Goethes Tragweite in der Naturwissenschaft: Hermann von Helmholtz, Ernst Haeckel, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker [1 ed.] 9783428466290, 9783428066292


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German Pages 120 Year 1989

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Goethes Tragweite in der Naturwissenschaft: Hermann von Helmholtz, Ernst Haeckel, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker [1 ed.]
 9783428466290, 9783428066292

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Maren Partenheimer Goethes Tragweite in der Naturwissenschaft

Goethes Tragweite in der Naturwissenschaft Hermann von Heimholtz, Ernst Haeckel, Werner Heisenberg, earl Friedrich von Weizsäcker

Von

Maren Partenheimer

Duncker & Humblot . Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Partenheimer, Maren:

Goethes Tragweite in der Naturwissenschaft: Hermann von HeImholtz, Ernst Haeckel, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker / von Maren Partenheimer. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 ISBN 3-428-06629-4

Alle Rechte vorbehalten

© 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06629-4

Danksagung Ohne David Partenheimers Anregung und selbstlose Unterstützung wäre dieses Buch nicht entstanden. Für ein Research Grant danke ich der Northeast Missouri State University. earl Friedrich von Weizsäcker danke ich für seine persönlichen Erläuterungen. Wolff A. v. Schmidt danke ich für seine Mitarbeit während des Anfangsstadiums des Manuskripts. M.P.

Inhalt EINLEITUNG . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . .

1. HERMANN VON HELMHOLTZ

2.

9 15

Goethe in Heimholtz' Jugend und Studienzeit

15

Goethes Anteil an Heimholtz' Gesetz der Erhaltung der Kraft .

16

Fausts Aktivismus und Heimholtz' Erkenntnis

18

Die Auswirkung von Goethes "Versuch einer Farbenlehre" auf Heimholtz' Optik ............................

25

He1mholtz als Mittler zwischen Goethe und herkömmlicher Naturwissenschaft

26

Goethes persönliche Bedeutung für Helmholtz

31

ERNST HAECKEL

...............................

35

Goethes zentrale Stellung in Haeckels Jugend- und Lehrjahren

35

Haeckels Verknüpfung von Goethe und Darwin in der Deszendenz-Theorie ...............................

39

Haeckels "Generelle Morphologie" als Fortsetzung von Goethes Morphologie ................................

43

Haeckels Anlehnung an Goethes ganzheitliche Wissenschaftsmethode .................................. 45 Goethes Naturanschauung als Basis von Haeckels Naturphilosophie und Monismus .......................... 47

3.

Die dichterische Präsenz Goethes im naturwissenschaftlichen Werk Haeckels ............................

51

Haeckels persönliches Leben unter dem Geleit Gocthes ...

52

WERNER HEISENBERG

55

Goethe-Impulse in Heisenbergs Ausbildung durch Niels Bohr ..

55

7

4.

Die Geburtsstunde eines neuen wissenschaftlichen Weltbildes mit Goethe ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

57

Das Verhältnis der Goetheschen Dichtersprache zur Quantentheorie ...................................

65

Goethes Widerstand gegen die klassische Physik ..........

67

Faust als Symbol neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Entwicklungen ....................................

71

Der Weg über Goethe in die Abstraktion und zurück in das Leben

73

eARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER . . . . .

79

Goethes Bedeutung in Weizsäckers Jugend

80

Weizsäckers Rechtfertigung von Goethes Aktualität im 20. Jahrhundert .................................

83

Selige Sehnsucht ....... .

89

Wiederfinden ......... .

94

"Wahlverwandtschaften"

98

LITERATURVERZEICHNIS

............... • ............

105

Einleitung Goethes weitreichender Einfluß auf Literatur und Geistesleben ist bereits wohlbekannt. Weit weniger bekannt sind allerdings die erheblichen Auswirkungen seines Schaffens auf die Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Vor allem hat Goethe die Gedanken und damit auch Entdeckungen großer deutscher Naturwissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen von der ausgehenden Goethezeit bis zum heutigen Tag berührt und beeinflußt. Dieses Buch versucht, Goethes Tragweite im Wirken und Denken von Hermann von Heimholtz (1821 - 1894), Ernst Haeckel (1834 - 1919), Werner Heisenberg (1901 - 1976) und earl Friedrich von Weizsäcker (1912) aufzuzeigen. Hermann von Heimholtz wuchs mit Goethes Dichtung auf, die ihm sein Vater nahelegte. Durch Heimholtz' Gefühl für metrische Sprache blieben ihm Worte aus Goethes "Faust" und viele Gedichte Goethes lebenslang im Gedächtnis. In Heimholtz' wissenschaftlichem Werk kehrte Goethes Gedankengut wieder und erfuhr ungeahnte Erweiterungen. So trug beispielsweise Goethes "Faust" einen ideellen Anteil an Heimholtz' Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das als ein Grundpfeiler der Physik gilt. Denn Helmholtz assoziierte die stets anwesende, sich jedoch immer verändernde Gestalt des Erdgeistes aus Faust mit seinem eigenen Konzept der Erhaltung der Kraft. Goethe inspirierte Helmholtz darüber hinaus auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Analog zu den Schlußworten des "Faust": "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" folgerte Heimholtz, daß die Sinneseindrücke nur Zeichen für eine höhere Wirklichkeit sind, die ein menschlicher Betrachter nicht direkt wahrnehmen kann. Um diese Wirklichkeit dennoch zu begreifen, suchte Helmholtz die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Zeichen mit faustischem Aktivismus zu erfahren. Die Willkür der individuellen Tat sollte sich gegen die Wirklichkeit absetzen, die sich nach festen Gesetzmäßigkeiten verhält. Goethes Dichtung regte 9

in Helmholtz Überlegungen zur Erkenntnistheorie an, die eine neue Epoche in der Philosophie markierten, die moderne Wissenschaftsphilosophie . Helmholtz erhielt von Goethe nicht nur wichtige gedankliche Anregungen in Physik und Erkenntnistheorie, sondern er benutzte Goethe seinerseits als Verbündeten im Kampf gegen metaphysische Tendenzen in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts. Dabei beharrte er mit Goethe auf dem Bereich der Empirik, worüber die Wissenschaft nicht hinausgreifen sollte. Umgekehrt trug HeImholtz wesentlich dazu bei, das seinerzeit weitgehend negative Goethebild der exakten Naturwissenschaftler zu korrigieren, indem er auf die notwendigen Unterschiede zwischen der dichterischen und naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise hinwies: Im einzelnen untersuche und zerlege die Physik den Mechanismus der Materie, um die Natur dem Menschen untertan zu machen. Dagegen richte sich Goethes Dichtung und Naturwissenschaft auf ein einheitliches Gesamtbild der Welt, wobei er überall das Gesetzliche in der Erscheinung suche. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte treffen Goethe und die Ziele der Physik schließlich wieder zusammen, weil sie letztlich beide sittlichen Gesichtspunkten unterworfen sind. Daher konnte Helmholtz Goethe auf persönlich-sittlicher Ebene als Vorbild anerkennen. Auch der Biologe Ernst Haeckel wurde auf entscheidende Weise von Goethe beeinflußt. Haeckel befaßte sich schon als junger Mann mit Goethe. Vor allem bereitete Goethes einheitliches Weltverständnis eine geistige Grundlage für Haeckel, die Gedanken des Darwinismus anzuerkennen und in all ihrer Konsequenz zu Ende zu denken. Daraufhin verkündete Haeckel als erster namhafter Biologe die eindeutige Abstammung des Menschen aus dem Tierreich. In Haeckels Lebenswerk, "Die Generelle Morphologie", spielt Goethe eine ausschlaggebende Rolle. Bereits der Titel "Morphologie" beinhaltet Danksagung und Tribut an Goethe, Haeckels geistigen Vater, der diese Wissenschaft geschaffen hatte. Die im Werk angewandte Methodik von Synthese und Analyse und die 10

philosophisch einheitliche Ausrichtung geben darüber hinaus die Gedankenkeime Goethes bis ins Detail wieder. Aber auch wissenschaftliche Entdeckungen Haeckels fanden ihren Ansatz bei Goethe. Beispielsweise weckte Goethe durch seine Auffassung der Urpflanze und des Urtieres in Haeckel das Bewußtsein der geschichtlichen Entstehung der Arten. Daraufhin entwickelte Haeckel erstmals ein umfassendes, historisch aufgebautes Stammbaumsystem der Pflanzen und Tiere. Goethes Einfluß zeigt sich ferner in Haeckels philosophischer Ausrichtung. Aus einer engen Verbindung von Empirik und goethescher Weltanschauung entstand Haeckels neue Vernunftreligion, der Monismus. Er schließt einen Schöpfer im herkömmlichen christlichen Sinne aus, denn in ihm bilden Geist und Materie eine Einheit. Der Monismus entspricht ganz dem Goetheschen Pantheismus, in dem sich "Gott in der Natur" manifestiert. Seine auf Goethe fußenden Erkenntnisse über die Abstammung und den Monismus brachte Haeckel in das Bewußtsein einer internationalen Öffentlichkeit. In ihren Grundzügen leben diese Gedanken im 20. Jahrhundert weiter. Der Atomphysiker Werner Heisenberg war mit der Dichtung Goethes eng verbunden. Als sich Heisenberg 1925 auf der Insel Helgoland von einer Heuschnupfenattacke erholte, nahm er mathematische Probleme und bezeichnenderweise Goethes Gedichtsammlung "West-östlicher Divan" mit sich. Heisenberg hatte damals wenig Hoffnung gehabt, auf Helgoland zur Lösung der Darstellungsschwierigkeiten inneratomarer Vorgänge beizutragen. Jedoch darf das Zusammenspiel von körperlicher Bewegung auf den Klippen der Insel und die Lektüre von Goethes "West-östlichem Divan" als Mitauslöser hei der Entstehung der Quantenmechanik gelten. Dort gelang es Heisenberg erstmals, die Quantenmechanik mathematisch zu formulieren, auf deren Grundlagen wenig später seine berühmte Unbestimmtheitsrelation entstanden ist. Die Quantenmechanik Heisenbergs revolutionierte das naturwissenschaftliche Selbstverständnis, indem sie zeigt, daß die klassische Physik im Atominneren nur noch bedingt gilt. In der Quantenmechanik wurde darüber hinaus erstmals die Anwesen11

heit eines Subjekts, also eines Beobachters, bei der Beschreibung inneratomarer Vorgänge formalisiert. Mit der Einbeziehung eines Subjekts in die Naturwissenschaft verwirklichte sich, was Goethe zur Voraussetzung seiner eigenen naturwissenschaftlichen und ästhetischen Überlegungen gemacht hatte. Nach der Formulierung der Quantenmechanik, die unter dem Einfluß von Goethes "West-östlichem Divan" Gestalt angenommen hatte, befaßte sich Heisenberg mehrfach mit Goethe in Verbindung mit den Naturwissenschaften, u. a. mit der inneren Verwandtschaft, die er zwischen physikalischen Grunderkenntnissen und der Kunst verspürte. Er selber ließ z. B. in der Wissenschaft ein ästhetisches Wahrheitskriterium gelten, das wie die Kunst Goethes von Einfachheit und Schönheit geleitet wurde. Daher unterstützte Heisenberg die Forderung Goethes, nicht nur die rationale Analyse zur Erfassung der Wirklichkeit gelten zu lassen, sondern sie mit allen Sinnesorganen zu erfassen. Herkömmlicherweise gehen jedoch Dichtung und Naturwissenschaft ganz andere Wege, denn die Dichtung erfühlt das Wahre und das Leben intuitiv, während sich die Naturwissenschaft auf dem Wege der Abstraktion immer mehr von der Fülle der Lebenserscheinungen entfernt. Diese Kluft zwischen Goethes eigener Naturauffassung und den Naturwissenschaften war Gegenstand weiterer Untersuchungen Heisenbergs. Aus Goethes Abneigung gegen mathematische Abstraktion erklärte Heisenberg dessen Widerstand gegen die Optik Newtons, denn sie galt Goethe als ein Beispiel ständig zunehmenden wissenschaftlichen Einzelwissens. Weil sich Newtons Optik von einem Ganzen, wie Goethe es suchte, ohne Hoffnung auf ein Ende immer weiter entfernte, mußte sich Goethe gegen ihren Vormarsch wehren. In der Gestalt Mephistos fand Heisenberg die Gefahren literarisch verwirklicht, die Goethe in einer Welt befürchtet hatte, in der die naturwissenschaftliche Ratio regiert. Faust, als Symbol des neuzeitlichen Menschen, erliegt ihren Gefahren unausweichlich in diesem Leben. Hier klingen Goethes Bedenken gegen die neuzeitliche technische Welt unüberhörbar an.

12

Heisenberg teilte Goethes tiefe Bedenken gegen die neuzeitlich-naturwissenschaftliche Welt nicht mehr, denn die Folgeerscheinungen der Quantenmechanik gaben ihm Anlaß zu neuer Hoffnung. Mit seiner Gestalt annehmenden vereinigten Feldtheorie war für Heisenberg ein Ende der immer weiter fortschreitenden Abstraktion in der Wissenschaft theoretisch denkbar. Wenn die Formel der vereinigten Feldtheorie einmal gefunden sei, so hielt Heisenberg es für wünschenswert, daß sich die Physik stärker in den Dienst humaner Fragen stelle, wonach bereits Goethe verlangt hatte. Der Atomphysiker und Wissenschaftsphilosoph earl Friedrich von Weizsäcker teilt dieses goethesche Verlangen nach einer Wissenschaft im Dienst des Menschen. Goethe nimmt dabei in Weizsäckers Leben eine VorrangsteIle ein, denn seit seiner Jugend betrachtet er Goethe und dessen Einheitsdenken als selbstverständliche "geistige Heimat". Weizsäcker beschäftigt sich in zahlreichen Abhandlungen mit Goethe. Sein physikalisches Fachwissen, gekoppelt mit fundierter Kenntnis von Philosophie und Literatur gestatten es ihm dabei, die Fragen Goethes zur gerade entstehenden technischen Welt im Kontext mit dem 20. Jahrhundert erneut zu stellen. Darüber hinaus weist Weizsäcker Goethes andauernde Aktualität anhand jüngerer Einsichten aus den Natur- und Geisteswissenschaften nach. Goethes Gewicht in Weizsäckers eigenem Schaffen tritt insbesondere in "Der Garten des Menschlichen" zutage, denn die Schrift darf als ein Vermächtnis Goethes gelten. Sie vermittelt einen breit angelegten Einblick in das Wesen des Menschen aus anthropologisch-historischer Sicht und sucht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu deuten. Inhaltlich und strukturell ähnelt sie dem "West-östlichen Divan" Goethes frappierend. Goethes Einfluß zeigt sich jedoch nicht nur in Inhalt und Struktur des "Gartens", sondern dies~ Verwandtschaft tritt konkret in zwei tiefsinnigen Gedichtsbetrachtungen aus dem "Divan" zutage. Weizsäcker erstellt darin eine natur- und geisteswissenschaftliche Interpretation der Gedichte "Selige Sehnsucht" und "Wiederfinden", die selbst im 20. Jahrhundert als Konzentrat 13

künstlerischer, aber auch naturwissenschaftlicher Wahrheiten erscheinen. Die persönliche Identifikation Weizsäckers mit den Zielen des Dichters ist hier offensichtlich. Goethes Spuren zeigen sich ebenso in Weizsäckers "Wahrnehmung der Neuzeit", worin Weizsäcker anhand von Goethes "Wahlverwandtschaften" eine enge Verbindung von Naturkräften und Moral in der Romanhandlung aufzeigt: Die innere Gespaltenheit der im Roman portraitierten modernen Menschen findet im notwendigen Naturgeschehen und in möglicher religiöser Gnade eine poetische Auflösung. Weizsäckers Abhandlungen über Goethe tragen zu einem neuen geistigen Selbstverständnis bei, das sich weder vor den Anforderungen der technologischen Wirklichkeit noch vor den geistigen Bedürfnissen des Menschen verschließt. Sie stellen Goethe als beispielhafte Gestalt der deutschen Dichtung dar, anhand derer sich die eigene Vergangenheit besser verstehen und die Zukunft verantwortlicher gestalten läßt. In Weizsäckers umfassenden Kommentaren zu Goethe kulminieren die bisherigen Stellungnahmen hervorragender deutscher Naturwissenschaftler zu Goethe. Es gelingt ihm, das moderne Goetheverständnis auf eine neue Ebene anzuheben. Goethes Inspiration führte zu umwälzenden Entdeckungen und Einsichten bei hervorragenden deutschen Naturwissenschaftlern. Das Verlangen nach geistiger Erfüllung mag diese Naturwissenschaftler dazu geführt haben, aus Goethes Werk Anregungen zu schöpfen, welche die empirischen Naturwissenschaften nicht liefern können. Goethes ganzheitliches Weltbild, das aus seiner Dichtung und Naturwissenschaft spricht, ist ein Schwerpunkt und Vorbild auf der Suche nach einem einheitlichen und zugleich humanen naturwissenschaftlichen Weltbild, auf das sich diese Naturwissenschaftler hinbewegten und -bewegen.

Foto: Ullstein

HERMANN VON HELMHOLTZ

1. Hermann von Helmholtz Blicken wir heute auf das 19. Jahrhundert zurück, so erscheint uns Helmholtz unter den deutschen Naturforschern etwa wie Goethe unter den deutschen Dichtern. Es ist schwerlich ein Zufall, daß Helmholtz sich in seinen Vorträgen mehrmals mit Goethes naturwissenschaftlichen Leistungen befaßt und so oft Goethesche Verse zitiert; er fühlt wohl trotz des Unterschiedes zwischen einem Künstler und einem Gelehrten eine Geistesverwandtschaft mit ihm. Und in der Tat: Wir bestaunen bei beiden die Universalität des Geistes; beide sind uns Verkörperungen einer Klassizität. (Max von Laue)l

Hermann von Helmholtz war der letzte deutsche Physiker, der enzyklopädisch alle damals bekannten Bereiche der Physik in sein Werk einzuordnen suchte. 2 Dabei kehrte Goethes Gedankengut in vielen Helmholtzschen Entdeckungen wieder und erfuhr durch Heimholtz ungeahnte Erweiterungen.

Goethe in HeImholtz' Jugend und Studienzeit In der "Tischrede" zu seinem in Deutschland nahezu als Nationalfeiertag zelebrierten siebzigsten Geburtstag gab Helmholtz 1891 darüber Aufschluß, wie Goethe sein eigenes wissenschaftliches und philosophisches Werk entscheidend von früher Jugend an geprägt hatte: Heimholtz' ungewöhnlich gutes Gedächtnis für metrische Sprache war ein Grund, weshalb er als junger Mensch "ein großer Bewunderer der Poesie" war. 3 An viele klassische 1 Laue, Max von: Über Hermann von Heimholtz. In: Forschen und Wirken - Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin, 1810 - 1890. (Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1960), I, 362. 2 Vgl. Laue, S. 359 - 366. In seiner Nachfolge lernten z. B. Max Planck und Albert Einstein vieles von Helmholtz für den Aufbau eines sich ändernden, neuen physikalischen Verständnisses. 3 Heimholtz, Hermann von: Vorträge und Reden. (Braunschweig: Friedrich Vieweg & Sohn, 1896), I, 7.

15

Gedichte Goethes erinnerte sich Helmholtz daher sein Leben lang. Heimholtz' Vorliebe für Poesie und natürlich Goethe wurde zusätzlich von seinem Vater gefördert, der Deutschlehrer am Potsdamer Gymnasium war. Er war "begeistert für Dichtkunst, besonders für die große Zeit der deutschen Literatur" .4 Später wandte sich Helmholtz Goethe dann konkret zu. Als angehender Mediziner fand er 1839 während seines zweiten Semesters in Berlin neben seinem Studium Zeit und Lust, den zweiten Teil von Goethes "Faust" durchzuarbeiten und kurze Zeit darauf auch eine Theatervorstellung des "Faust" in Berlin zu besuchen. Danach verspürte Heimholtz eine tiefe Bindung zu "Faust", die sich in kommenden Jahren entscheidend auf sein wissenschaftliches Werk auswirkte.

Goethes Anteil an Heimholtz' Gesetz der Erhaltung der Kraft Als Escadronschirurgus bei den Gardehusaren und als Militärarzt im Königlichen Regiment der Gardes-du-Corps in Potsdam formulierte Heimholtz zwischen Dezember 1846 und Februar 1847 sein erstes wissenschaftliches Hauptwerk, "Über die Erhaltung der Kraft",5 daß ... alle Wirkungen in der Natur zurückzuführen seien auf anziehende und abstoßende Kräfte, deren Intensität nur von der Entfernung der auf einander wirkenden Punkte abhängt. 6

Beachtenswert ist dabei, daß Heimholtz die Grundgedanken zur Erhaltung der Kraft schon seit der Studienzeit und Goethes "Faust" mit sich getragen hatte,7 wie er in drei populärwissenschaftlichen Vorträgen zum Ausdruck brachte, und zwar 1871 in "Über die Entstehung des Planetensystems", gefolgt von inhaltlich ähnlichen Aussagen in "Die Tatsachen der Wahrnehmung" Vorträge, 1,7. Heimholtz, Hermann von: Wissenschaftliche Abhandlungen. (Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1882 - 84), I, 12 - 17. 6 Wissenschaftliche Abhandlungen, I, 12. 7 Vgl. Königsberger, Leo: Hermann von Heimholtz. (Braunschweig: Friedrich Viewcg & Sohn, 1902), I, 54. 4

5

16

von 1878 und "Über Goethes Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen" im Jahr 1892. Der Kernpunkt der gedanklichen Verwandtschaft zwischen "Faust" und der Erhaltung der Kraft liegt in der allegorischen Gestalt des Erdgeists, der sich in der Nacht-Szene des ersten Teiles von "Faust" charakterisiert, als er sich auf Fausts Anruf zeigt: In Lebensfluthen, im Thatensturm Wall' ich auf und ab, Wehe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben, So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.8

Der allgegenwärtige Erdgeist ist in "Faust" für die Naturerscheinungen verantwortlich. Durch sein Wirken entstehen die Phänomene, wie sie sich dem menschlichen Betrachter darstellen. In den "Tatsachen in der Wahrnehmung" zitiert Heimholtz die eben genannten Worte des Erdgeistes. Heimholtz versucht, sein Konzept der Erhaltung der Kraft mit den Auffassungen Goethes in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu bringen: Und in welches Schema scholastischer Begriffe sollen wir diesen Vorrat von wirkungsfähiger Energie einreihen, dessen Konstanz das Gesetz von der Erhaltung der Kraft aussagt, der, unzerstörbar und unvermehrbar wie eine Substanz, als Triebkraft in jeder Bewegung des leblosen, wie des lebendigen Stoffes tatig ist, ein Proteus in immer neue Formen sich kleidend, durch den unendlichen Raum wirkend und doch nicht ohne Rest teilbar mit dem Raume, das Wirkende in jeder Wirkung, das Bewegende in jeder Bewegung, und doch nicht Geist und nicht Materie? - Hat ihn der Dichter geahnt?9

Für Helmholtz besteht zwischen Erdgeist und seinem Gesetz der Erhaltung der Kraft in der Unzerstörbarkeit, Wandlungsfähigkeit 8 Goethe, Johann Wolfgang von: Werke - Hamburger Ausgabe, 14 Bde. (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1982), III, 24. Im folgenden Text erscheinen Angaben aus der Hamburger Ausgabe abgekürzt als HA. 9 Vorträge, 11, 246.

2 Partenheimer

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und scheinbarer Geist- und Materienlosigkeit beider Phänomene eine enge Verbindung.

Fausts Aktivismus und Heimholtz' Erkenntnis Ebenso bedeutend, wie Heimholtz' Assoziation der Erhaltung der Kraft mit Goethes Erdgeist, besteht zwischen Goethes "Faust"-drama und Heimholtz' erkenntnistheoretischen Einsichten ein tieferer Zusammenhang. Am 3. August 1878 hielt Helmholtz eine Rede zur Stiftungsfeier der Berliner Universität, in der er sein philosophisches Glaubensbekenntnis ablegte, das einen wesentlichen gedanklichen Anteil Goethes enthielt. 10 Helmholtz behandelte darin die Grundprobleme der Erkenntnistheorie: "Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken? In welchem Sinne entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?" Goethes Anteil an Heimholtz' philosophischer Auffassung geht bereits deutlich aus den Überlegungen hervor, die sich Heimholtz über einen geeigneten Titel dieser Rede machte, wie er seiner Frau Anna schrieb: Den Titel werde ich erst zuletzt machen ... ich weiß ihn noch nicht. Vielleicht: "Was ist wirklich" oder "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" oder "Ein Gang zu den Müttern" oder auch vielleicht trokkener "Prinzipien der Wahrnehmung" .11

Von vier Titelvorschlägen entstammen zwei aus Goethes "Faust". Das ist völlig verständlich, denn sowohl die Version "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" als auch "Ein Gang zu den Müttern" umfassen den Kern von Heimholtz' eigener Erkenntnistheorie. Der erste der möglichen Titel "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" erscheint in der Schlußstrophe des "Faust". Helmholtz wählte mit dem dort angesprochenen Thema der Gleichnishaftigkeit alles Irdischen eine Kernaussage von Goethes DichKönigsberger,II, 246. Königsberger, II, 246. An gleicher Stelle zitiert Königsberger Anna Heimholtz, die ihrem Mann den trockenen Titel "Die Tatsachen in der Wahrnehmung" empfiehlt, den Helmholtz im Interesse seiner Zuhörer übernimmt: \0

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tung aus. 12 Dies erkannte Heimholtz richtig, denn Goethe versteht unter dem irdischen Geschehen - sei es die Metamorphose der Pflanzen oder die verschiedenartigen Wolkenbildungen - nur ein Abbild von einer höheren, dem menschlichen Geist nicht unmittelbar zugänglichen idealen Wirklichkeit. Das Wesentliche von Heimholtz' erkenntnistheoretischen Beobachtungen liegt in seiner Überzeugung, daß die Sinneseindrücke nur Zeichen für eine Wirklichkeit sein können, die dem Menschen niemals direkt erschließbar ist. Diese Idee ist in den platonisch-plotinischen Worten: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" präzise enthalten und war Heimholtz spätestens seit seinem Studium geläufig. 13 Goethes Gedanken stimmen mit Heimholtz' eigenen erkenntnistheoretischen Überlegungen über die Gleichnishaftigkeit der Welt überein. Helmholtz sagt daher selbst: "Daß wir Goethe hier und weiter mit uns auf demselben Wege finden, halte ich für ein günstiges Zeichen. "14 Goethes "Faust" leitete Heimholtz über die Gleichnishaftigkeit des irdischen Daseins tiefer in philosophische Fragestellungen hinein, denn Helmholtz suchte nach der "Kenntnis der gesetzlichen Ordnung im Reiche des Wirklichen, diese freilich nur dargestellt im Zeichensystem unserer Sinnesorgane. "15 Aus der Einsicht, daß die Sinnesorgane nur schemenhafte Auskunft über das Wirkliche abgeben und dieses Wirkliche niemals unmittelbar übermitteln, suchte Heimholtz nach einem ursprünglichen Gesetz, das sich hinter den Sinneseindrücken verbirgt. Aus Heimholtz' Fragestellung nach der "gesetzlichen Ordnung ... des Wirklichen" erklärt sich, warum er als andere Alternative den Titel "Ein Gang zu den Müttern" für seinen Vortrag wählte. Vergleichbar mit Heimholtz' Suche nach dem ursprünglichen Gesetz befand sich Faust auf ähnlicher Mission, als er Hele12 Trunz, Erich: Anmerkungen. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke - Hamburger Ausgabe. (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1982), III, 639. 13 In "Faust", HA, 111, 149 scheint der platonische Gedanke durch, daß der Mensch das "Urbild" dessen, was das Dasein bewegt, an seinem "farbigen Abglanz" erkennen könne. 14 Vorträge, 11, 242. 15 Vorträge, 11, 242.

