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German Pages 330 [331] Year 2015
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von
Albrecht Beutel
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Dorothea-Henriette Noordveld-Lorenz
Gewissen und Kirche Zum Protestantismusverständnis von Daniel Schenkel
Mohr Siebeck
Dorothea Noordveld-Lorenz, geboren 1979; Studium der Ev. Theologie in Heidelberg, University of St Andrews, King’s College London; 2006–12 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HU Berlin am Lehrstuhl für Systematische Theologie; seit 2012 Vikarin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. e-ISBN PDF 978-3-16-153427-0 ISBN 978-3-16-153426-3 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen gesetzt und auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Die Diskussion um das Profil des Protestantismus und der protestantischen Kirche prägt den Protestantismus und steht – mal mehr, mal weniger – im Fokus der theologischen und zum Teil auch öffentlichen Debatten. Im Zentrum dieser Debatten steht dabei auch immer wieder die Frage nach dem Verhältnis des Protestantismus zu Gesellschaft, Kultur und Politik. Die Diskussion ist jedoch keineswegs neu. Diese Studie widmet sich einem der in diesem Diskurs engagiertesten Protestanten des 19. Jahrhunderts, der allerdings im Verlaufe der Geschichte in Vergessenheit geraten ist: Daniel Schenkel. Zeit seines Lebens hat er unermüdlich um das Wesen des Protestantismus und die protestantische Kirche in einer modernen Gesellschaft und Kultur gerungen und sich dabei viele Feinde in allen theologischen und kirchlichen Lagern gemacht. Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2012/2013 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. An dem Prozess und der Entstehung der Arbeit und des Buches waren zahlreiche Personen beteiligt, die mich begleitet, gefördert und unterstützt haben. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Notger Slenczka. Er hat mich mit dem ›vergessenen Theologen Daniel Schenkel‹ bekannt gemacht und mit anregenden Diskussionen zur Vertiefung dieser Bekanntschaft sehr beigetragen. Zu danken habe ich ihm zudem nicht nur für die Erstellung des Erstgutachtens, sondern auch für viel Freiheit und Unterstützung sowohl bei der Arbeit an meiner Promotion als auch bei meiner Arbeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl. Herrn Prof. Dr. Wilhelm Gräb danke ich herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens und weiterführende Anregungen im Doktoranden-Kolloquium. Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel gilt mein Dank für die freundliche Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Beiträge zur historischen Theologie«, sowie dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Herrn Dr. Henning Ziebritzki, Frau Dominika Zgolik sowie Frau Katharina Stichling für die geduldige und hervorragende Betreuung der Publikation. Die VG Wort hat die Veröffentlichung mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt. Ohne die Unterstützung meiner Familie und Freunde wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen: Dr. Lars Charbonnier, Dr. Katja Guske, Dr. Lena-
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Vorwort
Katharina Roy sowie Matthias Mader haben mich und die Entstehung der Arbeit sowohl kritisch-konstruktiv als auch freundschaftlich-kaffeetrinkend begleitet. Ann-Sophie Schäfer und Sabrina Hoppe haben die Arbeit sorgfältig, kritisch und fröhlich korrekturgelesen. Meine Geschwister Dr. Johannes-Tobias Lorenz, Justus-Sebastian Lorenz, Cäcilie-Leonore Lorenz und Ricarda-Charlotte Lorenz haben alle auf unterschiedlichste Weise zum Gelingen meines Promotionsprojektes beigetragen: Dafür sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt. Vom ersten Tag an hat mich bei der Entstehung der Arbeit mein Mann Dr. Diederik Noordveld begleitet, motiviert und ermutigt. Ohne seine geduldige und vorbehaltlose Unterstützung wäre diese Arbeit so nicht entstanden und zu einem Abschluss gekommen. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern Ellen und Gernot Lorenz: Sie haben mich auf meinem Lebensweg stets gefördert und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden: Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Hannover, September 2014
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2. Thema und Auf bau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 II. Daniel Schenkel. Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Ein Student, »der für Hundert gilt« (1813 – 1841) . . . . . . . . . 14 1.1. Kindheit und Schulzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2. Studienzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3. Das objektive und subjektive Moment. Schenkels Antrittsvorlesung in Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4. Der Anti-Katholizismus. Schenkels Auseinandersetzung mit Friedrich Emanuel von Hurter . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Pastor in Schaff hausen (1842 – 1851) . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1. Die Stärkung der Gemeinde. Schenkel als Pastor . . . . . . 23 2.2. Das Wesen des Protestantismus. Schenkels Auseinandersetzung mit Georg Gottfried Gervinus . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3. Der wissenschaftliche Durchbruch. Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen des Reformationszeitalters dargestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Die erste Heidelberger Zeit (1851 – 1857) . . . . . . . . . . . . 33 3.1. Positive Grundlagen des Protestantismus. Die Auseinandersetzung mit dem Bremer Pastor Rudolph Dulon . . . . . . . 36 3.2. Wahre Freiheit als Grundlage des christlichen Staates. Gespräche über Protestantismus und Katholicismus . . . . . . . 38 3.3. Die Unterscheidung von Gott und Welt. Die Auseinandersetzung mit Kuno Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.4. Der beginnende Umbruch. Der Unionsberuf des Protestantismus 49 4. Auf der Höhe der Macht (1858 – 1863) . . . . . . . . . . . . . . 53 4.1. Die Gemeinde und die Union. Der badische Agendenstreit . 53 4.2. Der liberale Umbruch. Der Konkordatsstreit . . . . . . . . 61
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4.3. Die neue Kirchenverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4.4. Der Protestantenverein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.5. Der Protestantismus als Gewissensreligion. Die Christliche Dogmatik und Das Wesen des Protestantismus . . . . . . . . . 74 5. Der Schenkel-Streit (1864 – 1867) . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.1. Das Charakterbild Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 5.2. Die Proteste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6. Die letzten Jahre (1868 – 1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 7. Fazit: Schenkels Leben und Werk als Spiegelbild der Theologieund Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 91 III. Das Wesen des Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Die Frage nach dem Wesen des Protestantismus . . . . . . . . . 96 1.1. Zum Hintergrund der Fragestellung . . . . . . . . . . . . 97 1.2. Historische und hermeneutische Verortung von Schenkels Frage nach dem Wesen des Protestantismus . . . . . . . . . 102 2. Das Prinzip des Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.1. Die Anfänge der Diskussion: Franz Volkmar Reinhard und Johann Philipp Gabler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2.2. Die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus: Wilhelm Martin Leberecht de Wette und August Detlev Christian Twesten . . . . . . . . . . . . . . 111 2.3. Das Verhältnis von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus: Isaak August Dorner . . . . . . . . . . 115 2.4. Subjektivität als Prinzip des Protestantismus: Ferdinand Christian Baur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.5. Das theanthropologische Prinzip des Protestantismus: Daniel Schenkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2.5.1. Das Princip des Protestantismus (1852) . . . . . . . . . . 126 2.5.2. Die weitere Differenzierung des protestantischen Prinzips . . 131 3. Der Protest gegen den Katholizismus: Der Protestantismus als Gewissenstat . . . . . . . . . . . . . . 134 4. Der Protestantismus als Gewissensreligion . . . . . . . . . . . . 142 4.1. Religionsorgan und Religionsbegriff . . . . . . . . . . . . 145 4.1.1. Anthropologische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . 145 4.1.2. Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.1.2.1. Religion als Ausdruck der Vernunft und des Willens 149 4.1.2.2. Religion als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit . 152 4.1.3. Das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
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4.1.3.1. Das Wesen des Gewissens . . . . . . . . . . . . 156 4.1.3.2. Gewissen und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . 164 4.2. Das Wesen des Protestantismus: Die Wiederherstellung der wahren Katholizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.2.1. Wahre Katholizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.2.2. Offenbarung und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.2.3. Die Wiederherstellung der echten Katholizität durch den Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5. Fazit: Der Protestantismus als Gewissensreligion und Religion der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Der ideengeschichtliche Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . 187 1.1. Die kirchliche Ausgangssituation zu Beginn des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1.2. Friedrich Schleiermachers Neubegründung des Kirchenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1.3. Kirche als Institution und Anstalt. Das Kirchenverständnis Friedrich Julius Stahls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum von Schenkels Kirchenverständnis . . 210 2.1. Das Wesen der wahren Kirche . . . . . . . . . . . . . . . 211 2.2. Die Eigenschaften der unsichtbaren Kirche . . . . . . . . . 214 2.3. Die Fehlentwicklung im Kirchenverständnis und die Wiederentdeckung der wahren Kirche durch den Protestantismus . 217 2.4. Die sichtbare Kirche und ihr Verhältnis zur unsichtbaren Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche . . . . . . . . . . . . 232 3.1. Die protestantische Kirche als Unionskirche . . . . . . . . . 233 3.1.1. Die kirchliche Union in Preußen . . . . . . . . . . . . . 234 3.1.2. Schenkels Begründung der kirchlichen Union . . . . . . . . 239 3.1.3. Die Durchführung der Union . . . . . . . . . . . . . . 243 3.1.4 Die Bedeutung der Union für eine Vereinigung der deutschen Kleinstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3.2. Die Verfassung der sichtbaren Kirche . . . . . . . . . . . . 252 3.2.1. Grundsätze der protestantischen Kirchenverfassung . . . . . 252 3.2.2. Die Diskussion um die protestantische Kirchenverfassung und Schenkels Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3.2.3. Das landesherrliche Kirchenregiment . . . . . . . . . . . 263
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4. Das Verhältnis von Staat und Kirche – Protestantismus und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 5. Fazit: Schenkels (Für-) Sorge um die Kirche . . . . . . . . . . 271 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Schenkels Leben und Werk als Spiegelbild der Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . 276 2. Religion der Freiheit. Der Protestantismus als Gewissensreligion 280 3. Die protestantische Gemeindekirche als Verwirklichung des Wesens des Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1. Daniel Schenkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1.1. Monographien und selbständig erschienene Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1.2. Herausgeberschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 1.3. Zeitschriftenartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1.4. Lexikonartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 1.5. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 2. Weitere ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Literatur bis 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4. Literatur seit 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
I. Einleitung Daniel Schenkel gehört zu den vergessenen Theologen des 19. Jahrhunderts. Er ist so vergessen, dass er nicht einmal in dem Sammelband Vergessene Theologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts1 Erwähnung findet. Angesichts der Tatsache, dass Schenkel Mitte des 19. Jahrhunderts zu den einflussreichsten, streitbarsten und produktivsten Theologen gehörte – sein Werk umfasst neben unzähligen Aufsätzen über 40 Monographien, darunter zwei vollständige Dogmatiken, seine Herausgebertätigkeit unter anderem eine Zeitschrift und ein Bibellexikon –, erscheint diese Vergessenheit doch zumindest verwunderlich. Zweifelsohne liegt Schenkels besonderes Verdienst auf dem Gebiet der Kirchenpolitik: Er war der maßgebliche Kopf der liberalen Opposition in Baden, die Ende der 1850er und zu Beginn der 1860er Jahre sowohl auf politischer als auch kirchlicher Ebene die Vorherrschaft der restaurativen Partei beendete und den liberalen Umschwung einleitete. Als einer der Mitbegründer des Protestantenvereins versuchte er diese Entwicklung dann in allen deutschen Staaten anzuregen. Aufgrund dieses kirchenpolitischen Engagements und Erfolgs stellte auch Wilhelm Hönig in seinem Nachruf auf Schenkel fest: »Es wird für einen Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts ganz unmöglich sein, den Namen Schenkels zu übergehen; sein Name wird unvergänglich mit einer bestimmten bedeutsamen Strömung im kirchlichen Leben seit der Hälfte dieses Jahrhunderts zusammenhängen.« 2
Neben seinen kirchenpolitischen Verdiensten ist Schenkel aber auch in theologischer Hinsicht von Interesse. Denn in kaum einem Werk eines Theologen dieser Zeit spiegeln sich die theologischen Diskussionen sowie die kirchen- und theologiepolitischen Entwicklungen so nachdrücklich und unmittelbar wider, wie bei Schenkel: »Wer das abgeschlossene Leben überschaut, der wird sich sagen müssen, daß es ein Leben ist, in welchem sich wie in keinem einzigen andern, die Kirchengeschichte der letzten Jahrzehnte widerspiegelt, aber nicht wie in einem ruhigen Zuschauer, sondern
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Vgl. E. Herms / J. Ringleben (Hg.), Vergessene Theologen (1984). W. Hönig, Schenkel (1885), 67.
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I. Einleitung
wie in einer lebendig wirkenden Kraft, die mitten im Ganzen steht als eines der mächtigsten Räder im ganzen Triebwerk.« 3
Schenkel lässt sich nicht einfach einer theologischen Richtung oder Partei zuordnen: So kann er zu Beginn seines theologischen Wirkens der restaurativen Bewegung, später der Vermittlungstheologie und schließlich auch, und vor allem mit Blick auf seine kirchenpolitische Haltung, der liberalen Strömung zugerechnet werden. Schenkel brachte sich intensiv in die theologischen und kirchlichen Diskussionen seiner Zeit ein – ein Großteil seiner Schriften sind Streit- und Gelegenheitsschriften zu aktuellen Fragen, und auch seine größeren Monographien waren stets von einem starken Gegenwartsinteresse geleitet. Dabei ging Schenkel über die unmittelbaren theologischen und kirchlichen Fragen hinaus, indem er sie in einem größeren nationalen und politischen Kontext verortete und für diesen auch fruchtbar zu machen suchte. Sein Werk führt damit einerseits in eine Perspektive auf die verschiedenen Herausforderungen und Fragestellungen dieser Zeit ein und zeigt andererseits den Umgang mit ihnen durch die Profilierung des Protestantismus – der das eigentliche Zentrum seiner theologischen Arbeit war – als unverzichtbare und die neuzeitliche Gesellschaft fundierende Größe auf. Damit stellt sein Werk einen aufschlussreichen Beitrag für das Verständnis der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts dar. Die Auseinandersetzung mit Schenkels Werk führt mitten hinein in die wesentlichen Debatten der Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. Dieses Jahrhundert war wie kaum ein anderes von einer durchgreifenden Umbruchs- und Auf bruchsstimmung gekennzeichnet. Auf allen Gebieten des Lebens, auf der politischen, sozialen, gesellschaftlichen und religiösen Ebene wurden jahrhundertealte Traditionen und Institutionen erschüttert. Kirche und Theologie als primär traditionelle Instanzen wurden von diesen Entwicklungen ganz besonders erfasst, prägten jedoch gleichzeitig die nationalen, politischen und gesellschaftlichen Diskurse entscheidend mit.4 Eine der schwierigsten Herausforderungen stellte für den Protestantismus in dieser ohnehin diffusen Gemengelage der Umgang mit dem Erbe der Auf klärung dar, dem sich der Rationalismus in besonderem Maße verpflichtet fühlte. Denn nicht nur die institutionellen Einrichtungen standen auf dem Prüfstand, vielmehr wurden sowohl die normativen Grundlagen wie Schrift und Bekenntnis als auch das traditionelle Verständnis von Religion im Allgemeinen infrage gestellt und der Kritik unterzogen. Diese Entwicklung führte seit Ende des 18. Jahrhunderts zu einem durchgreifenden Bewusstseinswandel: »Es ist eine Periode, wie der berühmte Kant sagt, wo die Kritik sich alles unterwirft – wo alles gesichtet wird wie der Weizen, so man nicht mehr auf Glauben annimmt, 3
Ebd. Vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 403 ff.
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sondern dem Grunde oder Urgrunde aller subsistierenden Dinge nachforscht; wo Meinungen, die Jahrhunderte lang als unbezweifelbare Grundsätze galten, nicht länger ungeprüft bleiben; wo die graueste Possessionen und uralte Observanzen angefochten und umgeworfen werden.« 5
Aufgrund des Anspruchs, allein auf der Schrift, vor der die kritische Forschung nicht Halt machte, zu gründen und in Ermangelung eines starken institutionellen Zentrums wurde der Protestantismus von diesen Umbrüchen besonders stark getroffen.6 Um die Jahrhundertwende waren von der kritischen Grundstimmung weite Teile der gesellschaftlichen Elite erfasst worden, was zunächst zu einer wachsenden Skepsis wie auch einem Desinteresse gegenüber Religion und kirchlichem Leben führte.7 Berühmtestes Zeugnis dieser Situation sind die 1799 erschienenen Reden über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern von Friedrich Schleiermacher. Sie sind gleichzeitig auch Ausdruck einer der Auf klärung gegenläufigen Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Idealismus und Romantik8 führten zu einem erneuerten Interesse an Religion und Christentum. Während diese beiden Geistesbewegungen jedoch nicht beim einfachen Kirchenvolk wirksam wurden, wurde dieses in weiten Teilen von der Erweckungsbewegung erfasst, die ihre Wurzeln im Pietismus hat und »zu einer erstaunlichen Neubelebung der Frömmigkeit und zu neuen Formen kirchlichen Lebens«9 führte. Diese gegenläufigen Bewegungen – Auf klärung und Rationalismus, Idealismus und Romantik und schließlich die Erweckungsbewegung – prägten die Theologie, aber auch die politischen und gesellschaftlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts maßgeblich. In dieser Situation entfaltete der Protestantismus eine ungemeine Produktivität und versuchte, mit den unterschiedlichen Herausforderungen umzugehen: »Freigesetzt von der Macht der Tradition durch die auf klärerische Unterscheidung von Theologie und Religion, in vielfacher Weise angeregt durch Romantik, Idealismus und Erweckung, hat die Theologie im 19. Jahrhundert einen Reichtum von Entwürfen und Systemen hervorgebracht wie nie zuvor.«10 5
Zitiert in: K. Nowak, Geschichte des Christentums (1995), 15. Vgl. dazu III.1.1. 7 Die Entfremdung von der Kirche wurde zudem durch die enge Verzahnung von Kirche und Staat, die von vielen mit Argwohn betrachtet wurde, gefördert. 8 Vgl. K. Nowak, Romantik (2000); E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 4, 407 – 4 46. 9 J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 188. Die Erweckungsbewegung ist eine sehr vielfältige, vielschichtige und komplexe Bewegung, die ihre gemeinsame Mitte lediglich in der Opposition gegen den Rationalismus hat. Emanuel Hirsch bietet eine sehr gute Darstellung der europäischen Entwicklung der Erweckungsbewegung, vgl. E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 3, 244 – 273; vgl. außerdem L. Grane, Kirche im 19. Jahrhundert (1987), 72 – 85; J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 188 – 198. 10 J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 211. 6
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I. Einleitung
Dies führte zu einer enormen Pluralisierung des Protestantismus, die sich in der für das 19. Jahrhundert charakteristischen Entstehung der theologischen und kirchlichen Parteien sichtbar niederschlug.11 Diese Parteien prägten die Debatten, die vielfach geradezu zu Lagerkämpfen ausarteten, wobei sich mit den theologischen und kirchlichen Programmen immer mehr auch politische Deutungen und Optionen verbanden, was die Konflikte weiter verschärfte. Idealtypisch unterscheidet man im Protestantismus des 19. Jahrhunderts drei Lager, die freilich in sich wiederum von zahlreichen Schulen und Einzelpersonen geprägt wurden und somit in sich differenzierte und komplexe Gebilde ergaben.12 Der Protestantismus zerfiel zunächst in »zwei religiös wie politisch tiefgreifend verschiedene Milieus (…): einen auf klärungskritischen, antirevolutionär-konservativen Protestantismus einerseits, der für die Stabilität der Kirchenlehre und die Restitution überkommener kirchlicher Sitte kämpft, und einen liberalen Protestantismus andererseits, der vorrangig an Moral und Pädagogik orientiert ist.«13
Darüber hinaus entstand dann eine zwischen diesen beiden Extremen um Vermittlung bemühte Position, die sich im Wesentlichen dem Erbe Schleiermachers verpflichtet fühlte.14 Die Parteien beanspruchten dabei jeweils für sich, das allein rechtmäßige Erbe der Reformation weiterzuführen und den genuinen Protestantismus zu bewahren und zu vertreten. Damit ist das zentrale theologische Thema des 19. Jahrhunderts angesprochen: Es ging um nichts weniger als die Identität und rechtmäßige Deutung des Protestantismus – die Frage nach dem Wesen des Protestantismus wurde zum Mittelpunkt der theologischen Auseinandersetzungen. Während die konfessionellen Grenzen auffälliger Weise zunächst hinter die neuen Parteibildungen zurücktraten, wurde durch die neuerliche Reflexion auf den eigenen Ursprung und die eigene Geschichte das konfessionelle Bewusstsein wieder belebt, was zunächst in einer wachsenden Polarisierung von Protestantismus und Katholizismus zum Ausdruck kam und vor allem seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auch wieder die konfessionellen Spannungen innerhalb des Protestantismus verschärfte. 11 Zu den Parteienbildungen im Protestantismus vgl. F. W. Graf, Spaltung des Protestantismus (1993). 12 Schenkel setzt in seinen polemischen Auseinandersetzungen die Existenz dieser verschiedenen Lager selbst voraus und verortet sich und seine Gegner mithilfe dieser Kategorisierungen auf der theologischen Landkarte seiner Zeit. Aus diesem Grund werden im Folgenden die üblich gewordenen Parteienbezeichnugen aufgenommen, allerdings in dem Bewusstsein, dass diese Label eine erhebliche Vereinfachung gegenüber der komplexen und differenzerten Realitiät der verschiedenen theologischen Parteien darstellen und sich immer nur auf bestimmte charakteristische Grundzüge beziehen. 13 AaO., 158. 14 Zur Vermittlungstheologie vgl. R. Holte, Vermittlungstheologie (1965). Das zentrale publizistische Organ der Vermittlungstheologie waren die Theologische Studien und Kritiken (ThStKr), die sich im Sinne Schleiermachers der Vermittlung von Supranaturalismus und Rationalismus verpflichtet fühlten. Zum Programm der ThStKr vgl. Kap. II, Anm. 24.
I. Einleitung
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Diese Frage nach dem Wesen und der Identität des Protestantismus ist auch das zentrale Thema von Schenkels theologischem Werk: »Dem Protestantismus, seinem Wesen, seiner Geschichte, seiner praktischen Ausgestaltung im Leben hat er seine ganze Lebenskraft gewidmet. Er hat ihn wissenschaftlich studiert und ergründet, er hat ihn verteidigt wider die feindlichen Gegensätze, er hat für seine Verwirklichung im kirchlichen Leben unabläßlich gearbeitet. Protestantismus – war die Losung seines Lebens.«15
Geleitet wurde Schenkel wie die meisten seiner Zeitgenossen von einem ausgeprägten Krisenbewusstsein, das sich in Schenkels Schriften eindrücklich widerspiegelt. In einer Zeit, in der aufgrund der starken inneren Pluralisierung und Polarisierung die Identität des Protestantismus unklar geworden war, stand Schenkel zufolge das wahre Wesen und damit die Existenz des Protestantismus überhaupt auf dem Spiel. Er lebte in dem Bewusstsein, an einer Fortsetzung der Reformation Anteil zu haben, in der es darum ging, das Werk der Reformation entweder zu vollenden oder aufzugeben. Charakteristisch für seine Protestantismusdeutung ist deswegen auch die klare Abgrenzung gegenüber dem römischen (ultramontanen) Katholizismus, und das hieß für Schenkel insbesondere auch gegenüber dem lutherischen Konfessionalismus, den er als gleichsam katholische Bewegung innerhalb des Protestantismus wahrnahm. Somit vollzog sich die Entscheidung über die Zukunft und Vollendung des Protestantismus seiner Ansicht nach auch nicht so sehr zwischen den herkömmlichen Konfessionsgrenzen von Katholizismus und Protestantismus, sondern vielmehr wurde dieser alte Gegensatz im Protestantismus selbst ausgetragen und kam hier zur Entscheidung. Ziel des ganzen Wirkens Schenkels war in dieser Situation die Auf klärung über das wahre Wesen des Protestantismus sowie die Stärkung des protestantischen Bewusstseins in den Gemeinden. Er war davon überzeugt, dass sich nur durch eine Stärkung der Gemeinde das Werk der Reformation vollenden und das Wesen des Protestantismus verwirklichen lassen. Charakteristisch für seine Protestantismustheorie ist dabei seine Deutung des unauflöslichen Zusammenhangs von Christentum bzw. Protestantismus und Kultur. So stellte Schenkel seine Beschäftigung mit dem Protestantismus stets in einen größeren, über den theologischen und kirchlichen Zusammenhang hinausgehenden Kontext: Indem er nach der gesellschaftlichen und politischen Funktion des Protestantismus fragte und dabei den Protestantismus als die religiöse und sittliche Grundlage aller politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen überhaupt profilierte, kam der Protestantismusfrage in seiner Theologie immer gesamtgesellschaftliche Relevanz zu – und umgekehrt schlugen sich die außertheologischen Entwicklungen in Schenkels Theologie nieder, indem er sie aufnahm und vor dem Hintergrund der kirchlichen und theologischen Fragen behandelte. 15
W. Hönig, Schenkel (1885), 62.
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I. Einleitung
Nach seinem eigenen Selbstverständnis ist Schenkels Deutung des Protestantismus als vermittelnde Position zu verstehen, gleichwohl im Laufe der verschiedenen Auseinandersetzungen und Entwicklungen insbesondere in seiner kirchenpolitischen Position Motive der liberalen Strömung in den Vordergrund rückten. Im Anschluss an Schleiermacher und in klarer Abgrenzung gegen die kirchliche Orthodoxie entwarf Schenkel eine Protestantismustheorie, die immer stärker ihren Ausgang vom Subjekt nahm und dieses mit Gott als objektiv gegebener Größe so vermittelte, dass die wahre Freiheit des Subjekts erst in seiner Bindung an Gott zur Verwirklichung kommt und der Protestantismus somit zum Fundament von Freiheit überhaupt wird. Als zentrales Interpretament seiner Protestantismusdeutung fungierte dabei der Gewissensbegriff, den Schenkel seit Mitte der 1850er Jahre immer stärker in einer für ihn ganz eigentümlichen positiven Bestimmung verstand und fruchtbar machte.
1. Zum Forschungsstand Die Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts sind sowohl in Übersichtswerken als auch in Einzelstudien Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden.16 Gleichwohl fällt die Erhebung des Forschungsstands zu Schenkels Werk vergleichsweise kurz aus: Bisher liegen keine eigenständigen Arbeiten zu ihm vor und Schenkel wird in der Forschungsdiskussion, wenn überhaupt, zumeist nur am Rande erwähnt. Auf dieser nur sehr dünnen Literaturgrundlage lassen sich vor allem drei Zusammenhänge identifizieren, in denen Schenkel thematisiert wird: ein biographischer, ein kirchenpolitischer und ein systematisch-theologischer Zusammenhang. Für die Biographie Schenkels sind insbesondere einige Lexikonartikel und Nachrufe, die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind,17 sowie Notizen in Adolf Hausraths Biographie Richard Rothe und seine Freunde18 aufschlussreich. Diese sind auch deshalb besonders interessant, weil sie von Autoren stammen, die mit Schenkel persönlich bekannt waren. Neueren Datums gibt es nur zwei Veröffentlichungen, die sich mit Schenkels Biographie auseinandersetzen: ein Aufsatz von Karl Schib19, der sich insbesondere auf Schenkels Leben und Wirken in der Schweiz (bis etwa 1850) bezieht sowie ein 2010 erschienener Artikel von Reinhardt Ehmann 20, in dem er eine knappe 16 Vgl. die ausführlichen Forschungsberichte J. Mehlhausen, Kirchengeschichte (1997); J. Dierken, Theologiegeschichte (2001). 17 Vgl. H. Holtzmann, Zum Andenken (1885); ders., Art. »Schenkel« (1890); W. Hönig, Schenkel (1885); ders., Art. »Schenkel« (1891); W. Gass, Art. »Schenkel« (1906). 18 Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1902/06), 2 Bde. Für Schenkel ist insbesondere Band 2 (1906) interessant. 19 Vgl. K. Schib, Schenkel (1956). 20 Vgl. R. Ehmann, Schenkel (2010).
1. Zum Forschungsstand
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Übersicht über das Leben und theologische Werk Schenkels bietet und sich dann vor allem auf den sogenannten Schenkel-Streit fokussiert, der Mitte der 1860er Jahre im Anschluss an eine Darstellung Schenkels der inneren Entwicklung Jesu ausbrach, und dessen Verlauf Ehmann ausführlich darstellt. Damit legt Ehmann einen kirchenpolitischen Schwerpunkt in seiner biographischen Darstellung. Die kirchenpolitische Wahrnehmung dominiert auch einen Großteil der weiteren Literatur, in der Schenkel behandelt wird. Besonders im Fokus steht er dabei als Kopf der liberalen Opposition in Baden und Mitbegründer des Protestantenvereins sowie als Hauptfigur im Kontext des Schenkel-Streits. Zum Protestantenverein ist insbesondere die ausführliche Studie von Claudia Lepp Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne 21 zu nennen. Sie untersucht darin Entstehung, Programm und Wirkung des Vereins und nimmt Schenkel in diesem Kontext in seiner Funktion und Bedeutung wahr. Auch den Schenkel-Streit analysiert sie im Blick auf seine Bedeutung und Folgen für die Bewegung des Protestantenvereins.22 Den Schenkel-Streit thematisiert auch Stefan Wolf in seiner Dissertation Konservativismus im liberalen Baden 23, wobei er vor allem auf die Reaktionen und Motive der kirchlichen Orthodoxie eingeht. Mit Schenkels Beitrag zur preußischen Verfassungsdiskussion befasst sich Gerhard Besier in der Monographie Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära 24, in der er Schenkels Entwurf einer Kirchenverfassung anhand dessen Vortrag Die gegenwärtige Lage der protestantischen Kirche in Preußen und Deutschland25 darstellt, ohne diesen allerdings im Hinblick auf seinen theologischen Gehalt wahrzunehmen und einzuordnen. In systematisch-theologischer Perspektive wird Schenkel bisher trotz des enormen Umfangs seiner (systematisch-)theologischen Schriften kaum wahrgenommen.26 Eine Ausnahme stellen zwei Aufsätze von Notger Slenczka dar, in denen
21
Vgl. C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996). Vgl. aaO., 231 – 244. 23 Vgl. S. Wolf, Konservativismus (1990), 26 – 46. 24 Vgl. G. Besier, Preußische Kirchenpolitik (1980), 85 – 89. 25 Vgl. D. Schenkel, Gegenwärtige Lage (1867). 26 In den theologiegeschichtlichen Überblicksdarstellungen stellt Jan Rohls Protestantische Theologie der Neuzeit eine Ausnahme dar. Er geht gleich in mehreren Zusammenhängen kurz auf Schenkel ein. So nimmt er ihn als Gründer des Protestantenvereins, vgl. J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 675, sowie als Vertreter der Vermittlungstheologie wahr, vgl. aaO., 852 f., geht aber auch auf Schenkels Dogmatik ein und wertet sie als Beispiel für ein primär ethisch verstandenes Christentum, vgl. aaO., 664 f. Weder bei E. Hirsch, Geschichte (1968) noch bei W. Pannenberg, Problemgeschichte (1997) wird Schenkel erwähnt; bei F. Mildenberger, Geschichte (1981) wird Schenkel lediglich im Rahmen eines Überblicks über die zentralen theologischen Zeitschriften und Theologen des 19. Jahrhunderts genannt, vgl. aaO., 247 f. 22
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I. Einleitung
er Schenkels Reformations- und Protestantismusdeutung 27 und deren Implikationen für die Ekklesiologie28 untersucht. Insbesondere in dem Aufsatz Neuzeitliche Freiheit oder ursprüngliche Bindung? erörtert Slenczka ausgehend von Schenkels Reformationsdeutung dessen auf dem Gewissen basierende Protestantismusverständnis und geht dabei auch auf den eigentümlichen Gewissensbegriff Schenkels ein. Schließlich ist noch die philosophische Arbeit Protestantische Neuzeitkonstruktion. Zur Geschichte des Subjektivitätsbegriffs29 von Peggy Cosmann zu nennen, in der sie kurz auf Schenkels Protestantismusdeutung eingeht. Sie bezieht sich dabei primär auf die zweite Auflage von Schenkels Das Wesen des Protestantismus30. Cosmann zeigt darin als Zentrum von Schenkels Protestantismusdeutung die Bindung der freien Subjektivität an die Offenbarung Gottes auf und hebt die Bedeutung des Gewissensbegriffs im Hinblick auf Schenkels Protestantismusverständnis hervor, wobei auch der hier implizierte Freiheitsbegriff thematisiert wird. Da sie jedoch nicht auf die eigentümliche Konzeption von Schenkels Gewissensbegriff eingeht, die er in seiner Dogmatik 31 ausführlich begründet hat, kann sie zwar die Struktur seiner Deutung offenlegen, erfasst jedoch letztlich nicht die Pointe von Schenkels Protestantismusverständnis. Insgesamt umfasst die systematisch-theologische Sekundärliteratur zu Schenkel damit ca. 20 Seiten. Auch wenn in der genannten Literatur die zentralen Themen und Thesen von Schenkels Theologie untersucht werden, kann man angesichts seines umfangreichen Werkes nicht behaupten, dass Schenkels Theologie bisher auch nur annähernd erschöpfend behandelt wurde. Weder sind die Entwicklung seiner Theologie, noch seine Reformations- und Protestantismusdeutung, die ihre Verwirklichung in der Ekklesiologie finden, in ihrer Breite wie auch im Hinblick auf die außertheologischen und außerkirchlichen Bezüge vor dem Hintergrund von Schenkels Deutung der theologischen, kirchenpolitischen sowie politischen Entwicklungen seiner Zeit erforscht worden.
2. Thema und Auf bau der Arbeit Worin besteht das Wesen des Protestantismus? Was ist sein ursprünglicher Grund und was sein Ziel? Wie verwirklicht sich das Wesen des Protestantismus in der protestantischen Kirche? In welcher Kirchenverfassung findet es seinen entsprechenden Ausdruck? Welche Bedeutung hat der Protestantismus im Hinblick auf die nationalen wie politischen Problem- und Fragestellungen? Welche 27
Vgl. N. Slenczka, Neuzeitliche Freiheit (2005), 210 ff. 227 f. Vgl. N. Slenczka, Diskussion um das kirchliche Amt (2001), 118 – 126. 29 Vgl. P. Cosmann, Protestantische Neuzeitkonstruktion (1999), 164 – 169. 30 Vgl. D. Schenkel, Wesen des Protestantismus (1862). 31 Vgl. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), 2 Bde. 28
2. Thema und Aufbau der Arbeit
9
Relevanz kommt ihm in der neuzeitlichen Gesellschaft zu? – Dies sind die zentralen Fragen, die Schenkels Theologie prägen. Schenkels Werk soll in dieser Arbeit im Ausgang von den zwei großen Fragen nach dem Wesen des Protestantismus sowie der Kirche erschlossen werden. Anhand dieser beiden Themenkomplexe lassen sich nicht nur das Anliegen, die Struktur sowie die inhaltlichen Grundzüge seiner Theologie gut erschließen, sondern darüber hinaus werden von hier aus Schenkels Wahrnehmung und Deutung der sich im 19. Jahrhundert stellenden Fragen und Herausforderungen deutlich. Es wird sichtbar, wie Schenkel versucht, im Kontext und Ausgang dieser Fragen eine gegenwartsrelevante Protestantismusdeutung zu bieten. Schenkel will den Protestantismus so profilieren, dass er in einer sich pluralisierenden Gesellschaft zum wesentlichen Fundament eines sich freiheitlich entwickelnden Staates und Gemeinwesens wird. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass allein der Protestantismus eine einsichtige und gesellschaftspolitisch relevante Deutung für die moderne Kultur darstellt. In der Arbeit wird also keine eigene Zeitdiagnose des 19. Jahrhundert erarbeitet, sondern es geht um die Selbstwahrnehmung dieser Zeit anhand des Werkes eines in außergewöhnlicher Weise über den engeren Bereich der Theologie und Kirche hinaus engagierten und wahrnehmungsfähigen Theologen. Insofern Schenkels Theologie vor allem im Hinblick auf seinen spezifischen Beitrag zur Protestantismusdeutung seiner Gegenwart untersucht werden soll, müssen auch die ideengeschichtlichen sowie (kirchen-)politischen Hintergründe seiner Position beleuchtet werden. Dies stellt jedoch vor eine methodische Schwierigkeit: Das 19. Jahrhundert wurde in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen von überaus vielschichtigen und komplexen Prozessen und Ereignissen geprägt. Eine ausführliche Erörterung der verschiedenen Aspekte und Fragestellungen würde weit über diese Arbeit hinausführen. Glücklicherweise ist eine solche Darstellung auch nicht notwendig, denn die Problemstellung der Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts ist breit analysiert, sodass auf die jeweils relevante Literatur in den verschiedenen Zusammenhängen verwiesen werden kann. Dennoch kann und soll auf die Hintergründe nicht ganz verzichtet werden. So werden an den Punkten, an denen es für ein vertieftes Verständnis von Schenkels Theologie aufschlussreich ist, Grundfragen und Probleme sowie prägende Positionen – hier ist vor allem Schleiermacher zu nennen – exemplarisch dargelegt und in Erinnerung gerufen. Der Hauptteil der Untersuchung gliedert sich in drei Kapitel (II.–IV.): Da Daniel Schenkel heute ein weitestgehend unbekannter Theologe ist, soll zunächst sein Leben und Werk vorgestellt werden (II.). Dabei geht es primär um seine positionelle Entwicklung in einem sich wandelnden Kontext, indem ausgehend von seiner Biographie Grundfragen und -motive von Schenkels Theologie ei-
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I. Einleitung
nerseits, wie auch Brüche und Weiterentwicklungen andererseits aufgezeigt werden, um auf diese Weise einen Gesamteindruck von seinem Leben und seiner Theologie zu erhalten, die von zahlreichen theologischen wie auch kirchenpolitischen Auseinandersetzungen geprägt wurden. In diesem Kapitel soll außerdem gezeigt werden, wie und weshalb die Protestantismus- und Kirchenfragen zu den zentralen Themen Schenkels wurden. Das dritte Kapitel untersucht ausführlich Schenkels Deutung des Protestantismus (III.). Diese wird im Ausgang von drei zentralen und eng miteinander zusammenhängenden Argumentationsfiguren analysiert, die gleichzeitig eine gewisse Entwicklung in Schenkels Verständnis widerspiegeln: das Prinzip des Protestantismus, der Protestantismus als Gewissenstat im Protest gegen den Katholizismus sowie der Protestantismus als Gewissensreligion und ›Wiederherstellung der echten Katholizität‹. Letzteres bildet den Schwerpunkt des Kapitels und beruht auf einem der Hauptwerke Schenkels Die Christliche Dogmatik vom Standpunkt des Gewissens aus dargestellt32. Schenkel entwickelt hier sein Protestantismusverständnis auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse des Religions- und Gewissensbegriffs, die das Fundament seiner Protestantismustheorie darstellen. Er profiliert den Protestantismus darin als Religion der Freiheit, die als solche dann die Bedingung und Grundlage einer sich unter neuzeitlichen Voraussetzungen entwickelnden Gesellschaft bildet. Im Hinblick auf diese Deutung des Protestantismus stellt die Dogmatik gewissermaßen den Abschluss von Schenkels theologischer Entwicklung dar, die weiteren Schriften bauen auf den dort entwickelten Grundlagen auf. Unmittelbar zum Tragen kommt dieses Protestantismusverständnis in Schenkels Veröffentlichungen zur Ekklesiologie, die Gegenstand des vierten Kapitels sind (IV.). Ausgehend von der ekklesiologischen Grundlegung in der Dogmatik werden Schenkels Konzeptionen der kirchlichen Union von Lutheranern und Reformierten sowie einer genuin protestantischen Kirchenverfassung erörtert. Beide Themen stehen im Zentrum von Schenkels kirchenpolitischem Engagement und sind zudem im Hinblick auf die nationale und politische Dimension des Protestantismus von besonderer Relevanz, die hier ebenfalls in den Blick genommen werden soll. Dabei geht es nicht so sehr um die rein ›praktische‹ Ausgestaltung der kirchlichen Verfassung, obgleich diese auch besprochen wird, als vielmehr um die Begründung derselben im Wesen des Protestantismus, sowie umgekehrt um die Frage, inwieweit die von Schenkel geforderte Kirchenverfassung Ausdruck des protestantischen Wesens ist. Dabei wird sich zeigen, dass Schenkel die protestantische Kirche als Ort des Schutzes der religiösen Autonomie des Subjekts gegenüber äußerlichen Autoritätsansprüchen versteht.
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D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), 2 Bde.
2. Thema und Aufbau der Arbeit
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Die Arbeit folgt in ihrem Auf bau damit einem Grundanliegen Schenkels, nämlich den Zusammenhang einer Deutung von Religion auf der Basis unvertretbarer Subjektivität einerseits und der Vergemeinschaftung andererseits zu erweisen. Ein Fazit, in dem die Ergebnisse der Arbeit gebündelt und im Hinblick auf die Fragestellung ausgewertet werden, schließt die vorliegende Untersuchung ab (V.). In methodischer Hinsicht stellt der Umfang von Schenkels Werk eine besondere Herausforderung dar: Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, das Leben und die Theologie Schenkels erschöpfend zu erfassen und darzustellen. Vielmehr geht es um eine systematisch-theologische Analyse der beiden für Schenkels Theologie grundlegenden Themen, anhand derer seine Theologie als Beitrag und Versuch, mit den seiner Zeit gestellten Herausforderungen umzugehen, untersucht werden soll. Insofern ist angesichts des umfangreichen Werkes eine Beschränkung gefordert. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf Schenkels Schriften, die er Ende der 1850er und zu Beginn der 1860er Jahre veröffentlicht hat. Zu dieser Zeit ist die Entwicklung des theologischen Programms Schenkels weitestgehend abgeschlossen und seine charakteristischen Grundzüge sind ausgebildet. Das heißt, dass vor allem Schenkels Dogmatik sowie seine ekklesiologischen Hauptschriften zu Beginn der 1860er Jahre den Ausgangspunkt der Untersuchung darstellen. Gleichwohl wird insbesondere in Kapitel III auch auf die Entwicklung von Schenkels Protestantismusverständnis eingegangen, da das Anliegen wie auch der Hintergrund seiner Deutung als Auseinandersetzung mit seiner Gegenwart, wie er sie dann in der Dogmatik vorlegt, dadurch besonders sichtbar werden. Die zahlreichen Zeitschriftenartikel Schenkels werden nur gelegentlich zur weiteren Vertiefung herangezogen, und zwar insbesondere im Hinblick auf die (kirchen-) politische Verortung des Protestantismus. In theologischer Hinsicht gehen sie nicht über die monographischen Schriften hinaus, sondern bauen vielmehr auf diese auf, während Schenkel in ihnen seine Protestantismusdeutung vor allem im weiteren öffentlichen Kontext zu implementieren und die nationale Bedeutung des Protestantismus zu erweisen sucht. Die Bestimmung der protestantischen Identität, des Wesens des Protestantismus wie auch die Frage nach dem Wesen und der Gestalt der protestantischen Kirche stellen eine bleibende Aufgabe für Theologie und Kirche dar, die heute nicht weniger aktuell ist als im 19. Jahrhundert und die niemals abschließend geklärt werden kann (und darf ).33 Wie auch für Schenkel und seine Zeitgenos33
Auch gegenwärtig entzündet sich diese Frage oftmals an den kirchenpolitischen Fragen, wie beispielsweise die Diskussionen um das Reformpapier der EKD Kirche der Freiheit
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I. Einleitung
sen stellte die zentrale Schwierigkeit und Herausforderung dabei nach wie vor die dem Protestantismus wesentliche Betonung der Glaubensautonomie und der Freiheit des Christenmenschen einerseits, sowie das Festhalten an einer positiven, dem Menschen entzogenen gleichsam ›göttlichen‹ Glaubensgrundlage (in den kirchlichen Diskursen wird dann nicht selten einfach auf die Schrift als gleichsam objektive Instanz Bezug genommen) andererseits dar. Darüber hinaus ist auch heute die weitere zentrale Frage Schenkels nach der öffentlichen Bedeutung des Protestantismus bzw. Christentums keineswegs obsolet geworden, wie zum Beispiel die Diskussionen um die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas als verbindendes und einheitsstiftendes Erbe zeigen. Die Beschäftigung mit den diesbezüglichen Debatten des 19. Jahrhunderts sind in dieser Situation insofern aufschlussreich, als sie helfen können, die systematisch-theologische Struktur auch der gegenwärtigen Fragestellungen und Prozesse offenzulegen und die eigene Situation somit besser zu verstehen. Schenkels Leben und Theologie bieten dabei für das Verständnis der Theologie des 19. Jahrhunderts eine interessante Perspektive, da Schenkel in Auseinandersetzung und Reaktion auf die zentralen Problem- und Fragestellungen dieser Zeit seine Position entwickelt und versucht, eine Deutung des Protestantismus anzubieten, die das neuzeitliche Autonomiepostulat des Subjekts gegenüber allen vorgegebenen Wahrheiten einerseits, und eine objektiv gegebenen göttliche Offenbarung andererseits unauflöslich miteinander verbindet. In eben dieser Verbindung bringt er die öffentliche und kulturelle Bedeutung des Protestantismus als Religion der Freiheit und zwar sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft zur Geltung: Die am Individuum orientierte moderne Gegenwartskultur und der Protestantismus stehen für Schenkel in einem unauflöslichen Zusammenhang.
gezeigt haben, vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Kirche der Freiheit (2006). Stellungnahmen, Diskussionsbeiträge u. v. m. zum Impulspapier sind gesammelt unter www.kircheim-auf bruch.ekd.de.
II. Daniel Schenkel. Leben und Werk Das folgende Kapitel dient der Einführung in das Leben1 und Werk Daniel Schenkels. Beides soll hier nicht in allen Einzelheiten erschöpfend erfasst und dargestellt werden, vielmehr ist das Ziel, im Durchgang durch Schenkels Leben und Werk für sein theologisches Nachdenken charakteristische Grundzüge und Themen herauszuarbeiten. Die Hinführung zu seiner Theologie im Ausgang von seiner Biographie ist insofern aufschlussreich, als Schenkels Theologie nachhaltig sowohl von den zahlreichen Auseinandersetzungen, in die er Zeit seines Lebens selbst verwickelt war, als auch von den theologischen und (kirchen-) politischen Debatten seiner Zeit beeinflusst wurde. Somit lassen sich im Ausgang von seiner Biographie sowohl Schenkels Perspektive und Deutung der sich im 19. Jahrhundert stellenden Fragen erschließen, als auch Hauptmotive seiner Theologie in ihrer Entwicklung und mit ihren Brüchen und Schwankungen besonders klar identifizieren. Im Laufe des Kapitels wird deutlich werden, dass vor allem die Frage nach dem Wesen des Protestantismus sowie nach dem Wesen und der Gestalt der protestantischen Kirche immer mehr zum Zentrum von Schenkels theologischem Werk und kirchenpolitischem Engagement wurden, und zwar je mehr die allgemeine theologische Grundsignatur der Zeit durch restaurative bzw. konfessionelle Kräfte bestimmt wurde. Leitend war für Schenkel hierbei die Einsicht, dass zunächst das Christentum im Allgemeinen, dann aber auch der Protestantismus im Besonderen öffentliche Bedeutung für die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen haben. Strukturiert wird dieses Kapitel durch für Schenkels Leben und Werk wichtige und wegweisende Ereignisse: Der erste Teil umfasst zunächst die Jahre 1813 bis 1841, also Schenkels Kindheit und Ausbildung bis zu seiner ersten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Antistes des Schaff hauser Münsters (1.). Infolge dieser Auseinandersetzung wurde Schenkel als erster Prediger an eben dieses Münster berufen, wo er bis kurz vor seine Berufung an die Heidelberger Theologische Fakultät 1851 blieb (2.). Der dritte Teil befasst sich sodann mit den ersten Jahren von Schenkels Heidelberger Zeit bis zum Jahre 1857 (3.). 1 Eine ausführliche Biographie zu Daniel Schenkel liegt bisher nicht vor. Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf W. Hönig, Schenkel (1885); ders., Art. »Schenkel« (1891); H. Holtzmann, Zum Andenken (1885); ders., Art. »Schenkel« (1890); W. Gass, Art. »Schenkel« (1906); A. Hausrath, Richard Rothe (1906); K. Schib, Schenkel (1956); R. Ehmann, Schenkel (2010); D. Schenkel, Briefe (1840 – 1851).
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Diese wurde vor allem zu Beginn von verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzungen geprägt, die Schenkel zunächst auf die Seite der restaurativen Partei zu rücken schienen. Gleichzeitig deutete sich in dieser Zeit, vor allem seit etwa 1855, ein Umbruch in seiner Theologie an: Immer mehr Fragestellungen, Positionen und Motive traten hervor, die für Schenkel charakteristisch wurden. Der folgende vierte Teil setzt beim Jahr 1858 ein, das eine wichtige Zäsur in Schenkels Leben darstellt, da es einerseits zum offenen Bruch mit zahlreichen von Schenkels vermeintlich gleichgesinnten Kollegen kam und es andererseits den Beginn des Höhepunkts in Schenkels Leben und Werk markiert, der bis etwa 1863 andauerte (4.): Kirchenpolitisch befand sich Schenkel in dieser Zeit auf der Höhe seiner Macht und auch in theologischer Hinsicht nahm diese Zeit für Schenkels Leben einen besonderen Stellenwert ein: Die Entwicklung seiner theologischen Position kam gleichsam zu einem Abschluss und er formulierte und begründete seine Theologie in mehreren großen Schriften ausführlich. Dieser Höhenflug endete jedoch jäh 1864: In diesem Jahr veröffentlichte Schenkel Das Charakterbild Jesu2 und löste damit eine große Protestwelle aus, die seinen enormen kirchenpolitischen Einfluss beendete. Dieser sogenannte Schenkel-Streit, der sowohl Schenkels als auch allgemein das kirchliche Leben Badens bis 1867 bestimmte, ist Thema des fünften Teils (5.). Nach dieser Zeit wurde es merklich ruhiger um Schenkel. Er nahm zwar weiterhin an den kirchenpolitischen Debatten teil und veröffentlichte noch zahlreiche Schriften, allerdings war er bis zu seinem Tod 1885 in keine weiteren Auseinandersetzungen mehr verwickelt (6.). In einem Fazit werden die Ergebnisse dieses Kapitels abschließenden gebündelt (7.).
