Veränderung der Arienkonzeption im Verlauf seines Werks festzustellen ist: So streicht Händel in der Wiederaufführung seiner Oper Alcina (1736/1737) bei nahezu der Hälfte seiner 28 Arien den DaCapo-Teil. Vgl. Winton Dean: Handel’s Operas. 1726–1741, Woodbridge: Boydell Press 2006, 328. Zudem machte Händel in seinen Opern regen Gebrauch davon, die verschiedenen Musikformen Rezitativ (secco/accompagnato), Arie und Arioso abzuwechseln, so dass sein Augenmerk sowohl auf kontrastiven, schnellen, wie übergänglichen Affekten lag und empfindsame Tendenzen erkennen lässt. Vgl. Grimm, Affekt, 38b. 151 Joseph Martin Kraus: Etwas von und über Musik für’s Jahr 1777, Frankfurt a. M.: Eichenbergsche Erben 1778, 28. Weiter heißt es, als deutliches Plädoyer gegen die Form der DaCapoArie: „Geschwind abwechselnde Leidenschaften sind nicht für Arien“ (ebd.).
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bedeutet.152 Auch Sulzer empfiehlt, dass „die Äußerung […] [der] ströhmenden Leidenschaften besser in den so genannten Accompagnamenten ausgedrükt werde.“153 Rousseau bezeichnet die Stellen des Récitatif obligé (eine Bezeichnung, die im 18. Jahrhundert häufig als Synonym zum Accompagnato verwendet wurde) als diejenigen, bei denen es „de plus touchant, de plus ravissant, de plus énergique dans toute la Musique moderne“154 zugehe, denn während der Ausführende selbst von seinem Affekt überwältigt sei, würde die Leidenschaft durch die Musik aufgenommen und weitertransportiert.155 Damit wirke sie stärker auf den Rezipienten, als wenn der Akteur die Emotion mit Worten ausdrücke, so Rousseau weiter. Dieses veränderte Konzept des Rezitativs reagiert zugleich auf den Vorwurf, dass die Unterschiede zwischen (deklamiertem) Rezitativ und (gesungener) Arie zu starke Kontraste hervorrufen würden: „Die Leute laufen auf dem Theater herum, schwazzen, und ehe man sichs versieht, brechen sie mit einer Arie los. Warum wählt der Dichter just solche Argumente, wo solche üble Kontraste vorkommen müssen?“156, fragt Kraus. Die musikalische Vortragsform der Arie kann also keine feineren Übergänge herstellen, die Brüche eliminieren würden. Es ist auffällig, wie deutlich diese Argumentation den Desideraten in der Ästhetik und Schauspielkunst entsprechen. Aber auch für die Symphonie werden im Laufe des 18. Jahrhunderts solche Forderungen laut, wie Lessing schreibt: Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Sätzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrückt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muß nur eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß ebendieselbe Leidenschaft, bloß mit verschiednen Abänderungen, es sei nun nach den Graden der Stärke und Lebhaftigkeit oder nach den mancherlei Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertönen lassen und in uns zu wecken suchen.157
Diese Beispiele legen nahe, dass die musikalische Repräsentation von Affekten den Transformationen im Emotionshaushalt ebenso unterliegen, wie sie bereits anhand rhetorischer und philosophischer, psychologischer und ästhetischer Schriften anschaulich wurden. 152 Grimm, Affekt, 38b. 153 Sulzer, Arie, 77. 154 Jean-Jacques Rousseau: „Récitatif obligé“, in: Ders.: Dictionnaire de Musique. Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 1012–1013; hier: 1013. 155 Ebd. 156 Kraus, Etwas von und über Musik, 27. Ein ähnlicher Vorwurf findet sich in Rousseaus Artikel „Réctitatif“. 157 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 230 (27. Stück).
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Inwiefern zeitgenössische Natur- und Seelenlehren, die zunehmend die mathematisch-pythagoreische Grundlage der Musik überschreiben, auch auf die musikalische Affektenlehre Einfluss nehmen, wird besonders deutlich an zeitgenössischen musikalischen Theorieschriften. Hier lässt sich eine Hochphase solcher Versuche und Anweisungen gerade im 18. Jahrhundert feststellen. In Johann Matthesons Vollkommenem Kapellmeister erhält etwa die mathesis eine Abfuhr, weil sie daran scheitert, Leidenschaften zu erfassen: Man bestimme die mathematischen Verhältnisse der Klänge mit ihrer Quantität wie man wolle, es wird sich doch in Ewigkeit kein rechter Zusammenhang mit den Leidenschafften der Seele daraus allein abnehmen lassen. Denn hiezu gehören, nebst der Natur=Lehre und geläuterten Welt=Weisheit, noch ganz andere Künste, moralische und rhetorische Verhältnisse.158
Wer eine „vollkommene Erkenntniß der menschlichen Gemüthsneigungen“ erlangen möchte, „die gewiß nicht mit der mathematischen Elle auszumessen sind“, muss also auf andere Kenntnisse zurückgreifen (19). Mattheson spricht deshalb der Mathematik „die Herrschaft über die Liebe, über die Musik, und über die Natur“ (20) schlichtweg ab, da sich das Seelenleben jeglicher Messbarkeit entziehe. Die Aufgabe der Ergründung von Natur und Musik liegt nun bei der Physik: Die unendliche, unbegreiffliche, unmeßliche Mischung; die gescheute und geübte Anwendung; die ungenannte angebohrne und nie zu erlernende Anmuth; das ich weiß nicht was; die innerlichen, natürlichen und moralischen Verhältnisse, samt derselben hertzrührendem Gebrauch, enthalten die wahren Kräffte melodischer und harmonischer Wirckungen, zur Erregung des empfindlichsten Wohlgefallens. In der Physik oder Naturkunde liegen demnach die ersten, aufrichtigen Gründe der Musik. (Ebd.)
Auch Mattheson geht es dabei im Wesentlichen um die Fähigkeit der Musik, Affekte zu transportieren und Wirkung zu erzeugen: „Alles muß gehörig singen“ lautet also der „allgemeine Grund=satz der gantzen Music, auf welchen die übrigen Schlüsse dieser Wissenschaft und Kunst zu bauen sind“, und das „sowo[h]l in Ansehung der Gemüths=Bewegungen, als Schreib=Arten, Worte, Melodie, Harmonie u. s.w.“ (2) Insbesondere im dritten Kapitel der Schrift wird deutlich, wie umfassend seine musikalische Theorie auf zeitgenössische physiologische (Klangtheorie), physikalische (Kräftelehre), akustische (Resonanztheorie), anatomische und medizinische Prämissen (Temperamentenlehre/Descartes) aufbaut und damit herkömmliche musikalische Affektenlehren maßgeblich erweitert. 158 Mattheson, Kapellmeister, 18 (Vorrede). Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
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Erneut könnte man an dieser Stelle mit Rüdiger Campe von einer „Destruktion“ der Affekteinheit sprechen, die vermittels neuer epistemischer Zugänge zergliedert wird.159 Die bei Athanasius Kircher aufgezählten Affekte werden durch Mattheson um sechs weitere ergänzt, jedoch nicht ohne anzumerken, dass es schwierig sei, „iede Gemüths=Bewegung her zu zehlen“ (16), da dies einerseits zur Langeweile führe. Andererseits habe es mit den Affekten die „Bewandniß […], als mit einem unergründlichen Meer, so daß, wie viel Mühe man sich auch nehmen mögte, etwas vollständiges hierüber auszufertigen, doch nur das wenigste zu Buche gebracht, unendlich viel aber ungesagt bleiben“ (19) würde. Denn die Affekte besitzen „verschiedene Stuffen und Mischung“ (17), so dass beispielsweise ein Komponist, der die Liebe darstellen will, „genau unterscheide, welchen Grad, welche Art oder Gattung der Liebe er vor sich findet“, um „den Reichthum musicalischer Erfindungen, nach der Natur=Lehre des Klanges, zu zeigen“ (16). Deshalb sei es auch einfacher, „gewaltige Bewegungen des Gemüths“ wie Zorn, Eifer, Rache, Wut oder Grimm musikalisch auszudrücken „als die sanfftmüthigen und angenehmen Leidenschafften, welche weit feiner behandelt seyn wollen.“ (18) Die musikalische Theorie integriert also nicht nur die (philosophisch-rhetorische) Affektenlehre, sie reagiert gleichermaßen auf die Transformationen emotionaler Selbstbeschreibung und überdenkt zugleich ihre eigenen musikalischen Ausdrucksmittel: „An die Stelle eines idealen Rasters, das pythagoreisch vollkommene und damit möglichst kleine Brüche über den Kosmos legte, ist ein grenzenlos schiffbares musikalisches Meer getreten“160, umschreibt Friedrich Kittler den Wandel des musikalischen Systems. Um sich auf die neuen ‚schwankenden‘ Gemütsbewegungen einzulassen, bedarf es dabei auch neuer ‚Psychotechniken‘, welche sich im 18. Jahrhundert auf das Einfühlen in die jeweiligen Empfindungen berufen: Ein Verfasser verliebter Sätze muß seine eigene Erfahrung, sie sey gegenwärtig oder verflossen, allerdings hiebey zu Rathe ziehen, so wird er an sich, und an seinem Affect selber, das beste Muster antreffen, darnach er seine Ausdrücken in den Klängen einrichten könne.161
159 Vgl. Kap. II.1 dieser Arbeit. 160 Friedrich Kittler: „‚Vernehmen, was du wähnst‘. Über neuzeitliche Musik als akustische Täuschung“, in: Kaleidoskopien 2 (1997): Surround. Zur Architektonik akustischer Räume, 8–16; hier: 11. 161 Mattheson, Kapellmeister, 16.
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Diese autosuggestive Empfindungstechnik162 ist signifikant für das 18. Jahrhundert und verweist auf Parallelen zur Schauspieltheorie.163 Mattheson sieht dabei in der Fähigkeit, sich über die Vorstellung eines Satzes in die Emotion einzufühlen, den wesentlichen Garanten dafür, dass eine „ausserordentlich=eingegebene“ kompositorische Erfindung gelingen kann: „Wenn man sich eine Leidenschafft fest eindrückt, und sich gleichsam darin vertiefft, als wäre man in der That andächtig, verliebt, zornig, hönisch, betrübt, erfreuet, u. s.w. dieses ist gewiß der sicherste Weg zu gantz unvermutheten Erfindungen.“ (Ebd., 132)164 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Mattheson auf die empfindsamen Tendenzen innerhalb der anthropologischen Veränderungen des 17. und 18. Jahrhunderts zu reagieren beginnt, indem er nicht allein auf die Darstellung der Affekte eingeht, sondern Konzepte der Einfühlung integriert, welche sich an den feinen Graden schwankender Empfindungen orientieren. Das Benennen der Passionen rückt somit innerhalb der theoretischen Schriften bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend in den Hintergrund und der Fokus richtet sich darauf, das Emotionale nachzuempfinden, um seine Wirkung zu begreifen, so wie es Batteux auf den Punkt bringt. Zwar gebe es einige Passionen, die man nicht genau bestimmen könne, aber: „Il suffit qu’on le sente, il n’est pas nécessaire de le nommer. Le cœur a son intelligence indépendante des mots; & quand il est touché, il a tout compris.“165 Statt einer Eingrenzung der Affekte vermittels ihrer Aufzählung und ‑listung, wird das Prinzip der intensivierenden Einfühlung herangezogen, mit dessen Hilfe 162 Hier wird deutlich, dass diese als Techniken der Selbstbearbeitung zu beschreiben sind – ‚empfindsame‘ Einfühlungsmechanismen sind damit paradoxerweise an Disziplinierungsverfahren gekoppelt: „Erst diese Operationalisierungen von Musik, Instrumenten und Individuum lassen, was erklingt, zum musikalisierten und empfindsam disponierten Selbst ‚natürlich‘ sprechen.“ Wolfgang Scherer: Klavier-Spiele. Die Psychotechnik der Klaviere im 18. und 19. Jahrhundert, München: Fink 1989, 13; 19. Auch dies ließe sich mit den „maßvollen“ Techniken der Schauspielkunst vergleichen. 163 Vgl. Diderots Abhandlung Paradoxe sur le comédien (ca. 1773–1777/1830 posthum erschienen) und die einzelnen Reaktionen der Theaterkritiker (z. B. St. Albine, Riccoboni, Diderot, Lessing); Kap. III.3 dieser Arbeit. 164 Diese einfühlende Technik beschränkt sich bei Mattheson allerdings auf die kompositorischen Praktiken. Die Bemerkungen zur Aufführungstechnik (25. Kapitel: „Von der Spielkunst“) verharren hingegen deutlich in der Vorstellung der Kunstfertigkeit und des Handwerks, welches erlernt und geübt werden muss. Die Rezeptionshaltung wird sowohl im Modus des „Überfalls“, des passiven Einwirkens auf den Rezipienten beschrieben, als auch durch den Gedanken eines aktivischen Entstehens im Inneren (12. Kapitel: „Von Sing- und Spielmelodien“): „Vernehme ich in der Kirche eine feierliche Symphonie, so überfällt mich ein andächtiger Schauder; arbeitet ein starcker Instrumenten=Chor in die Wette, so bringt mir solches eine hohe Verwunderung zu Wege; fängt das Orgelwerck an zu brausen und zu donnern, so entstehet eine göttliche Furcht in mir; schließt sich denn alles mit einem freudigen Hallelujah, so hüpfft mir das Hertz im Leibe“, Mattheson, Kapellmeister, 208 f. 165 Batteux, Les Beaux Arts réduits, 268.
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die graduellen Empfindungswallungen – jenseits einer sprachlichen Vermittlung – sukzessive nachspürbar und zu verinnerlichen sind.
2.3 Das musikalische „Ausdrucksprinzip“ (C. P. E. Bach) „Aus der Seele muß man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel“166 schreibt Carl Philipp Emanuel Bach im ersten Teil seines Versuchs über die wahre Art, das Clavier zu spielen (1753). Seine zweiteilige Schrift kann in vielerlei Hinsicht als maßgebliches Zeitdokument für Veränderungen in der musikalischen Produktion wie Rezeption des 18. Jahrhunderts gelten. Auch er proklamiert die Idee einer musikalischen Einfühlung: Indem ein Musickus nicht anders rühren kann, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mit=Empfindung. Bey matten und traurigen Stellen wird er matt und traurig. Man sieht und hört es ihm an. Dieses geschieht ebenfals bey heftigen, lustigen, und andern Arten von Gedancken, wo er sich alsdenn in diese Affeckten setzet. Kaum, daß er einen stillt, so erregt er einen andern, folglich wechselt er beständig mit Leidenschaften ab. […] Besonders aber kann ein Clavieriste vorzüglich auf allerley Art sich der Gemüther seiner Zuhörer durch Fantasien aus dem Kopfe bemeistern. (I, 122)
In diesem nuancierten beständigen Affektwechsel wird erstmals „ein Ausdrucksprinzip spürbar, das in einem übertragenen Sinn dynamisch genannt werden kann.“167 Denn es zeigen sich Auflösungserscheinungen des kondensierten Affektmodells, wenn Bach von „Empfindungen“ und „Mit-Empfindung“ spricht, also ein sympathetisches Modell einführt, vom „Stillen“ und „Erregen“ der Empfindungen redet und an anderer Stelle das den Emotionen analog gesetzte „Ab= und Zunehmen des Tones“ (I, 119) als Licht und Schatten beschreibt, was wiederum ein graduelles Staffelungsmodell impliziert. Dies bedeutet eine grundlegend veränderte Systematik und Darstellungsweise von Emotionen: „Nicht durch die Schilderung der 166 Carl Philipp Emanuel Bach: „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen mit Exempeln und achtzehn Probe=Stücken [Teil I]“, in: Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen. Erster und zweiter Teil. Faksimile-Nachdruck der 1. Auflage, Berlin 1753 und 1762, hg. L. Hoffmann-Erbrecht, Leipzig: Breitkopf & Härtel 31976, 2–135; hier: 119. Die Angabe der Seiten richtet sich nach der (verdruckten) Ausgabe, was für die hier zitierten Seitenzahlen jedoch keine Konsequenz hat. Im Fließtext wird den Seitenzahlen die Ziffer I für den 1. Teil und die Ziffer II für den 2. Teil der Schrift vorangestellt. 167 Matthias Thiemel: Tonale Dynamik. Theorie, musikalische Praxis und Vortragslehre seit 1800, Sinzig: Studio Verlag 1996, 5.
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Äußerungsformen eines Affekts, sondern einzig durch die Mitteilung eines Gefühls von innen heraus kann ein Hörer gerührt werden.“168 Insbesondere Bachs Ausführungen zur „Freien Fantasie“ bestätigen das Evozieren neuer, zunehmend ungebundener Formen, welche zugleich Ausdruck eines veränderten Emotionsmodells sind. So empfiehlt Bach in dieser Kompositionsform auf das Notieren des Takts zu verzichten, mit der Begründung, dass „jede Tackt-Art eine Art von Zwang mit sich führet“ (I, 124) und für die strömende Einbildungskraft und fließenden Empfindungen eine Begrenzung darstellen würde. Diese Vorstellungen führt er insbesondere im zweiten Teil seiner Schrift aus dem Jahr 1762169 aus, bei der insgesamt festgestellt werden kann, dass die dynamische Ausgestaltung und „fließende[n] Progressionen“ (II, 249) einen immer wichtigeren Stellenwert einnehmen. Die Fantasie transportiert das „Schöne der Mannigfaltigkeit“ und sollte vor allem eingesetzt werden, um die Leidenschaften zu erregen (II, 336). Seine eigene Komposition, Fantasie in fis-Moll H. 300 Wq. 67, versieht er selbst mit dem Untertitel „Carl Philipp Emanuel Bachs Empfindungen“: Das Musikstück versteht sich damit als „Ausdrucks-Prinzip“170 der vom Urheber selbst empfundenen, „egozentrischen“171 Emotionalität. Statt wie bisher einen konventionellen Affekt zu bedienen, wird ein subjektives In-sich-Hineinhorchen proklamiert, das man musikalisch umzusetzen versucht. Anhand von Bachs’ Text lässt sich einmal mehr verdeutlichen, inwiefern musikalische, ästhetische und anthropologische Entwicklungen parallel verlaufen. In seiner Schrift geht es nicht länger um Textausdeutung oder -nachahmung. Vielmehr werden der Musik eigene Mittel gefunden, um Emotionen auszudrücken. Diese passen sich deutlich an die Veränderungen innerhalb des emotionalen Haushalts an und stellen zunehmend fließend-progressive Konzepte der Zu- und Abnahme in den Vordergrund, so dass es immer mehr zum Selbstverständnis der Zeit wird, dass „Musik nicht nur eine schon bestimmte Leidenschaft, sondern auch den Uebergang von einer zur anderen
168 Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, 28. 169 Carl Philipp Emanuel Bach: „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Zweyter Theil, in welchem die Lehre von dem Accompagnement und der freyen Fantasie abgehandelt wird [Teil II]“, in: Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen. Erster und zweiter Teil. Faksimile-Nachdruck der 1. Auflage, Berlin 1753 und 1762, hg. L. Hoffmann-Erbrecht, Leipzig: Breitkopf & Härtel 31976, 1–341. 170 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht: „Das Ausdrucks-Prinzip im musikalischen Sturm und Drang“, in: Ders.: Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven: Heinrichshofen’s Verlag 1977, 69–112. Als wesentliche Veränderung innerhalb des Ausdrucksbegriffs formuliert Eggebrecht den Wandel von „Die Musik drückt etwas aus, und: In der Musik sich selbst ausdrücken“ (ebd., 81), wobei er letztere Ausdrucksform für die Zeit zwischen 1740 und 1780 ansetzt. 171 Ebd., 110.
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schildern“172 kann. In diesem Sinne schreibt zu Beginn des 19. Jahrhunderts Heinrich Christoph Koch in seinem Musikalischen Lexikon (1802): Der Ausdruck der Empfindungen in ihren verschiedenen Modifikationen ist der eigentliche Endzweck der Tonkunst und daher das erste und vorzüglichste Erfordernis eines jeden Tonkünstlers. […] Die Aeußerung unserer Empfindungen mit ihren Modifikationen ist nicht das Werk eines Augenblicks, sondern eine Folge von Darstellung dessen, was in unserm Herze vorgehet, successiver Ausbruch der Gefühle […].173
2.4 Die Gradatio als musikalische Figur Bis hierhin konnte gezeigt werden, inwiefern Musik insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert Musik und Rhetorik zentrale Verbindungen eingehen: Einerseits werden strukturelle Ordnungsgedanken und Systematiken übernommen, andererseits teilen sie ihre Wirkungsform und ‑absicht. Im 18. Jahrhundert beginnt sich die Musik von diesen Strukturen hingegen zunehmend zu entfernen und reagiert damit auf eine Transformation, die sich gleichermaßen im rhetorischen, emotionalen und ästhetischen System vollzieht. Ein weiterer zentraler Bezugspunkt, der Musik und Rhetorik insbesondere vor dem 18. Jahrhundert miteinander verbindet und der in der Forschung bereits einige Aufmerksamkeit erfahren hat, ist die Übertragung der rhetorischen Figurenlehre auf musikalische Strukturen.174 So fragt Henry Peachum: „hath not music her figures, the same which rhetoric?“175, und Francis Bacon stellt fest, es gebe in der Musik „certain Figures, or Tropes“, „almost agreeing with the Figures of Rhetorike [sic]“176. Die erste bekannte ‚Figurenlehre‘, im Sinne eines Versuchs der Übertragung rhetorischer Strukturen auf die Vokalmusik findet sich in Joachim Burmeisters Schriften. In seiner Musica poetica definiert er eine „Figur“ folgendermaßen: Ornamentum oder musikalische Figur ist eine musikalische Gestalt, sowohl harmonisch als auch melodisch, die im Rahmen eines textlich-musikalischen Abschnitts […] stattfindet und die von der gewöhnlichen Art der Komposition
172 Kraus, Etwas von und über Musik, 27. 173 Heinrich Christoph Koch: „Ausdruck“, in: Ders.: Musikalisches Lexikon. Faksimile-Reprint d. Ausg. Frankfurt a. M. 1802, hg. N. Schwindt, Kassel et al.: Bärenreiter 2001, 184–187; hier: 184 f. Vgl. Eggebrecht, Ausdrucksprinzip, 108. 174 Für einen Überblick der Forschung siehe Krones, Rhetorik und Stilistik, 1937 f. 175 Henry Peachum, The Compleat Gentleman (1622), zit. n. Krones, Rhetorik und Stilistik, 1934. 176 Francis Bacon, Sylva Sylvarum (1627), zit. n. Krones, Rhetorik und Stilistik, 1936.
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abweicht und dabei mit Nachdruck ein geschmückteres Aussehen annimmt und einführt.177
Die Idee der (syntaktischen) Abweichung, die gleichermaßen Grundprinzip der rhetorischen Figur ist, wird hier auf die Musik übertragen, jedoch vor dem Hintergrund musikalischer Paradigmen (Harmonie/Melodie). Dabei muss davon ausgegangen werden, dass die Figuren zunächst sehr stark auf die Betonung einer Textausdeutung angelegt waren und diese verstärken sollten. Zudem diente die rhetorisch-musikalische Figur der decoratio, der Ausschmückung des Texts, wie sie Johannes Nucius in Musices poeticae sive de compositione cantus (1613) erwähnt.178 Einige Schriften behandeln auch die musikalisch-rhetorische Figur der Gradatio bzw. Climax, und zwar ganz in Analogie zu ihrem rhetorischen Äquivalent. Bei Burmeister lautet die Beschreibung folgendermaßen: „Die climax wiederholt intervallgetreu ähnliche Töne, aber auf anderen Tonstufen“179. Sie ist auch hier zuerst Wiederholungsfigur, der höchstens als Effekt ein Steigerungsprinzip innewohnt. Konnte im Laufe des 17. Jahrhunderts in der Rhetorik beobachtet werden, dass die Gradatio zunehmend als Figur des Emotionalen eingesetzt wird (Kap. II.1), lässt sich dies ebenso in den musikalisch-rhetorischen Beschreibungen nachvollziehen. Dietrich Bartel hat gezeigt, dass seit Athanasius Kircher (Musurgia Universalis, 1650) in den Figurenkatalogen die „affektdarstellende Fähigkeit der Figuren“180 hervorgehoben wird. Kircher beschreibt die Gradatio als „eine stufenweise aufsteigende musikalische Periode“, die „oft in Affekten der göttlichen Liebe und Sehnsucht nach dem himmlischen Reich angewandt [wird], wie in Orlandos ‚Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser.‘“181 Gradationsfiguren werden 177 „Ornamentum sive Figura musica est tractus musicus, tàm in Harmonia, quàm in Melodia, certâ periodô, quae à Clausula initium sumit & in Clausulam desinit, circumscriptus, qui à simplici compositionis ratione discedit, & cum virtute ornatiorem habitum assumit & induit.“ Joachim Burmeister: Musica Poetica (1606), hg. A. Sueur, P. Dubreuil, Wavre: Mardaga 2007, 146. Dt. Übersetzung zit. n. Kalisch, Musik, 280. 178 Nucius sieht die Aufgabe der musikalischen Figuren darin, „einen Satz [zu] verzieren und [zu] verfeinern und ihm eine angenehme Gewähltheit [zu] verleihen“, zit. n. Bartel, Figurenlehre, 26. 179 „Climax […] est, quae per gradus intervallorum similes sonos repetit, ut hoc exemplum indicat.“ Burmeister, Musica Poetica (1606), 160. Dt. Übersetzung zit. n. Bartel, Figurenlehre, 126. Es ist davon auszugehen, dass „gradus“ hier noch die ursprüngliche Bedeutung der „Stufe“ oder des „Schritts“ trägt. 180 Bartel, Figurenlehre, 29. 181 „Vocatur Climax si[v]e gradatio, estque periodus harmonica gradatim ascendés adhiberique solet, in affectibus amoris diuini & desiderijs patriæ cœlestis, vt illud Orlándi (Quemadmodum desiderat ceruus ad fontes aquarum) […].“ Athanasius Kircher: Musurgia Universalis sive Ars Magna consoni et dissoni, Bd. 2, Rom: Ludovici Grinani 1650, 145 (§ VII). Dt. Übersetzung zit. n. Bartel, Figurenlehre, 124.
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so erstmals Mitte des 17. Jahrhunderts als „affekterregende und ‑tragende Mittel“182 dargestellt. Dies wird in Heinrich Schütz’ Konzert „Saul, Saul, was verfolgst du mich“ (Symphoniae sacrae III, 1650) durch die Verwendung zahlreicher dynamischer Zeichen unterstützt, die zusätzlich zur musikalischrhetorischen Gradationsfigur angebracht werden.183 Die Semantik eines fließenden, allmählichen Anstiegs findet sich schließlich in Johann Adolph Scheibes Critischem Musicus (1745): [D]as Aufsteigen, (Gradatio,) wenn man gleichsam stufenweise von einem schwächern Satze zu höhern Sätzen fortschreitet, und also den Ausdruck der Sache, oder die Stärke der Musik immer wichtiger und nachdrücklicher machet. Diese Figur ist eine der vortrefflichsten und künstlichsten in der Musik. Sie erfordert eine unumschränkte Kenntiß der Affecten, und alles dessen, was man durch musikalische Töne ausdrücken oder vorstellen kann. […] Wie schön ist es nicht, wenn der Anfang nur ganz schwach und fließend ist, die Folge aber immer höher steigt, und wenn daraus endlich die stärkste Melodie und Harmonie entsteht? Dieses rühret und setzet die aufmerksamen Zuhörer in Verwunderung. Vornehmlich wird eine Arie, in welcher der Affect immer höher steigt, und endlich seine völlige Stärke erlanget, die trefflichste Wirkung thun, und niemand wird sie, ohne gerühret zu werden, anhören können.184
Die Wiederholung ist hier aus der Definition ganz herausgefallen, es ist nicht einmal klar, ob sich das „Aufsteigen“ tatsächlich auf die Tonstufen bezieht. Im Mittelpunkt der Definition steht der intensivierende Anwuchs der Steigerungsfigur, wobei ein besonderes Augenmerk auf den fließenden Übergänge liegt. Diese vermögen sich nun auch in sympathetischer Form auf die Rezipienten zu übertragen. Scheibe erweitert somit die herkömmliche Definition der „stufenweisen“ Fortschreitung innerhalb des Satzes maßgeblich: Ins Zen182 Ebd., 127. 183 Vgl. Walter Gerstenberg: „Dynamik“, in: 1MGG, hg. F. Blume, Bd. 3: Daquin – Fechner, Kassel: Bärenreiter 1954, 1023–1036; hier: 1028. Die Dynamikbezeichnungen (außer das forte) beschränken sich dabei auffälligerweise auf die Phrase „was verfolgst du mich“, die mehrmals in der Abfolge forte [Saul, Saul] – mezzopiano [was verfolgst du mich ]– pianissimo [was verfolgst du mich] – forte [was verfolgst du mich] – mezzopiano [was verfolgst du mich] – pianissimo [was verfolgst du mich] erfolgt. Diese dreischrittige Abstufung verläuft hingegen nicht parallel zur sequenzartigen Tonstufengradation, sondern führt innerhalb der GradationsSequenz eine dynamische Abstufung vor und produziert damit eine Art Echo-Effekt, welcher zugleich das Entfernen des ‚Verfolgten‘ lautmalerisch nachahmt. Heinrich Schütz: Symphoniarum Sacrarum, Tertia Pars, Worinnen zubefinden sind Deutsche Concerten […], Dresden: Christian und Melchior Bergen 1650, 37 f. Bemerkenswert für diese Studie ist dabei, dass u. a. Rosamund E. M. Harding die Entstehung der Diminuendo- und Crescendo-Techniken auf einen „attempt to imitate the natural echo“ zurückführt. Rosamund E. M. Harding: „On the Origin and History of the forte and piano; the crescendo and diminuendo“, in: Dies.: Origins of Musical Time and Expression, London/New York: Oxford UP 1938, 85–106; hier: 85. 184 Johann Adolph Scheibe: Critischer Musicus. Neue vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig: Breitkopf 1745, 697.