2'

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nas Urbild bzw. Schatten aus dem Schemenreich der Mütter in die Realität des menschlichen Daseins holen wollte. 16 Mephisto deutet im "Faust" an, daß die "Mütter" die Urbilder des Lebens hüten: Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung. Umschwebt von Bildern aller Kreatur. 17

Auch Faust kann Helenas Urbild nicht direkt in die Welt entführen, denn dazu bedarf es des Dreifußes, mit dessen Hilfe er erst Helenas Bild "aus der Nacht" ins Diesseits befördert.l8 Als Faust versucht, dieses Idealbild zu berühren, geht das Geistergebilde mit einem Knall "in Dunst" auf. 19 - Im flüchtigen Idealbild Helenas sah Heimholtz daher ein dichterisches Beispiel der Zeichenhaftigkeit der Sinneseindrücke für die menschliche Wahrnehmung, die niemals unmittelbar das Ding an sich im Sinne Kants erschauen kann. Heimholtz' Frage ähnelt der von Goethe, wenn er hinter den Naturerscheinungen die unmittelbare Wirklichkeit, die er als das Gesetzliche auffaßt, ergründen will. Unter dem Wirklichen versteht Helmholtz eine Kraft, die sich unabhängig vom menschlichen Willen - den er als dem Wirklichen gleichwertige Kraft auffaßt - als zwingender Naturprozeß durchsetzt. 2o Um nun das Wirkliche bzw. Wahre vom menschlichen Willen, so z. B. auch vom Gedachten oder Geträumten abzugrenzen, ging Helmholtz davon aus, daß das Kausalgesetz, das "die vollkommene Begreifbarkeit der Welt ausspricht" ,21 auch in der Zukunft gelte: ... daß eine Scheidung von Gedachtem und Wirklichem erst möglich wird, wenn wir die Scheidung dessen, was das ich ändern und nicht ändern kann, zu vollführen wissen. Diese wird aber erst möglich, wenn 16 Vgl. zu der bildhaften Vorstellung der Sinneseindrücke auch die psychoanalytischen Studien von earl Jung. 17 HA, III, 193. 18 HA, III, 193. 19 HA, III, 20l. 20 Vorträge, II, 24l. 21 Vorträge, II, 243.

20

wir erkennen, welche gesetzmäßigen Folgen die Willensimpulse zur Zeit haben. Das Gesetzmäßige ist daher die wesentliche Voraussetzung für den Charakter des Wirklichen. 22

An dieser Stelle entstand für Helmholtz ein erkenntnistheoretisches Problem, weil sich das Gesetzmäßige des Kausalgesetzes bisher nur aus empirischer Erfahrung ergab, also keine echte Gewißheit für eine zukünftige Gültigkeit bestehen konnte. 23 Das praktische Beispiel Fausts führte Heimholtz aus der augenblicklichen begrifflichen Sackgasse. Als beispielhafte Gestalt der Weltliteratur will Faust erkennen, "was die Welt / Im Innersten zusammenhält".24 Der Gelehrte, der "Philosophie, Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie" studierte, sieht verzweifelt ein, daß er nach dem Studium aller Wissenschaften "so klug als wie zuvor" ist, denn das reine Denken brachte ihm keine Erkenntnis. 25 Daher geht Faust auf den Pakt mit Mephisto ein, um durch die Tat die Welt zu verstehen. Fausts Aktivismus war für Heimholtz das einzige Mittel, um das Wahre in seinem Wesen zu erkennen, wie er in den "Tatsaehen in der Wahrnehmung" hervorhebt: Hier gilt nur der eine Rat: Vertraue und handle! Das Unzulängliche Dann wird's Ereignis. Das wäre die Antwort, die wir auf die Frage zu geben haben: was ist Wahrheit in unserem Vorstellen?26

Nur durch die Tat hielt Heimholtz es für möglich, "Kenntnis der gesetzlichen Ordnung im Reiche des Wirklichen" zu erhalten.27 Mit weiteren Schlußworten des "Faust" bekräftigt Heimholtz, daß das "Unzulängliche" des menschlichen Denkens dennoch fähig sei, durch die Willkür der Tat auf das sich gesetzmäßig verhaltende Wirkliche zu schließen. In diesem Sinne wird das Paradox der nur zeichenhaft wirkenden Sinneswahrnehmungen zum "Ereignis" wahren Erkennens. Vorträge, 11, 242. 23 Vorträge, 11, 243. 24 HA, III, 20. 22

25 HA, 111, 20. 26 Vorträge, 11, 244. 27 Vorträge, II, 244.

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Fausts Aktivismus gibt nur ein Beispiel von Goethes vorrangiger Stellung in Heimholtz' "Tatsachen in der Wahrnehmung" ab. Darüber hinaus diente Goethe für Heimholtz als wichtiger Verbündeter in der Abgrenzung der Physik gegen die Metaphysik des 19. Jahrhunderts, die in den Wissenschaften z. B. durch Vitalismus und tierischen Magnetismus vertreten war. Zu Beginn seiner Laufbahn befand sich Helmholtz daher als Physiker im Zentrum eines geistigen Schlachtfeldes, auf dem zwischen bisheriger naturphilosophisch-metaphysischer und rein empirischer Wissenschaftsauffassung gefochten wurde. Die Auseinandersetzung entschied sich zugunsten Heimholtz' empirischer Wissenschaft und Philosophie, in der sich Goethes Spuren offen zeigen. 28 Schon mit dem von Goethes Gedankengut beeinflußten Konzept der Erhaltung der Kraft befürwortete Heimholtz entschieden eine von Metaphysik befreite empiristische Naturwissenschaft, die ihrerseits bestrebt war, "durch reines Denken Aufschlüsse über die letzten Prinzipien des Zusammenhanges der Welt zu gewinnen".29 Auch in den "Tatsachen in der Wahrnehmung" wiederholte Helmholtz seine Forderung, diesmal jedoch gekoppelt mit einer Kritik an Kants Aprioritätsauffassung der euklidischen Geometrie, die er durch die Entwicklung einer eigenen, nichteuklidischen Geometrie in Frage stellte. 3o 28 Richard M. Warren und Roslyn R. Warren weisen in: He1mholtz on Perception -Its Physiology and Development (New York: John Wiley & Sons, 1968), S. 6 darauf hin, daß bereits Heimholtz' Erhaltung der Kraft einen Triumph des Empirismus in der Wissenschaft bedeutet: "Physiologists came to recognize that the law of conservation of energy was a powerful weapon for demolishing vitalism." 29 Heimholtz, zitiert aus A. Riehl: "Helmholtz als Erkenntnistheoretiker". Die Naturwissenschaften - Wochenschrift für die Fortschritte der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik 35 (1921), S. 705. In seiner Jugend kam Helmholtz vielfach mit der weitverbreiteten metaphysischen Wissenschaftsauffassung in Kontakt. Als Medizinstudent war Helmholtz z. B. Schüler von Johannes Müller, den er wegen seiner sinnesphysiologischen Entdeckungen der spezifischen Nervenenergien verehrte. Helmholtz lehnte jedoch Müllers naturphilosophische Auffassung der Lebensenergien ab, die zwischen belebter und unbelebter Materie unterscheidet. 30 Siehe auch Heimholtz, Hermann v.: Über den Ursprung und Sinn der geometrischen Sätze - Antwort gegen Herrn Professor Land. In: Wissenschaft!. Abhand!., 11, 640 - 660.

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Helmholtz stützte sich im Dissens gegen Kants euklidischen "Beweis für die Möglichkeit einer Metaphysik" auf Goethes Ode "Grenzen der Menschheit", die die Aufgabe des Menschen und somit auch die der Physik in Heimholtz' eigenem Sinne vorgezeichnet hatte. 3! Dazu zitierte Helmholtz in den "Tatsachen in der Wahrnehmung" die zweite und dritte Strophe des fünfstrophigen Gedichts, worin Goethe für das Wirken des Menschen in seinem erdengebundenen Einflußbereich eintritt: Doch mit Göttern Soll sich nicht messen Irgend ein Mensch. Hebt er sich aufwärts Und berührt Mit dem Scheitel die Sterne, Nirgends haften dann Die unsicheren Sohlen, Und mit ihm spielen Wolken und Winde. Steht er mit festen Markigen Knochen Auf der wohlgegründeten Dauernden Erde: Reicht er nicht auf, Nur mit der Eiche Oder der Rebe Sich zu vergleichen. 32

"Grenzen der Menschheit" drückt Goethes weltanschauliche Forderung nach Diesseitsorientierung deutlich aus. Der Mensch begäbe sich auf unsicheren Boden, wenn er versuchte, über das Irdische, d. h. das empirisch Erfaßbare, hinauszugreifen. Goethes Hinwendung zum Diesseits war Heimholtz außer in "Grenzen der Menschheit" ebenfalls schon früh durch die Gestalt Fausts geläufig, der in der Paktszene auf Mephistos Bedingung, ihm im "Drüben" zu dienen, erwidert: Das Drüben kann mich wenig kümmern Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern, 31 12

Vorträge. 11. 244 - 245. Vorträge. 11. 244

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Die andre mag darnach entstehn. Aus dieser Erde quillen meine Freuden, Und diese Sonne scheinet meinen Leiden; Kann ich mich erst von ihnen scheiden, Dann mag, was will und kann, geschehn. Davon will ich nichts weiter hören, Ob man auch künftig weiter haßt und liebt, Und ob es auch in jenen Sphären, Ein Oben oder Unten gibt. 33 Sowohl in "Grenzen der Menschheit" als auch im "Faust" schließt Goethe ein Jenseits durchaus nicht aus, jedoch gilt das Bekenntnis ganz "diese[r] Welt", denn das "Jenseits" entzieht sich dem direkten menschlichen Zugriff. 34 Die enge Verwandtschaft zwischen Heimholtz' eigenen Anforderungen an die Aufgabe der Wissenschaft und denen Goethes in "Grenzen der Menschheit" und "Faust" kommt in Heimholtz' Forderung nach einer nicht-metaphysischen Wissenschaftsauffassung deutlich zum Vorschein: Nach alledem hätte die Naturwissenschaft ihren sichern Boden, auf dem feststehend sie die Gesetze des Wirklichen suchen kann, ein wunderbar reiches und fruchtbares Arbeitsfeld. So lange sie sich auf diese Tätigkeit beschränkt, wird sie von idealistischen Zweifeln nicht getroffen. Solche Arbeit mag bescheiden erscheinen im Vergleich zu den hochfliegenden Plänen der Metaphysiker. 35 Mit seinem von Goethe gestützten Empirismus wurde Helmholtz "zum Mitbegründer einer neuen Epoche der Philosophie . . . Es ist die Epoche der wissenschaftlichen Philosophie. "36

HA III, 56. Helmholtz unterläßt es bewußt, die übrigen Strophen von "Grenzen der Menschheit" in seine Untersuchung einzubeziehen. Goethes Betrachtung des "uralten heiligen Vaters" und der "Götter" reicht in einen metaphysischen Bereich hinein, von dem Helmholtz in seiner wissenschaftlichen Arbeit Abstand nahm, nicht jedoch im Privatleben aufgrund seiner religiösen Überzeugung. Goethe hingegen verbindet Metaphysik und Empirie in der Dichtung miteinander. 35 Vorträge, II, 245. 36 Riehl, S. 708. 33

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Die Auswirkung von Goethes "Versuch einer Farbenlehre" auf Heimholtz' Optik Über Gedankenanstöße in Wissenschaft und Philosophie hinaus kreuzten sich die Pfade Goethes und HeImholtz' auch in der physiologischen Optik, seitdem Goethes "Versuch einer Farbenlehre" zu einem Brennpunkt des wissenschaftlichen Interesses geworden war. In der Optik entwickelte er z. B. 1850 den Augenspiegel, wofür er beinahe über Nacht über wissenschaftliche Fachkreise hinaus berühmt wurde, denn mit dessen Hilfe konnte ein Arzt erstmals in das Innere eines lebenden Auges sehen. Im Zuge seiner optischen Forschungen versuchte HeImholtz, diejenigen Fragestellungen und Versuche nachzuvollziehen, die Goethe in der "Farbenlehre" aufstellt. 37 1886 hielt er eine Ansprache als Empfänger der Graefe-Medaille, worin er Goethes Versuche zur Farbentheorie schilderte. Goethe war von der Mischung von Pigmenten ausgegangen, wobei Gelb mit Blau vermengt die Farbe Grün hervorbrachte. Nun erweiterte HeImholtz Goethes Versuch auf die Spektralfarben, die er in Paaren mischte. Aus der Kombination gelb und blau ergab sich jedoch nicht grün, sondern weiß. Das Resultat seines Versuches der Spektralfarbenmischung überzeugte HeImholtz davon, daß das menschliche Auge, genauer gesagt die Netzhaut, nur als Vermittler von Sinnesreizen - den spezifischen Nervenenergien - fungiert. In der Rede "Goethes Vorahnungen kommender wissenschaftlicher Ideen" erklärte Helmholtz 1892 dieses Resultat seiner optisch-physiologischen Forschung genauer: Die Sinnesempfindungen sind uns nur Symbole für die Gegenstände der Aussenwelt und entsprechen diesen etwa, wie der Schriftzug oder Wortlaut dem dadurch bezeichneten Dinge entspricht. 38

Helmholtz erwies, daß äußere Reize, die sich den menschlichen Sinnesorganen bieten, erst im Gehirn in konkrete Eindrücke wie 37 Siehe Kahl, Russel: Selected Writings of Hermann von Heimholtz. (Middletown, Connecticut: Wesleyan University Press, 1971), S. xxv. 38 Vorträge, I, 41.

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Geschmackserregung, Wärmeempfindungen und optische Bilder aufgrund spezifischer Nervenimpulse umgeartet werden. 39 Für Heimholtz waren die Ergebnisse seiner Forschung schon im "Faust" ersichtlich. In "Goethes Vorahnungen" resümmierte er daher in diesem Zusammenhang wieder die Worte des Chorus Mysticus: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis", d. h. was in der Zeit geschieht, und was wir durch die Sinne wahrnehmen, das kennen wir nur im Gleichnis. Ich wüßte das Schlußergebnis unserer physiologischen Erkenntnislehre kaum prägnanter auszusprechen. 4O

So wirkte sich Goethes Literatur und Forschung auch auf Helmholtz' sinnesphysiologische Untersuchungen aus, welche die Grundlage seiner Arbeit in der Optik, Physiologie, und der Psychologie des Hörens und Sehens bilden. Diese wiederum wurden für die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts richtungsweisend, und auch im 20. Jahrhundert sind Heimholtz' sinnesphysiologische Erkenntnisse ein Grundbestandteil des Anatomieunterrichts. 41

Helmholtz als Mittler zwischen Goethe und herkömmlicher Naturwissenschaft Die Beziehung zwischen Goethe und Helmholtz ging nicht nur einseitig von Goethe aus. Helmholtz machte sich seinerseits um das bislang vorwiegend negative Ansehen Goethes in der Physik verdient. 42 1853 sprach Heimholtz über Methode und Einfluß Goethes auf die damalige zeitgenössische Naturwissenschaft in 39 Heimholtz' Entdeckung der spezifischen Sinnesenergien war nicht neu, sondern sie wurde u. a. von dem englischen Philosophen Locke und dem Anatomen Sir CharJes Bell vertreten sowie im Jahr 1826 explizit von Johannes Müller, wie Kahl in "Helmholtz", S. xxvii erwähnt. Es war jedoch Heimholtz, der erstmals einen umfangreichen Beweis für die Zeichenhaftigkeit der Sinneseindrücke erbrachte. 40 Vorträge, 11, S. 359. 41 Vgl. Kahl, S. xxv. 42 Zur Kritik zeitgenössischer Physiker an Goethes Farbenlehre und auch anderen physikalischen Versuchen Goethes siehe Stanley Jaki: "Goethe and the Physicists". American Journal of Physics. 37, Heft 2 (Februar 1969).

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"Über Goethes Naturwissenschaft" vor der Deutschen Gesellschaft als er - erst zweiunddreißig Jahre alt - bereits fünf Jahre den Lehrstuhl für Physiologie an der Universität Königsberg innehatte. Mit seinem Vortrag wollte Helmholtz in wissenschaftlichen Kreisen ein verbessertes Verständnis für den Naturwissenschaftler Goethe schaffen, dessen physikalische Versuche auf massive Ablehnung gestoßen waren. Es war Heimholtz ... ein Bedürfnis, nachzuweisen, daß Goethe, wenn er auch in seinen physikalischen Untersuchungen vielfach fehl gegangen, sich doch in seinen botanischen und osteologischen Arbeiten so unbestrittene Verdienste erworben habe, daß man ihn unbedenklich auch zu den großen Naturforschern zählen dürfe. 43

Insbesondere betonte Heimholtz Goethes Verdienst in der Botanik und Osteologie. In Heimholtz' Worten ... gebührt Goethe der große Ruhm, die leitenden Ideen zuerst vorausgeschaut zu haben, zu denen der eingeschlagene Entwicklungsgang der genannten Wissenschaften hindrängte, und durch welche deren gegenwärtige Gestalt bestimmt wird. 44

Auf dem Gebiet der Botanik, speziell in der Morphologie, lobte Helmholtz Goethes Ahnungen einer durchgehenden Gesetzmäßigkeit, die er in der Entwicklung jeder Pflanze erkannte, und die die Metamorphose der Pflanzen enträtselten. Gleichzeitig hob Heimholtz noch vor dem Durchbruch der Abstammungslehre Darwins das Verdienst Goethes in der Osteologie hervor, Durch seine Entdeckung des Zwischenkiefernknochens im Menschen hatte Goethe die Kontinuität der Entwicklung des Menschen vom Tier nachgewiesen. Über ein Vierteljahrhundert nach seiner Abhandlung "über Goethes Naturwissenschaft" fand Helmholtz seine damalige Einschätzung von Goethes Morphologie bestärkt. In einer "Nachschrift" zu "Über Goethes Naturwissenschaft" verdeutlichte er dies 1875: Hier ist zu konstatieren, daß ... die Gedankenkeime, welche Goethe im Gebiete der Naturwissenschaften ausgesäet hat, zu voller und zum 43 44

Königsberger über Heimholtz. In: Königsberger, I, 184. Vorträge, I, 29 - 30.

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Teil reicher Entwicklung gelangt sind. Unverkennbar stützt sich Darwins Theorie von der Umbildung der organischen Formen vorzugsweise auf dieselben Analogien und Homologien im Baue der Tiere und Pflanzen, welche der Dichter, als der erste Entdecker, zunächst nur in der Form ahnender Anschauung, seinen ungläubigen Zeitgenossen darzulegen versucht hatte. 45

Heimholtz beobachtete zurecht, daß Goethe seine hier erfolgreiche naturwissenschaftliche Methodik aus der Kunst entlehnt hatte: Nicht als das Resultat einer Begriffsentwickelung, sondern als das der unmittelbaren geistigen Anschauung, des erregten Gefühls, dem Dichter selbst kaum bewußt, muß die Idee in dem vollendeten Kunstwerk daliegen und es beherrschen. 46

Goethe selber benutzte den Ausdruck des gegenständlichen Denkens für seine Methodik, die er in den "Naturwissenschaftlichen Schriften" folgendermaßen beschrieb, ... daß mein Denken sich von den Gegenständen sich nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei .... 47

Heimholtz verwies neben Goethes Erfolg in der Morphologie und Osteologie auch auf die Schwierigkeiten, die aus Goethes gegenständlichem Denken erwachsen, denn seinerzeit standen sich die methodischen Ausgangspunkte von Kunst und Wissenschaft üblicherweise diametral gegenüber. Für Helmholtz bedeutet Goethes Naturanschauung "sinnbildlicher Ausdruck des Geistigen. "48 Dies trennt Goethes Naturwissenschaften von den unmittelbaren Zielen der Physik, wie Heimholtz sie verstand: Die Physik sucht ... die Hebel, Stricke und Rollen zu entdecken, welche, hinter den Coulissen arbeitend, diese regieren, und der Anblick des Mechanismus zerstört freilich den schönen Schein. 49

Die Physik muß die Wirklichkeit erst einmal zerlegen, um sie zu entschlüsseln und besser beherrschen zu können. Goethes Ausgangsposition hingegen war ganz anders. Seine Methodik und 45 46 47

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Vorträge, I, 46. Vorträge, I, 34. HA, XIII, 37.

48 49

Vorträge, I, 44. Vorträge, I, 44 - 45.

sein Ziel einer einheitlichen Wissenschafts betrachtung werden in seinem "Versuch einer Farbenlehre" deutlich. Auch in seiner Naturwissenschaft suchte Goethe - wie in der Dichtung - den "schönen Schein" der Phänomene im Unterschied zur herkömmlichen Naturwissenschaft zu erhalten. Es ist verständlich, daß diese verschiedenen Ausgangspositionen zum Konflikt zwischen beiden Seiten führen mußten. Für Helmholtz lag das Interessante dieser Auseinandersetzung in Goethes leidenschaftlichem Widerstand gegen die von der wissenschaftlichen Welt anerkannte Theorie Newtons. Dabei ist das Feld der Physiker und das Goethes hoffnungslos gespalten: "Keiner begreift auch nur, was der Gegner eigentlich wolle. "50 Dies versuchte Helmholtz aufzuklären. Mit Goethes Überzeugung, auch wissenschaftliche Versuche immer in unmittelbarer Verbindung mit einem großen Ganzen zu sehen, erklärt Helmholtz Goethes sogenanntes Scheitern in der "Farbenlehre". Denn in den Augen eines herkömmlichen exakten Naturwissenschaftlers hatte Goethe die Phänomene in der Optik zu weit an der Oberfläche beobachtet, ohne auf deren physikalische Struktur einzugehen. Ein Beispiel für Goethes Betrachtungsweise liegt in seinem Widerwillen gegen komplizierte Instrumente und Versuchsanordnungen, die den unmittelbaren, natürlichen Sinneseindruck verzerren, wie es Newton aus Goethes Sicht praktizierte. Für Helmholtz wurzelt der Kern von Goethes Konflikt mit Newton in einer auf die Natur übertragenen ästhetischen Betrachtungsweise Goethes: Wie das echte Kunstwerk keinen fremden Eingriff erträgt, ohne beschädigt zu werden, so wird ihm [Goethe] auch die Natur durch die Eingriffe des Experimentierenden in ihrer Harmonie gestört, gequält, verwirrt, und sie täuscht dafür den Störenfried durch ein Zerrbild. 51

In Goethes Augen hatte Newton unrecht, weil er die Wirklichkeit entstellte und verzerrte, so daß Newton durch dieses Verfahren keinen Anspruch auf richtige Forschungsergebnisse stellen durfte. Goethe wehrte sich gegen die Verunglimpfung der Natur 50

51

Vorträge, I, 34. Vorträge, I, 35.

