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German Pages 416 [479] Year 1893
Gotthold Ephraim Lessings
sämtliche Schriften. Hrrausgrgrbrn von
Karl Lachmann.
Dritte, suf's neue durchgrfrhrne und vermehrte Auflage, besorgt durch
Franr Muncker.
Neunter Band.
---------------------------
Stuttgart. G. I. Göschen'sche Verlsgshsndlung. 1893.
Ä. Hofbuchdruckerei Zu Guttenberg (Carl Grüninger) in Stuttgart.
Vorwort. Der 1766 erschienene erste Teil des „Laokoon" und die erste Hälfte der „Hamburgischen Dramaturgie" bilden den Inhalt dieses neunten Bandes. Für den „Laokoon" konnte ich neben den Drucken die Originalhandschrift Lessings benützen, wofür ich auch an dieser Stelle dem freundlichst mir entgegen kommenden Besitzer, Herrn Geheimen Justizrat R. Lessing in Berlin, von Herzen danke. Einzelne Punkte, die mir schließlich doch noch zweifelhaft ge blieben waren, klärte mir I)r. Julius Elias bereitwillig durch eine nochmalige genaue Vergleichung der Handschrift auf. Nach dieser wiederholten Prüfung des Lessingischen Originals glaube ich mich für die Zuverlässigkeit meines Textes verbürgen zu können, auch da, wo er von dem Wortlaute der vortrefflichen Aus gabe Hugo Blümners abweicht. Der ausgezeichnete Forscher hat ja auch nicht selbst die Durchsicht der Handschrift vorgenommen, sondern sich dazu der Hilfe seines Freundes Emil Grosse bedient, woraus sich allein schon bei aller noch so rühmenswerten Sorgfalt manchfache kleine Abirrungen von dem richtigen Text erklären lassen. Ich denke alles, was die Handschrift mir bot, gewissenhaft ver wertet zu haben; nur die Änderungen, die Lessing gelegentlich in ihr noch vor dem Drucke anbrachte, meistens geringfügige stilistische Verbesserungen, blieben der Gleichmäßigkeit der Textesbehandlung wegen, wie in frühern Bänden, so auch jetzt in der Regel unangemerkt, wenn ich gleich den Wert solcher ursprüng licher Lesarten in vielen Fällen nicht bestreiten will. Auch Blümner hat übrigens nur die wenigsten dieser handschriftlichen Ändemngen verzeichnet. Ich führte sie immer nur dann an, wenn sie auf die weitere Gestaltung des Textes irgend wie Einfluß gewonnen haben. Lessings Citate verglich ich mit dem Wortlaut der Originale in den von ihm benützten Ausgaben, die ich mit verschwindend wenigen Ausnahmen voll ständig in den hiesigen Bibliotheken vorfand. Ungenaue Angaben Lessings, bei denen es sich etwa nur um die zweifellose Verbefferung einer Ziffer handelte, korrigierte ich stillschweigend; einzelnes aber, was Blümner auf Grund neuerer Ausgaben der von Lessing angeführten Schriftsteller geändert hatte (z. B. in Anmerkung d zu Seite 150 meines Textes), mußte unangetastet bleiben, da es nach den Ausgaben, an die Lessing sich hielt, richtig war. Bei griechischen Wörtem ließ Lessing in der Handschrift und im Druck durchaus die Accente weg;
ich hielt mich daher nicht für berechtigt, sie einzufügen.
Auch die Spiritus
bezeichnungen vergaß er öfters in der Handschrift; wo sie aber stehen, sind sie
bei Doppellauten: meistens auf den ersten Vokal gesetzt. In den Drucken schwankt der Gebrauch mehr: gewöhnlich ist zwar tl, aber fast immer d«, «u, lu ge
schrieben; bei ou ist die Sache nicht zu entscheiden, da die Drucke fast aus
nahmslos das beide Vokale zusammenfassende Zeichen 8 haben.
Ich setzte hier
Lessings Absicht gemäß den Spiritus durchweg auf den ersten Vokal: //, du,
du U. s. W. Von der „Hamburgischen Dramaturgie" hat sich kein eigentliches Manu skript Lessings erhalten. Nur wenige handschriftliche Bemerkungen und abgerissene
Aufzeichnungen zur „Dramaturgie" sind auf uns gekommen; sie werde ich, ebenso wie die handschriftlichen Entwürfe des „Laokoon" und die Vorarbeiten zu den
späteren Teilen dieses Werkes, im vierzehnten Bande (mit dem litterarischen
Nachlaß Lessings) mitteilen.