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trum rückt die Musik, die in allen Graden bis auf die stärkste Melodie und Harmonie heranwachsen soll. Es werden somit der Musik inhärente Mittel gesucht, um eine Steigerungsfigur darzustellen, während der Sprachbezug in den Hintergrund rückt. Wenn Schwäche und Stärke in der Musik ausgedrückt werden, so evoziert dies zugleich die Ausübung von Dynamik, d. h. in der Musik: das An- und Abschwellen von Tönen, das Lauter- und Leiserwerden. Hierzu bedarf es aber, auch das wird aus Scheibes Zitat ersichtlich, eines „aufmerksamen“ Publikums, welches die sanften Übergänge vermerkt. Dieses Publikum wird nicht länger von Affekten ‚befallen‘, sondern „gerührt“ und in den Zustand der „Verwunderung“ und damit in den Bereich des „Wunderbaren“ versetzt.185 Prozesse der Sensibilisierung, eine Rezeptionsseite, die auf dem Konzept des individuellen Ein- und Mitfühlens basiert, und Intimisierung, der Rückzug in einen zunehmend privatisierten Rezeptionsraum, deutet Scheibes Zitat gleichermaßen an. Damit wird der Wandel veranschaulicht, den Musik nicht nur in ihrer Ausführung, sondern gleichermaßen in ihrer Rezeption erfährt. Dies hat zur gleichen Zeit zur Folge, dass die musikalischrhetorischen Figuren innerhalb der Schriften an Wichtigkeit einbüßen: „Die Lehre von den musikalisch-rhetorischen Figuren und das figürliche Abbilden der Musik verloren ihre Aktualität; sie wichen einer zunehmend individualisierten, differenzierten und sublimierten Produktions-, Reproduktions- und Rezeptionshaltung, die sich immer weniger rhetorisch objektivieren ließ.“186 Mitunter lässt sich die Ablösung der Rhetorik auch anhand der einsetzenden Genieästhetik erklären, betrachtet man folgende Ausführungen Johann Philipp Kirnbergers in seiner Kunst des reinen Satzes in der Musik (1776): Die Erfindung eines einzigen melodischen Satzes oder Einschnittes, der ein verständlicher Satz aus der Sprache der Empfindung ist, und einem empfindsamen Zuhörer die Gemüthslage, die ihn hervorgebracht hat, fühlen läßt, ist schlechterdings ein Werck des Genies und kann nicht durch Regeln gelehrt werden.187 185 Das „Wunderbare“ ist im 18. Jahrhundert nicht nur unmittelbar mit ästhetischen Implikationen verknüpft, es wurde insbesondere in den 1740ern als „neues poetisches Paradigma“ von Bodmer/Breitinger eingeführt: „Das Wunderbare war gleichsam als ‚äußerste Staffel des Neuen‘ nichts Anderes als das ‚Aufsuchen des Möglichen, des Denk- und Vorstellbaren‘ im Kunstwerk. Das Neue und Wunderbare lassen sich als ‚Steigerungsstufen des Wahren‘ begreifen, ‚in denen das Fesselnde und Erstaunliche, […] über dies ihr immanente Maß hinaus gesteigert wird […] bis an die Grenze des Wahrscheinlichen‘“, Lütteken, Das Monologische, 123. Erneut begegnet man hier der Idee einer sinnlichen Steigerungsfigur vermittels der Einbildungskräfte, wie sie auch in der Idee der Versinnlichung (vgl. Kap. II.3) angelegt ist. Musik und Oper, die ihre Daseinsberechtigung im merveilleux sehen, sind insofern besonders dankbare Medien der „Verwunderung“. Vgl. ebd., 131 ff. 186 Eggebrecht, Musik im Abendland, 493. 187 Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, aus sicheren Grundsätzen hergeleitet und mit deutlichen Beyspielen erläutert. Zweyter Teil, Berlin/Königsberg: G. J. Decker und G. L. Hartung 1776, 152.
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Die rhetorische inventio kann nicht länger über bestimmte Formeln erlernt werden, denn ein Genie folgt diesen nicht. Vielmehr muss das „monologisierende ingenium“188 seine Erfindungen aus sich selbst heraus schöpfen, Empfindungen der Seele müssen unmittelbar in das Musikstück und damit auf die Rezipienten einfließen, weil „real good Taste cannot possibly be acquired by any Rules of Art.“189 Das Konzept von Kreativität veränderte sich damit maßgeblich: Statt rhetorischen Regeln folgt der Komponist seiner eigenen Natur und intrinsischen Emotionalität.190 Mit einem derartig neuen Produktionsverständnis ging außerdem ein neues Werkverständnis von Musik einher, insofern der geniehafte Komponist mithilfe einer festgelegten Notation zunehmend selbst diktierte, wie ein Musikstück zu interpretieren war.
2.5 Gradatio – Crescendo Innerhalb der Beschreibungssprache der Gradatio deutet sich eine immer größere Loslösung von ihren sprachlichen Strukturen an. Es zeichnet sich ein Übertritt ab, welcher die musikalisch-rhetorische Figur in eine rein musikalische transformiert. Dieser Übertritt wird besonders in Johann Nikolaus Forkels Einleitung seiner Allgemeinen Geschichte der Musik (1788) deutlich, der nicht nur eine Transgression der Gradatio vollzieht, sondern zugleich Musik als eigenständiges System etablieren möchte. Das schon in der zeitgenössischen Rezeption sehr einflussreiche Werk versucht einen Überblick und die (gradationale) Genese der Musikgeschichte seit den Anfängen (Ägypten)191 188 Lütteken, Das Monologische, 7 f. 189 Francesco Geminiani: A Treatise of Good Taste in the Art of Musick, London: k. A. 1749, 2. 190 Buelow et al., Rhetoric and Music, 273a. 191 Der gängigen Meinung vieler Ursprungstheorien seiner Zeit folgt Forkel in seiner Schrift insofern, als er davon ausgeht, dass Musik und Sprache dem Menschen angeboren, deshalb also immer schon Teil der Menschheit gewesen seien. (Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, 2; 69 f.) Seine Geschichte der Musik beginnt er mit dem ägyptischen Volk, da er es als dasjenige bezeichnet, welches „diese Kunst zuerst auf einen gewissen Grad der Vollkommenheit gebracht“ hat. (71) In seiner Darstellung können dabei zahlreiche Passagen herangezogen werden, die belegen, wie deutlich sich Forkel in dem Paradigma gradationaler Entwicklungsgeschichten und der verfeinerten scala natura bewegt (vgl. den Prolog dieser Arbeit), z. B.: „Künste und Wissenschaften wachsen wie alle Geschöpfe der Natur, nur nach und nach zur Vollkommenheit hinauf. Der Raum zwischen dem ersten Anfang und der höchsten Vollkommenheit ist mit so mannichfaltigen Mittelgeschöpfen ausgefüllt, daß man überall nicht nur die stuffenweise Fortschreitung vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Kleinen zum Großen gewahr wird, sondern auch jedes einzelne, in dieser Stuffenfolge befindliche Glied für sich allein als ein Ganzes betrachten kann.“ (1). Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
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bis in das Jahr 1550 – sie gilt damit als begründende Schrift der historischen Musikwissenschaft, die zugleich wesentliche anthropologische und ästhetische Paradigmen des 18. Jahrhunderts integriert. Bemerkenswert ist die Einleitung des Texts, in der Forkel sich zur Aufgabe macht, einen übergreifenden Begriff der Musikästhetik zu entwickeln, den „Versuch einer Metaphysik der Tonkunst“ (XV), wie er in der Vorrede schreibt, die „den Zusammenhang der Kunst mit der Natur unserer Gefühle, und der Art und Weise ihrer Aeußerungen“ (XIV) darstellen möchte und in drei Perioden eingeteilt ist. Auch Forkel bestimmt die Musik, ähnlich wie andere Musiktheoretiker der Zeit, als „tonleidenschaftliche[n] Ausdruck des Gefühls“ (2) und betont die Ähnlichkeit zur Sprache, deren „gemeinschaftliche Quelle aus der Empfindung“ (ebd.) entspringt. Zwar wird Sprache immer wieder als Vergleichsparameter herangezogen, doch zielt die Schrift zunächst auf eine eigenständige Entwicklung des musikalischen Ausdrucks ab. Die Empfindungen werden in Leibniz-Wolff’scher Tradition hergeleitet (3 f.) und die rhythmische Wiederholung von „Empfindungstönen“ als Bewegungsprinzip definiert (4). Über Operationen der Verbindung können aus einzelnen „Empfindungslauten“ Tonreihen entstehen und ab diesem Moment „fängt die Musik erst an, den Namen einer Kunst, einer wahren Sprache der Empfindung zu verdienen.“ (7) Die strukturelle Ähnlichkeit von Empfindungen und Tönen hebt Forkel, wie schon Webb oder Herder, klar hervor: Empfindungen sind Bewegungen der Lebensgeister, und folgen, wie schon oben erinnert worden ist, den Gesetzen der Bewegung. […] [Die Empfindung, J. F.] nimmt nach und nach durch unendliche und unbegreifliche Grade von Stärke und Schwäche ab und zu. Dieses Wachsen und Abnehmen der Empfindung nennt man gewöhnlich Modification; es könnte aber eben so füglich, und vielleicht noch füglicher mit einem Worte bezeichnet werden, welches wir in der musikalischen Kunstsprache moduliren nennen; denn das musikalische Moduliren entspricht den feinen allmähligen Übergängen der Empfindung zur Stärke oder Schwäche nicht nur vollkommen, sondern giebt auch gleichsam einen kleinen Wink, daß die Modulation der Leidenschaft durch die Modulation der Töne am besten auszudrücken, und nachzuahmen sey. (8)
Forkel führt hier einerseits die Empfindungen auf physikalische Prinzipien zurück, die seit Descartes als Beschreibungsmuster des Emotionalen dienen, andererseits re-definiert er sie mithilfe musikalischer Eigenschaften und beschreibt zur gleichen Zeit Musik als maßgebliche Kunst der Empfindungen. Empfindungen werden auch hier in ihrer Übergänglichkeit und Dynamik dargestellt, und da Musik als energetische Zeitkunst sich im Wesentlichen mit eben diesen Struktureigenschaften beschäftigt, schlägt Forkel vor, den
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musikalischen Begriff der Modulation einzusetzen, um Empfindungen zu beschreiben.192 Musikalische Parameter werden zunächst zur Beschreibungssprache der Empfindungen, doch geht Forkel noch einen Schritt weiter, indem er die zunehmende Ablösung der Musik von ihren sprachlichen Strukturen darstellt. Im Gegensatz zu derjenigen von Rousseau verläuft diese Darstellung jedoch nicht als Antiklimax,193 sondern als Erfolgsgeschichte. So trägt die Erfindung der Harmonie zur „genauesten Bestimmtheit der musikalischen Kunstausdrücke“ (13) bei, dient zudem der Vermehrung der Kunstausdrücke (14), führt schließlich zur Vereinheitlichung der Tonleiter und schafft so ein „innig verbundenes Tonsystem“ (15), das melodische Abläufe ermöglicht. Forkel kommt zu dem Schluss: Aus allem dem, was bisher gesagt worden ist, wird nunmehr der Leser leicht den Schluß machen können, daß man sich unter dem Worte Musik eine allgemeine Sprache der Empfindungen zu denken habe, deren Umfang eben so groß ist und seyn kann, als der Umfang einer ausgebildeten Ideen=Sprache. (19)
Bezeichnend ist, dass Forkel zwar eine eigenständige Musiktheorie entwirft, als Systematik aber dennoch auf eine bereits vorhandene zurückgreift: „Die Vorschriften zur Verbindung einzelner Töne und Accorde zu einzelnen Sätzen, sind in der musikalischen Grammatik enthalten, so wie die Vorschriften zur Verbindung mehrerer einzelner Sätze in der musikalischen Rhetorik.“ (21) Nachdem er mühevoll die Genese einer Eigenständigkeit der Musik und ihrer Strukturen herausgearbeitet hat, greift er an dieser Stelle auf die rhetorische Theoriesprache und Systematik zurück, um diese beschreiben zu können. Das macht die Schrift zu einem außergewöhnlichen Übergangsdokument, welches im Spannungsfeld der (konservativen) musikalischen Rhetorik und einer (innovativen) eigenständigen Musiktheorie oszilliert. Denn in Forkels Theorie wird eine Art musikalischer Überschuss produziert, den herkömmliche sprachlich-rhetorische Mittel nicht ohne Weiteres auffangen können. Dies zeigt sich vor allem in der musikalisch-rhetorischen Figurenlehre, die Forkel anbringt. Es lässt sich also feststellen, dass obwohl Forkel hier einmal mehr auf das rhetorische Wertesystem zurückgreift, er gerade damit die
192 Diese Argumentationslinie erinnert durchaus an Herders Ausführungen im Vierten Kritischen Wäldchen, in der dieser ebenfalls eine Re-Definition der Empfindungen unter musikalischen Parametern, eine „Musikalische Monadologie“, einführen wollte. Herder, Viertes Wäldchen, 359. 193 Zwar erkennt Forkel Rousseau als wichtigen Theoretiker an, aber seine Ausführungen zur Harmonie enthielten „sonderbare Meynungen“, so dass Forkel zum Schluss kommt, dass Rousseau dem Gebiet „noch nicht vollkommen gewachsen war.“ Forkel, Allgemeine Geschichte, 17.
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„Transformation“ dieses Systems exemplifiziert. Denn diese ist am Ende des 18. Jahrhunderts, wie auch die rhetorische Figurenlehre, als „Affekt“-Rhetorik im Sinne Dietmar Tills (vgl. Kap. II.1) zu verstehen: „Die nächste Absicht der Tonsprache geht also auf die Empfindung. […] [Die] Uebertragung der Eindrücke von einer Kraft auf die andere geschieht vorzüglich durch die Figuren.“ (54) Im Zentrum des Wirkungsauftrags steht somit auch in der Musik die sympathetische Vermittlung von Empfindungen auf den Rezipienten. Die musikalisch-rhetorische Gradatio erhält bei Forkel dabei einen besonderen Stellenwert: Eine der schönsten und wirksamsten Figuren ist die Gradation (Steigerung). Man steigt gleichsam stuffenweise von schwächern zu stärkern fort, und drückt dadurch eine immer zunehmende Leidenschaft aus. Die gewöhnliche Art, sie in der Tonsprache auszudrücken, geschieht durch das crescendo, womit man einen Satz vom gelindesten Piano an, bis zum stärksten Fortissimo fortführt. Eine bessere Art ist es, wenn diese Steigerung durch beständigen allmählichen Zuwachs an neuen Gedanken und Modulationen bewerkstelligt, und dann mit der ersten Art verbunden wird. (58)
Die Gradation wird als fein nuancierte Steigerungsfigur beschrieben, die in ihrer Beschreibungssprache ganz in der Struktur ‚modulierter‘ Empfindungswallungen aufgeht. Dabei handelt es sich nicht länger um die Auslegung, Nachahmung oder Verstärkung eines Textsinns. Die Musik verwendet eigene Mittel, welche letztlich der im 18. Jahrhundert aufkommenden ästhetischen Forderung nachkommen, die Umsetzung der unmittelbaren Übergänglichkeit der Seelenschwankungen zu realisieren: Das Crescendo versteht sich als emphatisch musikalische Sprache. „Die Musik wandelt sich durch ihren durch die Rhetorik angeregten Sprachcharakter in Parallelisierungen und Analogien zu einer Sprache sui generis, die schließlich das nicht mehr Sagbare im Medium des Klanges ausdrückt.“194 Es bedarf dabei zunehmend keines ‚Umwegs‘ über die Sprache mehr, vielmehr werden Gedanken und Empfindungen unmittelbar in musikalische Zeichen übertragen. Das „stuffenweise“ Fortschreiten wird hier als kontinuierlich anwachsend beschrieben (ital. crescendo = anwachsend), es ist in seiner Zeitstruktur „beständig allmählich“, „immer zunehmend“ verbunden und zeugt von der tatsächlichen Nivellierung der Gradationsstufen: Das Zitat dokumentiert somit die Dynamisierung der Gradatio, die sich an dieser Stelle von ihren sprachlichen Wurzeln gelöst
194 Hermann Jung: „Figuren und Manieren. (Zum Sprachcharakter Mannheimer Instrumentalmusik)“, in: Colloquium. Die Instrumentalmusik (Struktur – Funktion – Ästhetik), Brno 1991, Musikwissenschaftliche Kolloquien der Internationalen Musikfestspiele in Brno, Bd. 26, Brno: Masarykova Univ., Filozofická Fak. 1994, 41–50; hier: 47.
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hat und selbstbezüglicher, unmittelbarer musikalischer Empfindungsausdruck geworden ist. Das Crescendo wird im 18. Jahrhundert jedoch nicht allein aus dem Blickwinkel der Rhetorik beobachtet und beschrieben, wie Forkel dies tut. Es wird auch als Teil der Vortragslehre thematisiert, da dieser „ausdrückend, und jeder vorkommenden Leidenschaft gemäß“, „leicht und fließend“, sowie „mannigfaltig seyn“ soll, wie Johann Joachim Quantz beschreibt195; darin weist die Dynamik auch eine Parallele zur Schauspielkunst auf. Denn „[w]er die Töne immer in einerley Stärke oder Schwäche vorbringt, und, wie man saget, immer in einerley Farbe spielet; wer den Ton nicht zu rechter Zeit zu erheben oder zu mäßigen weis, der wird niemanden besonders rühren.“196 Dass man hier „nicht mit allzugroßer Heftigkeit von dem einen zum andern gehe, sondern unvermerkt zu= und abnehme“197 ist eine Empfehlung, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Standardformulierung unter den Vorschriften der Manieren avanciert: Ein Hauptaugenmerk der Vortragslehre wird so darauf gerichtet, „in der Verstärkung des Tones, [diesen] wachsend zu machen“198.
2.6 Die Crescendo-Dynamik Tatsächlich kann das Crescendo, „[d]as beginnende Säuseln des Tons bis zum Donnersturme“199 in gewisser Hinsicht als eine „Erfindung“ des 18. Jahrhunderts gelten, insofern es seit den 1750er Jahren – aus Italien kommend – in Deutschland instrumental praktiziert und perfektioniert wird; zumindest stellte es die zeitgenössische Beschreibung so dar.200 Christian Daniel Schubart schreibt in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (1777–1778, 1806 posthum veröffentlicht), dass das „musikalische Colorit“, das forte und piano, „ganz eine Erfindung neuerer Zeiten“, welches „noch nicht hundert Jahre alt“ sei, „denn vor ungefähr funzig bis sechzig Jahren schrieben es die Italiäner zum erstenmahl unter ihre Compositionen.“201 Zugleich räumt er ein,
195 Quantz, Versuch, 106 f. 196 Ebd., 106. 197 Ebd., 140. 198 Ebd. 199 Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, 364. 200 Vgl. für einen allgemeinen Überblick zur ‚Enstehung‘ des Crescendo: Rosamond E. M. Harding, On the Origin and History of the Forte and Piano; the Crescendo and Diminuendo, sowie: Achim Bornhoeft: Studien zum Wandel von Crescendoformen. Abschlussarbeit im Fach Musikwissenschaft vorgelegt bei Prof. Dr. Horst Weber (1994): http://icem.folkwanghochschule.de/~born/de/doc/txt/cresc.htm, zul. besucht am 8.10.15. 201 Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, 363.
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man könne „doch so zuverläßig nicht behaupten, daß die Alten bloß mit einer Farbe gemahlt haben sollten.“202 Auch Matthias Thiemel hat gezeigt, dass „die älteste, nicht erhaltene Musik ohne feine dynamische Übergänge schwer vorstellbar“203 sei, was man bereits anhand von Plutarchs Ausführungen belegen könne. Dynamik204 ist seit jeher ein wesentliches Gestaltungsprinzip der Musik, auch dort wo sie nicht notwendigerweise notiert wurde, wie es bis weit ins 18. Jahrhundert noch häufig der Fall war. Im 10. Jahrhundert häufen sich hingegen „Interpretationsanweisungen wie ‚multum suppressa voce‘ (mit sehr gedämpfter Stimme), ‚lacrimabilis‘ (beweinenswert), ‚suavis‘ (lieblich), ‚clamosus‘ (laut schreiend), ‚blandus‘ (schmeichelnd)“205. Frühe Formen solcher offensichtlich dynamischer Gestaltung sind das Echo, oder das Messa di Voce, ein Anund Abschwellen der Stimme, wie es beispielsweise in Giulio Caccinis Nuove Musiche beschrieben wird.206 Mithilfe der Stimmführung und der variierenden Anzahl und Gruppierung von Stimmen ließen sich zudem Lautstärkeeffekte erzielen.207 Bereits 1638 heißt es in Domenico Mazzocchis Vorwort seiner Partitura de’ Madrigali a Cinque Voci, dass die Buchstaben „P“, „F“ und „E“ und „t“, die für piano, forte, Echo, und trillo stehen, üblich und allgemeinverständlich seien.208 Auch die Übergänglichkeit der anschwellenden CrescendoDynamik ist im 17. Jahrhundert bereits angelegt, z. B. wenn Matthew Locke seiner von Shakespeare adaptierten Oper The Tempest (1667) die Anweisung „louder by degrees“ anführt209, oder wenn in Christoph Bernhards Kapitel „Von der Singe-Kunst oder Manier“ seines Ausführlichen Berichts empfohlen wird, sich „in acht zu nehmen, daß man nicht plötzlich aus dem piano ins forte fallen, sondern allmählich die Stimme wachsen und abnehmen lassen
202 Ebd. 203 Matthias Thiemel: „Dynamik“ in: 2MGG, Sachteil Bd. 2: Böh-Enc, Kassel/Basel: Bärenreiter 1995, 1600–1622; hier: 1609. 204 Das Wort „Dynamik“ selbst wird erstmals 1809 von Hans Georg Nägeli vermutlich aus der Physik auf die Musik übertragen. Thiemel, Tonale Dynamik, 13. 205 Grimm, Affekt, 25a. 206 Caccini empfiehlt „[…] che per le voci, & altresi usarsi indifferentemente, il crescere, e scemare della voce, l’esclamazioni, trilli e gruppi, & altri cotali ornamenti“ führten „alla buona maniera di cantare“, und weiter: „Indubitamente adunque come affetto più proprio per muouere, migliore effetto farà l’intonare la voce […] crescendola“. Caccini, Nuove Musiche, 14; 28. 207 Thiemel, Dynamik, 1609. 208 „Le altre lettere P, F, E, t intese per Piano, Forte, Echo, e trillo, già sono cose volgari, e note à tutti.“ Domenico Mazzocchi: Partitura de’ Madrigali a cinque voci, Rom: Francesco Zannetti 1638, 5. 209 Hermann J. Busch: „Crescendo/Decrescendo“, in: Das große Lexikon der Musik in acht Bänden, hg. M. Honegger, G. Massenkeil, Bd. 2: C bis Elmendorff, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1987, 230–231; hier: 230b.
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müsse“210. Allerdings konzentrieren sich diese Angaben zunächst vor allem auf die Vokalmusik. Für die Instrumentalmusik kann dagegen Folgendes beobachtet werden: Im Barockzeitalter waren Orgel und Cembalo die wichtigsten Begleitinstrumente, die ihrerseits „das Ideal einer an festen Stufen gebundenen Dynamik“211 verkörperten, also „fließende“ Klänge mit ihnen „nicht auszudrücken“ waren, sondern „allein mit der Violino, Flauto oder Singe Stimme“, wie Johann Adolph Scheibe in seinem Compendium Musices noch um 1730 feststellt.212 Erst allmählich, z. B. durch die Montur von Schwellwerken in Orgeln (Thomas Mace, 1676)213 sowie mithilfe der technischen Weiterentwicklung des Pianoforte214 konnten dynamische fein nuancierte Übergänge auch präziser durch Tasteninstrumente realisiert werden, mit dem Ziel, „größere Schattierungsmöglichkeiten bei erweiterten dynamischen Möglichkeiten [zu] erzielen.“215 Veränderungen im Instrumentenbau boten also wesentliche 210 Bernhard, Ausführlicher Bericht, 32. 211 Gerstenberg, Dynamik, 1029. 212 Johann Adolph Scheibe: „Compendium musices theoretico – practicum[,] das ist Kurzer Begriff derer nöthigsten Compositions-Regeln“, in: Peter Benary (Hg.): Die deutsche Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1961, 3–85; hier: 8. 213 Matthias Thiemel: „Dynamics“, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. S. Sadie, Bd. 7: Dan tranh-Eguees, London: Macmillan 22001, 820–824; hier: 820b. Durch das Einsetzen von Registern in geschlossenen Holzkästen konnten bereits im 17. Jahrhundert Echo- und Fernwirkungen erzielt werden; derartige Schwellkästen waren insbesondere in Spanien im 18. Jahrhundert weitverbreitet. Durch den ‚Jalousieschweller‘ ließen sich im 18. Jahrhundert durch langsames Öffnen und Schließen der Kastenwände und -decke auch stufenlose dynamische Übergänge realisieren. Der ‚Progressionsschweller‘, der seit Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzt wurde (durch Abbé Vogler, selbst Vertreter der sog. Mannheimer Schule), konnte mithilfe von hinzugezogenen Stimmen die Lautstärke auch allmählich anwachsen lassen. Diese Technik wird u. a. von Justin Heinrich Knecht in seiner Vollständigen Orgelschule für Anfänger und Geübtere (Leipzig 1795–98) beschrieben (§ 46). Ulrich Michels: Dtv-Atlas Musik. Systematischer Teil: Musikgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: dtv 22010, 59; Friedrich Jakob: Die Orgel. Orgelspiel und Orgelbau von der Antike bis zur Gegenwart, Mainz et al.: Schott 71996, 53. Vgl. auch den anonymen Beitrag in der Allgmeinen musikalischen Zeitung (1799): „Korrespondenz: Über Herr Abt. Voglers Orgelverbesserungen, Stockholm“, in: Friedrich Rochlitz: Allgemeine musikalische Zeitung, Bd. 1: 1798–1799, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1799, Sp. 413–415. 214 Z. B. durch Bartolommeo Cristofori, der um 1709 das erste „Gravicembalo col piano e forte“ produzierte: das erste Hammerklavier. Allerdings setzte der Erfolg des Instruments erst ca. ein halbes Jahrhundert später ein, als auch wesentliche Weiterentwicklungen zur Anschlagsdynamik erfolgten. In den 1770er Jahren feierte das Pianoforte insbesondere durch die ‚Wiener Mechanik‘ einen Triumph, denn durch eine sog. „Prelldynamik“ konnte „das Verlangen nach größerem dynamischem Radius“ ihre Erfüllung finden. Klaus Wolters: Das Klavier. Eine Einführung in Geschichte und Bau des Instruments und in die Geschichte des Klavierspiels, Mainz et al.: Schott 1984, 16. Ungefähr ab 1780 wurde das Pedal am Klavier angebracht, als „ausdrucksbestimmende[r] Faktor“ wurde es hingegen erst in der Romantik eingesetzt (ebd., 25 f.). Auch die Veränderung in der Saitenstärke führte zur Möglichkeit der Ausführung klangvollerer kräftigerer Töne, die für die Dynamik zentral waren (ebd., 27). 215 Wolters, Klavier, 26.
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Voraussetzungen, um die Dynamiken umzusetzen. Dies lässt sich auch an C. P. E. Bachs Unterscheidungen zwischen Flügel und Pianoforte ablesen: Hier seien „das Clavicord und das Fortepiano wegen der mancherley Art, die Stärke und Schwäche allmählig vorzutragen“216 besonders geeignet, um Abstufungen der Lautstärke vorzunehmen, was mit dem damaligen Flügel (d. i. Cembalo) noch nicht möglich war.217 Das Klavier etabliert sich so als Ausdrucksmedium der Empfindsamkeit, als Instrument „zum allein spielen“218, „wo die größten Feinigkeiten des Geschmacks vorkommen“219. Am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt sich die Technik der Tasteninstrumente dahin, dass man mit ihnen nicht nur kontrastive Dynamiken, „sondern auch die Mitteltinten, das Schwellen und Sterben der Töne, de[n] hinschmelzende[n] unter den Fingern verathmende[n] Triller, das Portamento oder de[n] Träger“ ausdrücken konnte, „mit einem Wort, alle Züge […] aus welchem das Gefühl zusammengesetzt ist.“220 Das Desiderat einer Crescendo-Dynamik und damit eines unmittelbaren Gefühlsausdrucks erzeugt somit Praktiken und Techniken, die sich nicht auf die Beschreibungssprache beschränken, sondern auf technische Entwicklungen übergreifen. Der Wandel innerhalb der Instrumentalmusik führt zu einer neuen „Haupttendenz“, bei der „die Crescendo- und Decrescendo- oder Diminuendo-Klangführung nicht allein einzelner Töne und Tonreihen, sondern auch größerer Satzabschnitte, auf die Spieltechnik und -praxis des barocken Instrumentariums […] übergreift.“221 So wird in Francesco Geminianis Treatise of Good Taste in the Art of Music (1749) der „Swelling and Falling Sound“ als Ursache für „Beauty and Variety in the Melody“ gesehen. Dabei schließt Geminiani auch Holz- und Streichinstrumente explizit mit ein. Die Frage: „[I]s it possible to give Meaning and Expression to Wood and Wire; or to bestow upon them the Power of raising and soothing the Passions of ra216 Bach, Versuch, II, 245. 217 Die Bezeichnungen der Tasteninstrumente werden im 18. Jahrhundert noch nicht einheitlich verwendet. „Um 1750 hiess Clavier normalerweise soviel wie Clavichord; das Cembalo heisst bei Philipp Emanuel Bach Flügel und wird hauptsächlich für Konzert und Kammermusik, seltener für den Hausgebrauch verwendet. Das Clavichord dagegen ist das übliche Hausinstrument für das intime Solospiel. […] Nach der Terminologie des Wortes ‚Clavier‘ lässt sich schwer feststellen, zu welchem Zeitpunkt darunter nun generell das Hammerklavier, also im Prinzip unser modernes Instrument, verstanden wurde. Es trat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in immer bedrohlichere Konkurrenz zu Cembalo und Clavichord, verdrängte diese aber erst um 1800 vollständig.“ Wolters, Klavier, 7. 218 Bach, Versuch, I, 8. 219 Ebd., II, 2. 220 Schubart, Ideen, 288 f. Weiter heißt es: „Wer nicht gerne poltert, rast und stürmt; wessen Herz sich oft und gern in süßen Empfindungen ergießt, – der geht am Flügel und Fortepiano vorüber, und wählt ein Clavicord […].“ Ebd., 289. 221 Gerstenberg, Dynamik, 1029.