1. Ein Student, »der für Hundert gilt«3 (1813 – 1841) Als Georg Daniel Schenkel am 21. Dezember 1813 in Dägerlen4 bei Winterthur im Kanton Zürich geboren wurde, stand Europa noch unter dem Eindruck der Kriegswirren und Umwälzungen, die die Französische Revolution 5 und nachfolgend Napoleon in den letzten 25 Jahren fast über den gesamten Kontinent gebracht hatten. Napoleon war zwei Monate zuvor in der Völkerschlacht bei Leipzig vernichtend geschlagen worden, die Neuordnung der politischen Ver2
Vgl. D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864). W. de Wette, zitiert in: E. Henke, Jakob Fries (1937), 363. 4 Heinrich Holtzmann und Wilhelm Hönig geben Dögerlin als Geburtstort an, vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 82; W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 384. Wilhelm Gaß nennt den Ort Döperlin, vgl. W. Gass, Art. »Schenkel« (1906), 555. Nach Karl Schib sind diese Angaben jedoch falsch, er nennt in der Einführung zu den Briefen Schenkels Dägerlen, vgl. K. Schib, Einleitung (1953), 172. 5 Zu den geistes- und religionsgeschichtlichen Auswirkungen der Französischen Revolution vgl. E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 3, 147 – 190. 3
1. Ein Student, »der für Hundert gilt« (1813 – 1841)
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hältnisse auf dem Wiener Kongress 1814/15 und damit der Beginn einer Beruhigung und relativen Stabilisierung der politischen Lage stand noch bevor.6 Von diesen Entwicklungen blieben auch die Kirchen nicht unberührt. Neben der Säkularisation von Kirchengut in Folge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803, von der vor allem die süddeutschen Kirchen betroffen waren, bedeutete die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen 1806 und die damit verbundene Neuordnung der Staaten das Ende der monokonfessionellen Länder. Infolgedessen mussten nicht nur die Konfessionen untereinander ihr Verhältnis neu klären, sondern auch die Staaten, die nun konfessionsneutral sein mussten, waren gezwungen, ihr Verhältnis zur katholischen und evangelischen Kirche neu zu bestimmen.7
1.1. Kindheit und Schulzeit In dieser von Umbrüchen und Neuordnungen geprägten Zeit wuchs Schenkel als ältester Sohn von vier Geschwistern in Dägerlen und Hallau auf, wo sein Vater Johannes Schenkel (1783 – 1828) reformierter Landpfarrer war.8 Seine Mutter Helene Schenkel stammte aus einer Baseler Pfarrfamilie. Hausrath weiß zu berichten, dass die Kinder im pietistischen Geist erzogen wurden.9 Sehr viel ist über Schenkels Kindheit und Jugend nicht bekannt: Eine Schule hat er zunächst nicht besucht, sondern wurde zu Hause unterrichtet, hat im Selbststudium Kenntnisse in Latein, Griechisch und Hebräisch erworben und 6 Eine ausführliche Darstellung der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland bietet das nachwievor überaus lesenswerte dreibändige Standardwerk von Thomas Nipperdey Deutsche Geschichte 1800 – 1918. Nipperdey konzentriert sich in seiner Darstellung nicht nur auf politische, gesellschaftliche und soziale Entwicklungen, sondern untersucht auch die »Phänomene der Religion«, um auf diese Weise »eine Perspektive auf die allgemeine Geschichte zu bieten – Religion als ein Stück Deutungskultur, die die ganze Wirklichkeit der Lebenswelt konstituiert, das Verhalten der Menschen und ihren Lebenshorizont, ihre Lebensinterpretation prägt, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, ja auch die Politik« (Th. Nipperdey, Religion (1988), 7). Nipperdey hat dem Thema auch eine eigene Schrift – Religion im Umbruch (1988) – gewidmet, die in überarbeiteter Form in dem Band Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat aufgenommen ist. Die folgenden Verweise auf Nipperdeys Deutsche Geschichte beziehen sich auf diesen Band. Einen kurzen Überblick über die Geschichte der Schweiz bietet U. Im Hof, Geschichte der Schweiz (1991). 7 Einen guten ersten Überblick über die Entwicklung der Kirchen in dieser Zeit bietet M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006); vgl. außerdem L. Grane, Kirche im 19. Jahrhundert (1987); K. Nowak, Geschichte des Christentums (1995), 37 – 197; J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 172 – 255. 8 Johannes Schenkel war pietistischer Bäckerssohn und hatte zunächst selber als Bäcker gearbeitet, bevor er seinen Vater endlich mit viel Mühe vom Theologiestudium überzeugen konnte, vgl. D. Schenkel, Johannes Schenkel (1837). Diese immerhin 190 Seiten starke Biographie über seinen Vater war die erste Publikation Schenkels. Sein Göttinger Lehrer Gottfried Lücke hat sie mit einem Vorwort versehen. 9 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 219.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
auch seine drei jüngeren Geschwister unterrichtet. Erst nach dem frühen Tod des Vaters 1828 hat Schenkel die Gelehrtenschule in Basel besucht und dort seine Gymnasialausbildung beendet.10 Noch zu Schulzeiten war er zum ersten Mal in politische Auseinandersetzungen involviert: 1831 kämpfte Schenkel – wahrscheinlich auch militärisch – auf Seiten der konservativen Basel-Stadt gegen das liberale Basel-Land, das sich gegen die Vormacht der Stadt auflehnte; 11 über das genaue Ausmaß von Schenkels Beteiligung an den Kämpfen gibt es allerdings ganz unterschiedliche Aussagen.12
1.2. Studienzeit Nach seiner abgeschlossenen Gymnasialausbildung war Schenkel zunächst noch unentschieden, ob er Theologie oder Jura studieren sollte.13 Dass er sich schließlich doch für das Theologiestudium entschied, ist neben dem Wunsch der Mutter auf den großen Eindruck zurückzuführen, den Wilhelm Martin Leberecht de Wette14, der seit 1822 an der Theologischen Fakultät der Universität Basel 10
Vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 83; W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 384. 11 Die Julirevolution in Paris im Jahr 1830 hatte rasch größere Kreise gezogen und in weiten Teilen des Kontinents für Unruhen gesorgt. Auch Basel-Land, das sowohl politisch als auch wirtschaftlich von der Stadt abhängig war, wurde von liberalen Ideen ergriffen und forderte eine Verfassungsreform, um die politische und bürgerliche Gleichberechtigung der Landschaft zu sichern. Die konservative Regierung von Basel-Stadt gab zwar einer Verfassungsreform nach, erfüllte die Forderungen nach Gleichberechtigung von Basel-Land jedoch nur teilweise. Die Auseinandersetzung, die zum Teil bürgerkriegsähnliche Züge annahm, dauerte drei Jahre und endete schließlich 1833 mit der sogenannten Kantonstrennung Basels, die bis heute besteht. Vgl. C. Opitz, Kantonstrennung (2000). 12 Während Schenkel Holtzmann zufolge Mitglied in einem militärischen Studentencorps war und daneben seine Schulausbildung beendete, diente er nach Hönig längere Zeit in einem Jägerbataillon. Gaß ist sogar der Ansicht, dass er in diesem Bataillon drei Jahre lang »die Waffen geführt hat« (W. Gass, Art. »Schenkel« (1906), 555). Schib berichtet dagegen, dass Schenkel im Jahr 1831 lediglich »mit anderen Studenten an einem Zuge gegen die aufständische Landschaft teilgenommen und während der Trennungswirren die Empörung der Stadtbasler gegen den Radikalismus persönlich miterlebt« (K. Schib, Einleitung (1953), 173) hat. Vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890); 83; W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 384. 13 Holtzmann schreibt über diese Entscheidung: »[D]er ungewöhnlich schlagfertige, eindringliche und erfindungsreiche Redner, den man später in ihm bewunderte, hat es noch manchmal hören müssen, es sei an ihm in der That ein Rechtsanwalt und Parlamentsredner ersten Ranges verloren gegangen.« (H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 83). 14 Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780 – 1849) war bekanntlich 1819 aufgrund eines Trostbriefes, den er an die Mutter von Karl Ludwig Sand, dem Mörder von August von Kotzebue, geschrieben hatte und der dem König bekannt geworden war, in Berlin entlassen worden. In diesem Brief hatte de Wette am 31. März 1819 geschrieben: »Der Irrtum wird aufgewogen durch die Lauterkeit der Überzeugung, die Leidenschaft wird geheiligt durch die gute Quelle, aus der sie fließt. Er hielt es für recht, und so hat er recht getan; ein jeder handle nur nach seiner besten Überzeugung, und so wird er das Beste tun. So wie die Tat geschehen ist durch diesen reinen frommen Jüngling, mit diesem Glauben, mit dieser Zuver-
1. Ein Student, »der für Hundert gilt« (1813 – 1841)
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lehrte, auf den jungen Schenkel machte.15 Davon und dem bleibenden Einfluss, den de Wette auf Schenkel hatte, zeugt Schenkels kleine Schrift W. M. L. de Wette und die Bedeutung seiner Theologie für unsere Zeit16 aus dem Jahr 1849, in der er de Wettes Theologie würdigt. Dort heißt es zu Beginn: »Seit siebenzehn Jahren durch mehrfache Bande der Wissenschaft, der Freundschaft, des Vertrauens und der Liebe mit dem Verewigten verbunden, ohne daß das schöne Verhältniß, welches zwischen dem Lehrer und dem Schüler, zwischen dem gereiften Manne und dem strebenden Jüngling bestand, jemals die geringste Störung erlitten hätte, mit immer gleicher Hingebung ihm zugethan und immer gleicher Zuneigung von seiner Seite mich erfreuend (…).«17
Dass umgekehrt der Schüler auch auf den Lehrer Eindruck machte, zeigt wiederum eine Äußerung de Wettes in einem Brief an den Philosophen Jacob Friedrich Fries vom 6. August 1839: »Die Lehrerfreuden hat mir der Himmel sparsam zugemessen, und nicht selten die Demütigung mir auferlegt, meine besten Schüler Pietisten werden zu sehen. – Dafür habe ich aber auch einen Schüler, der für Hundert gilt, Schenkel, Verfasser einer neulichst herausgekommenen Schrift über Strauß.18 Was mich an ihm vorzüglich freut, ist, daß er gerade durch diese Polemik von der Identitätsphilosophie zurückgekommen ist, die ihn doch ein wenig angesteckt hatte, und eingesehen hat, daß nur auf dem subjektiven Standpunkte die Wahrheit des Christentums behauptet werden könne.«19
Nachdem Schenkel 1835 erfolgreich das Examen in Basel bestanden hatte, ging er zunächst ins Vikariat nach Schaff hausen, bevor er nur ein halbes Jahr später seine Studien an der Universität Göttingen bei dem Kirchenhistoriker Johann
sicht, ist sie ein schönes Zeichen der Zeit.« (Zitiert in: J. Rohls, de Wette (1990), 238). 1822 erhielt de Wette einen Ruf an die Universität Basel, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Vgl. J. Rohls, de Wette (1990). 15 Vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 83. 16 Vgl. D. Schenkel, W. M. L. de Wette (1849). 17 AaO., 3. Den Zeit seines Lebens bleibenden Einfluss de Wettes auf Schenkel betont auch Holtzmann: »De Wette’s Bild war stets in Schenkel’s Studierzimmer zu sehen, de Wette’s Lob jederzeit aus seinem Munde zu hören; die subjective Form der Begründung religiöser Wahrheiten einerseits, die maßvolle, aber unerschrockene Geltendmachung des kritischen Princips gegenüber dem Schriftbuchstaben andererseits kennzeichneten den treuen Schüler zeitlebens.« (H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 83). 18 De Wette spielt hier auf Schenkels 1839 veröffentlichte Schrift Die Wissenschaft und die Kirche an. Albert Schweitzers Urteil über die betreffende Schrift fällt dagegen sehr nüchtern aus: Er bezeichnet die Schrift in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung als ›öde Schrift‹, in der Schenkel »alles Heil der Zukunft von jener Mitte, wo Glaube und Wissenschaft sich durchdringen« erwarte, »›den neuen, der wissenschaftlichen Behandlung sich nähernden Supranaturalismus‹ als eine hoffungsvolle Erscheinung« begrüße und den Züricher Aufstand gegen Strauß als »ein erhebendes Ereignis« (A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung (1926), 105) feiere. 19 Zitiert in: E. Henke, Jakob Fries (1937), 363.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Gieseler 20 und dem Exegeten und Systematiker Gottfried Lücke21 fortsetzte.22 Zwei Jahre später veröffentlichte Schenkel seine erste Abhandlung 23 in den Theologische[n] Studien und Kritiken 24. 1838 ging er zurück nach Basel, wo er sich mit der Schrift Dissertatio critico-historica de ecclesia Corinthia primaeva facionibus turbata quam ordinis venerandi theologici auspiciis25 habilitierte.
20 Johann Karl Ludwig Gieseler (1792 – 1854) hat in Halle Theologie studiert, wo er von dem Rationalisten Julius August Ludwig Wegscheider (1771 – 1849) geprägt wurde. Seit 1831 lehrte Gieseler in Göttingen Kirchengeschichte. Vgl. M. Ohst, Art. »Gieseler« (2000). 21 Gottfried Christian Friedrich Lücke (1791 – 1855) studierte in Halle und Göttingen. Nachdem er zunächst in Berlin und Bonn gelehrt hatte, erhielt er 1827 einen Ruf für Neues Testament und Systematische Theologie nach Göttingen. Lücke war Schüler Schleiermachers und hat dessen Hermeneutik 1838 posthum herausgegeben. Für eine ausführliche Analyse und Darstellung des Lebens und Werks Lückes vgl. A. Christophersen, Friedrich Lücke (1999); Band 2 bietet wertvolles Quellenmaterial. 22 Vgl. W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 385. 23 Holtzmann, Gaß u. a. schreiben, dass Schenkel 1835 zum ersten Mal in ThStKr veröffentlichte, vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 83; W. Gass, Art. »Schenkel« (1906), 555. M. E. stellt allerdings eine Studie über den Barnabasbrief 1837 seine erste Veröffentlichung dar: In dem vermeintlichen Jahrgang sowie auch 1836 gibt es keinen Hinweis auf einen Artikel Schenkels, vgl. D. Schenkel, Ueber den Brief des Barnabas (1837). 24 Die ThStKr waren seit 1828 das führende Organ der Vermittlungstheologie und verstanden sich im Geiste Schleiermachers. Neben Schenkels Lehrern Lücke und Gieseler wurde die Zeitschrift von den führenden Vermittlungstheologen Carl Ullmann, Carl Umbreit und Carl Immanuel Nitzsch mit dem Ziel herausgegeben, »eine publizistische Alternative zu den theologischen Schulbildungen von Supranaturalismus und Rationalismus zu bieten« (F. Voigt, Vermittlung im Streit (2006), 22). Als Programm wurde die Vermittlung von Glaube und Wissen aufgestellt, um »das Christenthum als menschliche Entwicklung und zugleich göttliche Offenbarung zu erfassen« (A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 11). Das Stichwort der Vermittlung geht auf Lücke zurück, der im Wesentlichen das Programm für die Zeitschrift verfasste, vgl. H. Pfisterer, Ullmann (1977), 228. In der Ankündigung der Zeitschrift heißt es dann auch programmatisch: »Die Herausgeber tragen keine Scheu, sich zu dem einfachen biblischen Christenthum in dem Sinne zu bekennen, daß sie dasselbe für das wahrhaftige Wort und Heil Gottes halten. Allein eben deshalb, weil sie in dem Evangelium das Wort der ewigen Wahrheit selbst anerkennen, sind sie fest überzeugt, daß dasselbe als Licht und Leben zugleich nicht weniger unsere Erkenntniß und Wissenschaft, als unsern Glauben in Anspruch nimmt, und daß, so wenig es eine wahrhaft christliche Theologie ohne christlichen Glauben geben kann, eben so sehr eine die edle Gottesgabe der Vernunft und Wissenschaft verachtende Theologie ein Unding ist. (…) Durch dieses offene Bekenntniß glauben die Herausgeber ihr Unternehmen überhaupt bei allen denen rechtfertigen zu können, welche mit ihnen der Meinung sind, daß es in keiner Zeit, am wenigstens aber in der unsrigen, der wahren Vermittelungen zu viele geben könne.« (Ankündigung der Theologischen Studien und Kritiken, zitiert in: A. Christophersen, Friedrich Lücke (1999), Bd. 2 , 421 f.). Friedemann Voigt hat die Ursprünge sowie das theologische Ziel und Programm der ThStKr ausführlich und gründlich analysiert, wobei er zeigt, dass das Programm und die vertretene Theologie der Herausgeber keinesfalls so einheitlich waren, wie das Schlagwort »Vermittlungstheologie« suggeriert, vgl. bes. F. Voigt, Vermittlung im Streit (2006), 22 – 104. Zur Entstehungsgeschichte der Zeitschrift vgl. auch H. Pfisterer, Ullmann (1977), 221 ff. 25 Vgl. D. Schenkel, Dissertatio (1838).
1. Ein Student, »der für Hundert gilt« (1813 – 1841)
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1.3. Das objektive und subjektive Moment. Schenkels Antrittsvorlesung in Basel Seine hermeneutisch interessierte Antrittsvorlesung in Basel hielt Schenkel Über das ursprüngliche Verhältniß der Kirche zum Kanon 26 . Darin fordert Schenkel – ganz im Geist von de Wette27 und seinen Göttinger Lehrern – einen kritischen Umgang mit der Schrift, wobei er sich wie seine Lehrer ebenso deutlich gegen den Rationalismus abgrenzt. Neben die Kritik muss, wie Schenkel im Anschluss an Irenäus’ Argumentation in dessen Auseinandersetzung mit den Gnostikern nachweist, die Kirche und ihr lebendiger Glaube – im Gegenüber zum ›toten Buchstabenglauben‹ – als Richterin über die Auslegung treten: »[W]ir kennen, im Sinne der ältesten Kirche, keinen Kanon, der über der Kirche steht, sondern vielmehr eine Kirche, die über dem Kanon steht; nicht der Kanon hat uns die Kirche gemacht und richtet sie, sondern die Kirche hat ihren Kanon gemacht und richtet ihn. Nichts desto weniger aber erkennen wir die heilige Schrift, als die ursprünglichste Glaubensform der ältesten Kirche darlegend, in ihrem kanonischen Recht, d. h. als normgebend für die spätern Glaubensgestaltungen aller nachfolgenden Kirchenzeiten an; wir wünschen nur, daß man auch die Kirche in ihrem Rechte anerkenne, als Trägerin des den Glaubensinhalt bewegenden, in immer neue Formen auseinanderlegenden Geistes.« 28
Mit der Betonung des ›lebendigen Kirchenglaubens‹ 29 möchte Schenkel ein gleichermaßen ›objektives‹ Moment in die Auslegung integrieren, um so eine vermeintlich subjektive und damit seiner Ansicht nach willkürliche Auslegung auszuschließen. Wie in einem Brief Schenkels an Andreas Heusler deutlich wird, dachte er hierbei sowohl an Ernst Wilhelm Hengstenbergs30 einseitige 26
Vgl. D. Schenkel, Verhältniß (1838). Auch de Wette lehnt sowohl den Supranaturalismus als auch den Rationalismus ab. Ihm sei es darum gegangen, wie Hirsch präzise darlegt, »den höhern Standpunkt aufzuweisen, auf dem der historischen und dogmatischen Kritik auf ihrem Gebiete ebenso ihr Recht gegeben wird wie dem religiösen Sinn und den Bedingungen kirchlicher Gemeinschaft. Er setzt sich somit klar und bewußt das Ziel theologischer und kirchlicher Vermittelung« (E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 358). Rohls bietet einen knappen und sehr guten Überblick über die Grundanliegen von de Wettes Theologie, vgl. J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 412 ff. 28 D. Schenkel, Verhältniß (1838), 27 f. 29 Was Schenkel genau unter dem ›lebendigen Kirchenglauben‹ versteht, bleibt allerdings unbestimmt. Schenkel betont, dass der Geist in der Kirche wirkt und diese in der Wahrheit erhält. Somit versteht Schenkel die Kirche als »Trägerin des göttlichen Geistes« (a. a. O., 18). Ein inhaltliches Kriterium bietet er jedoch nicht an. Wenn man seine Äußerungen in dem Brief an Andreas Heusler (vgl. unten Anm. 32) einbezieht, scheint Schenkel bei dem ›lebendigen Kirchenglauben‹ an die Bekenntnisschriften zu denken, obwohl er dies nicht explizit in seiner Antrittsvorlesung erklärt. Hierfür spricht jedoch auch Schenkels Bezugnahme auf Irenäus’ ›regula fidei‹ als Auslegungsautorität. Allerdings ist festzuhalten, dass Schenkel sehr stark das Wirken des Geistes betont und damit die Autorität unbedingt dynamisch verstanden wissen will. 30 Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802 – 1869) studierte Philosophie, Orientalistik und 27
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Betonung der Schriftautorität als auch an David Friedrich Strauß’31 im Gegensatz dazu stehender einseitigen Betonung der Kritik: Beide berücksichtigen, so Schenkel, den lebendigen Kirchenglauben nicht, sodass in beiden Fällen letztlich das Subjekt ohne objektives Korrektiv der Schrift allein gegenüber steht.32 So bemüht sich Schenkel um eine Position zwischen den Extremen Hengstenberg und Strauß: Beide Aspekte – sowohl die Anerkennung der Autorität der Schrift als Wort Gottes, die von der Kirche in ihrem ›lebendigen Glauben‹ als objektive Instanz bewahrt wird, sowie die historische und kritische Beschäftigung mit ihr als gleichsam subjektives Moment – gehören nach Schenkel unverbrüchlich zusammen und machen gemeinsam erst »Fortschritt im kirchlichen Denken und Glauben«33 möglich. Schenkel nimmt also die neuzeitliche Forderung nach der Anerkennung der Autonomie des Subjekts auf, möchte diese Orientierung am Subjekt jedoch Theologie in Bonn. 1826 wurde er zum a.o. Professor für Altes Testament in Berlin berufen, zwei Jahre später zum ordentlichen Professor. 1827 gründete er die Evangelische Kirchenzeitung (EKZ), die zunächst gegen den Rationalismus gerichtet war und später dann zum Haupt organ des lutherischen Konfessionalismus avancierte. Hengstenberg und Schenkel waren erbitterte Gegner und lieferten sich leidenschaftliche und überaus polemische ›Schriftgefechte‹. Zu Hengstenberg vgl. J. Mehlhausen, Art. »Hengstenberg« (1986); M. Deuschle, Hengstenberg (2013). 31 David Friedrich Strauß (1808 – 1874) studierte Theologie in Tübingen, wo er maßgeblich von Ferdinand Christian Baur beeinflusst wurde. 1831 ging er nach Berlin, um bei Schleiermacher und Hegel, der allerdings schon kurze Zeit später verstarb, zu studieren. 1835 veröffentlichte Strauß Das Leben Jesu, in dem er die Evangelien einer radikalen Kritik unterzog und einen Großteil der Überlieferungen als Mythos auswies, vgl. dazu II.5.1. Dieses Buch machte ihn auf einen Schlag nicht nur zu einem der berühmtesten, sondern auch einem der berüchtigtsten Theologen des 19. Jahrhunderts und sorgte dafür, dass Strauß letztlich seine Repetentenstelle am Tübinger Stift verlor. 1838 erhielt er einen Ruf nach Zürich, was dort allerdings »tumultuarische Proteste« (J. Sandberger, Strauß (1984), 27) auslöste – auch Schenkel hatte Strauß öffentlich kritisiert, vgl. oben Anm. 18 – sodass Strauß schon sechs Wochen nach seiner Ernennung in den Ruhestand versetzt wurde. Das Leben Jesu hat noch vier weitere Auflagen erlebt, die letzte 1864, und wurde dabei immer wieder von Strauß überarbeitet. 1840/41 veröffentlichte Strauß Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, in der er sich offiziell vom Christentum abwandte. Zu Strauß vgl. J. Sandberger, Strauß (1994). 32 Schenkel fühlte sich in seiner Antrittsrede offensichtlich missverstanden, wie er am 21. Juli 1840 an Heusler schrieb: »Die Reformatoren wußten gar wohl, warum Sie (!) (sic!) nicht blos auf die Bibel, sondern auf eine allgemeinere Kirchenregel verpflichteten. Der gr. Rath hat durch seinen Beschluß die symbol. Bücher abrogiert und das ist – radikal. Ich bin hier der Conservative. Meine Ansicht über die symbol. Bücher ist nun freilich in meine ganze theol. Denkungsart hineinverwoben, die durchaus die historische Richtung hat, während das alleinige Zurückgehen auf die Bibel der rationellen Willkhür Thür und Thor öffnet. Denn, wie Sie gewiß sehr richtig bemerken, Strauß erklärt seine Sachen ebensogut aus der Bibel heraus als Hengstenberg. Auf die Bibel allein zurückzugehen, darin liegt aber auch eine Beschränkung, weil das in der Mitte liegende Leben der kirchlich. Entwicklung in diesem Falle übersehen wird und unbeachtet bleibt. Ich habe diesen gewiß nicht conservativen Gedanken schon in meiner Probevorlesung ausgesprochen, bin aber von den meisten Seiten jämmerlich mißverstanden worden.« (D. Schenkel, Briefe (1840 – 1851), 186). 33 D. Schenkel, Verhältniß (1838), 29.
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nicht uneingeschränkt und ungebunden stehen lassen, da dies seiner Ansicht nach in willkürlichen Subjektivismus ausartet und die göttliche Wahrheit dem Menschen ausliefert. Aus diesem Grund bindet er das Subjekt an die objektive Wahrheit, für die die Kirche als schützende Instanz einsteht. Diese Verbindung von subjektivem und objektivem Moment bleibt für Schenkels Denken prägend.
1.4. Der Anti-Katholizismus. Schenkels Auseinandersetzung mit Friedrich Emanuel von Hurter Neben seiner Tätigkeit als Privatdozent an der Universität arbeitete Schenkel als Lehrer am Gymnasium, erteilte Privatunterricht und war darüber hinaus Redakteur bei der konservativen Baseler Zeitung, die in dieser Zeit ihre Blüte erlebte.34 »Hier erprobte er zum ersten Male jene ungemeine Schlagfertigkeit und Gewandtheit in Wort und Feder, welche ihn auch später in den kirchlichen Tageskämpfen so ungewöhnlich auszeichnete. Von jetzt an aber war auch keine wichtigere Frage in seiner weiteren Umgebung, in die er nicht eingegriffen hätte.« 35
Die erste ›wichtigere Frage, in die er eingriff‹, betraf die Auseinandersetzungen um den Schaff hauser Antistes Friedrich Emanuel von Hurter36 , der seit Ende der dreißiger Jahre des Kryptokatholizismus verdächtigt wurde. Gegen diesen »schlug [Schenkel] in seiner Basler Zeitung Lärm und erhielt dafür eine Beleidigungsklage Hurters«37. Der von Schenkel leidenschaftlich geführte Kampf gegen Hurter endete damit vor Gericht. Sowohl den Prozess als auch die Aus34
Vgl. H. Holtzmann, Zum Andenken (1885), 65. W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 385. In dieser Zeit verband Schenkel eine enge Freundschaft mit Andreas Heusler, »dem konservativsten aller Basler Politiker« (K. Schib, Schenkel (1956), 326), der das politische Denken Schenkels in den folgenden Jahren stark beeinflusste, wie die Briefe Schenkels an Heusler zeigen, vgl. D. Schenkel, Briefe (1840 – 1851). 36 Friedrich Emanuel von Hurter (1787 – 1865) war seit 1808 Antistes in Schaff hausen. Hier verfasste er das vierbändige Werk Geschichte Papst Innocenz’ III und seiner Zeitgenossen (1834 ff.), das ihm »mit ihrer Verherrlichung der mittelalterlichen Hierarchie (…) in den Verdacht heimlicher katholischer Gesinnung« (H. Mulert, Art. »Hurter« (1912), 204) brachte. Nachdem er zum Katholizismus übergetreten war, wurde er 1846 Historiograph in Wien. Vgl. ebd. sowie ausführlich F. von Wegele, Art. »Hurter« (1881). 37 W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 385. Dass es dem 27jährigen Schenkel in dieser Auseinandersetzung nicht an Selbstbewusstsein mangelte, wird in einem Brief an Heusler deutlich, in dem Schenkel die Situation vor Gericht schildert: »Ich war ganz unvorbereitet; griff aber gleich muthig die Vertheidigung an, entwickelte ruhig und leidenschaftslos den ganzen Gang der Sache und zeigte, wie ich glaube, eine aufrichtige Freimüthigkeit. Nach meinem Vortrage, der wie ich deutlich bemerkte, auf das Gericht einen guten Eindruck machte, sprach Ziegler [er trat als Kläger gegen Schenkel auf; Anm. d. Vf.] wieder, ziemlich verblüfft, von der Sache abweichend, einigemal persönlich, ohne Frische.« (D. Schenkel, Briefe (1840 – 1851), 179 [Hervorhebung im Original]). 35
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einandersetzung mit der Stadt Schaff hausen verlor Hurter und trat nach langwierigen Verhandlungen, in denen eine Einigung mit der Stadt und dem Kirchenrat gescheitert war, schließlich 1841 von seinen Ämtern zurück. Als Hurter 1844 auf einer Romreise dann tatsächlich zum Katholizismus übertrat, feierte Schenkel dies als Bestätigung seines Kampfes. Dabei ging er nicht nur als Sieger vor Gericht hervor, sondern wurde zudem noch als Nachfolger Hurters als erster Prediger an den Münster von Schaff hausen berufen; er folgte dem Ruf.38 In dieser ersten Phase von Schenkels Wirken treten bereits zwei seine Theologie prägende Grundmotive hervor: Zum einen Schenkels tiefe Abneigung gegenüber dem römischen Katholizismus, wie sie im Streit mit Hurter sichtbar wird: Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die hierarchische Verfasstheit der katholischen Kirche39 und verbindet sich mit der Betonung des prinzipiellen Gegensatzes derselben zum Protestantismus. Dieser Anti-Katholizismus zieht sich wie ein roter Faden durch Schenkels gesamtes Werk, steht im Hintergrund noch zahlreicher weiterer Auseinandersetzungen und ist prägend für seine gesamte theologische Entwicklung. Zum anderen zeigt sich Schenkels Anliegen, sowohl die Autorität der göttlichen Heilsoffenbarung als auch die Glaubens autonomie des Subjekts anzuerkennen und zwischen ihnen zu vermitteln. Damit ist bereits ein zentrales Strukturmoment seiner Theologie aufgerufen. Die jeweilige Schwerpunktsetzung auf eines der beiden Momente wie auch die Verhältnisbestimmung entwickelt und differenziert Schenkel im Laufe der Zeit jedoch noch erheblich weiter. In dieser Auseinandersetzung erweist er sich zunächst durch die starke Betonung des objektiven Moments, das er hier primär an der Kirche und ihren Bekenntnisschriften festmacht, als eher konservativer Theologe. 38 Schenkel hat die gesamte Auseinandersetzung 1844 in dem Buch Die confessionellen Zerwürfnisse in Schaffhausen und F. Hurters Uebertritt zur römisch-katholischen Kirche festgehalten. Sie stellt die Antwort auf die Schrift Hurters Der Antistes Hurter von Schaffhausen und sogenannte Amtsbrüder (1840) dar, in der dieser sich zu seinem Prozess gegen Schenkel geäußert hat. In seiner Antwort möchte Schenkel zeigen, dass der von der römisch-katholischen Kirche gefeierte Übertritt von Hurter keineswegs ein Werk der göttlichen Gnade und Wirkung der Heiligen Jungfrau Maria war, wie es die katholische Kirche laut Schenkel propagierte, sondern sich schlicht Hurters Anfälligkeit für ›das Sinnliche‹ und ›das Äußere‹ verdankte, vgl. D. Schenkel, Die confessionellen Zerwürfnisse (1844), 279 ff. 39 So erklärt Schenkel z. B. schon in der Einleitung seiner Darstellung: »Die alt-jüdische, theokratische Idee von einem vorzüglich begnadigten, stellvertretenden Priesterstande, der in unmittelbarer Verbindung mit Gott stehe und die Beziehungen des Volkes zu Gott erst vermitteln müsse, war mit allen ihren verderblichen Consequenzen wieder ins Leben getreten [in Form der römisch-katholischen Hierarchie; Anm. d. Vf.], und hatte den sittlichen und religiösen Geist des Volkes allmählig in die drückendsten Bande geschlagen. So wie aber durch die Rechtfertigungslehre die Vorstellung von einer besondern, durch sogenannte fromme Werke zu gewinnenden Heiligkeit widerlegt und als nichtig erklärt worden war: so mußte auch jene Idee von einem besonders begnadigten Priesterstande fallen.« (D. Schenkel, Die confessionellen Zerwürfnisse (1844), 4).
2. Pastor in Schaffhausen (1842 – 1851)
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Neben diesen beiden theologischen Grundmotiven zeigt sich zudem in der Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit, mit der Schenkel den Streit gegen Hurter geführt hat, ein äußerliches Charakteristikum seines Wirkens: Der Hurter’sche Streit bildet nur den Auftakt eines von theologischen und politischen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten geprägten Lebens.40
2. Pastor in Schaff hausen (1842 – 1851) Als Schenkel 1842 schließlich nach Schaff hausen kam, fand er dort eine stark verunsicherte Gemeinde vor: In politischer Hinsicht hatte die Stadt nach den Umwälzungen der letzten Jahre ihren Einfluss verloren, wirtschaftlich konnte Schaff hausen nicht am alten Wohlstand festhalten41, die Auseinandersetzungen um Hurter hatten die Kirche in eine tiefe Krise gestürzt, »die sie nicht weniger tief aufwühlte, als die politischen und sozialen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit den Staat aufgewühlt hatten«42 . In dieser Situation empfahl sich Schenkel nicht nur durch seine Haltung und sein Vorgehen in der hurter’schen Angelegenheit, sondern auch seine politisch »antiradikale Einstellung« hat »bei seiner Berufung nach Schaff hausen eine Rolle gespielt« und überzeugte die »mehrheitlich konservativ eingestellte Stadt«43.
2.1. Die Stärkung der Gemeinde. Schenkel als Pastor Schenkels Zeit in Schaff hausen kann insgesamt als überaus erfolgreich und produktiv bezeichnet werden. Neben seinen kirchlichen Aufgaben wurden ihm zahlreiche weitere Positionen in der Stadt übertragen: Als Vizepräsident des Schulrates und Ephorus des Gymnasiums nahm er Einfluss auf Schulfragen44, als Mitglied des Stadtrates und des Großen Rates des Kantons verfügte er über politischen Einfluss. Als Prediger und Seelsorger scheint Schenkel in der Gemeinde überaus beliebt gewesen zu sein. So schreibt Wilhelm Gaß, dass »[d]ie Seelsorge (…) ihn zum Volksfreund und zum Liebling der Gemeinde« 45 40
Sehr schön beschreibt dies Adolf Hausrath: »Sein Leben lang hatte Schenkel die Gewohnheit, aus dem theologischen Gegner ein mythologisches Ungeheuer zu machen, das er dann nach Herzenslust zerzauste und zerpflückte (…).« (A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 222). 41 Vgl. K. Schib, Einleitung (1953), 163 ff. 42 AaO., 171. 43 AaO., 174. 44 Schenkel arbeitete beispielsweise an der Ausarbeitung eines neuen Schulgesetzes mit; 1846 wurde er sogar zum Präsidenten des Eidgenössischen Schützenfestes, das in Schaff hausen stattfand, gewählt – eine Ehre, die vor ihm noch keinem Geistlichen zuteil geworden war, vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 83. 45 W. Gass, Art. »Schenkel« (1906), 556.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
machte, Wilhelm Hönig weist darauf hin, dass er ein »beliebter Prediger« war, »in dessen Gottesdienste die Leute stundenweit herbeiströmten«46 . Sein Erfolg in der Gemeinde wird auch dadurch unterstrichen, dass der Kirchenrat 1850, als Schenkel einen Ruf an die Universität in Basel erhielt, sein Jahresgehalt um 500 Gulden erhöhen wollte und ihn dringlich darum bat, in Schaff hausen zu bleiben.47 Eine der ersten Amtshandlungen Schenkels bestand in der Umstrukturierung der Schaff hauser Kirche. Er organisierte diese in drei Gemeinden, ließ Gemeinderatswahlen durchführen und richtete ein Presbyterium ein, das es bis dahin in der reformierten Schaff hauser Gemeinde nicht gegeben hatte! Bei dem Versuch, diese Umstrukturierungen 1849 im gesamten Kanton durchzuführen, scheiterte Schenkel jedoch am Widerstand im Großen Rat des Kantons.48 In dieser Umstrukturierung der Schaff hauser Gemeinde, zeigt sich bereits ein weiteres Grundanliegen Schenkels, das er fast während seines gesamten Lebens durchhielt: Das sogenannte ›Gemeindeprinzip‹49 wurde später zu einem explizit liberalen Stichwort; spätestens ab Mitte der 1850er Jahre ist Schenkel einer der stärksten Befürworter der Gemeindebeteiligung am kirchlichen Leben und das heißt der Stärkung der Gemeinde gegenüber Amt und Institution; für dieses Ziel trat er dann auch kirchenpolitisch vehement ein. 1842 heiratete Schenkel Marie von Waldkirchen, »die ihm ein glückliches Heim schuf und den Gatten durch alle Kämpfe hindurch mit Verständniß seines Wollens und Wirkens und mit sorgender, aufopfernder Hingabe bis an sein Ende begleitet hat«50.
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W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 386. Vgl. Schenkels Brief vom 9. Juli 1849 an Heusler: D. Schenkel, Briefe (1840 – 1851), 222. 48 Vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 84. 49 Sowohl Hönig als auch Holtzmann erwähnen in ihren Artikeln, dass Schenkel bei seinem Amtsantritt den üblichen Eid auf das Zweite Helvetische Bekenntnis verweigert habe, worauf hin die Eidformel gelockert worden sei. Sie werten dieses Ereignis als ersten Ausdruck von Schenkels späterem Kampf für die Gewissensfreiheit, vgl. W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 386; H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 83. Dieser Hinweis ist allerdings zu hinterfragen: Die Darstellung Hönigs ist von Holtzmanns Artikel über Schenkel abhängig und ansonsten wird diese Begebenheit nirgends in der Literatur erwähnt; auch zu den Hintergründen, Beweggründen und Umständen von Schenkels Weigerung vermerken weder Hönig noch Holtzmann Einzelheiten. 50 W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 385. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor, von denen einer der theologischen Lauf bahn des Vaters folgte: Bernhard Schenkel (geb. 1844) wurde Domprediger in Bremen; Carl Schenkel (geb. 1845) war badischer Ministerialrat; Otto Schenkel (geb. 1855) wurde Bankdirektor. Tochter Sophie (geb. 1850) war mit dem Rechtsprofessor Siegfried Brie verheiratet, vgl. R. Ehmann, Schenkel (2010), 170. 47
2. Pastor in Schaffhausen (1842 – 1851)
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2.2. Das Wesen des Protestantismus. Schenkels Auseinandersetzung mit Georg Gottfried Gervinus Neben seiner Predigttätigkeit 51 und zahlreichen anderen Aufgaben beteiligte Schenkel sich weiterhin am aktuellen politischen sowie theologischen Tagesgeschehen. Ein Zentralthema war auch in dieser Zeit die Frage nach der letzten Autorität in Glaubensfragen, die sich konkret an der Frage nach der Schriftauslegung entzündete, wie Schenkel feststellte: »Die Einen halten an dem alt-protestantischen Grundsatze fest und sehen die Behauptung desselben für das alleinige Rettungsmittel unserer Kirche an, daß nur der h. Schrift in Glaubenssachen das oberste Ansehen zukomme; die Andern verwerfen das richterliche Ansehen der h. Schrift, aus welchen Gründen gilt gleichviel, und suchen an deren Stelle eine andere Autorität aufzupflanzen, der sich die Schrift, nach ihrer Meinung, unterwerfen müsse.« 52
Im Hintergrund stand dabei die größere Frage nach dem Wesen des Protestantismus, die immer stärker in den Vordergrund trat: Denn unter anderem durch die Durchsetzung der historisch-kritischen Methode schien die Schrift ihre unbedingte Autorität für den Protestantismus eingebüßt zu haben und damit einen Grundpfeiler protestantischer Identität zerstört zu sein.53 Von besonderer Bedeutung gerade auch im Hinblick auf die Protestantismusfrage war in der Schaff hauser Zeit die nächste größere Auseinandersetzung, in die Schenkel 1846 mit Georg Gottfried Gervinus54 über die deutschkatholische Bewegung verwickelt war.55 Gervinus war der Überzeugung, dass sich die Deutschkatholiken und die Protestanten wie ›Zwillingsbrüder‹ zueinander verhalten. Schenkel wiederum erkannte in Gervinius Schrift Die Mission der Deutschkatholiken56 den Vorwurf, dass die protestantische Geistlichkeit die deutschkatholische Bewegung nicht ausreichend unterstütze. 51
Schenkel veröffentlichte in dieser Zeit zahlreiche Predigtbände, vgl. D. Schenkel, Das Kommen des Herrn (1849); ders., Heilswort der Liebe (1850); ders., Trostworte der Hoffnung (1851). 52 D. Schenkel, Wissenschaft im Volksunterricht (1843), 15 f. 53 Vgl. dazu ausführlich III.1.1. 54 Georg Gottfried Gervinus (1805 – 1871) studierte zunächst Philologie in Gießen, bevor er 1826 zum Geschichtsstudium nach Heidelberg ging. 1835 wurde er hier zum a.o. Professor ernannt, wo er nicht nur Vorlesungen über Geschichte, sondern auch über Politik und Literaturgeschichte hielt. 1836 folgte er einem Ruf nach Göttingen. Allerdings musste er nur ein Jahr später das Land wieder verlassen, nachdem er als einer der Göttinger Sieben gegen die Auf hebung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes durch König Ernst August protestiert hatte. 1844 kehrte Gervinus nach Heidelberg zurück. 1848 nahm er zunächst an den Verhandlungen in der Paulskirche teil, legte allerdings schon nach wenigen Monaten sein Mandat nieder. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitete Gervinus an einer achtbändigen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Vgl. M. Blanckarts, Art. »Gervinus« (1879). 55 Vgl. D. Schenkel, Die protestantische Geistlichkeit (1846). 56 Vgl. G. Gervinus, Mission der Deutsch-Katholiken (1845).
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Gegen diese Vorwürfe wollte Schenkel die protestantische Geistlichkeit in Schutz nehmen und die seiner Meinung nach grundlegenden Differenzen zwischen Protestantismus und der deutschkatholischen Bewegung darlegen und zwar in Bezug auf das unterschiedliche Verständnis des Verhältnisses von Dogma und Moral, Philosophie und Theologie sowie Staat und Kirche. Sein Ziel war also, das Wesen des Protestantismus in diesen Fragen im Gegenüber zur deutschkatholischen Bewegung klar zu profilieren. Schenkel wendet sich in seiner Schrift gegen ein Verständnis des Protestantismus als vornehmlich sittliche Religion und betont demgegenüber den positiven Glauben, der seines Erachtens die Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns ist.57 Demgegenüber wirft Schenkel der deutschkatholischen Bewegung vor, die Moral gegenüber dem Dogma als Zentrum des Christentums zu behaupten, sodass sie wesentlich vom Protestantismus unterschieden sei. Die Betonung der Moral gegenüber dem Dogma versteht Schenkel als Ergebnis einer rationalistischen Anschauung, gegen die er den Protestantismus dezidiert abgrenzt. Damit der Glaube nicht der subjektiven Willkür des Einzelnen ausgeliefert ist, fordert Schenkel ein klares Bekenntnis, das er auch schon gegen Hengstenberg und Strauß eingefordert hat: »Und was soll am Ende überhaupt ein gemeinsames Bekenntniß nützen, wenn man es jedem Individuum oder jeder kleinern Gemeinschaft wieder überlassen will, es damit nach Belieben zu halten. Das ist allerdings ›Individualismus‹; das ist jene subjektive Zersetzung, die gegen jede objektive, geschichtlich gegebene Autorität als wider einen Gewissensstachel löckt, und sich nur dem eigenen Ich, der unbedingten Willkür des sich selbst bestimmenden Subjekts, unterwerfen will.« 58
Ob Schenkel hier ein spezielles Bekenntnis im Blick hat, wird nicht deutlich. Allerdings hebt er bestimmte Lehren – die Erbsündenlehre, Versöhnung durch das Heilswerk Christi sowie die Rechtfertigungslehre – hervor, die seiner Ansicht nach für den Protestantismus absolut grundlegend und nicht hintergehbar sind. Daraus folgt dann weiter sein konsequenter Widerspruch gegen allzu weit verstandene Toleranz, in der er den Grund für den Verfall des religiösen und sittlichen Lebens erkennt.59 So zieht sich durch die gesamte Schrift wie auch 57 Vgl. D. Schenkel, Die protestantische Geistlichkeit (1846), 18 f. Die Bedeutung des Dogmas hebt Schenkel in diesem Zusammenhang auch durch einen der wenigen biographischen Selbsteinschätzungen hervor: »Ich erinnere mich noch wohl der Zeit, wo ich selbst, durch jugendlichen Uebermuth verleitet, dieses oder jenes Dogma in der Kirchenlehre nicht einmal mehr der Beachtung werth fand (...).« (AaO., 15). 58 Aao., 11. 59 Vgl. aaO., 41. »Von dem Toleranzideal eines Gervinus fürchtet Schenkel Lauheit und Gleichgültigkeit des Einen gegen den Glauben des Andern, was nur ein Zeichen des religiösen Verfalls wäre und höchstens einen faulen Frieden begründen könnte.« (A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 51). Konkret geht es Schenkel in diesem Kontext um Toleranz gegenüber dem rationalistischen Standpunkt; als Konsequenz dieser Toleranz fürchtet Schenkel
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schon in der Antrittsvorlesung eine starke Betonung des ›objektiven Moments‹, verstanden als göttliche Offenbarung und Heilstat, das im Dogma festgehalten ist, welches wiederum als objektive Instanz der subjektiven Willkür des einzelnen Glaubenden gegenübersteht. Eng verbunden mit dem objektiven Moment ist auch in dieser Auseinandersetzung die Kirche. Gegen Gervinus hebt Schenkel hervor, dass die Kirche auf der Autorität Gottes gründet und nicht auf der Gemeinde, wie die deutschkatholische Bewegung meine. Diese Autorität Gottes werde von der Kirche als leitend anerkannt und gegenüber einem bloßen Subjektivismus vertreten. Das subjektive Moment tritt demnach deutlich zurück, obwohl Schenkel es nicht aufgibt, sondern auch in dieser Auseinandersetzung immer wieder betont, dass die objektive Heilstat Christi im Glauben persönlich angeeignet werden muss. In dieser Schrift zeigt sich darüber hinaus das für Schenkel charakteristische Bewusstsein für die Bedeutung der Religion für die kirchlichen, politischen und gesellschaftliche Fragen seiner Zeit: »Man mag sagen was man will, man mag es wenden wie man will: unbestritten ist und bleibt es, daß die religiösen und kirchlichen Fragen von einer vor kurzer Zeit noch kaum geahnten Bedeutung geworden sind, daß sich an diese und an keine anderen die größten Probleme der nächsten Zukunft anknüpfen.« 60
Diese Einschätzung prägt fortan Schenkels weiteres theologisches und kirchenpolitisches Schaffen und erklärt auch die Heftigkeit und Dringlichkeit, mit der er aktuelle religiöse, theologische oder kirchenpolitische Fragen angeht. Im Hintergrund steht die Beobachtung, dass »sich in unseren Tagen auf der einen Seite eben so sehr das Bestreben geltend [macht], sich religiös zu vertiefen, als auf der andern die Summe des in früherer Zeit gewonnenen religiösen Erwerbes zu verflüchtigen und den Lichtkern des Glaubens möglichst zu verdünnen« 61.
Vor allem letzteres hat Schenkel mit großer Sorge beobachtet, wie seine Entgegnung auf Gervinus’ These, »daß die letzte Stunde des religiösen Zeitalters geschlagen hat« 62 zeigt. Dagegen ist Schenkel davon überzeugt, dass »mit dem Zerfalle des religiösen Glaubens und der kirchlichen Einrichtungen (…) auch gewöhnlich der Staat« 63 zerfällt: Der christliche Glaube ist seines Erachtens nicht die Einheit, sondern vielmehr die Spaltung des deutschen Volkes in verschiedene Lager, vgl. D. Schenkel, Die protestantische Geistlichkeit (1846), 39 f. 60 AaO., 1. 61 AaO., 1 f. 62 D. Schenkel, Standpunkt des positiven Christenthums (1846), 15. Auch wenn Schenkel es nicht explizit erwähnt, dürfte hier im Hintergrund einerseits noch die Erinnerung an die Auseinandersetzungen um Strauß’ Leben Jesu (1835 f.) stehen, andererseits wird auch an die Veröffentlichung von Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christenthums (1841) zu denken sein. 63 D. Schenkel, Standpunkt des positiven Christenthums (1846), 17.
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Grundlage und Garant für das staatliche Leben und prägend für und wirksam in der Gesellschaft, eben weil Sittlichkeit im Glauben, und das heißt für Schenkel: in der Religion, begründet ist. Diese Überzeugung begründet die weitreichende Bedeutung, die Schenkel dem Glauben und der Kirche zuspricht und die seine Einschätzung der Tragweite der religiösen und kirchlichen Fragen begründet, die weit über den bloß theologischen wie auch kirchlichen Raum hinausgeht: Das positive Christentum ist die Kultur tragende Größe. Insgesamt wird auch hier eine konservative Haltung Schenkels deutlich, wie vor allem Schenkels Betonung des objektiven Moments zeigt; Adolf Hausrath erkennt in Schenkels Haltung sogar eine Abkehr von de Wettes Liberalismus hin zur pietistischen Partei.64 Allerdings wehrt sich Schenkel gegen den Vorwurf, der kirchlichen Orthodoxie anzugehören.65 Vielmehr rechnet er sich der Vermittlungstheologie zu, die, so Schenkel: »[M]it der Gegenwart nicht brechen, sondern die Gegenwart naturgemäß an die Vergangenheit anknüpfen will, weil sie die einmal festgesetzte Form des Protestantismus nicht für unabänderlich, aber das Wesen desselben für unerläßlich hält, weil sie an den Buchstaben nicht geistlos und engherzig anklammert, um so inniger aber sich in den Geist des Buchstabens zu vertiefen sucht, der, nach der Verheißung des Herrn, uns in alle Wahrheit leitet.« 66
Diese Unterscheidung eines wesentlichen Kerns des Protestantismus und der veränderlichen Form steht auch im Zentrum von Schenkels späterem Werk. Auf viele seiner Zeitgenossen wirkte die Auseinandersetzung mit Gervinus sehr befremdlich, wie Hausrath festhält: »[E]r schlug gegen den allgemein verehrten Führer der Göttinger Sieben einen so hochfahrenden Ton an, daß ihn David Friedrich Strauß einem kläffenden Spitze verglich, der eine gelassene, edle Dogge anbelle« 67. Auch einer möglichen Berufung an die Universität Heidelberg stand diese Auseinandersetzung im Wege: Der damalige badische Minister Beck lehnte den Vorschlag der theologischen Fakultät, Schenkel zu berufen, ab, da er »keinen so hitzigen Streittheologen für seine ohnehin von Parteien zerklüftete Hochschule« 68 wollte. 64
Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 51. Gervinus antwortete Schenkel mit dem Artikel Die protestantische Geistlichkeit und die Deutschkatholiken (Mit Bezug auf die unter diesem Titel erschienene Schrift D. Schenkel’s in Schaffhausen) (1846). Schenkels erneute Erwiderung ist unter dem Titel Der Standpunkt des positiven Christenthums und sein Gegensatz. Replik auf die Entgegnungen von G.G. Gervinus im »Morgenboten«(1846) veröffentlicht. Vgl. hier: D. Schenkel, Standpunkt des positiven Christenthums (1846), 33. 66 D. Schenkel, Die protestantische Geistlichkeit (1846), 80 [Hervorhebung im Original]. Auf die Wiedergabe der Sperrungen im Original wird im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, verzichtet, es sei denn, die Hervorhebung ist für den Sinn entscheidend. 67 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 51. 68 Ebd. 65
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2.3. Der wissenschaftliche Durchbruch. Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen des Reformationszeitalters dargestellt An die Auseinandersetzung mit Gervinus schließt sich thematisch das folgende, Schenkels weiteren (theologischen) Lebensweg bestimmende, dreibändige Werk Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen des Reformationszeitalters dargestellt69 an, mit dem Schenkel nicht nur einer theologisch interessierten Leserschaft, sondern vor allem in der wissenschaftlichen Welt bekannt wurde. So hält Hönig dieses Werk für das »umfassendste und wissenschaftlich bedeutendste Werk«70 Schenkels. Schenkel will mit dieser Untersuchung einen Beitrag zur Klärung der Frage nach dem Wesen des Protestantismus leisten, in deren Beantwortung er eines der größten Bedürfnisse der Zeit sieht, da nach seinem Urteil angesichts der Polemik der römisch-katholischen Kirche einerseits und den Parteienstreitigkeiten innerhalb des Protestantismus andererseits über diese Frage, nämlich was der Protestantismus seinem Wesen nach eigentlich sei, »größte Unklarheit zu herrschen schien«71. Sein Ziel ist es, den Protestantismus als eigenständige religiöse und sittliche Macht zu profilieren, die nicht nur – wie einige seiner Zeitgenossen meinten – in der Negation des Katholizismus besteht. Vielmehr ist Schenkel zufolge im Protestantismus das wahre Wesen der christlichen Religion erfüllt,72 was er durch die Auseinandersetzung mit den Quellen der Reformationszeit zu zeigen versucht. Dabei geht Schenkel von der Prämisse aus, dass das Wesen des Protestantismus sich in der Anfangszeit der Reformation vollständig ausgedrückt hat.73 Das heißt, die Identität des Protestantismus ist wesentlich aus den Anfängen der Reformation zu bestimmen. Bemerkenswert ist, dass Schenkel sich in dieser Untersuchung nicht nur auf die Hauptreformatoren beschränkt, »sondern auch die Ansichten und Strebungen solcher Männer, welche damals in zweiter Linie gestanden haben und von Seiten des kirchlichen Protestantismus als Ketzer betrachtet worden sind«74, einbezieht, um so ein möglichst vollständiges und kritisches Bild zu gewinnen. Ausgehend von dieser Stoffmenge versucht Schenkel durch die kritische Untersuchung der Quellen das Wesen des Protestantismus zu bestimmen, um katholisierende Überreste und Tendenzen, Widersprüche und zeitbedingte Formen auszuscheiden. Nach seinen eigenen Worten versucht das Werk somit nicht nur,
69
D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), 3 Bde. W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 386 f. 71 D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 1, VI. 72 »Das Wesen des Protestantismus ist das wahre Wesen der christlichen Religion.« (AaO., 70
1).