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durch die Naturwissenschaftler z. B. in den von Heimholtz zitierten Versen: Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben. 52

Heimholtz' gen aue Kenntnis von Goethes literarischem Werk führte ihn auf die richtige Spur, auch in Goethes Naturwissenschaft Elemente des Künstlers aufzudecken. Obwohl Heimholtz Goethes "Farbenlehre" vom Standpunkt der exakten Wissenschaften nicht für gelungen hielt, so fand Goethes dichterisches Werk doch seine volle Anerkennung. 53 Für Heimholtz liegt das unmittelbare Ziel der Physik zwar darin, zunächst den "Mechanismus der Materie zu besiegen", aber ihr letztendliches Ziel besteht darin, " ... daß wir ihn den Zwecken des sittlichen Geistes unterwerfen. "54 In Goethes Dichtung sieht Heimholtz das Primat des Sittlichen erfolgreich verwirklicht. Über ein halbes Jahrhundert nach seinem ersten Vortrag über Goethe befaßte sich Helmholtz nochmals speziell mit Goethes Naturwissenschaft und Dichtung. Als Helmholtz 1892 "Über Goethes Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen" sprach, betonte er mit Nachdruck, es habe "gegenwärtig die Physik schon ganz die Wege eingeschlagen, auf die Goethe sie führen wollte. "55 Heimholtz bezog sich auf die Entwicklung der Naturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten, die sich ausgehend von seiner Erhaltung der Kraft sowohl von den anschauungsleeren, von der Materie gelösten Begriffen des Vitalismus als auch vom tierischen Magnetismus getrennt hatten und rein empirisch vorgingen. Heimholtz fand Goethes Gedanken "daß man in jedem Zweige der Physik ein ,Urphänomen' zu suchen habe" Vorträge, I, 13. Scherzhaft verdeutlicht Helmholtz in "Vorträge", I, 43 Goethes Abgleiten von der wissenschaftlichen Wahrheit anhand von dessen Begriff der Trübe, die als Urphänomen weißem Licht physikalische Substanz und Farbe verleihen soll: "Sollen sich etwa körperliche Teile zu dem Lichte mischen und mit ihm davonfliegen?" 54 Vorträge, I, 31. 55 Vorträge, 11, 351. 52 53

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z. B. in Gustav Kirchhoffs Mechanik verwirklicht, deren Zielsetzung, "die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben" dem Goethesehen Urphänomen naheliegt. 56

Goethes persönliche Bedeutung für Helmholtz Goethe war nicht allein in wissenschaftlichen und philosophischen Fragen eine Leitfigur für HeImholtz, sondern auch in seinem persönlichen Leben. Dies zeigt sich in seinen zahlreichen Äußerungen und Abhandlungen über Goethe. "Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten" war HeImholtz' erster großer populärwissenschaftlicher Vortrag. Es ist bezeichnend, daß er seine glänzende Laufbahn über ein halbes Jahrhundert später ebenfalls mit einem Vortrag über Goethe beschloß. In "Goethes Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen" machte Helmholtz das Ausmaß seiner Wertschätzung für Goethe deutlich: Die Unbefangenheit und Gesundheit des Goethe'schen Geistes tritt um so bewunderungswürdiger hervor, als er einer tief verkünstelten Zeit entsprang . . . Sein Beispiel hat uns daher einen Maßstab von unschätzbarem Werte für das Echte und Ursprüngliche in der geistigen Natur des Menschen zurückgelassen, an dem wir unsere eigenen Bestrebungen mit ihren beschränkteren Zielen zu messen nicht versäumen solltenY

HeImholtz verlangte nicht nur von anderen, sich an Goethe zu messen. Er selber verglich seine wissenschaftliche Arbeit nicht nur in seinen speziell von Goethe handelnden Reden mit Goethe, sondern er fügte auch zahlreiche Worte Goethes, die er "Faust", den "Großen Hymnen" oder den "Gedichten der ersten Mannesjahre" entnahm, in seine populärwissenschaftlichen Werke ein. Goethes Verse halfen Helmholtz oftmals, sein z. T. trockenes Vortragsmaterial mit Leben zu füllen. So begann er seinen Vortrag "Wirbelstürme und Gewitter" leichtherzig mit: 56 57

Vorträge, 11, 352. Vorträge, 11, 22.

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Es regnet, wenn es regnen will, Und regnet seinen Lauf; Und wenn's genug geregnet hat, So hört es wieder auf. 58

Auch in dem Vortrag "Eis und Gletscher" überließ Heimholtz Goethe das Wort. Bei seiner Schilderung des Wasserlaufs von der Quelle bis zur Mündung zitierte Helmholtz "Mahomets Gesang" von Goethe, denn: "Es wäre vermessen, nach ihm eine solche Schilderung in anderen als seinen Worten geben zu wollen".59 Grundsätzlich berief sich Heimholtz in seinen populärwissenschaftlichen Werken auf Goethe. Dies war ebenso der Fall, als er 1891 eine "Tischrede" anläßlich der Feier seines 70. Geburtstages hielt. Helmholtz wandelte die Schlußstrophe von Goethes zweiter Version seines Gedichts "An den Mond" leicht ab, um mit dessen Hilfe die Vorbedingungen kreativer Arbeit zu illustrieren: Was vom Menschen nicht gewußt Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. 60

Mit dieser letzten Strophe von "An den Mond", verdeutlichte Heimholtz, daß ihm selber wissenschaftliche Einsichten oftmals völlig unvorhergesehen im Schlaf zufielen. Den ursprünglichen Sinn des Gedichtes veränderte Heimholtz, indem er ihn auf den Bereich der Intuition anwandte. Dabei gehörten die vorletzte und letzte Strophe ursprünglich bei Goethe als gedankliche Einheit zusammen, wie der Zeilensprung beweist: Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Freund am Busen hält Und mit dem genießt, Was, von Menschen nicht gewußt Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. 61 58 59

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Vorträge, 11, 138. Vorträge, I, 263.

60

61

Vorträge, I, 15. HA, I, 130.

Goethes Gedicht spricht hier von einem einsamen Menschen, dessen Lebensschmerz durch das Mitgefühl eines Freundes gelindert werden kann. Das Freundesmotiv versinnbildlicht die Hoffnung auf Genesung. 62 Der Vereinsamte sehnt sich nach einem Freund, einem Gleichgesinnten, mit dem er seine privaten Gefühle teilt und mit ihm das "genießt", wofür Außenstehende kein Verständnis aufbringen. In diesem Sinne sucht der Sprecher auch das Geheimnisvolle der Nacht mit einem Gleichgesinnten zu erfahren. Helmholtz hingegen übertrug den persönlichen Charakter von Goethes Gedicht eines Einsamen ins Allgemeine schöpferischer Tätigkeit. Daher sagte er auch nicht wie Goethe: "Was, von Menschen nicht gewußt" , sondern benutzte den verallgemeinernden Singular, "Was vom Menschen nicht gewußt".63 Heimholtz wollte damit illustrieren, daß kreative Gedanken häufig bereits im Unterbewußtsein angelegt sind, bevor sie beispielsweise über Nacht ins Bewußtsein treten. Heimholtz' Version ist in keiner der drei existierenden "Mond"-fassungen dokumentiert und kann daher als Beispiel gelten, wie Heimholtz' Gedächtnis unwissentlich eine kleine Änderung an Goethes Gedicht vornahm, um seine eigene Vorstellung von der unberechenbaren Eingebung klarer darzustellen. Helmholtz empfing von Goethe nicht nur individuelle schöpferische Anregung, sondern er betrachtete darüber hinaus Goethes eigenes Leben als Vorbild für sich und andere, wie er selber in "Goethes Vorahnungen" bezeugt: Immerhin mag uns das Vorbild [Goethes) ... lehren, wie ein Sterblicher, der wohl zu stehen gelernt hatte, auch wenn er mit dem Scheitel die Sterne berührte, noch das klare Auge für Wahrheit und Wirklichkeit behielt. 64

62 Vgl. auch Trunz, HA I, 545. Trunz bezeichnet dort die zweite Fassung von "An den Mond" als" ... das Lied eines Erlebnisreichen, durch Schicksal, nicht durch Natur Einsamen, der auf verschwundenes Glück zurückschaut und Heilung erhofft. " 63 Hervorhebungen von der Verfasserin. 64 Vorträge, II, 245.

3 Partenheimer

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Obwohl Helmholtz hier eine nahezu metaphysische Aussage macht, schränkt er ein, daß Goethe gerade durch seine Genialität als Vorbild für "Wahrheit und Wirklichkeit" gelten müsse, die HeImholtz mit Hilfe Goethes durch die Empirik zu erfassen suchte. HeImholtz' lebenslange Neigung zu Goethe findet in der wesenhaften Verwandtschaft, die HeImholtz zwischen Künstlern und Naturwissenschaftlern verspürte, ihre Erklärung: Etwas von dem Blicke des Künstlers, von dem Blicke, der Goethe und auch Lionardo da Vinci zu großen wissenschaftlichen Gedanken leitete, muß der rechte Forscher immer haben. 65

Goethe verkörperte für Helmholtz in seiner Vielseitigkeit als Dichter, Maler, Naturwissenschaftler und Staatsmann den Gedanken des Renaissance-Menschen. Helmholtz gehörte diesem auserwählten Kreis ebenfalls an, denn auch er war nicht nur Physiker, Physiologe und Philosoph, sondern darüber hinaus ein versierter Kunstliebhaber und Goethekenner, der seine gesamte persönliche Arbeit in das Interesse des Allgemeinwohls stellte: Wir, jeder von uns, der für die Wissenschaft arbeitet, arbeitet nicht für sein eigenes Wohl; er arbeitet zunächst für das Wohl seines Volkes, er arbeitet für das Wohl der ganzen Menschheit .... 66

Vorträge, 11, 245. Heimholtz, Hermann von: Antwortschreiben auf die Glückwunschadresse der Akademie der Wissenschaften anläßlich seines 70. Geburtstages. In: Hermann von Helmholtz über sich selbst. (Leipzig: B. G. Teubner, 1966), S. 7. 65

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Foto: Ulistein

ERNST HAECKEL

2. Ernst HaeckeI Es scheint bei einem bedeutenden Manne im neunzehnten Jahrhundert nichts besonderes mehr, wenn er von Goethe beeinf!ußt ist. Es ist wie eine Naturnotwendigkeit, wer will sich ihr entziehen: alles Große dieses Jahrhunderts muß irgendwie auf Goethe zurück . . .. Aber daneben gibt es noch eine engere Gefolgschaft Goethes: einzelne starke Geister, die von Anfang an in ihrem ganzen Denken bewußt von ihm ausgegangen sind; die sich Zeit ihres Lebens als Apostel gefühlt haben eines geheimen "Evangelium Goethe"; und die in allem neuen, was sie selbst geschaffen haben, immer nur seine Gedanken weiterzudenken glaubten wie im Banne einer aus sich heraus auf diese neuen Ziele hin weiterrollenden Logik. Haeckel gehört in all seinem Tun zu dieser engeren Gemeinde, ja er ist als Gesamtperson eine ihrer markantesten Erscheinungen in der zweiten Jahrhunderthälfte. (Wilhelm Bölsche)!

Haeckel vervollkommnete die Abstammungslehre Darwins und brachte sie der deutschen Gelehrtenwelt und internationalen Öffentlichkeit in flammenden Bekenntnissen und eindrucksvollen wissenschaftlichen Beweisen nahe. Einen Großteil seines wissenschaftlichen Erfolges verdankte er Goethe.

Goethes zentrale Stellung in Haeckels Jugend- und Lehrjahren Haeckels starke Neigung zu Goethe erklärt sich nicht allein aus einem echten Verwandschaftsverhältnis: "Über die Großmutter Sethe-Sack hinweg ist Ernst Haeckel blutsverwandt mit Goethe, seinem Geistesverwandten. "2 Vielmehr erfolgte der ausschlaggebende Einfluß Goethes auf ihn während seiner Jugendzeit, in der ! Bölsche, Wilhelm: Ernst Haeckel - Ein Lebensbild, 4. Auf!. (Berlin und Leipzig: Hermann Seeman, undat.), S. 21. 2 Schmidt, Heinrich: Denkmal eines großen Lebens. (Jena: Frommannsche Buchhandlung Walter Biedermann, undat.), S. 3. 3'

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sich eine Geistesverwandtschaft Haeckels zu Goethe entwickelte. Schon als Kind hatte Haeckel Goethe von seinem Vater zu schätzen gelernt, erinnert sich Haeckel: Er [der Vater] war mehr Philosoph als Jurist. Plato, Goethe, Schleiermacher studierte er besonders gern, namentlich aber Goethe. Das war von großer Bedeutung für mich. 3

Der frühe Goethe-Kontakt, den der Vater Karl Haeckel seinem Sohn vermittelte, wurde durch den ausgezeichneten Deutschunterricht am Merseburger Dom-Gymnasium unter Ferdinand Wiek, einem engen Freund des Vaters, vertieft: Der Direktor des Gymnasiums, Ferdinand Wiek, muß eines jener Originale gewesen sein, an denen die humanistischen Oberschulen Deutschlands im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts so reich waren. Von ihm glaubt der bekannte Historiker Leopold von Ranke, einst auch Schüler Wieks, sagen zu dürfen, daß er "in Merseburg der einzige Mensch gewesen, der von Goethe einen richtigen Begriff gehabt habe".4

Als Klassenerster war Haeckel häufig Wiecks Gesprächspartner, wenn es um die Klassiker und insbesondere Goethe ging, wie Haeckel selber erläutert: Erst später habe ich eingesehen, wieviel ich diesen abstrakten Spekulationen verdanke und besonders dem beständigen Hinweis auf den ursächlichen Zusammenhang aller Erscheinungen. Besonders der ständige Hinweis auf Goethe, den der alte Wiek, ebenso wie mein Vater, aufs höchste verehrte, hat wohl viel dazu beigetragen, schon frühzeitig die Verehrung und das Verständnis für diesen größten Deutschen in mir zu erwecken, auch für seinen Pantheismus und für mein späteres Bekenntnis zu demselben wurde damals durch den alten Wiek die Grundlage gegeben. s

Nicht nur Goethe der Dichter, sondern auch Goethe der Naturwissenschaftler regte Haeckel schon während seiner Kindheit in seiner Vorliebe für die Botanik an. Als Gymnasiast sammelte Haeckel Pflanzen seiner Merseburger Heimat in einem 3 Haeckel, Ernst, zitiert in: Was wir Ernst Haeckel verdanken. Heinrich Schmidt (Hg.). (Leipzig: Unesma, 1914), I, 42. 4 Hemleben, Johannes: Ernst Haeckel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1964), S. 16. 5 Haeckel, Ernst, zitiert in Hemleben, S. 17 - 18.

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Herbarium nach Goethes Vorbild. In "Eine autobiographische Skizze" deutet Haeckel, der in der dritten Person über sich berichtet, auf seine sehr frühe Verbundenheit zu Goethes eigenen systematischen Versuchen hin: Schon als zwölfjähriger Knabe wurde er von kritischen Zweifeln geplagt, was er mit den schlechten Arten der Brombeeren, Weiden, Rosen, Disteln usw. anfangen sollte; für diese von Goethe sogenannten "charakterlosen oder liederlichen Geschlechter" legte er sich ein besonderes, geheimes Herbarium an. 6

Seit seiner frühen Jugend suchte Haeckel ganz im Sinne von Goethes naturwissenschaftlichen Studien nach dem inneren Zusammenhang der Lebensformen, wie seine Klassifikationstätigkeit bezeugte. Wie sehr die schon damals von Goethes Geist durchdrungene betrachtende Naturwissenschaft Haeckels gesamten späteren Lebensgang vorzeichnet hatte, erklärt er über sich in seiner "Autobiographischen Skizze": Bei diesen systematischen Spielereien stieß er schon damals auf die große Frage, welche später sein Hauptobjekt seiner Studien bildete, auf die mit der ganzen Schöpfungsgeschichte so innig zusammenhängende Frage vom Wesen und Begriff der organischen Spezies, vom Unterschiede der guten und schlechten Arten.'

Als Haeckel im Jahr 1849 nach Jena wanderte, um seine zukünftige Universität einmal zu besuchen, hatte er Goethe sehr im Sinn. Haeckels ehemaliger Student und persönlicher Freund, Wilhelm Bölsche berichtet: [B]einah mit nichts in der Tasche sich durchschlagen wie ein fahrender Scholar, von Brot und Wasser leben, nachts im Heu schlafen; aber genießen in vollen Zügen, all das Unvergleichliche, was die Zauberin Natur dem treuen Adepten umsonst gibt, Landschaftsstimmungen, seltene Orchideen, Gedanken über Gott, Goethe und die Welt. 8 6 Haeckel, Ernst: Eine autobiographische Skizze. In: Der gerechtfertigte Haeckel - Einblicke in seine Schriften aus Anlaß des Erscheinens seines Hauptwerkes Generelle Morphologie der Organismen vor 100 Jahren. Gerhard Heberer (Hg.). (Stuttgart: Gustav Fischer Verlag, 1968), S. 3. 7 Autobiogr. Skizze. In: Der gerechtf. Haeckel, S. 3. 8 Bölsche: Ernst Haeckel, S. 28.

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Bei Gedanken über Goethe allein ließ Haeckel seine Erkundungsreise nach Jena nicht bewenden, denn er ließ es sich nicht nehmen, auf dem Hinweg die Goethe-Räume von Schloß Dornburg zu besichtigen, wo sein großes Vorbild im Alter selber manche naturwissenschaftliche Studie betrieben hatte. Wegen eines Gelenkrheumatismus konnte Haeckel nicht in Jena studieren, sondern er mußte sich bei den Eltern in Berlin gesundpflegen lassen. Dort begann er auf Bitte des Vaters Medizin als Brotberuf zu studieren und geriet daraufhin in die Schule von Johannes Müller, dem großen Physiologen und Goethefreund, durch dessen Schule die Physiker Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond sowie der Histologe Rudolf Virchow und viele andere namhafte Naturwissenschaftler gegangen waren. Müller wurde Haeckels bevorzugter Professor und wissenschaftliches Vorbild. "Johannes Müller war durchdrungen davon, daß seine Arbeit vom Geiste Goethes sei".9 Er wies seinen Studenten zweifellos tief in Goethes Formenlehre ein, denn Müller gehörte zu den ersten Fachwissenschaftlern, die Goethes Studien in der Morphologie als Begründung der vergleichenden Anatomie in Deutschland öffentlich anerkannten. lO Auf praktischer Ebene förderte Müller in Haeckel die Achtung vor den kleinsten Wesen der Natur, die das menschliche Auge erst durch das vor kurzem erfundene vergrößernde Mikroskop wahrnehmen konnte: Jeder Blick ins Mikroskop ist ein Gottesdienst. Die tiefste Sonne Goethes war es, die hier aus diesem sonderbaren, dunkeln, kantigen, schwer begreiflichen Edelstein doch immer wieder einen großen, strahlenden Funken schlug. . . .11

In goethescher Achtung auch vor den scheinbar bedeutungslosen Lebewesen beschäftigte sich Haeckel bald darauf mit Untersuchungen des Meeresplanktons und mikroskopisch kleinen Strahlentierchen, den Radiolarien. Mit seinen Untersuchungen Hemleben, S. 40. Vgl. Bölsche, Wilhelm: Eine ungehaltene Grabrede - Ein letztes Wort zu Ernst Haeckel. In: Der gerechtf. Haeckel, S. 29. 11 Bölsche: Ernst Haeckel, S. 42. 9

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über die Radiolarien erwarb Haeckel seinen Ruf als ernstzunehmender Naturwissenschaftler.

Haeckels Verknüpfung von Goethe und Darwin in der Deszendenz-Theorie Erst durch den Gedankenanstoß Goethes konnte Haeckel seine größte naturwissenschaftliche Leistung, die Vertiefung der Deszendenz-Theorie Darwins verwirklichen. Goethes N aturphilosophie schaffte überhaupt erst die Grundlage für Haeckel, Darwins Lehre zu begreifen, indem sie die kirchliche Erziehung, die er durch sein Elternhaus erfahren hatte, aufhob: Von Goethe stammt der ganze Urgrund seiner [Haeckeis] Weltanschauung. Goethe hat ihm seinen Gott zugleich genommen und gegeben: - genommen den kirchlich persönlichen Gott, der "nur von außen stieße"; gegeben den Gott, der im All, in der ewigen Entwickelung, in Leib und Seele zugleich ist, der "er selbst ist" als Inbegriff alles Wirklichen, alles Seienden, neben dem es nicht noch eine besondere "Welt" gibt, nicht noch einen besonderen sündhaften Menschen, nicht noch einen besonderen Anfang und ein besonderes Ende der "Dinge".1 2

Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung von Charles Darwins "The Origin of Species by Means of Natural Selection" (1859), las Haeckel eine deutsche Übersetzung, während er in Messina am Mittelmeer wieder einmal die Radiolarien erforschte. Die Gültigkeit der Darwinschen Abstammungslehre stellte Haeckel nicht mehr in Frage. Haeckel bekannte sich bereits 1862 in "Die Radiolarien (Rhizopoda radiaria)" offen zum Darwinismus. Eine weitaus folgenreichere Verknüpfung der Lehre Darwins mit Goethes Naturphilosophie erfolgte bereits vier Jahre später mit Haeckels "Genereller Morphologie: Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Deszendenztheorie". Aus dem mehr als zweitausend Seiten starken Werk atmet überall der Geist Goethes. 12

Bölsche: Ernst Haeckel, S. 21.

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Haeckel erkannte in Goethe einen Begründer der Abstammungslehre, für die Darwin später weiteres Beweismaterial zusammenstellte. Haeckels "Generelle Morphologie" sollte diese Behauptung beweisen, daher erklärt er in der "Generellen Morphologie" seine Absicht, . . . unserem Dichterfürsten Goethe eine hervorragende Rolle als Begründer der Entwicklungslehre zuzuerteilen und durch zahlreiche, aus Goethes Schriften entnommene Zitate nachzuweisen, daß dieser unvergleichliche Mann in Wahrheit neben Lamarck als ein Vorläufer von Darwin zu betrachten ist. 13 Haeckel hebt in der "Generellen Morphologie" die visionäre vordarwinistische Leistung Goethes und auch die des Franzosen Jean Lamarck hervor, zu deren Lebzeiten die Disziplinen der Entwicklungsgeschichte und Paläontologie noch nicht existierten: Wie weit ... diese Genien ... ihrer Zeit vorauseilten, bezeugt vor Allem die (in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ignorierte) Tatsache, daß Beide, sowohl Lamarck, als Goethe, die wichtigsten Sätze der Deszendenz-Theorie bereits mit voller Klarheit und Bestimmtheit aussprachen. 14 Zum Beweis erwähnt Haeckel "die bewunderungswürdige Metamorphose der Pflanzen von Goethe" (1790) und Lamarcks "klassische Philosophie zoologique" (1809).15 Haeckel erhebt Goethe damit in der "Generellen Morphologie" zum "selbständigen Begründer der Deszendenz-Theorie in Deutschland. "16 13 Haeckel, Ernst: Generelle Morphologie - Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Deszendenztheorie. 2 Bde. (Berlin: Georg Reimer, 1866), H, 160. 14 Generelle Morphologie, I, 69. 15 Generelle Morphologie, I, 69. 16 Generelle Morphologie, H, 160. In späteren Monographien und Reden fährt Haeckel in seinem Werk fort, Goethes Ansehen in der Wissenschaft zu heben, wie z. B. in: Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. In: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre. Bd. 1.,2. Auf!. (Bonn: Emil Strauß, 1902). Sowie: Entwicklungstheorie nach Goethe und Oken. In: Natürliche Schöpfungsgeschichte - Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im besonderen. 11. Auf!. (Berlin: Georg Reimer, 1909).

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Die "Generelle Morphologie" rechtfertigt nicht nur Goethes Anspruch als deutschen Begründer der Deszendenz-Theorie, sondern sie zeigt auch Goethes entscheidenden Einfluß auf die Vervollständigung der Deszendenz-Theorie durch Haeckels eigene Forschung. Haeckel arbeitete die Goetheschen und Darwinisehen Gedanken weiter aus, so daß er "die Abstammungslehre . . . durch ganze Blöcke von Beweisen fester untermauert" .17 Dabei kommt Goethes Teilhabe z. B. im 19. Kapitel der "Generellen Morphologie" über "Die Deszendenz-Theorie und die Selektions-Theorie" deutlich zum Vorschein. Das Kapitel beginnt Haeckel wieder mit Worten von Goethe: Dieses also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommeneren organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, daß nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und herweicht, und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet. 18

Haeckel entnahm dieses Zitat aus Goethes Vorträgen über die drei ersten Kapitel des "Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie" (1796). Seine eigene Vorstellung der Deszendenz-Theorie lehnt Haeckel unmittelbar an die oben zitierten Worte Goethes an: Alle großen Erscheinungsreihen der organischen Natur, alle allgemeinen Resultate der zoologischen und botanischen, morphologischen und physiologischen Forschungen, führen uns übereinstimmend und mit zwingender Gewalt zu dem gesetzlichen Schlusse, daß sämtliche Organismen, welche heutzutage die Erde beleben, und welche sie zu irgend einer Zeit die Erde belebt haben, durch allmähliche Umgestaltung und langsame Vervollkommnung sich aus einer geringen Anzahl von höchst einfachen Urwesen (Protoorganismen) entwickelt haben. Diese Entwicklung geschah und geschieht auf dem Wege der materiellen Fortpflanzung, der elterlichen Zeugung, nach den Gesetzen der Erblichkeit und der die Erblichkeit modifizierenden Variabilität und der Anpassung. Alle, auch die höchsten und kompliziertesten Organismen können nur auf diesem Wege, durch die allmählige Differenzierung und Transmutation von einfachsten und niedrigsten Lebewesen entstanden sein. 19 17

18

Heberer: Ausklang. In: Der gerechtf. Haeckel, S. 519. Generelle Morphologie, 11, 148.

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Haeckel folgte nicht nur Goethes Beschreibung der Entwicklungsgesetzlichkeiten, wonach sich die Arten durch Vererbung umbilden. Dies hatte Darwin in anderen Worten auch gesagt. 20 Unabhängig von Darwin übernahm Haeckel Goethes Konzept eines Urphänomens, das er Protoorganismus nennt, und wie Goethe gliedert er die Menschen an der Spitze der Kette der Lebewesen ein. Neben Goethes wissenschaftlichen Schriften zitiert Haeckel auch aus Goethes Poesie, hier aus der "Metamorphose der Pflanzen", um die Deszendenz-Theorie weiter zu veranschaulichen: Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andem; Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz Auf ein heiliges RätseP1 Die Lösung des Rätsels vom geheimen Gesetz, das die Ähnlichkeiten der Arten bewirkt, lag für Haeckel auf der Hand. Goethe selbst gab dazu bereits den Aufschluß, wie Haeckel in der "Generellen Morphologie" ausführt: "Stammesverwandtschaft"! ist das "glücklich lösende Wort des heiligen Rätsels, des geheimen Gesetzes" , welches Goethe in dem allgemeinen Widerstreit zwischen der unendlichen Verschiedenheit und der unleugbaren "Ähnlichkeit der organischen Formen" entdeckte. 22 Diese Stammesverwandtschaften, in der sich sämtliche Gestalten ähneln, behandelte Goethe in seinen Untersuchungen über die Metamorphose der Pflanzen und der Tiere. Nach seiner Überzeugung hatten die Lebewesen durch Anpassung an verschiedene Existenzbedingungen ihre von einer Urpflanze und einem Urtypus des Tieres unterschiedliche Gestalt angenommen.