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tional Beings?“ bejaht Geminiani.222 Die Entwicklungen in Sinfonie223 und Sonate224 seit Mitte des 18. Jahrhunderts lassen auf eine Tendenz zur Intensivierung und Klimax225 schließen, welche der Instrumentalbegleitung einen immer wichtigeren Stellenwert einräumte, da ihr ein unmittelbarer Gefühlsausdruck zugesprochen wurde.226 Schriften wie Matthesons Neu-eröffnetes Orchestre (1713), die Flöten-, Klavier- und Violinschulen von Johann Joachim Quantz (1752), C. P. E. Bach (1752/1761), Leopold Mozart (1756)227 und Johann Friedrich Reichardt (1776) verweisen außerdem auf die zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung im Erlernen der Instrumente, die man für das Ausüben der Musik nun benötigte. Während Reichardt noch die allgemeine Geringschätzung der Streicher beklagt228, so avancieren diese im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu zentralen ausübenden Instrumenten der Orchestercrescendi, und die Geige wird, neben dem Klavier, als Instrument der ‚Empfindsamkeit‘ und „Spiegel der Seele“229 neu codiert. In den musiktheoretischen Schriften der Zeit erfährt auch die Notationspraxis eine Revision: Im zweiten Teil seines Versuchs führt C. P. E. Bach aus, dass in der musikalischen Begleitung eine lange Aushaltung „nach den 222 Geminiani, Treatise, 3 f. 223 Vgl. hierzu Sulzers Artikel in seiner Allgemeinen Theorie, der unter anderem die „starke[n] Schattirungen des Forte und Piano, und fürnemlich des Crescendo“ hervorhebt, wobei letzteres „wenn es zugleich bey einer aufsteigenden und an Ausdruk zunehmenden Melodie angebracht wird, von der größten Würkung ist.“ Johann Georg Sulzer: „Symphonie (Musik)“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, 1121–1123; hier: 1122a-1122b. 224 „Die Instrumentalmusik hat in keiner Form bequemere Gelegenheit, ihr Vermögen, ohne Worte Empfindungen zu schildern, an den Tag zu legen, als in der Sonate.“ Johann Georg Sulzer: „Sonate (Musik)“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, 1094–1095; hier: 1094b. 225 Thiemel, Dynamics, 820b. 226 „La musique instrumentale ayant fait un progrès étonnant depuis une quarantaine d’années“, beobachtet auch Rousseau bezüglich der Entwicklung der Ouvertüren: Jean-Jacques Rousseau: „Ouverture“ in: Ders.: Dictionnaire de Musique. Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 965–967; hier: 966. Und Sulzer stellt fest: „Die ganze Musik gründet sich auf die Kraft, die schon in unartikulirten Tönen liegt, verschiedene Leidenschaften auszudrüken; und wenn man nicht ohne Worte die Sprache der Empfindungen sprechen könnte, so würde gar keine Musik möglich seyn. Es scheinet also, daß die Instrumentalmusik bey dieser schönen Kunst die Hauptsache sey.“ Johann Georg Sulzer: „Instrumentalmusik“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 559–560; hier: 559a. 227 Leopold Mozart: Versuch einer gründlichen Musikschule, Augsburg: Johann Jacob Lotter 2 1770. 228 Johann Friedrich Reichardt: Ueber die Pflichten des Ripien=Violinisten, Berlin/Leipzig: George Jacob Decker 1776, 3. 229 Lütteken, Das Monologische, 2.
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Regeln des guten Vortrages mit einem Pianißimo anfängt, bis auf ein Fortißimo allmählig anwächset, und wieder nach und nach bis auf ein Pianißimo abnimmt“230. Allerdings beklagt er den „Mangel an Zeichen“, um „den Eintritt der Stärke und Schwäche bey der Grundnote und ihren Ziffern nicht pünctlich andeuten“231 (ebd., 253) zu können – die Notation der Gabelzeichen, um ein Lauter- und Leiserwerden anzuzeigen, waren Bach nicht geläufig, stattdessen verwendet er in seinen Partituren die Abkürzungen p, pp, f, ff usw. Während im 16. und 17. Jahrhundert Notationszeichen überhaupt nur vereinzelt aufgelistet werden, finden sich im 18. Jahrhundert zunehmend ausgefüllte Gabelzeichen ( ◄ ► ), gleichschenkelige Dreiecke ( ◄ ► ) oder die heute üblichen Nadeln/Winkel (), wobei sich diese zunächst nur auf einzelne Töne bezogen. Johann Stamitz verwendete sie als erster auch für längere Tonfolgen.232 Für die Umsetzungen der Dynamiken bedurfte es neben der Notation nicht nur Instrumente und professionalisierter Musizierender, die die Anforderungen präzise ausführen konnten, sondern auch zentralisierter Steuerungsinstanzen und damit Disziplinierungsmaßnahmen.233 Wenn in den zeitgenössischen Schriften zum musikalischen Ausdruck empfohlen wurde, dass „[s]ounds continued, or succeeding each other without interruption, must be gently swelled and decreased“234, so erfuhr zur gleichen Zeit auch die spezifische Anordnung der Instrumente innerhalb des Orchesters, welche sich an die Gegebenheiten und Örtlichkeiten anzupassen hatte, Berücksichtigung.235 Um präzise und einheitliche Übergänge innerhalb eines Orchesters auszuführen, mussten also auch die ordnungsstiftenden Maßnahmen überdacht werden, insofern die anwachsenden Orchester für derartig komplexe Steigerungsmodi eine klare Direktion benötigten. Der zu diesem Zweck vom Kapellmeister verwendete lange Taktstock, mit dem der Takt gestampft 230 Bach, Versuch, II, 249. 231 Ebd., 253. 232 Bornhoeft, Wandel von Crescendoformen, Abschnitt 1. Frühe Belege der ‚einfachen‘ Ausdruckszeichen finden sich z. B. bei Giovanni Antonio Piani (Violinsonaten op. 1, 1712), Jean-Philippe Rameau (Hippolyte et Aricie, 1733, rev. 1742) und Francesco Geminiani (The Art of Playing on the Violin, 1740). Vgl. Thiemel, Tonale Dynamik, 15; Busch, Crescendo/ Decrescendo, 231. 233 Vgl. Janine Firges: „Die ‚ordentliche Kapelle‘, das ‚harmonische Heer‘. Ordnungspraktiken im Orchester des 18. Jahrhunderts“, in: Jan Behnstedt-Renn, Jan-Marco Sawilla, Rudolf Schlögl (Hg.): Jenseits der Ordnung? Zur Mächtigkeit der Vielen in der Frühen Neuzeit, Berlin: Neofelis (erscheint 2019), N. N., v. a. Abschnitt 3: „sich mit Vielen vereinigen“: Die Ordnung des Orchesters. 234 Charles Avison: An Essay on Musical Expression, London: Lockyer Davis 1775, 125. 235 Ebd., 112 ff. Schon Mattheson weist auf die Wichtigkeit der Anordnung der Instrumente hin, insbesondere in seinem letzten Kapitel des Vollkommenen Kapellmeisters, „Von der Regierung, An=Auf=und Ausführung einer Musik“, 479–484.
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wurde, erwies sich nicht länger als praktikabel, wie ein Dokument aus den 1770er Jahren belegt: [L]e bâton du Maître de Musique peut bien les empecher d’accelerer ou de retarder la mesure, mais il ne pourra jamais les faire phraser uniformement, jamais il ne pourra leur faire sentir les differentes gradations des forte ou piano, du dolce au crescendo.236
Zwar konnte der herkömmliche Taktstock das Tempo, die Beschleunigung und das Langsamwerden (accelerando/ritardando) angeben, aber es mangelte ihm an Feinheit, an einheitlicher Phrasierung und somit der Möglichkeit, Crescendi und Diminduendi auszuführen. Auch Papierrollen wurden eingesetzt, um den Takt zu schlagen, die allerdings nicht nur ebenso unpräzise waren, sondern zudem Störgeräusche verursachten.237 Die durch das „unausstehlich[ ] anwachsende[ ] Schlagen“238 ausgelösten Unterbrechungen widersprachen also den fließenden Gefühlsgradationen gänzlich und produzierten stattdessen „Lärm“, wie auch Rousseau an den Dirigenten-„Holzhackern“ der Pariser Oper bemängelt: „Combien les oreilles ne sont-elles pas choquées à l’Opera de Paris du bruit désagréable et continuel que fait, avec son bâton, celui qui bat la Mesure et que le petit Prophète compare plaisamment à un Bucheron qui coupe du bois.“239 Noverre spricht vom Taktstock als einer „Zuchtrute“ und einem „Zepter der Unkenntnis“, der einen „unangenehmen und dissonanten Lärm hervorrufe240: „Sein widriges mißhelliges Getöse, wenn der Musikdirektor in Hitze geräth und das Pult zerklopft, zerstreut das Ohr des Zuschauers, stört die Harmonie, betäubt den Gesang der Arien, und hindert allem Eindrucke.“241 Um den steigenden Gefühlsausdruck zu garantieren, bedurfte es stattdessen Instanzen, welche das „Maßhalten“ auf unterschiedliche und den neuen Ansprüchen angemessene Weise realisieren konnten,
236 Anonym, „Réflexions sur l’orchestre de l’Opéra“, zit. n. John Spitzer, Neal Zaslaw: The Birth of the Orchestra. History of an Institution 1650–1815, Oxford et al.: Oxford UP 2004, 391. 237 „Mit einer dicken Rolle und mit starken Schlägen bezeichnete Herr Righini nicht blos den Anfang und die Bewegung eines jeden Stücks; jedes Forte, und bestand es auch nur aus einem Strich, bezeichnete er mit einem heftigen Schlage auf die Partitur oder den Rand des Pultes, jedes Crescendo mit bis zum unausstelichen anwachsenden Schlagen; oft schlug er laut den Takt das ganze Stück hindurch.“ So beschwert sich ein anonymer Zuhörer in seinen „Briefen eines Reisenden“, in: Rochlitz, Allgemeine Musikalische Zeitung, Bd. 1, Sp. 348–351; hier: 351. 238 Ebd. 239 Jean-Jacques Rousseau: „Battre la Mesure“, in: Ders.: Dictionnaire de Musique. Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 662–665; hier: 663. 240 Noverre, Lettres, 354–356. 241 Noverre, Briefe, 265.
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was die Disziplinierung des Orchesters und des Publikums242 gleichermaßen erforderte und schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Einführung des „Taktirstäbchens“ mündete, eines kleinen hölzernen Taktstocks, wie ihn Louis Spohr (1784–1859) zum ersten Mal 1817 benutzt haben soll.243 Wie bereits angedeutet, gilt Niccolò Jommelli als derjenige Musiker, der die Bezeichnung des Crescendo im deutschsprachigen Raum eingeführt hat.244 Auch in zeitgenössischer Beobachtung wird „der große Jomelli“ als der erste genannt, „der die musikalische Farbengebung bestimmte; und seit dieser Zeit ist man so weit gegangen, daß man dem Spieler auch die feinsten Nüancen vorzeichnet.“245 Unterschiedliche Schriften heben hervor, welche enorme Wirkung das Crescendo auf die Rezipienten habe: Als er [Jommelli, J. F.] diese Figur in einer Oper zu Neapel zum ersten Mahle anbrachte, richteten sich alle Menschen im Parterre und den Logen auf, und aus weiten
242 Vgl. Firges, Die ordentliche Kapelle; Ravel, Seating the Public, 177; 191; sowie Kap. III.1 dieser Arbeit. 243 In seiner Selbstbiographie berichtet Spohr eindrücklich von der Einführung des Taktstocks in London (1819): „Es war damals dort noch gebräuchlich, daß bei Symphonien und Ouvertüren der Pianist die Partitur vor sich hatte, aber nicht etwa daraus dirigierte, sondern nur nachlas und nach Belieben mitspielte, was, wenn es gehört wurde, einen sehr schlechten Effekt machte. Der eigentliche Direktor war der Vorgeiger, der die Tempi angab und dann und wann, wenn das Orchester zu wanken begann, den Takt mit dem Violinbogen gab. Ein so zahlreiches und weit von einander stehendes Orchester, wie das philarmonische, konnte aber bei solcher Direktion unmöglich genau zusammengehen […]. Ich stellte mich nun mit derselben [der Partitur, J. F.] vor das Orchester, zog mein Taktirstäbchen aus der Tasche und gab das Zeichen zum Anfangen. Ganz erschrocken über eine solche Neuerung, wollte ein Theil der Direktoren dagegen protestieren; doch als ich sie bat, wenigstens einen Versuch zu gestatten, beruhigten sie sich. […] Ich konnte daher nicht nur die Tempi sehr entschieden angeben, sondern auch den Blas= und Blech=instrumenten alle Eintritte andeuten, was ihnen eine dort nicht gekannte Sicherheit gewährte. Auch nahm ich mir die Freiheit, […] Bemerkungen über die Vortragsweise zu machen […]. Hierdurch zu außergewöhnlicher Aufmerksamkeit veranlaßt, und durch das sichtbare Taktgeben mit Sicherheit geleitet, spielten Alle mit einem Feuer und einer Genauigkeit, wie man es bis dahin von ihnen noch nicht gehört hatte.“ Louis Spohr: Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel/Göttingen: Wigand 1861, 86 f. 244 Laut seinem Biographen Hermann Abert bringt Jommelli die Figur während seiner Tätigkeit am Hof Carl Eugens erstmals in seiner Oper Artaserse (Erstaufführung in Rom 1749, in Stuttgart 1756) in Form der Bezeichnung crescendo il forte an. Hermann Abert: Niccolo Jommelli als Opernkomponist: Mit einer Biographie, Vol. 2, Reprint d. Ausg. Halle 1908, Breinigsville: Nabu Press 2010, 215. Als er noch in Italien lebte, verwendete er den Ausdruck Crescendo aber bereits in seiner Oper Astianatte aus dem Jahr 1741. Vgl. Bornhoeft, Studien zum Wandel von Crescendoformen. Der zu seiner Zeit international berühmte italienische Komponist hatte versucht, eine neue ‚deutsche‘ Oper in Stuttgart zu etablieren, die durch eine Amalgamierung der italienischen opera seria mit den französischen Divertissements umgesetzt werden sollte. Sie wurde zusätzlich durch die Ballette von Noverre ergänzt, verschreibt sich damit also in vielerlei Hinsicht einer Dramaturgie im Sinne der gradationalen Bestrebungen seiner Zeit. 245 Schubart, Ideen, 364.
2 Das Crescendo – Musikalische Transformationen
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Augen blickte das Erstaunen. Man fühlte die Zauberkraft dieses neuen Orpheus, und von der Zeit an hielt man ihn für den ersten Tonsetzer der Welt.246
Das Crescendo wird so zum Inbegriff einer Gefühls- und Effektdynamik gleichermaßen und entführt die erstaunten Rezipienten in den ersehnten Bereich des Wunderbaren. Das Aufsteigen der Figur wird hier geradezu wörtlich genommen und überträgt sich auf die Rezipienten, die im performativen Nachvollzug sich in ihren Plätzen ‚aufrichten‘ – das Crescendo scheint dabei eine vollständige Absorption des Publikums zu bewirken. Reichardt bestätigt die starke Wirkung der Dynamik, die er an sich „selbst empfunden“ habe und lobt die „feineren Grade des Starken und Schwachen“, das „Anwachsen und Verschwinden“, welches manche Orchester auf so vorbildliche Weise praktizierten.247 Dabei ist die Kodierung des Crescendo als Empfindungswallung eine wichtige Vorstufe, um im 19. Jahrhundert als absolute, von der Melodieführung unabhängige Dynamik und tektonisches Gestaltungsprinzip zu fungieren.248 Dass sich das Crescendo dabei beschreibungssprachlich und systematisch von seinen rhetorischen Wurzeln löst, wird einmal mehr deutlich, betrachtet man zeitgenössische Lexika wie Kochs Musikalisches Lexikon. Darin wird das Crescendo nicht – wie noch bei Forkel – als eine Form der Gradatio beschrieben, sondern Crescendo und Gradatio erhalten jeweils einen eigenen Eintrag, so dass eine systematische Trennung der rhetorisch-musikalischen von der musikalischen Figur vollzogen ist. Während im Artikel zur Gradatio die Verstärkung der Gedanken und damit der Vertonung von Worten dient, wird allein dem Crescendo der Ausdruck fließender Empfindungswallungen zugesprochen.249 In einer langen Passage zitiert Koch Johann Friedrich Reichardts fünftes Kapitel („Von der Stärke und Schwäche und ihrer verschiedenen Nuancirungen“) aus seiner Schrift Ueber die Pflichten des Ripien=Violonisten, in der Reichardt die Figur des Crescendo ausführlich beschreibt: Diese ist das für unsere Empfindung, was die anziehende Kraft des Mondes fürs Meer ist: eben so sichere Ebbe und Flut wird in uns hervorgebracht. Die mehresten Orchester kennen und üben nur das forte und piano aus, ohne sich um die feinern Grade, um die ganze Schattierung zu bekümmern.250 246 Ebd., 47. 247 Johann Friedrich Reichardt: Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend. Erster Theil, Frankfurt/Leipzig: k. A. 1774, 9–11. 248 „Daß um 1800 musikalische Spannungsverläufe durch Vortragsanweisungen, die zu Melodik und Harmonik nicht parallel geführt sind, dynamisch ‚aufgeladen‘ werden, kann als musikgeschichtliches Novum angesehen werden, welches weitreichend Konsequenzen hatte.“ Thiemel, Tonale Dynamik, 5. 249 Heinrich Christoph Koch: „Crescendo“, in: Ders.: Musikalisches Lexikon. Faksimile-Reprint d. Ausg. Frankfurt a. M. 1802, hg. N. Schwindt, Kassel et al.: Bärenreiter 2001, 397–400. 250 Zit. aus Reichardts Original, Ueber die Pflichten, 59.
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IV Crescendo-Kulturen
Das Crescendo wird also mit einem Naturphänomen verglichen und in Analogie zum Seelenhaushalt im Sinne des kontinuierlichen Zu- und Abnahme beschrieben, wobei sich Reichardt einer Meeresmetapher bedient, die semantisch an die fluide Beschreibungsweise Engels erinnert. Zugleich dokumentiert die Passage, dass es in den 1770er Jahren noch nicht selbstverständlich ist, derartige Dynamiken musikalisch zu praktizieren, wenn es weiter heißt: „Schwer ists, ungeheuer schwer, mit einem ganzen Orchester das zu thun, was einem einzelnen Virtuosen schon viele Mühe macht. Aber möglich ists doch: das hört man in Mannheim, das hat man in Stuttgard gehört.“251 Hier werden die Wirkstätten der sogenannten Mannheimer Schule252 sowie Jommellis’ (Stuttgart) hervorgehoben: Orchester, welche laut zeitgenössischer Beschreibung mit besonderer Perfektion vermochten, instrumentale Crescendi und Diminuendi aufzuführen, wie es unter anderem Christian Daniel Schubart, Charles Burney, aber auch Wolfgang Amadeus Mozart hervorgehoben haben.253 Selbst wenn es bestreitbar ist, dass das An- und Abschwellen der Töne eine ‚Erfindung‘ des 18. Jahrhunderts ist, so erfährt das Crescendo – nicht nur, weil es seit den 1750er Jahren einen zunehmend etablierten Namen erhält – eine zuvor nicht dagewesene Aufmerksamkeit. Auch die Spielpraxis, der Instrumentenbau, die theoretischen Reflexionen, die Komponisten, Ausführenden und Rezipienten widmen sich ganz explizit den Techniken des allmählichen Wachstums und der stetigen Minderung, deren Ausführung 251 Ebd. 252 Zu den Musikern dieses Kreises, die am Hof Karl Theodors in Mannheim in den 1740er bis 1780er Jahren wirkten, zählten Johann Stamitz, Ignaz Holzbauer, Christian Cannabich, Georg J. Vogler und Carl J. Toeschi, die vor allem für Entwicklungen in der Konzertsinfonie berühmt geworden sind. 253 „Kein Orchester der Welt hat es je in der Ausführung dem Mannheimer zuvorgethan. Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Catarakt, sein Diminuendo ein in die Ferne plätschernder Krystallfluss, sein Piano ein Frühlingshauch. […] Und als Klopstock das dasige Orchester hörte, rief der große selten bewundernde Mann ekstatisch aus: ‚Hier schwimmt man in den Wollüsten der Musik.‘“ Schubart, Ideen, 130 f.; „Ja wenn die Musique so bestellt wäre wie zu Mannheim! – die subordination die in diesem orchestre herrscht! – die auctorität die der Cannabich hat – da wird alles Ernsthaft verrichtet[.]“ Wolfgang Amadeus Mozart, „Brief 47 (426) Mozart an seinen Vater [9. Juli 1778]“, in: Ders.: Briefe, ausgew. u. hg. S. Kunze, Stuttgart: Reclam 1987, 140–149; hier: 143. „But it has not been merely at the Elector’s great opera [in Mannheim, J. F.] that instrumental music has been so much cultivated and refined, but at his concerts, where this extraordinary band has ample room and verge enough, to display all its powers, and to produce great effects without the impropriety of destroying the greater and more delicate beauties, peculiar to vocal music […][.] [I]t was here that the Crescendo and Diminuendo had birth; and the Piano, which was before chiefly used as an echo, with which it was generally synonimous, as well as the Forte, were found to be musical colours which had their shades, as much as red or blue in painting.“ Charles Burney: The Present State of Music in Germany, the Netherlands, and United Provinces. […], Bd. 1, London: T. Beckett and Co. Strand 1773, 93 f.
2 Das Crescendo – Musikalische Transformationen
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eine neue Präzision254 und auch – aufgrund der anwachsenden Anzahl der Musizierenden innerhalb der Orchester und architektonisch-akustischer Innovationen im Theaterbau – Dimension erfährt.
2.7 Crescendo-Kulturen Durch die Einführung und Benennung des Crescendo scheint mehr als eine musikalische Ausdrucksfigur bestimmt zu sein. Vielmehr lässt sie sich als eine diskursbündelnde Denkform beschreiben, in welche zahlreiche ästhetische Bestrebungen der Zeit zusammenlaufen, die diese verdeutlicht und verdichtet. Das Crescendo inkorporiert dabei zahlreiche Anliegen, die auch für die Gradation geltend gemacht werden konnten und ist als ‚wachsende‘, verlautete Figur selbst ein Resultat der gradationalen Forderungen innerhalb der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Anhand des Crescendo werden also nicht nur Desiderate sichtbar, sondern an ihm lassen sich ebenso sämtliche bis hierhin beobachteten Transformationen ablesen: Es stellt gleichermaßen eine fluide „Affekt“-Figur rhetorischer Fundierung dar (Kap. II.1), veranschaulicht den Wandel zu einer fließend-intensiven Emotionsbeschreibung (Kap. II.2), erfüllt und bestätigt ästhetische Strategien und Prinzipien der Verbindung, Unmittelbarkeit und Sprachskepsis (welche in Form eines Medientransfers überwunden wird, Kap. II.3), fungiert als mediale Supplementierung (Kap. III.1–2) und unterstreicht die Entstehung sonaler Strategien auf paradigmatische Weise (Kap. IV.1). Die Entwicklungen, die bis hierhin dargestellt worden sind, münden somit in die Ausbildung von „Crescendo-Kulturen“. Gerade die angestrebte nuancierte Verlautbarung poetischer Texte am Ende des 18. Jahrhundert zeugt dabei von der Popularität crescendo-artiger Formen. Zugleich leitet sie den bisher nur angedeuteten (Kap. III.3) Wandel der Gradation von einer Affekt- zu einer performativen Effektfigur ein: Wenn Schubart das Crescendo als „Catarakt“, als Wasserfall bezeichnet, so zeichnet sich mitunter eine gewaltvolle, ja überwältigende Wirkung und Berauschung durch die Steigerungsfigur ab. Die melodramatischen Projekte, welche in den 1760er und 1770er Jahren in Frankreich und Deutschland entstehen, können dabei als ein weiteres Ergebnis der neu entstandenen „Kultur“ gesehen werden. So soll im Folgenden gezeigt werden, dass Crescendo-Techniken sowohl 254 „Will der Componist es [das Crescendo, J. F.] völlig genau ausgeübt haben, so thut er wohl, wenn er alle diese verschiedenen Grade hinschreibt, und just unter die Noten, wo sie angebracht werden sollen […]. Oder er muß sich mit seinem Orchester auf eine gewisse Zeit verstehen: daß nemlich jeder ganze oder halbe Takt einen Grad heller oder dunkler werden soll, oder wie sonst die Abrede sey. Zuweilen würde aber die genaue Bestimmung für ein großes Orchester notwendig seyn, damit nicht einer schneller an Stärke zunehme als der andere.“ Reichardt, Ueber die Pflichten, 65 f.
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IV Crescendo-Kulturen
in den theoretischen Überlegungen als auch in den praktischen Umsetzungen einen zentralen Stellenwert einnehmen. Als Ausdrucksfiguren motivieren und strukturieren sie so die musiko-literarischen Projekte seit Rousseaus erstem Melodram Pygmalion (1762). Nicht allein als dynamische Technik des akustischen Lauter- (und Leiser)werdens wird hier die Idee der musikalischen Dynamik erfasst: Das Crescendo erweist sich insbesondere durch seine strukturellen Eigenschaften, seine allmählich sukzessive und fein nuancierte Staffelung erneut als Ordnungsfigur der dramatischen Umsetzung. Das Crescendo ist eine melodramatische Bewegungsform die zugleich das Potential gewaltvoller, eskalierender und überwältigender Kräfte in sich trägt.
3 Melodramatische ‚Mischspiele‘
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3 Melodramatische ‚Mischspiele‘: Resultate einer Crescendo-Kultur Ueberdies könnte man ein Melodram als ein künstliches Solo ansehen, worinn der Künstler seine Fertigkeit, reichhaltige Verbindung der Ideen, und das Kreszendo seiner Kunst zu zeigen Gelegenheit nimmt. Johann Franz von Goez, 1786255
Johann August Eberhard definiert die Kunstform des Melodramas256 rückblickend auf dessen kurze Hochphase in den 1770er Jahren: „Wir verstehen unter den heutigen Melodramen solche dramatischen Werke, worin die bloße Deklamation durch Instrumentalmusik unterstützt wird“257. Der Begriff setzt sich dabei aus den griechischen Worten mélos (Lied) und dráma (Handlung) zusammen,258 was dazu führte, dass bereits Zeitgenossen das Melodrama als „Zwitterfrucht“259 bezeichneten. Wenn seitens der Musiktheoretiker und ‑ästhetiker vor allem Einwände gegen die Ästhetik des Rezitativs in der Oper260 und der Kritik (v. a. Rousseaus) an einer mangelnden ‚Sangbarkeit‘ der fran zösischen Sprache das Hervorbringen dieses Genres261 beförderte, so schei255 Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 33. 256 Im Folgenden halte ich mich an Wolfgang Schimpfs Unterscheidung zwischen Melodrama und Melodram. Letzteres definiert er als nicht eigenständiges Bühnenwerk, das „nur punktuell im Kontext anderer Aufführungsformen eingesetzt“ wird, weshalb ich die folgenden zusammenhängende Bühnenstücke unter dem Begriff „Melodrama“ fasse. Wolfgang Schimpf: „Melodrama“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2: H-O, hg. H. Fricke, Berlin: De Gruyter 32007, 558–562; hier: 559. 257 Johann August Eberhard: „Über das Melodrama“, in: Neue vermischte Schriften, Halle: Johann Jacob Gebauer 1788, 1–22; hier: 1. 258 Schimpf, Melodrama, 569. 259 Johann Heinrich Gottlieb von Heusinger: Handbuch der Ästhetik, oder Grundsätze zur Bearbeitung und Beurteilung der Werke einer jeden schönen Kunst […], Erster Theil, Gotha: Justus Perthes 1797, 189. 260 Schimpf, Melodrama, 560. 261 Aufgrund der „Mittelposition zwischen Oper und Drama“, einem „instabile[n] Aufenthaltsort“ (Schimpf, Lyrisches Drama, 185), ist es nicht unstrittig, ob man bezüglich des Melodramas tatsächlich von einer eigenen Gattung sprechen kann. Stärker vielleicht als das Gattungsmoment ist sein Projektcharakter, insofern das Melodrama die Bestrebungen des semiotischen Diskurses, wie er insbesondere in Kap. IV.1 beschrieben wurde, in aller Konsequenz praktisch umzusetzen sucht und zugleich dessen Darstellungsprobleme offensichtlich macht. Den experimentellen Charakter des Melodramas hebt auch Dörte Schmidt hervor. Sie spricht von einer „experimentellen Plattform“, einem „produktive[n] Zwischenraum“, „in dem die Verläufe der Grenzen zwischen den Medien und ihren Codes erkundet und in vielfältiger Weise neu konstituiert werden können.“ (Dörte Schmidt: „Medea lesen. Dramatische Form zwischen Sprache und Musik“, in: Bettine Menke, Armin Schäfer, Daniel Eschkötter [Hg.]: Das Melodram – Ein Medienbastard, Berlin: Theater der Zeit 2013, 51–74;
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IV Crescendo-Kulturen
nen gleichermaßen Bestrebungen seitens der Literaten die hybride Konstellation von Musik und Sprache voranzutreiben, wie schon an Herders Brutus deutlich wurde: Die Besonderheit der melodramatischen Projekte in Deutschland liegt unter anderem darin, dass sie Ergebnis der musikästhetischen wie der literarisch-ästhetischen Forderungen gleichermaßen sind. Dabei zeichnen sich die Literaten, welche sich mit melodramatischen Projekten beschäftigen, zunächst dadurch aus, dass sie der Musik mehr zutrauen, als lediglich Beiwerk, „Genuß“ (Kant) oder Zwischenaktmusik zu sein. Sie möchten das energetische Potential umsetzen, welches die Transformationen innerhalb der Musik, wie sie im vorigen Kapitel dargestellt worden sind, freigesetzt haben: ihren genuin musikalischen Ausdruckscharakter, ihr Vermögen „selbst zu reden“, wie Rousseau sagt. Gerstenberg, der als zentraler programmatischer Vordenker des Melodramas in Deutschland gelten kann,262 fragt so C. P. E. Bach in einem Brief, ob dieser nicht auch davon überzeugt sei, dass es Musik gebe, die mehr als allgemeine Empfindungen wie Liebe, Freude oder Kummer ausdrücken könne, nämlich „marquirte“, d. h. fein nuancierte Empfindungen, die eine „Präcision des Ausdrucks“ garantieren konnten.263 Erst durch die aus dieser Idee resultierende Gleichwertigkeit von Musik und Sprache, wie sie auch Herder forderte, erwächst das Projekt des Melodramas. Zudem ist ein übergreifendes Motiv erkennbar, welches sich in der Musik, der Schauspielkunst, der Literatur, dem Tanz, der Oper – also in allen performativen Gattungen – als ein vereinendes Desiderat der Zeit heraus-
hier: 70 f.). Sie betont zudem die aus der experimentellen Zwischenlage resultierende Wichtigkeit der Einbindung der „Medien der Überlieferung“, d. h. die Quellenkonstellationen bei Untersuchungen zum Melodrama (60 ff.). Vgl. hierzu auch Thomas Betzwieser: „Text, Bild, Musik: die multimediale Überlieferung des Melodrams Lenardo und Blandine (1779). Eine Herausforderung für die Editionspraxis“, in: Editio 25 (2011), 74–100. 262 Nicht nur die bereits von Gerstenberg zitierten theoretischen Überlegungen bezüglich des Zusammenschlusses von Musik und Poesie bezeugen dies, auch stammt von ihm die Kantate Ariadne auf Naxos (1767), die die Vorlage für Georg Anton Bendas erstes genuin deutsches Melodrama bildete. 263 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: „Briefentwurf an Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg-Kopenhagen, zweite Septemberhälfte 1773 [Dokument Nr. 136]“, in: Carl Philipp Emanuel Bach: Briefe und Dokumente. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, hg. Dr. E. Suchalla, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, 320–327; hier: 324. Der letztlich abgeschickte Brief ist nicht erhalten, jedoch das Antwortschreiben Bachs. Bach betrachtet die Möglichkeiten des Ausdrucks in der Musik nicht ohne Skepsis. Vgl. im selben Band, 336–342. Gerstenbergs Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Melodrama, sein Musikverständnis und insbesondere seine semiotischen Überlegungen im Kontext seines Gesamtwerks wurden bislang noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Forschungslücke zu schließen, hat sich Ursula Kummer in ihrer Dissertation „(Un-)Bestimmte Zeichen. Die Musik in der Poetik und Poesie Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs“ zur Aufgabe gemacht, die voraussichtlich 2019 fertiggestellt wird.