Leider konnte ich auch des in Redlichs „Lessing-
Bibliothek" erwähnten Einzeldrucks der Ankündigung der „Dramaturgie" nicht habhaft werden.
Die paar Blätter, wahrscheinlich ein Unikum, befanden sich
einst im Besitze Dr. F. A. Cropps in Hamburg, nach dessen Tode sie in die Hamburger Stadtbibliothek gelangten. Hier aber waren sie augenblicklich nicht aufzufinden. Indes scheint die Texteskritik dadurch nichts verloren zu haben.
Wenigstens kann Redlich, dem ich für seine freundliche Auskunft Dank schulde,
sich keiner textlichen Varianten dieses Einzeldrucks erinnern; nur der äußere Satz des Druckes war von dem im ersten Bande der „Dramaturgie" verschieden. Da gegen lagen mir von diesem Bande selbst zahlreiche Exemplare vor, so daß ich
bei den ersten einunddreißig Stücken desselben Doppeldrucke feststellen konnte.
Dieser Fund ist jedoch zum größeren Teile das Verdienst des früheren Besitzers der G. I. Göschenschen Verlagshandlung, Ferdinand Weibert, dessen flei ßige Vorarbeiten ich hier meistens nur zu ergänzen und in Kleinigkeiten zu be richtigen hatte. Verschiedene textkritische Bedenken, die Emil Grosse (besonders im „Archiv für Litteraturgeschichte", Bd. VII, S. 401 ff.) ausgesprochen hat, lösen sich nunmehr sehr leicht auf. Doch bitte ich noch, die beiden Versehen S. 242 Z. 19 Bruegs in Brueys und S. 246 Z. 7 Fackener in Falkener
zu verbessern. Das Inhaltsverzeichnis, das in den Originaldrucken ganz fehlt, gebe ich
nach der zweiten Ausgabe des „Laokoon" (1788) und nach
dem Druck der
„Dramaturgie" im fünfundzwanzigsten Teile von Lessings sämtlichen Schriften
(Berlin 1794). Rühren diese „Verzeichnisse der vornehmsten Materien" auch nur von Lessings jüngerem Bruder oder überlebenden Freunden her, so sind sie doch
immerhin für den bequemen Gebrauch beider Werke nicht unnütz. München, am 26. April 1893.
Fran; Wuncker.
Inhalt. Seite
Laokoon:
Mit
oder über die Grenzen
beyläufigen Erläuterungen Kunstgeschichte.
der Mahlerey und Poesie.
verschiedener Punkte
Erster Theil.
der alten
1766.
[Sorrebe.J......................................................................................................................... I. Das erste Gesetz der bildenden Künste war, nach Winkelmann, bey den
3
Alten edle Einfalt und stille Größe so wohl in der Stellung als II.
im Ausdruck........................................................................................................ Nach Lessing aber ist es die Schönheit. Und daher hat der Künst ler den Laokoon nicht schreyend bilden
können,
ß
wohl aber der
Dichter................................................................................................................
10
III. Wahrheit und Ausdruck kann nie das erste Gesetz der bildenden Künste seyn, weil der Künstler nur einen Augenblick und der Mahler ins besondere diesen nur in einem einzigen Gesichtspunkte brauchen kann. Bey dem höchsten Ausdrucke kann der Einbildungskraft nicht freyes Spiel gelassen werden.
Alles Transitorische bekömmt durch die bil
denden Künste unveränderliche Dauer, und der höchste Grad wird
eckelhaft, so bald er beständig dauert...................................................... IV. Bey dem Dichter ist es anders. Das ganze Reich der Vollkommen
heit steht seiner Nachahmung offen.
18
Er braucht nicht sein Gemählde
in einen einzigen Augenblick zu conccntriren. Vom Drama das ein redendes Gemählde seyn soll.
Erklärung des Sophoklessischen Phi-
loktet..................................................................................................................... V. VI. Von dem Laokoon, dem Virgilischen und der Gruppe. Wahr
22
scheinlich hat der Künstler den Virgil und nicht Virgil den Künstler
nachgeahmt.
Das ist keine Verkleinerung.............................................
VII. Von der Nachahmung.
Sie ist verschieden.