73 74
Vgl. III.3. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 84.
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»das, was jene Zeit im Kampfe der Meinungen aus sich heraus gearbeitet hat, ohne weitere Prüfung darzulegen, sondern es will zugleich die Probe machen, was davon stichhaltig und dauerhaft sei, und was durch Selbstwiderspruch sich selbst wieder auf hebe«75.
Geleitet wird Schenkel von der Überzeugung, dass das Christentum in der Reformation »nochmals auf seine Wurzel zurückgegangen«76 ist. Ein Kriterium, anhand dessen er die kritische Prüfung der Quellen durchführt, nennt Schenkel jedoch nicht. Damit entsteht hier eine ungelöste Spannung: Zwar erhebt Schenkel den Anspruch, »den Protestantismus in seiner Objectivität darzustellen«77, letztlich kann er aber dem hermeneutischen Zirkel nicht entkommen: Denn das Wesen des Protestantismus erhebt Schenkel einerseits zum Prinzip der Kritik in der Auseinandersetzung mit den Quellen, andererseits will er dieses ja erst aus den Quellen der Reformationszeit erweisen. De Wette und andere haben Schenkels Methode als »dialektische«78 bezeichnet, was Schenkel gelten lässt, sofern »jeder folgende Satz und jedes folgende Buch als Ergänzung und Erfüllung des vorangegangen verstanden sein will«79, den Vorwurf des ›Hegelianismus‹ dagegen weist er strikt zurück.80 Die Entscheidung Schenkels, das Wesen des Protestantismus anhand der Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen reformatorischen Theologen und Strömungen zu eruieren, impliziert bereits, dass er den Protestantismus als eins verstanden wissen will – die »confessionellen Unterschiede [erscheinen] als blos untergeordnete Momente« 81 – was wiederum die Forderung nach der Kirchenunion nach sich zieht, die Schenkel sogleich im Vorwort erhebt.82 Das Werk bildet damit eine erste (theologiegeschichtliche) Argumentationsgrundlage für Schenkels späteres kirchenpolitisches Engagement und Eintreten für die Union der beiden großen protestantischen Konfessionen. Der Auf bau des Werkes »ist aus der allgemeinen Ansicht des Verfassers vom Wesen der Religion und des Christenthums entsprungen« 83 und folgt Schenkels Forderungen nach einer objektiven Grundlage und der subjektiven freien An75
D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 1, VIII. AaO., 7. 77 AaO., XIII. 78 W. de Wette, Rez. zu: Das Wesen des Protestantismus (1848), 152. 79 D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 2 , X. 80 Gegen diesen Vorwurf erklärt Schenkel, dass ihn »die Resultate dieser Philosophie so wenig befriedigt« haben und »ihm ihr Widerspruch mit dem Christenthum allmälig so klar geworden« (ebd.) ist. Worin genau seiner Ansicht nach der Widerspruch besteht, erklärt Schenkel allerdings nicht. 81 D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 1, VIII. 82 Vgl. aaO., IX: »Nur glaubt der Verfasser umgekehrt für sich die Berechtigung in Anspruch nehmen zu dürfen, den Protestantismus seinem Wesen nach als eins, und jene [konfessionellen] Unterschiede blos als verschiedene Momente dieses einen Wesens zu fassen (…). Die Union der confessionellen Unterschiede innerhalb des Protestantismus (…) ist gewiß eine der großartigsten Aufgaben unserer Zeit.« 83 W. de Wette, Rez. zu: Das Wesen des Protestantismus (1848), 144. 76
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eignung derselben. Auch wenn Schenkel schon in seinen vorherigen Veröffentlichungen stets die Vermittlung von objektivem und subjektivem Moment – er spricht hier nunmehr von den theologischen und anthropologischen Seiten – eingefordert hat, ist mit der Betonung der subjektiven freien Aneignung der objektiven Heilsoffenbarung die Bedeutung des Subjekts nochmals stärker betont, gleichwohl Schenkel es eindeutig dem theologischen Moment nachordnet: »Es ist dem Verfasser während seiner Arbeit recht klar geworden, daß die anthropologischen Fragen des Protestantismus nur dann richtig beantwortet werden können, wenn diese Beantwortung auf einer wahren und festen theologischen Grundansicht ruht, und die Gefahr der subjectiven Verwilderung ist unvermeidlich, wenn die Erlösungslehre einseitig vom anthropologischen Standpunkte aus deduciert wird.« 84
Mit dieser Feststellung richtet Schenkel sich ausdrücklich gegen Schleiermacher, dem er vorwirft, das theologische Moment der Religion – das heißt für ihn die objektive Heilsoffenbarung Gottes, die dem Subjekt vorausgeht – nicht entwickelt zu haben, was aber für den Religionsbegriff wesentlich sei.85 Die weitverbreitete Auffassung vom Formal- und Materialprinzip des Protestantismus lehnt Schenkel ab und nimmt stattdessen zunächst ein dreifaches Prinzip an,86 das die drei Entwicklungsstadien, die Schenkel zufolge allgemein die Religion sowie das Christentum und schließlich auch der Protestantismus selbst durchlaufen haben, in sich vereint. Das Christentum versteht Schenkel als die Überwindung und Versöhnung der theologischen und anthropologischen Religion als theanthropologische Religion.87 Diese Entwicklung habe das Christentum sodann auch selber in sich noch einmal durchlaufen88 , wobei »das wahre Wesen der christlichen Religion« 89 erst in der Reformation, in der religiösen Erscheinungsform des Protestantismus verwirklicht sei – der ebenfalls die drei Stadien durchlaufen habe und jetzt an der Schwelle zur Vollendung 84
D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 1, X. »Eine Verirrung, an der, leider! Schleiermacher bei seinen großen Verdiensten eine nicht kleine Schuld mitträgt, so fern er es in seiner Glaubenslehre nirgends zu einer theologischen Erkenntniß der Religion bringt, sondern diese nur anthropologisch zu begreifen weiß.« (AaO., IX f.). Später modifiziert Schenkel seine Kritik an Schleiermachers Religionsbegriff, vgl. dazu III.4.1.2.2. 86 Zur Prinzipienfrage des Protestantismus vgl. III.2. 87 Die theologische Religion hat ihre Erscheinungsform im Paganismus, die anthropologische im Judentum. Auf der ersten Stufe stellt sich der Mensch Gott bloß als seinen Gegensatz vor; auf der zweiten Stufe »ist Gott nicht mehr der Gegensatz des Menschen, der ihm fremd ist, sondern der Zwiespalt des Menschen mit sich selbst.« (D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 1, 2). 88 Zunächst war nach Schenkel auch das Christentum wesentlich theologischer Natur, das heißt »abstrakt, begriffsmäßig, unerquicklich« (aaO., 3), in seiner zweiten anthropologischen Phase, die nach Schenkel mit Augustin beginnt, liegt der Schwerpunkt auf der Frage nach dem Frieden des Gewissens; in der dritten Phase sucht auch das Christentum die beiden entgegengesetzten Stufen zu überwinden und zu versöhnen und zwar in der Kirche, vgl. ebd. 89 AaO., 1. 85
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stehe.90 Diese Voraussetzungen strukturieren das gesamte Werk: Im ersten Band behandelt Schenkel zunächst die theologischen Fragen, das heißt »die objective Erkenntniß- oder Offenbarungsquelle im Worte Gottes, Christo und dem Sakrament«91. Dem entsprechen im zweiten Band die anthropologischen Fragen, »die Sünde als der subjective Irrthum, (…) der Glaube als der Mittelpunkt der menschlichen Gottes-Empfänglichkeit, (…) die Werke als die Darstellungsmittel des Glaubenslebens«92 . Abgeschlossen wird das Werk mit der Ekklesiologie, die Schenkel wiederum nach den Gliederungsprinzipien der ersten beiden Bände auf baut: »die Idee des allgemeinen Priesterthums als Subject-Object der Menschheit in Gott, der Idee der objectiven Wahrheit (im Worte), und des subjectiven Irrthums (in der Sünde); die Kirchenverfassung als Ausdruck für die gottmenschliche Persönlichkeit der Kirche, der Person Christi und dem Glaubenssubjecte, und endlich der Cultus als das gemeinsame Thatleben der Kirche, dem Sacramente und den subjectiven Glaubenswerken« 93.
Als Ausdruck der Gemeinschaft von Gott und Mensch in der Kirche bezeichnet Schenkel diese Fragen als »theanthropologisch«94 – in der Kirche ist demnach der Gegensatz von Gott und Mensch zur Gemeinschaft aufgehoben. In dieser zweiten Phase Schenkels als Prediger in Schaff hausen tritt die Frage nach dem Wesen des Protestantismus in den Vordergrund. Theologisches und anthropologisches Moment sowie deren Vermittlung dienen Schenkel jetzt der Identitätsbestimmung des Protestantismus, wobei er die Priorität weiterhin dem theologischen, also objektiven Moment zuschreibt. Gegenüber den bisher besprochenen Veröffentlichungen fällt jedoch auf, dass Schenkel das anthropologische Moment stärker mit dem theologischen zu verbinden sucht. Das geschieht vor allem im Rahmen der Ekklesiologie, sodass die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch gleichsam zum Zielpunkt des Protestantismus wird. Kurz nach der Veröffentlichung des ersten Bandes erhielt Schenkel 1847 seinen ersten Ruf nach Bonn, wo er die Nachfolge von Carl Nitzsch antreten sollte. Der Ausbruch der Revolution 1848 verhinderte das Unternehmen allerdings. 1850 kehrte Schenkel zunächst nach Basel zurück, wo er zum Nachfolger seines Lehrers de Wette berufen worden war. Einen Ruf nach Halle hatte er zuvor
90
Vgl. aaO., § 1; zu Letzterem vgl. bes. aaO., 7 ff. AaO., XIV. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Der Begriff »Theanthropologie« war unter den Vermittlungstheologen verbreitet und bezeichnet allgemein die durch das Heilswerk Christi wiederhergestellte Einheit von Gott und Mensch. 91
3. Die erste Heidelberger Zeit (1851 – 1857)
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abgelehnt.95 Allerdings sollte Schenkel nur kurz in Basel bleiben: Ein Jahr später folgte er einem Ruf der Universität Heidelberg, die für den Rest seines Leben seine Wirkstätte bleiben sollte.
3. Die erste Heidelberger Zeit (1851 – 1857) Die Berufung Schenkels nach Heidelberg, wo durch den Weggang Richard Rothes nach Bonn ein Lehrstuhl zu besetzen war, erfolgte in erster Linie auf Betreiben Carl Ullmanns96 , wobei man im Oberkirchenrat (OKR) davon ausging, wie es der neue Präsident des OKR Wilhelm Freiherr von Wöllwarth (1800 – 1967) ausdrückte, mit Schenkel »einen Mann in seinen besten Jahren, von festem Charakter und entschieden conservativer Gesinnung«97 zu berufen, wie er sie im Rahmen der verschiedenen Auseinandersetzungen der letzten Jahre gezeigt hatte. Allerdings war die Berufung Schenkels gerade deswegen in Heidelberg nicht unumstritten: Es gab Befürchtungen, dass seine Berufung als »Symptom einer beginnenden Reaction«98 gewertet werden könnte. Ullmann konnte sich jedoch schließlich mit seinem Kandidaten durchsetzen.99 Darauf, dass die Parteistellung Schenkels allerdings keineswegs so sicher war, wie man meinte, weist Hausrath hin: 95
Vgl. W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 387. Carl Christian Ullmann (1796 – 1865) studierte evangelische Theologie in Tübingen und Heidelberg, wo er 1819 auch promovierte. Bei einem Aufenthalt in Berlin wurde er nachhaltig von Schleiermacher und August Neander geprägt. 1826 wurde Ullmann zum ordentlichen Professor in Heidelberg ernannt. 1828 begründete er gemeinsam mit Umbreit u. a. die ThStKr, vgl. oben Anm. 24, ein Jahr später erhielt er einen Ruf an die Universität Halle, wo er Kirchengeschichte, Dogmatik und Symbolik lehrte und gegen Hengstenberg für die wissenschaftliche Lehrfreiheit eintrat. Letzterer hatte in der EKZ 1830 einen Artikel von Ernst Ludwig von Gerlach über den Hallenser Rationalismus veröffentlicht, in dem dieser offen »die ›unbedingte Lehrfreiheit‹ theologischer, vom Staat verpflichteter Professoren in Frage stellte und ihre Bindung an die ›reine […] Lehre nach den Bekenntnißschriften der Kirche‹ forderte« (M. Deuschle, Hengstenberg (2013), 479). Ullmann kehrte 1836 zurück nach Heidelberg. Nach den Revolutionswirren 1848 war er darum bemüht, die positiven Kräfte in der badischen Kirche zu stärken, auf diese Weise eine kirchliche Reform und die Wiederbelebung des evangelischen Lebens zu fördern. 1853 wurde er zum Prälaten im badischen Oberkirchenrat berufen, seit 1856 war er zudem Direktor des Oberkirchenrates, sodass er die beiden leitenden Positionen der badischen Landeskirche in Personalunion innehatte. Beide Ämter legte er 1861 nieder, vgl. dazu auch II.4.2. Zu Ullmanns theologischer Entwicklung vgl. H. Pfisterer, Ullmann (1977). 97 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 216. 98 Ebd. Auch Baden wurde nach der Revolution 1848 von der Restauration erfasst, allerdings blieb der Liberalismus in Baden eine stets ernstzunehmende Kraft, vgl. L. Gall, Liberalismus (1986), 58 ff. 99 Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 216. Dass diese Befürchtung nicht unbegründet war, zeigt Bauer. – Die theologische Fakultät stand durch Schenkel im Ruf, ein »reaktionärer Faktor im Staatsleben« (K. Bauer, Adolf Hausrath (1933), 141) zu sein. 96
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
»Die Begabung des Neuberufenen stand mithin außer aller Frage und ebenso war es sicher, daß er Leben in die Kreise bringen werde, in die er eintrat. Schwieriger war vorherzusagen, zu welcher Seite der Ankläger Hurters und Beschützer der Jesuitenkantone100, der Schüler de Wette’s und Freund des Hoffmann’schen Missionshauses, der Mitarbeiter Ruge’s101 und Mitarbeiter Ullmanns sich schlagen werde? Alle theologischen Richtungen hatte Hypotheken auf seine Seele und an seiner seitherigen Thätigkeit Anhaltspunkte, ihn zu den Ihren zu zählen.«102
Zunächst blieb Schenkel aber ganz auf der Linie derer, die ihn berufen hatten und rückte durch die Berufung zunächst noch weiter nach rechts, wie er selber bekannte: »Ich ging natürlich mit denen, die mich berufen hatten, nicht mit denen, die gegen mich waren.«103 Schenkel hatte in Heidelberg den Lehrstuhl für Praktische Theologie inne und wurde Direktor des dortigen Predigerseminars sowie erster Universitätsprediger. Allerdings beschränkten sich seine Vorlesungen keineswegs auf das Gebiet der Praktischen Theologie: »Er las mit Ausnahme der geschichtlichen Theologie fast über das Gesammtgebiet der Wissenschaft: Homiletik, Liturgik, Katechetik, aber auch Dogmatik, Ethik, Religionsphilosophie, biblische Theologie, Exegese.«104 Kaum in Heidelberg angekommen, entfaltete Schenkel eine enorme Tätigkeit; es gab keine (kirchliche) Frage mehr, die er unberührt ließ. In den ersten Jahren zielten Schenkels Angriffe vor allem gegen die römisch-katholische Kirche bzw. die Jesuitenmission, die Anfang der 1850er Jahre massiv in Heidelberg auftrat105 und gegen die Schenkel leidenschaftlich von der Kanzel wetterte106 . In 100 Im Hintergrund steht der Sonderbundkrieg in der Schweiz 1847, vgl. R. Roca, Sonderbund (2011). 101 Hausrath spielt auf Schenkels Mitarbeit bei den Hallischen Jahrbüchern an, die ein zentrales publizistisches Organ der Junghegelianer waren. Er bezieht sich auf einen angeblichen Artikel Schenkels aus dem Jahr 1838, der sich dort allerdings nicht nachweisen lässt, vgl. aber D. Schenkel, Kampf der schaff hausischen Geistlichkeit (1841). In demselben Jahr ist auch ein Artikel Schenkels in den ThStKr erschienen, was die positionelle Bedeutung der Veröffentlichung in den Hallischen Jahrbüchern wieder relativiert. Da diese Phase von Schenkels Leben und Werk insgesamt für den Zusammenhang dieser Arbeit nicht relevant ist und es auch kaum weitere Quellen dazu gibt, wird hier nicht näher darauf eingegangen. 102 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 218. 103 AaO., 219. 104 W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 388. 105 Die Jesuitenmission steht im Kontext der seit der Restaurationszeit immer stärker werdenden ultramontanen Ausrichtung des Katholizismus in Europa, von der auch die Bevölkerung ergriffen wurde. Dies führte zu großen Spannungen zwischen den Konfessionen sowie zahlreichen Kulturkämpfen in beinahe allen deutschen Staaten, was die ultramontanen Tendenzen in der Bevölkerung jedoch nur verstärkte. Vgl. J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 243 ff. 106 Einen Einblick in die überaus pathetischen Predigten Schenkels gegen die Jesuitenmission gibt Kuno Fischer: »Später erzählte Fischer, Schenkel habe bei seiner Predigt auf die vor ihm liegende Bibel geschlagen und gerufen: ›Dieses Buch, wie schön ist es doch! Es kommt mir vor wie ein Rosengarten, je mehr Rosen ich pflücke, um so mehr wachsen nach.‹ Dann ein neuer Schlag: ›Dieses Buch, wie schön ist es doch! Es kommt mir vor wie der Sternen-
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zahlreichen kleinen populärwissenschaftlichen Gelegenheits- und Streitschriften versuchte Schenkel, das Wesen des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus zu profilieren und zu verteidigen und auf diese Weise das protestantische Bewusstsein in den Gemeinden zu stärken.107 Daneben trat Schenkel gerade zu Beginn seiner Heidelberger Zeit bei zahlreichen kirchlichen Versammlungen und Vereinen als Redner auf und wurde so ebenfalls einer breiten Öffentlichkeit bekannt: Schon 1851 hielt er die Festrede beim Missionsverein in Mannheim; 1852 hielt er bei der Inneren Mission zahlreiche Vorträge über Das Wesen des christlichen Glaubens108 ; auf dem Kirchentag in Berlin äußerte er sich 1853 zur Bekenntnisfrage109. Außerdem wurde Schenkel Mitglied des Zentralausschusses des Gustav-Adolf-Vereins, der es sich zu seiner Aufgabe gemacht hatte, Protestanten in der Diaspora zu unterstützen. Hengstenberg stellte schließlich in der EKZ fest, dass »Schenkel (…) überhaupt der Mann des Tages unter der badischen Geistlichkeit«110 war. Etwas verwundert reagierte die konservative Presse allerdings 1851 auf Schenkels Grabrede auf den Heidelberger Rationalisten Heinrich E. G. Paulus111, in der Schenkel »all die großen Eigenschaften, die Paulus besaß, mit oratorischem Nachdruck«112 betonte, sodass Hengstenberg in der EKZ wetterte: »Es macht dem frommen Professor nichts, den Mann als einen überzeugten Christen u.s.f. zu beloben (...). Ewige Schande!«113 Allerdings darf man diese Rede nicht als Zeichen eines theologischen Umschwungs in Schenkels Denken werten: Schenkel ist selber nie Anhänger des Rationalismus gewesen – auch wenn seine Gegner ihm das später immer wieder vorgeworfen haben – sondern hat sich vielmehr in fast all seinen Publikationen in seiner gesamten Lauf bahn dezidiert gegen diesen gewendet114 – und zum anderen bezog er schon in den nächsten Auseinandersetzungen wieder eine eindeutig konservative Position.
himmel, je länger ich hineinschaue, um so mehr Sterne entdecke ich.‹ Ein neuer Schlag: ›Dieses Buch, wie schön ist es doch! Es kommt mir vor, wie der Ozean, je tiefer ich die Netze senke, um so mehr Perlen finde ich.‹« (Zitiert in: A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 228). 107 Hiervon zeugen folgende Schriften: D. Schenkel, Fels oder Sand (1851); ders., Zeugnisse (1851); ders., Gesetzeskirche und Glaubenskirche (1852); ders., Die gute Sache (1853). 108 Vgl. D. Schenkel, Wesen des christlichen Glaubens (1854). 109 Vgl. W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 389. 110 EKZ, 48 (1851), 900. 111 Vgl. F. W. Graf, Paulus (1990). 112 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 224. Leider sind mir von dieser Grabrede nur sekundäre Notizen bekannt. 113 E. W. Hengstenberg, Nachrichten (1851), 901. 114 Vgl. z. B. D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), § 1, bes. 1 – 5.
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3.1. Positive Grundlagen des Protestantismus. Die Auseinandersetzung mit dem Bremer Pastor Rudolph Dulon 1852 war die Heidelberger Fakultät vom Bremer Senat um ein Gutachten gebeten worden, ob die Klage einiger Gemeindemitglieder gegen den Bremer Pastor Rudolph Dulon115, »daß er dem Christenthum nicht angehöre, sondern demselben feindlich gegenüberstehe, daß er das Evangelium bestreite und verhöhne, den Glauben der reformierten Kirche verläugnet habe und noch immer verläugne«116 , begründet sei, und welche Maßnahmen in diesem Falle zu ergreifen sind. Dulon war einer vorherigen Anfrage des Senats, sich in dieser Angelegenheit zu erklären, nicht nachgekommen mit dem Hinweis, dass dem Senat in Glaubensfragen keine Richtkompetenz zukomme, sodass sich der Senat nun an die Fakultät wandte. Schenkel nahm sich der Aufgabe sogleich an und untersuchte in seinem Gutachten die Vorwürfe gegen Dulon, wobei die grundsätzlichen Fragen nach Grenzen der Lehrfreiheit und dem Verhältnis von Obrigkeit und Kirche im Vordergrund standen.117 In dem Gutachten betont Schenkel, dass es nicht darum ginge, mit allen Grundlehren des Christentums übereinzustimmen; lediglich vom Kern der christlichen Glaubenslehre dürfe Dulon nicht abfallen. Als den Kern erweist Schenkel – wie schon gegen Gervinus – die Erbsünden- und Rechtfertigungslehre, die Dulon, so Schenkel, beide verwerfe.118 Darüber hinaus sieht Schenkel auch die Anklage, dass Dulon die Glaubwürdigkeit der Schrift bestreite, als erwiesen an: Dulon verstehe die Schrift gleichermaßen als Menschen- und Gotteswort, wobei jeder selber entscheiden müsse, welches was sei.119 Gegen Dulon, der sich auf die Lehrfreiheit berufen hatte, erklärt Schenkel, dass die Bekenntnisschriften in der reformierten Tradition sehr wohl bindend seien, da Freiheit und Selbständigkeit der Kirche tatsächlich erst durch diese gewährleistet würden. Die Lehrfreiheit will Schenkel gar nicht infrage stellen, aber gegenüber Dulon erklärt er, dass diese Lehrfreiheit nur innerhalb eines bestimmten, von den Bekenntnisschriften abgesteckten Rahmens ausgeübt werden könne.120 115 Rudolph Dulon (1807 – 1870) studierte rationalistische Theologie in Halle. 1848 wurde er zum Pastor in Bremen gewählt. Im Zuge der Auseinandersetzungen um seine Lehre wurde er auch sozialistischer Bestrebungen verdächtigt und hierfür zu sechs Monaten Haft verurteilt. Dulon war jedoch zuvor schon nach Helgoland geflüchtet, von wo aus er nach Nordamerika auswanderte. Vgl. H. Mulert, Art. »Dulon« (1910). 116 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 221. 117 Der genaue Verlauf des Streits ist für diesen Zusammenhang nicht interessant, vgl. die entscheidenden Schriften D. Schenkel, Schutzpflicht des Staates (1852); Gutachten der theologischen Fakultät (1852); T. Dittenberger, Votum (1852); R. Dulon, Gutachten (1852). Darüber hinaus finden sich zahlreiche Artikel und Nachrichten über den Bremer Kirchenstreit in der Allgemeinen Kirchenzeitung aus dem Jahre 1852, bes. Nr. 42. 46 f. 56 u. ö.; vgl. auch A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 221 ff. 118 Vgl. Gutachten (1852), 30. 119 Vgl. aaO., 66 ff. 120 Vgl. aaO., 93. 110. u. ö.
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Damit betont Schenkel in dieser Auseinandersetzung erneut das objektive Moment, – das er hier wieder mit den Bekenntnisschriften in Verbindung bringt – das die Schrift vor einer rein subjektiven Auslegung bewahren soll. Ganz deutlich bezieht Schenkel hier gegen liberale Thesen Stellung und zwar sowohl im Hinblick auf die Kirchenverfassung als auch das Verhältnis von Kirche und Staat. So lehnt Schenkel den Vorwurf, dass die Gemeinden stärker an dem gesamten Prozess hätten beteiligt werden müssen, ab: »Ueberhaupt mißbilligen wir die moderne Theorie, welche den Geistlichen unter die Jurisdiction der Gemeinde stellt, völlig; sie ist weder reformirt, noch lutherisch, sie ist modern-radikal und führt zum Democratenthume und zur Massenherrschaft in der Kirche.«121
Angesichts der Tatsache, dass Schenkels erste Amtshandlung in Schaff hausen darin bestanden hatte, Presbyterien einzurichten, erscheinen derartige Aussagen zunächst höchst widersprüchlich. Allerdings impliziert die Einrichtung von Presbyterien keineswegs, dass die kirchlichen Institutionen durch demokratische Prinzipien organisiert werden, und das Verhältnis zwischen der Institution und den Presbyterien ist keineswegs eindeutig. Darüber hinaus darf diese Aussage auch nicht dahingehend missverstanden werden, als plädiere Schenkel für eine stark hierarchisch verfasste Kirche, in der die Hierarchie gegenüber der Gemeinde steht. Ihm geht es vielmehr darum, wie er auch schon in der Auseinandersetzung mit Gervinus deutlich gemacht hat, dass die Autorität der Kirche und der Geistlichkeit nicht auf der Gemeinde beruhen darf, sondern allein in Christus und seinem Auftrag und somit in göttlicher Autorität begründet ist. Deutlich wird, dass hinter Schenkels Haltung noch die Erfahrung der Revolution von 1848 steht, die Schenkel kritisiert hatte, da sie seines Erachtens Ausdruck und Ergebnis eines gottlosen Freiheitsstrebens war.122 So überträgt er die Ablehnung bestimmter politischer Grundsätze auch auf die Diskussion um die Kirchenverfassung, worauf im Folgenden noch weiter einzugehen ist. Daneben lehnt Schenkel auch die liberale Forderung der Paulskirchenversammlung nach einer strikten Trennung von Kirche und Staat ab, denn er sieht die enge Verbindung von Kirche und Staat bei allen Reformatoren begründet: Der Staat hat eine Schutzpflicht gegenüber der Kirche, er sorgt für die äußere Ruhe und Sicherheit der Kirche, die wiederum für die religiöse und sittliche Förderung ihrer Gläubigen verantwortlich ist, die eine Grundbedingung für die Existenz jedes Staates überhaupt ist.123 Damit greift Schenkel ein weiteres, 121
D. Schenkel, Schutzpflicht des Staates (1852), 18 f. Die zitierte These erinnert hier in ihrer Härte tatsächlich an ekklesiologische Motive der Reaktion, vgl. dazu IV.1.3. 122 Vgl. dazu auch II.3.2. 123 Vgl. Gutachten (1852), 110 ff.; vgl. dazu IV.4. Die in der Paulskirchenverfassung bestimmte Trennung von Kirche und Staat wurde insbesondere von der katholischen Kirche begeistert aufgenommen, während man in der protestantischen Kirche dieser Forderung durchaus auch skeptisch gegenüber stand: »Sie war so eng mit dem Staat verbunden, dass sie
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aus der Auseinandersetzung mit Gervinus bekanntes Motiv auf, das vor dem Hintergrund der Revolutionserfahrungen für Schenkel nochmals Bestätigung findet, und das später, wenn auch stark differenziert und unter anderen Vorzeichen, zu einem zentralen Aspekt seiner Protestantismustheorie wird. Der Bremer Senat folgte dem Gutachten von Schenkel zwar, Hausrath beurteilte das Ergebnis dieser Auseinandersetzung jedoch negativ: »Für Schenkel war jenes erste Debut in der deutschen Kirchenfrage verhängnißvoll. Von den liberalen Zeitungen gröblich beleidigt, von den Pietisten mit Beglückwünschungen und Zustimmungen überschüttet, schien er bis auf Weiteres der reactionären Partei verfallen.«124
3.2. Wahre Freiheit als Grundlage des christlichen Staates. Gespräche über Protestantismus und Katholicismus Die Position, die Schenkel in der Auseinandersetzung mit Dulon einnahm, wird noch deutlicher vor dem Hintergrund der in zwei Bänden erschienenen Gespräche über Protestantismus und Katholicismus125, die Schenkel ebenfalls 1852/53 veröffentlicht hat. Er lässt hier in einem fingierten Dialog die Vertreter der religiösen Hauptströmungen seiner Zeit – einen Jesuiten, einen Rationalisten, einen Konfessionalisten, einen positiven Vermittlungstheologen sowie eine religiös interessierte, aber von den verschiedenen Strömungen verwirrte Gräfin – miteinander diskutieren. Die Gespräche bieten somit ein besonders instruktives Portrait von Schenkels Wahrnehmung und Deutung der theologischen Landschaft seiner Zeit, wobei seine eigene Position in der Person des ›Treumund‹, dem positiven Vermittlungstheologen, zur Sprache kommt. Auch im Hinblick auf Schenkels Deutung und Bewertung der Revolution sowie der politischen Fragen seiner Zeit ist diese Veröffentlichung aufschlussreich, da die Hauptfiguren auch auf aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen eingehen. In der Auseinandersetzung mit Dulon hat sich gezeigt, dass Schenkel Motive aus der Diskussion um die Revolution von 1848 aufnimmt und diese ursprünglich politischen Kategorien auf die kirchlichen Debatten überträgt.126 Die Frage nach der Begründung und den Grenzen von Freiheit spielte darin eine besondere Rolle. Der Freiheitsthematik geht Schenkel auch in den Gesprächen nach und beleuchtet sie aus der Perspektive der verschiedenen Lager. Wiederum wendet er sich sowohl gegen einen theologischen als auch politischen Liberaliseinfach noch nirgendwo in der Lage war, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen, ohne die Hilfe staatlicher Stellen in Anspruch zu nehmen.« (M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006), 99). 124 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 224. 125 D. Schenkel, Gespräche (1852/53), 2 Bde. 126 Zur deutschsprachigen Deutung und Rezeption der Französischen Revolution vgl. M. Rose, Staatslehre (2011), 30 – 106.
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mus sowie gegen den politischen Katholizismus, wobei sich sein Widerspruch eben insbesondere an den jeweiligen Freiheitsbegriffen entzündet. Die Gespräche folgen keinem strikt systematischen Auf bau. Vielmehr erörtern die Gesprächspartner in unterschiedlichen Konstellationen und in loser Reihenfolge ganz verschiedene Themen und knüpfen dabei immer wieder an vorangegangene Gesprächsgänge an, sodass die verschiedenen Themen, wie zum Beispiel die Bedeutung von Bekenntnisschriften, in unterschiedlichen Bezügen und Kontexten erörtert werden.127 Ausgangspunkt bildet die Beobachtung und These der ›Gräfin‹, dass das religiös-soziale Bedürfnis der Zeit von vielen Politikern nicht erkannt wird.128 Damit sind die folgenden zum Teil rein theologischen Diskussionen von vornherein auch auf die politischen und gesellschaftlichen Fragen bezogen. Es lassen sich zunächst vier große politische Bewegungen im 19. Jahrhundert identifizieren, die sich dann in den verschiedenen Parteibildungen weiterentwickeln und ausdifferenzieren: Sozialismus, Liberalismus, Nationalismus und Konservativismus.129 Die letzteren drei stehen im Hintergrund der Gespräche, für die darüber hinaus noch der politische Katholizismus relevant ist. Der deutsche Liberalismus wurde insbesondere von der Auf klärung wie auch den Ideen der Französischen Revolution geprägt. Im Zentrum der liberalen Anschauungen steht das autonome Individuum: Die individuelle Freiheit wird als Grundlage des individuellen wie auch gesellschaftlichen Wohlergehens angesehen. Diese Freiheit verwirklicht sich innerhalb der staatlichen Grenzen und Gesetze, wobei Letztere sich aus der Vernunft ableiten lassen.130 Eng verbunden mit dem liberalen Prinzip ist das demokratische Prinzip, gleichwohl beide nicht identisch miteinander sind: Tatsächlich war das Verhältnis des deutschen Liberalismus zur Demokratie zunächst durchaus ambivalent, was in den Erfahrungen der Französischen Revolution begründet war. »Der Auf bruch der Freiheit steht im Schatten des Schreckens, das mindert den Elan, das macht ihn vorsichtig.«131 So wollte man die Reformen nicht gewaltsam umsetzen, vielmehr sollte der Staat sich reformieren und weite Kreise des Liberalismus erkannten »[d]ie 127 Im Rahmen dieser losen Reihenfolge lassen sich Umrisse eines klassisch heilsgeschichtlichen Auf baus erkennen. So stehen am Anfang vor allem Fragen nach der Bedeutung der Schrift sowie der angemessenen Schriftauslegung, bevor dann z. B. Harmatiologie, Anthropologie und Christologie erörtert werden. Mit Abstand am meisten Raum nimmt die Auseinandersetzung über die Kirche ein. Sie wird in fast allen Gesprächsgängen in ihren ganz unterschiedlichen Bezügen und Aufgaben thematisiert. 128 Vgl. D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 1, 4 ff. 129 Vgl. zum Folgenden bes. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 286 – 319. Nipperdey nennt den Sozialismus zwar als große politische Bewegung, geht im Folgenden dann jedoch nicht weiter auf ihn ein. Da der Sozialismus für Schenkel keine nennenswerte Rolle spielt, wird er auch in diesem Zusammenhang nicht weiter thematisiert. 130 Vgl. aaO., 286 ff. 131 AaO., 288.
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beste Staatsform (…) im Rechts- und Verfassungsstaat der konstitutionellen Monarchie mit ihrem System der Gewaltenteilung«132 . Darin ist zwar das Prinzip der Volkssouveränität im konstitutionellen Moment festgehalten, gleichwohl wird dieses insofern wieder eingeholt, als das allgemeine Wahlrecht nicht Bestandteil des Grundrechtekatalogs des Liberalismus ist, sondern an bestimmte vor allem ökonomische Voraussetzungen gebunden wird.133 Einer ungebundenen freien Macht des Volkes standen viele Liberale skeptisch gegenüber. So wurden die demokratischen Forderungen, die Schenkel als gleichsam liberales Schreckgespenst ablehnt, lediglich von einem radikalen Flügel des Liberalismus seit den 1830ern und verstärkt dann seit den 40er Jahren gefordert, sie stellen aber nicht zwingend einen genuin liberalen Grundsatz dar. Schenkel lehnt allerdings nicht nur diesen demokratischen Liberalismus ab, sondern kritisiert vielmehr die Grundanschauungen des Liberalismus. Sein bereits bekanntes Diktum, dass der Staat für seine Entwicklung und Wohlfahrt christlicher Grundlagen bedürfe, da nur auf Grund des christlichen Glaubens wahre Freiheit möglich sei, wiederholt er in den Gesprächen. Die Prämisse, von der Schenkel hier ausgeht, und die sich durch sein gesamtes theologisches Werk zieht, ist, dass diese wahre Freiheit nur in der Bindung des Menschen an Gott realisiert ist. Während die Demokraten seiner Ansicht nach eine ungebundene Freiheit forderten und der Liberalismus eine Freiheit innerhalb staatlicher Gesetze, sieht Schenkel nur im christlichen Glauben diese Bindung und damit Freiheit verwirklicht.134 Dass wahre Freiheit nur in Gott möglich ist, begründet ›Treumund‹ bzw. Schenkel schöpfungstheologisch: Der Mensch ist Geschöpf Gottes und zur Gemeinschaft mit ihm bestimmt. Sünde definiert er dagegen als »unmäßigen Freiheitstrieb«135, bei dem der Mensch außerhalb von Gott frei sein wolle. Eben diesen Freiheitsbegriff meint er insbesondere in der Position der Demokraten, aber eben auch der Liberalen – die immerhin anerkennen, dass Freiheit nur innerhalb von bestimmten Schranken möglich ist – zu erkennen. 132 Ebd. Zum Problem der konstitutionellen Monarchie vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassungstyp (1972). 133 Die Beschränkung des Wahlrechts war nach dem Selbstverständnis der meisten Liberalen kein Widerspruch zur Orientierung an der Freiheit des Individuums: »Bildung und Besitz, das waren die Voraussetzungen für das politische Vorrecht, wählen zu dürfen und – zu können. Und weil das Bürgertum sich als ›allgemeiner Stand‹ empfand, der das wahre Interesse aller vertrat, brauchte es bei dieser Definition des Wahlrechts kein schlechtes Gewissen zu haben.« (Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 293 f.). 134 »Allein eben damit geben Sie selbst zu, daß die ungehinderte Entwicklung der nationalen Volkskraft und die ungehemmte Bildung des Geistes an bestimmte Schranken gebunden ist. (…) Und wie wahr ist es auch: es gibt überhaupt keine Freiheit ohne Schranke.« (D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 2, 66). Im weiteren Gesprächsverlauf erklärt ›Treumund‹ dann sein Verständnis dieser Schranke: »Aber die Freiheit des Menschen ist ihrem innersten Wesen nach sittlich; denn sie hat ihre Schranke nicht blos an der Natur sondern am Gesetze Gottes.« (AaO., 73). 135 D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 1, 155.
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Die zweite große politische Bewegung des 19. Jahrhunderts ist der Nationalismus. In den Gesprächen lässt Schenkel ihn in die liberale Position einfließen. Auffällig ist, dass Schenkel darauf nur am Rande eingeht, gleichwohl er seit Mitte der 50er und dann insbesondere in den 60er Jahren gerade die nationale Bedeutung des Protestantismus betont. Die nationalistische Idee wurde vor allem durch die napoleonische Erfahrung geweckt und dann in den Befreiungskriegen geradezu religiös aufgeladen.136 Die nationalistische Bewegung stand in Deutschland dabei vor ganz besonderen Herausforderungen: Zum einen gab es seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation keinen einheitlichen deutschen Staat mehr, der Deutsche Bund war mehr ein Staatenverbund als ein einheitlicher Staat und mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses wurden nationale Hoffnungen endgültig zerstört. Zum anderen war zwar die Sehnsucht nach einem deutschen Staat besonders in liberalen Kreisen weit verbreitet, gleichzeitig war aber auch das kleinstaatliche Bewusstsein in der Bevölkerung sehr groß: Eine deutsche Einheit war demnach nur unter Vermittlung und Anerkennung dieser Kleinstaaten möglich.137 Und schließlich erschwerte auch der Dualismus von Preußen und Österreich die nationale Staatsfrage.138 Im Nationalismus verband sich nun eng die Vorstellung von Freiheit mit dem Traum der Einheit eines Deutschen Staates: »Die Freiheit bedurfte der Einheit, und daß die Einheit nur über die Repräsentation der Nation und also durch und in Freiheit zu begründen und zu erhalten sei, das galt als selbstverständlich.«139 Eben diese Position wird in den Gesprächen von dem liberalen ›Biederfeld‹ vertreten.140 Gegen ihn vertritt ›Treumund‹ die genuin konservative Idee des christlichen Staats: Wie auch die Freiheit, so ist die deutsche Einheit nur auf Grundlage des christlichen Glaubens möglich.141 Schenkel lehnt den nationalstaatlichen Gedanken zwar nicht wie der politische Konservativismus dezidiert ab, nach dessen Vorstellung dieser Gedanke »unlösbar mit dem Prinzip der Volkssouveränität und dem liberalen Gedanken der freien Selbstbestimmung
136
Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 303. Vgl. aaO., 307 f. Nipperdey zeigt hier sehr schön den engen Zusammenhang von Nationalismus und Liberalismus. Auch Schenkel bearbeitet dieses Problem in den 1860er Jahren und präsentiert die protestantische Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als geeignetes Interpretament für die Verhältnisbestimmung der deutschen Kleinstaaten zu einem geeinten Deutschland, vgl. IV.2.3. 138 Vgl. C.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte (1990), 137 ff. 139 Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 308. 140 »Ungehinderte, nationale Entwicklung der Volkskraft, ungehemmte allgemeine Bildung des Geistes, einheitliche Zusammenfassung aller vereinzelten Fähigkeiten zur Erhöhung und Vervollkommnung der nationalen Ehre und Macht. Denn für Deutschland ist die Freiheit nur möglich unter der Form nationaler Einheit.« (D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 2 , 65). Die Freiheit findet ihre Grenzen in der (monarchischen) Verfassung sowie den Gesetzen. Eine ungebundene Freiheit lehnt ›Biederfeld‹ strikt ab, vgl. aaO. 66 ff. 141 Vgl. a. a. O., 74 ff. 137
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(…) verschmolzen ist«142 , rezipiert ihn allerdings auch nicht positiv. So nimmt der Nationalismus insgesamt in den Gesprächen keine prominente Rolle ein. In politischer Hinsicht lässt sich Schenkels Position somit am ehesten der konservativen Strömung zuordnen. Der Konservativismus, als dritte prägende politische Bewegung, hat sich im Gegenüber und dabei bewusst als Gegenmodell zur Revolution profiliert.143 Leitbegriffe des Konservativismus sind zunächst Ordnung, Stabilität und Bewahren, mit denen sich dann weitere Grundgedanken wie Legitimität und Autorität verbinden.144 Anders als im Liberalismus steht nicht das autonome Subjekt im Zentrum, sondern die Ordnung, die vor Chaos bewahrt und erst in diesem Rahmen Freiheit ermöglicht. Im Hintergrund dieser Auffassung steht folgende anthropologische Prämisse: »[D]er Mensch ist nicht gut, sondern endlich und sündhaft; Freiheit entfesselt (…), was es braucht sind Institutionen, die Ordnung halten.«145 Genau diese Motive hebt ›Treumund‹ sowohl gegen seinen jesuitischen als auch rationalistischen Gesprächspartner hervor. Eben dass der Mensch Sünder ist, bildet für ihn die Prämisse seiner folgenden Überlegungen.146 Der christliche Glaube bietet mit der Einsicht in das sündhafte Wesen des Menschen als einzige Anschauung diese wahre Sicht auf den Menschen, und erst wenn diese Wahrheit anerkannt ist, kann die Geschichte verstanden und die weitere Zukunft friedlich gestaltet werden. Wie oben bereits bemerkt, bleibt der christliche Glaube nun nicht bei der Einsicht der Sündhaftigkeit des Menschen stehen, sondern befreit vielmehr den Menschen von der Sünde, indem er ihn wieder in Gemeinschaft mit Gott bringt und damit die schöpfungstheologische Bestimmung erfüllt.147 Dabei geht aus dem Gesprächsgang eindeutig hervor, dass Schenkel davon ausgeht, dass für die Verbreitung dieser Einsicht bzw. des christlichen Glaubens die Kirche notwendig ist,148 gleichwohl er hervorhebt, dass der Protestantismus nicht eigentlich an der sichtbaren Kirche interessiert ist, sondern an der unsichtbaren.149 Nach der Staatsauffassung des Konservativismus wird die gesellschaftliche Ordnung durch die monarchische Autorität bewahrt, die sich auch theologisch begründet. »Autorität und Legitimität werden (…) bekräftigt durch die Religion, durch das Bündnis von Thron und Altar (…).«150 Das verbindet sich nun aber gerade nicht mit einer absolutistischen Idee, die als ebenso rationalistisch 142
M. Botzenhart, 1848/49 (1998), 58. Ganz drastisch zeigt sich dies beispielsweise in der politischen Theologie de Maistres, vgl. dazu W. Schmidt-Biggemann, Politische Theologie (2004), 19 – 79. 144 Vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 314. 145 Ebd. 146 Vgl. D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 1, 112 f. 147 Vgl. D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 2 , 101 f. 148 »Die evangelische Kirche erzieht die Menschen innerlich; sie verlangt Buße, Glaube, sittliche Lebenserneuerung.« (AaO., 60). 149 Vgl. dazu IV.2. 150 Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 315. 143
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gilt wie die Demokratie. Schenkel geht in den Gesprächen zwar nicht explizit auf die Staatsverfassung ein und stimmt nur indirekt der monarchischen Staatsform zu,151 deutlich wird aber, dass seiner Ansicht nach der Staat eine göttliche Ordnung ist, die für die äußere Ordnung sorgt.152 An diesem Punkt wird das Verhältnis von Kirche und Staat nun virulent, wie es sich auch in der Auseinandersetzung mit Dulon gezeigt hat. Wie bereits angedeutet, plädiert Schenkel für einen christlichen Staat, das heißt einen Staat, der auf christlichen Grundsätzen ruht, »der die ewigen Wahrheiten des Christenthums als unzerstörbare Pfeiler der öffentlichen Ordnung anerkennt«153. Auf das Verhältnis von Staat und Kirche bezogen, heißt das, dass der Staat der Kirche als Quelle des christlichen Glaubens bedarf: »Die Wahrheit, welche die Kirche lehrt, ist auch wahr für den Staat. Die Gerechtigkeit, welche im göttlichen Gesetze sanktionirt ist, ist auch maßgebend für den Staat. (…) Ohne christliche Zucht und Sitte kann auch der Staat nicht bestehen.«154 Die Kirche ist damit die Instanz, die Wahrheit verbürgt und lehrt und damit die Grundlagen für ein funktionierendes und friedliches Gemeinwesen bietet. Indem die Kirche gleichzeitig aber die äußere Macht des Staates anerkennt, sind Kirche und Staat zwar eng aufeinander bezogen, aber dennoch unterschieden, was Schenkel gegen den Vorwurf des Jesuiten, dass der Protestantismus das Staatskirchentum nach sich ziehe, betont.155 Und noch ein weiteres Motiv des Konservativismus findet sich bei Schenkel, das er dann insbesondere gegen die Revolution geltend macht und in dem sein Freiheitsbegriff wieder zum Tragen kommt: Nipperdey hebt hervor, dass nach konservativer Vorstellung der Mensch gerade nicht als Individuum, sondern in seinen gesellschaftlichen Bindungen wahrgenommen wird. Das impliziert, dass die Gesellschaft notwendig hierarchisch strukturiert ist.156 Genau diese Auffassung vertritt Schenkel als ›Treumund‹ ebenso. Das Grundproblem der Französischen Revolution sei es gewesen, dass sie alle Menschen gleich zu machen suchte und die natürlich gegebene Ungleichheit nicht anerkannte. »Die Freiheit, welche die erste französische Revolution uns gebracht hat, muß schon darum eine falsche gewesen sein, weil sie als Gleichheit aufgetreten ist, denn was ist Gleichheit Aller Anderes als Unbeschränktheit Aller? (…) Dieser gottlose Gleichheitsbegriff (…) kann seine letzte Verwirklichung nur in den ruchlosen Systemen der Atheisten und Communisten finden.«157
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Vgl. D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 2 , 66. »[D]ie Kirche [soll] die weltliche Macht des Staates anerkennen und sich seines, die Güter und Segnungen des christlichen Lebens schützenden, Armes erfreuen.« (AaO., 112) 153 AaO., 81. 154 AaO., 111 f. 155 Vgl. aaO., 111 ff. 156 Vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 316. 157 D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 2 , 69 f. 152
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Weil dieser Freiheitsbegriff gerade nicht in eine göttliche Ordnung eingefügt ist, ist er in seiner Ungebundenheit Ergebnis und Ausdruck der Sünde. Als weitere Gegenposition in den Gesprächen tritt ein Jesuit namens ›Bonifacius‹ auf, der den politischen Katholizismus158 verkörpert, der sich Ende der 30er Jahre zu einer Partei ausbildete. Diese trat vor allem im Kontext von Kulturkämpfen auf und erlangte durch die Jesuitenmissionen eine große Öffentlichkeit. Der politische Katholizismus berührte sich im Hinblick auf die freiheitlichen Forderungen mit dem Liberalismus, vertrat allerdings eine entgegengesetzte Staatsauffassung, war er doch der Ansicht, dass der Staat seine Autorität von der Kirche verliehen bekäme.159 In seinen späteren Auseinandersetzungen mit dieser Richtung hat Schenkel sein Programm eines nationalpolitisch relevanten Protestantismus primär gegen diesen politischen (ultramontanen) Katholizismus vertreten. In den Gesprächen kommt diese Position in seiner Opposition gegen den Freiheitsbegriff des Jesuitismus zum Ausdruck. Der politische Katholizismus nahm die Forderungen der Paulskirchenversammlung auf und forderte eine strikte Trennung von Kirche und Staat – das hieß für ihn vor allem Freiheit von staatlicher Aufsicht. Besonderer Streitpunkt stellte das Unterrichts- und Erziehungswesen dar, für das die katholische Kirche ebenfalls die Freiheit von staatlicher Aufsicht einforderte. Genau diese Form der Trennung und Freiheit vom Staat lehnt Schenkel ab und erkennt in diesen Bestrebungen des Katholizismus vielmehr staatsgefährdende Tendenzen, da es diesem darum ginge, die kirchliche Hierarchie überhaupt von ihrer Bindung an staatliche Gesetze zu befreien, um die eigene Autorität neben und vor allem über dem Staat zu behaupten. Damit erweist sich in Schenkels Augen der politische Katholizismus als geradezu staatsgefährlich,160 da er den Staat nicht als unabhängige göttliche Ordnung anerkenne, sondern vielmehr seine eigene Machtposition im Gegenüber zum Staat ausbauen wolle. Und noch in einer weiteren Hinsicht versteht Schenkel den politischen Katholizismus als staatsgefährdend: Eine freie, vom Staat unbeaufsichtigte katholische Kirche stellt eine Gefahr für den paritätischen Staat und damit auch für den Protestantismus dar, da sie im Gegensatz zum Protestantismus keine andere Glaubensgemeinschaft neben sich anerkennt und duldet. Der konfessionelle Frieden und damit der Friede in der konfessionsgemischten Bevölkerung ist somit durch die Forderung der Freiheit der römischen Kirche vom Staat gefährdet, da diese dann ungehindert gegen die protestantische Bevölkerung agieren
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Vgl. J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 243 – 255. Diese Nähe der Forderungen von politischem Katholizismus und Liberalismus sah auch Schenkel, vgl. D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 2 , 6 ff. 160 Vgl. aaO., 106 f. Diese Position wird dann Ende der 1850er Jahre im Konkordatsstreit besonders aktuell, vgl. II.4.2. 159
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könnte. Schenkel fordert deswegen gegen diese Form des Katholizismus gerade eine starke Staatsaufsicht.161 Gegenüber dieser Position betont Schenkel nun den engen positiven Zusammenhang von Staat und protestantischer Kirche, da erst der Protestantismus den Staat von der Herrschaft der römischen Kirche befreit und ihn in seiner eigenen Würde als göttliche Ordnung anerkannt habe. Schenkel plädiert also für die Unterscheidung von Kirche und Staat, betont gleichzeitig jedoch ihre enge Beziehung: Während die protestantische Kirche den Staat als göttliche Ordnung anerkennt, die für Frieden und Sicherheit sorgt, ist der Staat auf die Kirche als die Instanz angewiesen, die den Menschen zur wahren Freiheit befreit und somit die Lebensquelle des Staates bietet. Letzteres vermag nach Schenkels Ansicht nur die protestantische Kirche, da es dem römischen Katholizismus nicht um die Befreiung und wahre Freiheit des Individuums gehe, sondern um die Freiheit der Hierarchie und ihre Macht. Die insgesamt konservative politische Haltung Schenkels spiegelt sich dann auch in Schenkels ekklesiologischem Programm wider, das er ›Treumund‹ in den Gesprächen vertreten lässt. Gegen die konfessionelle Partei im Protestantismus verteidigt Schenkel zwar das Priestertum aller Gläubigen als genuin protestantischen Grundsatz – in der Abwehr gegen den Rationalismus sieht er sich mit der konfessionellen Richtung dagegen sehr wohl vereint. Jedoch verbindet er seine Ansicht, dass die Kirche »von unten« gebaut sein soll, nicht mit der Forderung einer demokratischen Kirchenverfassung, die er vielmehr vor dem Hintergrund der Revolution und der allgemeinen politischen Stimmung explizit ablehnt.162 Er interpretiert den Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen so, dass »jeder Gemeinde ihr Gewissensrecht gegenüber unevangelischer Lehre und unevangelischer Zumuthung«163 zugesichert ist. Hier ist damit der Ort, wo das subjektive Moment, das Schenkel in seiner Antrittsrede geltend gemacht hatte, aufgehoben ist; es tritt jedoch wie in den vorherigen Auseinandersetzungen hinter das objektive Moment zurück, das auch hier an die Kirche gebunden wird. Die Gespräche zeigen somit nicht nur, wie Schenkel seine Gegenwart wahrnimmt und deutet, sondern auch wie er versucht, den Protestantismus so zu 161 Vgl. IV.2.3. »In Deutschland sind die beiden Bekenntnisse staatsrechtlich gleich gestellt, und wer ihre Gleichberechtigung antastet, der erschüttert den mehrhundertjährigen confessionellen Friedensbestand der deutschen Nation.« (D. Schenkel, Gespräche (1852/53), Bd. 2 , 120). 162 »Nicht daß Jeder in der Kirche zum Regieren berufen sei, nicht daß die kirchlichen Massen durch Majoritätsbeschluß über Glauben und Sitte der Kirche zu entscheiden haben sollen, nicht daß kirchliche Versammlungen mit Urwahlen die kirchliche Gesetzgebung an die Hand zu nehmen haben, und was sonst Alles die Weisheit des Tages aus der Lehre vom allgemeinen Priesterthume hergeleitet hat – nicht das ist in dieser Lehre enthalten.« (AaO., 286). 163 AaO., 287.