3 Melodramatische ‚Mischspiele‘
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kristallisiert: die unmittelbare Darstellung gradationaler Empfindungswallungen. Und vielleicht liegt genau hierin die „poetologische Tradition“264, soweit man die Auswirkungen der gradationalen Denkform so nennen möchte, in die sich das Melodrama einschreibt: Sie ist Teil einer Crescendo-Kultur, die Ausdruck, Wachstum und Verminderung der Empfindung im „Medienverbund“265 zur Darstellung bringt. Es ist nämlich auffällig, dass Rousseau in seinem sogenannten Alceste-Aufsatz, der als programmatisches Initiationsdokument des Melodramas gewertet werden kann,266 ausgerechnet die Denkform der Gradation als allgemeines Prinzip des Dramenverlaufs bestimmt. In diesem Fragment, in dem Rousseau die Oper Alceste von Gluck einer Kritik unterzieht, findet sich gleich zu Beginn folgende Aussage: En considérant d’abord la marche totale de cette piece, j’y trouve une espece de contresens général, en ce que le premier acte est le plus fort de musique et le dernier le plus foible, ce qui est directement contraire à la bonne gradation du Drame, où l’intérêt doit toujours aller en se renforçant.267
Da Gluck im ersten Akt bereits sein gesamtes dramatisches Pulver verschieße, könnten die weiteren Teile der Oper nur fade wirken, so Rousseau. Dies stehe dem Prinzip der „bonne gradation“ im Drama vollkommen entgegen, bei der es immer darum gehe, die Anteilnahme sukzessive zu steigern – „au lieu de s’échauffer par degrés dans la marche de la piece“268 –, um den Rezipienten nicht erkalten zu lassen („s’attiédit“269) oder Monotonie zu produzieren. Dem Musiker sei es dabei auf gleiche Weise wie dem Poeten möglich, eine Spannung aufzubauen,270 indem er die Empfindungen nuanciere und steigere.271 Etwa zur gleichen Zeit also, in welcher Lessings Dramen gradationale Techniken strukturell und wirkungsästhetisch ins Zentrum rücken, finden in 264 Schimpf, Melodrama, 560. Schimpf verweist hier auf die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, das Melodrama einer poetologischen Tradition zuzuordnen. Er zeigt in seiner Studie zum Lyrischen Theater zwar die Wichtigkeit der Seeleninnenschau als Gestaltungsprinzip auf (Schimpf, Lyrisches Theater, 138 ff.) und berücksichtigt dabei auch den Wandel von „Zentralaffekten“ der Oper in die Darstellung von Gefühlsentwicklungen im Melodrama (141). Doch entwickelt er daraus keine Traditionslinie, wie sie versucht wurde, in dieser Arbeit anhand der Gradatio aufzuzeigen. 265 Vgl. Vogel, Zurüstungen. 266 Vgl. Peter Gülke: Rousseau und die Musik oder von der Zuständigkeit des Dilettanten, Wilhelmshaven: Heinrichshofen’s Verlag: 1984, 145 f. 267 Jean-Jacques Rousseau: „Fragmens d’observations. Sur l’Alceste italien de M. le Chevalier Gluck“, in: Ders.: Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 441–457; hier: 441. 268 Ebd., 442. 269 Ebd. 270 „[S]outen[ir] trop longtemps au même degré d’énergie“, ebd., 444. 271 „[G]raduer et renforcer les sentimens“, ebd.
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IV Crescendo-Kulturen
Frankreich musiko-literarische Projekte ihren Ursprung, die ebenfalls dieses Prinzip ins Zentrum stellen und sich zu eigen machen. Anhand der „Urszene“272 des Pygmalion‑Mythos, welche die sukzessive Verlebendigung einer Statue zum Motiv wählt, soll in diesem letzten Teilkapitel veranschaulicht werden, dass sich Crescendo-Techniken – als erweiterte Gradationsformen – die Struktur des Melodramas bestimmen. Neben Rousseaus MelodramenErstling Pygmalion (1762; Uraufführung 1770) wird der Blick auf deutsche Projekte und ‚Mischspiele‘ gelenkt, um zu zeigen, wie das Melodrama die Ergebnisse der Transformationen, die in den vorherigen Kapiteln dargestellt worden sind, kanalisiert und inkorporiert, sie aber auch transformiert und schließlich in gewisser Weise eine ästhetische und semiotische Sackgasse der Entwicklungslinien aufzeigt.273
3.1 Die ‚Urszene‘: Rousseaus Erweckung der Statue ‚par degrés‘ Bereits 1762 soll Rousseau seine scène lyrique, den Pygmalion, verfasst haben, wobei der Text bis 1770 einer ständigen Überarbeitung unterlag, bis er schließlich mit der Musik von Horace Coignet sowie mit zwei von Rousseau selbst verfassten Ritornellen (dem Andante der Ouvertüre, sowie dem Andante-Teil der „coups de marteau“274 der Nr. 2) erstmals 1770 in Lyon im Freundes-
272 Cornelia Zumbusch: „Proserpina versus Pygmalion. Melodramatische Bewegung bei Goethe und Rousseau“, in: Martin Mosebach, Ulrich Pfisterer (Hg.): Die Gärten von Capri. Altamira – oder: Die Anfänge von Kunst und Kunstwissenschaft, Berlin: Akademie Verlag 2007, 109–142; hier: 114. 273 Im Folgenden werde ich mich vor allem auf das Textkorpus Wolfgang Schimpfs berufen, dessen gründliche Studie zum Lyrischen Theater wenig hinzuzufügen bleibt. Im Rahmen meiner Arbeit sollen deshalb vor allem Akzente neu gesetzt und der Versuch unternommen werden, die spezifische Textur der Melodramen deutlicher zu konturieren. Wesentliche Anregungen erhielt dieses Kapitel außerdem durch Juliane Vogels Aufsatz „Zurüstungen“, sowie Cornelia Zumbuschs Aufsatz „Proserpina vs. Pygmalion“. 274 Wenn Rousseau ausgerechnet den Teil vertont, in welchem Pygmalion den Hammer ansetzt, um seine Statue zu formen, so scheint dies mitunter von symbolischer Bedeutung, insofern Rousseau auch an der musikalischen Seite des Stücks ‚Hand anlegen‘ wollte. Dies bestätigt etwa Coignet selbst, der berichtet, er habe Rousseau auf dessen Wunsch diesen Teil übriglassen sollen, „pour qu’il y eût quelque chose de lui dans cette musique.“ Coignet zit. n. Jacqueline Waeber: En musique dans le texte. Le mélodrame, de Rousseau à Schoenberg, Paris: Van Dieren Editeur 2005, 25. Die Tatsache, dass trotz gradationaler Anlage hier „coups“, also der Anlage widersprechende Unterbrechungen und Brüche zur Darstellung gebracht werden, lässt diesen Teil durchaus hervorstechen. Nimmt man die Inszenierung der „coups“ hier ernst, so verdeutlichen sie die Zerrissenheit und Krise des künstlerischen Subjekts, eine Beobachtung, die sich mit den folgenden Beobachtungen auch in Einklang bringen lässt. Auf diese Stelle machte mich dankenswerterweise Juliane Vogel aufmerksam.
3 Melodramatische ‚Mischspiele‘
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kreis Rousseaus zur Aufführung gebracht wurde.275 Schon im ersten Dokument, das von der Existenz des Stücks zeugt, einem Brief Julie von Bondelis vom 21. Januar 1763, die beschreibt, wie Rousseau den Text seinem Freund Nicolas-Antoine de Kirchberger vorliest, fällt besonderes Augenmerk auf die Dynamik des Stückes, auf die „agitation graduelle“, die im Stück transportiert würde.276 Hier zeigt sich also bereits die „Funktion der inszenierten und im Text selbst thematisierten Bewegung“277, die zum Kernelement des Pygmalion sowie der nachfolgenden deutschen Melodramen avanciert. Denn gerade vermittels des Alternierens zwischen Musik und Sprache ließen sich Kontinuitäten und Verlaufsformen in neuer Dimension, da intermedial verknüpft, performativ zur Aufführung bringen – so kann man zumindest die Bestrebungen des Melodramas umschreiben, die seit Rousseau erkennbar werden. Der Hinweis auf eine graduell verlaufende Bewegungskurve scheint sich dabei auf mehreren Ebenen zu bestätigen. Denn nicht allein motivisch, im allmählichen Erwecken der Statue, zeigt sich eine kontinuierliche Verlaufsform, auch die gesamte Ausrichtung des Stücks scheint so angelegt zu sein, dass im Rezipienten bestmöglich ein sukzessiv wachsendes Hervorrufen und „Erwärmen“ sinnlicher Kräfte entsteht. Schon der Bühnenraum legt dies nahe: Er stellt das Atelier des Künstlers mit unfertigen, „rohen“ Statuen vor. Das Wort „ébauché“, skizzenhaft, fällt mehrmals, zudem wird das Hauptobjekt, die Skulptur der Galathée, von einem fließenden, glänzenden Stoff umhüllt und kann somit in ihrer Konturierung das Interesse der Rezipienten wecken. Diderot hatte der Skizze bescheinigt, dass sie in besonderem Maße die Einbildungskräfte anzuregen vermochte: „C’est le moment de chaleur de l’artiste, la verve pure“278 – Wärme und Schwung würden durch die lediglich angedeuteten Entwürfe angeheizt. Auf diese Weise wird ein Ort vorgestellt, wie ihn auch Rousseau gefordert hatte: bei dem das Interesse fortschreitet und wächst – „en se renforçant“. Was den Künstler eigentlich ‚in Schwung‘ bringen sollte, der Anblick der Statuen, scheint jedoch nicht auf Pygmalion zu wirken, dessen Einbildungs-
275 Vgl. ebd., 17–28. Waeber reproduziert detailliert die komplexe Entstehungsgeschichte des Texts, bzw. der unterschiedlichen Versionen des Stücks. Die erste öffentliche Aufführung erfolgte erst am 30. Oktober 1775 in der Comédie-Française in Paris (ebd., 23). 276 Ebd., 21. 277 Zumbusch, Proserpina vs. Pygmalion, 117. 278 „Les esquisses ont communément un feu que le tableau n’a pas; c’est le moment de chaleur de l’artiste, la verve pure, sans aucun mélange de l’apprêt que la réflexion met à tout, c’est l’âme du peintre qui se répand librement sur la toile. […] Or plus l’expression des arts est vagues, plus l’imagination est à l’aise.“ Diderot, Salon de 1765, 388. Vgl. Kap. III.3 dieser Arbeit.
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kraft so erkaltet ist wie der Stein des Mamors.279 Ein derartig krisenhafter Einsatz des Melodramas wird auch für die deutschen Projekte zur poetologischen Grundlage,280 wenngleich dort eher Lebens- als Schaffenskrisen thematisiert werden. Obwohl Pygmalion sein Genie schwinden zu fühlen glaubt, verspürt er einen „ardeur interne“, eine „inquiétude insurmontable“, eine „agitation secrete“, die ihn umtreibt (1225). Diese Grunddisposition der inneren Unruhe ist es, die nun im Verlaufe des Stücks in Schwankungen bis zum Höchsten getrieben wird und sich zusehends in unterschiedliche Grade und Formen von Emotionen transformiert. Durch die von Noverres Reformen beeinflussten pantomimischen Einlagen281 und musikalische Einsätze unterstützt, wird dabei auf unterschiedlichen Ebenen eine „agitation graduelle“, eine schwankende, minutiös sich entfaltende Unruhe zur Darstellung gebracht. Um jedoch die Idee einer Kontinuität umzusetzen, bedarf es erneut der Zurichtung der Sprache: Die Worte Pygmalions brechen immer wieder ab und werden durch Musik und Pantomime ersetzt, die die entstandenen Lücken „auffüllen“. Dabei dienen diese melodramatischen Füllungen vor allem der Weiterführung des emotionalen Gehalts, können aber auch für einen Nachdruck der Worte sorgen. Die so produzierten graduellen Verlaufsformen entsprechen dabei genau denjenigen, die Rousseau in seiner Konzeption des Récitatif obligé im Sinn hat: L’Acteur agité, transporté d’une passion qui ne lui permet pas de tout dire, s’interrompt, s’arrête, fait des réticences durant lesquelles l’Orchestre parle pour lui; et ces silences, ainsi remplis, affectent infiniment plus l’Auditeur que si l’Acteur disoit luimême ce que la Musique fait entendre.282
Hier zeigt sich eine präzise Darstellung der Poetik Pygmalions, bei der die Sprache durch die Musik ergänzt wird, mehr noch: Die Musik ‚spricht‘ anstelle der rhapsodischen Sprache, wodurch das Wirkungspotential gesteigert werden soll. Dass die Unterbrechungen und Abbrüche der Sprache dabei durch die zu starken Empfindungen, die „inquiétude insurmontable“ hervorgerufen werden, geht wiederum aus dem Alceste-Fragment hervor, in dem es heißt: „la violence de la passion fait entrecouper la parole“283. Der 279 „Tout mon feu s’est éteint, mon imagination s’est glacée, le marbre sort froid de mes mains.“ Jean-Jacques Rousseau: „Pygmalion. Scéne lyrique“, in: Ders.: Œuvres complètes, (Bibliothèque de la Pléiade 153), Bd. 2, hg. B. Guyon, J. Scherer, C. Guyot, Paris: Éditions Gallimard 1964, 1224–1231; hier: 1224. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. 280 Vgl. Waeber, En Musique, 96. 281 Vgl. Kühn, Sprech-Ton-Kunst, 122. 282 Rousseau, Récitatif obligé, 1013. Vgl. Kap. IV.2 in dieser Arbeit. 283 Rousseau, Fragmens, 447.
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seit Rousseau für das Melodrama weiterhin prägende „style entrecoupé“284, der bereits im empfindsamen Drama und dem bürgerlichen Trauerspiel eine Rolle spielte, ist auch in diesem Fall explizit auf das im 18. Jahrhundert omnipräsente Sprachmisstrauen zurückzuführen (vgl. Kap. III.1). Während das ungestüme, ungeordnete Seeleninnere kaum mit Worten auszudrücken ist, kann das sichtbare und pantomimische Schweigen und Zögern der Figur, unterstützt durch den Fortgang der Melodie, mehr transportieren als bloße Sprache.285 Der Musik kommt die Aufgabe zu, die leere Bühne durch Melodien zu „nähren“ und damit eine musikalisch transportierte emotionale liaison des scènes hervorzurufen, wie sie Rousseau in seinem Artikel zur Zwischenaktmusik beschreibt.286 Der Melodie- und Dramenverlauf selbst hat also die zunehmende Ordnung des tumultösen Seelenzustands herbeizuführen. Wolfgang Schimpf hat diesen Grundzug auf treffende Weise beschrieben: Im Melodrama bestehe die Handlung daraus, „wie aus einem Chaos ungeordneter Emotionen schließlich eine Entscheidung entsteht“287. Und als Ordnungsfigur erweist sich kein anderer als ein crescendo-artiger Anstieg: Denn, so Rousseau, die Musik müsse sich dadurch auszeichnen, immer dynamischer zu werden, um das Interesse der Rezipienten zu steigern: „L’art si peu connu mais si necessaire dans la musique et surtout à l’opera de graduer la force et l’expression afin de frapper à coups redoublés qui se renforcent toujours. […] Parce-qu’on n’échauffe les cœurs que par degrés.“288 – Wenn sich die Gemüter nicht anders als in Graden erwärmen lassen, so wird der graduelle Anstieg zum Kernelement in Rousseaus Wirkungsästhetik. Tatsächlich drückt Coignets Musik die Idee der kontinuierlichen Steigerung aus. Sie zeigt sich in dem Umstand, dass keine der Sequenzen (mit Ausnahme von Rousseaus Andante Nr. 2) auf Kadenzen enden, der regulären Schlussform einer Akkordfolge: Die musikalischen Einwürfe zeichnen sich durchgehend durch ein offenes Ende aus. Dies bewirkt, dass die Musik nicht in Form in sich abgeschlossener Einheiten eingesetzt wird, sondern „elle se 284 Vgl. Waeber, En musique, 37–39. 285 „[L]a force des sentiments […] ne trouvent point de termes suffisans pour s’exprimer, qu’à cause de leur impétuosité qui les fait succéder en tumulte les uns aux autres, avec une rapidité sans suite et sans ordre.“ Rousseau, Récitatif obligé, 447. 286 „[Q]uoique le Théâtre soit vide, le cœur des Spectateurs ne l’est pas; il a dû leur rester une forte impression de ce qu’ils viennent de voir et d’entendre. C’est à l’Orchestre à nourrir et soutenir cette impression durant l’Entr’acte, afin que le Spectateur ne se trouve pas au début de l’Acte suivant, aussi froid qu’il l’étoit au commencement de la Pièce, et que l’intérêt soit, pour ainsi dire, lié dans son ame comme les évènemens le sont dans l’action représentée.“ Jean-Jacques Rousseau: „Entr’acte“, in: Ders.: Dictionnaire de Musique. Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade 416), Bd. 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre, hg. B. Gagnebin, M. Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1995, 810–812; hier: 811. 287 Schimpf, Lyrisches Theater, 119. 288 Rousseau, Récitatif obligé, 457, Hervorh. J. F.
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lie au fragment de monologue qu’elle précède.“289 Mithilfe solcher Verbindungstechniken entsteht ein musikalisch-sprachliches Kontinuum, welches eine uniforme Verlaufsform anstrebt, die eine Voraussetzung gradueller Steigerungstechniken bildet. Auch die nur noch in versprachlichter Umschreibung existierende Vertonung des Pygmalion von Franz Aspelmeyr, die in Wien 1772 zur Aufführung gelangte, deutet darauf hin, dass die musikalische Umsetzung bestrebt war, entsprechend der graduellen Gemütsbewegung nuancierte Abänderungen „par degrés“290 durchzuführen und einen sprachäquivalenten Ausdruck zu erhalten. Das bedeutet aber grundsätzlich zugleich die Darstellung der Mannigfaltigkeiten des Seelenlebens, die mitunter nicht nur allmählich, sondern teilweise auch in abrupten Wechseln einbrechen konnten: Entsprechend der Situationen verstummt die Musik in „silence“, Seufzer imitierend unterbricht sie sich regelmäßig selbst („fréquemment coupée“), nimmt musikalische Verläufe wieder auf, um Kontinuität zu stiften, malt das Gefühl melodiös nach („[u]ne douce mélodie peint le sentiment d’une ame tendrement pénétrée“), steigert und schwächt sich in „nuance[s]“ und vermag es, Gefühlsgradationen musikalisch umzusetzen („on entend une musique douce & agréable qui s’éleve par gradation“).291 Schließlich findet sich in Georg Anton Bendas Vertonung des Pygmalion an mehreren Stellen auch der Einsatz von Crescendi, beispielsweise, wenn Pygmalion erstmals die Skulptur enthüllen möchte, das Tuch aber wieder fallen lässt. Seine Unruhe wird vor allem durch die variierenden Tempi sowie den steten dynamischen Wechsel von piano und forte angegeben292 und erinnert an das Ausdrucksprinzip C. P. E. Bachs, bei dem der Komponist zwischen Stillen und Erregen des Affekts „beständig mit Leidenschaften ab[wechselt].“293 Der gradationale Anstieg ist somit vor allem in der Gesamtanlage des Stücks erkennbar, die einzelnen musikalischen und dramatischen Sequenzen sind mitunter auch von starken Wechseln gekennzeichnet, die der „inquietude insurmontable“ Pygmalions geschuldet ist und seine innere Zerrissenheit veranschaulichen. Innerhalb der dramatischen Handlung findet das graduelle emotionale Erwärmen und Verstärken im Pygmalion seine Umsetzung, indem eine stete 289 Waeber, En Musique, 45. Für eine Lektüre der Melodramen aus musiktheoretischer Sicht kann diese Studie Waebers nur empfohlen werden, weshalb ich mich, abgesehen von vereinzelten eher oberflächlichen Beobachtungen zur Musik, in meinen Ausführungen an diese Studie halte. 290 Jean-Jacques Rousseau: Pygmalion, publié d’après l’édition rarissime de Kurzböck, Vienne 1772, hg. G. Becker, Genf: Georg 1878, 2. 291 Ebd., 6–12. 292 Vgl. Georg [Anton] Benda: Pygmalion: Ein Monodrama. Von J. J. Rousseau, nach einer neuen Übersetzung mit musikalischen Zwischensätzen begleitet und für das Clavier ausgezogen, Leipzig: Schwickertscher Verlag 1780 [Partitur]. 293 Bach, Über die wahre Kunst, I, 122. Vgl. Waeber, En Musique, 54, sowie Kap. IV.2 dieser Arbeit.
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Steigerungsbewegung der Einbildungskräfte des Künstlers vorangetrieben wird. Nachdem er sich in Unruhe plagt, fällt Pygmalions Augenmerk schließlich auf das verhüllte Objekt, von dem er sich erhofft, dass es seine dahinschwindenden künstlerischen Kräfte „reanimiert“ (1226). Nach mehrmaligem Zögern, welches in der Aspelmayr’schen Vertonung durch einen musikalischen „style entrecoupé“ und Pausen eingeleitet wird,294 enthüllt er schließlich die Statue der Galathée. Tatsächlich führt ihr Anblick dazu, dass Pygmalions Einbildungs- und Empfindungskräfte, die zuvor nur als „ardeur interne“ spürbar waren, über ihre Bewusstseinsschwelle treten und damit wiederbelebt werden, so dass Pygmalion sich durch sein eigenes Werk und zugleich durch seine eigene geniehafte Tätigkeit in einen Zustand berauschter Eigenliebe begibt: „[J]e m’enivre d’amour-propre; je m’adore dans ce que j’ai fait“ (ebd.). Spätestens an dieser Stelle ist klar, dass der Vorgang des allmählichen Erweckens der Statue letztlich ein introspektiver, ein innerseelischer fortlaufender Prozess ist, der sich „als mehrphasige[r] Bewußtseinswandel des lyrischen Ich“295 gestaltet und vermittels der intermedialen Übertragung erfahrbar gemacht wird. Der Anblick des nahezu vollendeten Kunstwerks steigert also Pygmalions Triebkräfte, und nach nur einem einzigen Schlag mit dem Hammer kann er die ersten Anzeichen einer sukzessiven Belebung der Statue beobachten: „[J]e sens la chair palpitante repousser le ciseau! …“, um nach weiterem Zögern und Pausen festzustellen: „Quels traits de feu semblent sortir de cet objet pour embrasser mes sens, et retourner avec mon ame à leur source!“ (1227 f.) Im Verlauf des Stücks spielt sich damit performativ die ästhetische Praxis der Verlebendigung ab, wie sie im Kontext des Zeichenmisstrauens zunehmend an Relevanz für die künstlerische Produktion und sympathetische Rezeption gewann (vgl. Kap. II.3). Parallel zur Belebung werden immer von Neuem die graduellen Seelenschwankungen Pygmalions beschrieben, „toujours avec passion“ (1228), womit sich eine melodramatische Bewegung verfolgen lässt, die „par degrés“ gesteigert wird, bis das innere Beben für den Künstler kaum noch erträglich ist (1229). Zugleich scheint die emotionale Erwärmung bis auf den höchsten Grad tatsächlich auf die Statue übergegangen zu sein. Immer weitere Stufen der Belebung nimmt Pygmalion an Galathée wahr,296 auch wenn er selbst weiß, dass die Quelle der kontinuierlichen Steigerung seinen Einbildungskräften entspringt: „Infortuné! c’en est donc fait… ton délire est à son dernier terme; ta raison t’abandonne ainsi che ton génie!…“ (1229 f.). Das Geschehen bleibt damit im Raum der Ima294 „Le trouble & l’incertitude sont exprimés par quelques mesures coupées par des silences.“ Rousseau, Pygmalion [Édition Kurzböck], 5. 295 Zumbusch, Proserpina vs. Pygmalion, 114. 296 „Qu’ai-je vu? Dieux! qu’ai-je cru voir? Le coloris des chairs… un feu dans les yeux… des mouvemens même…“, Rousseau, Pygmalion, 1229.
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gination, des „délire“, der „extase“ verhaftet, die einem „homme à visions“ (1230) entsprungen ist: Galathée bleibt eine „[r]avissante illusion“ (ebd.). Erst auf dieser höchsten Stufe des Fantasierens also erwacht die Statue endgültig zum Leben und das Stück gipfelt in einer Szene, die „im Zusammenfall von Selbstberührung und Selbstbewußtsein“297 und damit in einem identitätsstiftenden Moment kulminiert: Die Statue ist zum Leben erwacht. Ihre Selbstwahrnehmung findet Galathée vermittels des Tastsinns: „Galathee se touche et dit: Moi“ (1230). Selbst-Tasten, -Fühlen und -Gefühl sind hier eins und befördern ein unmittelbares Strömen der ersten Laute. Doch geht mit dieser Belebung der Galathée auch die Verstummung und zugleich Annulierung einer anderen Identität einher, nämlich der des Künstlers: „[J]e t’ai donné tout mon être; je ne vivrai plus que par toi.“ (1231) Mit dem Auftritt Galathées endet die Musik Coignets. Die Seelensprache, die durch die belebte Statue artikuliert wird, ersetzt damit den melodischen Verlauf, „la musique s’est tue par l’intervention de Galathée“298. Die ästhetischen Bestrebungen des Künstlers führen also zur Klimax, in welcher er sich in seinem eigenen Kunstwerk erfüllt sieht, das ihn schließlich vollkommen absorbiert. Gleichermaßen kann die belebte Statue vermittels ihrer Seelensprache die Musik ersetzen und überführt sie schließlich in die erreichte natürliche Seelenveräußerung, die die Musik obsolet werden lässt: Galathée scheint eine der „prémiéres langues“ zu sprechen, die Rousseau als „chantantes et passionnées“ bezeichnet hatte.299 So kommt die Bewegung, das Erwärmen an dieser Stelle zum erfüllten Stillstand. Rousseaus Erweckung der Statue versteht sich damit als performative Entwicklung eines poetologisch-künstlerischen Prinzips, das am Ende in seine eigene Realisierung mündet.
3.2 Das Melodrama: „Handlung, Werden und Reifen irgend einer wichtigen That“300 Das bemerkenswerte Projekt Rousseaus stieß in Frankreich zwar auf eine gewisse Resonanz, eine ausgeprägte Wirkungsgeschichte lässt sich hingegen zunächst vor allem in Deutschland beobachten. Hier kam es nicht nur zu zahlreichen Aufführungen des Rousseau’schen Pygmalion in unterschiedlichen
297 Zumbusch, Proserpina vs. Pygmalion, 115. 298 Waeber, En musique, 49. 299 Rousseau, Essai sur l’origine des langues, 381. Vgl. Kap. IV.1 dieser Arbeit. Tatsächlich könnte man argumentieren, dass das Wort „moi“ phonetisch als labial-diphtongischer Laut sich durch ein dieser Vorstellung entsprechendes Strömen auszeichnet. 300 August Gottlieb Meißner: „Sophonisbe. Vorbericht“, in: Ders.: Theater von A. G. Meißner, Dritter Theil, Wien: Anton Doll 1813, 195–200; hier: 198.