Man kann ein ganzes
Werk eines andern nachahmen, und da ist Dichter und Künstler
33
Seite Original: man kann aber nur die Art und Weise, wie ein anderes Werk gemacht worden, nachahmen, und das ist der Kopist. — Be hutsamkeit, daß man nicht gleich vom Dichter sage, er habe den Mahler nachgeahmt und wieder umgekehrt. Spence in seinem Poly metis und Addison in seinen Reisen und Gesprächen über die alten Münzen haben den klassischen Schriftstellern dadurch mehr Nachtheil gebracht, als die schaalsten Wortgrübler.............................................. 50 VIII. Exempel davon, aus dem Spence ...................................................... 60 IX. Man muß einen Unterschied machen, wenn der Mahler für die Re ligion und wenn er für die Kunst gearbeitet...................................... 65 X. Gegenstände, die blos für das Auge sind, muß nicht der Dichter brauchen wollen, dahin gehören alle Attribute der Götter. Spence wird widerlegt.................................................................................................... 71 XI. XII. XIII. XIV. Caylus desgleichen in Tableaus tirfes de lTliade etc. 75 XV. XVI. XVII. XVIII. Von dem wesentlichen Unterschiede der Mahlerey und Poesie. Die Zeitfolge ist das Gebiet des Dichters, der Raum des Mahlers ............................................................................................ 92 XIX. Die Perspective haben die Alten nicht gekannt. Widerlegung des Pope, der das Gegentheil behauptet..........................................................114 XX. XXI. XXII. Der Dichter muß sich der Schilderung der körperlichen Schönheiten enthalten: er kann aber Schönheit in Reiz verwandeln; denn Schönheit in Bewegung ist Reiz. . . ... ... 120 XXIII. XXIV. Häßlichkeit ist kein Vorwurf der Mahlerey, wohl aber der Poesie. Häßlichkeit des Thersites. Darf die Mahlerey zur Er reichung des Lächerlichen und Schrecklichen sich häßlicher Formen bedienen?........................................................................................................ 139 XXV. Eckel und Häßlichkeit in Formen ist keiner vermischten Empfindung fähig und folglich ganz von der Poesie und Mahlerey auszuschließen. • Aber das Eckelhafte und Häßliche kann als Ingrediens zu den ver mischten Empfindungen genommen werden, in der Poesie nehm lich nur ............................................................................................................ 146 XXVI. XXVII. Ueber Winkelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums. Wer der Meister der Statue des Laokoons.......................................... 156 XXVIII. Vom Borghesischen Fechter...................................................................168 XXIX. Einige Erinnerungen gegen Winkelmanns Geschichte der Kunst. . 171
Hamburgische Dramaturgie.
Erster Band.
1767.
sAnkündigung.) ............................. 181 I—V. Cronegks Verdienste um die Bühne. — Anmerkungen über das Trauerspiel überhaupt, und das christliche insbesondere. — Eck Hof. — Ueber Accentuation, Empfindung, Gesten und Sprache .... 184 VI. VII. Prolog und Epilog. — Das Schauspiel ist das Supplement
Seite
der Gesetze. — Kreuzzüge. — Lob des Schauspielers Quin. — Ueber den Prolog und Epilog............................................................... VIII. IX. Bemerkungen über die rührende Gattung, genannt die weiner liche. — Für Uebersetzer. — Ueber Action und Declamation. — Eckhof. — Ueber Rousseaus Heloise. — Für den Acteur. . X—XII. Ueber Destouches. — Voltaire. — Vom Schrecklichen und Pathetischen auf der Bühne. — Shakspear's Gespenst im Hamlet. — Ueber Colm an's Umarbeitung der Schottländerin. — Geschmack der Engländer und Deutschen................................................................... XIII—XVI. Schlegels Versification. — Die Action. — Ueber das bürgerliche Trauerspiel. — Die Wielandische Uebersetzung des Shakespear. — Voltaire. — Die englischen Schauspieler. — Geschmack der Deutschen und der Franzosen. — Eckhof................. XVII. Rangordnung auf der Bühne bey moralischen Scenen. — Eckhof. — Die Benennung der Schauspiele. — Addison......................... XVIII. XIX. Marivaux. — Harlekin von Gottsched vertrieben. — Patriotismus der Franzosen und Deutschen. — Bemerkungen eines französischen Kunstrichters über das Trauerspiel. — Berichtigungen derselben nach den Grundsätzen des Aristoteles. — Von ge reimten Uebersetzungen. — Für den Acteur....................................... XX. Für die Actrice und den Acteur............................................................... XXI. Was denkt man bey einem Titel? — Von dem