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profilieren, dass die neuzeitliche Orientierung am freien Individuum und besonders am Freiheitsbegriff hier erst ihren Grund findet, ohne damit jedoch für eine politisch liberale und demokratische Position zu votieren, die Schenkel vor dem Hintergrund der Revolutionserfahrungen und der Restaurationszeit vielmehr ablehnt. Diese Grundentscheidungen der Gespräche kommen auch im folgenden Streit zum Tragen, der für eine noch schlechtere Presse sorgte als die Auseinandersetzung mit Gervinus.
3.3. Die Unterscheidung von Gott und Welt. Die Auseinandersetzung mit Kuno Fischer 1853 war Schenkel in die Absetzung des bekannten und beliebten Philosophen Kuno Fischer164 verwickelt, dem er vorwarf, eine pantheistische Philosophie zu vertreten, was nach Schenkel der Weltvergötterung gleichkommt. Konkret lautete der Vorwurf Schenkels, dass Fischer nicht zwischen Gott und Welt differenziere, sondern vielmehr »die Welt als absolute und mündige (…), die sich selbst regiert und nicht von fremden Zügeln gelenkt wird«165, verstehe, was jedoch dem christlichen Schöpfungsgedanken zutiefst widerspreche. Wie sich im folgenden Kapitel noch zeigen wird, ist die eindeutige Unterscheidung von Gott und Welt der hermeneutische Schlüssel in Schenkels Theologie, sodass sich damit auch in dieser Auseinandersetzung ein wesentlicher Aspekt der Schenkel’schen Theologie widerspiegelt. Ob Schenkel beim OKR gezielt auf die Absetzung Fischers hingewirkt hat, ist zwar umstritten – er selbst hat den Vorwurf stets zurückgewiesen166 – ein164
Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 262. Kuno Fischer (1824 – 1907) hat in Leipzig und Halle Philosophie, Theologie und Philologie studiert. 1847 promovierte er, 1850 wurde er Privatdozent an der Universität Heidelberg. Nachdem ihm hier die venia legendi entzogen worden war, folgte er 1856 einem Ruf nach Jena. 1872 kehrte er zurück nach Heidelberg. Sein Hauptwerk ist die Geschichte der neuern Philosophie, die seit 1852 in 10 Bänden erschien. Vgl. H. Mulert, Art. »Fischer« (1910). 165 D. Schenkel, Abfertigung (1854), 15. 166 Der Streit verlief ziemlich verworren und muss hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Schenkel behauptete stets, dass er beim OKR nur die Berufung eines christlichen »Gegenphilosophen« habe erwirken wollen, vgl. Landeskirchliches Archiv Karlsruhe, Vorlesungen des Privatdozenten Dr. Kuno Fischer (1852/53), Az 22/1132 GA 593. Die Art und Weise jedoch, wie er dies anstellte und wie er sich in einigen Artikeln in der AKZ über Fischer und die ganze Angelegenheit äußerte, war alles andere als unschuldig und auch wenig klug. Die einschlägigen Schriften in dieser Auseinandersetzung sind D. Schenkel, Das Christenthum und modernes Philosophenthum (1854); ders., Das Christenthum und der junghegel’sche Pantheismus (1854); ders., Abfertigung (1854); K. Fischer, Apologie (1854); ders., Das Interdikt (1854); ders., Geschichte (1854), Bd. 1 sowie A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 260 ff. Weitere wertvolle Informationen zum Verlauf des Streites finden sich in der Personalakte Fischers im Universitätsarchiv der Universität Heidelberg, PA1553 sowie Landeskirchliches Archiv Karlsruhe, Vorlesungen des Privatdozenten Dr. Kuno Fischer (1852/53), Az 22/1132 GA 593. Dass Schenkel später ganz anders über Fischer dachte, geht aus Briefen Schenkels an Fi-
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deutig ist jedoch sein vehementes und polemisches Wettern gegen Fischer in der Allgemeinen Kirchen-Zeitung167, bei der Schenkel seit 1852 Mitredakteur war und in der er seitdem unermüdlich über nahezu alle aktuellen kirchlichen, theologischen und politischen Fragen schrieb – was ihm insgesamt wenig Sympathie einbrachte.168 Fischer parierte die Angriffe Schenkels zwar überaus klug und gab seinen Widersacher der Lächerlichkeit preis169 – an der Entziehung seiner venia legendi konnte er freilich nichts ändern. Schenkel hatte nach dieser Angelegenheit einen überaus schweren Stand an der Heidelberger Universität, galt er doch als Feind der akademischen Lehrfreiheit. In seiner Abfertigung gegen Fischer klagt Schenkel denn auch, dass »Leute, deren Mund sonst von Toleranz überfließt und die als Horte deutscher Freiheit eifrigst gegen alle Gewissenstyrannei zu declamiren gewohnt sind, setzten von nun an die gewöhnlichsten Anstands- und Höflichkeitsrücksichten gegen mich außer Acht, ja, übten eine Art von moralischer Excommunication gegen mich aus, weil auch ich mir die Freiheit genommen hatte, meiner eigenen Ueberzeugung zu folgen«170.
scher hervor, in denen er einen geradezu unterwürfigen Ton anschlägt. Am 8. November 1878 schreibt Schenkel z. B.: »Hochgeehrter Herr College! Erlauben Sie mir gütigst, Ihnen die beigefügte Schrift als ein kleines Zeichen meines herzlichen Dankes und meiner innigen Zuneigung (?) zu übersenden. Mögen Sie einiges darin finden, was Ihnen nicht missfällt. Mit der hochachtungsvollsten Gesinnung bleibe ich Ihr, D. Schenkel.« (Archiv der Universitätsbibliothek Heidelberg, Drei Briefe aus den Jahren 1876 – 78, Heid. Hs. 3617,39). 167 Die AKZ war 1822 von Ernst Christian Ph. Zimmermann gegründet worden und fungierte zunächst als das Hauptorgan des theologischen Rationalismus. Unter der Ägide von Schenkel und Christian Palmer entwickelte sie sich dann zum führenden Organ der Vermittlungstheologie. 168 Ob bei Schenkels Kritikern auch Erinnerungen an den bekannten Pantheismusstreit, den Friedrich Jacobi 1785 entfacht hatte, geweckt worden sind, lässt sich nicht mit Sicherheit ausmachen, ist aber durchaus nicht unwahrscheinlich. Zum Pantheismusstreit vgl. U. Barth, Ethikotheologie (2003). 169 Fischer fragte in seiner Verteidigungsschrift: »Sind alle die verdammlichen Eigenschaften, die mir der wortreiche Mann so hastig und immer alle zugleich anhängt, kritische Pfeile oder nicht vielmehr literarische Kothwürfe?«; und antwortet dann: »Ich erkenne dieses kritische Talent gleich an dem ersten, in die Augen springenden Beispiele! Der Mann erklärt, daß er nicht untersuchen wolle, inwiefern die von mir vorgetragenen Systeme richtig dargestellt seien: also er erklärt, daß er die einzige Untersuchung, die mit einem solchen Buche anzustellen ist, unterlassen werde, die einzige Prüfung, auf die sich alleine rein rechtliches Urtheil über oder gegen meine Schrift gründen dürfte. (…) Eine Untersuchung über die sachliche Richtigkeit der Schrift wird und soll nicht geführt werden. Genug! Das Buch hat auf seinen Leser einen üblen Eindruck gemacht und mehr bedarf es nicht, um Alles mögliche dagegen zu sagen, selbst dasjenige, was nur nach einer genauen Untersuchung des Inhalts und ohne Beweise niemals gesagt werden darf, wie der Mangel wissenschaftlicher Strenge und quellenmäßiger Gründlichkeit. Herr Schenkel wird mich nach dem Eindrucke aburtheilen, den ich ihm mache und nur nach diesem Eindruck!« (K. Fischer, Das Interdikt (1854), 5 ff.). 170 D. Schenkel, Abfertigung (1854), 10. Hausrath weiß zu berichten, dass in Folge des Streites Schenkels Kollegen im Senat den Platz wechselten, sobald Schenkel sich neben sie setzte, vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 272.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Diese Auseinandersetzung ist hier insofern von Bedeutung als sich zumindest implizit Schenkels bereits erwähntes Verständnis der öffentlichen Bedeutung des Christentums zeigt: Staat und Christentum stehen in einem so engen Verhältnis miteinander, dass die letzte Konsequenz eigentlich die Bekenntnisverpflichtung auch nicht-theologischer Universitätslehrer sein müsste. Soweit ist Schenkel freilich nicht gegangen. Seine Forderung, einen ›Gegenphilosophen‹ zu berufen, kann von daher wohl als Versuch verstanden werden, diesen Anspruch des Christentums im Rahmen der Lehrfreiheit durchzusetzen. In dem Streit mit Fischer spiegelt sich damit weiterhin die dezidiert konservative Haltung Schenkels seiner ersten Heidelberger Jahren wider, die vor allem in den Erfahrungen der Revolution sowie der allgemeinen restaurativen Grundstimmung dieser Zeit begründet ist; ein weiterer Grund ist wohl zudem schlicht in Schenkels Übereifer, sich seinen Förderern zu Beginn seiner Heidelberger Zeit beweisen zu wollen, zu finden. Allerdings änderte sich diese Haltung Schenkels schon in den kommenden Jahren. Während er sich in der AKZ anfangs in erster Linie gegen den Jesuitismus richtete, wurde im Laufe der Zeit mehr und mehr die Restaurationspartei zur Zielscheibe seiner Angriffe – die Angriffe gegen die Jesuiten hörten deswegen freilich nicht auf: Die kirchlich Orthodoxen sah Schenkel in einer Linie mit dem römischen Katholizismus, sodass seiner Ansicht nach die Auseinandersetzung zwischen Protestantismus und Katholizismus nunmehr innerhalb des Protestantismus selber stattfand. Diese Akzentverschiebung verdankt sich dem Erstarken der Restaurationspartei, die zunehmend an Macht und Einfluss gewann, nachdem die liberale Partei mit dem Scheitern der Paulskirchenversammlung eine herbe Niederlage hatte einstecken müssen. Das restaurative Lager entwickelte sich jedoch im Laufe der Zeit immer mehr zu einer ernsthaften Bedrohung für die kirchliche Union, denn die Gegner der Union nahmen diese als Angriff auf ihr Bekenntnis und ihren Glauben wahr und entsprechend vehement stritten sie gegen dieselbe.171 Spätestens seit der Veröffentlichung von Das Wesen des Protestantismus und ins171 Die sogenannte Restaurationspartei hatte während der Revolutionsunruhen klar Stellung gegen die Revolution bezogen. Auch Theologen, die bisher der Vermittlungstheologie zugerechnet wurden, wendeten sich unter dem Eindruck der Revolution der Restaurationspartei zu, die immer stärker von der kirchlichen Orthodoxie bestimmt wurde. Besonders in Preußen übten die Orthodoxen, namentlich die Gebrüder Gerlach, Friedrich Julius Stahl und Hengstenberg, großen Einfluss auf Friedrich Wilhelm IV. aus. Ihre Bestrebungen richteten sich unter anderem auf die Auflösung der Kirchenunion. 1852 erzielten sie einen beachtlichen Erfolg, als der König eine Kabinettsordre erließ, die wesentlich auf eine Re-Konfessionalisierung hinauslief. Das endgültige Ende der Union in Preußen konnte jedoch von den alten Vermittlungstheologen abgewendet werden, vgl. M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006), 102 ff. Für eine Darstellung der Auseinandersetzungen um die Union in Preußen von 1845 – 1853 vgl. die ausführliche Analyse von A. Nachtigall, Kirchenunion (2005); vgl. auch IV.3.1.1.
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besondere der Schlussabhandlung dieses Werkes Das Princip des Protestantismus172 war die Unionsfrage für Schenkel aber ein für allemal entschieden und die Verteidigung derselben bedeutete für ihn nichts anderes als die Verteidigung des Protestantismus selbst. Entscheidend ist, dass es Schenkel dabei nicht um die kirchlichen Fragen an sich ging, sondern er an diesen das Wesen des Protestantismus festmachte, das er in der Ekklesiologie der kirchlichen Orthodoxie immer mehr gefährdet sah, denn die religiöse Autonomie des Subjekts war Schenkels Ansicht nach hier nicht mehr bewahrt. Die Kirchenfragen sind für ihn also nicht um ihrer selbst Willen von größtem Interesse, sondern weil sie immer schon wesentlich auf die Religion bezogen und insofern auch von gesellschaftlicher Relevanz sind. In den kommenden Jahren wandelte sich aufgrund der kritisch-polemischen Auseinandersetzung mit der kirchlichen Orthodoxie Schenkels Position, die sowohl gegen Gervinus, als auch gegen Dulon und Fischer sichtbar geworden ist, immer stärker.
3.4. Der beginnende Umbruch. Der Unionsberuf des Protestantismus Im Kontext dieser Auseinandersetzungen um die Union muss auch die Schrift Der Unionsberuf des Protestantismus173 verstanden werden, die Schenkel 1855 veröffentlichte, und in der der Bruch mit seiner früheren Haltung schon deutlich zum Ausdruck kommt. In ihr sucht er nachzuweisen, dass die Union im Wesen des Protestantismus begründet ist und die Konfessionalisierung und damit die Bestrebungen vor allem der konfessionellen Lutheraner dem innersten Wesen des Protestantismus widersprechen. Gegen das Hauptargument der Unionsgegner, dass die Union »eigentlich geschichtslos, staatlich oktroyirt, künstlich gemacht, unter dem begünstigenden Einfluss des alle evangelischen Lehrbesonderheiten nivellirenden Rationalismus zu Stande gekommen sei«174, zeigt Schenkel in einem ersten Teil die ursprüngliche Einheit der protestantischen Konfessionen auf. Hierfür weist er nach, dass die Reformatoren – hier beschränkt er sich auf die vier Hauptreformatoren – in den wesentlichen Grundzügen ihrer Lehre übereingestimmt haben. Die Differenzen zwischen den Konfessionen deutet Schenkel als ›bloß‹ theologisch-dogmatische, nicht jedoch als fundamentale Differenzen; die Spaltung der Konfessionen wurde seines Erachtens erst endgültig durch extreme Lutheraner im 17. Jahrhundert zementiert. Damit unterscheidet Schenkel letztlich zwischen der sekundär theologischen Lehre und dem eigentlichen Wesen des Protestantismus, was sich, wie oben bemerkt, auch schon im Streit mit Gervinus und Dulon in der Hervorhebung von wesentlichen, unhintergehbaren Grundsätzen angedeutet hatte; hier trifft 172
Vgl. D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852). Vgl. D. Schenkel, Unionsberuf (1855). 174 Vgl. aaO., IV. 173
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Schenkel allerdings die Unterscheidung nunmehr in Bezug auf das eigentliche Wesen und die dogmatische Lehre, deren Bedeutung er in den Jahren zuvor – zumindest bestimmter Grundlehren - immer noch stark betont hatte. Die Unterscheidung zwischen Wesen und Lehre wird dann auch ein grundlegendes Motiv in Schenkels Verteidigung der Union.175 Schließlich begründet er die Berechtigung der Union biblisch und legt sein Konzept der Unionskirche vor.176 Wie auch im Wesen des Protestantismus erörtert Schenkel die Frage nach dem Prinzip des Protestantismus, die eine der zentralen Fragen des 19. Jahrhunderts darstellt. Er betont, dass der Protestantismus nur ein Prinzip hat, das er folgendermaßen bestimmt: »[D]er Grundtrieb des Protestantismus [geht] auf Wiederherstellung der Menschheit zu einer sittlich vollendeten Lebensgemeinschaft mit Gott durch den Glauben an Jesum Christum den Gottmenschen.«177 Daraus folgert er, dass auch die protestantische Kirche nur ein Prinzip hat, das Schenkel als ›Unionsprinzip‹ bezeichnet: »Die protestantische Kirche als evangelische Unionskirche ist demnach die Gemeinschaft all derer, welche durch den Glauben an Jesum Christum, den Gottmenschen, mit einander zu einer sittlich-religiösen Lebensgemeinschaft verbunden sind (…).«178
Das Ziel des Protestantismus ist demnach die Kirche als Gemeinschaft der Menschheit mit Gott – ein Gedanke, der ebenfalls schon in Das Wesen des Protestantismus formuliert ist und den Schenkel von nun an auch nicht mehr aufgibt. Der Kirche kommt also nach wie vor eine besondere Bedeutung in Schenkels Theologie zu. Er betont jedoch nunmehr nicht ihre Funktion als Instanz zur Behauptung der göttlichen Objektivität gegenüber dem Subjekt, sondern vielmehr die Gemeinschaft des Individuums mit Gott, die in der Kirche realisiert ist – der Fokus liegt jetzt also auf dem glaubenden Subjekt in seiner Einheit mit Gott. Die Kirche muss dieses von Schenkel sogenannte Unionsprinzip durch die drei für den Protestantismus wesentlichen und grundlegenden Grundsätzen realisieren: die Schriftautorität, und das heißt auch die freie Schriftforschung, die Rechtfertigung allein durch den Glauben und schließlich das Priestertum aller Gläubigen.179 175
Vgl. IV.3.1.2. Vgl. D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 578 – 662. 177 AaO., 629. 178 AaO., 632. 179 Nur ein Jahr später 1856 veröffentlichte Schenkel ein ganz ähnlich angelegtes Werk: Die Reformatoren und die Reformation stellt die ›Lebensbilder‹ (Wirken und Werk) der vier Hauptreformatoren dar. Die innere Verwandtschaft aller steht dabei im Mittelpunkt der Darstellung. In dem Schlusskapitel erörtert Schenkel die Aufgaben, die der gegenwärtigen Zeit durch die Reformation gestellt sind, namentlich die freie Erforschung der Wahrheit, also die freie Schriftforschung, die Begründung einer persönlichen Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, das heißt die Förderung des Rechtfertigungsglaubens sowie die Erneuerung der Gemeinde aus dem Gewissen heraus. Die Aufgaben stellen somit eine ›Er176
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Auffallend ist, dass Schenkel nunmehr die nationale Bedeutung des Protestantismus stärker hervorhebt, während diese Thematik beispielsweise in den Gesprächen noch keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Reformation, Protestantismus und das deutsche Volk bilden nach Schenkel einen untrennbaren Zusammenhang, wobei die Aufgabe des deutschen Volkes als Volk der Reformation darin besteht, die Reformation zu ihrem Ende zu führen und den wahren Protestantismus zu verwirklichen. Damit knüpft Schenkel an die Vorstellung der öffentlichen Bedeutung des Glaubens an, präzisiert sie aber nochmals, indem er Grundgedanken des Nationalismus aufnimmt und den Protestantismus als die dem deutschen Volk wesentliche Religion und damit als gemeinsame und verbindende Wurzel und Grundlage zu bestimmen versucht180 : Die Reformation hat Schenkel zufolge das deutsche Volk miteinander verbunden und zwar gegen die Macht des Kaisers; der Protestantismus stellt damit das verbindende Fundament des deutschen Volkes und der Nation dar: »Die Reformation war die geschichtliche Entwicklung des deutschen religiösen Geistes (…).«181 Diese Verbindung von Protestantismus und deutscher Nation nimmt nun eine immer größere Bedeutung in Schenkels Protestantismusverständnis ein und er profiliert diese Verbindung zudem im Kontext einer allgemeinen Menschheitsentwicklung, in der dem deutschen Volk ein ›religiöser Beruf‹ zukommt, den es für sich und für die Welt auszuüben hat:182 »Wir wollen nur andeuten, daß die eigentliche, die weltgeschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes nicht vorzugsweise auf diesen beiden Gebieten [dem politischen und sozialen; Anm. d. Vf.] zu liegen scheint. Und das kommt daher, weil dieselbe zunächst auf dem Gebiete der Religion liegt. Das deutsche Volk ist berufen an der Spitze der Entwicklung der religiösen Ideen zu stehen, den übrigen europäischen Völkern in der Lösung der religiösen Frage voranzugehen, sich immer auf ’s neue wieder in dieselbe zu vertiefen, und auf diesem Wege der Herold einer besseren religiösen Zukunft nicht nur für unseren Welttheil, sondern für die ganze Menschheit zu werden.«183
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang schließlich die Schrift Für Bunsen wider Stahl184, die Schenkel zunächst in mehreren Folgen der AKZ veröffentlicht neuerung und Bekräftigung‹ der Grundsätze des Protestantismus dar, wie Schenkel sie im Unionsberuf entwickelt hat, vgl. D. Schenkel, Reformatoren (1856). 180 In den öffentlichen Diskursen sind vor allem auch die gemeinsame Sprache und Kultur als verbindende und die Nation begründende Werte verstanden worden, vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 301 f. 181 D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 4. 182 Im Hintergrund dieser Auffassung steht, wenngleich nicht explizit, Herder: »Die Menschheit existiert nur in Völkern, diese sind mit ihren unterschiedlichen Stimmen der vielfältige Ausdruck der einen göttlichen Ordnung. Jedes Volk leistet einen spezifischen Beitrag zur Entfaltung der Menschheit, das ist seine ›Sendung‹; und jeder einzelne entfaltet seine Humanität gerade, indem er seine Nationalität entfaltet.« (Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 301). 183 Vgl. D. Schenkel, Reformatoren (1856), 3. 184 Vgl. D. Schenkel, Für Bunsen (1856). Ob diese kleine Schrift gegenüber der Dogmatik
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
hat. Darin verteidigte Schenkel die viel beachtete kleine Schrift Die Zeichen der Zeit185 von Christian Carl Bunsen gegen die Angriffe von Friedrich Julius Stahl186 . Er stellt die (kirchlichen) Programme der beiden Lager scharf gegenüber und zwar so, dass der Weg der vermittelnden Partei als die Weiterführung und Vollendung der Reformation gilt187, während der Weg der Restaurationspartei gradewegs nach Rom führt.188 Sowohl der Unionsberuf als auch Für Bunsen wider Stahl stellen mit ihrem Kirchenprogramm, das konsequent von der Gemeinde her gedacht ist, einen Widerspruch zu der von Schenkel im Bremer Kirchenstreit und in der Auseinandersetzung mit Gervinus vertretenen Position dar. Dennoch schließt sie sich an das Wesen des Protestantismus sowie an die Umstrukturierung der Schaff hauser Gemeinde an, insofern beide bereits ein Interesse Schenkels an der Gemeinde zeigen. Erklären lässt sich diese Wende vor allem durch das Erstarken der Restaurationspartei, die besonders in Preußen erfolgreich agierte, aber auch in Baden an Einfluss gewann. Im Zuge des Kampfes für die Union und gegen die konservativen Kräfte wandelte sich Schenkels Theologie. In diesen Konzeptionen sah er das freie und autonome Subjekt entmündigt. Die neuzeitliche Orientierung am Subjekt war für sein Protestantismusverständnis jedoch auch in seiner konservativen Phase von Bedeutung und in der Auseinandersetzung mit der kirchlichen Orthodoxie hob er diesen Aspekt immer stärker hervor. Dabei wurde ihm immer deutlicher, dass diese Orientierung auch unmittelbar in den kirchlichen Organisationsformen ihren sichtbaren Ausdruck finden muss.
»ungleich Epoche machender (…) im Leben des Verfassers« (H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 86) steht, wie Holtzmann urteilt, kann allerdings bezweifelt werden, schließlich hat Schenkel seine Theologie in keinem anderen Werk so ausführlich begründet und dargelegt wie in der Dogmatik. 185 Vgl. Ch. Bunsen, Zeichen der Zeit (1856). Christian Carl Josias Freiherr von (1791 – 1860) studierte Theologie und Philologie in Marburg. Bunsen war ein enger Vertrauter Friedrich Wilhelms IV. Er war preußischer Botschafter in Rom und in London und zudem maßgeblich an der Gründung des Bistums Jerusalem beteiligt. 1854 zog er nach Heidelberg, wo ihn eine tiefe Freundschaft sowohl mit Schenkel als auch Rothe verband. In Die Zeichen der Zeit hielt Bunsen ein Plädoyer für die Gewissensfreiheit sowie die Stärkung der Gemeinden im Gegenüber zu hierarchischen Bestrebungen. Zu Bunsens Leben und Werk vgl. R. Pauli, Art. »Bunsen« (1876); E. Geldbach, Art. »Bunsen« (1981). 186 Friedrich Julius Stahl (1802 – 1861) war einer der einflussreichsten konservativen Kirchenpolitiker in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. Von Haus aus Jurist und Rechtsphilosoph hat Stahl sich auch in kirchliche Fragen stark eingemischt, wobei er gemeinsam mit Hengstenberg und den Gebrüdern Gerlach vor allem für die Wahrung von lutherischem Bekenntnis und Kirche und damit gegen die preußische Union eintrat, vgl. IV.3.1.1. Zum Leben und Werk Stahls vgl. W. Bußmann, Stahl (1994); T. Jähnichen, Art. »Stahl« (2001). 187 »Wir sagen ohne Bedenken: die Reformation ist noch nicht vollendet.« (D. Schenkel, Für Bunsen (1856), 69). 188 Vgl. aaO., 68.
4. Auf der Höhe der Macht (1858 – 1863)
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4. Auf der Höhe der Macht (1858 – 1863) Nachdem unter dem Eindruck des wachsenden Einflusses der Restaurationspartei der Umschwung von Schenkels theologischer Position in den letzten Jahren immer deutlicher geworden war, erfolgte in den nun folgenden Jahren der endgültige Bruch mit vielen seiner bisherigen Gesinnungsgenossen. Gleichzeitig verband sich damit auch der kirchenpolitische Aufstieg Schenkels. Hönig kommentiert diese Phase von Schenkels Leben: »Kaum kann man sich ein Leben aufstrebender und erfolgreicher denken als das Leben Schenkels vom Jahr 1858 bis 1863.«189 Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch zwei kirchenpolitische Ereignisse, die Ende der 1850er Jahre das kirchliche Leben Badens erschütterten und bestimmten: Zunächst der sogenannte Agendenstreit, der Ende 1858 ausbrach; nur etwa ein Jahr später dann der Konkordatsstreit. In beiden Auseinandersetzungen war Schenkel Kopf und Motor der Opposition.190
4.1. Die Gemeinde und die Union. Der badische Agendenstreit191 1855 tagte die Generalsynode der badischen Landeskirche192 , auf der unter anderem die Einführung einer neuen Gottesdienstordnung verhandelt werden sollte. Die Erwartungen an diese Generalsynode waren hoch, wie ein Artikel in der AKZ zeigt: Der Verfasser sieht die Generalsynode als »Ausgangspunkt einer neuen hoffnungs- und segensreichen Zeit«193, warnt allerdings sogleich vor zu großen und radikalen Veränderungen in der Gottesdienstordnung: Eine reichere Ausgestaltung der Liturgie sei notwendig katholisierend und er gibt zu be189
W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 395. Beide Auseinandersetzungen können hier nicht detailliert erörtert werden. Im Folgenden werden jeweils die Grundzüge dargelegt, der Fokus liegt dabei auf Schenkels Position und Rolle, die er einnahm. 191 Vgl. Die General-Synode der evangelischen Kirche (1856); C. Hundeshagen (Hg.), Der badische Agendenstreit (1859); A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 372 – 389; J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 27 ff. 192 Die Union in der badischen Landeskirche wurde 1821 als Bekenntnisunion vollzogen. In § 2 der Unionsurkunde sind die Confessio Augustana sowie Luthers Katechismen und der Heidelberger Katechismus als bekenntnishafte Grundlage bestimmt. Bemerkenswert ist, dass die Bekenntnisse auf das sola scriptura bezogen und ausdrücklich mit der in diesem Prinzip implizierten freien Schriftforschung verbunden werden: Während die CA »das zu Verlust gegangene Prinzip und Recht der freien Forschung in der heiligen Schrift als der einzigen sicheren Quelle des christlichen Glaubens und Wissens wieder laut gefordert und behauptet« (abgedruckt in: Kirchenunionen, 67) hat, ist dieses Prinzip in den beiden anderen Bekenntnisschriften »faktisch angewendet worden« (ebd.). Nur in der Abendmahlsfrage wurden die Differenzen »durch kompromißhafte Aussagen ausgeglichen, in denen die Traditionen beider Konfessionen aufgehoben waren« (G. Benrath, Art. »Baden« (1980), 100). Vor den Abendmahlsbestimmungen wird allerdings erklärt, dass diese Bestimmungen »in Hinsicht der besonderen Vorstellungen darin die Gewissen nicht binden« (abgedruckt in: Kirchenunionen, 68 [Hervorhebung d. Vf.]) wollen. 193 Die bevorstehende Generalsynode (1855), 587. 190
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
denken, dass eine Agende etwas organisches, geschichtliches sei und damit jede Veränderung nur auf Grundlage der alten Agende erfolgen dürfe.194 Für die Verhandlungen über eine neue Gottesdienstordnung hat Karl Bähr195 eine Vorlage erarbeitet196 , in der er auf das grundsätzliche Bedürfnis einer Agendenreform hinweist, das er in der gegenwärtigen liturgischen Strömung begründet sieht.197 Bähr kommt in der Vorlage zu dem Ergebnis, dass in der badischen Liturgie die Predigt zu dominant sei, sodass der Gottesdienst nicht mehr Ausdruck des Gemeindeglaubens, sondern nur der Privatüberzeugung des Predigers sei. Er hält fest: »[S]o hat der eigentliche Gemeindeglaube überhaupt keinen Halt in dem Gottesdienst, vielmehr fehlt diesem gerade Das (sic!), was zu seinem Zweck und Wesen gehört, nämlich den Glauben an die von Gott geoffenbarte Heilswahrheit zu bekennen und sich in ihr und durch sie zu einer Gemeinde oder Kirche verbunden zu sehen.«198
Dies möchte Bähr durch eine stärkere liturgische Beteiligung der Gemeinde ändern. Die Vorschläge Bährs sind also aus seinem Interesse an der Gemeinde motiviert, die er im Gottesdienst stärken möchte. Von diesen Voraussetzungen ausgehend entwirft er eine neue Gottesdienstordnung für Baden. Hinsichtlich ihrer Einführung betont Bähr, dass diese nicht mit Zwang zu erfolgen habe. Um die Einheitlichkeit der Gottesdienstordnung im Land zu wahren, schlägt er deswegen die verbindliche Einführung eines Minimums vor, ein darüber hinausgehendes ›Maximum‹ sollte dagegen nur auf Wunsch der Gemeinde realisiert werden.199 Nach zum Teil heftigen Diskussionen, die sich vor allem an der Notwendigkeit einer solchen Neufassung, der Berechtigung des Maximums, der Stellung der Predigt im Gottesdienst und der Art der Einführung entfachten, wurde die Einführung schließlich beschlossen und der OKR Anfang 1856 nach der Sanktionierung der Beschlüsse durch den Großherzog mit der Ausarbeitung der Gottesdienstordnung beauftragt.200
194
Vgl. aaO., 595 ff. Karl Bähr (1801 – 1874) hat Theologie und Philosophie in Heidelberg und Berlin studiert. 1838 wurde er in den badischen OKR berufen. Zu Bährs Beitrag zur Gottesdienstordnung vgl. ausführlich U. Wüstenberg, Karl Bähr (1996). 196 Die Kommission, die zunächst Bährs Vorlage diskutierte, folgte dieser im Wesentlichen in ihrer Empfehlung für die Generalsynode. Allerdings hob die Kommission die herausragende Stellung der Predigt sowie die Einfachheit des Gottesdienstes hervor, vgl. Die General-Synode der evangelischen Kirche (1856), Bd. 2 , 464. 468 f. 197 Schon 1850 hat Bähr in der Schrift Der protestantische Gottesdienst, vom Standpunkt der Gemeinde aus betrachtet seine Vorstellung der Liturgie dargelegt, die Schenkel sogar sehr positiv aufgenommen hat, vgl. U. Wüstenberg, Karl Bähr (1996), 140. 198 Die General-Synode der evangelischen Kirche (1856), Bd. 2 , 392. 199 Vgl. aaO., 42 ff. 200 Zu den Diskussionen um die Agende vgl. aaO., 514 – 561. 195
4. Auf der Höhe der Macht (1858 – 1863)
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Erst im September 1858 erschien schließlich die neue Ordnung und mit ihrem Bekanntwerden setzte sogleich der sogenannte ›Agendensturm‹ ein. Dieser muss in einen größeren Kontext eingeordnet und auch als Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit der Bevölkerung nach der gescheiterten Revolution 1848 und der danach einsetzenden Restaurationszeit gewertet werden. In dieser ohnehin schon angespannten Situation brachte die neue Agende das Fass zum Überlaufen, wie Hönig sehr anschaulich schildert: »Man muß die gepreßte Luft, unter der alles atmete, die stille Verbitterung, die sich bei dem rücksichtslosen büreaukratischen Verfahren der Reaktion aufgehäuft hatte, mitempfinden, um die plötzliche Explosion zu verstehen, die sich an der Agende entzündete. Das Volk sah in der neuen Liturgie, die ihm aufgedrungen werden sollte, einen Uebergriff der reaktionären Büreaukratie vom politischen in das religiöse Gebiet, es sah darin wie in den Jesuitenmissionen eine der Maßregeln, das Volk wieder zu Loyalität zurückzuführen, aber gerade auf dem religiösen Gebiete erschien alles doppelt als eine unerträgliche Gewalthätigkeit.« 201
Allerdings soll dies nicht über die religiösen und theologischen Einwände hinwegtäuschen, die gegen die Agende, die von vielen als zu lutherisch empfunden wurde, vorgebracht wurden: »Die großen Concessionen der neuen Agende an die Lutheraner, willkürliche Eingriffe in das reformierte Kirchenvermögen und der steigende Abscheu gegen die pietistischen Allüren der von Ullmann bevorzugten neufrommen Pfarrer, wirkten zusammen, um eine starke Opposition auf die Beine zu bringen.« 202
Beflügelt wurde die Opposition durch den Anbruch der ›Neuen Ära‹ in Preußen. Dort hatte Wilhelm I. am 8. November 1858 eine richtungsweisende Rede gehalten, in der er nicht nur der Orthodoxie eine Absage erteilt, sondern sich auch offen für die kirchliche Union ausgesprochen hatte.203 Schenkel hatte aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Synode teilnehmen können und fühlte sich nun auch nicht an deren Beschlüsse gebunden: »Die liturgischen Aenderungen (…) an den einfachen Gottesdienstordnungen (…) gingen dem Seminardirector ebenso wider Sinn und Geschmack, wie sie 201 W. Hönig, Richard Rothe (1898), 131. Auch Claudia Lepp macht darauf aufmerksam, dass die Proteste »weniger dem Erhalt der rationalistischen Agende (...) als viel mehr der vereinten kirchlichen und politischen Reaktion« (C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 24) galten. 202 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 374. 203 »Zunächst muß zwischen beiden Konfessionen eine möglichste Parität obwalten. In beiden Kirchen muß aber mit allem Ernste den Bestrebungen entgegengetreten werden, die dahin abzielen werden, die Religion zum Deckmantel politischer Bestrebungen zu machen. In der evangelischen Kirche, wir können es nicht leugnen, ist eine Orthodoxie eingekehrt, die mit ihrer Grundanschauung nicht verträglich ist (…). Diese Orthodoxie ist dem segensreichen Wirken der evangelischen Union hinderlich in den Weg getreten (…).« (Zitiert in: H. Fenske, Weg zur Reichsgründung (1977), 135). Zu den genauen Vorgängen in Preußen vgl. G. Besier, Preußische Kirchenpolitik (1980), 37 ff.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
andererseits vom Oberkirchenrath in Karlsruhe betrieben worden waren« 204. In der Agende erkannte er die Niederlage der vermittelnden Theologie – für die seine Kollegen, denen er bisher gefolgt war, standen. In der AKZ erklärte er deswegen seinen bisherigen Mitstreitern eine klare Absage: »Wenn wir fragen: ob die vermittelnde Theologie diese Aufgabe [die Gemeinden zu stärken, wissenschaftliche Freiheit mit kirchlicher Praxis zu verbinden, die Union zu stärken; Anm. d. Vf.] in Baden wirklich gelöst habe, so sind wir gegenwärtig in der Lage, etwas beschämt das Auge zu Boden zu schlagen. Aber freilich: nicht das Streben nach Vermittelung trägt die Schuld, daß das zu erwartende Ziel nicht erreicht ist, sondern die Vermittelung hat dem Umschwunge nach dem einen Extrem hin sich nicht zu entziehen vermocht. (…) Es darf nicht verschwiegen werden: seit der Generalsynode von 1855 hat in der evangelischen Kirche Badens die kirchliche Restauration einen Sieg nach dem andern gefeiert, und zwar unter Mitwirkung und mit Hülfe Solcher, von denen nach ihren Antecedentien ein Wirken und Helfen in einem ganz anderen Sinne zu erwarten gewesen war.« 205
Schenkel hält also grundsätzlich am Anliegen der Vermittlungstheologie fest und wirft seinen alten Gesinnungsgenossen vor, dieses Anliegen zugunsten einer restaurativen Position aufgegeben zu haben. Das heißt, in seiner Selbstwahrnehmung hat nicht Schenkel im Agendenstreit mit seiner vorherigen Position und Partei gebrochen, sondern vielmehr haben diese mit der Vermittlungstheologie und ihren Anliegen gebrochen, während er selber diese nun verteidigt.206 Als das eigentliche Ziel der Vermittlungstheologie identifiziert Schenkel die Stärkung der Gemeinde – die Bähr mit seinem Vorschlag ebenfalls stärken wollte – begründet auf dem Priestertum aller Gläubigen sowie die Stärkung der Union. Diese Anliegen hatten sich schon in den letzten Publikationen deutlich als bestimmendes Zentrum von Schenkels Theologie herauskristallisiert und im Zuge des Agendenstreites verteidigt und profiliert er seine Position in diesen Punkten noch schärfer. Die Beschlüsse der Generalsynode bewirken seiner Ansicht nach nämlich das genaue Gegenteil, sodass er sie enttäuscht als Sieg der Restaurationspartei wertet – was freilich nicht der Selbsteinschätzung seiner Kollegen entsprach.207 204
H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 86 f. D. Schenkel, Kirchliche Rückblicke und Ausblicke (1859), 17. 206 In einem späteren Rückblick auf seine theologische Entwicklung hält Schenkel im Wesentlichen an dieser Ansicht fest und erklärt, dass nur seine kirchliche Parteistellung sich geändert habe: »Nicht meine theologische Ueberzeugung hat sich verändert; diese hat sich im Laufe der Jahre nur geklärt und entwickelt; aber meine kirchliche Parteistellung ist eine andere geworden.« (D. Schenkel, Protestantische Freiheit (1865), 251 [Hervorhebung im Original]). Schenkel erklärt diesen Bruch hier ebenfalls mit seiner Einsicht, dass die Vertreter der Vermittlungstheologie sich nicht gegen restaurative Einflüsse gewehrt hätten, sodass die vermittelnde Richtung vielmehr aufgrund des fehlenden Widerstandes von Seiten der alten Vermittlungstheologen immer stärker konfessionalistische Züge angenommen habe, vgl. aaO., 254 f. 207 Ob die Beschlüsse der Generalsynode nun tatsächlich als Sieg der Restaurationspartei 205
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Der von Schenkel beschriebene Sieg machte sich nach Ansicht vieler unter anderem an dem in der Agende implizierten Verhältnis von Pfarrer und Gemeinde fest, aber auch in der Einführung von Gebräuchen, die dem überwiegend reformiert geprägten Baden fremd sein mussten und somit allgemein als katholisch empfunden wurden, wie der Bericht Hausraths sehr anschaulich zeigt: »Aus der Anleitung zum Gebrauch hatten die Pfarrer zu ersehn, daß sie der Gemeinde gegenüber im Namen Gottes und Gott gegenüber im Namen der Gemeinde zu handeln hätten, eine Auseinandersetzung, die dem katholischen Priesterbegriff jedenfalls näher stand als der herrschenden Auffassung vom allgemeinen Priesterthum. (…) Das Knieen war zwar nur empfohlen, nicht geboten, weil der Raum noch mangele. (…) Und welchen Sinn hatte die Kniebeuge vor Brod und Wein für einen Reformierten, der das Abendmahl als Gedächnißakt beging? Daß sie als alte Calvinisten steife Kniee hätten, war der Stolz der Pfälzer (…).« 208
Die Hauptkritikpunkte gegen die neue Agende sind in einer ausführlichen anonymen Besprechung 209 in der AKZ zusammengefasst: 1) Die Agende ist unhistorisch und basiert nicht auf der in Baden bestehenden Tradition; 2) sie ist nicht durch ein Verlangen der Gemeinden motiviert, sondern auf Wunsch einzelner Personen entstanden; 3) die neue Agende gefährdet die Union, da die konfessionellen Unterschiede wieder aktualisiert werden; 4) durch sie wird Streit und Spaltung in die Landeskirche hineingetragen, da jede Gemeinde bald eine andere Ordnung hat; 5) die reformierten Elemente des Kultus sind eliminiert; 6) die neue Agende steht im Widerspruch zur Tradition und zum Charakter der protestantischen Kirche; 7) sie wird sogar vom römischen Katholizismus als Konzession an ihren Kultus ausgelegt.210 In diesen Kritikpunkten wird die Stoßrichtung des Widerstandes deutlich. Es ging dabei nicht so sehr um Einzelheiten der neuen Agende, sondern vielmehr um die Grundansicht ihrer Gegner, dass sie das Wesen der badischen Kirche als eine auf der Gemeinde beruhende protestantische Unionskirche infrage stellt, was die Gegner vor allem an den vermeintlich lutherischen oder gar katholisierenden Tendenzen festzu bewerten sind, muss an dieser Stelle offen bleiben. Sicher ist, dass Bähr, Ullmann und die übrigen Verteidiger der Agende unter den Vermittlungstheologen sicherlich nicht eine Schwächung der Gemeinde oder gar die Auflösung der Union intendierten, wie gerade auch die von Bähr ausgearbeitete Vorlage zeigt. Gleichwohl ist die theologische Signatur dieser Zeit als konservativ zu bewerten: »Eine starke konservative Strömung unter Leitung Ullmanns war das Gegengewicht gegen die auflösende Wirkung der Revolutionsjahre. Die Strömung nahm aber immer mehr, ohne daß die Führer selbst darüber klar waren, einen reaktionären Charakter an.« (W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 392). 208 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 375. 209 Vgl. D. Schenkel, Das neue Kirchenbuch (1858). Der Artikel ist zwar nicht namentlich gekennzeichnet, sowohl der sprachliche Stil als auch die Argumentationsstruktur sprechen m. E. jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür, dass Schenkel diesen Artikel verfasst hat. 210 Vgl. aaO., 1612.