19 Generelle Morphologie, I, 167. Im Unterschied zu dem von Goethe inspirierten Haeckel hatte Darwin laut Heberer in "Ausklang", in: Der gerechtf. Haeckel, S. 518: ... die Abstammungslehre in einer sehr allgemeinen Form aufgestellt: Die Arten der Tiere und Pflanzen sind veränderlich, und was heute an Formen existiert, hat gemeinsame Vorfahren. Er hatte diese allgemeine Theorie bewiesen und auch die Faktoren aufgedeckt, durch die Änderungen bewirkt werden. 21 Generelle Morphologie, II, xvii. 22 Generelle Morphologie, II, xviii. 20

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Goethes Beispiel folgend ging Haeckel den Stammesverwandtschaften bei Mensch, Tier und Pflanze auf den Grund, denn der Gedanke der geschichtlichen Verwandtschaft rührte nicht von Darwin her. 23 Im Zuge dieser Forschung entdeckte Haeckel noch eine weitere Kategorie goethescher Urlebewesen, die Protisten. Sie bilden ein Zwischenstadium zwischen Pflanze und Tier. Als Resultat errichtete Haeckel ein umfangreiches geschichtlich orientiertes Stammbaumsystem, worin die Lebewesen nicht mehr in der linneschen Manier einfach schematisch einander zugeordnet werden, sondern sich aus Urformen in konsequenter Weise immer weiter entwickeln. 24 Die goethesche geschichtliche Perspektive führte Haeckel darüber hinaus zu weiteren, maßgeblichen Entdeckungen in der Zoologie. In seiner "Gastraea-Theorie" verfolgte er die Keimesentwicklung der Tiere zurück zu einem becherkeimförmigen Urstadium. Die "Gastraea-Theorie" ist gleichzeitig Bestandteil des "Biogenetischen Grundgesetzes" , ebenfalls einer grundlegenden Entdeckung Haeckels. Danach vollzieht sich in der Keimesentwicklung des Individuums in abgekürzter Weise die Stammesentwicklung. So erklärt es sich, daß auch jeder menschliche Embryo z. B. das Stadium der Gastrula, Amphibien u.s.f. durchlaufen muß, bevor er sich zum Säugling entwickelt. Mit gewissen Einschränkungen findet die goethesche Vision, die Haeckel in der geschichtlichen Behandlung der Abstammung vertiefen wollte, ihre wissenschaftliche Bestätigung.

Haeckels "Generelle Morphologie" als Fortsetzung von Goethes Morphologie Indem Haeckel Goethezitate in seine "Generelle Morphologie" integrierte, beabsichtigte er, Goethe in der Fachwelt eine vorrangige Position in der Geschichte der deutschen Biologie, im Vgl. Heberer: Ausklang. In: Der gerechtf. Haeckel, S. 518: Aber er [Darwin] hatte seine Theorie nicht benutzt, um Stammbäume aufzustellen, also das System der Pflanzen und Tiere von der Stammesgeschichte her zu entwickeln. Das geschah zum ersten Mal durch Ernst Haeckel. 24 Vgl. Heberer: Ausklang. In: Der gerechtf. Haeckel, S. 493 - 539. 23

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besonderen der beschreibenden Formenlehre - also Morphologie - zu sichern: Wir Deutschen pflegen in der Regel unseren größten Dichter, um den uns alle Nationen beneiden müssen, nicht als Naturforscher zu betrachten, und weil er in seiner "Farbenlehre" auf einen Irrweg geraten ist, das viel tiefere Verständnis der organischen Natur gänzlich zu übersehen, welches sich in einem wahrhaft überraschenden Grade an zahlreichen Stellen von Goethes Werken ausspricht. Wir glauben, es wird hinlänglich aus den goldenen Worten Goethes hervorleuchten, mit denen wir den Eingang und die Kapitel dieses Werkes geziert haben. 25

Die "Generelle Morphologie" strahlt Goethes Erbe unmittelbar in Vokabular wie Gehalt aus: "Voran Goethe; er gab zunächst das Titelwort: Morphologie. "26 Goethe stellte die Morphologie als neue Wissenschaft auf, um damit die Lehre von den Formen zu kennzeichnen. Haeckellehnte seine eigene Definition der Morphologie unmittelbar an diejenige Goethes an, wie sich gleich zu Beginn des ersten Buchs der "Generellen Morphologie" herausstellt. Die Überschrift lautet: "Kritische und methodologische Einleitung in die generelle Morphologie der Organismen". Vor allem anderen Text stellt Haeckel seiner "Generellen Morphologie" einen längeren Abschnitt aus Goethes "Zur Morphologie" (1807) voran, um die zentrale Rolle Goethes in der Gesamtkonzeption seines eigenen Buches zu veranschaulichen. In "Zur Morphologie" erklärt Goethe die neue Disziplin der Morphologie aus der Notwendigkeit, eine Wissenschaft zu schaffen, die sich vornehmlich mit der äußeren Gestalt von Lebewesen befaßt: Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen .... Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere Versuche, eine Lehre zu gründen und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten. 27 25 26

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Generelle Morphologie, I, 157. Bölsche: Ernst Haeckel, S. 139.

Gegenüber der oben zitierten Goethepassage befindet sich Haeckels eigene Definition der Morphologie. Der Standort der Definition weist bereits optisch auf eine enge innere Verbindung hin, die Haeckel zwischen seinem Morphologiebegriff und dem Goethes empfand. Sie manifestiert sich jedoch nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich: Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist die gesamte Wissenschaft von den inneren und äußeren Formenverhältnissen der belebten Naturkörper, der Tiere und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der organischen Morphologie ist mithin die Erkenntnis und die Erklärung dieser Formenverhältnisse, d. h. die ZUTÜckführung ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze. 28

Jahrzehnte später bekannte sich Haeckel in "Fünfzig Jahre Stammesgeschichte" (1916) unverändert zum Prinzip der natürlichen Abstammung der Arten und zu Goethe als Basis seiner gesamten Wissenschaft und einheitlichen Weltanschauung, die er mit der "Generellen Morphologie" erstmals formulierte: Als Leitstern schwebte mir dabei die großartige monistische Naturauffassung vor, zu welcher unser größter Denker und Dichter , Wolfgang Goethe, bereits in den Jahren 1781 - 1807 gelangt war, als er hier in Jena mit unermüdlichem Eifer vergleichende Anatomie studierte und seine "Metamorphose der Pflanzen" schrieb. 29

In "Fünfzig Jahre Stammesgeschichte" fährt Haeckel fort, daß die "Generelle Morphologie" für seine "ganze übrige Lebensarbeit programmatisch Richtung und Methode bestimmte. "30

Haeckels Anlehnung an Goethes ganzheitliche Wissenschaftsmethode Neben Goethes Konzept der Morphologie übernahm Haeckel auch dessen ganzheitliche Wissenschaftsmethode. Zu Beginn des Kapitels "Begriff und Aufgabe der Morphologie der OrganisGenerelle Morphologie, I, 2. Generelle Morphologie, I, 3. 29 Haeckel, Ernst: Fünfzig Jahre Stammesgeschichte - historisch-kritische Studien über die Resultate der Phylogenie (Jena: Gustav Fischer, 1916), S. 3. 30 Fünfzig Jahre Stammesgeschichte, S. 3. 27

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men" zieht Haeckel Goethe zu seiner Verteidung in einem vorhersehbaren Streit um die angemessene wissenschaftliche Verfahrensweise heran, indem er zunächst Goethe zitiert: Weil ich für mich und Andere einen freieren Spielraum in der Naturwissenschaft, als man uns bisher gegönnt, zu erringen wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs verargen, wenn wir dasjenige, was unseren rechtmäßigen Forderungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen uns verübte. 31

In dieser Kampfansage wehrt sich Goethe gegen herkömmliche rein empirische Wissenschaftler, die lediglich Tatsachenmaterial ansammeln. In dem Kapitel "Analyse und Synthese" in "Zur allgemeinen Naturwissenschaft" weist Goethe auf die Mängel solchen Verfahrens hin: Es ist nicht genug, daß wir bei Beobachtung der Natur das analytische Verfahren anwenden, d.h. daß wir aus einem irgend gegebenen Gegenstande so viel Einzelheiten als möglich entwickeln und sie auf diese Weise kennen lernen, sondern wir haben auch ebendiese Analyse auf die vorhandenen Synthesen anzuwenden, um zu erforschen, ob man denn auch richtig, ob man der wahren Methode gemäß zu Werke gegangen ist. 32

Die Synthese setzt Goethe einer wissenschaftlichen Analyse als einendes Grundkonzept voraus, um wiederum zu einem sinnvollen Forschungsergebnis zu gelangen, das nicht lediglich eine Anhäufung von Fakten dokumentiert, wie er in "Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen" erklärt: Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt, und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft. 33

Dieser Forderung Goethes folgte Haeckel bewußt in seiner eigenen naturwissenschaftlichen Methodik. Haeckel übernahm z. B. Goethes Überschrift "Analyse und Synthese" aus "Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen" wortwörtlich als eine Kapitelüberschrift in der "Generellen Morphologie. Darüber hinaus 31 32

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Generelle Morphologie, I, 3. HA, XIII, 50.

33

HA, XIII, 51.

verwandte er Synthese und Analyse nach Goethes Muster, wie er selber anerkennt: Induktion und Deduktion stehen nach unserer Ansicht in der innigsten und notwendigsten Wechselwirkung, in ähnlicher Weise, wie es Goethe von der Analyse und Synthese ausspricht: "Nur Beide zusammen, wie Aus- und Ein-Atmen, machen das Leben der Wissenschaft. "34

Indem Haeckel seiner Wissenschaft im Sinne Goethes eine Synthese voraussetzte, kam er neben zahlreichen anderen Entdeckungen zu einer die wissenschaftliche und gesellschaftliche Welt aufrührenden Erkenntnis. In auffallendem Fettdruck findet sich in der "Generellen Morphologie": Der Satz, daß der Mensch sich aus niederen Wirbeltieren, und zwar zunächst aus echten Affen entwickelt hat, ist ein spezieller Deduktionsschluß, welcher sich aus dem generellen Induktions-Gesetz der Deszendenz- Theorie mit absoluter Notwendigkeit ergibt. 35

Goethes Naturanschauung als Basis von Haeckels Naturphilosophie und Monismus Hand in Hand mit der ganzheitlichen Betrachtungsweise von Goethes Methodik richtet sich Haeckels gesamte Naturwissenschaft und Philosophie nach Goethes Naturanschauung. Um den goetheschen Ton für das gesamte Werk gleich von Anfang an leitmotivisch anzugeben, setzte Haeckel vor jeglichen anderen Text der "Generellen Morphologie" Ausschnitte aus dem Goethe zugeschriebenen aphoristischen Aufsatz "Die Natur":36 Die Natur schafft ewig neue Gestalten; was da ist war noch nie; was war kommt nicht wieder: Alles ist neu, und doch immer das Alte. Generelle Morphologie, I, 83. Generelle Morphologie, 11, 427. 36 "Die Natur" wurde Goethe lange Zeit zugeschrieben, und auch Haeckel wird den Aufsatz für Goethes eigenes Werk gehalten haben. Tatsächlich verfaßte ihn Tobler, ein ehemaliger Sekretär Goethes. Goethe selber bekannte sich jedoch zu dem Inhalt des Aufsatzes. Im Alter wollte er dem "Walten der Natur" nur noch das Konzept der "Steigerung" hinzufügen. Vgl. Goethes "Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz ,Die Natur"'. In: HA, XIII, 48 - 49. 34 35

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Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr. Sie verwandelt sich ewig und doch ist kein Stillstehen in ihr. Für's Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie an's Stillstehen gehängt. Sie ist fest: ihr Tritt ist gemessen, ihre Gesetze unwandelbar. Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Formen, und ist immer dieselbe. Die Natur hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten, sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr; nein, was wahr ist und was falsch ist, Alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, Alles ist ihr Verdienst. 37

Die Natur gilt hier als absolutes Triebrad aller Existenz, die ewig neue Gestalten und Phänomene schafft und dennoch immer nach einer Gesesetzmäßigkeit handelt. Haeckel kürzte den sehr viel längeren Aufsatz, um lediglich die für ihn wichtigen Aspekte zu betonen. Zu diesem Zweck gestattete er sich einige herausgeberische Freiheiten in bezug auf die getreue Wiedergabe des Originaltexts. So beginnt Haeckel z. B. nicht mit dem Titel "Die Natur" , sondern er benutzt sogleich den Text selber. Im folgenden ersetzt er das Pronomen "sie" des Urtextes mit "die Natur". Vermutlich nahm Haeckel diese Änderungen vor, um den von ihm gewählten Textauszug ganz offensichtlich mit dem Thema Natur zu verbinden. Aus der "Natur" scheint eine im Sinne Goethes einheitliche Naturbetrachtung hervor, die schon aus Goethes Methodik unter dem Aspekt der "Synthese" hervorgeht. Dies läßt Haeckel im allgemeinen nach einer "philosophischen Betrachtung" der Wissenschaft in der "Generellen Morphologie" fordern: Wir unsererseits sind unerschütterlich davon überzeugt, daß man in der wahrhaft "erkennenden" Naturwissenschaft die Empirie und die Philosophie gar nicht voneinander trennen kann. Jene ist nur die erste und niederste, diese die letzte und höchste Stufe der Erkenntnis ....

Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist in diesem Sinne Naturphilosophie. 38

37

38

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Generelle Morphologie, unbezifferte Anfangsseite. Generelle Morphologie, I, 67.

In der Überzeugung, daß die "äußerst wichtige philosophische Erkenntnis von der Einheit der organischen und anorganischen Natur empirisch fest begründet ist", erhebt Haeckel seine auf Goethe basierende Naturphilosophie auf den Rang einer wissenschaftlich begründeten Religion. 39 Aus Haeckels Behauptung, im Monismus gäbe es "weder Geist noch Materie im gewöhnlichen Sinne, sondern nur Eins, das Beides zugleich ist", 40 spricht unverkennbar Goethe, auf dessen "Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz ,Die Natur'" sich Haeckel noch auf derselben Seite beruft: Weil die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so ver1flag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen . ... 41

In Goethes Vorstellung gehören Materie und Geist untrennbar zusammen. Das Walten der Natur allein erklärte in Goethes Augen jedoch noch nicht, warum sich Materie und Geist stets höher entwickeln. Goethe bemerkt daher ferner in seiner "Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz ,Die Natur''': Die Erfüllung aber die ihm [dem Aufsatz1fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, sofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. 42

Goethes Vorstellung der Zusammengehörigkeit von Materie und Geist erklärt Haeckels Monismus und Goethes Pantheismus. Da alle Entwicklung aus dem Zusammenwirken von Materie und Geist aus sich selbst heraus erfolgt, schließt sie einen von außen wirkenden Schöpfer aus. Haeckel beruft sich in der "Generellen Morphologie" weiterhin auf Goethe, um mit ihm zu demonstrieren, daß Gott sich in jedem Aspekt der Natur offenbart: Generelle Morphologie, 11, 449. Generelle Morphologie, 11, 449. 41 Generelle Morphologie, 11, 449. Vgl. HA, XIII, 48, "Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz ,Die Natur'''. 42 HA, XIII, 48. 39

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4 Partenheimer

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Denn ..in ihm leben, weben und sind wir". So wird die Naturphilosophie in der Tat zur Theologie. Der Kultus der Natur wird zu jenem wahren Gottesdienste, von dem Goethe sagt: "Gewiß es gibt keine schönere Gottesverehrung, als diejenige, welche aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt!"43

Hier verband Haeckel Goethesche Konzepte und Vorstellungen, die von mehreren Quellen herrühren. Haeckels Worte, nach denen die Menschen in der Natur und somit in Gott leben und weben, entstammen einer Strophe aus Goethes "Prooemion" , die diese Ansicht noch tiefer erläutert: Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziehmt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, So daß, was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt!44

Den Gedankenanstoß der "Gottesverehrung ... aus dem Wechselgespräch mit der Natur" entnahm Haeckel aus Goethes "Dichtung und Wahrheit", er kürzte jedoch das Original um den Zusatz des Bildes: Gewiß, es ist keine schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt!45

Die mehrfachen Ungenauigkeiten in Haeckels eben genannten Goethezitaten lassen sich vielleicht dadurch erklären, daß Haekkel vieles aus dem Gedächtnis aufgeschrieben hatte und daher der Urfassung nicht immer treu blieb. Dies kann als eine weitere Bestätigung dafür gelten, daß Haeckel die Naturanschauung Goethes wahrhaftig zu seiner eigenen machte.

43 Generelle Morphologie 11, 450. 44 HA, I, 357. Mit genannter Strophe beschließt Haeckel die gesamte Generelle Morphologie programmatisch. 45 HA. IX. 223.

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Die dichterische Präsenz Goethes im naturwissenschaftlichen Werk Haeckels Die "Generelle Morphologie" erscheint bereits optisch als ein ungewöhnliches wissenschaftliches Werk. Im Gegensatz zu einer zu erwartenden trockenen Abhandlung leitet Haeckel die zwei Bände, acht Bücher und einzelne Kapitel der "Generellen Morphologie" mit Auszügen aus Goethes Dichtungen und naturwissenschaftlichen Schriften ein. Neben seiner Absicht, Goethe als großen Naturwissenschaftler zu rechtfertigen, trug Haeckel dadurch einem Bedürfnis Rechnung, das Naturwissenschaft und Kunst verbindet, wie es schon Goethe in solch klassischen Lehrgedichten wie "Die Metamorphose der Pflanzen" (1798) und "Metamorphose der Tiere" (ca. 1798/1799) demonstrierte. Eine Passage aus "Wilhelm Meisters Wanderjahren" im Kapitel "Aus Makariens Archiv" verdeutlicht, wie sich Naturwissenschaft und Kunst in Goethes Weltverständnis ergänzen: Ich denke, Wissenschaft könnte man die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet; Wissenschaft wäre Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus, deshalb man sie auch praktische Wissenschaft nennen könnte. 46

1892 wies Haeckel auf Goethe als eminentes Beispiel für den engen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst, den Goethe in Dichtung und Forschung sichtbar machte. In seiner bekannten Altenburger Rede "Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft" erläutert Haeckel: Um sich zu überzeugen, wie eng alle diese Gebiete der edelsten menschlichen Geistestätigkeit zusammenhängen, wie unmittelbar die Erkenntnis der Wahrheit mit der Liebe zum Guten und der Verehrung des Schönen verknüpft ist, genügt es, einen· einzigen Namen zu nennen, den größten deutschen Genius: Wollgang GoetheY HA, VIII, 482. Haeckel, Ernst: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft - Glaubensbekenntnis eines Naturforschers. In: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre. 2. Auf!. (Bonn: Emil Strauß, 1902), I, 325. 46

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4*

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Die Altenburger Rede zeigt darüber hinaus, wie uneingeschränkt hoch Haeckel den ästhetischen und ideellen Wert von Goethes Dichtung auch im Alter achtete.

Haeckels persönliches Leben unter dem Geleit Goethes Goethe wirkte sich auf Haeckels persönliches Leben genauso maßgeblich wie auf Haeckels wissenschaftliche Arbeit aus. So betrachtete Haeckel es als eine Lebensaufgabe, seine in der "Generellen Morphologie" formulierten monistischen und entwicklungsgeschichtlichen Erkenntnisse zu verbreiten: Dabei beschränkte er [HaeckeI] sich nicht auf gelehrte Ausführungen, sondern hielt allgemeinverständliche Vorträge und schuf populäre Werke, die weite Verbreitung fanden. Von diesen sind in erster Linie "Die natürliche Schöpfungsgeschichte" und die "Anthropologie" zu nennen. Im letztgenannten Werk zeigte er, daß der Mensch ein Glied des Naturganzen und in allen Funktionen sowie in seiner Abstammung den Naturgesetzen unterworfen ist. 48

Neben seinem lebenslänglichem Eintreten für den Darwinismus, den er als erweitertes Gedankengut Goethes betrachtete, verstand sich Haeckel auch im engsten Sinne als Testamentsvollstrecker bzw. als Erbe Goethes, denn er verwaltete in Jena einen Teil von Goethes institutionellem Nachlaß.49 In Haeckels Vorwort zum ersten Band der "Generellen Morphologie", das er an seinen Jenaer Kollegen earl Gegenbauer richtet, wird auch eine pragmatische Verpflichtung Haeckels gegenüber Goethe offenbar: Hier haben wir in der glücklichsten Arbeitsteilung unser gemeinsames Wissenschafts-Gebiet bebaut, treu mit einander gelehrt und gelernt, und in denselben Räumen, in welchen Goethe vor einem halben Jahrhundert seine Untersuchungen "zur Morphologie der Organismen" 48 Brohmer, Paul: "Erinnerungen an Ernst Haeckel". Mikrokosmos, 48, Nr. 2 (1958), S. 40. 49 Goethe war in seiner Funktion als Regierungsbeamter des Herzogs Kar! August von Sachsen-Weimar häufig nach Jena gereist, um in der Zeit von 1803 - 1819 die Aufsicht für die Jenaer botanischen Anstalten vorzunehmen.

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begann, zum Teil noch mit denselben wissenschaftlichen Hilfsmitteln die von ihm ausgestreuten Keime der vergleichenden und denkenden Naturforschung gepflegt. 50

Die leitende Stellung, die Goethe in Haeckels Leben vor allen anderen Vorbildern einnahm, veranschaulicht eine Sammlung von Bildern in Haeckels Jenaer Arbeitszimmer. Das Bildnis des Physiologen Johannes Müller hängt heute wie damals gegenüber von Haeckels Schreibtisch. Darüber befindet sich ein Portrait Darwins und ganz zuoberst das Bildnis Goethes. Haeckel hielt Goethes Andenken auch innerhalb seiner Funktion als Direktor des zoologischen Instituts in Jena aufrecht. So legte er an Goethes Geburtstag, dem 28. August 1907, den Grundstein für das Phyletische Museum, das dem Ausbau und der Verbreitung der Entwicklungslehre gewidmet war. Bezeichnend für seinen eigenen Werdegang mit Goethe beschloß Haekkel seine spontane Rede zur Einweihung des Museums am 30. Juni 1908 mit Goethes Worten aus "Dichtung und Wahrheit": "Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als daß sich Gott-Natur ihm offenbare. "51

Generelle Morphologie, I, vii. Uschmann, Georg: Geschichte der Zoologie und der zoologischen Anstalten in Jena 1779 - 1919. (Jena: Gustav Fischer, 1959), S. 170. Vgl. HA, IX, 223. 50

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Foto: UIIstcin

WERNER HEISENBERG

3. Werner Heisenberg Der Teufel ist ein mächtiger Herr. Aber der lichte Bereich, ... den Goethe überall durch die Natur hindurch erkennen konnte, ist auch in der modernen Naturwissenschaft sichtbar geworden, dort wo sie von der großen einheitlichen Ordnung der Welt Kunde gibt. Wir werden von Goethe auch heute noch lernen können, daß wir nicht zugunsten des einen Organs, der rationalen Analyse, alle anderen verkümmern lassen dürfen; daß es vielmehr darauf ankommt, mit allen Organen, die uns gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen und sich darauf zu verlassen, daß diese Wirklichkeit dann auch das Wesentliche, das "Eine. Gute, Wahre" spiegelt. Hoffen wir. daß dies der Zukunft besser gelingt, als es unserer Zeit, als es meiner Generation gelungen ist. (Werner Heisenberg)1

Werner Heisenberg, einer der größten Atomphysiker des 20. Jahrhunderts, verdankte Goethes dichterischer Inspiration einen ausschlaggebenden Impuls, als er die Quantenmechanik 1925 erstmals in ihrem Konzept beschrieb. Darüber hinaus betrachtete er Goethe lebenslang im Zusammenhang seiner philosophischen Fragen nach dem Einen und dem Vielen sowie dem Wert und der Aufgabe der Naturwissenschaft in der neuzeitlichen Welt.

Goethe-Impulse in Heisenbergs Ausbildung durch Niels Bohr Wie jeder andere Gymnasiast hatte sicherlich auch Heisenberg Goethe bereits im Schulunterricht kennengelernt . Denn in der Weimarer Republik, die nach dem Schaffensort des Bildungsideals Goethe benannt war, wurde Goethe als Pflichtlektüre behandelt. I Heisenberg, Wemer: "Das Naturbild Goethes und die technischnaturwissenschaftliche Welt". Goethe - Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft, 29 (1967), 42.

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Aber vermutlich demonstrierte der dänische theoretische Atomphysiker Niels Bohr Heisenberg entscheidend, wie Physik, Philosophie und Goethe zusammenwirken. Bohr erklärte Heisen berg seine philosophisch ausgerichtete Naturwissenschaftsmethode 1922 während eines Spazierganges, um die Problematik der damaligen Atomtheorie zu erläutern. 1971 blickte Heisenberg in "Schritte über Grenzen" auf den ausschlaggebenden Einfluß dieses ersten Gesprächs mit Bohr auf sein eigenes naturwissenschaftliches Denken zurück: Diese Unterredung ... war das erste intensive Gespräch über die physikalischen und philosophischen Grundfragen der modernen Atomtheorie, an das ich mich erinnern kann; und es hat sicher meinen späteren Lebensweg entscheidend mitbestimmt. Ich verstand zum erstenmal, ... daß die Kenntnis der Zusammenhänge für ihn nicht aus einer mathematischen Analyse der zugrunde gelegten Annahmen entsprang, sondern aus einer intensiven Beschäftigung mit den Phänomenen, die es ihm ermöglichte, die Zusammenhänge mehr intuitiv zu erfühlen als abzuleiten. So also entsteht Naturerkenntnis, und erst im zweiten Schritt kann es gelingen, das Erkannte mathematisch zu präzisieren und der vollen rationalen Analyse zugänglich zu machen. Bohr war primär Philosoph, nicht Physiker; aber er wußte, daß in unserer Zeit Naturphilosophie nur dann Kraft besitzt, wenn sie sich dem unerbittlichen Richtigkeitskriterium des Experiments in allen Einzelheiten unterwirft. 2

Wie Heisenberg richtig erkannte, war Bohr "primär Philosoph", aber zusätzlich war er auch Goethe-Liebhaber. Bohr kam aus einem Elternhaus, in dem Goethe verehrt wurde. Sein Vater Christian Bohr - ein Professor für Physiologie an der Kopenhagener Universität - förderte in seinem Sohn Niels wiederum das Goetheverständnis. 3 Es ist deswegen nicht verwunderlich, daß 2 Heisenberg, Werner: Schritte über Grenzen - Gesammelte Reden und Aufsätze. (München: R. Piper, 1971), S. 53. 3 Hierauf weist Ruth Moore 1966 in "Nieis Bohr: The Man, his Science, and the World they Changed" hin: Professor [Christian] Bohr, in addition to his lifelong absorption in physiology and natural science, was a disciple of Goethe and could recite whole sections of Faust from memory. Niels, as he walked at his father's side or sat at his feet on long winter evenings, learned Goethe almost by absorption. The majestic lines stayed with hirn all his life and he frequently quoted from Goethe ....