Lächerlichen und Ernsthaften..................................................................................................... XXII—XXV. Gellert. — Provinzialstücke. — Voltaire. — Von den wahren und falschen Charakteren. — Was ist die Geschichte dem Theaterdichter? — Wie viel an der Wahl des Stoffes liege? — Eckhof als Effex. — Die Rolle der Elisabeth im Effex. — Wie kann eine Actrice weiter gehen als die Natur? — Dem Künstler gehe seine Kunst über alles................................................................... XXVI. Regeln, die Tonkunst und Poesie in genauere Verbindung zu bringen......................................................................................................... XXVII. Theorie des Hrn. Agrikola für das Orchester......................... XXVIII—XXXII. Was ist Lächerlich? — Muß man allemal das Stück nach seinem Helden benennen? — Charakter des Weibes. — Cha rakteristische Kennzeichen des Ehrgeitzigen und Eifersüchtigen. — Darf man dem Schauspiel historische Namen unterlegen, — eine ganze Geschichte erdenken, oder das Factum vergrößern und vermindern?..................................................................................................... XXXIII—XLV. Marmontel. — Die Charaktere muffen dem Dichter weit heiliger seyn als die Facta. — Von der innern Wahrschein lichkeit, Uebereinstimmung und Absicht der Charaktere. — Unter schied zwischen der äsopischen Fabel und dem Drama. — Ehren-
206
214
222
235
252
256 264
269
273 289 294
Seite
bezeugung für Corneille. — Voltaire. — Homer. — Aristo teles über tragische Scenen. — Maffei. — Von Verbindung der Scenen . ......................... 319 XLVI—L. Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten. — Von Schürzung des Knotens im Spiel. — Die Pro logen des Euripides. — Was machte den Euripides zum tragischsten aller tragischen Dichter?................................................... 377 LI. LII. Charakter der Komödie und der Tragödie. — Schlegels thea tralische Arbeiten................................................................................ 399
Lsokoon: oder
über die Grenzen
der Mahlerey und Poeste. YZ/j zat TQOTtoib
äiafff^ovot.
J/Iovt. nor. ,40. *zta« TT. »J *z
ständigkeit demjenigen bey uns für Nachtheil bringen, dessen andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben?
Virgils Laokoon
schreyet, aber dieser schreyende Laokoon ist eben derjenige, den wir
bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen
und lieben.
Wir beziehen sein Schreyen nicht auf seinen Charakter, 10
sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden.
Dieses allein hören
wir in seinem Schreyen; und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreyen allein sinnlich machen.
Wer tadelt ihn also noch?
Wer nmß nicht vielmehr bekennen:
wenn der Künstler wohl that, daß er den Laokoon nicht schreyen ließ, 15
so that der Dichter eben so wohl, daß er ihn schreyen ließ? Aber Virgil ist hier bloß ein erzehlender Dichter.
Wird in seiner
Rechtfertigung auch der dramatische Dichter mit begriffen seyn? Einen andern Eindruck macht die Erzehluug von jemands1 Geschrey; einen andern dieses Geschrey selbst.
Das Drama, welches für die lebendige 20
Mahlerey des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben deswegen sich an die Gesetze der materiellen Mahlerey strenger halten müssen. In ihn» glauben wir nicht bloß einen schreyenden Philoktet zu sehen
und zu hören; wir hören und sehen wirklich schreyen.
Je näher der
Schauspieler der Natur kömmt, desto empfindlicher müssen unsere Augen 25 und Ohren beleidiget werden; denn es ist unwidersprechlich, daß sie es in der Natur werden, wenn wir so laute und heftige Aeusserungen
des Schnierzes vernehmen.
Zudem ist der körperliche Schmerz über
haupt des Mitleidens nicht fähig, welches andere Uebel erwecken.
Unsere
Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als daß die blosse 30
Erblickung desselben etwas von einem gleichmäßigen Gefühl in uns
hervor zu bringen vermöchte.
Sophokles könnte daher leicht nicht einen
bloß willkührlichen, sondern in bent Wesen unsrer2 Empfindungen selbst gegründeten Anstand übertrete»! haben, »venn er den Philoktet und
Herkules so winseln und weinen, so schreyen und brüllen läßt. 1 jemandes [17SS. 1792]
< unsrer [tzs.] unsere [ndCab. 1766] unserer [178$. 1792]
Die 35
Umstehenden können unmöglich so viel Antheil an ihrem Leiden nehmen, als diese ungemäßigten Ausbrüche zu erfordern scheinen.
Sie werden
uns Zuschauern vergleichungsweise kalt vorkommen, und dennoch können wir ihr Mitleiden nicht wohl anders, als wie1 das Maaß des unsrigen
5 betrachten.