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Vertonungen,301 das Stück fungierte auch als Modell für zentrale poetologische und ästhetische Prämissen des deutschen Melodramas, wie es insbesondere durch die 1775 uraufgeführten und von Georg Anton Benda vertonten Melodramen Ariadne auf Naxos (Text: Johann Christian Brandes) und Medea (Text: Friedrich Wilhelm Gotter) vertreten wurde.302 Das Strukturmerkmal der Kürze des dramatischen Stücks, ihre stoffliche Reduktion, die Begrenzung der Personenzahl,303 die „unipersonale dramatische Perspektive“ und die damit zusammenhängende „Blickwendung nach Innen“304 sowie der bereits erwähnte krisenhafte Einsatz der Protagonistinnen und Protagonisten sind dabei nur einige der Merkmale, die sich in Rousseaus scène lyrique auf exemplarische Weise niederschlagen und bestimmend für das deutsche Melodrama waren. Freilich sind dies zum großen Teil Tendenzen, die bereits Autoren wie Diderot und Lessing für die Schauspielkunst gefordert hatten. Dennoch steht das Melodrama als Kulminationspunkt am Ende solcher Tendenzen, die durch Bestrebungen seitens der Musikästhetik angereichert wurden. So wurden die semiotischen Eigenschaften, die man den einzelnen Künsten zuschrieb, in dieser Zeit nirgends so konsequent eingesetzt und zur Darstellung gebracht, wie in den melodramatischen Projekten. Rousseaus Pygmalion hatte auf eindrückliche Weise demonstriert, dass die unbedingte Konzentration auf einen Handlungs- und damit Empfindungsverlauf, wie sie auch in Diderots Père de famille zu beobachten war, nicht nur in konzentrierter Form, sondern zudem auf sämtlichen medialen Kanälen dem Ziel der Darstellung einer Steigerung der Seelenkräfte zuarbeitete. Die Bewegungsform der innerseelischen Kräfte in ihrer „werdenden“, „reifenden“ Transitorik, welche „sorgfältig auf ebnem Wege fortwallen“305, werden so zum eigentlichen Sujet des Melodramas: „Dieses Drama entwickelt die Leidenschaft, forscht ihren geheimen Gang und Wendung aus, welches Vergnügen für den denkenden Zuschauer!“306 An den Rousseau’schen Prototypus angelehnt interessiert auch in den deutschen Melodramen weniger die Handlung an sich, sondern die innere Handlung und die Rezeption des Emp301 Eine Auflistung der Aufführungen in unterschiedlichen Versionen findet sich bei Schimpf, Lyrisches Theater, 226–229. 302 Ob es eine direkte Beeinflussung durch Rousseau gab, wie Schimpf schreibt (ebd., 24) oder die melodramatischen Bestrebungen einfach ‚in der Luft lagen‘ (Waeber, En musique, 54) ist kaum entscheidbar, allerdings für meine Untersuchung letztlich auch unerheblich. 303 Schimpf, Lyrisches Theater, 108–111. 304 Ebd., 112; 110. 305 August Gottlieb Meißner: „Fragment über die Frage: Wenn ist Kürze im Drama fehlerhaft? aus einem Briefe an Herrn Reichard“, in: Theater-Journal für Deutschland, 5.-8. Stück, Gotha 1778, hg. H. A. Reichard, München: Kraus Reprint 1981, 12–16; hier: 15. 306 Carl Gottlob Rössig: Versuche im musikalischen Drama nebst einigen Anmerkungen über die Geschichte und Regeln desselben wie auch über die Moralität und Vortheile des Theaters, Bayreuth: Lübeck 1779, 3–18; hier: 4.
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findungsverlaufs: „Es ist nicht die Geschichte der Ariadne, die wir in dem Melodrama vernehmen sollen […] es ist die Verzweiflung einer zärtlich Liebenden, die wir mit ihr empfinden sollen.“307 Die Handlung lässt sich also in Empfindungsreihen ausdrücken, wie es Joseph Franz von Goez in seiner ‚Umschmelzung’ der Ballade „Lenardo und Blandine“ von Gottfried August Bürger zunächst in 160 angefertigten Stichen veranschaulicht und für seine Figur der Blandine dann beschreibt: „[S]ie erschrikt, ermant sich, list, fält nieder, komt von Sinnen, und geht verschiedene Grade der Sinlosigkeit durch, bis sie endlich, durch Auf- und Abspannen der Kräfte hinsinkt, und verlischt.“308 Da emotionale Entwicklungen im Vordergrund stehen, wird thematisch zumeist auf bekannte Stofftraditionen zurückgegriffen, wobei die Auswahl innerhalb des theatralen Archivs vor allem durch solche Stoffe bestimmt ist, die überhaupt emotionale Entwicklungstendenzen zulassen. Alternativ werden die Stoffe so ‚zugerichtet‘, beschnitten und transformiert, dass sie den Forderungen entsprechen.309 Außerdem muss die Handlung „leidenschaftlicher Progressionen“310 auch der Musik angemessen sein, so dass diese befähigt ist, die Gefühlsschwankungen musikalisch zu übersetzen, sie vorzubereiten oder zu erhalten, um eine Kontinuität des Verlaufs zu stiften.311 Wie bereits zitiert, macht schon Lessing darauf aufmerksam, dass die Konzentration auf „nur eine Leidenschaft“, die „mit verschiednen Abänderungen, es sei nun nach den Graden ihrer Stärke und Lebhaftigkeit“ entfaltet wird, die Voraussetzung bildet, um nicht ein „musikalisches Ungeheuer“ zu produzieren.312 Zwar ist Lessing der „antizipatorischen Funktion“313 von Musik, einer Funktion, die sie in vielen Melodramen erfüllt, gegenüber kritisch eingestellt, doch sieht er den großen Vorzug der Musik darin, einen plötzlichen Wandel der Emotion zu kompensieren, da musikalische Verläufe Verbindungen und Übergänge knüpfen können.314 307 Heusinger, Handbuch der Ästhetik, 198. Vgl. Schimpf, Lyrisches Theater, 130. 308 Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 10. 309 Dies führt auch zu maßgeblichen Problemen bei der Gestaltung der Vorgeschichte, die entweder als bekannt vorausgesetzt werden muss oder in den Druckversionen in Form von Vorberichten beigefügt wird. Vgl. Schimpf, Lyrische Theater, 121–132. 310 Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 11. 311 Vgl. Rössig, Versuche im musikalischen Drama, 3. 312 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 231 (27. Stück). Vgl. Kap. IV.2 dieser Arbeit. 313 Betzwieser, Text, Bild, Musik, 84. 314 „In der Tat ist diese Motivierung der plötzlichen Übergänge einer der größten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergrößte.“ Der Vorzug der Musik sei hier, dass sie fähig sei, „abstechende, widersprechende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewähren können, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, in welchem man nicht allein Mannigfaltiges, sondern auch Übereinstimmung des Mannigfaltigen bemerkte.“ Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 230 (27. Stück).
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Diese Ausrichtung auf eine Verlaufsform, die sprachlich wie musikalisch herrschen soll, wird in der starken Tendenz zur Monologisierung realisiert, die zugleich eine Abkehr von dialogischen Redeweisen mit sich bringt. Auch hierin lassen sich Bezüge zum zeitgenössischen Drama herstellen, wo man ebenfalls der Ergründung der „dessein secrets“315 vermittels des Monologs eine große Aufmerksamkeit schenkte. Der Dialog würde dagegen „meist den Fortgang der Empfindung und Leidenschaft hinder[n]“316 und eigne sich zudem nicht zum musikalischen Ausdruck der Empfindungen, denn allzugroße und schnelle Abwechselung mehrerer Leidenschaften, vorzüglich wenn sie einander entgegen gesetzet sind, oder sich in verschiednen Personen zu gleicher Zeit gegen einander äußern, wird dem Tonkünstler einen glücklichen Ausdruck unmöglich machen, und dadurch dem Ganzen nachtheilig werden.317
Die Tendenz zur Monologisierung und damit zur Konzentration auf einen einzigen Empfindungsverlauf empfiehlt Rössig also insbesondere aufgrund der musikalischen Koalition, die die Poesie eingegangen ist. Dabei werden ausgerechnet solche Dynamiken der Leidenschaften als ungeeignet angeführt, die dem graduellen Wachstum und der Verminderung entgegenstehen. Dass die Musik ganz im Sinne der gleitend-anwachsenden Crescendo- und Diminuendo-Logik eingerichtet sein soll, fordert Rössig dann auch ganz explizit: Der Tonkünstler muß sonderlich auf den Uebergang der Leidenschaft, auf ihren wachsenden oder abnehmenden Grad sehen, muß die Empfindung fortsetzen, wenn der Handelnde verstummet, muß zuweilen unvermerkt den Zuschauer vorbereiten oder auch neue Empfindungen erwecken, und ihn mit sich fortreissen.318
Das „unvermerkte“ Fortschreiten der Musik gerät wiederum zum Mittel, um die Transitorik des Seelenlebens zum Ausdruck zu bringen und Kontinuitäten zwischen Wort und Musik zu stiften. Nicht uninteressant ist in dieser Hinsicht, dass gerade einige Musiker des Umkreises der Mannheimer Schule, die bestens mit den dynamischen Musikpraktiken der Zeit vertraut waren, Vertonungen von Melodramen anfertigten und damit der Expertise der feinen Grade und kontinuierlich-steigernden Wallungen nachzukommen wussten.319
315 Diderot, De la poésie dramatique, 1308. Vgl. Kap. III.3 dieser Arbeit. 316 Rössig, Versuche im musikalischen Drama, 8. 317 Ebd., 7. 318 Ebd., 15. 319 Namentlich ließen sich Johann Christian Cannabich (der mit Niccolò Jommelli zusammengearbeitet hatte), Georg Joseph (Abbé) Vogler (der maßgeblich an der technischen Verbesserung der Schwellendynamik an Orgeln beteiligt war, vgl. Kap. IV.2) sowie dessen Schüler Franz Danzi und Peter von Winter aufzählen.
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Das Monologisieren im Melodrama bedarf insofern noch einer Rechtfertigung, als über einen längeren Zeitraum quasi ununterbrochen zu sich selbst zu reden nicht anders als unnatürlich wirken konnte.320 Gerade im outrierten Affekt, so argumentiert hingegen Carl Gottlob Rössig, sei es nicht ungewöhnlich, zu sich selbst zu sprechen, da die Leidenschaft die ganze Seele einnehme und sie „zu einer immer wachsenden Thätigkeit“321 treibe, welche schließlich auch den ganzen Körper einnehme. Das Zu-sich-Sprechen habe dabei auch den Effekt, dass das, was man laut monologisiere, einmal mehr in die Seele dringe und dadurch verstärkt würde: „Vielleicht lieben wir auch das Lautwerden deswegen, weil durch das Gehör alsdenn das nemliche wieder in die Seele kommt, und die Leidenschaft noch mehr genähret wird.“322 Der Schauspielkörper wird so zum vibrierenden Klangkörper, zum Resonanzraum, der sich durch seine eigene Verlautbarung stetig verstärkt und sich bebend auf einen Empfindungshöhepunkt hin manövriert. Und aus diesem Grund sei es auch zentral, dass der Dichter des Melodrams sein Stück „nicht für Zuschauer, sondern nur für Zuhörer componierte“.323 Mitunter lässt sich die feine Nuancierung der Empfindungsverläufe, die auch für das Drama der 1760er Jahre so auffällig ist, ebenfalls an der für die Schauspielkunst der Zeit charakteristischen feinen Nuancierung der Deklamation beobachten, wie sie in August Gottlieb Meißners „Musikalischem Drama“ Sophonisbe324 besonders deutlich angelegt ist. Immer wieder wird der „Ton“ der Sprache im Nebentext komparativisch oder superlativisch, in jedem Fall aufs Genaueste bestimmt, was auf eine erstaunliche Bandbreite an sprachlicher Nuancierung hindeutet: die Figuren sprechen „im freudigsten Ton“, „schweigend, und endlich mit sanfterm Tone beginnend“, „mit nachlassendem Ton“, „mit gesetzterm Ton“, „mit furchtbarer Stimme“ und lassen dabei graduelle Steigerungs- und Minderungsverläufe bereits im Nebentext erahnen.325 Das Melodrama, so zeigt sich anhand dieser Beispiele, ist als ein rundum sonal ausgerichtetes Projekt konzipiert, 320 „Ist es im geringsten begreiflich, was eine Person zu einer so umständlichen Entwicklung ihrer geheimsten Empfindungen nach allen mannichfaltigen Nüanzen, was sei zu einem so lauten und so detaillirten Geständnisse ihrer verschlossensten Neigungen, ohne alle äussere Ursache bewegen kan?“, in: „Ueber das Melodrama“, in: Dramaturgische Blätter, 2. Jg., 2. Quartal, hg. A. W. Schreiber, Frankfurt a. M.: Phillip Wilhelm Eichenberg 1789, 3–8; 17–22; hier: 18. Vgl. Schimpf, Lyrisches Theater, 123. 321 Rössig, Versuche im musikalischen Drama, 12. 322 Ebd., 13. 323 Heusinger, Handbuch der Ästhetik, 199. Diese Aussage klingt letztlich wie der Vollzug dessen, was Daniel Webb bereits 1769 für die Poesie gefordert hatte, wenn er beklagt: „[O]ur modern lyric poesy is a school for painters, not for musicians“, Webb, Observations, 133. Vgl. Kap. IV.1 dieser Arbeit. 324 August Gottlieb Meißner: „Sophonisbe. Musikalisches Drama (Erschien 1776)“, in: Ders.: Theater von A. G. Meißner, Dritter Theil, Wien: Anton Doll 1813, 193–214. 325 Ebd., 204 (Zitat 1 und 2), 205, 206, 212.
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das sich aufgrund seiner medialen Verschränkungen für nuancierte musikalisch-akustische Einsätze öffnet326 und einrichtet: „Mehr als jedem Opernlibretto ist dieser Textsorte somit ein hohes Maß an musikalischer Performanz eingeschrieben.“327 Trotz einiger Gemeinsamkeiten zwischen Rousseaus Prototyp und den deutschen Melodramen wäre es falsch, nicht auch Unterschiede herauszustellen. Denn während Pygmalion eine in sich abgeschlossene Erzählung bildet, die in steter, zunächst unterschwelliger Unruhe immer höher getrieben wird und damit ihren Akzent auf den psychologischen Konflikt und dessen Entwicklung legt,328 resultiert das deutsche Melodrama aus einer Beschneidung der Tragödie: „Diese Dramen sind nichts anders als eine aus einer Tragödie entnommene starke Scene“329, definiert Abbé Vogler. Die Stärke, die sich in der Szene äußert, bezieht sich dabei auch auf den hohen Grad der Leidenschaft, in dem sich die monologisierenden zumeist weiblichen Hauptfiguren bereits von Beginn an befinden: Der Charakter des Ausschnitthaften und der – daraus entstehende – seiner Entwicklungen beschnittene im Zentrum stehende outrierte Affekt sind somit unmittelbar miteinander verbundene Elemente der deutschen melodramatischen Projekte. So muss der Dichter versuchen, seine Handlung „in wenige Szenen zusammen zu drängen“, um „den Grad der Rührung und des sinnlichen Eindrucks zu verstärken“.330 Mit dieser Dramen- und Affektpolitik schließen die Melodramen letztlich stärker an diejenige der Stürmer und Dränger an331 als an die entwickelnde Dramaturgie Rousseaus, Diderots oder Lessings: Da die Szene von vornherein auf einem hohen Grad der Emotion beginnt, bleiben ihr die Entwicklungstendenzen nach oben hin letztlich verwehrt – sie zeigt den „Augen das Äußerste“ 332, wovor Lessing noch gewarnt hatte. Da das Melodrama einerseits ein Verharren im Äußersten realisiert und gleichzeitig die „Gradation der Empfindun326 Wie Juliane Vogel gezeigt hat, geschieht diese Öffnung auch visuell innerhalb des Texts: „Auf Dauer gestellte Unterbrechungen schwächen die Ordnung der Interpunktion, erzeugen syntaktische und prosodische Unbestimmtheit in metrischen Perioden und öffnen den Text graphisch für den Eintritt der Musik.“ Vogel, Zurüstungen, 42. 327 Betzwieser, Text, Bild, Musik, 79. 328 Vgl. Waeber, En Musique, 59. 329 Georg Joseph [Abbé] Vogler: „Dramatische Tonstücke“, in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real=Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, hg. H. M. G. Köster, J. F. Roos, Bd. 7: Ded-Eh, Frankfurt a. M.: Varrentrapp Sohn und Wenner 1783, 620. Vgl. Schimpf, Lyrisches Theater, 109. 330 Anon., Ueber das Melodrama, 5. 331 Vgl. hierzu v. a. Ulrike Küster: Das Melodrama. Zum ästhetikgeschichtlichen Zusammenhang von Dichtung und Musik im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1994, 118 ff. Leider bleiben die Bezüge zum Sturm und Drang in dieser Studie jedoch oberflächlich und zeugen von einem inzwischen überholten Gattungsbegriff, zumal die Differenzen zum Melodrama nicht kritisch hinterfragt werden. 332 Lessing, Laokoon, 32. Vgl. Kap. II.3 dieser Arbeit.
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gen“333 im Zentrum steht, bewirkt die Beschränkung auf den hohen Grad, dass sich die Verstärkung der Leidenschaft nicht im Sinne einer nuancierten Entwicklung, sondern als eine zunehmende Verdichtung, als „eine gedrängte Reihe“334 auswirkt. So bleiben Blandine, die Protagonistin des Melodramas Lenardo und Blandine von Peter von Winter (Musik) und Joseph Franz von Goez (Text) in ihrem Moment des Todes nur noch die Worte: „[E]s zerdrukt mich“335 – wobei nicht eindeutig geklärt ist, ob damit die bedrängte Seele oder das Eindringen der musikalisch-akustischen Gewalt, welcher sie ausgesetzt ist, (oder beides) gemeint ist. Es geht im deutschen Melodrama also nicht so sehr um die zeitliche Entfaltung von Emotionen oder sinnlichen Kräften, die häufig mit einem Gesinnungs- oder Bewusstseinswandel einherging (z. B. bei Marivaux oder auch Rousseau) und maßvoll entwickelt wurde. Es geht um die effektvolle Darstellung zunehmender Intensitäten, um Akkumulation und Eskalation. Dementsprechend wandelt sich auch die Textur des Melodramas, wenn die dort herrschende Spache als „ein körnigter, gedrungener, […] Ausdruck“336 beschrieben wird. Der granulare sprachliche Ausdruck zeugt dabei nicht nur von einem hohen Grad der Verknappung, sondern ebenso von einer immensen Verdichtung. Die Protagonisten sprechen nurmehr, „um ihrem gepreßten Herzen Luft zu machen.“ 337 Während sich die Sprache also einem hohen Staudruck ausgesetzt sieht und nur mehr elliptisch hervorbricht, wird ihr die Kompetenz der Entfaltung eines Reifungsprozesses, einer Gemütswandlung oder seelischen Entwicklung, wie sie bei Rousseau durchaus noch vorhanden war, beinahe gänzlich entzogen, was sich insbesondere in den finalen Szenen der Melodramen bemerkbar macht. Stattdessen übernimmt die Musik diese Aufgabe, indem sie die inneren Bewegungen in sukzessiv fortschreitende klangliche Kontinuitäten und akusmatische Schwankungen übersetzt. Hatte also Rousseau noch auf eine strikte Alternation zwischen den gleichgestellten Medien Text und Musik gesetzt, die sich auch typographisch in der klar strukturierten Nummerierung der Musikstücke widerspiegelt, ist bei Benda gerade die Überschreitung dieser Struktur bemerkenswert:338 So333 Joseph Franz von Goez: „Vorrede“, in: Peter von Winter: Lenardo und Blandine. Ein Melodram, München: k. A. 21779, unpag. [zähle: 1–7]; hier: 5. 334 Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 33. 335 Joseph Franz von Goez: Lenardo und Blandine. Ein Melodram. […], Augsburg: Andreas Brinhaußer 1785, unpag. [zähle: 11–25]; hier: [24]. 336 Rössig, Versuche im musikalischen Drama, 8. 337 Anon., Ueber das Melodrama, 7. 338 Vgl. Waeber, En Musique, 59; Schimpf, Lyrisches Theater, 90. Im Gegensatz zu Schimpf gehe ich allerdings nicht davon aus, dass die „Selbständigkeit des Textes und die Freiheit seiner deklamatorischen Realisierung unangetastet“ (91) bleibt, zumindest nicht in allen Teilen der Stücke.
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wohl in seiner Ariadne, als auch in seiner Medea kommt es zu musikalischen Übergriffen, welche auch eine entscheidende Rolle für die dramatische Struktur der Stücke sowie an diesem Modell ausgerichteten Nachfolgeprojekten zur Folge hatte.
3.3 „Krescendo der Leidenschaft“339: Ariadnes Überflutung – Medeas Berauschung Das deutsche Melodrama scheint im Zeichen einer kontinuierlichen Verdichtung und Beengung, eines steten Drängens zu stehen. Beengend wirkt beim ersten Blick auf das erfolgreiche Duodrama Ariadne auf Naxos vor allem die Kulisse: Sie „stellt ein Thal vor, auf beiden Seiten erblickt man hohe und rauhe Felsen, die von der See umschlossen sind“340 – Ariadne und Theseus befinden sich an einem locus terribilis. Gerade die ästhetische Behandlung des Schrecklich-Erhabenen kann als Neuerung im deutschen Melodrama gelten, wie es durchaus kennzeichnend für literarische Texte in dieser Zeit ist.341 Zugleich bietet die Szenerie Anlass, die dramatisch-musikalische Gewalt zur vollen Entfaltung zu bringen, indem die hohen rauhen Felsen nicht nur beengend wirken, sondern (zumindest imaginär) auch akustische Voraussetzungen für Schall- und Echoeffekte bieten, so dass sich die Musik zunehmend in einen „elementaren Schallhorizont“342 transformiert. Gleich zu Beginn befindet sich die Protagonistin Ariadne also in mehrfacher Bedrängnis. Denn selbst der Felsen, unter dem sie ruht, der ihr „zum Schutz gegen die ungestüme Witterung“ dienen sollte, wird nach kürzester Zeit zur Gefahr, wenn er sich „[s]chrecklich beugt“ und „droht einzustürzen“.343 Auch das Meer wirkt bedrohlich flutend, es „tobt gegen diesen Felsen, will ihn verdrängen!“344 Die Natur verliert ihre Struktur, verbiegt sich, verfließt und drängt in amorpher, akusmatischer Form beängstigend auf Ariadne ein.
339 Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 10. Beide Schreibweisen, „Krescendo“ und „Kreszendo“ finden sich bei Goez wieder. 340 Johann Christian Brandes: Ariadne auf Naxos: Ein Duodrama mit Musik, k. A. 1779, 3. 341 „Ist das Fürchterliche nicht auch unter gewissen Umständen schön? giebt es nicht auch eine furchtbare Pracht? Wollen wir die Natur tadeln, wenn sie hoch in den Wolken donnert, und einige Furchtsame schrecket, da dieses majestätische Schauspiel ein hohes Vergnügen des Weisen ist? Braucht die Seele nicht auch große, starke, sie erweiternde Empfindungen?“ So rechtfertigt Rössig noch in seinen Versuchen im musikalischen Drama die Behandlung schrecklich-erhabener Gegenstände im Melodrama (6). 342 Vogel, Zurüstungen, 44. 343 Brandes, Ariadne auf Naxos, 3; 10. 344 Ebd., 10.
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Doch bevor sich die Elemente in dieser Gewalt entfalten, dient das Meer vorübergehend dazu, Theseus zu transportieren. Denn das Duodrama beginnt zunächst mit dessen Monolog und seinem Vorhaben, Ariadne für sein Vaterland zu verlassen und sie alleine auf der ‚schauervollen‘ Insel zurückzulassen. In gewisser Weise schickt Theseus damit die Vorgeschichte für Ariadne voraus, die eine strikte Trennung zwischen der Theseus-Handlung (erster Auftritt) und der Ariadne-Handlung (zweiter und dritter Auftritt) impliziert. Da Ariadne jedoch zur gleichen Zeit auf der Bühne schläft, wird von vornherein einer engen Verknüpfung der beiden Figurenplots zugearbeitet, die dadurch intensiviert wird, dass Ariadne im Traum Theseus’ Vorhaben bereits durchlebt. Es kommt zu einer kontinuierlichen Durchdringung der beiden Handlungsstränge, ohne dass dabei die Monologstruktur vollständig verlassen würde, wenn Ariadne im Schlaf Theseus’ Namen ruft und ihn in böser Vorahnung mit seinem Vorhaben konfrontiert: (Man bemerkt, daß Ariadne von einem schrecklichen Traume beunruhigt wird.) Ariadne. (schlafend) Theseus! ach Theseus! – Sie ruft mich. – Theseus. Auch im Traume – Hilf! Rette, rette Deine Ariadne! – Ariadne. Deine Ariadne? – Theseus. Verlassen? mich verlassen? – Ariadne. Verlassen? Welcher Gott verräth Dir Dein Geschick, Theseus. Unglückliche! – Er flieht? – Barbar! Ach! – Ariadne. (Er will sie umarmen, fährt aber zurück)345
Die Struktur des Melodramas ist damit entgegen der hier stark auffälligen elliptisch-rhapsodischen Redeweise durch eine sich durchdringende, verkettende Kontinuität gekennzeichnet, um die Einheit der Darstellung der Seelenschwankungen und eine kontinuierliche Steigerung zu gewährleisten, die an dieser Stelle vor allem der musikalische Einsatz realisiert. Sowohl die Struktur des Dramas als auch der handlungsleitende Einsatz der Musik fungieren damit als kontinuitätsstiftende Momente, wie sie für das Melodrama elementar sind, da sie Voraussetzungen der intensiven gedrängten Handlung bilden. Inwiefern die Musik ihrer handlungsleitenden Funktion nachkommt, wird aber vor allem in dem Moment deutlich, als Theseus mit seiner Entscheidung hadert: Hier fällt die Musik ein, die ihn zur Abkehr von Ariadne drängt. Es sind die tönenden Fanfaren, die ihn dazu bewegen, Ariadne end345 Ebd., 6 f.
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gültig zu verlassen. Wie stark die Musik dabei seine Entscheidung beeinflusst, lässt sich daran erkennen, dass Theseus beim erneuten Tönen der Signale zur Musik spricht. Die Musik ist an dieser Stelle zum ersten Mal in die Sprache eingefallen und „spricht“ selbst. Mit diesem Übergriff erzeugt sie zugleich den für Ariadne so schicksalhaften Entschluss Theseus’, von der Insel zu fliehen. Sie gibt somit den Raum nicht frei, der eigentlich für die Sprache vorgesehen ist und drängt, den Raum der Sprache vereinnahmend, zur Entscheidung.346 Dennoch zögert Theseus, als die ‚leit-‘ bzw. erinnerungsmotivische Musik der Ariadne erklingt.347 In ihm streiten zwei Musiken und damit zwei Empfindungen. Doch wiederholt rufen die Fanfaren, und Theseus’ Worte mischen sich der Musik erneut unter, bis er schließlich, bedrängt durch das von der Musik angekündigte Vorrücken der Griechen, Ariadne verlässt. Das Andante moderato, das dabei ertönt, gibt sich dann auch als „Trauermusik“348 zu erkennen. Damit bildet das Tonstück bereits am Ende des ersten (Theseus-) Auftritts eine fließende Passage, einen Übergang zu Ariadnes Erwachen, welches im zweiten Auftritt dargestellt wird und so die Auftrittsgrenzen verschwimmen lässt.349 Der ‚Auftritt‘ Ariadnes, die sich ja längst auf der Bühne befindet, geschieht als ein graduelles Erwachen in Form einer sukzessiven Steigerungsbewegung auf gleich drei Ebenen: dramatisch, durch das Erwachen Ariadnes; durch einen Sonnenaufgang, den sie beobachtet; und drittens durch ein den Sonnenaufgang untermalendes Crescendo in der Musik („pianiss. poco a poco crescendo“350). Es scheint, als wollten Brandes und Benda aufgrund der Vermeidung eines Bruchs zwischen den Auftrittsgrenzen der beiden Protagonisten sowie der Trennung zwischen Vorgeschichte und Hauptgegenstand gleichermaßen alle medialen Mittel auffahren, um eine liaison des scènes bestmöglich umzusetzen. Innerhalb des Ariadne-Plots evozieren die Beschreibungen lediglich in ihrer (musikalisch vertonten) Erinnerung noch einen idyllischen Ort. Sobald sie sich ihrer wirklichen Umgebung bewusst wird, muss Ariadne deren Grausamkeit feststellen, die sich ebenfalls bedrohlich in die Musik übersetzt: 346 Besonders augenfällig wird diese mangelnde Raumaufgabe in den Partiturdrucken, in denen das Notationssystem normalerweise unterbrochen wird, nicht jedoch, an den Stellen, wo unter der Musik gesprochen wird. Vgl. zur Drucksituation und der Problematik der multimedialen Überlieferung den aufschlussreichen Aufsatz von Thomas Betzwieser: Text, Bild, Musik, v. a. 74–79. 347 Georg Benda: Ariadne auf Naxos, zum Gebrauche gesellschaftlicher Theater auf Zwey Violinen, Eine Bratsche und ein Violoncell, Leipzig: Schwickertscher Verlag, k. A. [ca. 1780] [Partitur], 14. Vgl. Waeber, En Musique, 82: „[C]elui-ci est non seulement prisonnier de ses sentiments pour Ariadne, il est aussi prisonnier de ‚sa‘ musique.“ 348 Waeber, En musique, 85. 349 „[L]a musique procède ici par un fondu enchaîné sonore, conçu comme la négation même de l’entracte.“ Waeber, En Musique, 87. 350 Benda, Ariadne, 20.