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machten. Der Protest gründete also auf tieferliegenden theologischen und theologiepolitischen Fragen – konkret: der Frage nach dem Wesen des Protestantismus und der damit einhergehenden Frage nach dem Wesen und der Gestalt der diesem Wesen entsprechenden protestantischen Kirche – die dann kirchenpolitisch fruchtbar gemacht wurden. Die Stärkung der Gemeinde beabsichtigte Schenkel unter anderem durch ein stärkeres Mitspracherecht der Gemeinde zu erreichen. Die auf der Generalsynode beschlossene Änderung der Wahlordnung der Kirchenräte, die nun nicht mehr wie bisher direkt von den Gemeinden gewählt, sondern kooptiert werden sollten, sodass den Gemeinden faktisch ihr Mitspracherecht und damit auch ihre Gestaltungsmöglichkeiten entzogen wurden, widersprach er deswegen. Gegenüber seinen Äußerungen in den Gesprächen stellt dieser Widerspruch freilich eine grundlegende Wende dar, da Schenkel hier nun demokratische Prinzipien, die er damals entschieden zurückgewiesen hatte, auf das kirchliche Gebiet übertragen möchte und erst dadurch den Grundsatz des allgemeinen Priestertums realisiert sieht.211 Gemeinsam mit Ludwig Häusser 212 organsierte Schenkel den Heidelberger Widerstand: Anfang Dezember wurde beim Großherzog eine Vorstellung der Heidelberger Gemeinde eingereicht mit der Bitte, die Einführung des Gottesdienstbuches bis zu einer neuen Generalsynode auszusetzen, was Ullmann und Bähr auf der Gegenseite – und obwohl Schenkel gegen die Reform ja ein vermittlungstheologisches Motiv geltend machte – jedoch zu verhindern wussten.213 So erließ der Großherzog am 20. Dezember 1858 einen Erlass, in dem er das Minimum als die gültige Ordnung festlegte, jedoch auch betonte, dass bei der Einführung keinerlei Zwang ausgeübt werden dürfe.214 Nur drei Tage später folgte jedoch schon ein erneuter Erlass des OKR auf Anordnung Friedrichs, nachdem dieser von den immer größer werdenden Unruhen in den Gemeinden verunsichert worden war. Darin bestimmte der Großherzog nunmehr, dass 211
Vgl. IV.3.2.1.; IV.3.2.2. Ludwig Häusser (1818 – 1867) studierte Geschichte in Heidelberg und lehrte dort seit 1840. Er war einer der Hauptvertreter des politischen und kirchlichen Liberalismus und Mitglied der Zweiten Kammer in Baden. Häussers Bedeutung für den Erfolg der Opposition kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, da er als Privatlehrer des badischen Prinzen wesentlich an dessen Erziehung und Prägung beteiligt war und später auch ein gutes Verhältnis zum Großherzog pflegte. Vgl. A. von Kluckhohn, Art. »Häusser« (1880). 213 Die Vorstellung ist abgedruckt in: C. Hundeshagen (Hg.), Der badische Agendenstreit (1859), 17 – 32; vgl. auch A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 378 f. Gegen diese Vorstellung erklärte sich eine Minderheit des Heidelberger Kirchengemeinderates – unter anderen Carl Hundeshagen, der ebenfalls zu der Gruppe der Vermittlungstheologen gerechnet wird –, die nach der Sanktionierung der Ordnung durch den Großherzog diese als rechtmäßige Gottesdienstordnung anerkannte und den Protesten als Verfassungsbruch wertete, vgl. C. Hundeshagen (Hg.), Der badische Agendenstreit (1859), 32 – 36. 214 Vgl. aaO., 39 f. Darin heißt es: »Die Gefühle und Gewohnheiten der Gemeinden sollen gebührende Berücksichtigung finden.« (AaO., 39). 212
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»die Geistlichen derjenigen Gemeinden, welche eine entschiedene Abneigung gegen die neue Agende kundgegeben haben (…) vorerst nur die neuen Gebete und Formulare zu gebrauchen und die Einführung der übrigen Theile des neuen Kirchenbuches nur allmählig anzuregen [haben], wenn wieder größere Beruhigung eingetreten sein wird (…).« 215
Von diesem Erlass ermutigt, beschloss der Heidelberger Kirchengemeinderat 216 sogleich die Beibehaltung der bisherigen Ordnung lediglich unter Änderungen der Gebete und Formulare – sofern sie keine Veränderung der alten Ordnung bedeuteten. Der Erlass des Großherzogs vom 23. Dezember 1858 stellte das Ergebnis des Streites dar. De facto hatten die Gegner der Agende damit gewonnen, wenngleich es nicht zu einer erneuten Verhandlung auf einer späteren Generalsynode kam. Die Streitigkeiten wurden schlicht durch die Konkordatsverhandlungen zwischen der badischen Regierung und dem römischen Stuhl, welche die liberale Opposition erneut auf den Plan riefen, sowie dem Sardinischen Krieg zwischen Österreich und dem Königreich Sardinien-Piemont mit dessen Verbündetem Frankreich in den Hintergrund gedrängt. Schenkel als einer der Initiatoren des Agendensturms geriet während der Auseinandersetzungen zunächst an allen Fronten in Schwierigkeiten: Der OKR versuchte beim Ministerium eine Rüge gegen Schenkel aufgrund seines AKZ-Artikels zu erwirken, freilich ohne Erfolg.217 Die Heidelberger Fakultät wurde von seiner Haltung und seinem massiven Auftreten extrem belastet und gespalten.218 Auch Schenkels Stellung in der Redaktion der AKZ wurde schließlich unhaltbar, sodass er aus der Redaktion entfernt wurde.219 Von diesen Frontstellungen ließ Schenkel sich jedoch keineswegs beeindrucken. Als er 1859 einen Ruf aus Bonn erhielt, konnte Rothe220 – der inzwischen wieder nach Hei215
AaO., 43. Auch beim Universitätsgottesdienst verweigerte Schenkel die Einführung des Minimums mit Hinweis auf den Erlass – den der OKR freilich anders interpretierte und verstanden wissen wollte als die Heidelberger. Dies führte zu starken Spannungen zwischen Schenkel und dem OKR sowie zwischen Schenkel und seinen dem OKR treuen Kollegen. Vgl. Landeskirchliches Archiv Karlsruhe, Einführung der neuen Gottesdienstordnung in der Stadtdiözese Heidelberg 1858/59, Az 33/12 GA 2151. 217 Landeskirchliches Archiv Karlsruhe, Die Beschwerde gegen den Direktor des ev. Predigerseminars, Professor Dr. Schenkel, wegen eines Artikels in No. 39 von Allgemeiner Kirchenzeitung von 1859, Az 30/4 GGA 371. 218 Sehr anschaulich schildert Hausrath die Situation an der Fakultät in Folge des Agendenstreites, vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 384 f. 219 Vgl. H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 87. 220 Richard Rothe (1799 – 1867) ist nach Falk Wagner als »Inaugurator einer eigentümlichen Gestalt des ›Kulturprotestantismus‹ in die Geschichte eingegangen« (F. Wagner, Rothe (1990), 270). Er studierte zunächst Theologie in Heidelberg bevor er 1819 nach Berlin ging, wo er insbesondere bei Schleiermacher studierte. 1824 bis 1828 war er Gesandtschaftsprediger in Rom; hier lernte er Bunsen kennen, mit dem ihn seitdem eine tiefe Freundschaft 216
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delberg zurückgekehrt und einer der engsten Freunde Schenkels geworden war – nur mit Mühe Schenkels Weggang verhindern, »was sehr künstlich angestellt werden mußte bei der etwas wunderlichen Situation, in die Schenkel durch die Agendenbewegung zur Regierung und vollends zum Oberkirchenrath gekommen war« 221, wie Rothe in einem Brief im Juni desselben Jahres schrieb.222 Dass Schenkel wegen der Streitigkeiten seine Mitarbeit bei der AKZ gekündigt wurde und er so seine publizistische ›Hauptwaffe‹ verloren hatte, parierte er kurzerhand durch die Gründung einer neuen Zeitschrift, die Allgemeine kirchliche Zeitschrift (AKZs), in der er zwischen 1860 und 1872 zu allen Fragen, die kirchenpolitisch, theologisch oder politisch relevant waren, Stellung nahm. Schenkel machte es sich mit dieser Zeitschrift zu seiner Aufgabe »das kirchliche Leben der Gegenwart, seine Bewegung, Entwicklung, nicht nur für die engeren Kreise der Fachmänner (Theologen und Geistlichen), sondern auch für die weiteren der christlichen Gemeindegenossen so umfassend, eingehend und übersichtlich als möglich zu beleuchten und darzulegen« 223.
Er stellte seine Zeitschrift also konsequent in den Dienst der von ihm geforderten Stärkung und Erneuerung der Gemeinden, wie er explizit auch im Vorwort erklärt: »Auf bau der evangelischen Kirche auf dem Grunde des göttlichen Wortes, organische Entfaltung des Gemeindelebens, freie Bewegung der in der Gemeinde ruhenden kirchlichen Kräfte und Gaben, lebendige Theilnahme der Gemeindemitglieder an allen größeren kirchlichen Lebensaufgaben und Mitwirkung derselben an den religiösen und
verband. 1828 wurde er Professor am Wittenberger Predigerseminar, 1837 nahm er einen Ruf an die Universität Heidelberg an, wo er Professor für Neues Testament, Systematische Theologie sowie Praktische Theologie war. Daneben war er auch der erste Direktor des neu gegründeten badischen Predigerseminars. Nach einem kurzen Intermezzo an der Universität Bonn 1853 kehrte Rothe 1854 nach Heidelberg zurück. Ihn verband dort eine enge Freundschaft mit Schenkel, der später auch die Herausgabe von Rothes Dogmatik sowie Predigten besorgte. Rothe war außerdem Mitglied bei zahlreichen Generalsynoden, seit 1860 a.o. Mitglied im badischen OKR, Abgeordneter der badischen ersten Kammer sowie Gründungsmitglied des Protestantenvereins. Eine ausführliche Darstellung von Rothes Leben findet sich bei A. Hausrath, Richard Rothe (1902/06), 2 Bde. sowie F. Nippold, Richard Rothe (1874). Vgl. darüber hinaus auch F. Wagner, Rothe (1990); Ch. Albrecht, Versöhnung von Christentum und Kultur (2002). 221 Zitiert in: A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 387. 222 Schenkel forderte eine äußere Anerkennung durch den OKR und die Regierung, dass seine Haltung im Agendenstreit ihm nicht nachgetragen werde. Diese Forderung war deshalb so brisant, weil der Oberkirchenrat damit klar Stellung für Schenkel und gegen seine Kollegen, allen voran Hundeshagen, bezogen hätte. Rothe, der Schenkels Verhalten im Agendenstreit ebenfalls nicht gutgeheißen hatte, gelang schließlich der Kompromiss, dass Schenkel zum Kirchenrat und Hundeshagen zum Geheimen Kirchenrat ernannt wurde. Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 387. 223 D. Schenkel, Prospect, 1.
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sittlichen Arbeiten der Gegenwart: das sind Zwecke, für die thätig zu sein wir mit Gottes Hülfe entschlossen sind.« 224
Als das darüber hinausgehende Ziel benennt Schenkel neben der kirchlichen Union die Einigung aller Protestanten aller deutschen Staaten in einer Kirche. Ausgangspunkt der Erneuerung des Protestantismus wie auch der protestantischen Kirche stellt für Schenkel die Schrift einerseits sowie andererseits die Reformation, der die Protestanten die Gewissens- und Geistesfreiheit verdanken, dar. Zudem bezieht Schenkel den Zweck der Zeitung konsequent auf die weitere gesellschafts- und (im weitesten Sinne) kulturfördernde Aufgabe des Protestantismus, indem er die Leser zur Mitwirkung ›an den religiösen und sittlichen Arbeiten der Gegenwart‹ anregen möchte. Religion und Sittlichkeit sind gerade nicht auf den kirchlichen Raum beschränkt, sondern vielmehr das tragende Fundament der gesamten Kultur, wie Schenkel auch schon zu Beginn der 50er Jahre vor allem im Blick auf die Bedeutung des Christentums für den Staat betont hat. Schenkel erhebt demnach den Anspruch, mit der Zeitschrift über Theologie und Kirche hinaus relevant zu sein. Dieser Anspruch spiegelt sich insbesondere in den Leitartikeln und Aufsätzen wider, in denen nicht nur kirchenpolitisches Tagesgeschehen diskutiert wird, sondern diese Fragen auf einen größeren nationalen wie politischen Kontext bezogen und in ihrer Bedeutung für diesen besprochen werden. Mit der Zeitschrift hat Schenkel sich somit ein öffentliches Organ geschaffen, das voll und ganz seinem theologischen und kirchenpolitischen Programm Rechnung trägt.225
4.2. Der liberale Umbruch. Der Konkordatsstreit Nur kurze Zeit später wurde Baden durch eine weitere Auseinandersetzung schwer erschüttert, die schließlich den politischen sowie kirchlichen Umschwung brachte: den Konkordatsstreit.226 Dessen Ursache lag in den Ergebnissen der Paulskirchenversammlung, die von der römisch-katholischen Kirche nicht nur als Recht zur Selbstverwaltung in inneren Angelegenheiten interpretiert wurden: »Vielmehr erstrebte sie darüber hinaus auch eine eigenständige politische Machtstellung« 227. Zentrale Figur in dieser Bewegung war der höchst umstrittene Freiburger Erzbischof Hermann von Vicari, der konsequent die rö224
AaO., 2 f. Jedes Heft enthält einen Leitartikel und Aufsätze zu aktuellen Fragen, kirchliche Nachrichten sowohl deutscher als auch ausländischer Kirchen, eine Übersicht über neuste theologische Literatur und eine »Chronik namhafter kirchlicher Ereignisse« (aaO., 3). 226 Einen sehr guten Überblick über die gesamte Entwicklung und den Verlauf der Auseinandersetzungen bieten L. Gall, Liberalismus (1968), 81 – 112 sowie J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), vgl. bes. 35 – 105. 227 H. Liermann, Kirche des Großherzogtums Baden (1971), 540. 225
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mischen Interessen gegenüber dem Staat durchzusetzen suchte und dabei keine Auseinandersetzung scheute, sodass es in Baden schon lange vor Preußen zu einem Kulturkampf kam.228 In dem Bemühen um einen Ausgleich mit der römisch-katholischen Kirche hatten die Verhandlungen zwischen Rom und Karlsruhe schon 1857 begonnen,229 wurden jedoch durch den italienischen Krieg Österreichs zunächst unterbrochen. Dass es trotzdem am 28. Juni 1859 zur Einigung kam – die päpstliche Bestätigungsbulle erschien im Oktober, der Großherzog sanktionierte den Konkordatsabschluss im Dezember – überraschte die Konkordatsgegner umso mehr. Die Konvention bedeutete eine tiefgreifende Änderung der bisherigen Verhältnisse: »Das Konkordat löste das bisherige staatskirchliche System vollständig ab. An die Stelle der einseitigen staatlichen Gesetzgebung trat die Anerkennung des Verhandlungsgrundsatzes und damit des Prinzips der Koordination beider Gewalten.« 230
Hausrath beurteilte die vereinbarte Konvention noch über 40 Jahre später als Kapitulation der Regierung vor Rom.231 Tatsächlich machte die badische Regierung weitreichende Zugeständnisse an die katholische Kirche und dass die liberale (kirchliche und politische) Opposition die Vereinbarung einfach hinnehmen würde, war kaum zu erwarten gewesen.232 228
Vgl. L. Gall, Liberalismus (1968), 90 ff. Der Erzbischof widersetzte sich z. B. beim Tod des Großherzogs Leopold im April 1852 der Anweisung der Regierung, ein Seelenamt in den katholischen Kirchen abzuhalten und gestattete stattdessen nur die Abhaltung einer Trauerfeier mit Trauerrede. Der direkten Anordnung eines Seelenamtes durch die Regierung folgten schließlich nur 60 Geistliche, die von Hermann von Vicari anschließend zur Rechenschaft gezogen wurden. Vgl. J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 22 ff. 229 Dieser Ausgleich wurde von beiden Seiten gesucht: Die liberale Partei konnte nämlich in der Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und der Restaurationspolitik mit ihrer Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche eine Alternative bieten, die auf den ersten Blick den Interessen der katholischen Kirchen zugutezukommen schien. Allerdings erkannte die Kurie schnell, dass ein Schulterschluss mit den Liberalen ihr mehr zum Nachteil gereichen würde als der Ausgleich mit der Restaurationspartei, die ihrerseits den wachsenden Einfluss der liberalen Partei argwöhnisch beobachtete. Vgl. L. Gall, Liberalismus (1968), 85 ff. 230 J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 30. 231 Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 392. 232 Das Konkordat bestimmte z. B. »die Auf hebung des staatlichen Plazets und die Freigabe des unmittelbaren Verkehrs mit Papst, dem Klerus und allen Behörden des Landes (…), die Ausbildung und Prüfung der Theologen [wurden] von der staatlichen Prüfung befreit« (J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 30). Für die weiteren Bestimmungen vgl. aaO., 30 f. Als Beispiel für die Problematik der abgeschlossenen Konvention kann auf das Problem des Unterrichtswesens verwiesen werden. Der Religionsunterricht sollte nach der Konvention allein der Aufsicht der Kirche unterstehen, die auch die Einführung von Schulbüchern bestimmen konnte. Zudem wurde dem Erzbischof das Recht eingeräumt, nach Absprache mit der Regierung Klöster und Schulen einzurichten. Das Unterrichtswesen stellte jedoch seit jeher einen besonders sensiblen Punkt in der Auseinandersetzung zwischen dem Liberalismus und der katholischen Kirche dar. Schließlich
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Der Protest ließ auch nicht lange auf sich warten und wieder war es Schenkel, der gemeinsam mit Häusser an vorderster Front kämpfte. Am 28. November versammelten sich etwa 400 Teilnehmer 233 auf Einladung von Schenkel, Häusser und einigen anderen bei der sogenannten Durlacher Konferenz, um über die Situation zu beraten. Die Konkordatsgegner sahen die Stellung der protestantischen Kirche und die Gleichberechtigung der Kirchen, also das Prinzip der Parität, in Baden durch das Konkordat ernsthaft gefährdet bzw. nicht mehr gegeben und wollten die Position der protestantischen Kirche zu dem Konkordat diskutieren.234 Einig waren sich die Beteiligten darin, dass das Konkordat dem Wesen des modernen Staates in seiner Unabhängigkeit von kirchlicher Macht widerspricht, da der Staat die Kirche als ebenbürtige Macht neben sich anerkenne und sich ihr zum Teil sogar unterordne.235 Die Konferenzteilnehmer waren demgegenüber davon überzeugt, dass der moderne Staat überhaupt erst durch die Reformation von der Macht der Kirche befreit und seine Würde wiederhergestellt worden ist; »der Protestantismus und der moderne Staat sind als Zwillingsbrüder aus der Reformation (...) hervorgegangen«, wie Häusser hervorhob.236 Während der Protestantismus die Freiheit der Kirchen im Staat fordere und den Staat dabei als
ging das Programm des politischen Liberalismus davon aus, »daß die Menschen fähig waren, ihren Verstand zu gebrauchen, daß sie heraustraten aus ›ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit‹, sich der Bevormundung durch geistliche und weltliche Autoritäten entzogen und so von Untertanen zu selbst- und mitverantwortlichen Bürgern wurden« (L. Gall, Liberalismus (1968), 68). Um diese Voraussetzungen zu schaffen, war jedoch nach liberalem Programm ein Schulunterricht notwendig, der von geistig unabhängigen und kritischen Lehrern erteilt wurde, die eben nicht unter der kirchlichen Aufsicht standen. Vgl. dazu ebd. 233 Die Teilnehmer der Versammlung waren aus drei verschiedenen Gruppen zusammengesetzt: aus einer kirchlich-liberalen, einer dynastisch-konservativen und einer deutsch-nationalen Gruppe. Der Widerstand fand also eine breite Unterstützung in der Öffentlichkeit. Vgl. J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 35. 234 Die Verhandlungen der Durlacher Konferenz sind in einer Denkschrift veröffentlicht, vgl. Verhandlungen (1859); hier: aaO., 8 f. 235 »Die badische Regierung hat mit dem römischen Stuhle einen Vertrag abgeschlossen wie mit einer auswärtigen Macht (...). Die Regierung schloß diesen Vertrag mit einer Macht, die sich in streitigen Fällen jeder Zeit den Rückgriff auf ihre kanonischen Rechte vorbehält (...); einer Macht, die wesentlichen Grundlagen alles heutigen Staatslebens feindselig und ablehnend gegenüber steht. (...) Ihm [dem römischen Stuhl; Anm. d. Vf.] sind heute noch die Protestanten abgefallene Ketzer; den Grundsatz der religiösen Gleichberechtigung, auf dem unser heutiges Staatsleben beruht, hat er niemals zugegeben. Auch der weltlichen Staatsgewalt gegenüber hat der römische Stuhl Grundsätze bekannt und nicht aufgegeben, mit denen jede heutige staatliche Ordnung unverträglich ist. « (AaO., 8 f.). Diese Position hatte Schenkel auch schon Anfang der 50er Jahre vertreten, wie in den Gesprächen deutlich wird, vgl. II.3.2. 236 Verhandlungen (1859), 11. Josef Becker weist darauf hin, dass diese Deutung Häussers auf Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft (1827/30) zurückgeht, vgl. J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 28, Anm. 23.
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feste übergeordnete Größe anerkenne, verfolgte nach Ansicht der Konkordatsgegner Rom die Freiheit der Kirche vom Staat.237 Schenkel betont in seiner Rede, die von kulturkämpferischen Tönen geprägt ist, vor allem die protestantismusfeindliche Haltung des Katholizismus, der »unduldsam im Principe ist« 238. Die Ablehnung des Protestantismus durch den Katholizismus sieht Schenkel in dessen Anspruch begründet, die einzig wahre Kirche zu sein, sodass die katholische Kirche neben sich grundsätzlich keine anderen Gemeinschaften tolerieren könne. Dieses Selbstverständnis stellt in Schenkels Augen eine akute Bedrohung für den Frieden in einer konfessionsgemischten Gesellschaft dar.239 Angesichts dieser Tatsache ist Schenkel zufolge gerade deswegen die Aufgabe des modernen Staates, dafür Sorge zu tragen, dass der Katholizismus diesen Machtanspruch nicht mit Gewalt durchsetzen kann. Diese Schutzfunktion kann der Staat, so Schenkel, nach Abschluss des Konkordats jedoch aus rechtlichen Gründen nicht mehr ausüben, da er die katholische Kirche als gleichberechtigte Größe im Staat anerkennt. Das Konkordat stellt damit eine konkrete Existenzbedrohung des Protestantismus dar. Demgegenüber stellt Schenkel den Protestantismus als Prinzip von Freiheit und Toleranz dar: Da der Protestantismus Religion als etwas Innerliches versteht und das Gewissensrecht des Individuums anerkennt, ist er seinem Wesen nach tolerant und fördert das friedliche Gemeinwesen.240 Insgesamt treten in dieser zunächst politischen Auseinandersetzung stärker als beim Agendenstreit auch politische Kategorien, Motive und Ziele in den Vordergrund, die sich allerdings sehr stark mit religiös-kirchlichen vermischen, wie das folgende Zitat aus der Ansprache Häussers eindrücklich zeigt: »Der Protestantismus hat den Staat nicht allein freigemacht von fremden Banden, er hat ihm auch zuerst die göttliche Mission zuerkannt, alle hohen und sittlichen Lebenszwecke menschlicher Gesellschaft vermittelst seiner Ordnungen zu erreichen. Große Principien, mit denen unser Protestantismus entstanden ist, sind Lebensbedingungen des heutigen Staates geworden. Der Grundsatz, daß in Glaubenssachen die Macht der 237 Vgl. Verhandlungen (1859), 12. Auf der Versammlung wurden zudem »die erweiterte Geltung des kanonischen Rechts auf dem Gebiet der Ehegerichtsbarkeit, die Möglichkeit der Wiedereinführung und Neubegründung von Orden und Klöstern, speziell der Gesellschaft Jesu, die Einschränkung der Lehrfreiheit an der Universität Freiburg und die Auf hebung des Plazets« (aaO., 35) abgelehnt. 238 AaO., 32. 239 »Kann es uns aber gleichgültig sein, wenn die Staatsgewalt mit einer dem Protestantismus grundsätzlich feindseligen Macht eine Uebereinkunft trifft, welche ihr eine autonomische Stellung einräumt, bisher staatliche Recht überläßt, und einen großen, längst nicht mehr ausgeübten, Einfluß zugesteht? Wird diese Macht den Zuwachs von Gewalt, welcher ihr durch das Concordat zu Theil wird, nicht möglichst zum Nachtheile der Protestanten, die als blose Deserteurs aus den Reihen ihrer Unterthanen betrachtet, auszubeuten suchen?« (AaO., 33). 240 Vgl. dazu IV.2.3 und IV.4.
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Mehrheit nicht gelte, stammt aus jener Protestation, von welcher wir den Namen tragen. Der Grundsatz der Gleichberechtigung verschiedener Confessionen, der Freiheit der Lehre, ist auf dem Boden des Protestantismus erwachsen; Rom hat diese Principien verworfen, der moderne Staat sie in seine Ordnungen aufgenommen.« 241
Die kirchlichen Fragen und Zielsetzungen werden verbunden mit »nationalen und politischen Zielen des Liberalismus« 242 , die wiederum protestantisch begründet werden. Der Staat ruht nach diesem Verständnis auf protestantischen Voraussetzungen und hat die protestantischen Prinzipien in sich aufgenommen, namentlich die Freiheit des Individuums und damit Gleichberechtigung und Toleranz. Mit diesen Prinzipien sind genuine Motive des politischen Liberalismus aufgerufen, die von den Durlachern protestantisch begründet werden. Das heißt: Der moderne Staat, das moderne Gemeinwesen sind letztlich protestantisch. Diese Position geht demnach von der Voraussetzung aus, dass das neuzeitliche, am Individuum orientierte Verständnis der öffentlichen Ordnung immer schon durch den Protestantismus geprägt und von diesem getragen wird: Beide sind untrennbar aufeinander bezogen.243 Aufgrund der engen Vernetzung von kirchlichen und politischen Zielen zogen die Unruhen und Proteste auch sowohl politische wie kirchliche Veränderungen nach sich. Zunächst gab die Durlacher Konferenz den Impuls zu zahlreichen weiteren Versammlungen, Petitionen und Unterschriftensammlungen im ganzen Land, die auch bei der katholischen Bevölkerung Unterstützung fanden. Der Druck auf die Regierung und den Großherzog war entsprechend hoch.244 Die konservative Regierung versuchte zwar mit allen Mitteln an dem Vertrag festzuhalten, der Großherzog ließ sich allerdings wie schon im Agendenstreit von der Stimmung der Bevölkerung beeindrucken. Es führt an dieser Stelle zu weit, die politischen Entwicklungen, die zur Auflösung des Konkordats geführt haben, im Einzelnen zu verfolgen,245 von Interesse ist hier nur das Ergebnis: Das Konkordat scheiterte in beiden Regierungskammern und wurde aufgelöst. Im Zuge dessen ersetzte Großherzog Friedrich die konservative Regierung durch Anton von Stabel (1806 – 1880) und August Lamey (1816 – 1896), beide entschiedene Gegner des Konkordats und Anführer des politischen Liberalismus in Baden. Damit war der liberale Umschwung in Baden auf politischer Ebene vollzogen. Dass nach diesen politischen Veränderungen auch ein kirchlicher Umbruch bevor stand, war zu erwarten. Er erfolgte Ende des Jahres 1860. Der 241
Verhandlungen (1859), 11 f. C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 25. 243 Vgl. IV.4. 244 Lothar Gall weist in diesem Zusammenhang auf den enormen und entscheidenden Einfluss des liberalen Politikers Franz von Roggenbach auf den Großherzog hin, vgl. L. Gall, Liberalismus (1868), 96 ff. 245 Josef Becker schildert ausführlich die Hintergründe und Entwicklungen, vgl. J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 35 ff. 242
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OKR hatte sich nicht mehr vom Agendenstreit erholt und bezog nun während der Konkordatsauseinandersetzungen auch nicht klar Stellung gegen die Vereinbarung, um die Opposition zu stärken und so »mit der protestantischen Bevölkerung wieder Fühlung zu gewinnen (…). Statt dessen ging der evangelische Prälat [Ullmann; Anm. d. Vf.] regelmäßig wöchentlich zum Thee bei dem Concordatsminister.« 246 Die Stellung von Ullmann und seinen Mitstreitern wurde schließlich – auch mithilfe einiger politischer Schachzüge – unhaltbar; im Dezember 1860 bat Ullmann den Großherzog schließlich um seine Versetzung in den Ruhestand, ihm schloss sich Bähr an.247 Damit war die Zeit des Ullmann’schen Regiments in der Kirche, das ja schon im Agendenstreit erheblich gelitten hatten, endgültig beendet. Mit dem Ausscheiden Ullmanns als Prälat und Direktor des OKR wurden beide Ämter wieder aufgeteilt. Heinrich Holtzmann folgte Ullmann als Prälat, August Nüßlin (1817 – 1887) wurde neuer Direktor des OKR. Tatsächlich war der Erfolg der Liberalen schon wesentlich früher am 7. April 1860 in der bekannten ›Osterproklamation‹ des Großherzogs öffentlich unterstrichen worden. In dieser Proklamation hatte Friedrich den beiden Kirchen Selbständigkeit und Gleichberechtigung zugesichert: »Es ist Mir heute eine eben so werte Pflicht, von Meiner eigenen Mir theuern Kirche zu reden. Den Grundsätzen getreu, welche für die katholische Kirche Geltung erhalten sollen, werde Ich darnach streben, der evangelisch-protestantischen-unirten Landeskirche auf der Grundlage ihrer Verfassung eine möglichst freie Entwicklung zu gewähren.« 248
Durch die Gleichstellung der badischen Landeskirche mit der katholischen Kirche war zunächst eindeutig, dass nicht nur das Prinzip der Parität gewahrt werden würde, sondern auch, dass das Verhältnis von protestantischer Kirche und Staat neu geregelt werden musste: Der Großherzog hatte das Ende des Staatskirchentums erklärt und damit die Trennung von Kirche und Staat zugesagt, gleichwohl die Aussage »eine möglichst freie Entwicklung zu gewähren«, bereits darauf hindeutete, dass der Staat die Aufsicht über die Kirchen nicht aufgeben würde. Zudem ist impliziert, dass die Kirchenverfassung einer gründlichen Revision unterzogen werden konnte und musste. Lamey, als Innenminister für Kirchenangelegenheiten zuständig, entwarf zunächst eine Staatskirchenverfassung nach liberalen Vorstellungen.249 Dabei ging er von den Grundsätzen der 246
A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 393. Vgl. J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 87 ff. 248 E. Huber / W. Huber (Hg.), Staat und Kirche (1976), Bd. 2 , 233. 249 Dabei waren sich auch die Anführer der liberalen Partei durchaus uneinig, inwieweit die Kirchen unter die Aufsicht des Staates gestellt werden sollten, wie also die angestrebte Trennung letztlich umzusetzen sei. Während die eine Seite unter August Lamey an einem gewissen Mitspracherecht des Staates in kirchlichen Angelegenheiten festhalten wollte, drängten Julius Jolly und Franz von Roggenbach auf eine grundsätzliche Lösung, die die 247
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Paulskirchenversammlung aus. Daneben standen ihm aber auch noch die Ereignisse des badischen Kulturkampfes Anfang der 1850er Jahre vor Augen. Vor diesem Hintergrund verfolgte er einen Mittelweg zwischen der Freiheit der Kirchen einerseits, und einem bleibenden Aufsichtsrecht des Staates andererseits. Julius Jolly brachte die Grundsätze, auf denen das Staats-Kirchen-Verhältnis gründete auf den Punkt: »Selbständigkeit der christlichen Hauptkirchen, als öffentlich berechtigter Kirchen, aber in entschiedener Unterordnung unter den Staat.« 250 Damit ist Hans Liermann zufolge erstmals der staatskirchenrechtliche Grundsatz der ›hinkenden Trennung‹ formuliert, der bis heute im Verfassungsrecht Deutschlands Gültigkeit hat.251 Am 9. Oktober 1860 wurde das neue Staatskirchengesetz in der II. Kammer angenommen. Mit der Verabschiedung der neuen Staatskirchenverfassung war der Weg für eine neue Kirchenverfassung endgültig frei. Schon nach dem endgültigen Scheitern des Konkordats und nach der Osterproklamation war in den badischen Gemeinden eine lebhafte Diskussion über eine mögliche Neugestaltung der Kirchenverfassung ausgebrochen. Der Großherzog verfügte noch am 9. Oktober, dass »die nöthig werdenden Änderungen in der Verfassung der vereinigten evangelisch-protestantischen Kirchen (…) einer Generalsynode zur Berathung vorgelegt werden«, und »[d]as Ergebniß dieser Berathung« ihm »als oberstem Bischof zur Bestätigung zu unterbreiten« 252 . Das Innenministerium wurde beauftragt, »die Berufung der Generalsynode mit thunlichster Beschleunigung
absolute Trennung und Unterordnung der Kirchen unter die staatlichen Gesetze vorsah, was jedoch zu einer starken Beschränkung der bisherigen kirchlichen Rechte geführt hätte. Sie sahen den Staat als einzigen Garanten des Rechts an und wie der Einzelne, müssten sich auch die Kirchen in diese Rechtsverhältnisse einordnen. Lamey dagegen betonte die Freiheitsrechte des Einzelnen und der Gruppe stärker, die der Staat zu schützen und denen er letztlich zu dienen habe. Am Ende konnte sich Lamey mit seinem Entwurf durchsetzen, »die Kirchen teils, ›was ihren hocus pocus betrifft‹ als selbständige Korporation, teils als ›Teile des öffentlichen Organismus‹ zu behandeln, wobei sie sich ›für ihre privilegierte Stellung diejenigen Beschränkungen und Inkonsequenzen gefallen lassen müssen, welche der Staat in seinem Interesse braucht‹« (L. Gall, Liberalismus (1968), 139). Für die Auseinandersetzung innerhalb der liberalen Partei um die Kirchengesetzgebung vgl. aaO., 127 – 146. 250 J. Jolly, Die badischen Gesetzentwürfe (1860), 3. 251 »Vergleicht man seinen Inhalt [des staatskirchenrechtlichen Systems; Anm. d. Vf.] (…) mit dem heute in Geltung befindlichen Staatskirchenrecht der Weimarer Verfassung von 1919, das durch Art. 140 des Grundgesetzes in das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland übernommen ist, so ergibt sich volle Übereinstimmung im Grundsätzlichen. (…) Damit war in Baden bereits 1860 das staatskirchenrechtliche System geschaffen, das von Ulrich Stutz später im Hinblick auf die einschlägigen Artikel der Weimarer Verfassung als ›hinkende Trennung‹ bezeichnet worden ist.« (H. Liermann, Kirche des Großherzogtums Baden (1971), 543). Ob diese Einschätzung Liermanns so richtig ist, muss allerdings gefragt werden, da der Terminus ›hinkende Trennung‹ gerade die Selbständigkeit der Kirche ohne Unterordnung unter den Staat, und vielmehr die Förderung der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch den Staat bezeichnet. 252 Abgedruckt in: E. Huber / W. Huber (Hg.), Staat und Kirche (1976), Bd. 2 , 380.
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einzuleiten« 253. Dem Großherzog war also an einer raschen Neuordnung und damit auch einem Ende der Diskussionen gelegen; möglichen revolutionären Unruhen kam er damit, so Liermann, von vornherein zuvor.254
4.3. Die neue Kirchenverfassung 255 Die Ausarbeitung einer Kirchenverfassung war natürlich Schenkels Metier. 1860 veröffentlichte er die Schrift Die Erneuerung der Deutschen Evangelischen Kirche nach den Grundsätzen der Reformation 256, in der er die Grundlagen einer neuen Kirchenverfassung ausarbeitete. Dabei ordnete er die Diskussion von Beginn an in einen größeren Kontext ein, indem er erneut die Bedeutung der kirchlichen Fragen für die politische Gesamtentwicklung Deutschlands be tonte. Schenkel kritisiert in der Veröffentlichung, dass alle Kräfte auf die politische Einheit des Landes gerichtet seien. ›Wahre Freiheit und Macht‹, um die es gegenwärtig zu kämpfen gelte, können seiner Ansicht nach allerdings nur durch eine feste religiöse Grundlage verwirklicht werden.257 Schenkel ruft damit wieder ein Grundmotiv seiner Theologie auf, das sich schon in seiner konservativen Phase als grundlegend erwiesen hatte.258 Dementsprechend fordert Schenkel die Konzentration auf religiöse Fragen, da das weitere politische Schicksal des Landes primär von deren Beantwortung abhinge. Die Aufgabe der evangelischen Kirche besteht seines Erachtens gerade darin, »der deutschen Nation das Kleinod der Gewissensfreiheit zu bewahren, ihre geistigen Kräfte zu beleben, ihren Charakter zu stählen, ihre Jugend zu ernsten Entschlüssen und sittlicher Thatkraft zu erziehen.« 259 Schenkel nimmt hier demnach die Überlegungen der Durlacher Konferenz zum Verhältnis von Protestantismus und modernem Staat auf und begründet den Protestantismus weiterhin als Grundlage und Bedingung von Freiheit, Fortschritt und letztlich Machtentfaltung. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, bedarf der Protestantismus Schenkel zufolge »gegenwärtig einer energischen Rückkehr zu seinen Prinzipien, einer kräftigen Einkehr bei sich selbst; er muss von den Höhen abstrakter theologischer Bildung und amtspriesterlicher Einbildung in die Tiefen des 253
Ebd. Vgl. H. Liermann, Kirche des Großherzogtums Baden (1971), 544. Leider führt Liermann nicht aus, was genau der Großherzog weshalb fürchtete. Die Stimmung in der Bevölkerung war zwar aufgrund der Konkordatsstreitigkeiten angespannt, ob sie allerdings zum Ausbruch revolutionärer Unruhen geführt hätten, ist eine offene Frage, der in diesem Zusammenhang nicht weiter nachgegangen werden kann. 255 Vgl. dazu ausführlich IV.3.2. 256 Vgl. D. Schenkel, Erneuerung (1860). 257 Vgl. aaO., 1 ff. 258 Vgl. bes. II.3.1.; II.3.2. 259 D. Schenkel, Erneuerung (1860), 4. 254
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evangelischen Volksgeistes und Gemeindelebens zurückgehen« 260. Die Stärkung der Gemeinden und die Schaffung einer Presbyterial- und Synodalverfassung sind nach seiner Überzeugung deswegen die dringendste Forderung der Zeit. Die Diskussion um die badische Kirchenverfassung bekommt damit für Schenkel eine gesamtdeutsche Bedeutung, da hier die Möglichkeit besteht, eine Kirchenverfassung zu schaffen, die das Wesen des Protestantismus verwirklicht, sodass dieser schließlich eine Vorbildfunktion für andere Landeskirchen bzw. auch für eine mögliche Nationalkirche zukommt. Die neue Kirchenverfassung 261, die auf der Generalsynode 1861 verabschiedet wurde, ist von diesen Grundgedanken geprägt. Schenkel hat auf der zweiten Durlacher Konferenz ein Zehnpunkteprogramm vorgestellt, das sich im Wesentlichen in der verabschiedeten Kirchenverfassung wiederfindet.262 Die Gemeinden wurden auf allen Ebenen gestärkt, den Laien volle Gleichberechtigung mit den Geistlichen eingeräumt, kirchliche Gremien durch allgemeine direkte Wahlen gewählt, wobei alle »unbescholtenen evangelischen Männer von wenigstens fünfundzwanzig Jahren (…), auch wenn sie kein Amt in der Lokalgemeinde bekleidet hatten« 263, gewählt werden konnten. Die Generalsynode bekam nicht mehr nur eine rein beratende Funktion, sondern »wirkte bei der Gesetzgebung als beschlußfassende Körperschaft mit« 264. Dass Schenkel damit das Gegenteil seiner noch im Bremer Kirchenstreit vertretenen Position forderte und auch umsetzen konnte, ist offensichtlich. Die Forderung nach der Stärkung der Gemeinde, die sich im allgemeinen Wahlrecht und dem demokratischen Kirchenauf bau sichtbar manifestiert, ist Ausdruck von Schenkels Protestantismusdeutung, die sich ganz konsequent an der neuzeitlichen Konzentration auf das freie Individuum orientiert, die im Laufe der letzten Jahre für Schenkels Theologie immer prägender geworden war. Liermann fasst das Ergebnis der Kirchenverfassung folgendermaßen zusammen: »Es gab in Baden die konstitutionelle Kirche im konstitutionellen Staate. Wenn man die Formulierung nicht theologisch, sondern rein juristisch anwendet, waren es ›zwei Reiche‹, die in Personalunion allein durch den Großherzog in seiner doppelten Eigenschaft als Landesherr und oberster Bischof miteinander verbunden waren. Und beide wurden nach denselben konstitutionellen Verfassungsgrundsätzen regiert.« 265
260
AaO., 5. Vgl. J. Mehlhausen, Kirche (1999), 169 f. 262 Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 399. 263 K. Bauer, Adolf Hausrath (1933), 174. 264 H. Liermann, Kirche des Großherzogtums Baden (1971), 547. Dass trotz des Endes des Staatskirchentums noch einige Reste desselben in der Verfassung zurückblieben, schmälert den Erfolg der liberalen Bewegung keineswegs, vgl. aaO., 549. 265 Ebd. 261
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Bedeutsam an der neuen Kirchenverfassung sind zudem die ersten beiden Paragraphen, in denen die badische Kirche sich ausdrücklich als Teil der evangelischen Kirche Deutschlands versteht.266 Damit war erstmals die Idee einer evangelischen Kirche Deutschlands in einer Kirchenverfassung formuliert.
4.4. Der Protestantenverein Von diesen Erfolgen beflügelt, wollten Schenkel und seine Mitstreiter die Neuerungen nun auf ganz Deutschland, das heißt alle Landeskirchen ausweiten. In der 1862 erschienen Schrift Die kirchliche Frage und ihre protestantische Lösung 267 entwarf Schenkel das noch weiter differenzierte Programm einer protestantischen Volkskirche und erörterte darin auch ausführlich den positiven Zusammenhang vom wahren Wesen des Protestantismus und nationaler Entwicklung in Abgrenzung zur protestantischen Orthodoxie und zum Katholizismus, die beide den Bedürfnissen der Zeit widersprächen.268 Diese Überlegungen standen auch im Hintergrund der Gründung des Deutschen Protestantenvereins 1863.269 Den Ausschlag für die Gründung des Protestantenvereins hatte Schenkel mit einem Vortrag auf der 5. Durlacher Konferenz am 3. August 1863 gegeben, in dem er über das Verhältnis der Konferenz zu den anderen Landeskirchen sprach. Darin bemängelt er, dass es seit der Auflösung des deutschen Reiches kein gemeinsames Kirchenorgan mehr gäbe und fordert die Schaffung einer Nationalvertretung der protestantischen Kirche.270 Eine Vereinigung wie die Eisenacher Kirchenkonferenz oder den Deutschen Kirchentag, die seiner Meinung nach von der orthodoxen Partei dominiert wurden, lehnt er jedoch ab.271 Eine protestantische Kirche in Deutschland müsse Volkskirche sein 272 und eben nicht eine Versammlung von Theologen. Am 30. September 1863 folgten etwa 130 266 Vgl. § 1, Abs. 1: »Die vereinigte evangelisch-protestantische Kirche des Großherzogthums Baden, welche mit der evangelischen Gesammtkirche Christum als ihr alleiniges Haupt erkennt, bildet einen Teil der evangelischen Kirche Deutschlands.« § 2 , Abs. 2: »Sie hält es für ihre Aufgabe, in eine organische Verbindung mit den übrigen evangelischen Kirchen Deutschlands zu treten.« (E. Huber / W. Huber (Hg.), Staat und Kirche (1976), Bd. 2 , 383). 267 Vgl. D. Schenkel, Die kirchliche Frage (1862). 268 Vgl. bes. aaO., 1 – 31. 269 Eine ausführliche Studie über den Protestantenverein bietet C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996); vgl. außerdem D. Schenkel, Protestantenverein (1868). 270 Vgl. D. Schenkel, Protestantenverein (1868), 106. 271 »Sie [die evangelische Kirchenkonferenz; Anm. d. Vf.] ist eine bloß kirchenbehördliche Conferenz, von der das protestantische Volk nicht die mindeste Notiz nimmt, deren sogenannte Beschlüsse, die sich ohnedies von den brennenden Fragen klüglich fern halten, spurlos an ihm vorübergehen, die bis jetzt noch nicht das mindeste Erkleckliche zu Tage gefördert hat, mit Ausnahme ihres guten Willens, der klerikalen und confessionellen Restauration mit unbedingter Hingebung zu dienen.« (AaO., 17). 272 Vgl. ebd.
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Teilnehmer der Einladung der Durlacher Konferenz nach Frankfurt, wo der Protestantenverein schließlich gegründet wurde.273 Als kirchenpolitische Ziele des Vereins wurden in den Statuten festgelegt: Der »Ausbau der deutschen evangelischen Kirchen auf der Grundlage des Gemeindeprincips (…) sowie die Anbahnung einer organischen Verbindung der Landeskirchen«; weiter »die Bekämpfung alles unprotestantischen hierarchischen Wesens«, »die Erhaltung und Förderung christlicher Duldung und Achtung« sowie »die Anregung und Förderung des christlichen Lebens (…) welche die sittliche Kraft und Wohlfahrt des Volkes bedingen« 274. Die Erneuerung der Kirche strebt der Protestantenverein »im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit« 275 an. Dabei steht die Überzeugung im Hintergrund, dass der Protestantismus im Gegensatz zum römischen Katholizismus – zumindest in seiner jesuitischen Form – »die Religion der modernen Welt« 276 ist, insofern er »das Christenthum in der Form der religiösen Wahrheit und der sittlichen Freiheit ist« 277 ; er ist dies, eben weil er die neuzeitliche Neuorientierung an der Subjektivität nicht nur aufnimmt, sondern vielmehr begründet. Protestantismus und Gegenwartskultur werden so miteinander verbunden, dass das Protestantische an dieser Kultur identifiziert wird. Nicht im Gegenüber zu oder unter Absehung von den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen werden Protestantismus bzw. protestantische Kirche verstanden, sondern sie werden ganz bewusst in einen engen positiven Zusammenhang gebracht, der sich explizit in der »Anregung und Förderung des christlichen Lebens« 278 äußert. Damit möchte der Protestantenverein der »weitverbreitete[n] Gleichgültigkeit gegen die Religion« 279 begegnen, die er vielmehr als Fundament der Kultur ansieht: 280 Die moderne Kultur ist immer schon protestantisch geprägt. Nach diesem Verständnis unterwirft sich Protestantismus also nicht der Kultur, sondern macht es sich vielmehr zur Aufgabe und erhebt den Anspruch für sich, »dieser Kultur ethische Orientierung zu geben. Nach kulturprotestantischer Verhältnisbestimmung von christlicher Religion und säkularer Kulturentwicklung sollte der Kirche die Aufgabe zufallen, die gegenwärtige Kultur mit christlicher Moral zu durchdrin273 Bei der Versammlung in Frankfurt handelte es sich genau genommen um eine Vorversammlung, die endgültige Konstituierung fand erst auf dem Ersten Protestantentag zwei Jahre später in Eisenach statt. Als Gründungsdatum wird in der Literatur jedoch mit wenigen Ausnahme die Versammlung in Frankfurt genannt. Vgl. zu den Anfängen und zur Gründung des Vereins C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), bes. 38 ff. 274 D. Schenkel, Protestantenverein (1868), 108. 275 AaO., 24. 276 AaO., 4. 277 Ebd. 278 AaO., 34 f. 279 AaO., 35. 280 »Die Cultur, getrennt von der Religion, besitzt keine Wärme, wie die Religion, entfremdet von der Cultur kein Licht.« (AaO., 6).
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gen, Pessimismus und Materialismus abzuwehren und somit den Idealismus in der Kultur und diese als eine einheitliche, christlich-protestantische zu erhalten.« 281
Damit kommt dem Protestantismus in seiner kulturfördernden Aufgabe eine ebenso kulturkritische Aufgabe zu. Zur Verwirklichung dieses Ziels, drängt der Protestantenverein auf die Bildung einer Volkskirche. Die institutionelle Form dieser Volkskirche soll eine ›organische Verbindung der Landeskirchen‹ sein, die – zumindest nach Schenkels Vorstellungen – nicht einfach eine lockere Verbindung sein soll. Das letzte und größere Ziel ist vielmehr die Schaffung einer deutsch-protestantischen Nationalkirche.282 Diese soll durch eine presbyteriale und synodale Kirchenverfassung organisiert und auf der Gemeinde gegründet sein. Damit grenzt sich der Protestantenverein eindeutig gegen die kirchliche Orthodoxie sowie freilich auch gegen den ultramontanen Katholizismus ab, denen, weil sie der Kultur und dem Protestantismus feindlich gegenüberstehen, der Kampf angesagt wird.283 Mit diesen kirchenpolitischen Zielen stellt der Protestantenverein sich mitten in die theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, die Schenkel als »Streit darüber [versteht], ob der Protestantismus seinem ursprünglichen Geiste treu bleiben, oder ob er von sich selbst abfallen, ob er aus seinem eigenen Wesen und seiner eigenthümlichen Grundrichtung sich weiter entwickeln, oder ob er zu den Anschauungen des römischen Katholicismus zurückkehren soll. Er ist ein Streit zwischen Katholicismus und Protestantismus in der Mitte der deutsch-protestantischen Kirche.« 284
Im Gegensatz zu den klaren kirchenpolitischen Zielen hat sich der Verein theologisch kein eindeutiges Profil gegeben, obwohl das unter den Mitgliedern durchaus umstritten war. Schenkel lehnte eine eindeutige Festlegung nicht nur ab, um für eine möglichst große Breite theologischer Positionen tragbar zu sein: Vielmehr war diese Forderung in seinem Protestantismusverständnis begründet, dem die Festlegung auf ein bestimmtes Bekenntnis widersprach. Die Ablehnung sah er deswegen auch im Wesen der Union begründet: »Ueberall da, wo die Union innerhalb des Protestantismus zu ihrem vollen Rechte und ihrer durchgreifenden Verwirklichung gelangt ist, ist die kirchengesetzliche Gebundenheit an die Autorität der Bekenntnißschriften fernerhin zu einer sittlichen Unmöglichkeit geworden. (…) Auf dem gemeinsamen Grunde der Union sind daher verschiedene dogmatische Richtungen zulässig (…).« 285
281
C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 292. Vgl. aaO., 31. 283 Vgl. D. Schenkel, Protestantenverein (1868), 33. 284 AaO., 8 f. 285 AaO., 117. 282
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Die Union ist nicht an die Übereinstimmung in der Lehre geknüpft,286 die, wie oben bereits deutlich geworden ist, nach Schenkels Ansicht gegenüber dem eigentlichen Wesen des Protestantismus nur sekundär ist. Aufschlussreich ist abschließend noch ein Blick auf die politische Ausrichtung des Protestantenvereins, für die vor allem das Staatsverständnis von Rothe und Johann Casper Bluntschli 287 prägend waren.288 Die nationale Perspektive des Vereins zeigt sich schon im Namen: Deutscher Protestantenverein. Uneinig war man sich allerdings über die Frage, ob ein klein- oder großdeutsches Reich das Ziel der nationalen Entwicklung sei.289 Im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche und Staat vertrat der Protestantenverein im Wesentlichen dieselben Grundsätze wie die Durlacher Konferenz im Rahmen des Konkordatsstreites. So setzte sich der Verein für die Trennung und Unabhängigkeit von Staat und Kirche ein, ohne die positive Beziehung von Staat und Kirche aus dem Blick zu verlieren, und die Mitglieder verstanden den Staat ebenfalls als christlich, präzisier noch: als protestantisch. Nach der Analyse Claudia Lepps kann das Staats-Kirchen-Verständnis des Protestantenvereins folgendermaßen zusammengefasst werden: »Ziel des Protestantenvereins war mithin ein harmonisches Zusammenspiel von modernem Staat und einer staats affirm ativen, jedoch in ihren inneren Angelegenheiten weitgehend freien protestantischen Volkskirche unter der ›Oberaufsicht‹ des Staates.« 290 Der Kirche wird dabei eine ganz spezifische Funktion zugesprochen. Anders als ihr Vordenker Rothe verfolgte der Verein nicht die Auflösung der Kirche, sondern die protestantische Kirche sollte »[u]nter Zurückstellung der dogmatischen Form christlicher Frömmigkeit (…) vorranging die für die Gesellschaft in allen ihren Lebensgebieten bedeutsamen sittlich-religiösen Grundideen des Christentums (…)« betonen und pflegen, »die sich sodann im außerkirchlichen Raum – vor allem im Staat – entfalten sollten« 291. Ähnlich wie Schenkel es programmatisch in seiner AKZs erklärt hatte, ging man also von einem unauflöslichen Zusammenhang von Protestantismus, Kultur und Staat aus. Theologie und Kirche 286
Vgl. dazu IV.2.2.2. Johann Casper Bluntschli (1808 – 1881) war Jurist und (liberaler) Politiker. Er hat in Zürich, Berlin und Bonn Jura studiert und wurde 1836 zum Professor in Zürich ernannt. 1861 folgte er einem Ruf nach Heidelberg. Bluntschli war Mitglied beider badischen Kammern und seit den 1860er Jahren kirchenpolitisch aktiv. Er war Präsident zahlreicher Generalsynoden. Bis 1874 war er Präsident des Protestantenvereins, den er mitbegründet hat. Vgl. G. Meyer von Knonau, Art. »Bluntschli« (1903). 288 Vgl. dazu C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 283 ff. 289 Interessanterweise plädierte Schenkel für die großdeutsche Lösung gegen Preußen, da er der Meinung war, dass mit Bismarck die Restauration in Preußen Einzug erhalte. Lepp relativiert diese Position Schenkels ein wenig; ihrer Ansicht nach stehen hinter Schenkels Position vor allem auch kirchenpolitische Motive; außerdem habe er dem EOK seine Haltung im Schenkel-Streit noch übelgenommen, vgl. aaO., 299. 290 AaO., 291. 291 AaO., 290. 287
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wurden somit zu Trägern einer modernen, am Subjekt orientierten und das impliziert christlich bzw. protestantisch begründeten Gesellschaft. Deutlich ist, dass der Schwerpunkt der Kirche auf Sittlichkeit und Moral verlagert wurde – wobei Religion und Sittlichkeit nach Vorstellung der Mitglieder des Protestantenvereins unlöslich miteinander verbunden waren – und es nicht darum ging, bestimmte material-dogmatische Lehren zu vertreten. Der Protestantenverein war also am Protestantismus wie auch der protestantischen Kirche nicht um ihrer selbst willen interessiert, sondern wegen deren grundlegenden Bedeutung für die moderne Kultur. Es ist bemerkenswert, dass diese Auffassung in ihren Grundzügen noch an die konservative Phase Schenkels erinnert, die er hier allerdings mit einer liberal-nationalen Vorstellung in Zusammenhang bringt, was sich vor allem an dem Modell einer presbyterial-synodal verfassten deutschen Volks- und Nationalkirche zeigt.292 Während Schenkel also an theologischen Grundeinsichten festhält, verbindet er diese aufgrund der Konzentration auf die neuzeitliche Autonomie des Subjekts mit liberalen Motiven, was sich sowohl in seiner kirchenpolitischen Haltung als auch in der letztlich stark an der (religiös-sittlichen) Bildung des Individuums und der Gesellschaft orientierten Aufgabe des Protestantenvereins niederschlägt.