Hierzu füge man, daß der Schauspieler die Vorstellung
des körperlichen Schmerzes schwerlich oder gar nicht bis zur Illusion treiben kann: und wer weis, ob die neuern dramatischen Dichter nicht
eher zu loben, als zu tadeln sind, daß sie diese Klippe entweder ganz und gar vermieden, oder doch nur mit einem leichten Kahne umfahren io haben.
Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die
That zu erweisen.
Alle diese Betrachtungen sind nicht ungegründet,
und doch bleibet Philoktet eines2 von den Meisterstücken der Bühne.
15 Denn ein Theil derselben trift den Sophokles nicht eigentlich, und nur indem er sich über den andern Theil hinwegsetzet, hat er Schönheiten erreicht, von welchen dem furchtsamen Kunstrichter, ohne dieses Beyspiel,
nie träumen würde.
Folgende Anmerkungen werden es näher zeigen.
1. Wie wunderbar hat der Dichter die Idee des körperlichen 20 Schmerzes zu verstärken und zu erweitern gewußt!
Er wählte eine
Wunde — (denn auch die Umstände der Geschichte kann man betrachten, als ob sie von seiner Wahl abgehangen hätten, in so fern3 er nehm
lich die ganze Geschichte, eben dieser ihm vortheilhaflen Umstände wegen,
wählte) — er wählte, sage ich, eine Wunde und nicht eine innerliche. 25 Krankheit; weil sich von jener eine lebhaftere Vorstellung machen läßt, als von dieser, wenn sie auch noch so schmerzlich ist.
Die innere
sympathetische Gluth, welche den Meleager verzehrte, als ihn seine Mutter in dem fatalen Brande ihrer schwesterlichen Wuth aufopferte, würde
daher weniger theatralisch seyn/ als eine Wunde.
30 war ein göttliches Strafgericht.
Und diese Wunde
Ein mehr als natürliches Gift tobte
unaufhörlich darinn, und nur ein stärkerer3 Anfall von Schmerzen
hatte seine gesetzte Zeit, nach welchem3 jedesmal der Unglückliche in einen betäubenden Schlaf verfiel, in welchem sich seine erschöpfte Natur
erhöhten mußte, den nehmlichen Weg des Leidens wieder antreten zu 1 wie lfehlt Hs. 1766 a] * ein? [jgf.] 3 ferne lHs.] • ist daher weniger theatralisch, lHs. 1766a] -> ftärtrer [$fj c nach welchen fHs. 1766 a]
könne».
Chataubrun läßt ihn bloß von dem vergifteten Pfeile eines
Trojaners verwundet seyn.
Was kann man sich von einem so gewöhn
lichen Zufalle ausserordentliches versprechen?
Ihm war in den alten
Kriegen ein jeder ausgesetzt; wie kam es, daß er nur bey dem Philoktet
so schreckliche Folgen hatte?
Ein natürliches Gift, das neun ganzer
5
Jahre wirket, ohne zu tödten, ist noch dazu weit unwahrscheinlicher, als
alle das fabelhafte Wunderbare, womit es der Grieche ausgerüstet hat. 2.
So groß und schrecklich er aber auch die körperlichen Schmerzen
seines Helden machte, so fühlte er es doch sehr wohl, daß sie allein
nicht hinreichend wären, einen merklichen Grad des Mitleids zu erregen, io Er verband sie daher mit andern Uebeln, die gleichfalls für sich be
trachtet nicht besonders rühren konnten, die aber durch diese Verbin dung einen eben so melancholischen Anstrich erhielten, als sie den körper
lichen Schmerzen hinwiederum mittheilten.
Diese Uebel waren, völlige
Beraubung der menschlichen Gesellschaft, Hunger und alle Unbequemlich- 15 leiten des Lebens, welchen man unter einem rauhen Himmel in jener
Beraubung ausgesetzet ist.«
Man denke sich einen Menschen in diesen
a) Weil» der Chor das Elend des Philoktet in dieser Verbindung be trachtet, so scheinet ihn die hülflose Einsamkeit desselben ganz besonders zu rühren.1 In jedem Worte hören wir den geselligen Griechen. Ueber eine bün den hiehcr 20 gehörigen Stellen habe ich indeß meinen Zweifel. Sie ist die: (v. 701—705.) */#'* ((uro, rtv 7iQOaou(>o;, dt>x £ytov ffaatr. Ovfa
tiv*
tyxcoQtoV)
Kuxoytiiova ncco BttQvßQüH
o) roror
hviitv/ioj'
*25
ctnoxXau-
•
atity ca; einen sehr philosophischen [$f.] einen philosophischen [1766a]
2 [Der Hinweis auf die An
merkung ist in der Hs. hier gestrichen und nach Zeile 6 zu „diesen Einwurf macht" verlegt] 3 weint [1766 a]
< ihn fast eben so lebhaft, [Hs. 1766 a. 1788. 1792]
-» mit jeder [Hs. 1766 a]
6 Adam Smith, in s Theorie der moralischen Empfindungen, 2. Absch. 1. Kapt. lHs. 1766 a. 1788.1792]
Laokoon.