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Niels Bohrs intuitive Methode der Naturforschung der Methode Goethes entsprach.

Die Geburtsstunde eines neuen wissenschaftlichen Weltbildes mit Goethe Sicherlich erweckte Bohr in Heisenberg ein bewußtes Interesse an Goethe und an der intuitiven Methode der Naturforschung. Als Mitarbeiter in Bohrs Institut für Physik in Kopenhagen erlebte Heisenberg im Wintersemester (1924/25) die bedeutendste Phase seiner Ausbildung. Im internationalen Kreis seiner Studenten und Mitarbeiter lud Bohr nicht nur zu Gesprächen über Physik und Philosophie, sondern auch über die Künste ein, wobei Goethe sicherlich nicht fehlte. Bereits im folgenden Sommer führte Heisenbergs eigenes Interesse an Goethe zu einer grundlegenden Umwälzung des wissenschaftlichen Weltbildes, das bisher von der klassischen, auf Newton aufbauenden Physik dominiert worden war. Heisenberg war im Sommer 1925 als Privatdozent an der Göttinger Universität tätig, deren physikalische Abteilung unter der Leitung des theoretischen Physikers Max Born stand. Ein heftiger Heuschnupfen zwang ihn, aus der blühenden Umgebung Göttingens zu fliehen. Sein Ziel war die staubfreie Luft der Nordseeinsel Helgoland. Neben dem festen Vorsatz, sich auf Helgoland auszukurieren, brachte Heisenberg ungelöste Probleme der Atomforschung und Goethes Gedichtsammlung "West-östlicher Divan" mit sich auf die Insel. Nach der damals herrschenden Atomtheorie verglich man die Atome mit einem in sich geschlossenen Planetensystem, worin Elektronen wie kleine Planeten in einem Mikrokosmos auf bestimmten Bahnen um den positiv geladenen Atomkern kreisten. Es war Forschern jedoch bislang nicht gelungen, diese Bahnen exakt zu berechnen, sie schienen sich allen Versuchen zu widersetzen. Auch Heisenberg hatte wenig Aussicht, zur Lösung der Elektronenbahnberechnungen beizusteuern, als er zu seinem Nordseefluchtort aufbrach. In seiner Autobiographie "Der Teil und das Ganze: Gespräche im Umkreis der Atomphysik", blickt 57

Heisenberg auf seine damaligen Schwierigkeiten in der Atomphysik zurück: Als ich im Sommersemester 1925 [nach dem Aufenthalt bei Niels Bohr] wieder die Arbeit in Göttingen aufnahm ... begann ich meine wissenschaftliche Arbeit mit dem Versuch, die richtigen Formeln für die Intensitäten der Linien im Wasserstoffspektrum zu erraten .... Dieser Versuch mißlang. 4 Der Atomphysiker und Wissenschaftsphilosoph earl Friedrich von Weizsäcker erinnert sich 1985 in "Zu einer neuen GoetheAusgabe" an die ungewöhnlichen Umstände, die 1925 mit Hilfe Goethes zur erstmaligen Formulierung der Quantenmechanik durch Heisenberg führten: Werner Heisenberg hat mir erzählt, wie er die Pfingstferien 1925 in Helgoland verbracht hat: "Geschlafen hab' ich sehr wenig. Ein Drittel der Zeit habe ich die Quantenmechanik ausgerechnet, ein Drittel bin ich in den Klippen herumgeklettert, ein Drittel habe ich Gedichte aus dem Westöstlichen Divan auswendig gelernt." Die Grunddisziplin der heutigen Physik, die Quantenmechanik, entstand rechnend am Tisch eines winzigen Pensionszimmers, dazwischen in starker leiblicher Bewegung, in jenen kurzen Frühsommernächten zwischen Abendstern und Morgenrot, wenn "die Strohwitwe, die Aurora, ist in Hesperus entbrennet" (Sommemacht, Divan). Goethe redet eben die Natur an, in deren Formgesetze Heisenberg damals einen tiefen Einblick tat: "In tausend Formen magst du dich verstecken, doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich ... Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, mit jedem klingt ein Name nach für dich."5 Die Begleitumstände der Entstehung der Quantenmechanik hält Weizsäcker für bezeichnend: "Was wir erleben, ist glaubwürdiger als was wir behaupten. "6 Weizsäcker beschreibt, wie Heisenberg in der Trance eines unermüdlichen Dreischritts von körperlicher Ertüchtigung, geistiger Anregung durch Goethe und eigener schöpferischer Leistung gefangen war. Es entsteht der Eindruck, 4 Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze - Gespräche im Umkreis der Atomphysik. (München: R. Piper, 1971), S. 87. 5 Weizsäcker, Carl Friedrich von: Zu einer neuen Goethe-Ausgabe. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens - Münchener Ausgabe. Kar! Richter et al. (Hg). (München: Carl Hanser, 1985), S. 9. 6 Zu einer neuen Goethe-Ausgabe, S. 9.

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daß jede dieser Phasen zu Heisenbergs damaliger Formulierung der Quantenmechanik notwendig war, also auch Goethes "Divan". In einem Gespräch am 22. Juni 1987 in Starnberg erzählte Weizsäcker der Verfasserin, daß er über Heisenbergs Goethelektüre nicht überrascht gewesen sei. Heisenberg habe, wie Weizsäcker selbst, spontan zur Alterslyrik Goethes geneigt. Heisenberg muß den "West-östlichen Divan" aus einem starken inneren Verlangen mit nach Helgoland genommen haben, wie Weizsäkker eingehend erklärte: Damals war Heisenberg noch unbemittelter Privatdozent in Göttingen. Die meisten Bücher seines Zimmers dort stammten, was Physik betraf, aus der Bibliothek. Aus der elterlichen Wohnung wird er dagegen kaum etwas besessen haben. So waren die wenigen eigenen Bücher, die er in Göuingen besaß solche, an denen Hcisenberg ganz besonders gelegen haben muß. Den "West-östlichen" Divan hat Heisenberg daher wohl mit besonderer Absicht auf die Reise genommen. Er muß einem tiefen Bedürfnis gedient haben, denn die naturwissenschaftliche Arbeit war in der Hauptsache eben viel trockene Rechnerei, eine unglaubliche, aber dennoch einseitige Anforderung an das Gehirn. Heisenberg las den "West-östlichen" Divan auf Helgoland nicht nur, sondern er lernte ihn auch auswendig. In dieser Tätigkeit zeigte sich wohl der Hunger nach geistigem Ausgleich von der Physik.

Weizsäckers Schilderung der Entstehungsgeschichte der Grundlagen der modernen Quantenmechanik zeigt, daß die wissenschaftliche Entdeckung zunächst mehr durch Intuition im Vorstellungsvermögen Heisenbergs Gestalt annahm als durch die rationale Analyse, die ihm zuvor in Göttingen nicht gelungen war. In Heisenberg vollzog sich somit der gleiche Vorgang, den er kurz zuvor an der philosophischen Perspektive von Niels Bohr bewundert hatte. Goethes "West-östlicher Divan" hatte sicherlich dazu beigetragen, daß Heisenberg nun seinerseits das goethesche Erlebnis empfand, die Naturvorgänge intuitiv als Ganzes zu schauen. 7 7 Zu dieser Methode der Erkenntnis schreiben Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller im Nachwort zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in HA, XIII, 626: Diese Art intuitiver Erkenntnis ist typisch für Goethes Methode, die Gegenstände zu erfassen. Er glaubt an den glücklichen Augenblick, in

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Weizsäcker erwähnte im Gespräch zwei der vielen Gedichte, die Heisenberg inspiriert haben könnten. Das Wechselgespräch, das in dem Gedicht "Sommernacht" zwischem dem Dichter Hatem und dem Schenken stattfindet, malt die Stimmung der kurzen sommerlichen Nächte aus, die auch Heisenberg auf Helgoland empfunden haben wird: Denn in dieser Zeit der Flora, Wie das Griechenvolk sie nennet, Die Strohwitwe, die Aurora, Ist in Hesperus entbrennet. Sieh dich um! sie kommt! wie schnelle! Über Blumenfelds Gelänge! Hüben hell und drüben helle, Ja, die Nacht kommt ins Gedränge. Und auf roten leichten Sohlen Ihn, der mit der Sonn' entlaufen, Eilt sie irrig einzuholen; Fühlst du nicht ein Liebeschnaufen?8

Die Göttin der Morgenröte, die "Strohwitwe, die Aurora", läuft in der hier angedeuteten Sage Hesperus, dem Gott des Abendsterns, verliebt nach, und daher werden die Nächte so kurz und kommen "ins Gedränge". Goethe belebt die Naturerscheinung der hellen nordischen Sommernächte, die auch Heisenberg nicht schlafen ließen, phantasiereich mit neuer und tieferer Bedeutung, indem er Hellenismus, den Okzident und den Orient Hatems im Gedicht zu einer Einheit verschmilzt. Typisch für seine Alterslyrik läßt Goethe in "Sommernacht" eine ewige Gesetzlichkeit hinter der Vielfalt der Naturerscheinungen durchblicken, die der Schenke aus dem Gespräch mit Hatem erfährt: So hab' ich endlich von dir erharrt: In allen Elementen Gottes Gegenwart. 9 welchem man die Phänomene erhaschen kann (an Jacobi 29. Dezember 1794) und der prägnante Punkt ersichtlich wird, von dem sich vieles ableiten läßt, und Zusammenhänge offenbar werden. s HA, 11, 98 - 99. 9 HA, 11, 99.

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Der gleiche Gedanke der allgegenwärtigen Einheit erscheint im grandiosen Schlußgedicht vom Buch Suleika: In tausend Formen magst du dich verstecken, Doch, Allerliebste, gleich erkenn' ich dich; Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken, Allgegenwärtige, gleich erkenn' ich dich. Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet, Gleich, Allerheiternde, begrüß ich dich, Dann über mir der Himmel rein sich ründet, Allherzerweiternde, dann atm' ich dich. Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne, Du Allbelehrende, kenn' ich durch dich; Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, Mit jedem klingt ein Name nach für dich. \0

Das vertrauliche "Du", hinter dem sich sowohl die Geliebte als auch die Natur verbirgt, eint wiederum die Vielfalt der Naturerscheinungen, die sich dem Beobachter offenbaren. ll Goethes "Divan"-Gedichte betreffen den Kern einer Naturerkenntnis, die sich vor Heisenberg nun auch in mathematischen Berechnungen eröffnete. 1948 verwies Heisenberg in "Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes" auf die tiefgreifenden Schlüsse, die die Quantenmechanik zuließ. Mit ihr wurde "die genaue mathematische Form der Naturgesetze gefunden, die den Atombau beherrschen." Mit dieser neuen Kenntnis erfüllt die Quantentheorie die Forderung Goethes und der Atomphysik, das Verhalten von Materie durch fundamentale Gesetze zu erklären, denen die Atome gehorchen. 12

HA, 11, 88. Johannes Pfeiffer, zitiert in: HA, 11,647, weist auf die Bedeutung der Anredeform hin: Indem sich durch die Zauberkraft der Anrede ein "Du" vergegenwärtigt, das mit zarter Unbestimmtheit sich als Geliebte wie als Natur zu erkennen gibt, wird die Mannigfaltigkeit der endlosen Erscheinungen aufgehoben in einem Unendlichen und findet das Getrennte sich wieder im verklärenden Strahl einer zwischen Welt und Überwelt geheimnisvoll schwebenden All-Einheit. 12 Heisenberg, Werner: Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes. (Zürich: S. Hirzel, 1948), S. 79. 10

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Heisenbergs eigene Schilderung über den Durchbruch zur Erkenntnis der Gültigkeit seiner eben begründeten Quantenmechanik unterstützt das Argument einer notwendigen engen Verbindung zwischen Kunst und Naturwissenschaft, die sich in seinem Helgoländer Erlebnis begegneten. Die Anwesenheit eines ästhetischen Elements während seiner Entdeckung der Quantenmechanik auf Helgoland geht aus seiner 1971 erschienenen Autobiographie, "Der Teil und das Ganze: Gespräche im Umkreis der Atomphysik", hervor: Der Energiesatz hatte sich in allen Gliedern als gültig erwiesen, und da dies ja alles von selbst, sozusagen ohne jeden Zwang herausgekommen war - so konnte ich an der mathematischen Widerspruchsfreiheit und Geschlossenheit der damit angedeuteten Quantenmechanik nicht mehr zweifeln. Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, daß ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte. lJ

Später beschäftigte sich Heisenberg wiederholt mit dem Phänomen der Zusammengehörigkeit von Schönheit und Naturwissenschaft, u. a. in seiner Biographie, worin er ein "ästhetisches Wahrheitskriterium" in der Wissenschaft gelten läßt, das von "Einfachheit und Schönheit" gezeichnet ist. 14 Dabei können sich Naturwissenschaft und Kunst wohl ergänzen, jedoch nicht miteinander gleichgestellt werden, da Naturwissenschaft konkret, Dichtung allgemein ist. 15 Die Vorrangstellung eines ästhetischen Wahrheitskriteriums in Heisenbergs Wissenschaft ist unverkennbar. In ihr zeigt sich die Neigung des Künstlers, die auch Goethe in seiner Naturwissenschaft beflügelte. In dem Vortrag "Die Bedeutung des Schönen in den exakten Naturwissenschaften" stellte Heisenberg 1970 ,.fest, daß sie [die Schönheit] in der exakten Naturwissenschaft Der Teil und das Ganze, S. 89 - 90. Vgl. Der Teil und das Ganze, S. 99. 15 Erwähnung earl Friedrich von Weizsäckers im Gespräch mit der Verfasserin in Starnberg am 22. Juni 1987. 13

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ebenso wie in den Künsten die wichtigste Quelle des Leuchtens und der Klarheit ist." 16 Goethe hatte in den "Maximen und Reflexionen" eine vergleichbare Ansicht geäußert: "Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben. "17 Daß ein Gesetz für Goethe umgekehrt auch mathematischen Charakter besaß, veranschaulichte er ebenfalls in den "Maximen": Wäre die Natur in ihren leblosen Anfängen nicht so gründlich stereometrisch, wie wollte sie zuletzt zum unberechenbaren und unermeßlichen Leben gelangen?18 So kann Schönheit für Goethe Stereometrie bedeuten. Sie ist nichts weniger als Symmetrie oder Harmonie, die für Heisenberg den Schlüssel zur Naturerkenntnis bilden. 19 Das Ergebnis seiner Helgoländer Entdeckung, die so merkwürdig an das Erlebnis der Schönheit von Goethes "Divan"Dichtung und die Schönheit mathematischer Strukturen gebunden war, veröffentlichte Heisenberg am 29. Juli 1925 unter dem Titel "Über die quantentheoretische Um deutung kinematischer und mechanischer Beziehungen". 20 Seine dort erstmals formulierte Quantenmechanik ermöglichte es, bisher unerklärliche chemische und elektrische Vorgänge im Atominneren zu ermitteln, denn sie beschreibt laut Heisenberg in "Die gegenwärtigen Aufgaben der theoretischen Physik" ... die exakte Form der Naturgesetze ... , die die Bewegungen der Elektronen im Atom bestimmen. Damit war die Möglichkeit gegeben. 16 Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft. In: Schritte, S. 305. 17 HA. XII, 467. IR HA, XII, 370. 19 Vgl. Weizsäcker, Carl Friedrich von: Der Garten des Menschlichen - Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie (München und Wien: Carl Hanser, 1984), S. 321. Dort kommentiert Weizsäcker Heisenbergs Verständnis von der Zusammengehörigkeit von Symmetrie und Schönheit: Heisenberg bekennt sich ausdrücklich dazu, daß die Naturgesetze schön sind, und daß die Symmetrien eine Gestalt sind, in der sich die Schönheit der Gesetzmäßigkeiten der Natur begrifflich fassen läßt, begrifflich spiegelt. 20 Heisenberg, Werner: "Über die quantentheoretische Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen". Zeitschrift für Physik. 33 (1925), 879.

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die Strahlung der Atome oder ihr chemisches Verhalten in ähnlicher Weise streng zu behandeln, wie etwa der Astronom die Bewegungen der Planeten nach der Newtonschen Mechanik streng behandeln kann. 21

Den Engpaß, der die Atomphysik bis zum Sommer 1925 geplagt hatte, hatte Heisenberg auf Helgoland überwunden und die Grundlage der Quantenmechanik gelegt, die mathematisch innerhalb kürzester Zeit vervollkommnet wurde. 22 Unter Goethes Einfluß war auf Helgoland ein Stein ins Rollen gekommen, der sich nicht mehr aufhalten ließ. Heisenberg selber arbeitete unermüdlich an seiner Entdeckung weiter, aus der 1927 das berühmte Konzept der Unbestimmtheitsrelation entstand. Es erkennt an, daß innerhalb eines Atoms nicht Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons zugleich bestimmt werden können, denn der Beobachtungsprozeß des Menschen stört die exakte Feststellung dieser Größen. Statistisch kann jedoch ein Annäherungswert für die Wahrscheinlichkeit des Standorts ermittelt werden. Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation bildet zusammen mit Niels Bohrs Komplementaritätsprinzip einen Grundpfeiler der Atomphysik. 23 Die daraus entstandene Revolution bzw. Umwandlung des wissenschaftlichen Weltbildes war in ihrer Auswirkung auf Natur- und Geisteswissenschaften äußerst folgenreich. 24 21 Heisenberg, Werner: "Die gegenwärtigen Aufgaben der theoretischen Physik". Scientia, 67 (1938),63. 22 Vgl. Der Teil und das Ganze, S. 90. Die Atomphysiker Max Born und Felix Jordan nahmen sich der neuen Quantenmechanik z.T. in Zusammenarbeit mit Heisenberg in Deutschland an, während Paul Dirac in England unabhängig eine eigene Vervollkommnung von Heisenbergs Helgoländer Idee vornahm. Innerhalb weniger Monate war das mathematische Schema der neuen Quantenmechanik Heisenbergs perfektioniert. 23 Hermann, S. 38. 24 Siehe: Weizsäcker, Carl Friedrich von: Quanten und Felder - Physikalische und philosophische Betrachtungen zum 70. Geburtstag von Werner Heisenberg. (Braunschweig: Friedrich Vieweg & Sohn, 1971) sowie: Price, William C. und Seymour S. Chissick (Hg.): The Uncertainty Principle and Foundations of Quantum Mechanics - A Fifty Year's Survey. (London. New York, Sydney, Toronto: John Wiley, 1977.)

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Das Verhältnis der Goetheschen Dichtersprache zur Quantentheorie Nach seiner Entdeckung der Quantenmechanik befaßte sich Heisenberg häufig mit Goethe. Seine Betrachtungen werfen Licht auf Goethes historische Bedeutung und auf seine Aktualität in der Physik im Zeitalter der Quantentheorie, dabei verdeutlichen sie manche Aspekte des veränderten physikalischen Weltbildes. Die Quantentheorie machte eine grundlegende Revision der Wissenschaftssprache notwendig, denn sie stellte mit ihren statistischen Wahrscheinlichkeitsaussagen andere Anforderungen als die bisherige Sprache der Wissenschaft, die seit der von Aristoteles begründeten Logik von vielen Unreinheiten bereinigt worden war. 25 1960 erläuterte Heisenberg in "Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik", daß die exakte wissenschaftliche Fachsprache, die in der klassischen newtonischen Physik so gute Dienste geleistet hatte, plötzlich nicht mehr ausreichte: Bei der Beschreibung der Vorgänge im kleinsten Bereich, jener Zusammenhänge, die in der Quantentheorie analysiert und mathematisch dargestellt worden sind, versagt die gewöhnliche Sprache oder die Sprache der klassischen Physik in einem solchen Ausmaß, daß selbst Physiker vom Range Einsteins bis zum Ende ihres Lebens nicht bereit waren, sich mit dieser neuen Situation abzufinden. 26

Da die bisherige Wissenschaftssprache der Quantenmechanik nicht gerecht wurde, benutzte Heisenberg eine neue Sprache, die mit ihren Andeutungen und Gleichnissen der Dichtersprache verwandt ist: Die Quantentheorie ist ein so wunderbares Beispiel dafür, daß man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, daß man nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann. 27

Um die Probleme der neuen Sprache zu illustrieren, zitiert Heisen berg Mephisto aus Goethes "Faust" , der den wissensdurstigen Schüler über die Eigenschaften der Sprache belehrt: 25 26

Schritte, S. 163. Schritte, S. 171.

5 Partenheimer

27

Der Teil und das Ganze, S. 285.

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Zwar ist es mit der Gedankenfabrik wie mit einem Webermeisterstück, wo ein Tritt tausend Fäden regt, die Schifflein herüber-, hinüberschießen, die Fäden ungesehen fließen, ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. 28

Die von Mephisto angesprochenen Gedanken, die sich in der Sprache äußern, können z. B. mit einem einzigen Wort eine Vielfalt von Assoziationen - also gedankliche Möglichkeiten bzw. Wahrscheinlichkeiten - hervorrufen, wie sie auch in der Quantenmechanik auftreten. Schon in ihrer umgangssprachlichen Anwendung ist die Sprache wesentlich reichhaltiger als die verkünstelte und zurechtgestutzte Sprachform der Logiker, über die sich der Zyniker Mephisto lustig macht: Ein Philosoph, der tritt herein Und beweist Euch, es müßt' so sein: Das Erst' wär so, das Zweite so, Und drum das Dritt' und Vierte so, Und wenn das Erst' und Zweit' nicht wär' Das Dritt' und Viert' wär' nimmermehr. Das preisen die Schüler aller Orten, Sind aber keine Weber geworden. 29

Mephisto kritisiert hier die Grundlagen von Wissenschaft und Logik, die durch überrationales Verfahren das Ganze aus dem Blickfeld heraussieben. Heisenberg lehnte sich an Mephistos Urteil in bezug auf die Quantentheorie an: ,,[D ]ie logische Analyse der Sprache [bringt] auch die Gefahr einer zu großen Vereinfachung und einer Einseitigkeit in der Beurteilung sprachlicher Möglichkeiten mit sich. "30 Beraubt man die Sprache ihres assoziativen Reichtums, so bleiben die Einzelteile bestehen, ohne das Ganze zu umfassen. Die Quantentheorie arbeitet, wie Goethes Dichtung, mit Unbestimmtheiten. So erklärte Heisenberg in "Schritte über Grenzen":

[Es1hat sich eine Redeweise herausgebildet, in der man zur Beschreibung der kleinsten Teile der Materie abwechselnd verschiedene, ein-

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Schritte, S. 164. HA, III, 63.

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Schritte, S. 163.

ander widersprechende anschauliche Bilder verwendet. Je nachdem, wie es sich bei dem betreffenden Experiment gerade als zweckmäßig erweist, spricht man von Wellen oder von Teilchen, von Elektronenbahnen oder von stationären Zuständen, aber man bleibt sich dabei stets bewußt, daß diese Bilder nur ungenaue Analogien sind, daß es sich gewissermaßen nur um Wortgemälde handelt, mit denen man dem wirklichen Geschehen nahe zu kommen sucht. 3!

Bei der Beschreibung von Vorgängen innerhalb des Atoms wurde deutlich, daß sich z. B. die Elektronen teils wie Wellen, teils wie feste Körper verhalten, je nach der Beobachtungsweise im Versuch, was die übliche logische Voraussetzung des Entweder-Oder eines Zustandes außer Kraft setzte. Um der neuen Situation der echten Möglichkeiten gerecht zu werden, greift die neue Sprache der Quantentheorie daher auf eine umschreibende Ausdrucksweise zurück, für die Goethes Dichtung beispielhaft ist. So wird z. B. die assoziative Kraft der Poesie des "Divan" Heisenberg intuitiv angezogen haben, als er die Quantenmechanik ausarbeitete, denn sie entspricht in ihren vielen Deutungsmöglichkeiten den Bedingungen, denen auch die Beschreibung der Quantenmechanik unterworfen ist. Wenn schon die alltägliche Sprache, auf die Mephisto hinweist, viele Gedankenverbindungen anknüpft, wieviel mehr sind es in der bewußt symbolträchtigen Sprache des "Divan"?

Goethes Widerstand gegen die klassische Physik 1933 analysierte Heisenberg im Vortrag "Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung" die bekannte Auseinandersetzung zwischen Goethe und Newton: Es wäre oberflächlich, diesen Kampf als unwichtig zu vergessen; es hat seinen guten Sinn, daß einer der bedeutendsten Menschen alle Kraft daran setzte, die Fortschritte der Newtonschen Optik zu bekämpfen. 32

Weiterhin erläuterte Heisenberg den Unterschied zwischen Newtons Physik und der naturwissenschaftlichen Perspektive Goethes Schritte, S. 172. Heisenberg, Wemer: Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung. In: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft Acht Vorträge von Wemer Heisenberg. (Zürich: S. Hirzel, 1949), S. 31. 3!