4.5. Der Protestantismus als Gewissensreligion. Die Christliche Dogmatik und Das Wesen des Protestantismus Neben diesem vor allem kirchenpolitischen Engagement Schenkels, in dessen Kontext er zahlreiche Monographien, Artikel und Aufsätze veröffentlicht hat,293 sind in dieser Zeit zwei weitere große theologische Werke entstanden: zum einen die Christliche Dogmatik vom Standpunkte des Gewissens aus dargestellt294 sowie eine vollkommen umgearbeitete und verkürzte Fassung von Das Wesen des Protestantismus295. Die Dogmatik gehört in theologischer Hinsicht zu den Hauptwerken Schenkels; in ihr begründet und legt er ausführlich seine Theologie dar.296 – Sie stellt das theologische Fundament seiner kirchenpolitischen Schriften (und seines Engagements) dar, in denen er die theologischen Grundlagen oftmals nur knapp skizziert. Schenkel möchte in der Dogmatik den Schleiermacher’schen Religionsbegriff, in dem er einige Mängel zu erkennen meint, weiterentwickeln. 292
Zur volkskirchlichen Vorstellung Schenkels vgl. IV.3.2.2. Vgl. z. B. D. Schenkel, Amtsentlassung (1858); ders., Union (1859); ders., Bildung der evangelischen Theologen (1863). 294 Vgl. D. Schenkel, Christliche Dogmatik (1858/59), 2 Bde. 295 Vgl. D Schenkel, Wesen des Protestantismus (1862). 296 Die Dogmatik stellt deswegen auch eine der zentralen Quellen der Kapitel III und IV dieser Untersuchung dar. 293
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Schon im Titel wird das Programm der Dogmatik deutlich – als christliche Dogmatik erhebt sie den Anspruch, auf eine konfessionelle Einengung zu verzichten, und sie ist dem Unionsgedanken verpflichtet: Dass unter ›christlich‹ letztlich allerdings protestantisch zu verstehen ist, wird schnell deutlich. Die Dogmatik steht damit in Kontinuität zu Schenkels Arbeiten der letzten Jahre.297 Mit der Nennung des Gewissens im Titel sind zugleich schon Grundlage, Quelle und Kriterium der Schrift benannt. Diese Entwicklung hatte sich schon in den letzten Veröffentlichungen angedeutet und findet hier ihren Höhepunkt.298 Das Gewissen als ›religiöses und sittliches Centralorgan‹ des Geistes des Menschen ist der Ort, an dem der Mensch unmittelbar auf Gott bezogen ist, an dem Selbstund Gottesbewusstein eins sind. Diese Bezogenheit nennt Schenkel das religiöse Vermögen des Gewissens. Daneben tritt jedoch sofort das sittliche Vermögen: Der Mensch ist sich immer auch des So-Sein-Sollens bewusst, das heißt seiner gestörten Gemeinschaft mit Gott. Aus diesem Bewusstsein entspringt das Heilsbedürfnis, das nach Schenkel dem Religionsbegriff wesentlich zugrunde liegt und eine Voraussetzung für die Dogmatik überhaupt ist. Indem Schenkel das Subjekt im Gewissen unmittelbar und persönlich auf Gott bezogen weiß, fasst er das anthropologische und theologische Moment nun im Gewissen zusammen. Das Gewissen wird somit zur obersten Quelle und zum Kriterium der Dogmatik.299 Die zweite Auflage des Wesen des Protestantismus, die 1862 erschien, ist nicht nur eine verkürzte und damit leser- und gemeindefreundlichere Ausgabe, sondern geht – im Anschluss an die Dogmatik und anders als in der 1. Auflage des Werkes – vom Gewissen als erster Quelle des Protestantismus aus. Diese Ausgabe kann damit als die nachträgliche theologiegeschichtliche Begründung der Dogmatik gelten. Die Reformation deutet Schenkel als tiefsten Ausdruck und Tat des Gewissens, die ihre Vollendung im Protestantismus findet: »Die große weltgeschichtliche That, vermittelst welcher der Protestantismus unter die Völker trat, ist mithin aus dem unverwüstlichen Bewußtsein hervorgegangen, daß dem Gewissen in den Angelegenheiten des Heils die erste und entscheidende Stimme zukommt. Ohne dieses Principat des Gewissens gäbe es keinen Protestantismus.« 300
Ende der 1850er Jahre haben sich damit die zentralen und eigentümlichen Motive und Grundzüge von Schenkels Theologie ausgebildet: Der Protestantismus zeichnet sich wesentlich durch die Befreiung des Subjekts von kirchlicher Bevormundung und damit durch die Befreiung des Subjekts zur unmittelbaren Bezogenheit auf Gott vermöge des Gewissens aus. Insofern ist er die Religion 297 Darüber hinaus wird dadurch natürlich die Nähe zu Schleiermacher signalisiert, auch wenn Schenkel sich von dessen Glaubenslehre explizit abgrenzt, vgl. III.4.1.2.2. 298 Vgl. D. Schenkel, Unionsberuf (1855); ders., Reformatoren (1856); ders., Art. »Gewissen« (1856). 299 Vgl. dazu ausführlich III.4.1. 300 D. Schenkel, Wesen des Protestantismus (1862), 61 [Hervorhebung d. Vf.].
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der Freiheit und bildet als solche das Fundament wahrer Freiheit. Damit bekommt der Protestantismus wesentliche Bedeutung für die am autonomen Individuum orientierte moderne Gesellschaft, und nach Schenkels eigenem Selbstverständlich profiliert er damit den Protestantismus gegenüber Positionen, die diesem (bzw. dem Christentum) und der Kirche nur noch eine untergeordnete und periphere Bedeutung für öffentliche Angelegenheiten zugestehen, als plausibles und letztlich nicht hintergehbares Deutungsangebot.301 Diese Protestantismusdeutung schlägt sich dann auch sichtbar in einer presbyterial-synodalen Kirchenverfassung nieder, die allein dem glaubenden Individuum in seiner unmittelbaren Bezogenheit auf Gott gerecht wird und die im Gegensatz zum Katholizismus und der kirchlichen Restaurationspartei als kultur- und modernitätsfeindliche Bewegungen steht, in denen die Institution dem Subjekt vorgeordnet ist und dieses somit entmündigt wird. Als 1863 das Heidelberger Predigerseminar sein 25jähriges Bestehen feierte, wurde dieses Fest auch zur Feier von Schenkels kirchenpolitischen Erfolgen.302 Allerdings: »Die Jubelfeier im Sommer 1863 war der letzte Tag ungetrübter Freude in Schenkels öffentlichem Leben, denn bereits hatte er selbst einen Schritt gethan, der seine Stellung untergraben mußte.«303
5. Der Schenkel-Streit (1864 – 1867) 304 Den Schritt, auf den Hausrath hier anspielt und der die Wende in Schenkels öffentlichem Leben darstellte, ist 1864 Schenkels Veröffentlichung Das Charakterbild Jesu nach den biblischen Urkunden wissenschaftlich untersucht und dargestellt305. Hönig hält rückblickend fest: »Es war ein Jahr, welches auf das ganze nachfolgende Leben eine trübende Wirkung ausgeübt hat. Es war ohne Zweifel auch kein glücklicher Gedanke, den Schenkel in einem Augenblick der gespanntesten Lage, als die in Baden überwundene Partei auf eine Stunde der Gerechtigkeit und eine günstige Gelegenheit des Gegenschlages wartete, 301 Schenkel setzt sich somit mit einer Situation auseinander und versucht auf diese zu antworten, die Schleiermacher schon Jahre zuvor in seinem berühmten Diktum prophezeit hatte: »Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christenthum mit der Barberei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?« (F. Schleiermacher, Sendschreiben (1828), 347). 302 Sehr anschaulich schildert Hausrath das große Fest, vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 459 ff. 303 AaO., 463. 304 Ausführlich ist der Schenkel-Streit dargestellt bei A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 487 – 523.551 – 562; vgl. außerdem S. Wolf, Konservativismus (1990), 26 – 46; C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 231 – 244; F.-M. Kuhlemann, Bürgerlichkeit und Religion (2002), 330 – 338; R. Ehmann, Daniel Schenkel (2010), 177 – 186. 305 Vgl. D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864).
5. Der Schenkel-Streit (1864 – 1867)
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angeregt von dem ungeheuren Erfolg des Lebens Jesu von Renan, faßte, den Gedanken nämlich, dem französischen Werke ein deutsches gegenüber zu stellen.« 306
An das Buch schloss sich eine ungeheure Protestwelle an; es bot Schenkels Gegnern, die inzwischen in allen kirchlichen Parteien zu finden waren, einen willkommenen Angriffspunkt. Die Proteste waren freilich vollkommen übertrieben, Hausrath bezeichnet sie als »größten Humbug in der Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts«307 ; Otto Pfleiderer urteilt über die Protestwelle, dass für diese »der zureichende Grund in dem inkriminirten Buche schwer zu entdecken ist«308. Theologisch stellt das Buch zumindest keine tiefgreifende Veränderung gegenüber dem bisherigen Standpunkt Schenkels dar und im Vergleich zu ähnlichen Darstellungen des Lebens Jesu kann es als geradezu bieder gelten.
5.1. Das Charakterbild Jesu Schenkel unternimmt in diesem Buch den Versuch, das Charakterbild, das heißt die innere, charakterliche Entwicklung Jesu sowie sein wachsendes Bewusstsein für seine messianische Sendung darzustellen. »Wie Jesus das geworden, was er gewesen; unter welchen Bedingungen, Anfechtungen, Kämpfen er sich entwickelt und zur Vollendung hindurchgerungen; was er gewollt, erstrebt, vollbracht, und in welcher besonderen Weise; worin die bestimmte Eigenthümlichkeit seines Lebens und Strebens, seiner Person und seines Werkes sich ausgeprägt: das nach bestem Vermögen zu zeigen, haben wir hier versucht.« 309
Um eine Lehre der Person und des Werks Christi geht es in diesem Buch also nicht, Schenkel verweist hierfür immer wieder auf die entsprechenden Passagen in seiner Dogmatik.310 Auch wenn er mit dieser neutestamentlichen Studie auf den ersten Blick für ihn thematisch neue Wege einschlägt, löst er mit dieser Publikation letztlich ein Postulat seiner Dogmatik ein, wenn er dort schreibt: »Wenn es der Dogmatik mit der Aussage, daß das Personleben Jesu Christi ein wahrhaft menschliches war, voller Ernst ist: so muß sie es auch als ihre erste Pflicht betrachten,
306
W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 395. Dass Ernst Renans Leben Jesu (1864) der Anlass für Schenkels Veröffentlichung gewesen sei, dementiert dieser allerdings. Im Vorwort zur vierten Auflage betont Schenkel, um die Unabhängigkeit seines Werkes von Renan zu beweisen, dass das Manuskript längst fertig gewesen sei, als Renan seine Schrift veröffentlichte. Lediglich die Veröffentlichung sei durch Renans Leben Jesu motiviert, vgl. D. Schenkel, Charakterbild Jesu (1873), I. 307 A. Hausrath, David Friedrich Strauß (1878), 316. 308 O. Pfleiderer, Protestantische Theologie (1891), 304. 309 D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864), 13. 310 In § 86 der Dogmatik – Die zeitgeschichtliche Entwicklung und ewige Vollendung des Personlebens Christi – hat Schenkel die Grundzüge seines Verständnisses des Lebens Jesu ebenfalls dargelegt, vgl. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 731 – 790.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
dieses Leben als ein wahrhaft menschliches, das heißt als ein diesseitiges werdendes, sich entwickelndes und vollendendes, zu begreifen.« 311
Aber nicht nur in dogmatischer Hinsicht gliedert sich das Charakterbild Jesu in Schenkels Schaffen dieser Zeit ein, sondern auch im Hinblick auf die Zielrichtung: Konsequent stellt Schenkel auch diese Veröffentlichung, die er ausdrücklich an das Volk adressiert,312 in den Dienst des Auf baus der evangelischen Kirche, wie er in einer kurzen Anzeige seines Buches in der AKZs hervorhebt: »Je menschlicher, und deßhalb je geschichtlicher und dem Menschenleben verwandter, das Personleben Jesu Christi dagegen aufgefaßt und gewürdigt wird, desto freier und selbstbewußter wird auch die von ihm gestiftete Gemeinschaft, als die organische Erscheinung seines Personlebens, sich gestalten und entwickeln müssen.« 313
Dieser unauflösliche Zusammenhang von Christologie und Ekklesiologie314 überzeugte Schenkel von der Notwendigkeit, »dem tiefen Bedürfnisse unserer Zeit nach einer ächt menschlichen, wirklich geschichtlichen, Darstellung des Lebensbildes Jesu entgegenzukommen«315. Schenkel möchte mit dem Buch also weder eine Christologie vorlegen noch eine Leben-Jesu Darstellung im herkömmlichen Sinne schreiben: Ihm geht es vielmehr darum, das Charakterbild und das heißt die innere Entwicklung Jesu nachzuzeichnen, um so ein menschliches Bild von Jesus zu zeichnen, das den Lesern möglichst nahe steht. Nach einer Einführung, in der Schenkel die kirchliche Lehre der Person und des Werkes Christi kritisiert und sein Vorhaben erklärt, legt er zunächst Rechenschaft ab über sein Quellenverständnis.316 Schen311
AaO., 732 [Hervorhebung im Original]. Vgl. D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864), VI. Sowohl Renan als auch Strauß hatten kurz zuvor ihre Darstellungen des Lebens Jesu jeweils überarbeitet und ebenfalls ausdrücklich an das Volk adressiert, veröffentlicht, vgl. D. F. Strauß, Leben Jesu (1864) und E. Renan, Leben Jesu (1864). 313 D. Schenkel, Charakterbild (1864), 147. 314 »Man kann, wie uns scheint, die Wirkung, welche die Lehre von der Person Christi in dem kirchlichen Leben ausübt, nicht hoch genug anschlagen. Es ist eine nicht zu bestreitende Thatsache, daß mit der Ausbildung dieser Lehre auch die Kirche selbst ausgebildet worden ist, und daß in demselben Maße, in welchem diese Lehre von der Wahrheit abgewichen ist, auch das kirchliche Leben eine, mit den ursprünglichen Absichten Christi im vollen Widerspruche stehende Gestalt angenommen hat.« (D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864), 4). 315 AaO., IV. Der systematische Ort des Buches ist also nicht das, was Schenkel früher als ›objektives Moment‹ dem subjektiven gegenübergestellt hat. Diese Kategorien greifen an dieser Stelle nicht. Schenkel will mit dem Buch vielmehr zu einem tieferen Verständnis der Person Jesu beitragen und zwar so, dass der Glaubende bzw. die Gemeinde sich mit ihm gewissermaßen identifizieren kann. 316 Die Quellenfrage kann hier nicht ausführlich erörtert werden. Schenkel schließt sich im Wesentlichen seinem Kollegen Holtzmann an. Demnach liegt den drei ersten Evangelien ein gemeinsames Urevangelium zugrunde; im Mk-Evangelium spiegelt sich dieses Urevangelium am stärksten wider, die heutige Fassung des Evangeliums verdankt sich lediglich einigen Zusätzen und der ordnenden Hand eines Redaktors. Trotz der Priorität der ersten drei 312
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kel versteht die Evangelien als »wirkliche Geschichtsquellen«, die »geprüft, erforscht, mit einander verglichen, nach ihrem geschichtlichen Werthe gewürdigt werden müssen«317. Auf der Grundlage der synoptischen Evangelien – wobei Schenkel in seine Darstellung auch das Johannesevangelium mit einbezieht – entwirft er dann ein Bild von Jesu beständig wachsendem Bewusstsein seiner messianischen Sendung und dem damit einhergehenden wachsenden Konflikt mit der jüdischen Hierarchie. In einem Anhang erläutert Schenkel ausführlicher seine exegetischen Entscheidungen. Dass er in seiner Darstellung dabei über die Texte und die historische Auslegung bisweilen weit hinausgeht, bemerkt Albert Schweitzer sarkastisch: »Schenkel kann diese Deutungen [von Wundern] geben, weil er die innersten Geheimnisse Jesu kennt und also an die Texte nicht mehr gebunden ist.«318 Zum Vergleich: Strauß geht in seinem Leben Jesu wesentlich radikaler mit dem historischen Quellenwert der Evangelien um, indem er den Begriff des Mythos konsequent auf die evangelischen Erzählungen des Lebens Jesu anwendet: »Was an historischem Gestein verbleibt, erschöpft sich darin, daß Jesus in Nazareth aufwuchs, sich von Johannes taufen ließ, Jünger um sich scharte, predigend durch Palästina zog, namentlich in der Bergrede die pharisäische Gesetzlichkeit bekämpfte, das von Gott selbst bald herbeigeführte eschatologische Gottesreich verkündete und schließlich wegen seiner Gesetzeskritik von den Pharisäern ans Kreuz gebracht wurde.« 319
Entsprechend ist auch die Darstellung von Strauß aufgebaut: Nach einer ausführlichen Erörterung der Quellenlage sowie der das Werk leitendenden Grundbegriffe und Voraussetzungen (wie zum Beispiel den Mythos- und Wunderbegriff ) 320 zeichnet Strauß eine relativ knappe Darstellung des Leben Jesu im geschichtlichen Umriß321 und analysiert dann in einem weiteren Teil ausführlich Die mythische Geschichte Jesu in ihrer Entstehung und Ausbildung322 .
Evangelien hält Schenkel an dem Wert des Johannesevangeliums fest: »Das vierte Evangelium ist (…) wirklich geschichtliche Quelle für die Darstellung des Charakterbildes Jesu, aber in einer höheren vergeistigten Bedeutung des Wortes. Ohne dasselbe mangelte uns im Bilde des Erlösers die unergründliche Tiefe und die unerreichbare Höhe (…). Jesus Christus war nicht an den einzelnen Punkten seiner Lebensentwicklung so, wie der vierte Evangelist ihn schildert; aber er war so in der Tiefe und auf der Höhe seines Wirkens; er war nicht immer so in Wirklichkeit, aber er war doch so in Wahrheit (…). Unsere Schilderung darf freilich die irdisch-natürliche Grundlage der ersten Evangelien nicht verlassen, wenn sie eine geschichtlich-wirkliche sein will; aber ein ewig wahres wird das Charakterbild Jesu doch erst im Himmelsglanze der Beleuchtung, welche vom vierten Evangelium ausstrahlt.« (AaO., 34 f.). 317 AaO., 15. 318 A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung (1926), 206. 319 J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 511. 320 Vgl. D. F. Strauß, Leben Jesu (1864), 145 ff. 321 Vgl. aaO., 163 – 318. 322 Vgl. aaO., 321 – 620.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Schenkel grenzt sich zu Beginn gegen die klassische Zwei-Naturen-Lehre ab, die seiner Meinung nach zur Trennung von Glaubens- und Vernunftwahrheiten und somit zur Trennung von Kirche und Welt, Priester und Laien geführt hat.323 Außerdem kritisiert er die Jesusbilder des Rationalismus einerseits und Schleiermachers andererseits324 ; zwar anerkennt er die Verdienste sowohl des Rationalismus als auch Schleiermachers in der Überwindung der herkömmlichen Christologie, gleichwohl ist er der Überzeugung, dass es beiden nicht gelungen ist, »das moderne christliche Bewußtsein in seinem innersten Grunde und seinen tiefsten Bedürfnissen zu befriedigen«325. Dass Schenkels Darstellung keineswegs in der Tradition des radikalen Rationalismus steht – wie ihm vorgeworfen wurde – und dass er im Vergleich zu anderen Entwürfen in seiner Kritik und Bewertung der Quellen durchaus moderat war, soll im Folgenden anhand von drei Beispielen kurz verdeutlicht werden. 1) Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41 ff.) ist nach Schenkel historisch. In dem Ausspruch »Ich war doch im Hause meines Vaters« erkennt er »eine frühe, nicht zu unterdrückende Ahnung von seiner künftigen höheren Bestimmung, mit den Angelegenheiten des Reiches Gottes sich zu beschäftigen und seiner ewigen Berufspflicht schon jetzt seine irdischen Pflichten unterzuordnen«326 . 2) Die Wundergeschichten als Resultat einer übermenschlichen, göttlichen Einwirkung oder Tat Jesu zu deuten, lehnt Schenkel ab. Dass grundsätzlich Heilungswunder geschehen sind, leugnet er nicht; diese sind seines Erachtens 323
Vgl. D. Schenkel, Das Charakterbild (1864), 3 ff. Vg. aaO., 8 ff. Strauß setzt sich in seinem Leben Jesu ebenfalls gegen den Rationalismus ab, da dieser nicht die Grundvoraussetzung des Supranaturalismus infrage stelle, »daß die Evangelien historisches Geschehen wiedergeben« (J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 509); vgl. D. F. Strauß, Leben Jesu (1864), 13 – 18. Aber auch gegen Schleiermacher grenzt Strauß sich ab, da es für ihn »undenkbar ist, daß das Urbildliche in einem geschichtlichen Individuum vollständig zur Wirklichkeit gekommen ist« (J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 511). Vgl. D. F. Strauß, Leben Jesu (1864), 20 ff., bes. 23. 325 D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864), 10. Schenkel wirft dem Rationalismus vor, das Christusbild »nach philosophischen Voraussetzungen, die (…) sehr dürftig und unbefriedigend waren«, entworfen zu haben. »Nicht nur läßt das rationalistische Christusbild das Gefühl kalt, die Phantasie leer, das Gemühth gleichgültig, sondern auch der tiefer dringende Verstand begreift nicht, wie dieser weise Rabbi von Nazareth (…) dazu gekommen ist, eine Weltreligion zu stiften und auf Jahrhunderte hinaus den Stromwellen der gesammten Culturentwicklung ihre Bahnen vorzuschreiben?« (AaO., 9). Gegen Schleiermacher wendet er ein, »daß sein Christusbild einem lediglich persönlichen Gemüthsbedürfnisse seine Entstehung verdanke« (aaO., 10). Letztlich hält Schenkel also sowohl dem Rationalismus als auch Schleiermacher vor, dass ihre Jesusbilder der Gemeinde keine Identifikationsmöglichkeiten bieten. 326 AaO., 38. 324
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allerdings nicht auf ein allmächtiges Wirken Jesu zurückzuführen, sondern »Jesus, selbst leiblich und geistig kerngesund, fühlte in sich die Kraft, diese Zerrüttung zu bekämpfen und die kranken Geister von ihren Fesseln zu befreien«327. Die Heilungswunder verdanken sich also der »geistige[n] und sittliche[n] Einwirkung«328 , der beruhigenden Rede Jesu. Schenkel versteht sie als Ergebnis der beeindruckenden Persönlichkeit Jesu und der Wirkung, die von ihm ausging. Schwieriger verhält es sich mit den sogenannten Naturwundern. Als Beispiel mag hier die Erzählung von der Stillung des Sturmes (Mk 4, 35 – 41 par.) genügen. Schenkel geht davon aus, dass die Geschichte insofern historisch ist, als Jesus sich mit seinen Jüngern auf See befand, als ein Sturm auf kam und die Jünger – erfahrene Seeleute – in Angst und Schrecken versetzte.329 Die Stillung des Sturmes durch Jesu Wort, wie es die Evangelien berichten, ist nach Schenkel nicht möglich, da »der menschliche Wille (…) nun einmal nicht über Sturm und Wellen zu gebieten«330 vermag. Vielmehr gelang es Jesus in seinem Gottvertrauen, die verzweifelten Jünger zu beruhigen. Erst durch diese Interpretation wird die Geschichte nach Ansicht Schenkels für die Gemeinde relevant und gewinnt Bedeutung. Eine übermenschliche Tat hätte mit dem Leben der Gemeinde nichts zu tun. So aber steht die Geschichte der Gemeinde als »Bild des ungetrübtesten Gottvertrauens«331 vor Augen. Der Rationalist Heinrich Paulus erklärte die Sturmstillung über 30 Jahre zuvor (!) folgendermaßen: »Auf Landseen fällt oft plötzlich, je nachdem man gegen eine Thalschlucht steuert, ein brausender Sturmwind herab. (…) Je nachdem aber das Schiff wieder um einen Berg herum sich wenden kann, der den Thalwind abschneidet, kann man wieder plötzlich in ruhiger See seyn. So war, wie Lukas sagt, ein brausender Sturmwind (…) auf den See herabgestiegen.« 332
Die Pointe der Geschichte sieht Paulus zwar wie auch Schenkel im Gottvertrauen Jesu: »Die Hauptsache ist, daß wir dies bey weitem nicht als das Gewöhnliche vorauszusetzen, vielmehr durch Ueberzeugung von dem Gutwollen der Gottheit uns im Gemuth über Gefahren erheben und während derselben zu besonnener Anwendung unserer Kräfte aufmuntern dürfen und sollen.« 333
Im Gegensatz zu Schenkel erklärt Paulus aber eben noch wie die vermeintliche Stillung des Sturmes auf natürliche Weise vor sich gegangen ist und geht damit 327
AaO., 67. AaO., 68. 329 Nach Strauß ist diese Erzählung nach alttestamentlichem Vorbild gedichtet worden, vgl. D. F. Strauß, Leben Jesu (1864), 489 ff. 330 D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864), 110. 331 Ebd. 332 H. Paulus, Leben Jesu (1828), 228. 333 AaO., 229. 328
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
in seiner Erklärung weit über Schenkel hinaus. Allein dieser kurze Ausschnitt und Vergleich zeigt schon, dass die gegen Schenkel angestrengten Proteste vollkommen überzogen waren. 3) Die Interpretation der Auferstehungsgeschichte stellt in jeder Darstellung des Lebens Jesu einen besonders sensiblen Punkt dar und auch Schenkel wurde für seine Deutung der Auferstehung scharf angegriffen. Er geht von folgenden Punkten als gesicherten Tatsachen aus: 1) Das Grab war leer, 2) die Jünger waren davon überzeugt, Jesus nach der Kreuzigung gesehen zu haben, 3) die Erscheinungen der Jünger hatten im Wesentlichen denselben Charakter wie die Pauluserscheinung.334 Dies führt Schenkel zu dem Schluss, dass Jesus sich seinen Anhängern nach der Kreuzigung als der »ewige Lebendige erwiesen«335 hat, und er in seiner Gemeinde fortlebt, was Schenkel allerdings nicht näher präzisiert. Damit wendet sich Schenkel sowohl gegen ein wörtliches Verständnis der Auferstehung, das eine leibhafte Erscheinung Jesu annimmt, als auch gegen die radikale Deutung der Jüngererscheinungen als bloße Einbildung. Die Darstellung Schenkels ist, so betrachtet, keiner Aufregung wert. Holtzmann betont, »daß die Schriften, die seit Herders erstem ähnlichen Versuche, auf Grund des Johannes das Leben Jesu zu zeichnen, also die Bücher von De Wette, Schleiermacher, Paulus, Ewald, Hase, Keim und einer Menge anderer, zu ganz ähnlichen Resultaten gekommen waren wie Schenkel. Schenkel konnte sogar in dieser ganzen Gruppe noch als einer der conservativesten gelten.« 336
Dass Schenkel in seiner historischen Kritik eher inkonsequent gewesen ist, hebt Pfleiderer hervor.337
5.2. Die Proteste Trotz der vergleichsweise harmlosen oder zumindest im Gegenüber zu anderen Darstellungen keine neuen, skandalträchtigen Ergebnisse hervorbringenden Darstellung Schenkels brach nach der Veröffentlichung eine Protestwelle im gesamten Land aus.
334
Vgl. D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864), 321 f. AaO., 324. 336 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 493. 337 Das Buch »ist von irreligiöser Tendenz oder leichtfertiger Behandlung der heiligen Geschichte so weit entfernt, dass es vielmehr durchaus von einem Pathos der Begeisterung für den Charakter Jesu erfüllt ist, bei welchem die Ansprüche der exakten geschichtlichen Forschung viel eher zu kurz kommen, als die des frommen Gemüths« (O. Pfleiderer, Protestantische Theologie (1891), 304). 335
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»[E]s war eine ganze Zeugnißliteratur erwachsen, die wetteiferte, wer am schönsten über das ungelesene Buch psalmodiren könne und deren Studium für Kenner der Sprache Kanaans von höchstem Interesse, wenn auch von zweifelhaftem Genusse ist.« 338
Nicht nur der Verfasser, sondern auch die Fakultät und die badische Kirche waren dadurch für lange Zeit außer Gefecht gesetzt, die endgültige Gründung des Protestantenvereins verzögerte sich, da man nicht zu Unrecht fürchtete, als »Schenkel-Partei« gebrandmarkt zu werden. Der Protest hatte drei Gründe: Zum einen hatte die konservative Opposition nur auf eine Gelegenheit gewartet, gegen den scheinbar übermächtigen Anführer des liberalen Lagers, der sie spätestens im Agenden- und Konkordatsstreit verraten hatte, vorzugehen. Zudem war problematisch, dass in Schenkels Darstellung »die Priester, Sanhedristen und Pharisäer Jerusalems mit den Dekanen, Oberkirchenräthen und Pietisten, die den Verfasser verfolgten, verzweifelte Aehnlichkeit«339 hatten. Schenkel stellte Jesu Wirken im Wesentlichen als Kampf und Überwindung der Hierarchie und des theokratischen Systems dar, wie folgendes Zitat zeigt: »Aber die theokratischen Formen des Judenthums zu durchbrechen, den Bann des todten Buchstabens von seinem geplagten Volke hinwegzuheben, der leeren Schulgelehrsamkeit und hochmüthigen Priesterherrschaft ein Ziel zu stecken, die verlassene und versäumten Laiengemeinde zur sittlichen und religiösen Freiheit emporzuheben (…): das hatte er mit stets zunehmender Klarheit als Ziel seiner Lebensarbeit erkannt.« 340
Schenkels Jesus kämpfte damit letztlich Schenkels eigenen Kampf und rief zu derselben Entscheidung zwischen zwei Systemen – »Gewissensfreiheit gegen Gewissensrichterei«341 – auf, zu der Schenkel den Protestantismus seiner Zeit herausforderte.342 Auf liberaler Seite dagegen nahm man Schenkel noch seine Haltung gegen Dulon und Fischer übel, und sein Auftreten bei Versammlungen machte ihn zudem auch in den eigenen Reihen unbeliebt.343 Und schließlich sahen die badischen Geistlichen die Möglichkeit, den schier uneingeschränkten Einfluss Schenkels in der badischen Kirche endlich zu brechen.344 338
A. Hausrath, David Friedrich Strauß (1878), 323. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 491. 340 D. Schenkel, Das Charakterbild Jesu (1864), 89. 341 AaO., 101. 342 Vgl. aaO., 252. 343 In einem Brief von Heinrich Krause an Alexander Schweizer heißt es: »Aus Baden schreibt man mir in diesen Tage, daß dort die Meisten dem Schenkel die Angriffe gönnen, denn seine Parteigenossen klagen über sein päpstisches Gebahren und fügen hinzu, ihm geschieht ganz recht, denn er hat ja als er noch im Dienst der Reaktion stand Kuno Fischer wegen vermeintlicher Ketzerei aus Heidelberg vertrieben.« (Zitiert in: C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 234, Anm. 421). 344 Dass der Einfluss Schenkels innerhalb der badischen Kirche kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, zeigt eine Äußerung von Emil Zittel über die Karriere eines Theologiestudenten auf der Generalsynode von 1867: »Kommt der junge Mann zur Universität, so nimmt ihn Professor Schenkel in Empfang, dessen Vorlesungen er im Hinblick auf die kommenden Examina hören muß. Hat er ausstudiert, so geht er aus den Händen des Professor 339
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Zunächst regte sich der Protest nur in Baden,345 schnell weitete er sich aber auf das gesamte Land aus – vor allem Berlin tat sich hier hervor – und sogar im Ausland war der ›Schenkel-Streit‹ Thema in der Presse und den Gemeinden.346 Es wurden Versammlungen einberufen, Protestschreiben veröffentlicht, Unterschriften gesammelt, der OKR wurde mit einer Flut von Eingaben und Briefen – größtenteils gegen Schenkel gerichtet – überschwemmt. Am 24. Juni 1864 wurde schließlich eine Petition beim OKR eingereicht mit der Bitte, dieser möge bei den staatlichen Stellen dafür sorgen, dass Schenkel von seinem Amt als Direktor des Predigerseminars, das als universitäre Einrichtung dem Staat unterstand, abgesetzt werde. Die Kritik der Gegner richtete sich dabei sowohl gegen Schenkels Quellenkritik, insbesondere gegen seine Beurteilung des Johannesevangeliums, als auch gegen die Darstellung der Entwicklung und des Lebens Jesu, die die Göttlichkeit Jesu leugne. »In dieser Schrift ist die ganze Entstehung des Christenthums als eine rein menschliche Entwickelung behandelt und ihr der Charakter einer göttlichen Offenbarung genommen. Es sind darin alle Hauptthatsachen der göttlichen Offenbarung geleugnet« 347,
so das Urteil in der Denkschrift evangelisch-protestantischer Geistlicher. Da Schenkel im Widerspruch zu den Grundlehren des Christentums stehe, sei er als Kirchenlehrer, allzumal als Direktor des Predigerseminars, nicht länger tragbar. Die Protestler waren also so klug, Schenkel nicht in seiner Funktion als Theologieprofessor anzugreifen, um nicht als Gegner der Lehrfreiheit zu erscheinen. Sie versuchten folglich, den Streit auf die Frage nach dem Bekenntnisstand der Landeskirche sowie der Bekenntnistreue der Pfarrer zu fokussieren.348 Die liberale Partei erkannte in den Protesten zu Recht eine Gefährdung der gesamten liberalen kirchlichen Bewegung. Sie versammelte sich deswegen Mitte Juli auf der sechsten Durlacher Konferenz, um über die Situation und mögliche Gegenmaßnahmen zu beraten. Dabei ging es nicht darum, inhaltlich das Buch Schenkels zu verteidigen, da es sich auch in diesen Reihen keineswegs großer Beliebtheit erfreute.349 Aber man sah in den Agitationen die Lehr- und Schenkel in die Obhut des Seminardirectors Schenkel über. Der Seminardirector überliefert den Candidaten nach Jahresfrist an den Examinator Schenkel, der über seine Befähigung nach den Erfahrungen im Kolleg und Seminar sein Urtheil spricht. Dann händigt Examinator Schenkel ihm dem Ausschußmitgliede Schenkel ein, der bei jeder Pfarrbesetzung das große Wort führt und stets geltend macht, daß er den jungen Mann ja seit Beginn seiner Studien kenne.« (Zitiert in: A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 488 [Hervorhebung im Ori ginal]). 345 Welch groteske Züge der Protest bisweilen annahm, zeigt R. Ehmann, Daniel Schenkel (2010), 177 ff. 346 In der Denkschrift evangelisch-protestantischer Geistlicher im Großherzogthum sind den Protest unterstützende Zeugnisse und Voten gesammelt, darunter Stimmen aus den Niederlanden, Nordamerika und Österreich, vgl. Denkschrift (1856). 347 Denkschrift (1865), 1. 348 Vgl. C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 233. 349 Hausrath bezeichnet es als »ermüdend mit seiner monotonen Verherrlichung Jesu« (A.
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Gewissensfreiheit gefährdet und diese galt es vor konservativen Angriffen zu schützen.350 Hierzu verabschiedete die Konferenz drei Thesen, die jeweils ausführlich von Holtzmann, Bluntschli und Emil Schellenberg 351 begründet wurden. Darin wurde festgehalten, dass erstens der Protest im Wesentlichen auf Entstellungen und Falschdarstellungen des Buches gründe; dass der Protest zweitens die Lehr- und Gewissensfreiheit gefährdet und den Gesetzen der badischen Kirche widerspreche, und dass drittens die Lehre auf dem Boden des christlichen Glaubens zu stehen habe, den Schenkel nicht verlassen habe.352 Zusätzlich wurde ein Flugblatt veröffentlicht, »in dem sie einem Laienpublikum Ziele und Probleme der historisch-kritischen Bibelforschung sowie der Leben-Jesu-Forschung näherzubringen suchte[n]«353. Trotz eines klaren Bekenntnisses für die Gewissens- und Lehrfreiheit blieb die Unterstützung für Schenkel insgesamt jedoch eher verhalten – neben inhaltlichen Vorbehalten spielten hier, wie bereits erwähnt, vor allem auch persönliche Animositäten eine große Rolle354 – gerade wenn man bedenkt, dass die liberale Bewegung ihre starke Stellung in erster Linie dem unermüdlichen Schaffen Schenkels zu verdanken hatte. Neben den erwarteten Angriffen aus dem ›positiven‹ Lager , musste die liberale Partei zudem noch einen empfindlichen Schlag von der Linken einstecken: Strauß mischte sich, wenn auch erst nachdem sich der OKR offiziell zur Lehrfreiheit bekannt hatte, mit der überaus polemischen Schrift Die Halben und die Ganzen355, die einer Generalabrechnung mit Schenkel und der Vermittlungstheologie gleichkam, in die Diskussion ein.356 Darin beklagt er sich bitter, dass Hausrath, Richard Rothe (1906), 490). Rothe urteilt nicht weniger vernichtend; in einem Brief schreibt er am 14. August 1864: »Daß ich an diesem jüngsten Kinde meines lieben Freundes persönlich kein Gefallen finde, wirst Du Dir selbst gesagt haben. So entschieden ich, gleich Dir, die Aufgabe anerkenne, die Schenkel sich gesetzt hat, so bin ich doch schon längst der Ueberzeugung gewesen, daß dieß keine Aufgabe für ihn ist, und ich bin gleich erschrocken, als er mir sagte, daß er über derselben her sei.« (Zitiert in: aaO., 492). 350 Vgl. C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 234 ff. 351 Emil Schellenberg (1816 – 1873) hat Theologie in Halle und Heidelberg studiert und war Pfarrer in der badischen Kirche. 1867 und 1871 war er Mitglied der Generalsynode. Er gehörte mit zu den Gründungsvätern des Protestantenvereins. Vgl. C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 465. 352 Vgl. K. Bauer, Adolf Hausrath (1933), 235. 353 C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 236. 354 Vgl. oben Anm. 343. 355 D. F. Strauß, Die Halben und die Ganzen (1865). 356 Strauß’ Schrift war dreifach motiviert: Zum einen konnte Strauß Halbheiten – und als solche sah er alle Kritik an, die nicht in letzter Konsequenz so weit ging wie er – nicht ertragen. Genau diese »Halbheit bei der Handhabung der Kritik« (J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 705) warf er Schenkel vor. Zum anderen hatte er Schenkel seine Position in der Fischer-Angelegenheit nach wie vor nicht verziehen und schließlich war auch gekränkte Eitelkeit im Spiel: Dass man Schenkels Charakterbild in einem Zug mit seinem Leben Jesu nannte und die Angelegenheit auch noch von seiner neuesten Veröffentlichung zu diesem Thema ablenkte, störte Strauß zutiefst, vgl. A. Hausrath, David Friedrich Strauß (1878), 326.
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ausgerechnet aufgrund von Schenkels Veröffentlichung diese prinzipielle Frage geklärt werde.357 Schadenfroh erinnert Strauß sowohl an Schenkels Position im Fischer’schen Streit als auch an die Auseinandersetzung mit Gervinus und zerpflückt dann mit größter Genugtuung Schenkels Charakterbild als halbes, inkonsequentes, »verschwommenes, achselträgerisch vermittelndes, charakterloses Buch«358. Die inhaltliche Auseinandersetzung in dieser Polemik nimmt tatsächlich nur einen sehr geringen Umfang ein: 359 Darin hält Strauß Schenkel vor, dass er widersprüchlich und inkonsequent sei, was er vor allem am Wunderbegriff und der Auferstehung Jesu festzumachen sucht.360 Dass Strauß Hengstenberg im zweiten Teil kritisiert, ändert an dem Gesamtduktus des Buches nichts. Hengstenberg selbst »lobte die Schrift und constatierte mit Recht, daß in dem gegen ihn gerichteten Theil Straußens Eifer sicherlich erlahme; er erklärt das aber nicht daraus, daß Strauß an ihm nur ein geringes Interesse nahm, sondern daher, daß des Gegners Arm ›gehalten war‹ und daß der Herr selbst die Schärfe seines Schwertes abstumpfte, das er über Schenkel so siegreich schwingen durfte« 361.
Der OKR reagierte im August 1864 auf die Flut von Protestschreiben und Gegenprotestschreiben auf Grundlage mehrerer Gutachten, unter anderem von Rothe, das für den Erlass maßgeblich wurde. In seinem Beschluss, der an alle Pfarrer verschickt wurde, bekannte sich der OKR prinzipiell zur Forschungsfreiheit und zum historischen Charakter der Bibel; 362 die Proteste wurden mit dem Argument abgelehnt, dass es sich bei Schenkels Schrift um ein wissen357
Vgl. D. F. Strauß, Die Halben und die Ganzen (1865), 38. AaO., 40. 359 Tatsächlich nimmt der erste Teil des Angriffs auf Schenkel mit der Erinnerung an die verschiedenen Streitigkeiten mehr als die Hälfte der gesamten Auseinandersetzung ein und der zweite Teil ist eine Polemik gegen einen Artikel Schenkels in der AKZs, in dem dieser sich gegen eine Gleichsetzung seines Charakterbild Jesu mit Strauß’ Leben Jesu zur Wehr gesetzt hatte, vgl. D. Schenkel, Das Christenthum und die Humanitätsreligion (1864). 360 »Gegen meine Ansicht von der Auferstehung äußert Schenkel: die Gründung der christlichen Kirche aus Hallucinationen zu erklären, ›widerstrebe dem höher organisirten historischen Gefühle‹. Was ein höher organisirtes historisches Gefühle ist, weiß ich so wenig, als was eine verklärte höher organisirte Leiblichkeit ist; das aber weiß ich, daß Flunkereien wie diese Schenkelschen selbst dem niedrigst organisirten historischen wie moralischen Gefühl ein Gräuel sind.« (D. F. Strauß, Die Halben und die Ganzen (1865), 62). 361 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 521. Hausrath hielt Strauß diesen Angriff aus dem Hinterhalt noch dreizehn Jahre nach dem Erscheinen vor: »Trotz alledem aber war es ein grundfalscher Schritt, wenn er jetzt, da es sich um den Sieg der Reaction oder der Reform handelte, die Anhänger der Letzteren mit dieser Wucht angriff, was einer Unterstützung der Ersteren gleichkam.« (A. Hausrath, David Friedrich Strauß (1878), 327). Auch in der noch später erschienenen Biographie über Rothe äußert Hausrath sich verbittert über Strauß’ Angriff, vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 518 ff. 362 »[W]ir wissen uns unzweifelhaft dazu berufen, als evangelische Kirchenbehörde den Dienern der Landeskirche die Freiheit einer solchen Forschung und der schriftstellerischen Veröffentlichung ihrer Resultate ungeschmählert zu wahren.« Und weiter: »Die heilige Schrift muß, um als Mittel zu diesem Zwecke dienen zu können, als das behandelt werden, 358
5. Der Schenkel-Streit (1864 – 1867)
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schaftliches Buch handle, das somit nicht unter die Beurteilung des Kirchenregiments falle. Dieser Beschluss, der sowohl im Inland als auch im Ausland für Aufsehen sorgte, löste eine weitere Protestwelle aus, in die sich unter anderem nun auch der preußische EOK einschaltete.363 Der badische OKR allerdings wies alle weitere Kritik an seinem Vorgehen zurück. Währenddessen geriet auch die Regierung immer stärker unter Druck: Im Mai 1865 wandten sich die Protestler mit 180 Petitionen direkt an den Großherzog; Lamey befürchtete, dass die politischen Ultramontanen und orthodoxen Protestanten sich verbünden und damit zu einer ernsthaften Bedrohung auch für die Regierung werden könnten.364 Er gab dem Druck schließlich insoweit nach, als er Schenkel darum bat, selbst vom Amt des Seminardirektors zurückzutreten – »er werde sich noch höhere Beehrung zuziehen«365. Dieses Gesuch lehnte Schenkel, der in Folge der Angriffe und Aufregungen 366 inzwischen ernsthaft erkrankt war, freilich ab. Von Schenkel selber hörte man in der ersten Zeit der Angriffe erstaunlicherweise kaum etwas. Er verteidigte seine Position in einigen Aufsätzen, in denen er bemüht war, die positive Seite seiner Darstellung in den Vordergrund zu rücken.367 In der größeren Verteidigungsschrift Die Protestantische Freiheit in ihrem gegenwärtigen Kampfe mit der kirchlichen Reaktion368 ordnet Schenkel die Proteste in den Kontext um die Auseinandersetzung über die Zukunft des Protestantismus und der protestantischen Kirche ein und fokussiert sie, wie auch seine Mitstreiter, auf die Frage nach der Lehrfreiheit. In dieser Schrift findet sich auch eine seltene Stellungnahme zu seiner eigenen theologischen Entwicklung. Schenkel bekennt hier, dass er zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in Heidelberg »Antheil (…) an den Bestrebungen der ›bekenntnißgetreuen‹ Partei genommen habe«369, besteht allerdings darauf, dass er sich von dieser Partei abgewandt was sie wirklich ist, nämlich als ein geschichtliches Erzeugniß, das eine geschichtliche Untersuchung und Würdigung fordert.« (Abgedruckt in: Denkschrift (1865), 23. 25). 363 Vgl. C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 238. 364 Für die politischen Hintergründe vgl. J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 182 ff. 365 A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 513. 366 Anschaulich schildert Hausrath die Situation im Hause Schenkel: »Seine Damen mußten täglich die einlaufende Post untersuchen und die frommen Schmähbriefe entfernen, die den kranken Mann aufregen konnten und um den Schlaf brachten. Unter Kreuzband wurden ihm seine eigenen früheren positiven Predigten und Streitschriften zugesendet. Die Studenten erlaubten sich der gefallenen Größe gegenüber allerlei Frechheiten. (…) An Kirchthüren und Straßenecken Heidelbergs fand sich eines Morgen ein Vers angeschlagen: Professor Schenkel ist der Mann, der nicht an Jesum glauben kann u.s.w. mit dem Schlusse: Bitt für Professor Schenkel.« (AaO., 514). 367 Vgl. u. a. D. Schenkel, Zur Orientierung (1864); ders., Auferstehung Jesu (1865); ders., Erklärung (1865). 368 Vgl. D. Schenkel, Protestantische Freiheit (1865). 369 AaO., 47. Zu seiner Haltung und Agitation in der Auseinandersetzung mit Dulon und Fischer äußert er sich allerdings nicht.
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
habe, sobald ihm klar geworden war, dass es ihr nicht um die Vermittlung verschiedener Richtungen und Meinungen ging, »sondern um Bildung einer festgeschlossenen, das Ziel unbedingter Herrschaft in der Kirche energisch anstrebenden Partei, um ausschließliche Beeinflussung und Führung des Kirchenregimentes, um Beseitigung jedes unbequemen Widerspruches von Seiten Andersgesinnter«.370 Zu einem offiziellen Ende kam der Schenkel-Streit erst auf der Generalsynode 1867. Zunächst war die Auseinandersetzung bereits durch den Krieg zwischen Österreich und Preußen in den Hintergrund gedrängt worden. Die Generalsynode, die ursprünglich 1866 tagen sollte, konnte dadurch erst ein Jahr später zusammentreten und war mehrheitlich liberal besetzt. Nachdem den Gegnern klar geworden war, dass der OKR hinter Schenkel stand und sie nichts gegen ihn ausrichten konnten, konzentrierten sie sich auf die Frage nach der rechtlichen Stellung des Predigerseminars – durchaus mit Unterstützung vieler Liberaler und der Regierung – die nach der neuen Staatskirchengesetzgebung von 1860 noch endgültig zu klären war.371 So kam es schließlich zu dem Kompromiss, dass das Predigerseminar weiterhin eine universitäre und damit staatliche Einrichtung blieb, der Seminarzwang allerdings wurde aufgehoben.372 Außerdem bekannte sich die Generalsynode nochmals explizit zur Lehrfreiheit und Gleichberechtigung verschiedener theologischer Richtungen. Es sei die »unzweifelhafte Aufgabe des Kirchenregiments (…), jenes Recht gegen unbefugte Eingriffe und Behinderungen jeder Zeit kräftig zu schützen und zu wahren und unverzüglich darauf zu achten, daß die volle Gleichberechtigung derjenigen Mitglieder und Diener unserer Landeskirche, welche von jenem Rechte Gebrauch machen, mit denjenigen, welche den theologischen Standpunkt der Bekenntnisschriften gegenwärtig noch durchgängig teilen, nicht in irgend welchen Zweifel gezogen werde« 373.
Auch wenn der Seminarzwang aufgehoben worden war, hatten Schenkel und seine Mitstreiter doch mit diesem klaren Bekenntnis der Generalsynode für die unbedingte Lehrfreiheit, die auch nicht durch die in Baden gültigen Bekenntnisschriften – dies waren in der unierten Kirche Badens die Confessio Augustana sowie Luthers Katechismus und der Heidelberger Katechismus – begrenzt wurde, einen großen Erfolg errungen.