30
sagt der Engländer, den wir unter körperlichen Schmerzen heftig schreyen
hören.
Aber nicht immer: nicht zum erstenmale; nicht, wenn wir sehen,
daß der Leidende alles mögliche anwendet, seinen Schmerz zu verbeissen; nicht, wenn wir ihn sonst als einen Mann von Standhaftigkeit kennen;
5 noch weniger, wenn wir ihn selbst unter den» Leiden Proben von seiner Standhaftigkeit ablegen sehen, wenn wir sehen, daß ihn der Schmerz zwar zum Schreyen, aber auch zu weiter nichts zwingen kann, daß er
sich lieber der längern Fortdauer dieses Schmerzes unterwirft, als das geringste in seiner Denkungsart, in seinen Entschlüssen ändert, ob er
10 schon in dieser Veränderung die gänzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf.
Das alles findet sich bey denl Philoktet.
Die moralische
Gröffe bestand bey den alten Griechen in einer eben so unveränder
lichen 1 Liebe gegen seine Freunde, als unwandelbarem Haffe gegen seine Feinde.
Diese Gröffe behält Philoktet bey allen seinen Martern.
15 Sein Schmerz hat seine Augen nicht so vertrocknet, daß sie ihm keine Thränen über das Schicksal seiner alten Freunde gewähren köimten. Sein Schmerz hat ihn so mürbe nicht gemacht, daß er, um ihn los
zu werden, seinen Feinden vergeben, und sich gern zu allen ihren eigen
nützigen Absichten brauchen lassen möchte.
Und diesen Felsen von einem
20 Manne hätten die Athenienser verachten sollen, weil die Wellen, die ihn nicht erschüttern können, ihn wenigstens ertönen machen? — Ich bekenne, daß ich an der Philosophie des Cicero überhaupt wenig Ge schmack finde; am allerwenigsten aber an der, die er in dem zweyten
Buche seiner Tusculanischen Fragen über die Erduldung des körper
25 lichen Schmerzes auskramet.
Man sollte glauben, er wolle einen
Gladiator abrichten, so sehr eifert er wider den äusserlichen Ausdruck
des Schmerzes.
In diesem scheinet er allein die Ungeduld zu finden,
ohne zu überlegen, daß er oft nichts weniger als freywillig ist, die
wahre Tapferkeit aber sich nur in freywilligen Handlungen zeigen tarnt.
30 Er hört bey dem Sophokles den Philoktet nur klagen und schreyen, und übersieht sein übriges standhaftes Betragen gänzlich.
Wo hätte
er auch sonst die Gelegenheit zu seinem rhetorischen Ausfälle wider die Dichter hergenommen?
„Sie sollen uns weichlich machen, weil sie -die
„tapfersten Männer klagend einführen."
Sie müssen sie klagen lassen;
35 denn ein Theater ist keine Arena. Dem verdammten oder feilen Fechter 1 unwandelbaren lHs. 1766 a]
. :
!
kam es zu, alles mit Anstand zu thun und zu leiden.
Von ihm mußte
kein kläglicher Laut gehöret, keine schmerzliche Zuckung erblickt werden.
Denn da seine Wunden, sein Tod, die Zuschauer ergötzen sollten:1 so mußte die Kunst alles Gefühl verbergen lehren.
Die geringste Aeusse
rung desselben hätte Mitleiden erweckt, und öfters erregtes Mitleiden
5
würde diesen frostig grausamen Schauspielen bald ein Ende gemacht
haben.
Was aber hier nicht erregt werden sollte, ist die einzige Ab
sicht der tragischen Bühne, und fodert daher ein gerade entgegen ge Ihre Helden müssen Gefühl zeigen, müssen ihre
fetztes Betragen.
Schmerzen äuffern, und die blosse Natur in sich wirken laffen.
Ver- io
rathen sie Abrichtung und Zwang, so laffen sie unser Herz kalt, und Klopfechter im Cothurne können höchstens nur bewundert werden.