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Ohne dich, Geliebter, welch ein Schauervoller Aufenthalt! – Hier glänzt kein stiller Sommertag, wie in den königlichen Gärten meines Vaters, hier blühen keine Rosensträuche, unter deren Schatten uns die Liebe verbarg; kein Zephir spielt mit unsern Locken, keine Sängerinn der Nacht weckt uns zu neuen Freuden! – Alles ist hier wild, fürchterlich! –351
In der Negation einer in der Erinnerung schönen Gegend verwandelt sich der Ort in den wilden unmenschlichen locus terribilis; tosendes Meer, drohende Felsen und brüllenden Löwen überträgt die musikalische Malerei in ein aufgeregtes chromatisches, dynamisches Beben.352 Doch während sich zunächst immer noch hoffnungsvolle, an die Erinnerung geknüpfte Momente in Ariadnes Monolog einmischen, bringt das Ertönen der göttlichen Stimme der Oreade, die das Schicksal Ariadnes ankündigt und das Erblicken des Schiffs, mit dem Theseus entflohen ist und das ihren Ausgang endgültig besiegelt, eine stete Übernahme der tumultösen akusmatischen Klangereignisse mit sich. Als ein Gewitter aufzieht, spricht dann auch Ariadne „unter der Musik“; ihre Frage „Was bedeutet das Brausen im Walde?“353 wird begleitet von einem musikalischen Klangteppich, der sich bedrohlich ins fortissimo steigert und damit erneut das gewaltvolle Eindringen und die Vereinnahmung der Sprachzone demonstriert. Das Crescendo, welches nun das allmähliche Aufziehen der Gewitterwolken tonmalerisch umsetzt, wie es auch in zahlreichen nachfolgenden Melodramen paradigmatisch eingesetzt wird, ist kennzeichnend für die zunehmende Bedrängung Ariadnes, die sich der näherkommenden stürmischen Klanggewalt nicht länger erwehren kann. Ariadne ist einer dauerhaften Überflutung durch das Lärmen der Elemente ausgesetzt. Die Satzzeichen, Ausrufezeichen, Fragezeichen und Bindestriche, die gegen Ende immer zahlreicher werden, haben zwar einerseits den Zweck der textuellen Öffnung für die Musik,354 wirken andererseits typographisch auf Ariadnes Rede wie eine zusätzliche Bedrohung: Die Striche wenden sich gegen ihre Worte und werden so zu Anzeichen einer allmählichen Übernahme der außersprachlichen Mächte, der tumultösen 351 Brandes, Ariadne, 9. 352 Diesen Gegensatz zwischen einem locus amoenus der Erinnerung und einem locus terribilis der Gegenwart findet sich gleichermaßen in Christian Cannabichs Elektra (Uraufführung 1780 in Mannheim; Text von Wolfgang Heribert von Dahlberg). Nicht zuletzt ermöglicht dieser Kontrast den Einsatz sanfter Musik (bei Cannabich: Molto cantabile e dolce), der ansonsten im tragischen Verlauf der Handlung und Empfindungen keinen Ort hätte. Christian Cannabich: Electra, Melodrama […], 1781, Mus. ms 217. Digitalisiert v. d. Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt. [Partitur] 353 Benda, Ariadne, 26. 354 „Der Umstand, daß dieß Duodrama zur Musikbegleitung geschrieben ist, wird dem Leser leicht die Ursache der öftern Absätze und Striche im Text erklären.“ Brandes, Ariadne (Vorbericht), [2].
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Musik, die der Sprache immer weniger Platz einräumt, bis sie sie schließlich ganz überholt, überlagert und vereinnahmt. Dabei ist die doppelte Funktion der Musik, die sowohl die Atmosphäre, Gewitter und Sturm malt, als auch für den Ausdruck des Seeleninnenlebens zuständig ist, kaum mehr voneinander zu trennen. Das stürmische Außen- und Innenleben vermischt sich zunehmend in der Musik. Am Ende, wenn Ariadne vor Schreck in die Fluten stürzt, ergreifen die Musik und damit die flutenden Elemente endgültig Besitz vom Frauenkörper: (Hier fährt Ariadne unter einem schwachen Getöse der Musik fort.) Meine Kräfte – der Sturm – unwiderstehlich! – Götter! – Vergebens! – Vergebens! – Hülfe! – Hülfe! – Theseus! – Götter! Theseus! – Ach! (Ein Blitz fährt auf sie zu; sie erschrickt, und stürzt vom Felsen ins Meer.)355
Abb. 4: Ausschnitt der Partitur Ariadne auf Naxos von Benda, ca. 1780, dritter Auftritt.
Die Musik verharrt dabei so lange in einer Wiederholungsschleife, bis Ariadne ihren letzten Seufzer ausstößt: „Die Reprise wird bis auf das letzte Wort wiederholt, wo Ariadne ins Meer stürzt“, heißt es in der Partitur (vgl. Abb. 4).356 Die Musik als eigenständige Akteurin erwartet also den Tod Ariadnes und führt ihn musikalisch zum Abschluss und dramatisch gesteigerten Höhepunkt. Die Überflutung Ariadnes findet damit auf unterschiedlichen Ebenen statt: auf dramatischer Ebene in der Gefühlsüberflutung sowie im Sturz in die Wasserfluten einerseits, andererseits durch eine akusmatische, klangliche Überflutung auf der musikalischen Ebene. Auch in Bendas Medea übernimmt die Musik eine entscheidende, handlungsleitende Rolle. Doch während sie auf Ariadne als Bedrohung wirkte, tritt sie bei Medea als Komplizin auf – das Melodrama scheint mitunter das kom355 Brandes, Ariadne, 16. 356 Benda, Ariadne, 40.
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plementäre Gegenstück zur Ariadne darzustellen.357 Denn die Bedrohung innerhalb des Melodramas, das ist bereits im ersten Auftritt klar, wird durch die Figur der Medea selbst personifiziert, wenn sie zu Beginn „mit drohender Geberde von ihrem Wolkenwagen“358 in opernhafter Dramaturgie herabsteigt. Diesem Opernzitat entgegengesetzt, handelt Medea jedoch gerade nicht in einem „Zentralaffekt“. Vielmehr wird zum wesentlichen Element des Melodramas, die nuancierten Abänderungen einer bis auf die Höhe getriebenen emotionalen Verlaufsform nachvollziehbar zu machen.359 Lediglich die Einbrüche der Erinnerung bieten den Racheplänen Medeas punktuell Einhalt. Dagegen deuten die Passagen, in denen Medea zur Musik spricht, auf eine beschwörende und die Worte unterstützende Instrumentalisierung der Musik hin. Die Musik dient Medea der Untermalung ihrer Rachegelüste gegen den Ehebrecher Jason, denn, wie sie schon zu Beginn verlauten lässt: „[D]ie Elemente gehorchen meiner Stimme“ (4). Sie spricht „in wilder Begeisterung unter der Musik“ (8) und beschwört die Elemente, so dass vermittels dieser Aneignungsgeste der Ton-Elemente die Nacht hereinbricht und Medea in dieser Atmosphäre ihren Mordgedanken nachkommen kann. Einmal mehr zeichnet sich die Musik durch steigerndes Beben aus, das damit endet, dass ein „schrekliches Ungewitter“ (13) ausbricht. Die zunehmende Berauschung, in der sich Medea befindet, wird durch die Tonkulisse übersetzt, so dass auch hier ‚innere‘ und ‚äußere‘ Bewegung, seelische Steigerung, Aufziehen des Gewitters und Intensivierung der Musikgewalt ineinander fallen. Ihren Akt des Mords an ihren Kindern, den Medea nur pantomimisch andeutet, indem sie mit gezücktem Dolch in den Palast stürmt, übernimmt nun die Musik selbst; die Gewalt der Töne und die musikalische Malerei des Unwetters ersetzen das Undarstellbare und Unaussprechliche der Tat Medeas. Zugleich bewirkt die Musik eine liaison des scènes, wenn die elementare Akustik des Gewitters „[fort]dauert“ (ebd.). Dass die beiden Stücke Bendas, die in der Forschung als gattungsbestimmend gehandelt werden,360 einen maßgeblichen Einfluss auf die nachfolgenden Melodramen hatten, ist kaum bestreitbar. Ein weiteres Beispiel 357 Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Friederike Sophie Seyler, die die Medea spielte, sich ein komplementäres Stück zur Ariadne wünschte, in der sie brillieren konnte, während Johann Christian Brandes seiner eigenen Frau Charlotte die Rolle der Ariadne zugedacht hatte. Vgl. Schmidt, Medea lesen, 52. 358 Friedrich Wilhelm Gotter: Medea, ein mit Musik vermischtes Drama, Stuttgart: Mäntlerische Schriften, 1779, [3]. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. Dörte Schmidt hat auf die unterschiedlichen Elemente der Operntradition innerhalb von Bendas Medea dramaturgisch und musikalisch hingewiesen und spricht von einer „Umdeutung des (Opern-)Codes“. Schmidt, Medea lesen, 57 ff., Zitat 58. 359 Vgl. Schimpf, Lyrisches Theater, 139; 141. 360 Vgl. Schimpf, Lyrisches Theater, 32; Kühn, Sprech-Ton-Kunst, 123 ff.
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soll dies demonstrieren: Christian Cannabichs und Wolfgang Heribert von Dahlbergs Elektra.361 Betrachtet man in diesem Stück das Verhältnis der Musik zur dramatischen Einrichtung bzw. den funktionalen Einsatz der Musik, so erscheint hier geradezu ein Amalgam aus Ariadne und Medea vorzuliegen. Insbesondere der Anfang des Melodramas erinnert an die Ariadne: Elektra flieht vor der Hochzeitsfeier ihrer Mutter Klytaimnestra, die sich mit ihrem Liebhaber Aigisthos vermählt. Elektra muss bei ihrem Auftritt ganze acht Zeilen lang gegen den „schröckliche[n] Wiederhall“ (3) der im Hintergrund ertönenden Zeremonie ansprechen, bis sie sich überhaupt einen Raum ersprochen hat und Musik und Wort melodramatisch alternieren können. Somit ist der Auftakt des Melodramas durch ein näher rückendes Drängen der Musik gekennzeichnet; die Musik ‚jagt‘ Elektra,362 was hier jedoch – im Unterschied zu Ariadne – zum Auslöser ihrer Rachepläne wird. Denn die Hochzeitsfeier erinnert sie an die grausame Tat ihrer Mutter und ihres Stiefvaters, die Elektras Vater Agamemnon umgebracht hatten. Freude kann für Elektra nur noch in der Erinnerung an ihren Vater existieren, der Wandel zwischen locus terribilis und locus amoenus wird damit ganz ähnlich wie in Bendas Ariadne vollzogen. Die Töne und Klänge der Hochzeitsfeier hingegen sind für Elektra nur noch mit Grauen verbunden: „[W]as tönt von Freude? – ein Ton! ein Wort ohne Sinn – Tod, Mord – Elend töne mir. […] Weg von mir Freude! – weg Gesang!“ (9) In diesem entscheidenden Ausruf in der dritten Szene erfolgt ein Wandel Elektras, in welchem sie zur Medea-artigen Rächerin wird. Die Musik, die sie zunächst bedrohte, wird nun durch ihren Anruf der Furien, ihre Rachegelüste von Elektra vereinnahmt, wenn sie abermals unter Musik spricht: „Gespenster der Hölle, Furien – ihr sollt mir heulen ein schröckbar Trauerlied vom Tod, vom Mord“ (ebd.) Und dementsprechend transformiert sich auch die festliche Musik in eine elementare schallende Naturgewalt. In Cannabichs Elektra werden damit die bedrängenden und berauschenden Mächte der Musik entsprechend dem Wandel der Empfindungen gleichermaßen aktiviert. Die Worte „Rache erfüllen meine Seel“ (11), gefolgt von einem musikalischen Crescendo führen schließlich auf den Höhepunkt der Beschwörung in der vierten Szene: „‑ kommt! heult mir Verderben vor, Hüllt meinen Geist in Finsternisse ein; erfüllt mein Gehirn mit Bildern des Todes, haucht Gifft aus Acherons Fluß in mein Herz!“ (Ebd.) Das tumultöse Schallereignis, das nun musikalisch aufgefahren und bis in ein überstürzendes 361 Christian Cannabich[,] [Wolfgang Heribert von Dalberg]: Elektra, eine musikalische Declamation. Von Hrn. Direktor Cannabich in Musik gesetzt, Mannheim: Schwan 1780. Die Angaben zur musikalischen Gestaltung erfolgen in Abgleich mit der Partitur, Cannabich, Elektra. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. 362 So lauten Elektras erste Worte: „Wo flieh ich hin! – wohin verberg ich mich – daß in mein Ohr schalle der Jubelsang –“ (ebd., 3).
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Allegro Molto gesteigert wird, endet schließlich mit einem Donnerschlag und der göttlichen Stimme, die ihr die Rache gewährt.363 In den behandelten Beispielen deutscher Melodramen wird die Musik als lärmende Gewaltquelle eingesetzt, die die im Melodrama so auffällige gradationale Struktur maßgeblich unterstützt – man muss beinahe sagen: sie eigentlich erfüllt. Denn letztlich zeigen alle drei Stücke, dass die Musik nicht nur als zentrales Verbindungsmittel eingesetzt wird, sondern an den entscheidenden Stellen – Theseus’ Flucht, Ariadnes Tod, Medeas Mord, Elektras Flucht und Rache – der Sprache ein wenig entscheidender Platz eingeräumt wird und stattdessen die Musik und Tonzeichen den entscheidenden Vollzug der Handlung zum Höhepunkt erbringen. Im Moment, in dem die Leidenschaften in den Melodramen bis auf ihr höchstes Extrem gesteigert sind, kommt es immer dazu, dass die Grausamkeit oder der Druck, dem die Figur ausgesetzt ist, sich der sprachlichen Darstellung entzieht und die Musik den letzten entscheidenden Übertrag leisten muss. Anders formuliert: Da die Emotion der Protagonisten sich von Beginn an auf dem höchsten Grad befindet, erfolgt der Umschlag in ein musikalisches Substitut, das die Empfindungsskala umfangreicher zu bedienen vermag als die Sprache. Und genau in dieser Funktion der Musik äußert sich ihre Zugehörigkeit zu einer Crescendo-Kultur, die sowohl nuancierte Schwankungen erfasst, als auch intensive, gedrängte Extremlagen effektvoll ausschöpfen kann und im Sinne einer akusmatischen Macht mitunter gewaltvoll den sprachlichen Raum erobert und besetzt. Wohl aus diesem Grunde hatte Joseph Franz von Goez von einem „Krescendo einer Leidenschaft“364 gesprochen, das es galt, im Melodrama darzustellen. Mühelos fährt Goez dabei in der theoretischen Anlage zu seinem Melodrama Lenardo und Blandine (1779) ein ganzes Arsenal an Begrifflichkeiten auf, welches einer Zusammenfassung der in dieser Arbeit behandelten Texte und ihrer wichtigsten Konzepte und Denkformen gleich kommt: Reihungen, Verkettungen, unvermerkte Übergänge, Entwicklungen der Empfindungen und Ideen, Stufenreihen, verborgene Verbindungen365, mannigfaltige Abänderungen – all diese Beobachtungen, die Goez als maß363 Der Schluss des Melodramas, in welchem nicht Elektra selbst, sondern ihr Bruder Orest die Rache an der Mutter verübt, wirkt dabei letztlich weniger melodramatisch, wenn er dialogisch endet. Er weist auf Abstriche und Zugeständnisse hin, die das Melodrama zugunsten der ursprünglichen histoire der antiken Tragödie zollen muss. 364 Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 10. 365 Der Diderot-Verweis ist sehr explizit, wenn Goez in einer Fußnote anfügt: „Die verschiednen Organisazionen erzeugen verschiedne Beschaffenheiten der Sinne, welche demnach notwendig auf verschiedne Arten gereizt werden müssen.“ Ebd., 25. – Auch wenn sich Goez an dieser Stelle gegen das Verfassen von Abhandlungen über das Schöne ausspricht.
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gebliche Darstellungsmittel im Melodrama ansieht, entspringen dem Dispositiv, dass die Natur, „manichfaltig in ihren Teilen, im Ganzen immer ein[en] unbegreifliche[n] Zusammenhang“366 bildet. Dass Goez diese Konzepte auf so engem Raum so dicht ‚zusammendrängt‘, kann nur bedeuten, dass sie inzwischen zu Allgemeinplätzen geworden sind – immerhin befasst sich Goez mit einem Thema, dass Diderot und Lessing beinahe zwanzig Jahre zuvor behandelt hatten. Goez’ Wortwahl zeugt jedoch auch davon, dass sich gewisse Elemente des Diskurses gewandelt haben: Die spezifische Benennung eines „Krescendo“ der Leidenschaft, ist durchaus bemerkenswert. Denn das Wort zeigt ja explizit, dass mittlerweile performative, verlautete Mittel gefunden sind, die ein nuanciertes und gleichsam effektvolles Steigern der Emotion zur Darstellung bringen können. Das heißt: Es sind neue etablierte Semantiken gefunden, um die nuancierten Gefühlsschwankungen und -steigerungen zu beschreiben, die ein explizit performatives, überwältigendes Moment enthalten und damit dem Optativ einer unmittelbaren, ungebrochenen Einwirkung auf die Rezipienten nachzukommen scheinen. Die Frage ist jedoch, ob sich die neue ‚Krescendo‘-Semantik nicht auch eine veränderte Wirkungsästhetik einhandelte, insofern sie Gefahr lief, die Rezipienten mit ihrer vereinnahmenden, flutenden Kraft zu überfordern. Dass die Melodramen jedenfalls auf lange Sicht nicht diejenige Wirkung hatten, die ihre Einführung erhoffen ließ, zeigt sich an zahlreichen Beispielen, unter anderem an Lenardo und Blandine selbst, wenn Goez die „Misshandlung“ seines Stücks auf der Theaterbühne beklagt.367 Was sich hier also andeutet und im Folgenden ausgeführt werden soll, ist die Tatsache, dass die theoretische Anlage und die praktische Umsetzung im Laufe der Entwicklung der melodramatischen Projekte zunehmend auseinanderklafften. Anhand der Kritik, die das Melodrama zunehmend erfuhr – und das unter anderem aus den Reihen, die ursprünglich gerade diese Projekte auf den Weg brachten, allen voran Herder oder auch Gerstenberg – lässt sich hier eine Diskrepanz zwischen theoretischer Konzeption und praktischer Ausführung nachvollziehen.368 Sie kann mitunter als Grund für die relative Kurzlebigkeit der Hochphase melodramatischer Projekte in Betracht gezogen werden.
366 Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 16. 367 „Ich bin nach der Hand als mein Drama auf dem Münchner Teater gegeben worden ist, Zeuge gewesen, wie dieses Kind von andern mishandelt worden, und habe mich damit getröstet das ich oft Werke der größten Genies eben so herabgewürdiget, und durch elende Lastträger der Schauspilgöttinen verunstaltet gesehen habe.“ Goez, Versuch einer zalreichen Folge, 212. 368 Diese Diskrepanz ist den Beobachtungen zu Schillers Räubern (Kap. III.3) nicht unähnlich.
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3.4 Kritik der ‚Mischspiele‘ und Goethes „Antimelodram“369 Proserpina „[W]as kann man von einem einfachen, eintönigen, mehrentheils naturwidrigen – (welcher Mensch schreit und lärmt und tobt eine Stunde lang an einem Stücke?) und kunstleeren Duodram erwarten?“370 Derartige Urteile häufen sich seit den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts. Nicht nur die Unnatürlichkeit der Melodramen wird angeprangert, sondern auch die Affektpolitik, die immer wiederkehrenden Empfindungsreihen371, denen sich das Publikum ausgesetzt sieht. Die hier angeführten Empfindungen werden nicht länger als unmittelbar rührende, zum Mitleiden Anreiz gebende gradationale Verlaufsformen wahrgenommen. Aufgrund der immer gleichen Wiederholungsstrukturen,372 die in den Melodramen ausbuchstabiert werden, verkommen sie zu reinen Schauspielübungen, deren Wirkkraft längst versiegt ist und denen die „nöthige Mannigfaltigkeit“373 fehlt. Gerade die Aufführungssituation wird dabei als Problem erkannt, wie besonders eindrücklich das folgende Dokument bezeugt: Immer mögen dergleichen Darstellungen als pragmatische Schilderungen, als seelenvolle Gemälde, beim Vorlesen trefliche Wirkung thun; auf der Bühne thun sie keine. Für diese Absicht ist der Handlung zu wenig und der Deklamazion zu viel, ist die Flokke zu zart, und das Gewebe zu lang, ist das Ganze zu sehr Bild und Beschreibung.374
Die Textur des Dramas und ihre in der Aufführung realisierte Umsetzung scheinen sich also zu widersprechen. Die Problematik liegt darin, dass die eigentlich angestrebte Technik, die Herstellung eines fließenden Stroms zwischen Wörtern und Musik, in der performativen Realisierung letztlich nicht umsetzbar ist. Immer wieder wird beklagt, dass die Handlung der Akteure in jenem Moment unterbrochen werde, in welchem die Musik einsetze und 369 Zumbusch, Proserpina vs. Pygmalion, 138. 370 In: Rheinische Beiträge zur Gelehrsamkeit, Bd. 1, Heft 3, Mannheim: Hof- und Akad. Buchh. 1780, 264. 371 „[D]eklamiren, schreien, weinen, jammern, zürnen, beten, fluchen, verzweifeln, und am Ende sich umbringen lassen“, ebd., 262; bzw. „Kränkelndes Seufzen, ohnmächtiges Schmachten, zärtliches Abbleicheln, und Mädchenthränen, und Weiberwuth, und verlaßnes Ausleiden in Wüsten, und Haarausraufen mischten sich untereinander“, in: Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur, Jg. 2, Bd. 1, München: Strobl 1780, 430. 372 „Ein andrer würde diese Begebenheit für sehr alltäglich halten, und verlegen seyn, wie er die Sache ankleiden müsse, damit er nicht etwas sage, das schon 10000000000000000000000000 0000000 und 800000000049814 mal auf allen Theatern begeigt, betanzt, besungen, belacht, beliebäugelt, beseufzt, und bemordet worden ist.“ Baierische Beyträge, 432. 373 Ebd., 431. 374 In: Dramaturgische Blätter, 18 f.
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die Schauspielerinnen und Schauspieler vor große Probleme gestellt würden, da sie überfordert seien, die entstandenen Redelücken auszufüllen.375 Theoretisch sollten an diesen Stellen die mimischen und gestischen Zeichen abhelfen, doch stellt sich auch dabei das Problem der Unnatürlichkeit, da man aufgefordert war, mit Gebärden etwas darzustellen, das man doch eigentlich bereits gesagt hatte.376 Ohnehin entsteht in der Ausführung des Melodramas eine gewisse „Mißhelligkeit“, wie Eberhard es ausdrückt, da Sprache und Musik zu unterschiedliche Medien mit zu unterschiedlichen Graden der Lebhaftigkeit sind, die wohl kaum einen „ununterscheidbaren Eindruck“ hinterlassen, oder sich gar miteinander „verschmelzen“ können.377 Die unterschiedliche Wirkung der Medien verweist somit auf eine Art semiotische Sackgasse, die mit den vorherrschenden ästhetischen Prämissen kaum zu lösen war: Denn entsprechend des medialen Bruchs zwischen Sprache und Musik erfolgt der Eindruck einer Abfolge einzelner getrennter Bilder, die nacheinander gereiht werden, anstatt fließende Übergänge zu produzieren, wie sie die Ästhetiker forderten.378 Auch Gerstenberg führt dies als Kritikpunkt an, wenn er Deklamation und Musik als zwei „ganz heterogene Dinge“ bezeichnet, denen es „an einem Vereinigungspunkte“ fehle.379 Zudem wird die Stärke des Affekts als Problem benannt, da die einzelnen Empfindungssituationen so schnell und plötzlich aufeinanderfolgen, dass die Rezipienten den Eindruck einer ‚natürlichen‘ Übergänglichkeit vermissen mussten.380 Nicht einmal die Musik kann ihre volle Wirkung entfalten, da sie immer wie-
375 Vgl. Eberhard, Ueber das Melodrama, 3; Johann Gebhard Ehrenreich Maaß: „Melodrama“, in: Nachträge zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste, Bd. 3, 1. Stück, Leipzig: Dykische Buchhandlung 1794, 318–324; hier: 320. 376 Maaß, Melodrama, 322 f. 377 Eberhard, Ueber das Melodrama, 11. 378 „Die Phantasie ließ sich auf den Flügeln des beginnenden Gesanges mit Vergnügen forttragen, und hoffte in einer sanften Bogenlinie, am Ende, wo sich die Schwungkraft der Leidenschaft würde verzehrt haben, sanft niedergelassen zu werden. Statt dessen fühlt sie sich in ihrem Fluge gewaltsam aufgehalten, um nach der senkrechten Linie plötzlich nieder zu fallen.“ Ebd., 18. 379 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: „Schreiben eines Freundes durch den vorstehenden Aufsatz veranlasst“, in: Ders.: Gerstenbergs vermischte Schriften, von ihm selbst gesammelt, Altona: J. F. Hammerich 1816, 382–418; hier: 409. 380 „Ueberdies rükken die Seelenzustände, die man während des Lesens immer trennt, zwischen denen man in der Vorstellung stets einen größern oder kleinern Zeitraum einschiebt, auf dem Theater offenbar zu nah aneinander; mit deutlichern Worten man empfindet zu lebhaft, daß die Uebergänge von einer Situation zur andern so schnell in der Natur, zumal ohne äußere hinzutretende Umstände nicht folgen, daß die Gefüle für den unmittelbaren Zuschauer, dem keine Zwischenzeiten zu denken erlaubt sind, zu plötzlich wechseln, die Entschlüsse sich zu schleunig verändern, daß Alles gedacht und erfunden, Alles Plan und Studium, Alles Spiel ist.“ Dramaturgische Blätter, 19.
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der von der Rede unterbrochen wird.381 „Der Versuch diese, in den Graden der Sinnlichkeit so sehr verschiedenen Mittel zu vereinigen muß verunglücken“382, lautet Eberhards Fazit. Das in seiner Anfangszeit durchaus effektvolle und mit Enthusiasmus aufgenommene Projekt des Melodramas hatte sich in den Augen einiger Kritiker abgenutzt, wurde in seiner ästhetischen Wirkkraft als gescheitert erklärt und driftete vor allem in die Sphären des Populären ab.383 Die „mißliche Gattung“ des Melodramas, bei dem „Töne die Worte, Worte die Töne, als unvereinbar mit einander, jagen“384 war ausgerechnet von ihren ursprünglichen Förderern als Un-Gattung in Verruf geraten. Dabei wendet sich die Kritik sowohl gegen theoretische, semiotische Ansätze als auch gegen wirkungsästhetische – keine der Seiten scheint mit dem Projekt jenseits ihrer ‚Vorzeigestücke‘, vor allem Pygmalion und Ariadne, wirklich zufrieden. Dem „Krescendo einer Leidenschaft“, wie es im Melodrama zur Geltung kommen sollte, widerfährt somit ein mehrteiliges Schicksal: Einerseits werden die ästhetischen Forderungen als nicht eingelöst empfunden, und dem Melodrama wird damit eine Absage erteilt, wie bereits veranschaulicht. Andererseits verleiten die als übertrieben empfundenen Stücke zu Parodien, die die ohnehin zur Übertreibung neigenden Strukturen zu Transgressionen bringen.385 Zudem führt gerade die Kritik an der praktischen Ausführung der Stücke dazu, die strömenden Empfindungen, die im Melodrama so bedrängend auf die Rezipienten einwirken, wieder zunehmend einzugrenzen. Von dem Melodrama geradezu gegenteiligen Tendenzen zeugen somit die klassischen Dramen, die seit Ende der 1770er Jahre auf die Bühne kommen.386 Allein der unantastbare Stellenwert der Sprache in Schillers oder Goethes Dramen, welcher eine große Handlungsmacht eingeräumt wird, zeugt davon.387 Nicht zuletzt führen die Praktiken der Eingrenzung auch zurück zu Schillers Abneigung gegen das „lärmende Allegro“, das er in seiner Schrift Über das gegenwärtige teutsche Theater verurteilt hatte (vgl. Kap. III.3). Seine Position, innerhalb der Rezeption eine außenstehende Beobachtungshaltung einzunehmen, die sich nicht von Empfindungen und Effekten übermannen lässt, verstärkt sich dabei zusehends in seinen Schriften. Denn die schwankenden Empfindungen machen eine „Fassung des Gemüts“ vermittels 381 „Ein schönes Thema hebt an, die Seele überläßt sich dem Vergnügen, ihm nachzugehen, und gleich bei den ersten Schritten wird es abgebrochen“, Eberhard, Ueber das Melodrama, 16. 382 Ebd., 10. 383 So urteilt Eberhard abfällig: „Allein was beweiset das Händeklatschen der Menge?“ Ebd., 2. 384 Herder, Händel, 542. 385 Vgl. Schimpf, Lyrisches Theater, 62; sowie den Epilog dieser Arbeit. 386 Vgl. Schimpf, Lyrisches Theater, 189. 387 Dabei wird mitunter auch die Entregelung der Sprache rückgängig gemacht, so dass Goethe seine Iphigenie nach der ersten Prosafassung (1779) in eine Versfassung (1786) ‚umschmilzt‘.
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vernünftig-moralischer Instanzen erforderlich, bei der „der Sinnlichkeit ihre vollen Rechte“ eingeräumt wird, jedoch ohne „von ihr unterjocht [zu] werden“.388 Wenn hingegen beim Publikum „alle Symptome der Berauschung“ beobachtbar wurden, so war klar, dass es keinen „moralische[n] Widerstand“ leisten konnte, also in Affektationen verharrte und keine ästhetisch-wahren, erhabenen Gefühle entwickeln konnte.389 Diese Aussagen sind nicht nur klare Absagen an die ‚weinerlichen Rührstücke’, die nach wie vor sehr zahlreich waren, sondern indirekt auch an solche Aufführungsformen wie das Melodrama, insofern diese ja die gezielte Überflutung und Berauschung zum wesentlichen Element ihrer Stücke und zugleich ihrer Wirkungsästhetik machten – eine solche Form der Darstellung steht Schillers Konzeption also diametral entgegen. An seine Positionen angelehnt entwirft Christian Gottfried Körner 1795 ein verändertes Wirkungsverständnis von Musik: Sie solle nicht bloß „angenehme Kunst“ sein, sondern einen „unabhängigen, selbständigen Werth“ erhalten.390 Um diesen zu gewährleisten, könnten sowohl die bloße nachahmende Funktion der Musik, die „Nachäffung alles Hörbaren, vom Rollen des Donners bis zum Krähen des Hahns“391, als auch der reine Ausdruck der Empfindung nicht ausreichen; es muss kaum erwähnt werden, dass gerade hierin zentrale Effektmittel der melodramatischen Musikbegleitung lagen. Denn während die Darstellung der Gemütsbewegungen flüchtig sei, bedürfe es einer statischen Position, „irgend etwas Beharrliche[m]“, das vermittelnd in den Darstellungsprozess eingreifen würde, beispielsweise „ein gewisses Ebenmaas in der Art der Fortschreitung“, das das Flüchtige auf Dauer stellen konnte.392 Körner plädiert so dafür, einen idealisierten Gegenstand „in einer Anschauung dar[zu]stellen“393 und bestimmt damit die außenstehende Beobachtungshaltung Schillers zur maßgeblichen Voraussetzung musikalischer Künste. Auch hier zeichnet sich ein Gegenkonzept zu Prozessen der Einfühlung oder subjektiven Versinnlichung des Stoffs ab, sowie zum endlosen Berauschen und Überfluten und dem Einsatz überwältigender Crescendi, wie sie ja gerade die Gattungsmodelle des Melodramas vorgeführt hatten. Doch ganz abgesehen von diesen theoretischen Überlegungen, die letztlich in neue Darstellungsformen und Gattungsausprägungen mündeten, finden sich auch innerhalb der melodramatischen Projekte Stücke, die wie 388 Friedrich Schiller: „Über das Pathetische“, in: Ders.: Theoretische Schriften, hg. R.-P. Janz, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2008, 423–451; hier: 423 f. 389 Ebd., 423; 428. 390 Christian Gottfried Körner: „Über die Charakterdarstellung in der Musik“, in: Ders.: Ästhetische Ansichten. Ausgewählte Aufsätze, hg. J. P. Bauke, Marbach: Schiller-Nationalmuseum 1964, 24–47; hier: 24. 391 Ebd., 25. 392 Ebd., 26; 46. 393 Ebd., 27.