370
AaO., 48. 1861 hatte die Generalsynode gegen den Willen zahlreicher positiv Geistlicher für den Erhalt des Predigerseminars als Staatsanstalt gestimmt, vgl. J. Becker, Liberaler Staat und Kirche (1973), 183. Schenkel selbst hatte einige Jahre zuvor den universitären Charakter betont, um das Predigerseminar auf diese Weise von kirchlicher Bevormundung und damit von kirchlichen Parteiauseinandersetzungen fernzuhalten, vgl. D. Schenkel, Bildung der evangelischen Theologen (1863), 142. 372 Vgl. C. Lepp, Protestantisch-liberaler Auf bruch (1996), 242. 373 Zitiert in: W. Hönig, Richard Rothe, 180 f. 371
6. Die letzten Jahre (1868 – 1885)
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6. Die letzten Jahre (1868 – 1885) Schenkel hatte die Auseinandersetzungen um seine Person durch die Bestätigung der Lehrfreiheit durch den OKR letztlich zwar gut überstanden, die Aufhebung des obligatorischen Besuches des Predigerseminars stellte allerdings eine Niederlage für ihn dar. Seine Macht auf allen Gebieten der Kirche war gebrochen. Deutliches Zeichen für seinen schwindenden Einfluss war schon die Gründung des Durlacher Predigervereins 1865 gewesen. Die Idee zur Gründung eines solchen Vereins ging auf Schenkel zurück und wie üblich war er im Vorfeld der Versammlung die treibende Kraft. Eingeladen waren alle Pfarrer der badischen Landeskirche, wobei die positiv Gesinnten aus Protest gegen Schenkel an der Versammlung erwartungsgemäß nicht teilnahmen. Bei der Wahl zum Vorstand ließ die liberale Mehrheit Schenkel dann jedoch durchfallen – obwohl 15 Vorstandsplätze zu besetzen waren. Die Mehrheit der Pfarrer sehnte sich einfach nach Ruhe und Frieden, der nach ihrer, sicher nicht ganz unzutreffenden Einschätzung mit Schenkel nur schwer zu finden war.374 Schenkel selber blieb bis Ende der 1860er Jahre rastlos wie eh und je. Es kam »die Zeit seiner großen Volksreden«375, in denen er sowohl auf kirchliche als auch auf die damit im Zusammenhang stehenden politischen Fragen einging und er trat weiterhin vehement für eine Erneuerung der protestantischen Kirche von der Gemeinde her ein. Daneben publizierte er weiter in der AKZs und legte noch zahlreiche weitere Schriften vor.376 In diesen spiegelt sich einerseits das bleibende Interesse am Wesen des Christentums bzw. des Protestantismus wider, gleichzeitig blieb Schenkel auf dem mit dem Charakterbild eingeschlagenen biblischen Weg: Seit 1869 redigierte er das Bibel-Lexikon. Realwörterbuch zum Handgebrauch für Geistliche und Gemeindeglieder 377, in dem er selbst auch zahlreiche Artikel verfasste. Mit Beginn der 70er Jahre wurde es schließlich merklich ruhiger um Schenkel. Gesundheitlich war er schwer angeschlagen, sein Einfluss in der badischen Kirche gering. Er nahm zwar noch an den Generalsynoden von 1871, 1876 und 1884 teil, »aber ohne eine prononcirte Stellung darin einzunehmen«378. Zudem hatten sich die politische und gesellschaftliche Lage inzwischen vollkommen geändert: Spätestens seit dem Krieg zwischen Frankreich und Preußen – den Schenkel als Bestätigung seiner Überzeugung ansah, dass das Christentum Le-
374
Vgl. A. Hausrath, Richard Rothe (1906), 517. W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 398; vgl. z. B. D. Schenkel, Gegenwärtige Lage (1867); ders., Schleiermacher. Eine Rede (1868); ders., Brennende Frage (1869). 376 Vgl. u. a. D. Schenkel, Christenthum und Kirche (1867); ders., Friedrich Schleiermacher (1868); ders., Luther und seine Kampfgenossen (1868). 377 Vgl. D. Schenkel, Bibel-Lexikon (1869 ff.). 378 W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 398. 375
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
benskraft und Grundlage einer positiven politischen Entwicklung sei 379 – und der damit einhergehenden Gründung des deutschen Kaiserreichs, verdrängten politische und wirtschaftliche Fragen mehr und mehr die kirchlichen und theologischen. Deutliches Zeichen für diese Veränderungen war die Einstellung der AKZs am Ende des Jahres 1872. Wissenschaftlich arbeitete Schenkel jedoch auch in dieser Zeit unvermindert weiter. Seit Beginn der 70er Jahre besorgte er die Herausgabe von Rothes Dogmatik und dessen Predigten,380 1873 veröffentlichte er eine umgearbeitete Auflage des Charakterbildes381, von dem jedoch kaum noch Notiz genommen wurde, 1879 erschien Das Christusbild der Apostel382 als Ergänzung zum Charakterbild Jesu. 1877 legte Schenkel nochmals, diesmal einbändig, eine Dogmatik vor, die Grundlehren des Christenthums aus dem Bewusstsein des Glaubens im Zusammenhange dargestellt383. Schenkel hoffte, in den Grundlehren, »den Erkenntnißgrund des christlichen Glaubens im Verhältnisse zu meiner ›Dogmatik‹ tiefer gelegt, schärfer entwickelt, in der Lehrausführung Unrichtigkeiten strenger vermieden, Mißverständnissen sorgfältiger vorgebeugt zu haben«384. Einen gänzlich anderen Standpunkt als in der Dogmatik vertritt Schenkel hier allerdings nicht.385 Das Urteil Holtzmanns, dass Schenkel in dieser allgemeinverständlichen Darstellung »das Experiment mit dem Gewissens-Standpunkt fallen«386 gelassen habe, ist daher nicht zutreffend.387 Den Begriff des ›Zentralorgans‹ gibt Schenkel zwar auf, an dem Gewissen als »diejenige unmittelbare Bestimmtheit des Selbstbewußtseins, in welcher dieses das Göttliche an sich erfährt und darum Gottesbewußtsein ist«388 , hält er aber fest. Auch hier ist ihm das Gewissen »die unmittel379 Den Krieg deutet Schenkel als »Gottesgericht« über Frankreich und der von dort ausgehenden Idee einer vollkommenen Trennung von Kirche und Staat sowie der damit einhergehenden Ansicht, dass der Staat ohne sittliche und religiöse Grundlagen existieren könne, vgl. D. Schenkel, Kirchliche Frage (1870), 395. Im Sieg Preußens erkennt er zudem auch die Bestätigung für sein Unionsverständnis und die Berechtigung seiner Forderung nach einer deutschen Unionskirche: »Das deutsche Heer war ja überhaupt zusammengesetzt aus Angehörigen verschiedener Confessionen; das Dogma bildete unter ihnen gerade die trennende Schranke, der christliche Geist war die einigende Kraft.« (D. Schenkel, Ein Blick in die Zukunft (1871), 5). 380 Vgl. D. Schenkel (Hg.), R. Rothe, Dogmatik (1870); ders. (Hg.), Nachgelassene Predigten (1869). 381 Vgl. D. Schenkel, Charakterbild Jesu (1873). 382 Vgl. D. Schenkel, Christusbild der Apostel (1879). 383 Vgl. D. Schenkel, Grundlehren (1877). 384 AaO., VI. 385 Dass Schenkel »nach wiederholter Prüfung« die »bewährten Grundlagen« seiner »religiös-sittlichen Weltanschauung« (ebd.) nicht verlassen habe, hebt er im Vorwort ausdrücklich hervor. 386 H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 89. 387 Ein ausführlicher Vergleich der beiden Schriften ist an dieser Stelle nicht relevant. 388 D. Schenkel, Grundlehren (1877), 41.
7. Fazit: Schenkels Leben und Werk als Spiegelbild der Theologie- und Kirchengeschichte
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bare Selbstbezeugung Gottes im Menschen« und als solches »die Quelle aller Offenbarung«389. Der Glaube ist die Erfahrung, »die unmittelbare Gewißheit«390 von dieser »ursprüngliche[n] religiöse[n] (…) Grundthatsache unseres Geistes«391, sodass Schenkel die Glaubenslehre als »Erfahrungswissenschaft des religiös-sittlichen Geistes«392 begreift. Glaube und Gewissen bleiben damit aufs engste aufeinander bezogen – der Glaube ist im Gewissen verortet. Dass Schenkel die Grundlehren »aus dem Bewußtsein des Glaubens« und nicht vom Gewissen her darstellen möchte, ist darin begründet, dass er noch stärker die ›innere Erfahrung‹ als Ausgangspunkt der Dogmatik betonen möchte, um von vornherein auch nur dem Anschein von metaphysischer Spekulation vorzubeugen.393 In Bezug auf die Dogmatik gesteht Schenkel ein, dass er in den Lehrausführungen »hinter dem gesteckten Ziele öfter zurückgeblieben ist«394. Insofern stellen die Grundlehren m. E. eine verbessernde Überarbeitung der dogmatischen Durchführung dar, eine grundlegende Veränderung der theologischen Voraussetzungen gegenüber der Dogmatik sind sie aber nicht. Die Grundlehren sind Schenkels letzte dogmatische Veröffentlichung. Im Alter von 71 Jahren war Schenkel schließlich aus gesundheitlichen Gründen gezwungen, sämtliche Ämter niederzulegen. »Nach monatelanger Zurückgezogenheit in die Stille des Studierzimmers bei klarem Geist, aber im Kampf des Lebens aufgeriebenem Nervensystem, starb er am 19. Mai 1885.«395
7. Fazit: Schenkels Leben und Werk als Spiegelbild der Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts Schenkels Leben und Theologie sind ein Spiegelbild der kirchenpolitischen, theologischen und auch politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Sein 389
AaO., 68. AaO., 12. 391 AaO., 3. 392 AaO., VIII f. 393 »Durch meinen Ausgangspunkt vom Bewußtsein des Glaubens war mir Princip und Methode der Ausführung vorgezeichnet. Indem ich auf alles abstracte Wissen, auf jede Art von Metaphysik innerhalb der christlichen Erkenntnißbildung verzichte, gründe ich meine Darstellung lediglich auf die religiös-sittliche, und zwar nicht eine äußere, sondern eine innere Erfahrung und suche meine Lehrsätze aus psychologischen und offenbarungsgeschichtlichen Thatsachen, keineswegs aus logischen oder speculativen Deductionen zu schöpfen.« (AaO., VIII). Allerdings bemerkt Johannes Kreyenbühl in seiner Rezension, dass Schenkel »als denkender Theologe« es natürlich nicht vermocht hat, sich den »metaphysisch-speculativen Voraussetzungen (…) trotz eigener Versicherung zu entziehen«. (J. Kreyenbühl, Rez. zu: Schenkels Dogmatik (1877), 604). 394 D. Schenkel, Grundlehren (1877), X. 395 W. Hönig, Art. »Schenkel« (1891), 398. 390
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
Leben ist stark gekennzeichnet von den vielen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten, in die er Zeit seines Lebens verwickelt war und die seine Theologie dabei in hohem Maße beeinflusst haben: So stehen hinter den Fragestellungen, Entwicklungen und Veränderungen seiner Theologie immer Positionen der Gegner, auf die Schenkel reagiert und gegen die er sich abgrenzt. Aber auch die politischen Diskussionen und Fragestellungen der Zeit prägen seine Theologie, die er immer auch im Hinblick auf die weiterreichende Bedeutung des Christentums und des Protestantismus für Staat und Gesellschaft entwirft. Seine Hauptgegner stellen der ultramontane (politische) Katholizismus einerseits sowie die protestantische Orthodoxie – als gleichermaßen katholische Gruppierung innerhalb des Protestantismus – dar. Darüber hinaus kritisiert Schenkel scharf den Rationalismus, und zwar insbesondere Anfang der 1850er Jahre, also nach der Revolution. Mit dem schwindenden Einfluss der rationalistischen Kräfte und dem demgegenüber wachsenden Einfluss des ultramontanen Katholizismus und der kirchlichen Orthodoxie verschiebt sich der Schwerpunkt von Schenkels Kritik ab Mitte der 1850er Jahre. Im Hintergrund seiner Theologie steht Schenkels Überzeugung der öffentlichen Bedeutung des Protestantismus sowie der protestantischen Kirche, die eine wesentliche Motivation für sein Engagement darstellt. Dass die christliche Religion eine herausragende und grundlegende Bedeutung für den Staat und die Gesellschaft hat, ist eine Einsicht, die Schenkels gesamte Lauf bahn bestimmt und die sich unter anderem schon in den Debatten mit Dulon und Fischer Anfang der 50er Jahre zeigt. Gegen einen seiner Ansicht nach der Moderne widersprechenden, weil das freie Subjekt zurücksetzenden Katholizismus und konfessionellen Protestantismus, entwickelt Schenkel vor dem Hintergrund seiner Deutung des Protestantismus als Religion der Freiheit diese Einsicht dahingehend weiter, dass er den Protestantismus als Grundlage und Voraussetzung für den modernen, und das heißt freiheitlichen Staat wie auch für eine ebensolche Gesellschaft versteht. So nimmt er Grundmotive aus dem Liberalismus auf und verknüpft sie mit seiner Vorstellung eines christlich-protestantischen Staates und Gemeinwesens. Fortschritt und Entwicklung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens hängen für ihn demnach von der Entwicklung und dem Zustand des Protestantismus ab, da mit der Verbindung von Protestantismus und der am Individuum orientierten neuzeitlichen Kultur das zusammenwächst, was entwicklungsgeschichtlich schon immer zusammengehört. Darüber hinaus verbindet Schenkel diese Gedanken weiter mit nationalen Ideen: Die gemeinsame Wurzel des deutschen Volkes ist der Protestantismus und mit ihm ist dem Volk sein ›religiöser Beruf‹ im Hinblick auf Europa, letztlich sogar auf die Menschheit gegeben. Diese Überzeugungen sind der Grund für Schenkels unermüdliches Engagement und seinen Kampf für den Protestantismus und die protestantische Kirche
7. Fazit: Schenkels Leben und Werk als Spiegelbild der Theologie- und Kirchengeschichte
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sowie für die Bedeutung, die er religiösen und kirchlichen Fragen beimisst. Denn Schenkel versteht den Protestantismus so, dass dieser nicht nur kulturfähig und damit vermittelbar für das moderne Bewusstsein ist, sondern er entwirft ihn selbst als die die Kultur, Gesellschaft und den Staat wie auch die Nation prägende und tragende Größe, sodass dem Protestantismus und der protestantischen Kirche dann eine spezifische und unhintergehbare Aufgabe zukommen. Die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus sowie der protestantischen Kirche ist für Schenkel also niemals Selbstzweck, sondern dient vielmehr der weit über die bloße Identitätsvergewisserung hinausgehenden kulturellen Dimension des Protestantismus. Als besonders wichtig sah Schenkel es in diesem Zusammenhang an, das Bewusstsein um das Wesen des Protestantismus in der protestantischen Gemeinde, und das heißt das Wissen um die eigene Identität, zu stärken. Davon überzeugt, dass der Protestantismus sowohl im Rationalismus als auch Konfessionalismus im Begriff war, von seinem eigentlichen Wesen abzufallen, wollte Schenkel das wahre Wesen des Protestantismus offenlegen und verteidigen. Entsprechend ist das zentrale Motiv in Schenkels Theologie und Werk die Frage nach dem Protestantismus. Schenkel ist bei dieser Frage um einen gleichsam vermittelnden Standpunkt zwischen einer rationalistischen Position einerseits, und einer supranaturalistischen Position andererseits bemüht. Zur Beantwortung geht er von einem sogenannten subjektiven, anthropologischen Moment und einem objektiven, theologischen Moment aus. Schenkel nimmt also das neuzeitliche Postulat der Anerkennung des autonomen Subjekts auf. Gegen einen ungebundenen, willkürlichen und somit letztlich auflösenden Subjektivismus versucht er allerdings stets, eine Instanz aufzurufen, die auch die objektive (göttliche) Wahrheit festhält und bewahrt. Grundsätzlich hält Schenkel an diesen beiden Momenten als wesentlichen Grundsignaturen des Protestantismus fest, allerdings nimmt er insbesondere im Zuge des wachsenden Einflusses der Restaurationspartei eine Neubestimmung vor allem des objektiven Moments und dann auch der Verhältnisbestimmung des objektiven und subjektiven Moments vor: Schenkel schreibt dem Subjekt seit Mitte der 1850er Jahre eine immer größere Bedeutung in seiner Theologie zu, indem er die Vermittlung und Bindung an das objektive Moment nun im Gewissen, also im Subjekt selbst verortet, das somit nicht an äußere Instanzen gebunden ist. Entscheidend ist zudem, dass diese beiden Momente nicht nur nebeneinander stehen, sondern sie weisen vielmehr über sich hinaus und finde ihre Verwirklichung erst in ihrer Verbindung miteinander, und das heißt in der unmittelbaren Gemeinschaft des Menschen mit Gott, die das Ziel des Protestantismus ist. An Letzeres knüpft dann das zweite zentrale Motiv von Schenkels Theologie an: die Beschäftigung mit der Kirche. Während Schenkel sie zu Beginn seiner Lauf bahn vor allem dem objektiven Moment zuordnet – die Kirche als objekti-
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II. Daniel Schenkel. Leben und Werk
ves Korrektiv gegenüber ›willkürlicher Subjektivität‹ – betont er ebenfalls seit Mitte der 50er Jahre die Bedeutung der Kirche als Verwirklichung der unmittelbaren Gemeinschaft der Glaubenden mit Gott. Auch hier ist damit der Fokus auf das glaubende Subjekt gerichtet. Schenkel ist davon überzeugt, dass die theologische Rezeption der neuzeitlichen Orientierung am Subjekt wie der Neubestimmung von Subjektivität sich auch auf die Kirchenorganisation niederschlagen muss. Ihren Ausdruck findet diese Einsicht in der Forderung nach der Stärkung der Gemeinde als Fundament der protestantischen Kirche und zwar insbesondere in der Forderung nach einer demokratischen Kirchenverfassung, die Schenkel noch Anfang der 1850er Jahre als Ausdruck einer ungebundenen Freiheit, deren Ergebnis ungezügelte Massenherrschaft sei, vehement abgelehnt hatte. Schenkels Theologie und Leben sind aufs engste miteinander verzahnt und haben gegenseitig aufeinander eingewirkt: In seinen kirchenpolitischen Kämpfen hat er versucht, die zentralen Grundlagen und Einsichten seiner Theologie konkret wirksam werden zu lassen und umgekehrt wurde seine theologische Reflexion unmittelbar von den Auseinandersetzungen und Diskussionen veranlasst und geprägt. In dieser engen Verzahnung liegt der Grund für Schenkels Engagement, seine Vehemenz und seine Rastlosigkeit in kirchlichen und theologischen Fragestellungen, über die Heinrich Holtzmann später allerdings folgendes Urteil fällte: »Wenn eine Tragik in seinem Leben liegt, so hat sie darin ihren Grund, daß er den religiösen und kirchlichen Fragen eine größere Tragweite und eine tiefer greifende Bedeutung im Bewußtsein der Zeitgenossenschaft beimaß, als das thatsächlich der Fall war.« 396
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H. Holtzmann, Art. »Schenkel« (1890), 88.
III. Das Wesen des Protestantismus Im Zentrum von Schenkels Theologie steht die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen des Protestantismus, die im 19. Jahrhundert die theologischen Diskurse innerhalb des Protestantismus überhaupt bestimmte. Schenkel hat die Frage in verschiedenen Kontexten aufgenommen und beantwortet, wobei sich vor allem drei Argumentationsfiguren, die gleichzeitig eine Entwicklung innerhalb von seiner Position widerspiegeln, für die Beschäftigung mit der Wesensfrage als zentral erweisen: 1) die Bestimmung des Prinzips des Protestantismus; 2) das Verständnis des Protestantismus als Gewissenstat, wobei die Reformation als hermeneutischer Hintergrund dient; und 3) der Protestantismus als Gewissensreligion und Wiederherstellung der echten Katholizität. Wenn auch je ein eigener Aspekt besonders im Vordergrund steht, hängen doch alle Argumentationsfiguren eng miteinander zusammen. Im ersten Teil dieses Kapitels wird zunächst kurz der Hintergrund der Fragestellung erörtert werden (1.). Dabei wird zuerst auf den allgemeinen Kontext – die Umstände, die im 19. Jahrhundert die Frage des Protestantismus nach sich selbst überhaupt motivierten – eingegangen (1.1.) und anschließend Schenkels Beschäftigung mit der Protestantismusfrage historisch und hermeneutisch verortet (1.2.). Zu Beginn von Schenkels wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Protestantismus wurde der Diskurs insbesondere durch die Rede von dem Prinzip oder den Prinzipien des Protestantismus bestimmt, um die eine breite Diskussion entstand. Diese Debatte und Schenkels Beitrag zu ihr werden im zweiten Teil des Kapitels erörtert (2.). Hier lassen sich bereits Grundmotive seines Protestantismusverständnisses identifizieren, die in seinen späteren Ausführungen zum Wesen des Protestantismus wiederkehren, wenn auch weiter differenziert. Um Schenkels Position (2.5.) angemessen einordnen und würdigen zu können, ist es zunächst jedoch notwendig, die Diskussion, in die zahlreiche Theologen des 19. Jahrhunderts involviert waren, zu skizzieren (2.1.–2.4.). Im Rahmen der Analyse von Schenkels Entfaltung des protestantischen Prinzips wird sich zeigen, dass der Gewissensbegriff eine immer zentralere Rolle in seinem Protestantismusverständnis spielt, und zwar ab Mitte der 1850er Jahre – also etwa ab dem Zeitpunkt, ab dem die restaurative Strömung nochmals verstärkt Einfluss auf die kirchenpolitischen Entwicklungen nahm. In dieser Situation ging Schenkel erneut auf die Reformationszeit zurück und deutet
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III. Das Wesen des Protestantismus
ausgehend von seinem Reformationsverständnis den Protestantismus als ›Gewissenstat‹ (3.). Das Gewissen als wesentliche Signatur des Protestantismus bekommt zu diesem Zeitpunkt seinen festen Platz in Schenkels Theologie. Schließlich soll Schenkels Protestantismusverständnis, wie er es im Rahmen seiner Dogmatik entwickelt hat, die in dogmatischer Hinsicht den Höhepunkt seiner Wissenschaftstätigkeit darstellt, ausführlich begründet und erörtert werden (4.). An dieser Stelle ist zunächst der Gewissensbegriff zu untersuchen: Nachdem dieser sich schon im Laufe des Kapitels als Zentrum von Schenkels Theologie erweist, bildet er nunmehr das Fundament der gesamten Dogmatik und auch des Wesens des Protestantismus. Schenkel selber analysiert und entfaltet das Wesen des Gewissens ausführlich im Kontext des Religionsbegriffs und der Frage nach dem menschlichen Religionsorgan; dies wird in einem ersten Schritt dargelegt (4.1.). Vor diesem Hintergrund wird dann Schenkels Protestantismusverständnis als Wiederherstellung der wahren Katholizität entfaltet (4.2.). Abschließend werden die für Schenkel zentralen Aspekte seines Protestantismusverständnisses in einem Fazit aufgenommen und der Protestantismus als Gewissensreligion und Religion der Freiheit beschrieben (5.)
1. Die Frage nach dem Wesen des Protestantismus »Vielleicht in keinem Zeitpunkte seit den letzten hundert Jahren war es so wichtig als in dem gegenwärtigen, daß der Protestantismus zum vollen Verständisse seines Wesens und zur klaren Einsicht in sein Princip gelange«1, erklärte Schenkel 1852. Diese Feststellung findet sich in nahezu allen seinen Schriften und gründet in dem Bewusstsein, an einem historischen Wendepunkt zu stehen, an dem es um Wohl und Wehe des Protestantismus und der protestantischen Kirche, um Vollendung oder Zerstörung des Werkes der Reformation ginge. Schenkel war der festen Überzeugung, dass nur die Einsicht in das wahre Wesen des Protestantismus und das konsequente Festhalten an diesem denselben vor dem Verfall schützen könne. Mit dieser bisweilen dramatisch anmutenden Einschätzung stellt Schenkel keineswegs einen Einzelfall unter seinen Zeitgenossen dar. – Kaum eine andere Frage wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so breit diskutiert wie die Frage nach dem Wesen des Protestantismus, wie unter anderem die zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema eindrücklich zeigen.2 Weshalb aber rückte diese Frage so sehr in den Vordergrund? 1
D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), III. Vgl. z. B. C. Hundeshagen, Der deutsche Protestantismus (1847); F. Baur, Kritische Studien (1847); I. Dorner, Princip unserer Kirche (1883). Neben der Frage nach dem Wesen des Protestantismus war auch die Frage nach dem Wesen des Christentums eine der zentralen Frage des 19. Jahrhunderts, die bekanntlich in der großen Vorlesung Adolf von Harnacks Das 2
1. Die Frage nach dem Wesen des Protestantismus
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1.1. Zum Hintergrund der Fragestellung Wer nach dem Wesen einer Sache fragt, möchte zunächst ganz allgemein die Identität, den Kern dieser Sache ergründen. Dies setzt zweierlei voraus: Zum einen, dass die Identität überhaupt strittig (geworden) ist; und zum anderen, dass das Wesen einer Sache nicht mit ihrer Erscheinung identisch ist und folglich nicht einfach aus dieser deduziert werden kann. Dass die Identität des Protestantismus im 19. Jahrhundert strittig geworden war, ist angesichts der vielfältigen Herausforderungen, vor die sich Kirche und Theologie gestellt sahen, eine beinahe triviale Feststellung: Während die Kirchen zunächst durch die napoleonischen politischen Umwälzungen, die damit verbundenen territorialen Neuordnungen im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 sowie nach dem Wiener Kongress 1814/15, und schließlich durch die Revolution von 1848 vor allem im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Staat, ihre Verfassungen und Ordnungen zum Umdenken aufgefordert waren, sahen sich die Theologen zudem weiterhin durch das Erbe der Auf klärung und den Rationalismus herausgefordert.3 So liegen die Wurzeln der Frage nach dem Wesen des Protestantismus auch bereits in der Spätauf klärung4, ausgelöst durch das neu entstandene historische Bewusstsein und der damit verbundenen Kritik an den »aus der Vernunft nicht ableitbaren, autoritativ gesetzten Wahrheitsansprüchen« 5 sowie der Anerkennung der »geschichtlichen Wandelbarkeit« 6 , also der Einsicht, dass es einen Sachverhalt nur im geschichtlichen Ablauf seiner Erscheinungsgestalten gibt. Damit wird die traditionelle Ansicht, dass es nur eine Wahrheit und die Abweichung von derselben gibt, erstmals bestritten. Diese Historisierung stellt deswegen auch, so Kurt Nowak, »[d]as vielleicht schwerwiegendste Problem für das Christentum gegen Ende des Jahrhunderts der Auf klärung«7 dar. Konkret stellte das neue historische Bewusstsein besonders in der Entstehung und Durchsetzung der historisch-kritischen Exegese für die protestantischen Kirchen und Theologie eine Schwierigkeit dar, insofern diese ein Angriff auf das reformatorische Schriftprinzip und damit auf die identitätsstiftende Grundlage des Protestantismus darzustellen schien. Die Anwendung der historischen Kritik auch auf die Schrift führte zu einer »Auflösung der alten InspirationslehWesen des Christentums im Wintersemester 1899/1900 einen Höhepunkt fand, vgl. A. von Harnack, Das Wesen des Christentums (1900). 3 Ausführlich zur Situation der Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert vgl. L. Grane, Kirche im 19. Jahrhundert (1987); Th. Nipperdey, Religion (1988); K. Nowak, Geschichte des Christentums (1995), 37 – 197; J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 172 – 255; M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006). 4 Vgl. F. W. Graf, Protestantische Freiheit (1992), 16. 5 G. Meckenstock, Protestantismustheorien (1998), 39. 6 Ebd. 7 K. Nowak, Geschichte des Christentums (1995), 15.
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III. Das Wesen des Protestantismus
re« 8 und zu der viel zitierten ›Krise des Schriftprinzips‹. Das protestantische sola scriptura schien nicht mehr länger haltbar. – Da der Protestantismus sich vor allem als in der Bindung und dem Festhalten an der Schrift als göttlicher Wahrheit gegründet verstand, musste die Kritik an diesem Fundament zu einer Neubesinnung auf das Verhältnis zu und den Umgang mit der Schrift und damit den Grund und die Identität des Protestantismus führen. Wenn die Schrift als Grundlage nicht mehr ohne Weiteres normative Autorität für sich beanspruchen kann – auf welche Autorität gründet dann der Protestantismus, worauf kann er sich berufen? Worin besteht die protestantische Identität? Auch durch die Berufung auf Luther konnte diese Frage nicht geklärt werden, denn die Kritik machte freilich auch vor Luthers Theologie nicht halt. Mit der Einsicht aber in die Vielfältigkeit auch seiner Theologie wurde ebenso notwendig seine normative Autorität für den Protestantismus infrage gestellt und es musste eine Unterscheidung zwischen dem ›eigentlichen‹ Luther und Luthers eigenen Abweichungen von diesem getroffen werden. In dieser Situation sollte die Bestimmung des Wesens oder Prinzips des Protestantismus genau das ermöglichen, nämlich zu klären und zu identifizieren, was das Eigentliche in der Reformation und dann auch das dem Protestantismus Wesentliche ist. Denn die Rede vom Wesen ermöglicht unter Anerkennung des Rechts der neuzeitlichen Kritik, den Protestantismus (und auch das Christentums) nicht mehr durch den Rekurs auf normative Ursprünge zu identifizieren, sondern es vielmehr im Zugriff auf dessen Wirkungsgeschichte zu eruieren. Im Ausgang von dieser Bestimmung kann dann festgestellt werden, welche Erscheinungen genuin protestantisch sind und welche nicht. Die Rede vom Wesen bekommt damit eine kriteriologische Funktion. Die Historisierung führte konsequent zu einer Pluralisierung des Protestantismus, denn wie mit diesen Herausforderungen umzugehen und was das spezifisch Protestantische sei, war keineswegs eindeutig. Vielmehr entstanden über diese Fragen die sogenannten Religionsparteien, die für das Bild des Protestantismus des ausgehenden 18. sowie für das 19. Jahrhundert so charakteristisch waren.9 Die Parteien beanspruchten jeweils für die eigene Deutung der Refor8
Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 11. Dietrich Rössler beschreibt das Auf kommen sowie die verschiedenen Strömungen in dem klassischen Aufsatz Positionelle und kritische Theologie (1970). Nach Rössler liegen die »Gründe für das Entstehen positioneller Theologie (…) in der geistesgeschichtlichen Situation des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sie lassen sich in einer theoretischen Einsicht zusammenfassen, die in dieser Epoche gewonnen wurde und die alsbald zu allgemeiner Geltung gelangte: die Unterscheidung zwischen Theologie und Religion.« (D. Rössler, Positionelle Theologie (1970), 142). Rössler zeigt, dass diese Entwicklung zu einer Privatisierung der Religion führte, was wiederum auch die Privatisierung der Theologie nach sich zog, sodass die Theologie fortan begründen musste, ob und weshalb man die Entwicklungen befürwortete oder ablehnte. 9
1. Die Frage nach dem Wesen des Protestantismus
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mation, das Erbe derselben und somit den Protestantismus allein rechtmäßig zu vertreten. Der Konflikt zwischen den Parteien entzündete sich dabei vor allem »an der Frage, wie mit den geistigen Bewegungen des 18. Jahrhunderts, vor allem mit Auf klärung und Rationalismus, in Theologie und Kirche umzugehen sei«10. Die Möglichkeiten, auf diese Herausforderungen und Anfragen zu reagieren, reichten dabei vom strengen Festhalten an Schrift und Bekenntnis auf der einen Seite bis hin zur radikalen Religionskritik auf der anderen Seite. Allgemein kann mit Markus Schröder festgehalten werden, dass »[i]n den Diskussionen um das Schrift- und Traditionsprinzip wie auch im Streit um die Zuordnung von Vernunft und Offenbarung (…) sich seit 1770/80 die Spaltung des Protestantismus in eine aufgeklärt-liberale und eine kirchlich-traditionsbestimmte Richtung ab[zeichnete]«11.
Die Theologen des 19. Jahrhunderts arbeiteten sich also an einer Frage ab, die schon wesentlich früher vorbereitet und deren Klärung nun aufgrund der äußeren politischen und gesellschaftlichen Umstände noch dringender geworden war. Die Entstehung der Religionsparteien ist zudem im Hinblick auf eine weitere charakteristische Entwicklung vor allem zu Beginn des Jahrhunderts interessant. Denn das historische Bewusstsein führte zwar zu einer Pluralisierung innerhalb des Protestantismus, daneben kam es aber »auch im Seitenblick zu einer Ermittlung des genetischen Gewordenseins«12 und damit zu einer »Relativierung der konfessionellen Glaubenssätze«13. Trotz der Pluralisierung rückten also die klassischen innerkonfessionellen Gegensätze zunächst in den Hintergrund. Exemplarisch zeigt sich dies in den Unionsbildungen von lutherischen und reformierten Kirchen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und auch Schleiermachers Glaubenslehre, die er eben bewusst als Unionsdogmatik konzipierte, ist ein hervorragendes Beispiel für diese Entwicklung. Allerdings riefen die Unionsbemühungen und -bildungen umgekehrt auch heftige Gegenreaktionen hervor, die dann wiederum zu einer Besinnung auf die je eigene konfessionelle Identität führten.14 Diese Strömung einer konfessi10
A. Müller-Dreier, Konfession (1998), 30. M. Schröder, Kritische Identität (1996), 15. 12 G. Meckenstock, Protestantismustheorien (1998), 39. 13 Ebd. 14 Als erstes Indiz und ein Auslöser der Rückbesinnung auf die eigene konfessionelle Identität gelten die 95 Thesen des Kieler Pastors Claus Harms (1778 – 1855), die er 1817 im Jahr des Reformationsjubiläums zusammen mit Luthers Thesen veröffentlichte und in denen er »das Auf klärungschristentum und als dessen Frucht die Union« (E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 85) angriff. Die Thesen von Harms markieren den Beginn der protestantischen Abkehr vom Auf klärungsdenken mit dem Anspruch, durch die Rückkehr zu Luther und der Reformation den eigentlichen Protestantismus zu verwirklichen. Vor allem seit den 30er Jahren, angestoßen durch das Jubiläumsjahr der CA 1830, entstand dann »eine größere Bewegung, die sich neu auf das lutherische Bekenntnis besinnt und, in 11
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III. Das Wesen des Protestantismus
onellen Theologie, die vor allem unter lutherisch geprägten Theologen weite Verbreitung fand, ist eine weitere charakteristische Signatur des 19. Jahrhunderts, die insbesondere im Kontext der Auseinandersetzungen um die Union entstand und später den primären Anstoß für Schenkels theologische Entwicklung gab, wie in Kapitel II gezeigt wurde. Insgesamt wird deutlich: Die Pluralisierung sowohl auf theologischer als auch auf kirchlicher Ebene führt im 19. Jahrhundert dazu, dass das Verständnis des reformatorischen Erbes strittig wird und sich jede Deutung erst als legitim ausweisen muss: Eben weil es vermeintliche (falsche) Alternativen gibt, gegen die man sich abgrenzen will, rückt in dieser Zeit die Frage nach dem Wesen des Protestantismus so sehr in den Mittelpunkt, denn eine Abgrenzung ist nur möglich, wenn man angeben kann, worin das Spezifische, das Eigentliche einer Erscheinung, sei es des Protestantismus oder des Luthertums oder des Katholizismus, liegt. Die Wesensfrage fragt demnach nach der Norm, anhand derer zwischen der legitimen Realisation und der Verfehlung unterschieden werden kann. All dies hat sehr deutlich Schleiermacher gesehen, mit dem schließlich ein erster Höhepunkt in der Bearbeitung der Frage nach dem Wesen des Protestantismus erreicht ist, indem er die Beantwortung dieser Frage wie auch der nach dem Wesen des Christentums in der Kurze[n] Darstellung des theologischen Studiums zur Aufgabe der Theologie erklärt.15 Dabei stehen die genannten Entwickscharfer Front gegen Unionen, Kirche und Theologie zum konfessionellen Luthertum zurückführen will« (J. Wallmann, Kirchengeschichte (2006), 205). Hier wird also in besonderem Maße die eigene Situation und Gegenwart im Verhältnis zu ihrem Ursprung reflektiert und an diesen gebunden. 15 Vgl. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung (1830) [= KD], § 36. 39. Schleiermacher hat den in der Auf klärung und schließlich im protestantischen Idealismus eingeschlagenen Weg damit konsequent weitergeführt, denn die Frage nach dem Wesen des Protestantismus ist auch schon von Fichte oder Hegel diskutiert worden, vgl. dazu G. Meckenstock, Protestantismustheorien (1998), der darüber hinaus auch auf Kants Verständnis des Protestantismus eingeht. In der Kurzen Darstellung ordnet Schleiermacher die Beschäftigung mit dem Wesen des Christentums der Philosophischen Theologie zu: Sie »intendiert eine grundlegende Erfassung des Christentums und enthält daher eine Darstellung des Wesens des Christentums im Unterschied zu anderen Religionen unter Rückgang auf den Religionsbegriff selbst« (M. Rössler, Programm der Philosophischen Theologie (1994), 76 f.). Analog dazu gehört die Beschäftigung mit dem Protestantismus zur speziellen Philosophischen Theologie, vgl. KD § 36, wobei die eigentliche Wesensbestimmung dann Aufgabe der speziellen Apologetik ist, vgl. KD § 39. Vgl. zu Schleiermachers Verständnis der Philosophischen Theologie M. Rössler, Programm der Philosophischen Theologie (1994). Entscheidend ist für diesen Zusammenhang Schleiermachers These, dass sowohl das Wesen des Christentums als auch des Protestantismus in einem »konstruktiv-kritische[n] Verfahren« (M. Schröder, Kritische Identität (1996), 142) und das heißt in der »kritische[n] Vermittlung zwischen Spekulation und Empirie« (aaO., 124) eruiert werden müssen: »Die Wesensbestimmung muß (...) ebenso ›von unten‹ wie ›von oben‹ einsetzten: Ersteres, indem
1. Die Frage nach dem Wesen des Protestantismus
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lungen im Hintergrund, wie besonders in der 1. Auflage der Glaubenslehre deutlich wird, sodass »[d]ie Frage nach dem Wesen des Christentums (…) bei Schleiermacher zunächst zeit- und christentumsdiagnostisch motiviert«16 ist. In § 5 der Glaubenslehre stellt Schleiermacher fest: »Der Streit hierüber [über das Wesen des Christentums; Anm. d. Vf.] ist in der protestantischen Kirche so groß, daß, was Einigen die Hauptsache im Christenthum scheint, Andre für bloße Hülle halten, und daß, was diese wiederum für das wesentliche ausgeben, jenen dürftig erscheint, so daß sie meinen, es lohne nicht das Christenthum um des willen für etwas zu halten.«17
Damit »begründet Schleiermacher die Notwendigkeit einer neuen Untersuchung der Frage nach dem Wesen des Christentums durch eine neuzeittheoretische Fragestellung«18. Schleiermacher nimmt also die innerprotestantische Pluralisierung wahr, die dann zur Reflexion auf das Wesen des Christentums herausfordert: »Der Konturenverlust des neuzeitlichen Christentums, der zur Frage nach dem Wesen des Christentums drängt, ist auch eine Folge der für Schleiermacher offenkundigen Krise des konfessionellen Bewußtseins.«19 Dass nedasjenige, ›was im Christentum geschichtlich gegeben ist‹, durch Induktion zu einer Nominaldefinition zusammengefaßt wird; letzteres, indem der dem Christentum überzuordnende Allgemeinbegriff der Religion bzw. der religiösen Gemeinschaft durch sinnvolle Teilungen in ›Gegensätze‹ (ebd; [KD § 32, 13; Anm. d. Vf.]) zerlegt und so der begriffliche Ort des Christentums näher spezifiziert wird. Der Wesensbegriff ergibt sich so durch das ›Gegeneinanderhalten‹ (ebd.) bzw. durch die ›Vergleichung‹ (KD § 35, 15) von induktiv aufgestelltem Schema mit der deduktiv erhobenen Formel.« (AaO., 153). Innerhalb der Theologischen Enzyklopädie steht die Philosophische Theologie dabei in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zur Historischen Theologie, vgl. KD § 254; M. Rössler, Philosophische Theologie (1994), 135. Die Historische Theologie liefert der Philosophischen Theologie den geschichtlichen »Stoff« (KD § 65), ohne den die Wesensbestimmung derselben nur spekulative Willkür ohne jegliches empirisches Fundament wäre, weshalb sich der in der Philosophischen Theologie ermittelte Wesensbegriff an den Ergebnissen der Historischen Theologie nachweisen lassen muss. Umgekehrt »setzt die Historische Theologie die Ergebnisse der Philosophischen Theologie voraus. Denn erst die dort aufgestellten Grundbegriffe befähigen die Historische Theologie zu einer Beurteilung (...) des geschichtlichen Materials« (M. Rössler, Philosophische Theologie (1994), 136). Die Philosophische Theologie bietet der Historischen Theologie also überhaupt erst die Begriffe bzw. Kriterien, die zur Beurteilung der geschichtlichen Erscheinungen des Christentums notwendig sind. Vgl. zum Verhältnis von Philosophischer und Historischer Theologie aaO. 135 – 140; M. Schröder, Kritische Identität (1996), 155 ff. Vgl. zu Schleiermachers Verständnis des Wesens des Christentums M. Schröder, Kritische Identität (1996). Schröder geht darin auch kurz auf Schleiermachers Verständnis des Wesens des Protestantismus ein, vgl. hierfür bes. aaO., 61 ff. 16 AaO., 13 [Hervorhebung im Original]. 17 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/1822), § 5.1, 19. Schleiermacher selbst grenzt das Wesen des Christentums nach vier sogenannten häretischen Seiten ab: »Die natürlichen Kezereien des Christenthums sind die doketische und nazoräische, die manichäische und pelagianische.« (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/22), § 25; (1830/31), § 22). 18 M. Schröder, Kritische Identität (1996), 13. 19 AaO., 16 [Hervorhebung im Original].
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III. Das Wesen des Protestantismus
ben dem Wesen des Christentums auch das Wesen des Protestantismus beschrieben werden muss, leitet Schleiermacher aus dem faktischen Dasein zweier christlicher Konfessionen ab und hält aufgrund dessen fest: »Eine auf die jezige Zeit und die abendländische Kirche Bezug nehmende Glaubenslehre kann sich nicht gleichgültig verhalten gegen den Gegensaz zwischen Katholizismus und Protestantismus, sondern muß einem von beiden angehören.« 20
Dieser bestehende Gegensatz stellt sich nach Ansicht Schleiermachers bekanntlich in dem konträren Verhältnis des Glaubenden zu Christus und zur Kirche dar.21
1.2. Historische und hermeneutische Verortung von Schenkels Frage nach dem Wesen des Protestantismus Während Schleiermacher das faktische Nebeneinander von Katholizismus und Protestantismus schlicht als unterschiedliche Bestimmungen des religiösen Bewusstseins verstand, erlebte »[d]er konfessionspolitische Streit zwischen Protestanten und Katholiken (…) auf dem Hintergrund der Spannungsgegensätze zwischen dem Konservativismus aller Spielarten und den frühliberalen Fortschrittskräften nach 1815 eine Zuspitzung. (…) Damals etablierte sich endgültig ein polemisch typologisierender Umgang mit dem Konfessionsaggregat Protestantismus bzw. Katholizismus« 22 .
Wie auch die innerprotestantischen Spannungen war »[d]ie konfessionspolitische Polarisierung (…) Ausdruck entgegengesetzter Antworten auf die Stellung des Christentums zu den Grundfigurationen des Zeitalters« 23. Nach der Revolution 1848 verschärfte sich diese Entwicklung noch weiter, zunächst durch die massiven Jesuitenmissionen.24 Diese Polarisierung betraf allerdings bei Weitem nicht den ganzen Protestantismus, sondern entstand vor allem auf Seiten der liberalen Kräfte, die sich ebenso in einem immer größer werdenden Gegensatz zur kirchlichen Orthodoxie befanden, die sie als eigentlich katholische Bewegung wahrnahmen und auf die Seite des Katholizismus stellten; Anhaltspunkt dieser Deutung war primär das Amtsverständnis.25 Die kirchliche Orthodoxie wurde im Zuge der nach-revolutionären Restaurationszeit von den Regierungen stark unterstützt und nahm unter anderem im Kampf gegen die preußische 20 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821/1822), § 26, 96; vgl. ders., Der christliche Glaube (1830/31), § 23. Zur Bedeutung des Verhältnisses von Katholizismus und Protestantismus für die Wesensbestimmung des Protestantismus vgl. III.3. 21 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 24. 22 K. Nowak, Geschichte des Christentums (1995), 64. 23 AaO., 66. 24 Thomas Nipperdey spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer »Rekonfessionalisierung der Religion« (Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 406). 25 Vgl. dazu IV.1.3.
1. Die Frage nach dem Wesen des Protestantismus
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Union großen Einfluss. Die Erfahrung des neu erwachten Selbstbewusstseins des ultramontanen Katholizismus, das sich neben der Jesuitenmission auch in der Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens 1854 widerspiegelte, sowie der große Einfluss der konfessionellen Kräfte innerhalb des Protestantismus auf die theologischen und kirchlichen Debatten, die nach Schenkels Wahrnehmung auf eine Auflösung der Union und Aufrichtung einer starken kirchlichen Hierarchie gegenüber der Gemeinde zielten, alarmierten den kampfeslustigen Theologen. Er erkannte in dieser Entwicklung die Entmündigung des Subjekts und eben darin die Abweichung vom Wesen des Protestantismus. Diese Wahrnehmung bildet die eine Seite des Erfahrungshorizonts von Schenkel. Auf der anderen Seite wollte er den Protestantismus ebenso deutlich gegen den Rationalismus abgrenzen, in dem er, wie im vorherigen Kapitel deutlich geworden ist, eine subjektive und damit willkürliche Verkürzung des Protestantismus zu erkennen glaubte. Die Spitze des Rationalismus sah Schenkel zum Beispiel in David Friedrich Strauß’ Leben Jesu26 oder auch in Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums27 markiert, die beide in ihren Werken nach Ansicht Schenkels aller göttlichen Autorität eine klare Absage erteilt hatten.28 Das Ziel der Beschäftigung Schenkels mit dem Wesen des Protestantismus war es also, den Protestantismus positiv gegen den Katholizismus sowie innerprotestantisch gegen die kirchliche Orthodoxie einerseits und den Rationalismus andrerseits zu profilieren und zu verteidigen. Zwischen diesen beiden Polen ist Schenkels Theologie als Versuch zu verstehen, göttliche Autorität und menschliche Subjektivität zu vermitteln, also durchaus die Anliegen beider Seiten aufzunehmen, ohne sie dabei auf ihre äußerste Spitze auf Kosten der Freiheit des Subjekts oder der positiven Offenbarung Gottes zu treiben, wobei diese Auseinandersetzung für Schenkel letztlich die Existenzfrage des Protestantismus darstellte. Die Profilierung des Protestantismus konnte nach Schenkels Ansicht nur durch eine Stärkung des protestantischen Bewusstseins der Gemeinde erreicht werden. Insofern verfolgte Schenkel in den meisten Schriften, die sich beinahe ohne Ausnahme auch explizit an Laien richteten, eine Art bildungspolitisches Programm zur Stärkung des protestantischen Bewusstseins durch das Wissen um die eigene sowohl religiöse als auch sittliche Identität. Die größte Gefahr für den Protestantismus ging nach Schenkels Überzeugung von den konfessionellen Kräften innerhalb des Protestantismus aus, da mit ihnen innerhalb des Protestantismus selbst katholisierende Kräfte wirkten:
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D. F. Strauß, Leben Jesu (1835 f.). L. Feuerbach, Wesen des Christentums (1841). 28 Da Schenkel seine Schriften und Polemiken allerdings vornehmlich gegen die protestantische Orthodoxie richtet, wird diese Auseinandersetzung im Folgenden im Vordergrund stehen. 27
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III. Das Wesen des Protestantismus
»Nicht von der römischen Kirche droht uns gegenwärtig die größte Gefahr. Die größte Gefahr droht uns daher, daß viele Protestanten (…) von dem Wesen und Principe des Protestantismus abzufallen im Begriffe sind, und römisch-katholische Anschauungen ihren modernen Kirchengestaltungsversuchen zu Grunde legen.« 29
Anhaltspunkt des Streites war somit die Ekklesiologie, präziser: die Lehre vom Amt. Gegenüber jeder hierarchischen Tendenz und Überhöhung des Amtes wollte Schenkel das freie Individuum und so die Gemeinde stärken, die seines Erachtens das Fundament der Kirche bildet. In diesem Zusammenhang ging es ihm zudem darum, gegen die konfessionellen Kräfte die wesentliche Einheit des Protestantismus nachzuweisen, denn in der konfessionellen Spaltung erkannte Schenkel die größte Schwäche des Protestantismus, da sie seinem Wesen selbst widerspreche. Zusätzlich gefährdet sah er den Protestantismus durch die besondere landeskirchliche Struktur in Deutschland.30 Diese schwierige Situation des Protestantismus war aber nicht nur in kirchlicher Hinsicht von größter Bedeutung, sondern Schenkel zufolge dann auch im Hinblick auf die politischen Entwicklungen im Land: »Daß die Frage nach dem Verhältnisse der Confessionen zu einander, namentlich aber nach dem Verhältnisse der lutherischen zu der reformirten Confession gegenwärtig eine der brennendsten in der deutsch-evangelischen Kirche geworden ist, und daß der Staatsmann dieselbe eben so wenig ignoriren darf als der Theologe: darüber sind unstreitig alle Sachverständigen einverstanden.« 31
Die konfessionelle Spaltung bedeutete in Schenkels Augen de facto eine religiöse Spaltung des Volkes, die dann auch die politische Stärke Deutschlands erheblich schwächte. Eine protestantische Kirche würde demgegenüber die protestantische Spaltung auf heben und auf diese Weise das Bewusstsein von Einheit und Zusammengehörigkeit innerhalb der protestantischen Bevölkerung wieder wecken. Schenkel verband damit die Protestantismusfrage mit der Vision von und Perspektive auf die politische Einheit Deutschlands.32 Ein Schwerpunkt des Wesensdiskurses war die Frage nach den Prinzipien des Protestantismus, mithilfe derer die identitätsstiftende Mitte, der innerste Ausgangspunkt des Protestantismus angegeben werden sollte. Diese Diskussion stellt gewissermaßen das Einfallstor zu Schenkels Protestantismusverständnis 29
D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 17. Schenkel stellt mit dieser Einschätzung keine Ausnahme dar: »Die konfessionelle Bedrohung wurde auf evangelischer Seite durch den Blick auf die eigene Situation verstärkt (…). Die Gründe für diese dringend zu überwindene (sic!) ›Schwäche‹ des deutschen Protestantismus erkannte man im landeskirchlichen Partikularismus, in den tiefgreifenden kirchenpolitischen und theologischen Gegensätzen und in dem Verhalten der Regierungen angesichts der konstitutionell begründeten Abhängigkeit der evangelischen Kirche von staatlichen Instanzen.« (A. Müller-Dreier, Konfession (1998), 46). 31 D. Schenkel, Unionsberuf (1855), III. 32 Vgl. IV.3.1.4. 30
2. Das Prinzip des Protestantismus
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dar, denn sie bildet nicht nur den Kontext seiner ersten Überlegungen zu diesem Thema, vielmehr lassen sich hier auch für Schenkels Konzeption charakteristische Grundmotive erkennen.