Diese
Benennung verdienen alle Personen der sogenannten Senecaschen Tra
gödien, und ich bin der festen Meinung, daß die Gladiatorischen Spiele
die vornehmste Ursache2 gewesen, warum die Rönier in dem Tragischen 15
noch so weit unter dem Mittelmäßigen geblieben sind.
Die Zuschauer
lernten in dem blutigen Amphitheater alle Natur verkennen, wo allen falls ein Ktesias seine Kunst studieren konnte, aber nimmermehr ein
Sophokles.
Das tragischste Genie, an diese künstliche Todesscenen ge
wöhnet, mußte auf Bombast und Nodomontaden verfallen.
Aber so 20
wenig als solche Nodomontaden wahren Heldenmuth einflöffen können, eben so wenig können Philoktetische Klagen weichlich machen.
Klagen sind eines Menschen, aber die Handlungen eines Helden.
Die
Beyde
machen den menschlichen Helden, der weder weichlich noch verhärtet ist, sondern bald dieses bald jenes scheinet, so wie ihn itzt Natur, itzt 25
Grundsätze und Pflicht verlangen.
Er ist das Höchste, was die Weis
heit hervorbringen, und die Kunst nachahnlen kann.
4. Nicht genug, daß Sophokles seinen empfindlichen Philoktet vor der Verachtung gesichert hat; er hat auch allem andern weislich
vorgebauet, was man sonst aus der Anmerkung des Engländers wider so ihn erinnern könnte.
Denn verachten wir schon denjenigen nicht immer,
der bey körperlichen Schmerzen schreyet, so ist doch dieses unwidersprechlich, daß wir nicht so viel Mitleiden für ihn empfinden, als dieses Geschrey zu erfordern scheinet.
Wie sollen sich also diejenigen
verhalten, die mit dem schreyenden Philoktet zu thun haben? 1 sollte: sHs. 1766 a]
2 nrfa$ lHs. 1766 ab]
Sollen 35
sie sich in einem hohen Grade gerührt stellen?
Es ist wider die Natur.
Sollen sie sich so kalt und verlegen bezeigen, als man wirklich bey dergleichen Fällen zu seyn pflegt? Das würde die widrigste Dissonanz
für den Zuschauer hervorbringen.
5 Sophokles vorgebauet.
Aber, wie gesagt, auch diesem hat
Dadurch nehmlich, daß die Nebenpersonen ihr
eigenes Interesse haben; daß der Eindruck, welchen das Schreyen des Philoktet auf sie macht, nicht das einzige ist, was sie beschäftiget, und
der Zuschauer daher nicht sowohl auf die Disproportion ihres Mit leids mit diesem Geschrey, als vielmehr auf die Veränderung Acht
io giebt, die in ihren eigenen Gesinnungen und Anschlägen durch das
Mitleid, es sey so schwach oder so stark es will, entstehet, oder entstehen sollte.
Neoptolem und der Chor haben den unglücklichen Philoktet
hintergangen; sie erkennen, in welche Verzweiflung ihn ihr Betrug stürzen werde; nun bekömmt er seinen schrecklichen Zufall vor ihren
15 Augen; kann dieser Zufall keine merkliche sympathetische Empfindung in ihnen erregen, so kann er sie doch antreiben, in sich zu gehen, gegen
so viel Elend Achtung zu haben, und es durch Verrätherey nicht Häuffen zu wollen.
Dieses erwartet der Zuschauer, und seine Erwartung findet
sich von dem edelmüthigen Neoptolem nicht getäuscht.
Philoktet, seiner
20 Schmerzen Meister, würde den Neoptolem bey seiner Verstellung er halten haben.
Philoktet, den sein Schmerz aller Verstellung unfähig
macht, so höchst nöthig sie ihm auch scheinet, damit seinen künftigen
Reisegefährten das Versprechen, ihn mit sich zu nehmen, nicht zu.bald
gereue; Philoktet, der ganz Natur ist, bringt auch den Neoptolem zu
25 seiner Natur, wieder zurück.
Diese Umkehr ist vortreflich, und um so
viel rührender, da sie von der blossen Menschlichkeit bewirket wird. Bey dem Franzosen haben wiederum die schönen Augen ihren Theil
daran.
Doch ich will an diese Parodie nicht, mehr denken. — Des
nehmlichen Kunstgriffs, mit dem Mitleiden, welches das Geschrey über
30 körperliche Schmerzen hervorbringen sollte, in den Umstehenden einen andern Affect zu verbinden, hat sich Sophokles auch in den Trachine-
rinnen bedient. Der Schmerz des Herkules ist kein ermattender Schmerz; er treibt ihn bis zur Raserey, in der er nach nichts als nach Rache
schnaubet.