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mit dem Beispiel, "daß zwar ein von Natur Blinder die ganze [Newtonische] Optik lernen und verstehen kann, daß er aber durch dieses Studium doch nie die geringste Kenntnis davon erwirbt, was Licht sei. "33 Hier befand sich Heisenberg im Inneren des Konfliktes zwischen Goethe und Newton: Dieser Verzicht auf Lebendigkeit und Unmittelbarkeit, der die Voraussetzung war für die Fortschritte der Naturwissenschaft seit Newton, bildet auch den eigentlichen Grund für den erbitterten Kampf, den Goethe gegen die physikalische Optik Newtons geführt hat. 34

Goethes Farbenlehre richtet sich auf die subjektive Wirklichkeit im Innern der menschlichen Seele aus und verhält sich darin genau entgegengesetzt zu der gesamten Physik Newtons, in der es gerade um objektives Wissen geht, das von menschlichen Belangen unabhängig ist. Heisenberg unterstellte, daß beide Lehren ihren Wirklichkeitsanspruch haben, und jede für sich in ihrer Zielgruppe erfolgreich war. Goethes Wirklichkeit umgrenzte Heisenberg in "Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre": In dieser anderen Wirklichkeit wird das, was geschieht, nicht gezählt, sondern gewogen, und das Geschehene wird nicht erklärt, sondern gedeutet .... Dieser Wirklichkeit, die zwar subjektiv, aber sicher nicht weniger kräftig als jene andere ist, gilt auch Goethes Farbenlehre; jede Art von Kunst meint diese Wirklichkeit und jedes bedeutende Kunstwerk bereichert uns mit neuen Erkenntnissen in diesem Bereich. 35

Heisenbergs Beobachtung bestätigen Goethes Worte aus den "Maximen und Reflexionen": "Wir wissen von keiner Welt als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist. "36 Goethes Widerstand hatte dem Siegeszug der Newtonischen Physik keineswegs Einhalt gebieten können. Die Ursache für das unaufhaltsame Fortschreiten in Wissenschaft und Technik sah Zur Geschichte, S. 3l. Zur Geschichte, S. 3l. 35 Heisenberg, Werner: Die Goethesche und Newtonsehe Farbenlehre im Lichte der modernen Physik. In: Wandlungen, S. 67. 36 HA, XII, 467. 33

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Heisenberg in einer allgemeinen Tendenz des menschlichen Geistes, in immer abstraktere Gedankenräume vorzudringen, um das Wesen der Natur erklären zu können. Heisenberg beobachtete die Entwicklung zur Abstraktion als ... ein deutliches Zeichen für die Kraft und innere Konsequenz der abstrakten Naturwissenschaft, daß sie sich trotz aller dieser Einwände stets in der gleichen Richtung fortentwickelt; zum Teil entspringt diese Kraft allerdings, das darf hier nicht vergessen werden, aus der Möglichkeit, mit Hilfe der abstrakten Naturwissenschaft die Welt technisch zu beherrschen. 37 Es entging Heisenberg nicht, daß auch Goethes Farbenlehre zweckorientiert ist. Heisenberg weist daher mit Goethes eigenen Worten in "Die Goethesche und die Newtonsehe Farbenlehre" im Lichte der modernen Physik auf Goethes Machtvorhaben hin: "Ich sehe, daß ich mit einiger Übung und anhaltendem Nachdenken auch diesen schönen Genuß der Weltoberfläche mir werde zueignen können. "38 Aber aus Goethes in der Farbenlehre verfolgten Absicht zeigt sich auch deutlich die Grenze, die vor dem Ziel der Technik haltmacht, sich die Natur untertan zu machen, denn Goethe suchte die Welt nur passiv im Anschauen zu beherrschen. Vor einer aktiven Unterwerfung der Natur hatte Goethe bewußt gewarnt. Er lebte im Zeitalter der aufkeimenden Industrialisierung und hatte dunkle Vorahnungen der negativen Folgen, die aus ihr erwachsen würden. Heisenberg vollzog sie in "Das Naturbild Goethes" nach: Goethe hat erkannt, daß die fortschreitende Umgestaltung der Welt durch die Verbindung von Technik und Naturwissenschaft nicht aufzuhalten war. Er hat es in den Wanderjahren mit Sorge ausgesprochen: "Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich. Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam. Aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. "39

Zur Geschichte, S. 3l. Die Goethesche und Newtonsche Farbenlehre, S. 65. 39 "Das Naturbild Goethes und die technisch-naturwissenschaftliche Welt". Goethe - Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft, 29 (1967),33; vgl. auch HA, 8, 429. 37

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Heisenberg sah in Goethes Bewußtsein der Unabänderlichkeit der voranschreitenden Technik und folglich immer tieferer Abstraktion die Ursache für Goethes verzweifelte Abwehr von Newtons Optik. Seine Vermutung sprach Heisenberg 1976 in "Gedanken zur Reise der Kunst in's Innere" aus: Wenn es richtig ist, daß Haß aus Ohnmacht entspringt, so wird man wohl schließen dürfen, daß auch die Kritiker keine Alternative zum Gang der Reise anzubieten hatten. 4o

Obwohl sich Goethe der Hoffnungslosigkeit seiner Abwehr der Newtonischen Optik bewußt war, besorgten ihn ihre möglichen Gefahren zutiefst. Daher warnte Goethe auch vor dem aus der Newtonischen Physik erwachsenden Maschinenwesen, denn er befürchtete einen Verlust menschlicher Werte. 41 Goethe, so veranschaulichte Heisenberg in "Das Naturbild" , fürchtete sich vor zwei Formen von Abstraktion, die er in Newtons Physik versinnbildlicht sah: einerseits waren es die Versuchsbedingungen, die in der exakten Naturwissenschaft einfache Vorgänge aus der Fülle der Phänomene herausfiltern mußten, und dieses bedeutet für Heisenberg seit Galilei und Newton: ,,[E]in Vorgang, dessen gesetzmäßiger Ablauf quantitativ, in allen Einzelheiten, mathematisch ohne Schwierigkeiten dargestellt werden kann. "42 Mit solchen Versuchsanordnungen ist das Unmittelbare des Naturgeschehens, wonach Goethe suchte, natürlich entschwunden. Eine weitere Art der Abstraktion erkannte Heisenberg in der Mathematik, die sich seit Newtons Mechanik bewährt hatte: In der Mechanik Newtons hat sich zum ersten Mal gezeigt - und das war der Grund für ihren enormen Erfolg - , daß in der mathematischen Beschreibung riesige Erfahrungsbereiche einheitlich zusammengefaßt und damit einfach verstanden werden können. 43 40 Heisenberg, Werner: Gedanken zur Reise der Kunst in's Innere. In: Versuche zu Goethe - Festschrift für Erich Heller. (Heidelberg: Lothar Stiehm, 1976), S. 322. 41 Vgl. HA, XII, 389. 42 Das Naturbild, S. 30. 43 Das Naturbild, S. 30.

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All dies erfolgte in den exakten Naturwissenschaften, um "in der bunten Vielfalt der Erscheinungen das Einfache zu erkennen", wie Heisenberg in "Die Geschichte der physikalischen Naturerklärung" illustriert. 44 Damit haben die exakten Naturwissenschaften und Goethe ein vergleichbares Ziel, denn in Dichtung und Wissenschaft suchte Goethe ebenfalls nach Einheit.

Faust als Symbol neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Entwicklungen Der Weg zum Ziel ist in der Wirklichkeit jedoch beschwerlich. Goethe war sich dessen bewußt und schuf in seiner Faustgestalt exemplarisch den nach Einsicht, also auch Einheit strebenden Menschen, der auf seiner Suche nach Erkenntnis zwangsläufig mit den Gefahren der Abstraktion konfrontiert wird. Die Gestalt Fausts, die mit den Gefahren und Aspirationen der neuzeitlichen Naturwissenschaft und des modernen Menschen so viel Gemeinsames hat, ist Gegenstand von Heisenbergs Untersuchungen. In der Faustgestalt erkannte Heisenberg in "Das Naturbild" den beispielhaften Menschen der modernen Welt der Ratio: Faust ist neben vielem anderem auch ein enttäuschter Physiker. Er hat sich in seiner Studierstube mit Apparaten umgeben. Doch er sagt: "Ihr Instrumente freilich spottet mein Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel: Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein; Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel. "45

So führt Fausts unbefriedigte Suche nach Erkenntnis ihn tief in eine unheimliche Welt der Meßgeräte und der Zeichen, die "vielleicht den Chiffren der Mathematik" verwandt sind, wie Heisenberg das Buch des Nostradamus deutet. 46 Aus dem Faustischen Streben nach Erkenntnis, das ihn bereits in die Welt mathematischer Abstraktion geführt hatte, erklärte Heisenberg auch Fausts Pakt mit Mephisto: Und diese ganze Welt der Chiffren und der Instrumente, jener unersättliche Drang nach immer weiterer, immer tieferer, immer abstrakte44

45

Das Naturbild, S. 30. Das Naturbild, S. 31.

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Das Naturbild, S. 31.

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rer Erkenntnis veranlaßt ihn, den Verzweifelnden, den Pakt mit dem Teufel zu schließen. Der Weg, der aus dem natürlichen Leben heraus in die abstrakte Erkenntnis führt, kann also beim Teufel enden. Das war die Gefahr, die Goethes Haltung der naturwissenschaftlich-technischen Welt gegenüber bestimmte.4'

Fausts Pakt spiegelt eine notwendige Entwicklung im menschlichen Leben. Die Suche nach Erkenntnis ist auch an das Böse gebunden. Heisenberg sagte bewußt, daß diese Suche beim Teufel enden könne, aber sie es nicht notwendigerweise tun müsse. So wie Luzifer, der Lichtträger, auch den Glanz des Himmels trug, bevor er fiel, beinhaltet die Suche nach tiefster Erkenntnis sowohl negatives als auch positives Potential. Zunächst veranschaulicht Heisenberg einige negative Konsequenzen der Erkenntnissuche in der technischen Welt in "Das Naturbild Goethes": Gleichzeitig sind die Gefahren so bedrohlich geworden, wie Goethe es vorausgesehen hat. Wir denken etwa an die Entseelung, die Entpersönlichung der Arbeit, an das Absurde der modernen Waffen oder an die Flucht in den Wahn, der die Form einer politischen Bewegung angenommen hatte. 48

Goethes Bedenken gegen die Abstraktion hielt Heisenberg also vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung seit der Goethezeit für durchaus berechtigt, wie er weiter erläutert: Wenn Goethe die Abstraktion in der Naturwissenschaft fürchtete, wenn er vor ihrer Grenzenlosigkeit zurückschreckte, so geschah es, weil er in ihr dämonische Kräfte zu spüren glaubte, deren Bedrohung er sich nicht aussetzen wollte. Er hatte sie in der Gestalt des Mephisto personifiziert. In der Romantik spürte er Kräfte ähnlicher Art wirksam. Wieder die Grenzenlosigkeit, die Ablösung von der wirklichen Welt, von ihren gesunden, festen Maßstäben, die Gefahr der Entartung ins Krankhafte. 49

Neben ihren Gefahren verweist Heisenberg aber auch auf die positiven Resultate der modernen Wissenschaft: Der Teufel ist ein mächtiger Herr. Aber der lichte Bereich, ... den Goethe überall durch die Natur hindurch erkennen konnte, ist auch in 47

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Das Naturbild, S. 31. Das Naturbild, S. 42.

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Das Naturbild, S. 37.

der modernen Naturwissenschaft sichtbar geworden, dort wo sie von der großen einheitlichen Ordnung der Welt Kunde gibt. 50

Eine positive Entwicklung als Folge der Abstraktion zeigt sich z. B. im Fortschritt der modernen Medizin und der Physik, die im Begriff ist, an die Grundlagen physikalischer Seinserklärung zu stoßen. Aus Heisenbergs Sicht war Goethes Abneigung gegen die naturwissenschaftlich-mathematische Abstraktion daher nicht völlig berechtigt.

Der Weg über Goethe in die Abstraktion und zurück in das Leben Goethe konnte nicht umhin, trotz seines Widerstandes gegen Newton und seiner Warnung, die er in "Faust" und in "Wilhelm Meisters Wanderjahren" unmißverständlich aussprach, auch selber einen Beitrag zur Abstraktion in den Naturwissenschaften zu leisten. Heisenberg bezeichnete Goethe als Begründer des Weges in die Abstraktion auf dem Gebiet der Biologie. Den Anfang dieses Weges hatte Goethe mit seiner Suche nach den Urformen des Lebens selbst beschritten. In den "Maximen und Reflexionen" umgrenzte er seine Idee: Urphänomen: ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch, weil es alle Fälle begreift, identisch mit allen Fällen. 51

Mit der Konzeption seines Urphänomens bereitete Goethe unwissentlich den Weg in immer unanschaulichere Bereiche der Biologie vor. Die Biologie ist nach Heisenbergs Überzeugung tatsächlich an einen Punkt gelangt, an dem sie die Urpflanze erreicht hat, die Goethe in der Botanik suchte. Er bezieht sich dabei auf die doppelhelixförmige Desoxyribonukleinsäure (DNS), ein Protein, das die Erbeigenschaften der Lebewesen regelt. In einem Vergleich 50 51

Das Naturbild, S. 24. HA, XII, 366.

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zwischen den Eigenschaften der DNS mit Goethes Anforderungen an das Urphänomen kommt Heisenberg in "Das Naturbild Goethes" zu dem Urteil, daß die DNS ebenso wie Goethes Urphänomen die Grundstrukturen des Seins veranschaulicht: Es handelt sich ja in beiden Fällen um das Verständis der gestaltenden, formgebenden Kräfte in der belebten Natur, um ihre Zurückführung auf etwas Einfaches, allen lebendigen Gestalten Gemeinsames. Das eben leistet das Urgebilde der heutigen Molekularbiologie, das noch etwas zu primitiv ist, um schon ein Urlebewesen genannt zu werden .... Dieses Urgebilde hat auch dies mit der Goetheschen Urpflanze gemeinsam, daß es nicht nur eine Grundstruktur, eine Idee, eine Vorstellung, eine formgebende Kraft, sondern auch ein Objekt, eine Erscheinung ist, wenn es gleich nicht mit unseren gewöhnlichen Augen gesehen, sondern nur indirekt erschlossen werden kann. Es ... ist also durchaus wirklich und nicht etwa nur ein Gedankengebilde. 52

Heisenberg bezweifelt allerdings, ob man die DNS, wie Goethe vom Urphänomen verlangt, "schauen, fühlen, ahnen" könne. "Man könnte sich nur vorstellen, daß es vielleicht den Entdekkern zum ersten Male so erschienen ist" ,53 fügt Heisenberg hinzu - sicherlich in Anlehnung an sein persönliches Helgoländer Erlebnis mit der Quantentheorie. Goethe verlangte von sich, die Urphänomene ruhen zu lassen und nicht zu versuchen, auch noch eventuell dahinterliegende Ursachen aufzuspüren. Und in seiner Forderung schwingt die enttäuschte Überzeugung mit, daß der Mensch ohnehin nicht zu letzten Erkenntnissen gelangen könne. In den "Maximen und Reflexionen" wird dies deutlich: "Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation .... "54 Den Grund für Goethes Zögern, selbst die Urphänomene weiter zu hinterfragen, sah Heisenberg in Goethes Sorge, daß die Fragestellung über die eigentliche Beschaffenheit des Seins ad infinitum weitergeführt würde. Mit einem Zitat aus Goethes "Farbenlehre" illustriert Heisenberg seine Feststellung: Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Übel, daß man es nicht als solches anerkennen will, 52 53

74

Das Naturbild, S. 40. Das Naturbild, S. 40.

54

HA, XII, 367.

daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenzen des Schauens eingestehen sollten. Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit bestehen. 55

Die Ergebnisse der Quantentheorie haben Goethes Sorge vor einer ins Bodenlose absinkenden Abstraktion jedoch abgeschwächt: Weil sich die Teile innerhalb des Atoms anders verhalten als die Materie im großen, ist für Heisenberg ein Abschluß der Suche nach der physikalischen Beschaffenheit des Seins im Prinzip denkbar: Wenn die Natur schon die Welt aus kleinsten Bausteinen endlicher Größe: Elektronen und Protonen aufgebaut hat, so darf die Frage: "Was geschieht in Bereichen, die noch kleiner sind als diese Bausteine?" keinen vernünftigen Sinn haben. Daher müssen sich diese Bausteine "unanschaulich" verhalten, d. h. anders wie die Dinge des täglichen Lebens, damit die Natur im kleinen abgeschlossen werden kann. Die moderne Atomphysik hat zum ersten Male gezeigt, wie ein solcher Abschluß der Welt im kleinen prinzipiell denkbar ist; die erkenntnistheoretischen Diskussionen, durch die schließlich dieses Ziel erreicht worden ist, haben unser Denken geklärt, die Sprache gereinigt und uns einen tiefen Einblick gewährt in das Wesen aller menschlichen Naturerkenntnis. 56

Das Ziel der Physik, alle Naturphänomene, nicht nur solche innerhalb einzelner wissenschaftlicher Kategorien, aus möglichst einfachen Gesetzen abzuleiten, rückt mit Heisenbergs Begründung der Quantenmechanik in immer greifbarere Nähe: ,,[W]ir glauben, die einheitliche physikalische Struktur der Natur in ihren Umrissen zu erkennen. "57 Eine einheitliche physikalische Struktur der Natur scheint sich in der Elementarteilchenphysik anzubahnen. Dort arbeitete Heisenberg an seinem Projekt der einheitlichen Feldtheorie: Es wird in mathematischer Sprache ein grundlegendes Naturgesetz formuliert, eine "Weltformel", wie es gelegentlich genannt wurde, 55

368.

Die Goethesche und Newtonsehe Farbenlehre, S. 62; vgl. HA, 13,

56 Heisenberg, Wemer: "Die Rolle der Unbestimmtheitsrelationen in der modernen Physik". Monatshefte für Mathematik, 38 (1931), 371-372. 57 Heisenberg, Wemer: Die Abstraktion in der modernen Naturwissenschaft. In: Wandlungen, S. 202.

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dem alle Naturerscheinungen genügen müssen, das also gewissermaßen nur die Möglichkeit der Existenz der Natur symbolisiert. 58

Mit der Erforschung der Weltformel reicht die Wissenschaft wesentlich weiter als die einzelnen Urphänomene, die Goethe sich z. B. in Botanik, Zoologie und Optik vorstellte, denn die Weltformel beinhaltet ein Höchstmaß an Abstraktion, weil sie sämtliche Naturerscheinungen umfassen soll. Die Auflösung dieser Rechnung soll das Verhalten der Elementarteilchen darstellen, die nach Heisenbergs Überzeugung in "Die Abstraktion" mit Goethes Urphänomenen bzw. platonischen geometrischen Urbildern gleichzusetzen wäre: Die einfachsten Lösungen dieser mathematischen Gleichung [der Weltformel] repräsentieren die verschiedenen Elementarteilchen, die gen au in demselben Sinne Grundformen der Natur sind, wie Plato die regulären Körper der Mathematik, Würfel, Tetraeder usw. als die Grundformen der Natur aufgefaßt hat. 59

Die Elementarteilchen entziehen sich einer direkten Beobachtungsmöglichkeit. Sie sind daher nicht durch das unmittelbare Anschauen zugänglich, das Goethe gefordert hatte, sondern nur über die Abstraktion, wie Heisenberg weiter erläutert: "Ob sie im Goetheschen Sinne angeschaut werden können, das hängt wohl einfach davon ab, mit welchen Erkenntnisorganen wir der Natur gegenübertreten. "60 In ihrer Lebensferne scheint Heisenbergs Weltformel Goethes Forderung nach dem Bezug auf den Menschen, die er im zweiten Buch von "Wilhelm Meisters Wanderjahre" erhebt, völlig außer acht zu lassen: "In der Naturforschung bedarf es eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen . . .. "61 Heisenberg betont jedoch in "Das Naturbild" , daß Goethes naturwissenschaftlicher kategorischer Imperativ durchaus mit der Weltformel in Einklang zu bringen sei. Ein Gebäude ihres Ausmaßes und Anspruchs trage auch die goethesche Wertfrage in sich: Denn die ganz großen Zusammenhänge werden in den Grundstrukturen, in den so sich manifestierenden platonischen Ideen sichtbar, und diese Ideen können, da sie von der dahinterliegenden Gesamtordnung 58 59

76

Das Naturbild, S. 41. Das Naturbild, S. 41.

60 61

Das Naturbild, S. 41. HA, XIII, 303.

Kunde geben, vielleicht auch von anderen Bereichen der menschlichen Psyche als nur von der Ratio aufgenommen werden, von Bereichen, die eben selbst wieder in unmittelbarer Beziehung zu jener Gesamtordnung und damit auch zur Welt der Werte stehen. 62

So treffen in Heisenbergs Ausführung die reine Abstraktion und das volle Leben, das Goethe im Hinblick auf den Menschen erkennen wollte, wieder zusammen. Heisenberg ist allerdings vorsichtig, wenn er in "Die Reise der Kunst in's Innere" über die Folgen spricht, die sich aus der Weltformel ergeben könnten: Der Umstand, daß in der Naturwissenschaft das Ziel nach einer endlichen Zahl von Schritten erreicht werden kann, weckt die Hoffnung, daß von hier eine neue, weitere Art des Denkens ihren Ausgang nehmen könnte, die in unserer Zeit allerdings eher geahnt als beschrieben werden kann. 63

Was diese "weitere Art des Denkens" sei, vermag Heisenberg nicht konkret zu sagen, aber er verknüpft seine eigene Hoffnung mit den Zielen Goethes: Wir werden von Goethe auch heute noch lernen können, daß wir nicht zugunsten des einen Organs, der rationalen Analyse, alle anderen verkümmern lassen dürfen; daß es vielmehr darauf ankommt, mit allen Organen, die uns gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen und sich darauf zu verlassen, daß diese Wirklichkeit dann auch das Wesentliche, das "Eine, Gute, Wahre" spiegelt. 64

Wenn es der Physik gelingen sollte, mittels der Weltformel das Verhalten aller Materie zu erklären, dann mag die Zeit für eine erweiterte Form der Naturwissenschaft reif sein, die sich verstärkt subjektiven Fragen zuwendet. In dieser Hinsicht hat Heisenberg Goethe als Vorbild betrachtet, denn für Goethe hatte der Mensch Vorrang vor einer in sich geschlossenen, von menschlichen Interessen getrennten Naturwissenschaft.

62 63

Das Naturbild, S. 41. Versuche zu Goethe, S. 325.

64

Das Naturbild, S. 42.

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I

lell d, an,.!t Foto: lIpa

eARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER

4. earl Friedrich von Weizsäcker Wozu Goethe? Die Frage stellte sich nie. Wozu Atemluft? (earl Friedrich von Weizsäcker)l

Carl Friedrich von Weizsäcker, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Kernphysiker und Wissenschaftsphilosophen, vermittelt ein neues Goethebild im Rahmen des nuklearen Zeitalters. Wie wohl kein anderer deutscher Gelehrter des 20. Jahrhunderts befaßt sich Weizsäcker mit der Analyse von Wissenschaft, Politik und Geistesleben. Bloßes Verstehen der Welt in ihrer Komplexität liegt Weizsäcker jedoch fern. In zahlreichen Publikationen und öffentlichen Ansprachen ruft Weizsäcker unermüdlich zu einem "Bewußtseinswandel" auf, um im Interesse von Weltfrieden, Umwelt und Wissenschaft verantwortlich zu handeln. Goethes Bedeutung kommt in Weizsäckers eigenen Werken nicht nur in Vorträgen und Schriften über den Dichter zum Ausdruck, sondern auch in spontanen Gedichtrezitationen und Äußerungen über Goethe, denn bei ihm empfindet er in der deutschen Geistesgeschichte seine "Heimat". So äußert sich Weizsäcker in der am 28. Juni 1987 im ZDF ausgestrahlten Sendung "Zeugen des Jahrhunderts - Carl Friedrich von Weizsäcker im Gespräch mit Peter Koslowski": Also wenn ich mich da frage, wo ich in der deutschen Geistesgeschichte mich heimisch fühle, würde ich sagen bei Goethe. Ich finde, man kann nichts Schöneres über einen Menschen sagen als: "Er ist eine Natur." Oder dieser schöne Satz von Goethe: "All unser redlichstes Bemühn Glückt nur im unbewußten Momente. Wie möchte denn die Rose blühn, Wenn sie der Sonne Herrlichkeit erkennte!" Da fühle ich mich zu Hause, das ist elementar, das ist Selbstbeschreibung! 1

Zu einer neuen Goethe-Ausgabe, S. 9.

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Wie kam es zu solch liebender Feststellung, wenn nicht gar Identifikation?

Goethes Bedeutung in Weizsäckers Jugend Als Dreiundsiebzigjähriger erklärte Weizsäcker 1985 rückblikkend in dem Ankündigungsschreiben der Münchener Lebensalterausgabe von Goethes Werken in "Zu einer neuen GoetheAusgabe", wie Goethe in sein Leben trat: Goethe hat mich begleitet, seit unser alter kurzgewachsener , stämmiger, belächelter und verehrter Deutschlehrer den rechten Fuß auf die Stufe seines Katheders setzte, kurz die kahle Stirn in der Hand verbarg und dann losdonnerte: "Bedecke deinen Himmel, Zeus! mit Wolkendunst .... "2

Weizsäcker erinnerte sich in einem Gespräch mit der Verfasserin am 22. Juni 1987 in Starnberg, daß ihn bei diesen Versen nicht der Inhalt, sondern zunächst die "Wortgewalt" des Gedichts beeindruckt habe. Also führte ihn zuerst eher ein unmittelbares ästhetisches Empfinden zu Goethe, und erst später erfolgte die bewußte Reflektion. In Goethes in der Sturm-und-Drangzeit entstandenem Gedicht lehnt sich Prometheus gegen Zeus und die Götter des Olymp auf. Weizsäckers erster Kontakt mit Goethe fällt in eine Zeit, in der auch er im Begriff stand, den im Elternhaus praktizierten Glauben in Frage zu stellen: "Ich war nun auf der hohen See, religiöse Erfahrung selbst wiedergewinnen und selbst buchstabieren zu müssen. "3 Diese erste Goethe-Erfahrung bezeichnet Weizsäckers gesamte Beziehung zu Goethe, wie er der Verfasserin in einem Schreiben am 4. August 1986 mitteilte. Dort bemerkt er, daß er "das Gefühl habe, ... bei Goethe jemanden zu finden, der dieselben Ansichten auch hatte, weil er dasselbe wahrnahm. "4 Weizsäckers Beweggründe, als Schüler konkret die Klassiker zu studieren, erklärt er in "Zu einer neuen Goethe-Ausgabe": 2 3

4

80

Zu einer neuen Goethe-Ausgabe, S. 9. Garten, S. 557. Brief an die Verfasserin von C. F. v. Weizsäcker. 4. August 1986, S. 4.