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eine Reaktion auf das problematische Misch-Spiel von Musik und Sprache anmuten. Goethes Proserpina (ca. 1777) soll dafür abschließend als Beispiel dienen.394 Zunächst erscheint das Stück noch in der herkömmlichen Benda’schen Tradition, wenn der Schauplatz in eine „öde felsigte Gegend“395 verlegt ist. Zeitgenossen wussten, dass damit die Unterwelt gemeint war, in die Pluto Proserpina entführt hatte. Auch in Goethes Melodrama wird der locus terribilis durch den Einbruch der Erinnerung einem locus amoenus gegenübergestellt, wobei die Distanz dieser Orte durch vektorale Verweise von ‚unten‘ und ‚oben‘ zusätzlich verstärkt wird: Während ‚oben‘ die Idylle herrschte, so befindet sich Proserpina nun ‚unten‘ in „rauhen Wüsten“ (65). Wie Cornelia Zumbusch auf einleuchtende Weise dargestellt hat, folgt das Melodrama dabei – und ganz im Gegensatz zur Rousseau’schen oder Benda’schen Tradition – einer „Logik des Bildlichen“396. Die Differenz der loci wird nur mehr über Blickrichtungen verhandelt, nicht über performative, physische Bewegung oder psychologische Entwicklungen.397 Nicht das Strömen und „Krescendo“ der Leidenschaften wird hier handlungsleitend inszeniert: Die Seelenschilderungen erfolgen in der Art des Diderot’schen tableau vivant, einer „Stillstellung“398 des Bewegten im Bild. Der Auftritt Proserpinas erfolgt, so beschreibt ihn Goethe später, dann auch ganz im Modus des Innehaltens und Überblickens: „[E]rmattet vom Umherirren in der wüsten Öde des Orkus hält sie ihren Fuß an, den Zustand zu übersehen, in dem sie sich
394 Trotz der nachträglichen parodistischen Einfügung in seine „dramatische Grille“ Triumph der Empfindsamkeit (1778), welche einen Abgesang auf den Gefühlskult in Goethes Zeit darstellt, ist das Melodrama unabhängig entstanden (und auch aufgeführt worden) und kann, wie Goethe selbst später betonte, als Werk von eigenständigem literarischen Wert betrachtet werden. Vgl. den Stellenkommentar in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Dramen 1776–1790, Bd. 5, Abt. 1, hg. D. Borchmeyer, Mitarb. P. Huber, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1988, 948–950. 395 Johann Wolfgang von Goethe: „Proserpina. Ein Monodrama“, in: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher, Bd. 5, Abt. 1: Dramen 1776–1790, hg. D. Borchmeyer, Mitarb. P. Huber, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1988, 63–68; hier: 65. Die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Ausgabe. Betrachtet man hingegen die ausführlichen Beschreibungen Goethes in seinem sog. Proserpina-Aufsatz, der eine Ausrichtung der Kulisse an der Ruinen- und Landschaftsmalerei Gaspard Poussins empfahl, so ist klar, dass die Ödnis des Melodrams nur noch als Substrat einer längst überholten Melodramen-Szenerie erscheint. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: „Proserpina. Melodram von Goethe, Musik von Eberwein [1815]“ [= Proserpina-Aufsatz], in: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 19, Abt. 1: Ästhetische Schriften 1806–1815, hg. F. Apel, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, 707–715; hier: 709 f.; 714. Der Aufsatz erschien in Zusammenhang mit der Wiederaufnahme des Stücks mit neuer Vertonung durch Carl Eberwein. 396 Zumbusch, Proserpina vs. Pygmalion, 127. 397 Ebd., 126. 398 Ebd., 131.
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befindet.“399 Überblickt wird somit nicht allein die Landschaft des Orkus, sondern gleichermaßen Proserpinas inneres Gefühlsleben – was erneut dem immerzu strömenden Crescendo in den herkömmlichen Melodramen letztlich entgegengesetzt ist. Im Paradigma des tableau vivant werden zu Beginn gleich mehrere Bilder aufgerufen. Denn das als raptus-Szene400 inszenierte ‚Wegreißen‘ Proserpinas hat nicht nur den Transfer in den locus terribilis zur Folge, auch ‚oben‘ produziert der Raub der Proserpina Chaos: Hatte diese zunächst noch in einer idyllischen Szene mit ihren Gespielinnen Kränze gewunden und an ihre Geliebten gedacht, so sind die Figuren dieses friedlichen tableau vivant nun „zerstreut“401 – Proserpina wurde also nicht nur von Pluto „[h]eruntergerissen“ (65), sondern auch aus dem Bild ‚herausgerissen‘. Übrig bleiben nur die Mädchen, die sich – einem tableau unwürdig – nun die Haare raufen und klagen (66). Folgt man der Logik von Diderots tableaux vivants im Theater, so ist es das Ziel, das Zerstreute wieder zusammenzuführen, um am Ende sich in neuer Einheit zu gruppieren und diese Einheit abzuschließen. Und eben dieser Prozess vollzieht sich nun in der Proserpina, wenn auch verlagert in einen neuen Ort. Zunächst zeichnet sich die in den Orkus transferierte Proserpina durch Orientierungslosigkeit aus, denn im ‚Unten‘ folgt man veränderten Bewegungsrichtungen: Der Ort ist geprägt von einem Hin und Her, einem Herumirren und Umherwandeln, Bewegungsrichtungen also, die sich einer Einfassung durch das Tableau zunächst entziehen. Zwar besteht zu Beginn Proserpinas Hoffnung auf Rettung, indem ihr Vater sie „wieder aufwärts heben“ (67) würde und sie so in ihre gewohnten Bewegungsmuster zurückgeholt werden könnte. Doch wird diese Hoffnung schnell getilgt: Denn dem Mythos zufolge wird Proserpina auf die Probe gestellt, ob sie der (sexuellen) Versuchung widerstehen kann, sinnbildlich übersetzt in die Versuchung, von einem Granatapfelbaum zu kosten. Dieser Versuchung erliegt Proserpina auch in Goethes Version des Sündenfalls.402 Die Aneignung dieser Szene bei Goethe beschreibt dieser nachträglich erneut als eine Verführungsszene des Blicks: „Ihr erheiterter Blick entdeckt zuerst die Spuren einer höhern Vegetation. Die Erscheinung ihrer Lieblingsfrucht, ein Granat-Baum, versetzt ihren Geist wieder in jene glücklichen Regionen der Oberwelt, die sie ver399 Goethe, Proserpina-Aufsatz, 708. 400 Vgl. Vogel, Raptus. 401 „O Mädchen! Mädchen! die ihr einsam nun, zerstreut an jenen Quellen schleicht, die Blumen auflest, die ich, ach! Entführte! aus meinem Schoß fallen ließ, ihr steht und seht mir nach wohin ich verschwand.“ Goethe, Proserpina, 65. Dass dieser Moment zugleich als Deflorationsszene inszeniert ist, ist offensichtlich. 402 Bei Goethe schreibt sich die christliche Sündenfallmetaphorik auch ein, wenn Proserpina in den Granat-Apfel beißt. Zumbusch, Proserpina vs. Pygmalion, 124.
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lassen.“403 Im auf diesen Blick folgenden sündhaften Genießen der Frucht wird Proserpina schlagartig klar, dass sie mit dieser Tat sich dem Orkus verschrieben hat: Sie „fühlt die plötzliche Entscheidung in ihrem Innersten.“404 Der anschließenden Darstellung des Inneren folgt einmal mehr ein melodramatisches Zitat in Benda’scher Manier, wenn sich nun die Szenerie in eine Naturgewalt transformiert und Proserpina beobachtet: „Ihr Felsen scheint hier schröcklicher herabzuwinken! mich fester zu umfassen! Ihr Wolken tiefer mich zu drücken! Im fernen Schoße des Abgrunds dumpfe Gewitter tosend sich erzeugen! Und ihr weiten Reiche der Parzen mir zuzurufen: Du bist unser!“ (68) Auffälligerweise führt diese Gewalt aber in der Proserpina nicht dazu, dass die elementare Schallmacht den Sprachraum übernimmt.405 In Goethes Melodrama sind die Sprach- und Musikräume fast durchgängig getrennt: Die berauschenden, überflutenden Schallmächte sind eingedämmt, sie bleiben innerhalb ihres Raums in „nahen und fernen Begrenzungen“406. Die Musik „begleitet“407 die Sprache und ordnet sich ihr unter. Die Parzen treten im Schlussbild so auch als explizit musikalischer Chor auf, die singend ihrer neuen Königin huldigen und in diesem Festakt zugleich ihren Gesang legitimieren und motivieren.408 Während also die Melodramen in Benda’scher Tradition kaum Möglichkeiten zum Schlusstableau boten, da die Reduktion des Bühnenpersonals ohnehin Teil des melodramatischen Prinzips war,409 so wird Proserpina „durch ein Tableau geschlossen“410, indem die Protagonistin in ein neues ‚lebendiges Bild‘ der Unterwelt überführt und eingruppiert wird. Auf diese Weise beschreibt auch Goethe die Stillstellung innerhalb des tableau 403 Goethe, Proserpina-Aufsatz, 708. 404 Ebd. 405 Vgl. Karl Siegmund von Seckendorf: Proserpina/ ein Monodrama in einem Aufzuge/ Von/ Herrn/ Geheimen Leg.Rath Göthe/ in Musik gesezt/ von/ Siegmund Freyherrn von Seckendorff./ Weimar 1777, Ms. ca. 1777, Mus.ms. 1013, handschr. pag. Digitalisiert v. d. Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt [Partitur], 26 f. Wenn Proserpina ‚unter Musik spricht‘, so tut sie das zumeist in einem Arioso, womit sie also explizit in den Bereich der Musik übergeht. Das Reden unter Musik geschieht insgesamt an nur sehr wenigen Stellen im Melodrama, beispielsweise im Moment, als Proserpina die Frucht gekostet hat (26a). Die Vermischung des Sprach- und Musikraums verweist also auf einen besonders gefühlsintensiven Augenblick, ist dabei aber immer nur momentan und wird durch die eigenmächtige Sprache wieder eingeholt. 406 Goethe, Proserpina-Aufsatz, 711. 407 Ebd., 709. 408 Tina Hartmann hat im Auftritt der Parzen als Chor zudem eine Anlehnung an Glucks Choroper gesehen und damit die „Tendenz zur Gattungsmischung“ für das Stück bestärkt. Tina Hartmann: Goethes Musiktheater. Singspiele, Opern, Festspiele, ‚Faust‘, Tübingen: Niemeyer 2004, 99. 409 Hiervon müsste man Goez’ Lenardo und Blandine ausnehmen. Goez hatte 160 Stiche angefertigt, die ihm als Anreiz zur Entstehung des Melodramas dienten, weshalb es von vornherein durch ein Primat des Visuellen geprägt war. So endet sein Stück auch in einer Art Tableau. 410 Goethe, Proserpina-Aufsatz, 709.
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vivant in seinem Proserpina-Aufsatz von 1815: Proserpina sei „erstarrt zum Gemälde, […] als Teil des Bildes.“411 Die Tatsache also, dass in Goethes Proserpina keine Überflutungen und keine eskalativen Szenarien Überhand nehmen, macht es zu einem Gegenstück zu den herkömmlichen Melodramen. Goethe sucht hier einen Weg, um der Maßlosigkeit, in die die musikalische Gewalt, aber auch die strömenden Empfindungen kippen konnten, mit visuellen Mitteln Einhalt zu bieten. Das Melodrama gehorcht damit dem Prinzip „weiser Sparsamkeit“412: So ist auch das tumultöse Ton-Meer zum flächigen „See“ geworden, der die Sprache trägt. Der Schallhorizont Bendas ist zur „günstige[n] Luft“ gemildert, die das Segel lenkt: Die Musik „gehorcht“ der Sprache.413
3.5 Transformationen der Gradatio V: Transgression im Crescendo Innerhalb der Transformation der Gradatio in ein Crescendo, wie sie hier dargestellt wurde, erfährt die Figur des Maßhaltens, die der Ordnung des Seelenlebens gedient hatte, eine zunehmende Entgrenzung. Die Gradation tritt insofern über ihre semiotischen Grenzen hinaus, als sie in Form des Crescendo auf sämtlichen medialen Ebenen flutende Bewegungen zur Darstellung bringt. Sie ist deshalb mehr gekennzeichnet durch Transgression denn durch Einschränkung und Maßhaltung. Michel Delon beobachtet demgemäß bei Autoren wie Sade oder Mirabeau die zunehmend exzessive Verwendung gradationaler Strukturen am Ende des 18. Jahrhunderts: „La gradation s’inscrit dans une logique de l’excès et devient transgression“414 – die gradationalen Strukturen überschlagen sich und kippen dabei in ihr (oft unmoralisches) Gegenteil. Diesen Tendenzen konträr entwickeln sich auch immer wieder Techniken der Eingrenzung und Differenzsetzung als Gegenbewegung zur exzesshaften Steigerung, wie sie zuletzt dargestellt wurden. Die Darstellung von Emotionen, Bewegungsformen und zeitlichen Abläufen bleibt ein konstruktartiges Gebilde, welches vexierbildähnlich, im dynamischen Fluss wie im Heraustreten aus dem Fluss beschrieben werden kann: Das so enstehende diskursive und kulturelle Wechselspiel innerhalb der Beschreibungsformen ließe sich bis in die heutige Zeit fortschreiben.
411 Ebd., 712. Vgl. Zumbusch, Proserpina vs. Pygmalion, 128. 412 Goethe, Proserpina-Aufsatz, 711. 413 „Nunmehr ist es Zeit, der Musik zu gedenken, welche hier ganze eigentlich als der See anzusehen ist, worauf jener künstlerisch geschmückte Nachen getragen wird, als die günstigere Luft, welche die Segel gelind, aber genugsam erfüllt und der steuernden Schifferin bei allen Bewegungen nach jeder Richtung willig gehorcht.“ Goethe, Proserpina-Aufsatz, 711. 414 Delon, L’idee de la gradation, 116.
V Epilog
V Epilog: Don Crescendo. Karikaturen einer ‚Erfolgsfigur‘ des 18. Jahrhunderts Im 19. Jahrhundert verwenden mehrere Komödien und komische Opern das Crescendo motivisch oder sogar als Personal. Dass man hierbei kaum noch von gradational-empfindsamen Maßfiguren sprechen kann, wird allein daran offensichtlich, wenn man bedenkt, dass das Crescendo nun im Rahmen komödiantischer und populärer Gattungen (re‑)importiert wird. Diente dieser Rahmen den empfindsamen Dramen von Marivaux und Gellert noch der Ermöglichung einer Ausweitung der Empfindungsskalen, die aber immer der „balance“ und „bienséance“ entsprachen, so sind die crescendo-artigen Dynamiken nunmehr Figuren der Eskalation. Hier wird der Wandel gradationaler Strukturen also besonders deutlich, den Michel Delon bezogen auf die französische Literatur am Ende des 18. und im Übergang zum 19. Jahrhundert mit den Worten umschrieben hat: die Texte „réduisent la gradation à sa caricature“1. So wird beispielsweise in der komischen Oper Le Crescendo von Luigi Cherubini (Libretto von Charles-Augustine de Bassompierre de Sewrin), die 1810 an der Opéra-Comique in Paris uraufgeführt wurde, das Crescendo nicht mehr als Ausdruck einer ansteigenden Empfindungsfigur eingesetzt, sondern als Effekt-Figur, die insbesondere zum Ziel hat, Lärm2 zu produzieren und Sensationslust zu befriedigen. In dieser Oper zeichnet sich das Hauptpersonal, der Maggiore Frankenstein, durch eine große Empfindlichkeit vor Krach aus. Gleich in seiner ersten Arie wird klar, wie sehr er den Tumult verabscheut, denn obwohl er sich bereits aufs Land begeben hat, nistet sich der Lärm, selbst das Säuseln des Winds, in seiner Seele ein, zerreißt ihm das Gehirn, zernagt ihm die Eingeweide und lässt ihn verrückt werden: „pam! pam! pam! pam! pam! pam!/ Il sibilo del vento/ s’annida dentro il cor,/ mi lacera il cervello,/ mi rode le budella,/ pazzo mi fa,/ senza pietà!“3 Nun möchte der Maggiore Frankenstein gerne Sofia, die Nichte des Kapitäns Bloum heiraten, ganz zum Missfallen des jungen Offiziers und Neffen Frankensteins, Alonso, der sich Sofia 1 2 3
Delon, L’idée de la gradation, 117. „Der Lärm“ lautet auch die deutsche Übersetzung des Stücks. Luigi Cherubini: Il Crescendo. Opera comica in un atto di Sewrin, imitata dall’italiano, Trad. e adatt. italiano Giulio Confalonieri, Siena: Accademia Musicale Chigiana 1954, 9. Zu der ursprünglich französischen Version des Stücks hatte ich leider keinen Zugang.
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bereits selbst als Braut ausgesucht hatte. Der Plan ist einfach: Während Sofia sich zunächst stumm stellt, fängt sie an, sobald der Notar den ehelichen Vertrag zwischen ihr und dem Maggiore Frankenstein geschlossen hat, von ihren lautstarken Hobbys zu sprechen und in eine zunehmende Flut von Wörtern zu verfallen. Nun wird das eigentliche Crescendo aufgefahren: Sofia organisiert gegen den Willen des Maggiore ein großes Hochzeitsfest, bei der ein immer größerer Bauernchor, Orchesterfanfaren, große Trommeln, Alarmglocken – sprich – sämtlicher Krach auf die Bühne gebracht wird, was Sofia zusätzlich mit Gesang anfeuert: „Più forte, più forte!/ Viva, gioia, viva, gioia!“4. Nach diesem lauten tumultösen Auflauf versucht der Maggiore Frankenstein sehr schnell, seine Sofia wieder loszuwerden und tritt sie schließlich an seinen Neffen Alfonso ab,5 womit das lieto fine besiegelt wird. Der Einsatz des Crescendo dient hier also dem Durchsetzen einer von vornherein bevorzugten Liaison (das junge Paar Sofia-Alfonso), wobei die Idee, den alten Major mithilfe eines massiven, lautstarken (Volks‑)Aufstands abzusetzen, zu dieser Zeit stark an die aufständischen Menschenmengen der Revolution und ihrer Festlichkeiten erinnern musste. Diesbezüglich ist interessant, dass das musikalische Crescendo in musikhistorischer und ‑technischer Sicht gerade in der Revolutionsmusik weiterentwickelt wurde und sich in Formen der Entladung und Explosion dort in immer weiter ausufernden Steigerungen realisierte.6 Als Dramenpersonal tritt „Monsieur Crescendo“ gleich in zwei Stücken auf, in der Komödie Le Patagon (1775) von Luis Carmontelle7 sowie in der Komödie Une visite a Bedlam (1818). In beiden Stücken stellt die Figur einen Musiker dar. Doch sind die über 40 Jahre, die zwischen den Komödien liegen, durchaus charakteristisch für die unterschiedliche Behandlung des Crescendo-Motivs: Während Monsieur Crescendo im Le Patagon als durchaus ernstzunehmende Figur noch den Vorzug der Musik gegenüber der Dichtkunst, personifiziert durch Monsieur Charmé, behaupten möchte, so ist er in Une visite a Bedlam als virtuoser italienischer Gesangslehrer zur affektierten Witzfigur einer veralteten Kunst geworden, der nur mehr seiner „anciennes fonctions“ wegen erinnert wird, dessen Gesang man als „très-amusant“ beurteilt und der belacht und bedauert wird.8
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Ebd., 58. „Maggiore: Oh Dio, che diluvio di parola… per carità, Alfonso, sposamela tu, fammi questo piacere…“, ebd., 67. Boernhoft, Studien zum Wandel von Crescendoformen, Abschnitt 2. Louis de Carmontelle: „Le Patagon“, in: Ders.: Théâtre de Campagne, Bd. 1, Paris: Ruault 1775, 203–264. Eugène Scribe, Charles-Gaspard Delestre-Poirson: Une visite a Bedlam, Comédie en un acte, mêlée de Vaudevilles, Paris: Hocquet 1818, 16; „Alfred: Ah! ah! ah! j’avoue d’abord que je le plaignais“, ebd., 18.
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Schließlich entsteht 1852 die Oper Don Crescendo des Librettisten Gaspare Pozzesi (Musik: Ermanno Picci, Ettore Fiori), ein ‚Melodramma giocoso‘, das in der Tradition der opera-buffa, der komischen Oper, steht. Auch hier inszeniert sich die Figur des Don Crescendo als Meister der Musik, der mit Schlägen, Tönen, Synkopen, Kadenzen, Kehlen, Instrumenten hantiert, Stimme, Kraft und Ruhm mit sich bringt und mit dieser Gewalt die Nationen und Städte in heftiger Bewegung auf ihren Höhepunkt („orgasmo“9 [!]) führt. Mit der Macht der Musik kann er ganze Völker erschüttern.10 Dabei tritt das personifizierte Crescendo erneut als Figur des Spektakels und des Lärms auf. Wenn er hingegen in der Bühnenbeschreibung als „zoppo“ (hinkend) beschrieben wird, so ist letztlich von vornherein klar, dass dieser Don Crescendo vor allem ein Schaumschläger ist, der von sich selbst reden lassen möchte – „Perchè col publico/ Che c’è al presente/ Se non si strepita/ Non fa niente“11 – , schließlich erreiche man das Publikum heutzutage ohne Geschrei einfach nicht. Zu seinem Spektakel fehlt dem Don allerdings auch eine Sängerin. Der Chor der Stadtbewohner, der Don Crescendo zunächst verlacht, zeigt sich schließlich begeistert von seinem imposanten Auftritt, seiner schwallenden, flutenden Rede („Che profluvio! che diluvio!“12) und möchte ihm auf der Suche nach einer Frau helfen. Doch es finden sich gleich zwei Frauen mit schöner Stimme und damit entfacht zugleich der Streit, welche von ihnen die Primadonna sei – ein offensichtliches Spiel mit sämtlichen Klischees und Zitaten der Oper. Zudem entstehen weitere verwirrende Eifersuchtsszenen und operntypische inganni durch die Figuren Don Marco und Don Carlo, die die Frauen selbst erobern wollen. Alle Figuren sind sich dabei einig: Was zählt, ist, Furore zu machen – „Quella che importa è questo,/ Che facciasi furore“13. Das Stück wird so zur komischen Meta-Oper, die das nach Erfolg heischende Personal, die spektakulären Steigerungen und Intrigen, sowie die Sensationslust des Publikums in ihrer maßlosen Steigerung präsentiert.
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„Io maneggio gli accidenti,/ Tuoni, sincopi e cadenze;/ Alle gole, agli strumenti/ Voce, forza e fama io do./ Cangio in mucchi di dobloni/ Facilmente il re, mi, fa./ E in orgasmo le nazioni/ Pongo io solo, e le città.“ Pozzesi, Don Crescendo, 6. „Io che di musica/ Son gran maestro./ Che sempre fervido,/ Sublime ho l’estro,/ Feci miracoli,/ Feci portenti,/ Talché stupirono/ tutte le genti.“ Pozzesi, Don Crescendo, 7. (Frei von mir übersetzt [J. F.]: ‚Ich bin der große Maestro der Musik, immer glühend, mit erhabenem Schwung, verbringe ich Mirakel und Wunder, so dass alle Menschen erstaunen.‘) An dieser Stelle scheint die Oper geradezu eine Persiflage auf Monteverdis berühmte Allegorie der Musica anzustimmen, werden doch die Worte „Io la musica son/ ch’ha i dolci accenti/ so far tranquillo ogni turbato core“ geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 14.
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In diesen dramatischen Adaptionen des Crescendo wird deutlich, wie sehr sich die gradationalen Strukturen transformiert haben. Die neuen Crescendi sind nun Darstellungsmittel der großen, „emanzipierten Effektszenen“ des 19. Jahrhunderts geworden, die mit „Einschlagskraft“ in „heftigen Schüben“ voranschreiten.14 Als Motiv des Lärms, Furors und Spektakels, das eine breite Masse erstaunen und vereinnahmen sollte, erscheint die Figur zumindest in diesem komödiantischen Umfeld nur mehr als Karikatur einer ‚Erfolgsfigur’.
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Juliane Vogel: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ‚großen Szene‘ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i.Br.: Rombach 2002, 38.
Zusammenfassung Die vorliegende Studie stellt eine Denkform des 18. Jahrhunderts ins Zentrum der Untersuchung: Die Gradation. Ursprünglich eine Ordnungsidee der Naturlehre, die alle Wesen auf einer Leiter nach den Prinzipien der Kontinuität und Fülle anordnet, erfährt sie seit dem 17. Jahrhundert einen maßgeblichen Wandel. Die Vorstellung von Gradation verändert sich, insofern sie zunehmend verfeinert, verdichtet und verzeitlicht dargestellt wird, letzteres ganz im Sinne des durch Leibniz (wieder)eingeführten Ausspruchs natura non facit saltus. Die Gradation wird so zu einer Ordnungsfigur, mit deren Einsatz graduell-intensive Verlaufsformen beschreibbar werden. Der Wandel lässt sich jedoch nicht allein in der Naturlehre beobachten: Auch innerhalb der Rhetorik, ein Bereich, in welchem die Gradation (gr. Klimax) schon in der Antike als polysemantisches Pendant Verwendung findet, verändert sich die Idee der Gradation auf bedeutsame Weise: Die Wiederholungsfigur wandelt sich zunehmend in eine Figur sukzessiver Steigerung. Formen des graduellen Wachstums und der ällmählichen Verminderung beginnen sich in ganz unterschiedlichen Wissensgebieten als zentrale Beschreibungsfiguren zu etablieren: In Medizin und Philosophie werden statische Affekte von graduell changierenden Empfindungswallungen abgelöst, die zur Voraussetzung der Ästhetik als „Wissenschaft der Empfindungen“ werden. Denken, Erkennen und Wahrnehmen sind von nun an durch einen alles durchdringenden Gradualismus bestimmt. In der Literatur wird besonders das Drama zu einem Schauplatz intensiver Steigerungsfiguren. Verlaufsformen und Entwicklungen innerhalb eines Stücks und fein nuancierte Gradationen der Geste werden zu Forderungen in zentralen Schauspielschriften der Zeit – Übergänge zu stiften und Brüche zu nivellieren zu zentralen ästhetischen Operation. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich die Entstehung eines weiteren gradational geprägten Diskurses beobachten: Erstmals werden in der Musik Crescendo- und Diminuendo-Gabeln in den Noten angebracht und auch mithilfe von Neuerungen im Instrumentalbau, beispielsweise angebrachten Schwellwerken an Orgeln, werden dynamische Übergänge ermöglicht. Es entstehen in unterschiedlichen Kontexten Crescendo-Kulturen, die auf Transformationen und Transgressionen der gradationalen Denkform gleichermaßen hindeuten. Die Arbeit kann so als Beitrag verstanden werden, der sich den kulturellen Grundlagen einer Denkform widmet, sowie dessen Wandel im 17. und 18. Jahrhundert nachvollzieht. Mit der Gradation wird
290 Zusammenfassung eine zentrale diskursübergreifende und operative Figur ins Zentrum gerückt, die noch heute als bestimmend für menschliche Denkstrukturen und Darstellungsweisen gelten kann.
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1.6 Abbildungsverzeichnis Frontispiz: Goez, Joseph Franz von: Versuch einer zalreichen Folge leidenschaftlicher Entwürfe für empfindsame Kunst- und Schauspiel-Freunde. Erfunden, gezeichnet, geäzt und mit Anmerkungen begleitet von J. F. von Göz, Augsburg: Akademische Handlung 1783, Kupferstiche Nr. 90; 92–95. Abbildung 1 (S. 3) Bonnet, Charles: Œuvres d’histoire naturelle et de philosophie, Bd. 4/1, Neuchatel: Samuel Fauche 1781, 1. Abbildung 2 und 3 (S. 125f): Engel, Johann Jakob: Ideen zu einer Mimik. Zweiter Teil [= Ideen II] (Faksimile d. Ausg. Berlin 1804), J. J. Engels Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M.: Athenaeum 1971, Kupferstiche Nr. 49 und Nr. 52–55. Abbildung 4 (S. 257): Benda, Georg: Ariadne auf Naxos, zum Gebrauche gesellschaftlicher Theater auf Zwey Violinen, Eine Bratsche und ein Violoncell, Leipzig: Schwickertscher Verlag, k. A. [ca. 1780], dritter Aufzug, 46.