35
Schon hatte er in dieser Wuth den Lichas ergriffen, und an
d) Act. II. Sc. III. De mes deguisemens que penseroit Sophie? Sagt her Sohn des Achilles.
dem Felsen zerschmettert.
Der Chor ist weiblich; um so viel natürlicher
jnuf} sich Furcht und Entsetzen seiner bemeistern.
Dieses, und die Er
wartung, ob noch ein Gott bem Herkules zu Hülfe eilen, oder Herkules unter diesem Uebel erliegen werde, macht hier das eigentliche allgemeine
Interesse, welches von dem Mitleiden nur eine geringe Schattirung .erhält.
5
Sobald der Ausgang durch die Zusammenhaltung der Orakel
entschieden ist, wird Herkules ruhig, und die Bewunderung über seinen
letzten Entschluß tritt an die Stelle aller andern Empfindungen. Ueber-
haupt aber muß man bey der Vergleichung des leidenden Herkules piit dem leidenden Philoktet nicht vergeßen, daß jener ein Halbgott, 10
pnd dieser nur ein Mensch ist.
Der Mensch schämt sich seiner Klagen
nie; aber der Halbgott schämt sich, daß sein sterblicher Theil über den nnsterblichen so viel vermocht habe, daß er wie ein Mädchen weinen
und winseln müssen.«
Wir Neuern glauben keine Halbgötter, aber der
geringste Held soll bey uns wie ein Halbgott empfinden, und handeln. 15
Ob der Schauspieler das Geschrey und die Verzuckungen des Schmerzes bis zur Illusion bringen könne, will ich weder zu verneinen noch zu bejaen wagen.
Wenn ich fände, daß es unsere Schauspieler
nicht könnten, so müßte ich erst wissen, ob es auch ein Garrik nicht
vermögend wäre: und wenn es auch diesem nicht gelänge, so wiirde 20 ich mir noch immer die Skävopoeie und Teclamation der Alten in
einer Vollkommenheit denken dürsten, von der wir heut zu Tage gar
keinen Begriff haben.
V. Es giebt Kenner des Alterthums, welche die Gruppe Laokoon 25
zwar für ein Werk griechischer Meister, aber aus der Zeit der Kayser
halten, weil sie glauben, daß der Virgilische Laokoon dabey zuni Vor
bilde gedienet' habe.
Ich will von den ältern2 Gelehrten, die dieser
Meinung gewesen sind, nur den Bartholomäus Marliani,a und von
e) Trach. v. 1088. 89. -- -- Offs ff MffL 7Uq)*HV0f.}
2 Dat caucla lPetronins)
nicht hätten thun sollen: also ist es wahrscheinlich, daß sie es auf Veranlassung des Virgils gethan haben. Ich empfinde sehr wohl, wie viel dieser Wahrscheinlichkeit zur dem Schwänze' zuzukehren. Aber eben diese eitle Begierde zu verschönern, und 5 diese Behutsamkeit Original zu scheinen, entdeckt ihn. Denn sein Verschönern ist nichts als Uebertreibung und unnatürliches Naffiniren. Virgil sagt, sanguineae jubae: tßctron, liberae jubae luminibus coruscant. Virgil, ardentes oculos suffecti sanguine et igni: Petron, falmineum jubar incendit aequor. Virgil, fit sonitus spnmante salo: Petron, sibilis undae tremunt. So geht der 10 Nachahmer immer aus dem Grossen ins Ungeheuere; aus dem Wunderbaren ins Unmögliche. Die von den Schlangen umwundene' Knaben sind dem Virgil ein Parergon, das er mit wenigen bedeutenden Strichen hinsetzt, in welchen man nichts als ihr Unvermögen und ihren Jammer erkennet. Petron mahlt dieses Nebenwerk aus, und macht aus den Knaben ein Paar heldenmüthige Seelen, 15 — — — — neuter auxilio sibi Uterque fratri transtalit pias vices Morsque ipsa miseros inutuo perdit metu. Wer erwartet von Menschen, von Kindern, diese Selbstverleugnung? Wie viel beffer kannte der Grieche die Natur, (Quintus Calaber lib. XII. v. 459—61.) 20 welcher bey Erscheinung der schrecklichen Schlangen, sogar die Mütter ihrer Kinder vergessen läßt, so sehr war jedes nur auf seine eigene Erhaltung bedacht. —
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