Wozu Klassiker? Als Schüler hatte ich eine altkluge Überlegung: Die Wahrscheinlichkeit, einen lesenswerten, einen großen Autor, eine Antwort auf meine ewigen Fragen zu finden, ist hundertmal größer in dreitausend als in dreißig Jahren. Zeitgenossen zu lesen, wird es früh genug sein, wenn sie klassisch geworden sein werden. 5 Trotz seines Interesses an den Klassikern bereitete Goethes Sturm-und-Drangtragödie "Werther" dem Schüler Weizsäcker anfänglich Verständnisschwierigkeiten: Den Werther hatte ich als Primaner (da wir ihn lesen sollten) für einen sentimentalen Reißer gehalten; ich mußte sechzig werden, um zu entdecken, was für ein großer Roman er ist. 6 Noch fehlte Weizsäcker für Goethes "Werther" die notwendige Lebenserfahrung. Aber er lernte in der Schulzeit nicht nur prometheischen Aufstand und Sturm-und-Drangdramatik kennen. Vor allem fühlte sich Weizsäcker von der in Goethes Alterswerk ausgestrahlten Lebensweisheit angesprochen: Bald öffnete sich mir die blühendsparsame Direktheit des lyrischen Altersstils - jenseits von revolutionärem Pathos und klassischer Absicht. Das, so meinte ich, verstehe ich unmittelbar. Noch heute, wenn ich aus dem Gedächtnis Goethe zitiere, ist es meist aus dem Divan. 7 Lebensweisheit und religiöse Erkenntnis durchdringt Goethes Gedichtsammlung des "West-östlichen Divan". Die Fragen nach der Harmonie der Existenz, die Goethe in dichterischer Andeutung im "Divan" z. B. in dem Gedicht "Wiederfinden" aufwirft und beantwortet, begann Weizsäcker schon mit zwölf Jahren seiber zu stellen. Weizsäcker erinnert sich z. B. in "Der Garten des Menschlichen", daß er schon damals über die Problematik der Diskrepanz zwischen subjektiver Gefühlserfahrung und objektiven naturwissenschaftlichen Fakten nachgedacht hatte. 8 Eine einheitliche Naturauffassung fand Weizsäcker nicht nur in Goethes Dichtung, sondern auch in seiner Naturforschung wieder. Deshalb beantwortet Weizsäcker in "Zu einer neuen 5

6 7

8

Zu einer neuen Goethe-Ausgabe, S. 9. Zu einer neuen Goethe-Ausgabe, S. 1l. Zu einer neuen Goethe-Ausgabe, S. 1l. Garten, S. 553.

6 Partenheimer

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Goethe-Ausgabe" seine selbstgestellte Frage: "Wozu Goethe?" mit der Gegenfrage: "Wozu Atemluft?". Ihm war schon in der Prima bewußt geworden, daß es sich hier um philosophische Fragen handelt. Auf Anraten seines Mentors und Freundes Werner Heisenberg studierte Weizsäcker theoretische Physik, um dadurch Philosophie verstehen zu lernen. Der Weg der Empirik führte Weizsäkker - wie Heisenberg dem Freund vorausgesagt hatte - zurück zur Philosophie und zu Goethe. Als anerkannter Kernphysiker und Wissenschaftsphilosoph setzte sich Weizsäcker über mehr als vier Jahrzehnte mit Goethe auseinander, um z. B. die Relevanz von Goethes Weltanschauung für die traditionelle, zeitgenössische und zukünftige Naturwissenschaft aufzuzeigen.

Weizsäckers Rechtfertigung von Goethes Aktualität im 20. Jahrhundert Unter dem Titel "Einige Begriffe aus Goethes Naturwissenschaft" erschien 1947 ein Kommentar Weizsäckers im naturwissenschaftlichen Teil der Hamburger Ausgabe von Goethes Werken. 9 Der Essay enthält im Kern bereits viele Grundgedanken Weizsäckers über Goethes Bedeutung im 20. Jahrhundert, die Weizsäcker in zahlreichen späteren Reden und Schriften aufgegriffen und vertieft hat. Zunächst wandte sich Weizsäcker Goethes Naturwissenschaft zu. In der Wissenschaft wollte Goethe die Einheit der Natur nachweisen. Zu diesem Zweck betrieb er Morphologie, wie Weizsäkker erklärt: "Vergleichende Morphologie weist ... die Einheit des Wirklichen in der Kontinuität der Gestalten nach. "10 Für Weizsäcker und Goethe erfüllt Wissenschaft die gleiche Aufgabe, mit ihrer Hilfe die nächste dingliche Umgebung kennenzulernen. Vor allem aber soll Wissenschaft es dem Menschen ermöglichen, 9 Weizsäcker, earl Friedrich von: Einige Begriffe aus Goethes Naturwissenschaft. In: HA, XIII, 546. \0 Einige Begriffe, S. 547.

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sich "im Unendlichen [zu] finden".ll So liegen Empirik und Metaphysik für beide nahe beieinander. Vor diesem Hintergrund wirft Weizsäcker Licht auf den Widerstand Goethes gegen Newtons Optik: Wie konnte ein so großer, so umfassender Geist so irren? Ich weiß nur eine Antwort: er irrte, weil er irren wollte. Er wollte irren, weil er eine entscheidende Wahrheit nur durch den Zorn zu verteidigen mochte, dessen Ausdruck dieser Irrtum war. 12

Goethes bekannter Zorn auf Newtons mechanistische Farbenlehre führte ihn dazu, Newtons Entdeckung der Zusammensetzung des weißen Lichts aus den Farben des Spektrums abzulehnen. In seiner Auseinandersetzung mit Newton wollte Goethe auch in der wissenschaftlichen Betrachtung die für ihn wesentliche Gegenwart eines Subjekts retten, das in der Physik Newtons keinen Platz hatte, denn auf diesem Gebiet gab es bereits seit Descartes eine Kluft zwischen Materie und Geist. Goethe lehnte diese Trennung instinktiv ab. Er erklärt seinen Widerstand in "Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen" im Kapitel "Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt": Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natürliche Art die Sachen anzusehen und zu beurteilen scheint so leicht zu sein als sie notwendig ist . . . . \3

Denn die "Gespaltenheit des Denkens" findet nur in der Einbildung statt. Im Gegensatz zu dieser künstlichen Trennung war Goethe einheitliches Denken naturgegeben, erläutert Weizsäkker: "Für Goethe aber war, so selbstverständlich wie die Idee in der einzelnen Gestalt, der Geist in der Materie gegenwärtig. "14 In seinem Buch "Deutlichkeit - Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen" stellt Weizsäcker diejenigen Aspekte der Quantentheorie dar, die sich Goethes Forderung nach Einbeziehung des Subjekts in der Naturwissenschaft nähern: 11

12

6'

Einige Begriffe, S. 542. Einige Begriffe, S. 539.

\3

14

HA, XIII, 10. Einige Begriffe, S. 550.

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Die Quantentheorie lehrt uns, die Objekte der Physik als Objekte für Subjekte zu verstehen. Wenn es überhaupt Objekte der Physik gibt, so gibt es Subjekte, für die sie Objekte sind. 15

Die Ergebnisse der Quantentheorie rechtfertigen Goethes Verlangen nach dem Subjekt, denn sie führen erstmals seit Descartes wieder ein legitimes Subjekt in die Wissenschaft ein. Weizsäcker empfindet Goethes Zorn gegen Newton daher auch als höhere Gerechtigkeit, obwohl sich Goethe z.T. störrisch gegen die empirisch leicht nachweisbaren Eigenschaften des Lichts gewehrt hatte. Die moderne Elementarteilchentheorie nähert sich darüber hinaus dem goetheschen Konzept der Einheit, wenn sie eine Erklärung für die Existenz atomarer Elementarteile sucht, die sie auf ein einziges Grundgesetz zurückverfolgt. Weizsäckers eigene Forschung knüpft daran an. 16 Er sei jetzt in einen Bereich der "Uralternativen jenseits des Teilchenbegriffs" vorgestoßen, berichtete er der Verfasserin im Gespräch in Starnberg. Weizsäkker erklärte, daß die Wissenschaft sich gegenwärtig im Vorfeld einer großen Revolution befinde. Zu der Bedeutung seiner Forschung bemerkte er, es sei so, als ob man gerade einen neuen Kontinent - wie Kolumbus Amerika - entdeckt habe und sich einem die Küstenverläufe geographisch erschlössen. Weizsäcker hofft, noch die Grenzen im Ganzen abstecken zu können, um anderen den weiteren Weg für den Vorstoß ins Neuland zu ermöglichen. Weizsäckers Abschlußworte zu "Einige Begriffe aus Goethes Naturwissenschaft" zeigen die richtungweisende Bedeutung, die er der Position Goethes in der modernen wissenschaftlichen Welt beimißt: 15 Weizsäcker, C. F. v.: Deutlichkeit - Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen. (München und Wien: Carl Hanser, 1979), S.178. 16 Siehe: Einheit und Vielheit - Festschrift für Carl Friedrich v. Weizsäcker zum 60. Geburtstag: Erhard Scheibe und Georg Süßmann (Hg.). (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973), S. 8. Dort weisen die Herausgeber auf die herausragende Stellung der Quantentheorie in Weizsäkkers Forschung hin: "Die auffallende Geschlossenheit der Quantentheorie hat Weizsäcker weiterhin dazu veranlaßt, ihr eine zentrale Rolle in seiner Konzeption der Einheit der Physik zu geben."

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Uns hat der Strom weit an dem Kontinent, auf dem er [Goethe] noch wurzeln konnte, vorbeigetrieben. Den Boden, auf dem wir stehen könnten, bietet er uns nicht. Aber, wenn es erlaubt ist, das Gleichnis abzuwandeln: erst aus der Ferne erkennen wir, daß sein Licht nicht das des Leuchtturms ist, der den Hafen anzeigt, sondern das eines Sterns, der uns auf jeder Reise begleiten wird. 17

Ganz im goetheschen Sinne enthält diese Bemerkung eine Steigerung. So kann Goethes Dichtung und Naturwissenschaft zwar keinen "Hafen" für die moderne Wissenschaft bieten; dazu sind die heutigen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu weit von den Erkenntnissen seiner Epoche entfernt. Aber Goethes "Stern" leuchtet einem Zeitalter, in dem Wissenschaft und Mensch gemeinsam höher streben sollen. Als Weizsäcker 1950 den Goethepreis der Stadt Frankfurt empfing, schilderte er Goethes ungebrochene Anziehungskraft in seiner Ansprache: Ich möchte das, was ich Ihnen heute sagen will, nicht auffassen als eine Interpretation von Texten, möchte es nicht auffassen als ein Philosophieren eines Großen, aber nicht mehr Lebenden, sondern ich möchte es eher tun in dem Sinne, daß wir mit den Fragen, in denen wir leben, die uns bewegen, zurückkehren zu diesem Manne, der auch für uns ein Lebender ist und versuchen, mit ihm über die Fragen, die ihn bewegt haben, die uns bewegen, gleichsam zu denken. 18

Goethes Fragen stellt Weizsäcker stets aufs Neue, denn sie sind zeitlos. Sie bleiben darüber hinaus lebendig, weil Weizsäcker sie den konkreten Fragen des 20. Jahrhunderts anpaßt. Insbesondere tritt Goethes Tragweite in Weizsäckers Leben und Werk mit zunehmenden Jahren immer offener zutage, wie es der "Garten des Menschlichen" veranschaulicht. Der "Garten des Menschlichen" ist ein Vermächtnis Goethes. Weizsäckers langjährige Beschäftigung mit dem "West-östlichen Divan" mag ihn zu einem Werk angeregt haben, das wie der "Divan" unter verschiedenen Perspektiven das menschliche Wesen und dessen Stand im Universum behandelt. 1977 entstand das Buch aus Beiträgen, die einen breit angelegten Einblick aus anthropologisch17

18

Einige Begriffe, S. 555. Goethes Stellung, S. 2.

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historischer Sicht in das Wesen des Menschen vermitteln sollen. Inhaltlich und strukturell ähnelt es dem "West-östlichen Divan" frappierend. Das Wort Divan kommt aus dem Persischen und bedeutet Versammlung oder auch Liedersammlung. Goethe benutzte es als Titel für eine Sammlung seiner reifen Dichtung, die von persischen Vorbildern inspiriert wurde. Der Name Garten deutet wie Divan auf eine geordnete Versammlung verschiedener Pflanzen hin. Weil sich diese Pflanzen in einer geordneten Gartenanlage befinden, besitzen sie ihre innere Verbindung: das Menschliche. So untersucht Weizsäcker "quer durch den Garten" eine bunte Anordnung zeitgenössischer menschenbezogener Phänomene und Fragen, z. B. die Stellung der Naturwissenschaften, Krieg und Frieden, Philosophie, Theologie, die Linken, das Schöne oder auch die Funktion des Todes. Weizsäcker wechselt - wie Goethe im "Divan" - frei zwischen allgemeinen Betrachtungen und persönlichen Anschauungen. Er behandelt z. B. die allgemeine Subjekt-Objekt-Problematik der Naturwissenschaften und andererseits eine persönliche, religiösmeditative Erfahrung in Indien. So, wie Goethe die östlich-persische Kultur mit der des Abendlandes verbindet, erscheint die Integration west-östlichen Gedankenguts auch im "Garten des Menschlichen" wieder. Wie Goethe interessiert auch Weizsäcker die Philosophie und Kultur des Ostens. Zum Beispiel sah Goethe in Hafis - einem persischen Dichter des 15. Jahrhunderts - eine Gestalt, der er sich geistig eng verwandt fühlte. 19 In einem Schreiben an die Verfasserin wies Weizsäcker 1986 auf die mögliche Ursache von Goethes Nähe zu Hafis hin: Das Entscheidende ist hier, neben der direkten Seelenverwandtschaft, insbesondere der mystische Zug, und die Mystik ist ja wohl eine der Erscheinungsformen der Religion, vielleicht die wichtigste unter ihnen, in denen die Religionen sich kaum unterscheiden. 20

19

20

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Vgl. Trunz, HA, XIII, 551 - 552. Brief, S. 4.

Die Mystik sucht die Vereinigung des Einzelnen mit dem Göttlichen und ist interkonfessionell. Ein mystischer Zug tritt besonders deutlich in Goethes Altersdichtung zutage 21 und bildet womöglich eine Brücke zu Hafis. Vergleichbar mit Goethes Vorliebe für Hafis betont Weizsäkker seine eigene Präferenz östlicher Philosophie: Ich habe mich ... bei wacher Bewußtheit der tiefen kulturellen Differenzen, im spirituellen Asien selbstverständlicher zu Hause gefühlt als in Europa. Ich wußte: dort gibt es Menschen, die sehen und sind. 22

Bereits als Student fühlte sich Weizsäcker vom Buddhismus spontan angezogen. Später erkannte er, daß die indische VedantaLehre vieles enthält, was ihn am Buddhismus interessierte. Im Gegensatz dazu erschien ihm der Islam - dessen Vertreter ja auch Hafis ist - "im Grunde immer ein bißehen zu oberflächlich, zu politisch und eine Art Simplifikation dessen, was im Jüdischen und im Christlichen besser war. "23 Das Mystische, das Goethe zur Dichtung Hafis zog, kommt demnach reiner in Buddhismus und Vedanta-Lehre zum Ausdruck, mit der Goethe nicht vertraut war. Das mystische Element verbindet die östlichen Religionen und die Philosophie Goethes und Platons. Sie sind miteinander in bezug auf ein einheitliches kosmisches Prinzip verwandt. "Mit der Frage nach der Einheit haben wir platonischen Boden betreten" erklärt Weizsäcker und weist eindeutig auf seinen eigenen Standort zwischen Goethe und Platon hin: Platon ist - wenn es nicht zu anmaßend ist, so etwas zu sagen - der einzige Philosoph, bei dem ich mich in der Heimat gefühlt habe. Dieselbe Heimat habe ich seit der Schulzeit bei Goethe empfunden, zumal in seiner späteren Lyrik. 24

In der Philosophie hat Goethe Weizsäckers Meinung sicherlich schon sehr frühzeitig mitgeprägt, denn er fand in Goethe "jemanden ... der dieselben Ansichten auch hatte, weil er dasselbe wahrnahm".25 Weizsäcker war mit Goethe eher vertraut gewesen 21 22 23

Vgl. Trunz, HA, S. 551 - 553. Garten, S. 589. Brief, S. 4.

24 25

Garten, S. 587. Brief, S. 1.

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als mit Platon, den er als sein wesentliches philosophisches Vorbild betrachtet. Über Platon äußert Weizsäcker jedoch selber: "Ich habe Platon erst später lesen gelernt als Goethe, aber ich habe in ihm eigentlich all das wiedergefunden, was mich an Goethe angesprochen hat. "26 Goethes Gedankenwelt zeigt vielfach platonische Einflüsse. Jedoch geht Goethe - im Unterschied zu Platons Auffassung des zyklischen Seins - von der Geschichtlichkeit der Natur aus. In diesem zentralen Punkt fühlt sich Weizsäcker näher mit Goethe verbunden als mit Platon, denn Goethes Konzept der Steigerung, der Höherentwicklung aller Existenz, beinhaltet einen geschichtlichen Aspekt des Naturgeschehens.27 Zur unterschiedlichen Geschichtsauffassung Platons und Goethes bemerkt Weizsäcker: Hierin sind wir Heutigen weit von Platon entfernt, und Goethe gehört zu jenen, die schon sehr früh gerade die Geschichtlichkeit der Natur geahnt haben. Etwas, was ins allgemeine Bewußtsein fast erst durch Darwin getreten ist. Hier also ist die Nähe zu Goethe in der Tat größer als die zu Platon. Ungleich der platonischen Vorstellung der zyklischen Wiederkehr des schon Gewesenen ereignet sich bei der Steigerung etwas Neues. 28

Goethes Vorstellung der Steigerung ergibt sich aus seinem polaren Denken, das von Begriffspaaren ausgeht, die er einander gegenüberstellt, wie z. B. Aus- und Einatmen oder Licht und Schatten. Diese Polaritäten erkennt er in jeder Form des Daseins. Auch sind Geist und Materie für Goethe untrennbar miteinander verbunden. Durch deren Interaktion denkt er sich daher nicht nur eine Steigerung des Geistes, sondern auch der Materie, wie er in der "Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz ,Die Natur'" näher erklärt: Brief, S. l. Goethes Konzept der Steigerung findet sich durch Weizsäckers Untersuchungen des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik bestätigt. Die Irreversibilität von einmal Geschehenem in der Zeit bewirkt ein Anwachsen von Tatsachen. In "Der Garten des Menschlichen", S. 579 formuliert Weizsäcker daher: Das Vergangene vergeht nicht, somit wächst die Menge der Fakten; die Gegenwart der Zukunft ist ihre in Fakten fundierte Möglichkeit, somit wächst die Menge der Möglichkeiten. 28 Brief, S. 2. 26

27

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Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sieh zu steigern, so wie siehs der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen. 29

Goethes Polaritätsdenken empfindet Weizsäcker als "ein altes Schema menschlichen Begreifens" , das auf den Ursprung des Geheimnisses der Zahl deutet. 3o "Offenbar sind diese Paare nicht Erfindungen des Menschen, und so verbirgt sich in ihrem Dasein der Anfang des Rätsels, das uns Wesen und Wirklichkeit der Zahl aufgibt. "31 Folglich spiegelt Goethes polares Denken nach Weizsäcker die Urgründe mathematischer Form wider. Da Geist und Materie für Goethe miteinander verknüpft sind, erklärt sich ihm so das Phänomen der Metamorphose in der Biologie und allen anderen Bereichen. Weizsäcker führt Goethes Gedanken sogar einen Schritt weiter. Er beweist, daß Geist im Sinne Goethes erst aus Materie hervorgegangen sein muß: Polarität und Steigerung sind beide bewegte Zweiheit. Wenn Polarität der Materie eigentümlich ist, und wenn Geist und Materie selbst eine Polarität sind, so geht der Geist aus der Materie hervor. 32

Diese Überlegungen entsprechen der Abstammungslehre, nach der Intelligenz entwicklungsgeschichtlich aus anorganischen Verbindungen hervorgeht. Auch in der Atomphysik lautet das Urteil ähnlich, denn dort gehen Kraft und Stoff ineinander über.

Selige Sehnsucht Neben philosophischen und naturwissenschaftlichen Betrachtungen im "Garten des Menschlichen" widmet sich Weizsäcker Goethe ganz konkret in zwei Gedichtinterpretationen. Im Kapitel "Ebenen und Krisen" untersucht Weizsäcker die gegenwärtige Auffassung und Bedeutung des Todes: "Wahrscheinlich ist keine Menschheit je dem Tode gegenüber so ratlos gewesen wie die 29

30

HA, XIII, 48. Einige Begriffe, S. 549.

31

32

Einige Begriffe, S. 549. Einige Begriffe, S. 550.

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heutige" .33 Mit Goethes Gedicht "Selige Sehnsucht", einem der tiefgründigsten Gedichte des "West-östlichen Divan", demonstriert Weizsäcker, wie hier naturwissenschaftliche, philosophische und religiöse Einsichten zusammenfließen, die Weizsäcker trotz ihrer Diversität als in sich gültige Wahrheiten anerkennt. Deren Essenz verschmilzt Goethe in "Selige Sehnsucht" in ein künstlerisches Bild. Zuvor erörterte Weizsäcker die Todesproblematik aus anthropologischer Sicht und natürlich aus dem Blickwinkel des Naturwissenschaftlers, denn "Nüchternheit ist erforderlich im zwanzigsten Jahrhundert. "34 Für jedermann bezeichnet der Tod eine Schwelle, die über empirisches Erkennen hinausgeht. Die Religionen versuchen diese Ungewißheit zu lindern und sie dem "täglichen Bewußtsein" zu erleichtern. 35 Dies ist in der modernen Welt nicht mehr ohne weiteres gültig, denn ,,[d]er harte Kern des heutigen Bewußtseins ist die Naturwissenschaft. "36 Fundamentale Erkenntnisse der Naturwissenschaft erläutert Weizsäcker mit Goethe zugesprochenen Gedanken: "Der Satz im Tobler-Goethes Hymnus über die Natur: ,der Tod ist ihr Kunstgriff, mehr Leben zu haben', ist schon in diesem sehr formalen Sinne anwendbar. "37 Demzufolge bildet Vergänglichkeit die Vorbedingung von Vielfalt und Wachstum. Weizsäcker denkt diese Idee zu Ende und folgert verallgemeinernd, daß der Tod die notwendige Voraussetzung des Lebens an sich sein könne: Wagt man es, schon die geschichtliche Möglichkeit überhaupt als Leben, schon die Vergänglichkeit des Gewordenen überhaupt als Tod zu bezeichnen, so ist der Tod Vorbedingung des Lebens. 38

Den "Kunstgriff der Natur", durch Tod "mehr Leben" zu gewinnen, findet Weizsäcker auch in der individuellen menschlichen Entwicklung, in der der Alterungsprozess als vermehrtes Leben aufgefaßt werden kann. 33

34 35

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Garten, S. 146. Garten, S. 159. Garten, S. 146.

36

37

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Garten, S. 146. Garten, S. 147. Garten, S. 147.

Die Nähe des Todes steigert in der Einzelperson oftmals das Wahrnehmungsvermögen, während die körperlichen Kräfte schwinden. So fühlen beispielsweise viele Menschen ihr bevorstehendes Ende, ohne es doch aus eigener Erfahrung wissen zu können. Weizsäcker beobachtet, daß dieses erhöhte Wahrnehmungsbewußtsein in den Spätwerken großer Künstler besonders deutlich zutage tritt. Darin erfolgt oft "ein Wegsinken der Pflicht und des Ehrgeizes, klassisch zu sein, die unglaubliche Dichte distanzierter Direktheit .... "39 Dieses von allem Ballast befreite vergeistigte Eigene, das im künstlerischen Alterswerk zutage tritt, kann man in der Tat als gesteigertes Leben oder selbst neues Leben bezeichnen. Weizsäcker wählte Goethes Gedicht "Selige Sehnsucht" aus, um den Altersstil von Künstlern exemplarisch zu erläutern. Seine Gedichtanalyse bildet den Abschluß der Betrachtungen über den Tod und umfaßt die Gebiete der Biologie, Kosmologie, Religion und Psychologie. "Selige Sehnsucht" aus dem "Divan" beschreibt den Höhepunkt und Schluß vom Buch des Sängers. Goethe selber signalisierte die besondere Bedeutung, die er dem Gedicht beimaß, durch dessen exponierte Stellung im Gedichtband. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen Goethes schätzt Weizsäcker die unkomplizierte Ausdruckweise des reifen Dichters: Altersstil: Einfache, scheinbar kunstlose Verse. Ein Reim wie zeugtest-leuchtet, inhaltbefrachtet, wird nicht vermieden. Oft fast übergangslos dichte Fügung: es ist überflüssig, die Gedankenbrücke auszusprechen. Das Unauslotbare ist, ohne jede Schwere der Wortwahl, schlicht, wie mühelos hingesagt. 4O

Im Altersstil scheint Goethe seine Gefühlsregungen unmittelbar auszudrücken, ohne die beinahe zwangsläufigen persönlichen und ästhetischen Konsequenzen seines neuen literarischen Stils zu scheuen. Weizsäcker bemerkt, daß der Inhalt des Gedichts nicht mehr allein auf das Diesseits abzielt, wie in Goethes klassischer Schaf39 40

Garten, S. 157. Garten, S. 158.