Register 1.1 Namensregister Abert, Hermann 246 Adelung, Johann Christoph 9 Adler, Hans 64 f., 73, 198, 202 Albes, Claudia 195 Algarotti, Francesco 102 Alt, Peter André 155, 166, 170 Aristoteles 1, 5, 26, 37–40, 42 f., 96, 148, 204 Arnheim, Rudolf 197 Auerbach, Erich 14, 41 Avison, Charles 244 Bach, Carl Philipp Emanuel 229, 242 f., 252, 258 Bahrdt, Karl Friedrich 140 Barck, Karl-Heinz 39, 219 Bartel, Dietrich 15, 22, 24, 220, 232 Batteux, Charles 4, 69, 86, 108, 177, 205, 228 Baumann, Carl-Friedrich 100, 103 Baumeister, Xenia 66 f., 69, 82 Baumgarten, Alexander Gottlieb 63–65, 73, 76, 81 Begemann, Christian 29 Behnstedt-Renn, Jan 35, 244 Benda, Georg 258, 261, 266, 269–271, 280, 282 Bernhard, Christoph 79, 138, 220, 241 Bernhardi, August Ferdinand 139, 143 Betzwieser, Thomas 252, 262, 265, 269 Blume, Friedrich 233 Bonnet, Charles 3 f. Bornhoeft, Achim 239, 244, 246 Borst, Johann Nepomuk 16 Böttiger, Karl August 190 f., 193 Bouguer, Pierre 9 Brandes, Heinz 212, 269–271
Brandes, Johann Christian 261, 267, 269–272 Brauneck, Manfred 96, 112 Brunner, Otto 11 Burke, Edmund 27, 67 f. Burmeister, Joachim 220, 232 Burney, Charles 107, 248 Caccini, Giulio 219, 222, 240 Campe, Rüdiger 16, 37, 39, 42, 46, 57, 227 Cannabich, Christian 248, 263, 270, 273 Carmontelle, Louis de 286 Cassirer, Ernst 42, 50, 53 Cherubini, Luigi 285 Condillac, Etienne Bonnot de 6, 60 Coriando, Paola-Ludovica 43, 46 Crébillons fils [Claude Prosper Jolyot Crébillon] 153 Cumberland, Richard 123 Dahlhaus, Carl 216 f., 220, 230 Dalberg, Wolfgang Heribert von 189, 273 D’Alembert, Jean 21 Daniel, Ute 59, 83, 96, 110, 204, 206, 210 f., 239, 248, 251, 264 Davis, Alex 22, 244 Dean, Winton 224 Delestre-Poirson, Charles-Gaspard 286 Deleuze, Gilles 50 Delon, Michel 15, 153, 283, 285 Descartes, René 40, 42–46, 48 f., 51 f., 107, 226, 236 Diderot, Denis 1, 26, 50, 66–71, 73 f., 77 f., 82, 85, 88, 99, 102, 105 f., 109, 111–118, 139 f., 144–148, 150 f., 158, 164, 173, 204, 212, 255, 261, 263, 265, 274, 280
312 Register Diekmann, Annette 5 Dittmann, Lorenz 72, 101 Du Bos, Jean-Baptiste Abbé 69, 204 Eagleton, Terry 61, 63 Eberhard, Johann August 29, 75, 81, 160, 192, 251, 277 E[c]kartshausen, Karl von 9 Eggebrecht, Hans Heinrich 221 f., 230 f., 234 Elias, Norbert 7, 16, 20 Ellwanger, Cécile 60 Engel, Johann Jakob 45, 71, 75, 88, 108, 119, 121 f., 125 f., 139, 143 f., 147, 151 f., 192, 196, 199, 207, 248 Engstler, Achim 48 Ernst, Wolfgang 42, 53, 201 Fahnestock, Jeanne 15, 19 Fink, Thomas 101 Firges, Janine 38, 155, 158 f., 244, 246 Fischer-Lichte, Erika 89 Fontenelle, Bernard le Bovier de 2, 6 Forchert, Arno 219 Forkel, Johann Nikolaus 216, 235–237, 239, 247 Foucault, Michel 8, 11, 16, 63, 70–72, 203 Franke, Heinrich Gottfried Bernhard 138–140 Frantz, Pierre 154 Fried, Michael 74, 90, 105, 146 Geitner, Ursula 34 Gellert, Christian Fürchtegott 153, 158, 161 f., 285 Geminiani, Francesco 235, 242, 244 Gemmeke, Linus 43 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 109, 144, 172 f., 176, 178 f., 185, 211 f., 216, 252, 275, 277 Geulen, Eva 10 Goethe, Johann Wolfgang von 8, 10, 141, 254, 278, 280–283 Goez, Joseph Franz von 61, 140, 251, 262, 266 f., 274 f., 282 Gotter, Friedrich Wilhelm 261, 272 Gottsched, Johann Christoph 25, 32 Graczyk, Annette 106 Gregory, Stephan 83–85 Grimm, Hartmut 39, 85 f.
Gülke, Peter 253 Hagedorn, Volker 222 Haken, Boris von 222 Hammacher, Klaus 40, 44 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich von s. Novalis Harding, Rosamund E. M. 233, 239 Harnack, Erich 168 Hartmann, Tina 282 Heeg, Günther 89, 164, 168 Heinse, Wilhelm 208 Herder, Johann Gottfried 7 f., 11, 17, 19, 36, 56–58, 63, 72 f., 83–85, 93, 139, 144, 148, 173, 176–179, 195, 198, 200 f., 203, 205, 207–209, 212–216, 236 f., 252, 275, 278 Herrmann, Hans-Christian von 35, 81, 89, 95 f., 99 f., 107, 112, 141, 187 Heusinger, Johann Heinrich Gottlieb von 251, 262, 264 Heydenreich, Carl-Heinrich 99 Hill, Aaron 97 Holl, Susanne 111 Home, Henry of Kames 58 Honegger, Claudia 11, 162 Hübsch, Stefan 38 Hutcheson, Francis 67 f. Iffland, August Wilhelm 189–192 Jaeger, Stephan 72 Jakob, Friedrich 241 Jung, Hermann 238 Kallweit, Hilmar 92 Kant, Immanuel 29, 37, 60, 182, 196 f., 201, 203, 252 Kapp, Volker 31 Kernodle, George R. 102 Kircher, Athanasius 222, 227, 232 Kirnberger, Johann Philipp 234 Kittler, Friedrich 13, 227 Klassen, Janina 196, 220 Kleinschmidt, Erich 7–9, 11 f., 14, 17, 21, 29, 49, 51, 72, 78 Kliche, Dieter 61 Klopstock, Friedrich Gottlieb 135, 178, 248 Koch, Heinrich Christoph 231, 247 Köppen, Friedrich 9 Körner, Christian Gottfried 279
1.1 Namensregister
Koschorke, Albrecht 11, 13, 16, 29 f., 34, 39, 41, 49, 58, 71, 76, 83, 100, 119, 143, 158 Koselleck, Reinhart 11, 17 Košenina, Alexander 35, 37, 96, 108 Köster, Heinrich M. G. 265 Kraus, Joseph Martin 224 f., 231, 261 Krause, Christian Gottfried 204, 209, 211 Krones, Hartmut 219 f., 231 Kühn, Ulrich 141, 256, 272 Kummer, Ursula 205, 252 Küster, Ulrike 265 La Harpe, Jean-Françoise de 112 La Mettrie, Julien Offray de 154 Lamy, Bernard 33, 35 Lande, Joel B. 14 Landweer, Hilge 49 Langen, August 10 Lausberg, Heinrich 22 Lavoisier, Antoine-Laurent de 100, 107 Leibniz, Gottfried Wilhelm 5, 9, 27, 37, 49–55, 63–65, 75, 80 f., 101, 145, 158, 200–202, 236, 289 Leinkauf, Thomas 101, 103 Lengefeld, Charlotte Luise Antoinette s. Schiller, Charlotte Luise Antoinette Lengefeld, Sophie Caronline Auguste von s. Wolzogen, Caroline von Lenz, Jakob Michael Reinhold 60, 63, 66, 217 Lepenies, Wolf 8, 11 Lessing, Gotthold Ephraim 5, 73 f., 76–81, 90, 95, 98, 108, 110 f., 133, 139, 143, 147–150, 162 f., 165–167, 169–172, 176, 178–180, 182 f., 192–194, 209, 214, 216, 225, 228, 261 f., 265, 275 Lichtenberg, Georg Christoph 87 Liebert, Andreas 220 f. Locke, John 52–54, 57, 70, 240 Lovejoy, Arthur O. 1 f., 5, 7, 11 f., 14 Lubkoll, Christine 209, 223 Luhmann, Niklas 5, 11, 36, 38, 46 Lütteken, Laurenz 4, 234 f., 243 Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich 277 Marchand, Sophie 154 Marivaux, Pierre Carlet de Chamblain de 144, 153–155, 162, 266, 285
313
Marmontel, Jean-François 152 Marpurg, Friedrich Wilhelm 205 Massenkeil, Günther 240 Mattheson, Johann 204, 221, 226–228, 244 Mazzocchi, Domenico 240 Meier, Georg Friedrich 32, 34, 36, 61, 70 Meierott, Lenz 217 Meißner, August Gottlieb 60, 260 f., 264 Mendelssohn, Moses 5, 74 f., 170 Menke, Christoph 10, 65, 83, 85, 251 Menninghaus, Winfried 79 f. Michels, Ulrich 241 Michelsen, Peter 163, 170, 183 f. Monteverdi, Claudio 212, 218 f., 221 f. Mozart, Leopold 243, 248 Mozart, Wolfgang Amadeus 248 Mülder-Bach, Inka 58, 196 Nagel, Ivan 155, 157, 184 Newmark, Catherine 37–39, 42 f., 46 f., 49 f., 53, 55, 58 Noverre, Jean-Georges 12, 85, 89–93, 103, 105, 107–109, 117, 144, 146, 216, 245 f. Oschmann, Dirk 73, 76 Parnes, Ohad 11 Peres, Constanze 52 Pfister, Manfred 96 Pope, Alexander 1 f., 5 Port, Ulrich 39, 93, 135, 166 Pozzesi, Gaspare 287 Priestley, Joseph 25, 27 f. Puttenham, George 24 Quantz, Johann Joachim 221, 239, 243 Quintilianus, Marcus Fabius 22 f., 34 Ravel, Jeffrey S. 112, 246 Rebejkow, Jean-Christophe 119 Reichardt, Johann Friedrich 243, 247– 249 Rentsch, Ivana 89 Riccoboni, François 109, 111 f., 139, 228 Riedel, Wolfgang 77 Rieve, Renate 54 Rochefoucauld, François de la 32 Roos, Johann F. 265 Rössig, Carl Gottlob 261–264, 266 f.
314 Register Rousseau, Jean-Jacques 139, 170, 202, 206, 208 f., 216, 218, 225, 237, 243, 245, 252–256, 258–261, 266, 280 Sauder, Gerhard 48, 54, 98, 161 Saunders, George 111 Scheibe, Johann Adolph 233, 241 Schenkel, Martin 164, 170, 175 Scherer, Jacques 110, 145, 147 Scherer, Wolfgang 228 Schiller, Friedrich 15, 60, 65, 108, 135, 152, 168, 180–190, 192–194, 204, 279 Schimpf, Wolfgang 215, 251, 253, 257, 261 f., 264–266, 272, 278 Schings, Hans-Jürgen 170 Schink, Johann Friedrich 92 Schleuning, Peter 217 Schlögl, Rudolf 14, 244 Schmidt, Dörte 72, 251, 272 Schneider, Joh. Nikolaus 197, 203 Schneider, Ulrich J. 5, 55 Schönborn, Sibylle 161 f. Schroedter, Stephanie 89 Schubart, Christian Daniel 110, 239, 242, 246, 248 f. Schulze, Johann 192 Schütz, Heinrich 219, 233 Scribe, Eugène 286 Seckendorf, Karl Siegmund von 282 Seidel, Sarah 60 Siegert, Bernhard 79 f. Siegrist, Christoph 172 f. Spinner, Kaspar H. 101 Spinoza, Benedictus de 47–49, 52 Spohr, Louis 246 Stabel, Ralf 90 St. Albine, Rémond de 228 Stalfort, Jutta 41, 57 f. Steinbrink, Bernd 19, 27 Stollberg, Arne 86, 141, 207 Streicher, Andreas 189 f., 243 Stubenrauch, Herbert 108, 184, 189 f.
Sulzer, Johann Georg 33, 35, 40, 56 f., 63, 65, 75, 77, 86, 88, 92, 149, 151, 166, 204, 223, 225, 243 Suter, Robert 14 Thieme, Ulrich 222 Thiemel, Matthias 229, 240, 243 f., 247 Till, Dietmar 30 f., 33 f., 37, 218 Trabant, Jürgen 197, 200 f. Treviranus, Gottfried Reinhold 10 Tripold, Thomas 12 Ueding, Gert 19, 27, 135 Utz, Peter 196 Vedder, Ulrike 11 Vogel, Juliane 15, 38, 83, 115, 145, 148 f., 151, 155, 158–160, 164, 168, 178, 180, 198, 214, 229, 253 f., 265, 267, 281, 288 Waeber, Jacqueline 254, 256–258, 260 f., 265 f., 269 Walther, Johann Gottfried 221 Warning, Rainer 154, 156 Warta, Simone 177 Webb, Daniel 59, 72, 206, 210 f., 216, 236, 264 Wegmann, Nikolaus 55, 75, 158, 160 f. Weiss, Philipp 101 Wellbery, David E. 71 f., 82 Whately, Richard 28 f. Wicke, Peter 201 Wiegmann, Hermann 37, 40 Wilczek, Markus 80, 83 f., 203 Willer, Stefan 11, 72 Wilson, Thomas 24 Winter, Peter von 15, 38, 50, 263, 266 Wolff, Christian 49, 58, 66, 71, 76, 81, 236 Wolff, Pius Alexander 140 Wolters, Klaus 241 Wulf, Christoph 197 Zaslaw, Neal 245 Zeuch, Ulrike 56 Zumbusch, Cornelia 33, 38, 60, 254 f., 259 f., 276, 280 f., 283
1.2 Sachregister
315
1.2 Sachregister Absorption 105, 114, 180, 192, 194, 247 acoustic turn 199 actio 34, 39 Admiration 44, 46 affectus 38, 40, 43, 222 Affekt 21, 30 f., 33, 35–40, 42 f., 46–50, 53–55, 58, 60, 86, 90, 138, 193, 204, 207, 211, 213, 219, 222–225, 230, 238, 240, 249, 264 f. Affektkatalog 43, 46 f. Affektkontrolle 39, 90, 223 f. Affekt-Rhetorik 30 f., 36, 86, 138 Affektwandel 19 afficere 38 agitation 44, 107, 116, 118, 255 f. Ähnlichkeit 71 Akkumulation 200, 266 Akustik 70, 135, 272 aliquid stat pro aliquo 71 Allmählichkeit 95, 165 amour naissante 155, 157, 159, 161 f. Anadiplose 22 Anthropologie 32, 35, 37, 56, 60 f., 64 f., 96, 196 f. Antiklimax 25, 237 Aposiopese 160 apperception 51 f. appetitus 43, 50 aptum 138 ars-Rhetorik 30 f. Assoziation 48 Ästhetik 1, 14, 57, 61–65, 75, 81, 88, 168, 190, 195 f., 207, 249, 289 Ausdifferenzierung 11, 35, 47, 109, 158 Ausdruck 35, 69, 74, 82–84, 86, 88, 91, 98, 133, 135, 139 f., 160, 165, 182, 188, 191, 207, 214, 230 f., 233, 236, 244, 247, 253, 258, 263, 266, 271, 279, 285 auxesis/amplificatio 23 f. balance 118, 285 Ballet d’Action/Ballet du Cour 89 Ballett 85, 89, 103–105 beau 66–70, 73, 102 Beredsamkeit 31, 37, 140 Beschreibungsform 13, 59, 193
Beweglichkeit 7, 17, 72, 139 bienséance 153, 285 Bildmisstrauen 133 Bühne 94, 99 f., 103, 106, 108 f., 111, 113, 186, 188, 190, 257, 268 f., 276, 286 chiaroscuro, clair-obscur 100–103 confusa idea 48 f. continuité 6, 51, 145 Crescendo 14 f., 135, 141, 166, 178, 184, 193, 195, 198, 206, 215–218, 233, 235, 238–240, 242, 244–249, 251, 253 f., 263, 269 f., 273 f., 281, 283, 285–289 DaCapo-Arie 213, 223 f. Decrescendo 105, 240, 242, 244 Degradation 105, 172 degré, degree 9, 53, 59, 69, 112, 154, 253 Deklamation 96, 135, 138, 140, 191, 215, 251, 264, 277 Denkform 1, 4, 12, 15 f., 20 f., 93–95, 102, 155, 218, 249, 253, 289 dénouement 106, 148, 151 Differentialrechnung 9 Differenz 108, 171, 210, 280 diffus 197 Diminuendo 141, 174, 206, 233, 239, 242, 248, 263, 289 diminuer 60 Diskontinuität 79, 81 diskret 11 Diskurstheorie 12 Dispositiv 275 distinguer 42, 44, 200 Disziplinierung 111, 119, 246 doctrine classique 145, 147 drame bourgeois 143 Dynamik 26, 138, 178, 183, 189, 193, 206, 233 f., 236, 239 f., 242, 244, 247, 250 Dynamisierung 90, 93, 96, 105, 116, 173, 238 Einbildungskraft 29, 76–78, 80–82, 111, 133, 143 f., 160, 205, 230, 256 Einheiten, drei 118 Ekel 79 f., 176, 205 elocutio 24, 32, 221
316 Register eloquentia cordis/eloquentia corporis 34, 106 Emotion 20, 30, 33, 38, 44, 46, 49, 60, 143 f., 158 f., 274 f. Emotionssystematik 38 Empfindsamkeit 48, 54 f., 75, 98, 154, 156, 158, 160 f., 242 f., 280 Empfindung 40, 56, 61, 64, 66, 86, 93, 115, 117, 162, 178 f., 182, 188, 202, 211, 214 f., 236 Energie, energeia 10, 78, 83 f. Entgrenzung 29, 283 Entregelung 160, 213, 278 enumeratio 39, 43, 45, 56 Epigenesis 1 Erkennen, das 56 f., 70, 289 Eskalation 266, 285 Evolution 1, 16 expression 73, 82, 90–92, 139, 204, 255, 257 Falte, die 50, 80 Farbenlehre 9 feeling 27, 58, 97 f. Feuer 10, 33–35, 82, 88, 158, 246 Figur, figura 14 rhetorische 238 rhetorisch-musikalische 232 figurae sententiae/figurae verborum 27 fluide universel 10, 41 Fluidum 10 Fortschreitung 7, 233, 235, 279 Fülle 2, 147, 169, 289 fundus animae 46, 52, 57, 65, 114, 204 Gedankengang 22 Gedankenstrich 159 Gefühl 28, 41, 49, 57 f., 236 Gefühlskult 280 Gemütszustand 160, 164, 166 Genieästhetik 29, 234 Geometrie 6, 219 Gestik 88, 90, 93, 96, 107, 141, 183, 191 Gift 165, 168, 172, 174 f., 187 Grad, gradieren, gradus 1, 9, 21, 24, 143 f., 159 Gradation 1, 4, 6, 9, 12, 14, 16 f., 20 f., 23–26, 28, 30, 37, 59, 80 f., 94 f., 99 f., 133, 138 f., 142, 144, 148, 152 f., 155, 161 f., 166, 168–171, 176, 178–182,
190 f., 193, 195, 208, 211, 216, 238, 249, 253, 265, 283, 289 gradational 1, 171, 285, 289 Gradualismus 4, 195, 206, 289 Guckkastenbühne 106 Handlungsballett 92 Helldunkel, das 101 horror vacui 2 Ideengeschichte 12 Illusion 75, 81, 92, 99 f., 106, 111, 113, 119, 135 imagination 77 f., 82, 255 f. incrementum 23–25 Infinite, das 2 Infinitesimalisierung, infinitesimal 8, 52, 59, 68, 90 Infinitesimalrechnung 9 Innerlichkeit 50, 56 Intensität 7–9, 11 f., 14, 17 f., 21, 29, 49, 51, 100, 113 f., 172 Intensivierung 12, 29, 102, 116, 135, 143, 172 f., 243, 272 Internal Sense 67 Interpunktion 265 Intimität 5, 99, 113, 115, 154, 158 inventio 24, 221, 235 Kausalität 5 Kette 1 f., 5, 8, 11 f., 22 Klimax 19, 21, 24–26, 28 f., 138, 154, 243, 260, 289 Kontinuität 1 f., 5, 12, 30, 52 f., 56, 75, 80–82, 87, 89, 115, 145, 165, 167, 199, 256, 258, 262, 268, 289 Kontinuitätsgesetz 52, 65, 102 Kontinuum 48, 64, 66, 83, 101, 171, 258 Kontrast 109, 164, 180, 185, 270 Körperzeichen 85–87, 89 f., 100, 183 Kraft 9, 56 f., 65, 85 Kräftelehre 9, 46, 49, 56, 65, 226 Kulisse 104, 267, 280 langage d’action 87 Leidenschaft 37 f., 40, 44, 48, 74, 92, 138, 140, 170 f., 179, 191, 208, 223–225, 230, 236, 238 f., 261–265, 267, 274, 277 f. Leiter 1–3, 9, 11, 21, 26, 79, 141, 171, 289
1.2 Sachregister
liaison des scènes 6, 145, 147, 257, 269, 272 Licht 6, 8, 10, 100–102, 107, 140, 186, 229 Lichtraum 101 loi de la continuité 5, 50, 52, 59, 151, 169 Lust/Unlust 39, 47, 49, 53, 59, 79, 159, 164, 181 Malerei 73, 79–82, 90, 101, 103, 108, 118, 205–207, 210, 213, 270, 272 Mannheimer Schule 241, 248, 263 Mannigfaltigkeit 7, 63, 69, 108, 166, 276 Maschine 42, 149 Maske 157 Mathematik 6, 9, 226 Medium 13, 57, 83, 89, 178, 205, 238 Melodie 84, 177, 203, 219, 221, 223, 226, 232–234, 243, 257 Melodrama 193, 198, 215, 251, 253 f., 257, 260–262, 264–268, 270 f., 274 f., 277 f., 280, 282 f. merveilleux 4, 234 Metapher 22, 77 f. Mimik 45, 75, 88, 90, 92 f., 96 f., 107, 118, 141, 191 Minderung 1, 55, 95, 140, 163, 178, 248 Minimalismus 8 Mitleid 149, 170 f., 175 f., 178–182 Mittelbarkeit 77, 82, 94, 98, 208 Modulation 212, 236 f. Monolog 159, 177, 268, 270 mouvement 45, 50, 90, 92, 108, 146 movere 202, 221 musica reservata 222 Musik 4, 13, 27, 84–86, 88, 105, 119, 135, 138, 141 f., 177, 179, 184, 195 f., 198, 201–228, 230–238, 240, 243 f., 247 f., 251 f., 254, 256 f., 260, 262 f., 265–271, 273 f., 276, 279 f., 282 f., 286 f., 289 Nachahmung 81, 238 natura 2, 31, 34, 235, 289 natura non facit saltus 2, 289 Naturdarstellung 4 Naturlehre 1, 9, 14, 16, 19, 21, 24, 26, 145–147, 289 Natürlichkeit 4, 30, 80 f., 106, 119 nivellieren 289
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Notation 235, 244 Nuanciertheit, nuance 72, 258 Ökonomie 80, 190 Oper 15, 93, 141, 164, 189, 212, 215, 218, 223 f., 234, 240, 245 f., 251–253, 285, 287 Orchester 244, 246–249 Ordnungsfigur 1, 13, 15, 20, 22, 144, 170, 250, 257, 289 ordo maxime compositus 63 Pantomime 88, 91, 93, 114, 256 Paragone 83 passio 38 f., 43 Passion 5, 11, 36–40, 42 f., 46 f., 50, 53, 55, 58, 97 f. Pathognomik 87 perception 52 f., 68 f., 82 petites perceptions 50–53, 68, 200 Physik 6, 26, 42, 49, 110, 226, 240 Plötzlichkeit 44 f., 50 f. Plurimedialität 96 poeta faber 31 potentia agendi 47 Progression 5, 7 Proportion 68 rapports 67–69, 100 raptus 281 Raumkunst 80, 106 Regelpoetik 145, 147–149, 195 Repräsentation 3, 8, 17, 69 f., 96, 223, 225 Rezeption 50, 79, 92, 114, 151, 184, 229, 234 f., 259, 261, 278 Rhetorik 13, 19, 21, 27 f., 30 f., 33–35, 37, 39, 49, 77, 135, 138, 217–221, 231 f., 234, 237–239, 289 Rhetorik, musikalische 220 Rhythmus 86, 139 f. Rührung 75, 77, 152, 176, 180–182, 189, 193, 265 scala naturae 1, 3, 5, 16 scène lyrique 254, 261 Schattierung 92, 108, 191, 247 Schauspielerkörper 107, 119, 143 Schauspielkunst 13, 34, 37, 88, 94–97, 99 f., 106, 113, 118, 135, 141 f., 164, 168, 182, 190 f., 193, 195 f., 207, 225, 228, 239, 252, 261, 264 Schnitt 80
318 Register Schöne, das 34, 64, 67–69, 81, 88, 92, 230, 274 Schrecken 167, 170 f., 175, 179, 191 Schriftkultur 41 Schwanken 45, 47 f. Selbstbeschreibung 17, 31, 41, 45, 64, 67, 227 Semantik 5, 10–12, 17, 20 f., 23, 30, 217, 233, 275 Semiose 13, 71 sensation 54, 60, 74 Sensibilisierung 41, 234 sensibilité 54, 112 sentiment 40, 54, 58, 60, 71, 88, 92, 108, 139, 152, 210, 258 Serialisierung 15 sfumato 101, 103, 109 singen 93, 139, 205, 226 Sinneshierarchie 196 f. Sinnfigur 27 Sinnlichkeit, sinnlich 29, 35, 56 f., 61, 64, 76, 81, 161, 186, 278 f. Skalierung 26 Skizze 82, 133, 255 Sonale, das 201 Spannung 8, 189, 253 Spiel, freies 74, 76, 78 Sprachkritik 35, 78 Sprachmisstrauen 36, 70, 74, 77, 83, 133, 257 Sprachursprung 202 Sprung 51, 79, 81, 135, 144, 150 f., 167, 188 Staffel 9, 80, 234 Steigerung 1, 6, 12, 19, 21, 23–25, 27 f., 30, 36, 39, 48, 55, 59, 76, 159 f., 163, 165, 170, 172, 175 f., 178–180, 238, 257, 268, 283, 287, 289 Stilfigur 19 Stillstand 7, 80, 260 Strukturprinzip 4, 169 Strukturwandel 7, 12 Stufe 1 f., 9, 21, 35, 80, 138, 171, 173, 232, 260 Stufenleiter 1 f., 4 f., 7, 10, 17, 19, 191 Subjektivität 66 Sukzessivität 80, 105 Symmetrie 68, 89, 148
Sympathie 30, 138, 176 Symphonie 216, 225, 228, 243 Synästhesie 198 Tableau 74, 104 f., 107, 114, 117 f., 281 f. tableau mouvant 73 f. Taktstock 244 f. Tanz 86, 88 f., 91, 196, 198, 215, 252 Tätigkeitsvermögen 47–50, 65 Temperamentenlehre 42, 226 Temperatur 8 f. Theaterstreich 187 Ton 83 f., 133, 139–141, 179, 200, 202, 212, 218, 239, 256, 264, 272, 283 Transformation 2, 8, 13 f., 20, 31, 37, 41, 64, 145, 193, 201, 207, 231, 238, 283 Transgression 235, 283 Transitorik 103, 106, 164, 196, 199, 261, 263 Überflutung 267, 270 f., 279 Übergang 11, 16, 19, 36, 47, 60, 101, 151, 167, 178, 191, 217, 224, 269, 285 Übersteigerung 27, 176 Unbestimmtheit 77, 265 Unendlichkeit 2, 8, 200 uniformité 108 Unmittelbarkeit 75, 85, 88, 198, 202, 249 variation, varié 50 Verähnlichung 171 Veränderung 1, 5, 20, 26, 28, 41, 54, 67, 182, 224, 230, 241 Verbindung 38, 55, 59, 63 f., 67, 75, 81, 86 f., 91, 93, 102, 138, 143, 146 f., 149, 154, 168, 198, 200, 202, 204, 209, 212, 236 f., 249, 251, 262 Verdichtung 7, 10 f., 13, 74, 266 f. Verfeinerung 7 f., 10 f., 13, 71, 101, 109, 151 Vergegenwärtigung 96, 152, 157 Verhungerung 172–175 Verlautbarung, verlautet 139, 193, 203, 212, 249, 264 Verlebendigung 74, 76 f., 93, 96, 139, 254, 259 Vermannigfaltigung 4, 17, 37, 51, 59 Verminderung 23, 47, 95, 142, 163, 165, 167, 172–175, 180, 188, 253, 263, 289 Vermischung 12, 102, 282
1.2 Sachregister
Vernunft 64, 86, 157, 160, 168, 181, 194, 197, 202 Versinnlichung 74, 76, 81, 93, 140, 195, 215, 234, 279 verworren 57, 64, 148 f. Verwunderung 44, 228, 233 f. Verzeitlichung 5, 7, 10 f., 13, 80 Vielheit 50, 112 Vortrag 25, 27, 34 f., 107, 138, 141, 219, 221 Wachstum 23, 95, 169, 253, 263 Wahrnehmung 53, 59, 61, 67–69, 72, 86, 96, 98, 143, 177, 195–197, 200 f. Wand, vierte 99 Wärme 12, 255 Wesenskette 1
319
Wiederholung 19, 21, 30, 233, 236 Wirkungsästhetik 85, 141, 181 f., 192, 194, 257, 275, 279 Wirkungszusammenhang 40, 43 Wortfigur 27, 30 Wunderbare, das 234 Zärtlichkeit 9, 158, 161 Zeitkunst 78, 80, 106, 236 Zergliederung 4, 37, 59, 74, 138, 175, 217 Zurichtung 83, 143 f., 160, 169, 214, 256 Zusammenhang 6, 9, 15, 24, 31, 54, 81, 101, 139, 148, 150, 169 f., 181, 185 f., 215, 226, 236, 265, 275, 280 Zuschauer 57, 88, 92, 110–112, 126 f., 150, 162, 164, 171, 186, 189, 261, 263 f., 277