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fenszeit. "Selige Sehnsucht" wirkt in seiner Insichgekehrtheit an der Oberfläche romantisch, wenn nicht selbst mystisch und richtet sich somit auch an das Jenseits. Das Gedicht beginnt mit den bekannten Zeilen: Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend'ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. 41

In diesen ersten vier Versen bezeichnet die Sehnsucht nach dem Tode tatsächlich ein grundlegendes Element der deutschen literarischen Romantik, die in Schriften wie "Hymnen an die Nacht" oder "Die Nachtwachen des Bonaventura" ihren reinen Ausdruck findet. Weizsäcker kennt sich in der Metaphorik des Dichters und in der germanistischen Terminologie genau aus, wenn er die von den Romantikern benutzte Umkehrung des Wirklichkeitsbegriffs in "Selige Sehnsucht" hervorhebt. Das Leben entpuppt sich darin als bloßer Schein, der Tod und das Jenseits als Wirklichkeit, wie z. B. in Tiecks "Runenberg" . Goethes Gedicht trägt allerdings nicht ausnahmslos romantische Züge, wie Weizsäcker richtig erkennt. Es drückt eher Goethes gereiftes Denken aus, worin der Dichter im Unterschied zu den Romantikern zuletzt doch wieder zur Erde zurückfindet: Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. 42

Im individuellen Leben kann das Stirb-und-Werde den Vorgang versinnbildlichen, sich mit seinem jeweiligen persönlichen Entwicklungsstand auseinanderzusetzen und dadurch geistig zu wachsen. Auch "Selige Sehnsucht" interpretiert Weizsäcker in diesem Sinne: Gerade dann, wenn du das nicht hast, dieses Stirb und Werde, gerade wenn du fraglos auf der Erde lebst, gerade dann bist du nur ein Gast 41

42

92

HA, II, 18. HA, 11, 19.

auf der Erde, ein trüber Gast, der nichts sieht, der nicht durchscheinend ist, gerade dann, nur dann ist die Erde dunkel. 43

Das Stirb-und-Werde soll somit eine geistige Entwicklung während des Erdenlebens bezeichnen, denn das Dahinter bleibt unbekannt. So erklärt sich das faustische Verlangen Goethes nach Erfahrung und Wirken in der Welt, im Hier und Heute, dem sich Weizsäcker anschließt. Weizsäcker hat sich gemäß dieser goetheschen Aufforderung im eigenen Leben verhalten. Sein vierzigstes Lebensjahr brachte ihm konkrete Einsicht, erinnert er sich im "Garten des Menschlichen": Eine persönliche Krise, in der ich an Menschen schuldig wurde, befreite mich .... Ich schränkte mich auf den engsten Kreis der Pflichten ein, opferte den Ehrgeiz der Erkenntnis und der Politik. Und dann kam der erste Durchbruch zur philosophischen Physik und zur politischen Wirkung. 44

Bei individueller Wandlungs unfähigkeit fällt die Dynamik des Stirb-und-Werde fort. Weizsäcker betrachtet sie daher metaphorisch als Sterben bei lebendigem Leibe. Das Sterben tritt ein, wenn der Mensch nicht zu politischer Handlung oder auch persönlicher Flexibilität gewillt ist. Unter diesen Voraussetzungen bleibt er "nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde". Ist er jedoch bereit, der Herausforderung des Lebens konstruktiv zu begegnen, so wird er tatsächlich mit Erfolg belohnt: "Stets ist der bestandene Tod ein Weg zu neuem Leben, der übertünchte Tod ein Gebanntsein in den Tod. "45 Neben dem möglichen geistigen Absterben bei lebendigen Leibe bleibt der physische Tod als größter Einschnitt und einzige Gewißheit im Leben eines Individuums. Die Religionen und auch Philosophien helfen, diese Gewißheit zu ertragen. Das Christentum z. B. hüllt das Jenseits in ein Geheimnis, und im Platonismus bleibt zwar ein Teil der Seele, nicht aber der Körper unsterblich. Im Unterschied dazu weicht die buddhistische Lehre der Beschreibung eines Jenseits aus. Die Jenseitsvorstellungen der Religionen treten mit Abstammungslehre und moderner Naturwissenschaft in den Hinter43 44

Garten, S. 159. Garten, S. 162.

45

Garten, S. 162.

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grund. Aufgrund ihrer "kulturgebundenen Blickbeschränkung" kann die Naturwissenschaft im Unterschied zu den Religionen eine Jenseitsfrage gar nicht stellen. 46 Dies führt Weizsäcker zu dem Gedicht "Selige Sehnsucht" zurück, mit dem er seine Betrachtungen über die Bedeutung des Todes mit einer Auslegung des Wortes Seligkeit beendet: "Seligkeit ist nicht jenseits des Todes; dort ist Arbeit. Seligkeit ist auf dem Grunde der Wirklichkeit, die auch den Tod geschaffen hat. "47 Seligkeit fußt folglich auf der gleichen Voraussetzung wie der Tod. Die menschliche Aufgabe liegt im Diesseits, in der Sphäre, die er begreift, oder - existentialistisch gesprochen - liegt der Sinn des Lebens im Leben selbst.

Wiederfinden In "Der Garten des Menschlichen" fügte Weizsäcker in seinem Kapitel über "Philosophische Überlieferung" eine Auslegung von Goethes Gedicht "Wiederfinden" zwischen einer Abhandlung über platonische Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert und der Philosophie Hegels ein. - Warum? - "Vielleicht wollte ich zeigen, daß Naturwissenschaft und Liebeslyrik, wenn man sie nur versteht, genau dieselbe Sache sind" antwortet er selber. 48 "Wiederfinden" bildet den Höhepunkt des Buches "Suleika" im "West-östlichen Divan". Das Gedicht entstand 1815 aus privatem Anlaß. In ihm gibt Goethe seiner Freude über die unverhoffte letzte Zusammenkunft mit Marianne von Willemer in Heidelberg Ausdruck. Auf überpersönlicher Ebene spricht "Wiederfinden" von der Entstehung des Kosmos und der Stellung des Menschen in ihm. Nach dem Motto "Ein gutes Gedicht kann Wort für Wort ausgelegt werden", 49 führt Weizsäcker an "Wiederfinden" eine subjektivistische und auch naturwissenschaftlich-literarische explication de texte durch. Sein Wissen um literarisches Detail zeigt sich, wenn er in der fünften Strophe das anfängliche "Und" im 46 47

94

Garten, S. 165. Garten, S. 166.

48 49

Garten, S. 28. Garten, S. 347.

Sinne goethescher Steigerung voll betont. Zugleich sind Weizsäkker die orientalischen Requisiten, wie z. B. das der Rose oder das hyperbolische "Stern der Sterne" zu Gedichtbeginn als Symbole der Liebe geläufig, denn "Wiederfinden" lehnt sich wie alle "Divan"-gedichte an orientalischen Habitus an. Persönlich mag Weizsäcker "Wiederfinden" für Goethes aussagekräftigstes Gedicht halten. Seine Auslegung von "Wiederfinden", so teilte er der Verfasserin in Starnberg mit, sei in sich als ein ungereimtes Gedicht gedacht. So vertieft Weizsäcker mit seinem in rhythmischer Sprache geschriebenen Kommentar die Aussage des Gedichtes, und zugleich darf seine Auslegung als eine Antwort an Goethe gelten. Vor aller objektiven Interpretation dieses Gedichts sind Weizsäcker daher die persönlichen Beweggründe wichtig, die Goethe zur Niederschrift von "Wiederfinden" bewegten. Um die Begleitumstände von "Wiederfinden" wirklich empfinden zu können, versetzt sich Weizsäcker zunächst in die gedankliche Situation des Dichters: Der Leser möge verzeihen, daß ein Altersgenosse des Dichters sich zuerst mit dem Dichter in den Strom seines Erlebens stürzt. Wie könnte man die Schöpfungstheologie dieses Gedichts auslegen, wenn nicht getragen von dem Erlebnis, das dem Dichter den Mund geöffnet hat?50

Mit dem "Erlebnis" bezieht sich Weizsäcker auf Goethes Freude und Überraschung, die er empfunden haben muß, als ihm Marianne unverhofft mit ihrem Mann nach Heidelberg nachgereist war. Anläßlich Goethes Zeilen: "Als die Welt im tiefsten Grunde / Lag an Gottes ew'ger Brust" betrachtet Weizsäcker die allgemeine Aussage des Gedichts als Folge der Liebe zwischen Goethe und Marianne: Ich erzähle dir die Geschichte unserer Liebe. Im Persönlichsten, wenn wir es erfahren und nicht dem Rausch erliegen, werden wir ganz unpersönlich. Im Schauder der Gegenwart ist die Einheit der Zeiten da. Es ist wahr, ich erzähle dir unsere Liebe. 51 50 Garten, S. 349. 51 Garten, S. 348 - 349.

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Aus dem individuellen Liebeserlebnis kann das Bewußtsein einer überindividuellen Einheit entspringen. Mit diesem Ausgangspunkt leitet Weizsäcker zu philosophischen und naturwissenschaftlichen Vergleichen über. So könnte man unter der "Einheit der Zeiten" den kosmischen Urzustand vor der Entstehung des Universums verstehen. Die Vorstellung des Alls und der Entstehung der Welt, wie sie in "Wiederfinden" zutage tritt, deutet Weizsäcker demnach neoplatonisch: "Das All ist das Eine - Hen kai Pan, Eins und Alles. Es zerbricht in das Viele, in die Wirklichkeiten. "52 Der in "Wiederfinden" geschilderte kosmische Schöpfungsvorgang erscheint Weizsäcker als ursprüngliche Manifestation von Macht, die erst die eigentliche Wirklichkeit erzeugt. "Erst wenn es Vieles gibt, gibt es Macht" ,53 und wenn Macht ausgeübt wird, dann gibt es auch Leiden und Schmerz. Auch Goethe verbindet den Schöpfungsvorgang in "Wiederfinden" mit Schmerz: "Da erklang ein schmerzlich Ach!" Für Weizsäcker drückt dies das Geburtstrauma des Universums aus: "Schöpfung muß in der Zeit wie eine Explosion erscheinen. "54 In "Wiederfinden" fühlt sich Gott erstmals allein, denn die Elemente fliehen nach dem Schöpfungsvorgang in den Weltraum. Um seiner Einsamkeit Herr zu werden, schöpft Gott die Morgenröte: Stumm war alles, still und öde, Einsam Gott zum erstenmal! Da erschuf er Morgenröte, Die erbarmte sich der Qual; Sie entwickelte dem Trüben Ein erklingend Farbenspiel, Und nun konnte wieder lieben Was erst auseinanderfiel. 55

Im Gedicht resultiert aus der Schöpfung zunächst Chaos. Erst durch die von der Morgenröte hervorgerufene Wechselbeziehung - Liebe - wird dieses Auseinandergefallene wieder geeint, denn sie bildet den Gegenpol zu den entflohenen Elementen. Weizsäk52

53

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Garten, S. 350. Garten, S. 350.

54 55

Garten, S. 351. HA, H, 83.

ker findet daher in dem Wort "lieben" den Kern des Gedichtes: "Deshalb ist das Schöpfungsgedicht ein Liebesgedicht. "56 Das Konzept Liebe überträgt Weizsäcker in die Sprache der Wissenschaft: "Wechselwirkung, wie die Physiker sagen, Sehnsucht, Klang, Farbe ist wesentlich Liebe. "57 Weizsäckers weit ausholende, und in seinen Worten ein wenig "freche Behauptung", Liebeslyrik und Naturwissenschaft seien wesentlich eins, findet so ihre Erklärung und Berechtigung. 58 Aus physikalischer Wechselwirkung, bzw. Liebe, ergibt sich das Schöpfertum des Individuums: "Wir, die Geschöpfe, sind nun schöpferisch durch die Einung der Liebe. "59 In "Wiederfinden" vollziehen die beiden Liebenden daher diese Schöpfung, in der das Göttliche gegenwärtig ist: "Es erübrigt sich ja nicht die Schöpfung aus höchster Instanz, sondern das, was die beiden Liebenden tun, ist der Vollzug dieser Schöpfung. "60 Seine Einsicht unterstreicht Weizsäcker mit Worten aus Goethes weltanschaulichem Gedicht "Prooemion": "So weit das Ohr, so weit das Auge reicht, du findest nur Bekanntes, das ihm gleicht. "61 Daß der in "Wiederfinden" verkörperte platonisch-plotinische Gedanke einer inhärenten göttlichen Anlage im Menschen nicht nur als künstlerischer Ausdruck, sondern auch als Lebenserfahrung möglich sein kann, illustriert Weizsäcker mit einer biographischen Goethenotiz: "Als er [Goethe] 1814 zur ersten Reise nach Frankfurt, nach den langen Kriegsläuften, ausfuhr, war in ihm die Liebe schon gegenwärtig, die ihm dann dort begegnete. "62 Weizsäcker bezieht sich dabei auf Goethes Gedicht "Im Gegenwärtigen Vergangenes" als künstlerische Offenbarung Garten, S. 352. Garten, S. 352. 58 Brief, S. 5. 59 Garten, S. 352. 60 Brief, S. 5. 6! Garten, S. 352. 62 Garten, S. 352. Nach den siegreichen Befreiungskriegen von 1813 fuhr Goethe von Weimar erstmals wieder in seine Heimatstadt Frankfurt, um dort Erbschaftsangelegenheiten der Hinterlassenschaft seiner Mutter zu regeln. Im Reisewagen von Weimar nach Frankfurt entstand Goethes Gedicht "Im Gegenwärtigen Vergangenes". 56

57

7 Partenheimer

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seiner noch bevorstehenden Begegnung mit Marianne von Willemer: 63 Und da duftet's wie vor alters, Da wir noch von Liebe litten Und die Saiten meines Psalters Mit dem Morgenstrahl sich stritten. 64

" Wahlverwandtschaften" Nicht nur im "Garten des Menschlichen" benutzte Weizsäcker Goethes Dichtung inhaltlich und strukturell, um eine Vielzahl scheinbar gegensätzlicher Aspekte aus Naturwissenschaft, Philosophie und Kunst miteinander in Beziehung zu setzen und zu erhellen. Auch in der Folgezeit hat Weizsäcker nicht aufgehört, zu Goethes Bedeutung im Licht der Gegenwart detailliert Stellung zu nehmen. 1983 erschien Weizsäckers Buch "Wahrnehmung der Neuzeit". Es behandelt - wie bereits "Der Garten des Menschlichen" - subjektive und objektive Eindrücke des Verfassers, in denen Goethe wieder einen herausragenden Platz einnimmt. Weizsäcker wählte Goethe als ein Beispiel für das Ziel seines Buches, "die Neuzeit sehen zu lernen, um womöglich besser in ihr handeln zu können".65

In seinem Aufsatz "Natur und Moral im Lichte der Kunst: Eine Notiz zu Goethes Wahlverwandtschaften" untersucht Weizsäcker die Dimension und die innere Beziehung von Natur und Moral, wie sie im dichterischen Kunstwerk von Goethes Roman "Wahlverwandtschaften" in Erscheinung treten. Im Rahmen seiner Auslegung des Romans, der bekanntlich autobiographische Züge Goethes enthält, sucht Weizsäcker zunächst das eigene Wesen Goethes, dem er ungewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeiten beimißt, zu deuten: Garten, S. 352. HA, S. 15. 6S Weizsäcker, earl Friedrich von: Wahrnehmung der Neuzeit. (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1986), S. 7. An gleicher Stelle definiert Weizsäcker die Neuzeit als eine "Geschichtsphase, in der wir noch leben und für die wir mitverantwortlich sind". 63

64

98

Goethe, der ebensowohl innerlich Einsame wie Kontaktfreudige, brachte, zusammenhängend aber nicht identisch mit seiner dichterischen Begabung, ein angeborenes Wissen mit, das anders war als das seiner Umwelt, der konservativen sowohl wie der progressiven, der idealistischen sowohl wie der verständigen . . .. 66

Aus den "Wahlverwandtschaften" liest Weizsäcker dieses spezifisch Goethesche Wissen ab. Zuerst fällt Weizsäcker dabei der naturwissenschaftliche, aus der Chemie entnommene Titel des Romans auf. Er erklärt dessen Angemessenheit aus Goethes Denken, das davon ausgeht, Natur "von innen" zu erfahren: Natur von innen muß, wenn es sie gibt, dem Menschen verwandt, organisch, lebendig sein. Im Gedanken der Metamorphose dachte Goethe die Grundtatsache der Geschichte der Natur, die Evolution, voraus. 67

Das Phänomen der Evolution - das Goethe visionär vor Augen stand - führte ihn dazu, den Menschen als "Kind der Natur" zu verstehen und auch im Umkehrschluß die "Natur als dem Menschen verwandt anzuerkennen. "68 So erklärt sich daher der aus der Chemie entnommene Titel des Werks, das von menschlichen "Verwandtschaften" handelt. Über die Betrachtung des Titels geht Weizsäcker tiefer auf die Fragen über das "rätselhafte Verhältnis zwischen den drei Wirklichkeiten der Natur, der Moral und der Kunst" ein. 69 Die "Wahlverwandtschaften" eignen sich für diesen Themenkreis besonders gut, denn der Roman als Kunstwerk weist auf unsichtbare Mächte der Natur, die das menschenliehe Verhalten lenken. Die folgenden Überlegungen erklären zunächst die Bedeutung der Kunst für Weizsäcker: [D]ie Annahme scheint erlaubt, daß die Kunst etwas von der Wirklichkeit zeigt, was weder in der Sprache der Theorie noch in der Sprache der Moral gesagt werden kann. Daß sie etwas zeigt, was weder faktisch ist, noch was sein soll, sondern was in einem Bereich liegt, dem das, was faktisch ist, und das, was sein soll, erst entstammt. Nicht die tiefere, gar die fundamentale Wahrheit wird damit für die Kunst in 66

67

7'

Wahrnehmung, S. 41. Wahrnehmung, S. 44.

68

69

Wahrnehmung, S. 44. Wahrnehmung, S. 39.

99

Anspruch genommen, denn sie ist eine kulturell entstandene Pointierung neben anderen, aber doch ein durch keine Theorie und Moral ersetzbarer Blick. 70

Kunst betrachtet Weizsäcker demnach als ein gesondertes Produkt menschlicher Wahrnehmung, das kulturelle Strömungen und Krisen seismographisch anzeigt. Neben Theorie und Moral nimmt sie ihre eigene Stellung ein. Die Rolle der Natur wird in den "Wahlverwandtschaften" in dem Verhalten der Romanfiguren deutlich. Der Roman spiegelt die Beziehungen verschiedener, zu "verhängnisvollem Müssen getriebenen Paare": Er erzählt die Geschichte von modernen Menschen, diesseitsverhaftet, zwiespältig, gesellschaftsgebunden, die im Gespräch sich gegenseitig in Frage stellen, die meist das Beste wollen und dennoch gerade dadurch das Unheil heraufbeschwören, die mehr oder weniger ahnungslos in eine Falle hineinlaufen, welche hinter ihnen zuschlägt,7J

Die Figuren des Romans verhalten sich wie Marionetten, von unsichtbaren Naturmächten zu ihren Handlungen getrieben. Dabei scheint im Werk die Hand des Dichters durch, die von Anfang an um den Ausgang der Ereignisse weiß, und dieses Wissen teils ironisch, teils unbeteiligt dem Leser kundgibt. Weizsäcker behält diese Konstellation im Sinn, wenn er die "Wahlverwandtschaften" auslegt: Entscheidend ist, was der Dichter weiß, was der Leser stückweise merkt. Die Natur ist moralisch, sie rückt das vom Menschen Verdorbene tragisch zurecht. Fast könnte man sagen: Die Natur ist die einzige moralisch unbestechliche Figur des Romans,72

Da Weizsäcker in den "Wahlverwandtschaften" die Natur im Gegensatz zu den Menschen als wahre Trägerin der Moral erkennt, betrachtet Weizsäcker z. B. das Ertrinken des Kindesdessen Existenzberechtigung ohnehin durch die mysteriösen Umstände seiner Zeugung in Frage gestellt war - als eine Naturnotwendigkeit. 70

71

100

Wahrnehmung, S. 45. Nachwort, HA, VI, 672 - 673.

72

Wahrnehmung, S. 46.

Natur an sich kann nicht unmittelbar moralisch handeln. Sie hat kein menschliches Bewußtsein. Weizsäcker weist darauf hin, daß sich Goethes Phantasie mit dieser Andeutung im Bereich des Mythos befindet. 73 In der Sendung "Zeugen des Jahrhunderts" erläutert er, warum er allerdings den Mythos als eine menschliche Grundaussage betrachtet: "Was ist die große Funktion des Mythos in der menschlichen Geschichte? Etwas auszusagen über die Grundentscheidungen von Gut und Böse, über Liebe und Haß, oder was immer es sein mag - und da wird uns etwas über uns selbst gesagt. " In Weizsäckers Augen war Goethe für den Mythos empfänglicher als viele andere Menschen der Neuzeit. Der Bereich des Mythos zeigt sich z. B. in "Prämonitionen, in einer inneren Stimme" oder Träumen in Gestalt einer "Bildersprache" , die von der gewöhnlichen Sprache abweicht: Die Grammatik jener Bildersprache kennt den Unterschied der Zeiten und den Unterschied zwischen Indikativ, Konjunktiv und Imperativ nicht. Sie unterscheidet nicht, ob das, was sie zeigt, geschehen ist, geschehen wird, geschehen soll.74

Natürlich erscheint der Roman nicht als unmittelbarer Mythos, sondern als ein bewußt gestaltetes Kunstwerk und Produkt der Theorie. In ihm findet Weizsäcker daher einen verständlichen Konflikt zwischen Kunst und Moral vor. Wenn Weizsäcker über den moralischen Nutzen der "Wahlverwandtschaften" spricht, so scheint ihm deren hochgradig moralischer Gehalt nicht der eigentliche Sinn des Werks zu sein: Die Moral hat einen zu naiven Freiheitsbegriff, der nur durch die selbst moralisch motivierte Unterscheidung dessen, was ist, von dem was sein soll, gerechtfertigt wird. Die Kunst schaut - in ihrer Perspektive - an, was ist, und sie findet das viel paradoxere und viel wahrscheinlichere Phänomen einer moralischen Weltordnung ohne die zu ihrer Einhaltung nötige Freiheit.75

Die Lektüre von Goethes "Wahlverwandtschaften" führt nicht nur dazu, den Begriff Moral neu zu überdenken, sondern sie ver73

74

Vgl. Wahrnehmung, S. 46. Wahrnehmung, S. 46.

75

Wahrnehmung, S. 47.

101

mag sicherlich auch die eigene Wahrnehmungsfähigkeit des Rezipienten zu steigern. Darüber hinaus stellt sie die Rolle der Natur in ein neues Licht.16 Weizsäckers Ausführungen über die "Wahlverwandtschaften" enden mit einer Betrachtung über Ottilies Tod: "Wir werden hier ... auf das Verhältnis Goethes zur ... tiefsten Vermittlung zwischen Natur und Moral geführt, der religiösen. "77 Der Ausklang des Romans deutet eine Synthese der Begriffe Natur und Moral an. Er bildet einen scharfen Kontrast zu seinem naturwissenschaftlich nüchternen Beginn. Diese Wende der Darstellung erklärt Weizsäcker aus Goethes Verfahren, sich - sei es aus Philosophie, oder auch Religion - dasjenige herauszunehmen, was seiner eigenen Denkart entsprach und diese gedanklichen Anstöße nach seinen eigenen Vorstellungen zu ändern. Obwohl Ottilies Ende auf den Tod einer Heiligen hinweist, so ist sie doch keine Heilige in herkömmlichem Sinne: Haftet den christlichen Symbolen des alten Goethe nicht etwas gerade für Christen Peinliches an? Ottilie ist keine Glaubenszeugin und keine Heilige im Sinne moralischer Vollkommenheit. Freilich ist Heiligkeit auch etwas sehr anderes als moralisches Heldentum. Sie war historisch oft der Psychopathie und immer der Gnade nahe.7 8

Durch die christlichen Requisiten und die ans Wunderbare grenzenden Begleitumstände rückt Ottilies Gestalt zuletzt ins Legendenhafte mit einer bislang ungekannten Heiligkeit. Weizsäcker beobachtet, daß Ottilies verklärter Tod in einen Bereich führt, den Goethe nur in Andeutungen enthüllt: Die Worte des alten Goethe weisen stets über sich hinaus in einen Bereich, in dem er schweigt. So schweigsam, so kommentarlos ist schon die Transparenz der Wahlverwandtschaften. Als ein mögliches Symbol streift die Heiligkeit ihr Ende. 79

Der verhüllende Charakter des Romanausgangs entspricht der passiven, "auf Empfangen angewiesene[n] geistige[n] Natur" Goethes, die ihn z. B. bei den Urphänomenen davon abhielt, "eine Hierarchie" zu begründen. Diese Denkweise hat Goethe 76

77

102

Vgl. Wahrnehmung, S. 48. Wahrnehmung, S. 48.

78 79

Wahrnehmung, S. 49. Wahrnehmung, S. 50.

vor solchen "Konstruktionen bewahrt, die nur falsch hätten sein können".80 Weizsäckers Auslegung der "Wahlverwandtschaften" gibt Einblick in Werk und Denkweise Goethes, und sie zeigt zugleich auch Weizsäckers eigene Gedanken zur Kunst, die Strömungen in einer Kultur wahrnehmen kann, die mit Mitteln rationaler Reflektion oftmals nicht zu benennen sind. "Natur und Moral im Lichte der Kunst" veranschaulicht, daß die Trennung der Bereiche Natur und Moral zumindest im Rahmen der Kunst eine Aufhebung erfahren kann. Goethe nimmt in Weizsäckers produktivem Leben eine Schlüsselstellung ein: "Für einen Mann, dem die Versuchung naheliegt, sich mit dem Dichter zu identifizieren", wirkte Goethe seinerseits als maßgeblicher Faktor im Leben earl Friedrich von Weizsäkkers mit, der es sich und anderen zur Aufgabe stellt, Goethes Wahrheit "darzuleben".81 In Weizsäckers umfassenden Goethebetrachtungen kulminieren die bisherigen Stellungnahmen hervorragender Naturwissenschaftler wie Hermann von Heimholtz, Ernst Haeckel und Werner Heisenberg zu Goethe. Die Weite seines Blicks ermöglicht es Weizsäcker, das moderne Goetheverständnis mit dem Auge des Atomphysikers, Philosophen und kompetenten Literaturkritikers auf eine bisher unerreichte Ebene zu verlagern und damit Goethes Aktualität auch über das 20. Jahrhundert hinaus zu gewährleisten.

80

8!

Wahrnehmung, S. 50. Goethes Stellung, S. 23.

103

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