2. Das Prinzip des Protestantismus Etwa seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts fokussierte sich die Frage nach dem Wesen des Protestantismus auf den Versuch der Bestimmung eines oder mehrerer Prinzipien des Protestantismus.33 Die Formel Prinzip bzw. Prinzipien des Protestantismus wurde vornehmlich von Vermittlungstheologen geprägt und dort »zu einem der Schlüsselworte, um die im Deutschland des 19. Jahrhunderts so aktuellen Unionsbestrebungen zwischen Lutheranern und Kalvinisten zu motivieren«34. Dass die Formel vor allem im Kontext von Unionsbemühungen entstand, wird schon an der Formulierung Prinzip des Protestantismus deutlich, die bereits impliziert, dass es ein den protestantischen Konfessionen gemeinsames Prinzip bzw. mehrere gemeinsame Prinzipien gibt: »Ein streng konfessionelles Luthertum oder Kalvinismus hätte für dieses Prinzip keine Anwendung.«35 Im Laufe der Diskussion um das Wesen und Prinzip des Protestantismus setzte sich schon bald die Rede vom Formal- und Materialprinzip36 des Protestantismus durch. Das Formalprinzip bezeichnete den reformatorischen Grundsatz sola scriptura, das Materialprinzip die reformatorische Rechtfertigungslehre. Auch Schenkel hat sich an der Diskussion um das Prinzip des Protestantismus beteiligt und sich vor allem in der 1852 das dreibändige Werk Das Wesen des Protestantismus37 abschließenden Abhandlung Das Princip des Protestantismus mit prominenten Entwürfen seiner Zeitgenossen zur Wesens- und Prinzipienfrage kritisch auseinandergesetzt. Die Unterscheidung von einem Formal- und Materialprinzip des Protestantismus lehnt Schenkel hier entschieden ab und betont stattdessen die Einzigkeit 33
Die »Wesensbestimmung ist in dem Sinne ein Prinzip, als sie das zusammenhaltende Zentrum ist, mit dem alle Erscheinungen (vor allem Glaubensaussagen) in organischem Zusammenhang stehen müssen, wenn sie überhaupt beanspruchen, zu dem betreffenden Typ zu gehören.« (R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 153 [Hervorhebung im Original]). Auf die Schwierigkeiten des schillernden Prinzipien-Begriffs weist dagegen zu Recht Jörg Lauster hin: »[E]s ist ja durchweg fraglich, ob Prinzip eher im Sinne der Ursprünglichkeit oder als das wesentliche Spezifikum bzw. das maßgebliche Kriterium zu verstehen ist (…).« (J. Lauster, Prinzip und Methode (2004), 85). 34 R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 152. 35 Ebd. 36 Zur Terminologie vgl. aaO., 153 – 157. 37 Vgl. II.2.3.
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III. Das Wesen des Protestantismus
des protestantischen Prinzips.38 Der Nachweis, dass der Protestantismus nur auf einem Prinzip beruht, ist für Schenkel als Argument für die kirchliche Union von Lutheranern und Reformierten von größter Bedeutung: »Es kann überhaupt nur ein wirkliches, tiefstes Princip des Protestantismus geben, aus welchem heraus die Gesammterscheinung desselben begreiflich werden muß.«39 Es geht Schenkel also um den Nachweis, dass die protestantischen Strömungen der Reformationszeit alle von demselben Prinzip ausgegangen sind, sodass das Prinzip dann zur Grundlage der Forderung nach der kirchlichen Union gemacht werden kann, da die Union dem Protestantismus dann wesentlich ist – und zwar ungeachtet der bestehenden dogmatischen Differenzen.40 Damit wird auch die Zielrichtung von Schenkels Untersuchung deutlich: Nicht der Nachweis, dass die Reformatoren in ihren dogmatischen Entscheidungen und Ausführungen letztlich einer Meinung gewesen sind, ist Schenkels Ziel, sondern darüber hinausgehend das alles bestimmende Prinzip des Protestantismus zu zeigen, das eben alle dogmatischen Entscheidungen regiert.41 Da Schenkel seine Position vor allem in Auseinandersetzung mit anderen Entwürfen profiliert hat – namentlich sind dies David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Isaak August Dorner, Hans Martensen, Ferdinand Christian Baur, Friedrich Schleiermacher, Richard Rothe, Heinrich Wilhem Thiersch, Gottlieb Jacob Planck, Ludwig Baumgarten-Crusius, Albrecht Schweizer und Matthias Schneckenburger – soll im Folgenden auf einige besonders bedeutende und für Schenkel relevante Positionen genauer eingegangen werden. Um die Ansätze und Anliegen angemessen einordnen zu können, ist es zuvor allerdings notwendig, einen kurzen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip zu werfen, da erst vor diesem
38 Christine Axt-Piscalar rechnet im Anschluss an Isaak Dorner Schenkel zu den Vertretern, die nicht nur ein doppeltes, sondern »eine Dreizahl der Prinzipien« (I. Dorner, Princip unserer Kirche (1883), 100, Anm. 1) vertreten. Zwar spricht Schenkel im ersten Band der ersten Auflage von Das Wesen des Protestantismus von drei Prinzipien, die er aus den drei Entwicklungsstadien der Religion allgemein ableitet, vgl. D. Schenkel, Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 1, § 1. Diese Formulierung gibt er allerdings schon in der genannten Abschlussabhandlung wieder auf und tritt vehement für die Einzigkeit des protestantischen Prinzips ein, in dem drei verschiedene Momente integriert sind. Dass Axt-Piscalar Letzteres nicht einmal erwähnt, ist angesichts der Tatsache, dass sie nicht nur den ersten Band des Werkes nennt, sondern daneben auch weitere Schriften Schenkels anführt, in denen er sich eindeutig für die Einzigkeit des protestantischen Prinzips ausspricht, verwunderlich, selbst wenn man der Ansicht ist, dass ihm dieser Nachweis nicht gelungen ist, vgl. Ch. AxtPiscalar, Grund des Glaubens (1990), 10, Anm. 7. 39 D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 11 [Hervorhebung im Original]. 40 Dies ermöglicht es Schenkel dann auch, Schrift und Rechtfertigungslehre als nur sekundäre Manifestationen dieses einen Grundprinzips zu verstehen. 41 Dies zeigt bereits, dass Schenkel das Wesen des Protestantismus nicht in einem bestimmten dogmatischen System oder einer Lehre verwirklicht sieht – dogmatische Differenzen haben ihm zufolge keine kirchentrennende Bedeutung, vgl. dazu IV.3.1.2.
2. Das Prinzip des Protestantismus
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Hintergrund die gesamte Diskussion und damit auch Schenkels Position verständlich wird. Die Anhänger der Formel und Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip gingen wie selbstverständlich davon aus, dass sich die Formel zumindest sachlich unmittelbar auf die Reformatoren zurückführen ließe, wie Carl Beck 1851 feststellte: »Dieses Princip des Protestantismus (…) stellt sich bekanntlich dar in doppelter Gestaltung, in der Spaltung des formalen und materialen. Unsere Generation ist gemeinhin gewohnt, dasselbe anzusehen, als hätte es sogleich mit den ersten Anfängen der Reformation bei Luther selbst oder wenigstens in den ältesten Kreisen der lutherischen Orthodoxie in dieser Doppelgestalt fertig dagestanden.«42
Beck bezweifelte allerdings die Richtigkeit dieser scheinbar unzweifelhaften Tatsache und forderte deshalb, dass die Erforschung »des doppelte[n] Princip[s] des Protestantismus (…) in seiner geschichtlichen Entwicklung zur akademischen Preisfrage«43 gemacht werde. Auf eine Antwort musste Beck jedoch 25 Jahre warten, bis sich schließlich Albrecht Ritschl dieser Aufgabe annahm und Beck in dem wegweisenden Aufsatz Ueber die beiden Principien des Protestantismus. Antwort auf eine 25 Jahre alte Frage44 antwortete. Ritschl – der selber die Rede von einem Formal- und Materialprinzip ablehnt – weist darin nach, dass die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip keineswegs auf die Reformation oder die lutherische Orthodoxie zurückgeht, sondern vielmehr ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist, als nämlich »die Collision zwischen Rationalismus und Positivismus in der Theologie die Aufmerksamkeit darauf hinlenkte, nach welchen entscheidenden Gründen man sich als protestantisch zu beurtheilen habe«45. Diese Formel entstand also Ritschl zufolge als ein Versuch, unter den Bedingungen der Pluralisierung ein Legitimitätskriterium zu bestimmen. Diese Diskussion wurde seiner Ansicht nach nun erst im Jahre 1800 ausgelöst, und zwar durch eine Auseinandersetzung zwischen dem Dresdner Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard (1753 – 1812) – einer der »vorsichtigsten und zurückhaltendsten Vertreter [der Neologie; Anm. d. Vf.], welcher dogmatisch dem Supranaturalismus huldigte«46 – und 42
C. Beck, Princip des Protestantismus (1851), 408 f. AaO., 411. 44 A. Ritschl, Ueber die beiden Principien (1893). 45 AaO., 235. 46 E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 4, 162; vgl. auch ders., Geschichte (1968), Bd. 5, 80 – 84. Dort schreibt Emanuel Hirsch über die Entwicklung Reinhards: »Reinhard ist bibelgläubig und vernunftbestimmt zu gleicher Zeit gewesen. (…) Wenn nicht von Anfang an, so doch sicherlich seit 1800 hat er im altgeprägten lutherischen Versöhnungs- und Rechtfertigungsglauben gestanden und sich wider die rationalistische Geringachtung der Bekenntnisschriften erklärt. Wir haben hier klar einen von gemäßigter Neologie zum Supranaturalismus fortschreitenden theologischen Typus vor uns. Eben damit wird Reinhard zum Vertre43
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III. Das Wesen des Protestantismus
Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) – »ein sehr gemäßigter, gegen den eigent lichen Rationalismus kritischer Anhänger des ›vernünftigen Christentums‹«47. Anlass gab eine von Reinhard gehaltene Reformationspredigt. Zwar war hier noch nicht die Rede von der Unterscheidung zweier Prinzipien des Protestantismus, aber Ritschl erkennt in dieser Kontroverse gleichwohl »Zeichen einer eigenthümlichen Fragestellung, von welcher vorher keine Spur vorkommt«48 und die für die weitere Entwicklung sehr einflussreich gewesen sei. Aus diesem Grund soll sie im Folgenden kurz aufgerufen werden.
2.1. Die Anfänge der Diskussion: Franz Volkmar Reinhard und Johann Philipp Gabler In seiner Reformationspredigt im Jahre 1800 beklagte Reinhard, »daß sich unsre Kirche, daß sich wenigstens die, welche am lautesten in derselben sprechen, und für die vorzüglichsten und aufgeklärtesten Lehrer derselben gelten wollen, von der eigenen Lehre Luthers und seiner Freunde, und von ihrem wahren, aus ihren Schriften erweislichem Sinn immer mehr entfernen«49.
Um die Kirche vor dem weiteren Abfall von Luther und damit ihrem Ursprung zu bewahren, möchte Reinhard mit der Predigt seine Gemeinde »an den eigentlichen wahren Ursprung unsrer Kirche« 50 erinnern und erklärt: »wie sehr unsre Kirche Ursache habe, es nie zu vergessen, sie sey ihr Daseyn vornämlich der Erneuerung des Lehrsatzes von der freyen Gnade Gottes in Christo schuldig«51. Reinhard zufolge steht die Rechtfertigungslehre demnach nicht nur im ter und Sprachrohr der (…) Theologen, welche, von der Entwicklung der Neologie zum Rationalismus und nicht minder von der die Grundlagen des aufgeklärten Christentums preisgebenden allgemeinen Literatur der Zeit erschreckt, den Weg zu einem biblisch vereinfachten Luthertum suchen.« (AaO., 81). Reinhard studierte Theologie in Wittenberg, wo er 1777 habilitierte, 1780 wurde er a.o. Professor an der Philosophischen Fakultät, 1782 wurde er zum ordentlichen Professor der Theologischen Fakultät ernannt und im selben Jahr zum Doktor der Theologie promoviert. 1791 folgte er einem Ruf nach Dresden, wo er die Stelle des Oberhofpredigers antrat. Vgl. E. Förstemann, Art. »Reinhard« (1889). 47 E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 45. Johann Philipp Gabler studierte 1772 – 1778 nach anfänglichem Philosophiestudium Theologie in Jena. 1780 trat er eine Repetentenstelle in Göttingen an, wo er seine Dissertation verfasste. Diese brachte ihm 1783 einen Ruf als Professor der Philosophie nach Dortmund ein; 1785 folgte er einem Ruf nach Altdorf, wo er 1787 zum Doktor der Theologie promoviert wurde. 1804 nahm er einen Ruf an die Universität Jena an. Vgl. O. Merk, Art. »Gabler« (1984). 48 A. Ritschl, Ueber die beiden Principien (1893), 236. 49 F. Reinhard, Predigten (1800), 234. Damit wendet Reinhard sich einerseits gegen sowohl ethische als auch rationalistische Verkürzungen des Christentums, vgl. aaO., 248 f. Letzteres bekräftigte er später nochmals im Rückblick auf die Predigt, vgl. F. Reinhard, Geständnisse (1811), 91. 50 F. Reinhard, Predigten (1800), 235. 51 AaO., 237.
2. Das Prinzip des Protestantismus
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Zentrum des Protestantismus, vielmehr verdankt die protestantische Kirche überhaupt ihr Dasein diesem Lehrsatz, was Reinhard anhand von Luthers Schriften sowie den Bekenntnisschriften nachweist.52 Diese Predigt Reinhards sorgte für reichlich Aufsehen und Diskussion, was sich vornehmlich dem Umstand verdankte, dass Reinhard durch ein kurfürstliches Reskript dazu verpflichtet wurde, seine Predigt zu veröffentlichen; sie wurde auf Staatskosten gedruckt, »damit sie in die Hände jedes Pastors und Professors käme«53. Hierdurch bekam die Predigt allerdings den Charakter einer quasi lehramtlichen Interpretation der Reformation und des Protestantismus,54 fand dementsprechend eine breite Öffentlichkeit und stieß aus ganz unterschiedlichen Richtungen auf zum Teil heftige Kritik.55 Für die weitere Diskussion um das Prinzip des Protestantismus ist vor allem die Rezension dieser Predigt von Gabler im Journal für theologische Literatur 56 von Bedeutung, in der er gegen Reinhard die These aufstellt, dass die Rechtfertigungslehre zwar ein ›Lieblingsdogma‹ Luthers gewesen sei, sie jedoch keineswegs den Grundsatz oder das Prinzip des Protestantismus darstellte. Vielmehr sei die Betonung der Rechtfertigungslehre historischer Zufall, allein hervorgerufen durch die Auseinandersetzung mit Rom um den Ablasshandel.57 Gabler relativiert damit die Bedeutung des Rechtfertigungsdogmas für die Identität des Protestantismus und stellt gegen Reinhard folgende These auf: »Luther gieng unwidersprechlich von einem höhern Gesichtspunkte, als ein bloßes Dogma ist, aus, nämlich von evangelischer Freiheit in Glaubenssachen (…). Diesem höchsten protestantischen Princip als Basis allen Protestantismus, müssen selbst die wichtigsten Lieblingsdogmen Luther’s untergeordnet werden (…).« 58 52
Paul Gabriel weist darauf hin, dass diese Predigt »mit am Anfang der Geschichte der Wiederentdeckung Luthers und der Reformation zu Beginn des 19. Jahrhunderts [steht]. Sie war aber nicht bloß historisch gemeint, sondern sollte zugleich der Wiedererweckung Luthers und der Reformation dienen.« (P. Gabriel, Reinhards Reformationsfestpredigt (1922), 101 [Hervorhebung im Original]). 53 AaO., 94. Der Kurfürst war davon überzeugt, dass die in der Predigt entfaltete Rechtfertigungslehre »auf das Wohl des Staates von so wohlfältigem Einfluß« (ebd.) sei, dass er sie möglichst weit bekannt machen wollte. Weshalb er dieser Ansicht war und was er sich davon im Hinblick auf ›das Wohl des Staates‹ erhoffte, führt Gabriel leider nicht aus. 54 So beschreibt Gabler die Gründe für seinen Einspruch: »Wäre die angezeigte Predigt nicht von einem Reinhard, hätte sie nicht schon so viel Sensation gemacht (…) wäre sie nicht durch ein Kurfürstl. Rescript in Kursachsen gleichsam als eine neue symbolische Schrift unter alle Kirchenlehrer ausgetheilt worden, wären nicht schon andere Fürstliche Consistorien nachgefolgt, und müßte man nicht von solchen bedenklichen Vorschriften Gefahr für die heiligen Rechte des so schwer erkämpften Protestantismus befürchten (…).« (J. Gabler, Reinhard’s Predigt (1801), 538 ff.). 55 Gabriel hat in seinem Aufsatz einen Großteil der Reaktionen und Rezensionen auf die Predigt Reinhards bibliographisch erfasst und ausgewertet, vgl. P. Gabriel, Reinhards Reformationsfestpredigt (1922), hier 102 ff. 56 Vgl. J. Gabler, Reinhard’s Predigt (1801). 57 Vgl. aaO., 570. 58 AaO., 569. Der Grund für Reinhards mangelhafte Bestimmung des protestantischen
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III. Das Wesen des Protestantismus
Unter ›evangelischer Glaubensfreiheit‹ versteht Gabler die »Unabhängigkeit von aller menschlichen Autorität in Glaubenssachen«59. Er wendet sich damit gegen eine Lehrorthodoxie und nimmt zudem die amtskritische Intention von Luthers Theologie auf. Allerdings ist nach Gabler der Grundsatz des Protestantismus damit noch nicht hinreichend bestimmt, sondern in dieser Einseitigkeit ist seines Erachtens nur der Rationalismus bezeichnet, gegen den er sich ebenso abgrenzen möchte wie Reinhard.60 Aus diesem Grunde ergänzt Gabler, dass erst in der »Annahme der heil. Schrift als einzigen Glaubensgrund« 61 und damit der Bindung des Glaubens an die Schrift der Protestantismus vollständig beschrieben ist: »Der Protestantismus hingegen geht (…) von dem Grundsatze aus: daß unser Glaube nur von deutlichen und nach richtigen Auslegungsgrundsätzen unläugbaren Ansprüchen der heiligen Schrift abhängen könne, aber nicht von menschlicher Autorität (…). Unabhängigkeit von aller menschlichen Autorität in Glaubenssachen, und Freiheit der Bibelerklärung nach richtigen Auslegungsregeln ist also die Basis der protestantischen Religion und Kirche.« 62
Die Autorität der Schrift ist nicht als solche gegeben, sondern nur insofern sie ›nach den richtigen Auslegungsregeln‹ exegetisiert wird, die »sich [wiederum] nach den Prinzipien der Vernunft zu richten« 63 haben – die Schriftauslegung muss demnach frei erfolgen und darf eben nicht an bestimmte Lehren oder Materialprinzipien gebunden werden. Indem der Kanon so frei von dogmatischen Voraussetzungen untersucht wird, regiert das Prinzip der Freiheit das Schriftprinzip und bleibt das Subjekt insofern vorgeordnet.64 Gabler bestreitet also die Bindung des genuin Reformatorischen an einen bestimmten Lehrsatz. Prinzips ist nach Gabler in dessen fehlender Unterscheidung von Luthertum und Protestantismus begründet, die sich in dem unkritischen Rekurs auf Luther und die Bekenntnisschriften festmacht, den Gabler als geradezu katholisch ablehnt, vgl. aaO., 544. 570 u. ö. 59 AaO., 559. 60 Vgl. dazu v. a. J. Gabler, Gränzen der Kirchengewalt (1801), hier 473 f. Auf diesen Aufsatz bezieht sich Gabler auch in seiner Besprechung von Reinhards Predigt, sodass hier auf beide Aufsätze gleichermaßen Bezug genommen wird. 61 J. Gabler, Reinhard’s Predigt (1801), 559. Dass Gabler neben die evangelische Freiheit auch die Autorität der Schrift stellt, wird in der Literatur oft übersehen, obwohl schon Al brecht Ritschl darauf explizit hingewiesen hat, vgl. A. Ritschl, Ueber die beiden Principien (1893), 236. 62 J. Gabler, Gränzen der Kirchengewalt (1801), 457. 63 Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 21; vgl. dazu insbesondere J. Gabler, Gränzen der Kirchengewalt (1801). 64 Im Hintergrund steht Gablers Antrittsrede De iusto discrimine biblicae et dogmaticae regundisque recte utruisque finibus in Altdorf aus dem Jahr 1787. Darin plädiert er ausgehend von der Feststellung der Vielzahl theologischer Positionen und Theologien für eine klare Differenzierung von dogmatischer und biblischer Theologie, »mit der näheren Absicht, die Auslegung der Schrift als kritische Instanz zu etablieren gegenüber der Vielfalt positioneller Theologien, in die er die Dogmatik zerfallen sieht« (N. Slenczka, Systematische Bemerkungen (2007), 275). Die biblische Theologie ist nach Gabler historisch und fragt, »was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben« (J. Gabler, Antrittsrede (1787),
2. Das Prinzip des Protestantismus
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Damit tritt in dieser Auseinandersetzung nicht nur erstmals die Frage auf, was überhaupt protestantisch ist, sondern vielmehr werden hier bereits zentrale Punkte der weiteren Diskussion benannt: In methodischer Hinsicht stellt sich die Frage, welche Bedeutung und Autorität der Schrift wie auch den Reformatoren bzw. den Bekenntnisschriften zukommt; in sachlicher Hinsicht, auf welcher theologischen Grundlage der Protestantismus begründet ist. Die genannten Aspekte – Heilige Schrift, Rechtfertigungslehre sowie die ›evangelische Glaubensfreiheit‹, mit denen letztlich die Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Objektivität im Protestantismus gestellt ist – bilden das Zentrum, um das sich die weitere Debatte dreht – wie insbesondere bei de Wettes Deutung des Prinzips deutlich werden wird – und zu dem sich diejenigen, die das Wesen und Prinzip des Protestantismus bestimmen möchten, auf irgendeine Art und Weise verhalten müssen; insofern ist Ritschls oben genanntem Urteil zuzustimmen. Auch von de Wette und Twesten, die für die weitere Differenzierung der Rede vom Prinzip des Protestantismus vor allem hinsichtlich der Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip prägend waren, werden diese drei Punkte aufgenommen und bearbeitet.
2.2. Die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus: Wilhelm Martin Leberecht de Wette und August Detlev Christian Twesten Es ist schließlich Wilhelm de Wette65 gewesen, der die Auseinandersetzung von Reinhard und Gabler positiv aufnahm und den Boden für die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip bereitet hat, die dann von August Twesten66 (1789 – 1876) aufgenommen und maßgeblich geprägt wurde.67 275). Demgegenüber hat die dogmatische Theologie einen »didaktischen Charakter«, indem sie darauf zielt, die »göttlichen Dinge« in ihrer jeweiligen Zeit darzustellen, vgl. aaO., 275 f. Die biblische Theologie bietet so der dogmatischen Theologie ein »sicheres Fundament«, um »die in der Schrift niedergelegte Lehre auszuarbeiten, zu entfalten und als ›philosophica critica‹ vor allem mit dem gegenwärtigen Wahrheitsbewusstsein – der Vernunft – zu vermitteln« (N. Slenczka, Systematische Bemerkungen (2007), 276). Die biblische Theologie stellt damit als historisch-kritische Methode das Kriterium für die dogmatische Theologie dar. 65 Vgl. Kap. II, Anm. 14. 66 August Detlev Christian Twesten studierte zunächst Philosophie und Philologie in Kiel, bevor er 1810 ein Theologiestudium in Berlin aufnahm, wo er stark von Schleiermacher geprägt wurde. 1814 erhielt er eine Professur für Theologie und Philosophie in Kiel; 1835 wurde er als Nachfolger Schleiermachers nach Berlin berufen. Twesten gehört zu den bedeutesten Vermittlungstheologen, sein Werk ist allerdings kaum erforscht. Vgl. K.-G. Wesseling, Art. »Twesten« (1997). 67 Anders äußert sich Hirsch, der die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip auf den rationalistischen Supranaturalisten Karl Gottlieb Bretschneider zurückführt, vgl. E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 63 f. Tatsächlich finden sich bei Bretschneider die Begriffe ›Form‹ und ›Materie‹, allerdings bezieht er sie nicht auf die Schrift bzw. die Rechtferti-
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III. Das Wesen des Protestantismus
Die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip hat de Wette erstmals in seinem Lehrbuch der christlichen Dogmatik (1816) durchgeführt. Dort heißt es in § 20 über Princip und Charakter des Protestantismus: »Das Princip des Protestantismus als Erscheinung (materiale Princip) ist die Lehre von der freyen Gnade Gottes in Christo und der Rechtfertigung durch den Glauben. (…) Das formale (subjective, erzeugende) Princip ist die Selbstständigkeit, Wahrheitsliebe, Regsamkeit des Gewissens, sittlicher Ernst.« 68
De Wette nimmt mit dieser doppelten Bestimmung also sowohl das Anliegen Reinhards als auch Gablers auf und stellt sie als materiales und formales Prinzip nebeneinander. Dabei bezieht er sich auch explizit auf die Kontroverse zwischen beiden und merkt dazu kritisch an: »Beide Partheyen unterscheiden nicht das objective und subjective Princip, daher sie beyde Recht und Unrecht haben« 69. Auffällig ist, dass de Wette an dieser Stelle mit keinem Wort die Schrift erwähnt, obwohl die Autorität der Schrift, wie oben gezeigt wurde, bereits von Gabler in die Debatte eingeführt worden war – und obwohl de Wette selbst in demselben Lehrbuch bereits die Bedeutung der Autorität der Schrift als Charakteristikum des Protestantismus festgestellt hat. – In der Historisch-kritischen Einleitung des Lehrbuches bestimmt de Wette in § 8 den Protestantismus im Gegenüber zum Katholizismus und schreibt dort, dass »[d]ie Idee des Glaubens und das Zurückgehen auf die heilige Schrift, als einzige Quelle der Wahrheit, (…) alle Gegensätze gegen den Katholicismus und alle Bedingungen des erneuerten Lebens«70 enthält. Die Eigentümlichkeit des Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus sieht de Wette hier also im Glauben und der Anerkennung der Schriftautorität begründet. Dass hier eine Spannung besteht, hat de Wette ebenfalls wahrgenommen, denn schon in der zweiten Auflage des Lehrbuches, die 1821 erschien, ergänzt er in § 20 folgendermaßen: »Das Princip des Protestantismus als Erscheinung (objectives Princip) ist die Lehre von der freyen Gnade Gottes in Christo und der Rechtfertigung durch den Glauben, oder von der Erlösung und Versöhnung. Die Darstellung- und Auffassungsweise ist, wie beim Christenthum überhaupt, ethisch-dogmatisch, eigenthümlich aber ist die Kritik, oder das Bestreben der Rückkehr zur ursprünglichen Offenbarung. Das subjective, erzeugende gungslehre, wie Günter Meckenstock kritisch bemerkt, vgl. G. Meckenstock, Protestantismustheorien (1998), 41, Anm. 9. Ritschl wendet zudem ein, dass Bretschneider hier nicht die Prinzipien des Protestantismus, sondern lediglich die der lutherischen Dogmatik bezeichne, vgl. A. Ritschl, Ueber die beiden Principien (1893), 237. Ragnar Holte hat sowohl de Wettes Ausführungen und Terminologie als auch Twestens Rezeption ausführlich und kritisch dargestellt, vgl. R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 158 – 165. 68 W. de Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik (1816), 42 [Hervorhebung im Original]. 69 AaO., 43. 70 AaO., 10.
2. Das Prinzip des Protestantismus
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Princip ist Selbsständigkeit, Wahrheitsliebe, Regsamkeit des Gewissens, sittlicher Ernst. Von Seiten des Gefühls ist die Andacht und Resignation vorherrschend.«71
Durch diese Ergänzung ist der gesamte Satz nun »ganz eindeutig auf die Schriftautorität bezogen«72 , sodass die Schriftautorität in die Beschreibung des Charakters des Protestantismus einbezogen ist, allerdings nicht als Prinzip des Protestantismus. Darüber hinaus fällt aber noch eine weitere Änderung auf: De Wette gibt – ohne weitere Erklärung – die ursprüngliche Terminologie auf und unterscheidet nun nicht mehr formales und materiales, sondern objektives und subjektives Prinzip, »was aber (…) keine sachliche Veränderung bedeuten sollte«73. Für die weitere Differenzierung und spätere Prägung der Formel war im Anschluss an de Wette dann vor allem Twesten prägend. Er nahm de Wettes Ansatz auf und suchte dabei die aufgetretenen Spannungen auszugleichen.74 Wie auch de Wette unterscheidet Twesten zunächst zwischen einem subjektiven Prinzip – »die Stimmung und Gemüthsverfassung«75 – und einem objektiven Prinzip – »dem Principe der Erscheinung«76 . Innerhalb des objektiven Prinzips differenziert Twesten aber nochmals zwischen formalem und materialem Prinzip, wobei er sich hierbei in Übereinstimmung mit de Wette sieht.77 Das objektiv-materiale Prinzip versteht Twesten als »die wesentliche Grundlehre, auf welche alle Dogmen hinweisen, und aus der sich ihre eigenthümliche Modification und Stellung im Protestantismus begreifen läßt«78. Diese wesentliche Grundlehre stellt wie auch bei Reinhard die Rechtfertigungslehre dar, wobei Twesten sich wie schon Reinhard auf die Reformatoren beruft: 71 W. de Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik (1821), 30 [Hervorhebung im Original. Die fettgedruckte Hervorhebung ist die gegenüber der 1. Auflage vorgenommene Ergänzung; Hervorhebung d. Vf ]. § 8 hat de Wette unverändert in die neue Auflage übernommen. 72 J. Baur, Sola Scriptura (1993), 53, Anm. 63. Jörg Baur bezieht sich hier zwar auf die 3. Auflage, vermutet diese Ergänzung jedoch zu Recht schon für die 2. Auflage, die hier zitiert wird. Anders R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 161 f. und auch Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 22. 73 R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 160. 74 Nach Ritschl hat Twesten allerdings de Wettes Ansatz mit Bretschneiders und Julius August Ludwig Wegscheiders Unterscheidung eines formalen und materialen Prinzips in der lutherischen Dogmatik bzw. Theologie verbunden und de Wette somit gegen dessen eigene Intention weitergeführt, vgl. A. Ritschl, Ueber die beiden Principien (1893), 242 f. Auch Holte kritisiert Twestens Rezeption de Wettes scharf, vgl. R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 164 f. 75 A. Twesten, Vorlesungen über die Dogmatik (1838), 258. 76 Ebd. 77 Vgl. aaO., § 20, 257 – 264. Die Möglichkeit zur Interpretation und Weiterentwicklung lag primär in der eben dargestellten terminologischen Uneinheitlichkeit in de Wettes Dogmatik begründet, vgl. J. Baur, Sola Scriptura (1993), 53, Anm. 63. 78 A. Twesten, Vorlesungen über die Dogmatik (1838), 258.
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III. Das Wesen des Protestantismus
»Diese Lehre: daß wir ohne Verdienst gerechtfertigt werden, bloß aus Gnaden, um Christi willen durch den Glauben (Eph II, 8.9.) ist zu jeder Zeit ausdrücklich als Grundlehre des Christenthums von Luther und seinen Mitarbeitern bezeichnet, (…) aus ihr ist die eigenthümliche Gestaltung der Dogmatik in unserer Kirche zu verstehen; sie wird also mit Recht als das objective materiale Princip derselben begriffen.«79
Die Rechtfertigungslehre weist Twesten zufolge sodann über sich hinaus auf ihre Quelle, nämlich Gott, der sich in der Schrift offenbart hat: »Das Zurückgehen auf die ursprüngliche Offenbarung in der Schrift ist daher das formale Princip des Protestantismus, welches sich in der Anwendung als Kritik darstellt (…).« 80 Twesten bezieht die Ergänzung de Wettes also explizit auf die Schrift und führt diese – anders als de Wette – als Prinzip des Protestantismus in die weitere Debatte ein.81 Jörg Lauster weist allerdings zu Recht auf »die bemerkenswerte Relativierung des Schriftprinzips in Twestens Prinzipienlehre« 82 hin: Durch die Annahme eines zweifachen Prinzips wird erstens dem »Exklusivitätsanspruch des sola scriptura« widersprochen, was »in der altprotestantischen und somit strengsten Fassung des reformatorischen Schriftprinzips undenkbar« 83 gewesen ist; zweitens leitet Twesten das Schriftprinzip aus der Rechtfertigungslehre, also das formale aus dem materialen Prinzip ab. Damit ist aber »[d]as Ansehen der Schrift (…) an den vorausgehenden Glauben gebunden. Ihre prinzipielle Bedeutung wird zur Glaubenssache.« 84 Twesten übernimmt also nicht einfach das Schriftprinzip der altprotestantischen Orthodoxie, sondern verarbeitet das neuzeitliche Anliegen der Subjektivität innerhalb des objektiven Prinzips.85 79 AaO., 259. Ritschl weist darauf hin, dass Twesten im Unterschied zu de Wettes letzter Auflage des Lehrbuches nicht von Prinzipien des Protestantismus, sondern wie auch Bretschneider von Prinzipien der Dogmatik und zwar der lutherischen spreche, da er in § 20 die Bedeutung der Prinzipien für die weiteren Dogmen betone. Damit verbunden ist dann Ritschls Kritik, dass Twesten die ursprüngliche Intention de Wettes, nämlich das Wesen der evangelischen Frömmigkeit darzustellen, verkannt habe, vgl. A. Ritschl, Ueber die beiden Principien (1893), 242. Lauster folgt Ritschls Kritik zum Teil, da zumindest unklar bleibe, ob Twesten die Prinzipien auf den Protestantismus oder die Dogmatik beziehe, vgl. J. Lauster, Prinzip und Methode (2004), 85. Die Kritik Ritschls geht Baur demgegenüber zu weit, da »de Wette (…) eine sachliche Parallele in der Beschreibung Luthers bzw. der ›Bedingungen des zu erneuernden christlichen Lebens‹« (J. Baur, Sola Scriptura (1993), 52 f., Anm. 63.) erkenne; zudem beziehe de Wette die Schriftautorität in die Beschreibung des Wesens des Protestantismus mit ein, vgl. oben Anm. 72. 80 A. Twesten, Vorlesungen über die Dogmatik (1838), 260 [Hervorhebung im Original]. 81 Vgl. J. Lauster, Prinzip und Methode (2004), 82. 82 AaO., 85. 83 Ebd. 84 AaO., 86. 85 Gegen Axt-Piscalar, die im Wesentlichen Ritschls Kritik folgt, »insofern bei de Wette und seinem Ansatz bei der persönlichen Gewissenserfahrung keine konstitutive Bedeutung der Schrift mehr garantiert ist« (Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 22, Anm. 96). Abgesehen davon, dass de Wette die Schrift ab der zweiten Auflage mit in die
2. Das Prinzip des Protestantismus
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Noch expliziter ist dieses Anliegen freilich in dem ›subjektiven‹ oder ›erzeugenden‹ Prinzip festgehalten, das Twesten – von Gabler vorgegeben und de Wette aufgenommen – beibehält 86 und ebenso wie de Wette als ›Regsamkeit des Gewissens‹, ›sittlichen Ernst‹, ›Wahrheitsliebe‹ und ›Selbständigkeit‹ definiert.87 Was das Verhältnis der Prinzipien zueinander angeht, betont Twesten ausdrücklich, dass sie »Eins seyn; ihre Verschiedenheit kann nur daher kommen, daß wir eins und dasselbe von verschiedenen Seiten auffassen; und in dieser ihrer Einheit muß man sie zu begreifen wissen, wenn man sich nicht mancherley Mißverständnissen aussetzen will« 88. Die terminologische Bestimmung – dass das formale Prinzip eindeutig auf die Schrift und das materiale Prinzip auf die Rechtfertigungslehre bezogen wird – ist also Twestens Verdienst,89 der sie aber beide unter das objektive Prinzip subsumiert. Jörg Baur bemerkt zu Recht, dass damit bei »Twesten ein Ausgleich zwischen den Ansprüchen der neuzeitlichen Subjektivität und der reformatorischen Tradition mit deren Vermittlung von Glaube und Objektivität erreicht zu sein«90 schien. Festzuhalten ist darüber hinaus, dass schon Twesten nicht mit einer einfachen Nebeneinanderstellung der Prinzipien zufrieden war, sondern bemüht war, deren Verhältnis zueinander zu klären. Damit hat er die Frage vorbereitet, die Mitte des Jahrhunderts zahlreiche Theologen beschäftigte und mit der auch Schenkel intensiv gerungen hat. Vor allem Dorner »begründete und analysierte diese Terminologie [der Formel; Anm. d. Vf.] am ausführlichsten«91 und er versuchte den unauflöslichen Zusammenhang von Formalund Materialprinzip nachzuweisen. Damit wurde Dorner zu einem der Hauptgesprächspartner Schenkels.
2.3. Das Verhältnis von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus: Isaak August Dorner In der Folge Twestens geriet das subjektive Prinzip immer mehr in Vergessenheit, lediglich das objektive Prinzip – in Form von Formal- und Materialprinzip – wurde als Wesensbestimmung des Protestantismus festgehalten; das subjektive Moment wurde in das Verhältnis von Formal- und Materialprinzip inBestimmung des Protestantismus aufnimmt, hat Twesten die prinzipielle Bedeutung der Schrift gerade wieder relativiert, wie Lauster gezeigt hat, vgl. oben Anm. 82. So kann man fragen, ob Twesten nicht insgesamt doch näher an de Wette geblieben ist, als sowohl Ritschl als auch Axt-Piscalar vermuten. 86 Vgl. A. Twesten, Vorlesungen über die Dogmatik (1838), 262. 87 Vgl. ebd. 88 Ebd. 89 Vgl. J. Baur, Sola Scriptura (1993), 53. 90 Ebd. 91 R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 150.
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III. Das Wesen des Protestantismus
tegriert.92 Als besonders einflussreich in der Prinzipiendebatte erwies sich die Konzeption Isaak Dorners93 (1809 – 1884) – einer der Hauptvertreter der Vermittlungstheologie. Durch ihn gewann die vermittlungstheologische Prinzipienlehre ihre endgültige Form.94 Hauptanliegen Dorners war es, die unauflösbare Einheit der beiden protestantischen Prinzipien nachzuweisen, womit er nachhaltig die protestantische Theologie geprägt hat.95 Dorner hat zuerst 1841 in seiner Schrift Das Princip unsrer Kirche nach dem innern Verhältnis seiner zwey Seiten96 zur Prinzipienfrage Stellung genommen und eine erweiterte Fassung nochmals 1883 unter dem Titel Das Princip unsrer Kirche nach dem inneren Verhältniß der materialen und formalen Seite desselben zu einander 97 veröffentlicht, wobei die Erweiterung vor allem auf die Kritik Ritschls, die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip lasse sich nicht auf die Re92 Holte weist in diesem Zusammenhang auf eine Merkwürdigkeit in der Vermittlungstheologie hin: »Aber dadurch [dass das subjektive Prinzip in Vergessenheit geriet; Anm. d. Vf.] erhielte man zwei nach Twestens Sprachgebrauch objektive Prinzipien, was schlecht damit zusammenpaßt, daß die Vermittlungstheologie die grundlegende Bedeutung des Gefühls und des Subjektiven in der Religiosität betont. Auch widerspricht es der Grundanschauung der Vermittlungstheologie, daß das Wesen oder Grundprinzip eines Religionstypes in einer Lehre enthalten sein könne.« (AaO., 165 [Hervorhebung im Original]). Gegen diese Kritik Holtes spricht allerdings, dass Dorner selbst an de Wette und Twesten kritisiert, dass diese das materiale Prinzip als objektives Prinzip, und zwar als Lehre, verstehen und dem noch ein subjektives Prinzip gegenüber stellen. Dagegen will Dorner das subjektive Prinzip in das materiale aufnehmen und dieses als subjektives Prinzip verstehen. Aus diesem Grund betont Dorner, dass mit dem materialen Prinzip eben nicht eine Lehre bezeichnet sei. Vgl. I. Dorner, Princip unserer Kirche (1883), 94 f. 93 Isaak August Dorner studierte Theologie und Philosophie in Tübingen. Beeinflusst wurde er stark von Schleiermacher, Hegel und Kant. Nach Professuren in Kiel, Königsberg, Bonn und Göttingen erhielt Dorner 1862 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Christliche Sittenlehre nach Berlin, wo er bis zu seinem Tod blieb. Dorner ist einer der bedeutendsten Vermittlungstheologen, er versteht Theologie als spekulative Wissenschaft, »die den Grund des Glaubens als objektive Wahrheit erfaßt« (Ch. Axt-Piscalar, Art. »Dorner« (1999), 942. Vgl. außerdem J. Rothermundt, Art. »Dorner« (1982). 94 Vgl. R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 168. Für eine ausführliche Darstellung von Dorners Prinzipienlehre vgl. Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 7 – 27. 95 Dessen war sich auch Dorner bewusst: »Blieben sie [die beiden Prinzipien; Anm. d. Vf.] nur einander gegenüber gestellt und wurde nicht ihre innere Zusammengehörigkeit erkannt, so klafften sie dualistisch auseinander und schienen die innere Einheit und Sichselbstgleichheit der evangelischen Frömmigkeit, Theologie und Kirche gleich sehr zu bedrohen. Diesem letzten Desiderium suchte diese Abhandlung bei ihrem ersten Erscheinen zu genügen, und festzustellen, daß das evangelische Princip eine Einheit sei, die aus zwei unauflöslich zusammengehörigen, relativ selbständigen Factoren, nicht mehr und nicht weniger, bestehe. Man darf wohl sagen, daß alle namhafteren Theologen die Formel nach ihrer schließlichen Gestalt in einem von diesen Mängeln freien Sinn annahmen und brauchten.« (I. Dorner, Princip unserer Kirche (1883), 142.) Bei der Aufzählung der ›namhafteren Theologen‹ wird Schenkel nicht genannt. 96 Vgl. I. Dorner, Princip unsrer Kirche (1841). 97 Vgl. I. Dorner, Princip unsrer Kirche (1883). Den folgenden Ausführungen liegt die erweiterte Fassung von 1883 zugrunde.
2. Das Prinzip des Protestantismus
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formation zurückführen, antwortete.98 Demgegenüber sucht Dorner zu zeigen, dass sich sowohl das Formal- als auch das Materialprinzip der Sache nach schon bei den Reformatoren finden lassen; 99 die fertige Formel meint er dann erstmals in Schleiermachers Schrift Über den eigentümlichen Wert und das bindende Ansehen symbolischer Bücher 100 zu finden. Dorner stellt die Prinzipienfrage in den Kontext der innerprotestantischen Parteienstreitigkeiten und Unionsbemühungen und erhofft sich wie auch Schenkel von einer Lösung dieser Frage das Ende dieser Auseinandersetzungen innerhalb der protestantischen Kirche.101 »Dennoch muß, wer von der Ueberzeugung durchdrungen ist, daß nicht Friede wird, bis die Principienfrage unserer Kirche gelöst ist, Hand ans Werk legen, furchtlos und treu. Und wenn er überzeugt ist, daß eine falsche Stellung der Principien unserer Kirche, die Ueberordnung der Schrift über das materiale Princip, oder die Setzung derselben an dessen Stelle, die letzte Ursache des Unheils gewesen ist, so ist es seine Pflicht, die wahre Stellung derselben aufzusuchen, ob auch manchen theuer gewordenen Meinungen dabei zu widersprechen sei.«102
Gegenüber einem inhaltlich ungebundenen Schriftprinzip hat Dorner also – wie auch Schenkel – ebenso Bedenken wie gegenüber einem ungebundenen, bloß subjektiven Glauben. Entsprechend steht für Dorner fest, dass sich das We98 Dorner sieht seine These, dass die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip schon bei den Reformatoren angelegt gewesen sei, bestätigt in »Luthers Unterscheidung und Zuordnung von Wort und Glaube« (J. Baur, Sola Scriptura (1993), 53). Vgl. I. Dorner, Princip unserer Kirche (1883), 97 u. ö. 99 Der Nachweis Dorners, dass die Prinzipien sachlich schon von den Reformatoren vertreten werden, ist für diesen Zusammenhang irrelevant und wird von daher nicht weiter verfolgt. Insgesamt ist allerdings wohl Axt-Piscalars Urteil zuzustimmen: »Bei dem Versuch, Ritschls Vorwurf, es sei die Formel eine Neuerung der Theologie des 19. Jahrhunderts, zurückzuweisen, (…) tut sich Dorner jedoch schwer.« (Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 22). 100 Vgl. F. Schleiermacher, Über den Wert (1819). Der Verweis auf Schleiermacher ist allerdings nicht überzeugend. Zwar erwähnt Schleiermacher in dieser Abhandlung sowohl die Schrift als auch die Rechtfertigungslehre als Kriterien für protestantische Lehrer – wer »nicht auf der Rechtfertigung durch den Glauben, und auf dem freien Gebrauch des göttlichen Wortes hält, der kann unmöglich ein protestantischer Lehrer seyn wollen« (aaO., 142) – allerdings spricht er hier nicht von Prinzipien des Protestantismus, sondern nennt die Rechtfertigungslehre sowie die Schrift nur als unerlässliche Beispiele für das protestantische Dasein. Tatsächlich spielen die »zwei Prinzipien des Protestantismus (…) bei Schleiermacher keine Rolle« (M. Schröder, Kritische Identität (1996), 58). 101 Darüber hinaus steht die Prinzipienfrage Dorner zufolge noch mit zwei weiteren Fragen seiner Zeit in engem Verhältnis, für die er auf eine Lösung hofft, denn: 1. »hängt von jener Lösung (…) die klare und bewußtvolle Unterscheidung wie von der katholischen Kirche so von dem Standpunkt des Subjektivismus« ab, und 2. ist »damit das Grundverhältniß des Historischen zum Glauben und Wissen fixiert« (I. Dorner, Princip unsrer Kirche (1883), 51 f.). 102 AaO., 51.
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III. Das Wesen des Protestantismus
sen des Protestantismus in diesen beiden Prinzipien ausspricht.103 Ihm geht es deswegen primär um die Klärung des inneren Verhältnisses der beiden Prinzipien zueinander, wie schon der Titel der Veröffentlichungen und auch das genannte Zitat zeigen. Sehr pointiert fasst Jörg Baur Dorners Absicht zusammen, »die religiöse Eigenart des Protestantismus durch das als Instanz der Subjektivität gefaßte Rechtfertigungsprinzip zu bestimmen, gleichzeitig aber das Schriftprinzip so zu fassen, daß es mit der Freiheit des Glaubens – in der die Wahrheitsgehalte des neuzeitlichen Autonomiepostulats aufgenommen sind – nicht in Widerspruch gerät«104.
Hierfür betont Dorner die »innere Zusammengehörigkeit [der beiden Prinzipien; Anm. d. Vf.] aufgrund ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander«105, indem er nachweist, dass keines der beiden Prinzipien ohne das jeweils andere bestehen kann. »Damit wendet er sich zum einen gegen eine ausschließlich normative Funktion der Schrift, die dann als bloß äußerliche Autorität auftritt, zum andern gegen eine Alleingeltung des Rechtfertigungsprinzips, welche ohne Bindung an die Schriftautorität in einem bloßen Subjektivismus mündete.«106
Insofern geht Dorner über Twesten hinaus und weist nach, dass das formale Prinzip notwendig das materiale nach sich zieht und ebenso notwendig das materiale das formale Prinzip fordert. Die Schrift als das formale Prinzip kann nicht für sich alleine das protestantische Prinzip bilden, da »der Inhalt der Schrift aufgenommen sein [muss] in den Glauben, das Subject muß mit diesem Inhalt, als der Wahrheit, sich zusammengeschlossen haben in Gewißheit von seiner Wahrheit«107. Nach Dorner kann die objektive Wahrheit also nicht einfach dem Subjekt äußerlich gegenüberstehen, »sondern es kommt auch dem h. Geist und der subjektiven Thätigkeit oder Spontaneität des Menschen eine wesentliche Stelle zu«108. Diese subjektive Tätigkeit ist in dem materialen Prinzip ausgedrückt, wobei Dorner betont, dass es sich dabei nicht um eine konkrete, inhaltlich bestimmte Lehre handelt, sondern um »die Selbstvergegenwärtigung der Wahrheit im menschlichen Geist«109. Dorner identifiziert also, wie Christine Axt-Piscalar feststellt, »die Intention der Rechtfertigungslehre mit der erkenntnistheoretischen Frage, wie Gewißheit von einem Inhalt als wahrem zustande103
»Es ist bekannt und fast allgemein angenommen, daß der Protestantismus in Beziehung auf Glauben, Kirche und Theologie auf zwei Principien ruhen will, dem sogenannten formalen, dessen Sinn die normative Auctorität der Schrift ist, und dem materialen, das in der Rechtfertigung durch den Glauben an Christus besteht.« (AaO., 53). 104 J. Baur, Sola Scriptura (1993), 54. 105 Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 12. 106 AaO., 8. 107 I. Dorner, Princip unsrer Kirche (1883), 56. Dorner fragt, ob die Schrift das alleinige Realprinzip des Glaubens oder ob sie das Erkenntnisprinzip der theologischen Wissenschaft sein könne. Beide Möglichkeiten weist er zurück. Vgl. aaO., 54 – 57. 108 AaO., 57. 109 Ch. Axt-Piscalar, Grund des Glaubens (1990), 15.
2. Das Prinzip des Protestantismus
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kommt«110 und nimmt damit das Anliegen des de Wette’schen subjektiven Prinzips auf und integriert es in das Materialprinzip, welches damit freilich seinen ursprünglich objektiven Charakter verliert. Auf der anderen Seite fordert das materiale Prinzip das formale Prinzip und kann ebenso wenig für sich alleine stehen wie das Formalprinzip. Dorner hält deswegen an der Schrift als ›objektivem Gegenüber‹ des Rechtfertigungsglaubens fest, denn »der gesunde Glaube will an ihm selbst ein nicht bloß subjectiver sein, sondern sich darin abschließen, daß er sich zugleich als objectiven vor sich selbst erweist, was nicht dadurch geschehen kann, daß er nur in sich verweilt, sondern dadurch, daß er in einer vorhandenen, ihm gegebenen christlichen Objektivität sich selbst erkennt, ebendamit aber sich anerkannt weiß von dieser christlichen Objectivität«111.
Sowohl die subjektive als auch die objektive Dimension des Protestantismus möchte Dorner also festhalten, und zwar so, dass die beiden Dimensionen als Prinzipien nicht bloß nebeneinander stehen, vielmehr sucht er sie sowohl in ihrer Selbständigkeit als auch in ihrer inneren Bezogenheit aufeinander zu begründen: »Wir haben im Bisherigen das materiale Princip im formalen selbst begründet gesehen, aber nicht minder auch das formale im materialen. So stehen sie also nicht lose neben einander, daß eines das andere entbehren könnte, sondern jedes derselben hat das andere an sich, oder richtiger: weist durch sich selbst auf das andere zurück. (…) So stützen und tragen sie sich gegenseitig, sind stark durch einander, aber jedes für sich schwach ohne das andere.«112
Aufgrund der starken Betonung der gegenseitigen Bezogenheit und inneren Zusammengehörigkeit der beiden Prinzipien rückt Dorner die Einheit derselben so sehr in den Vordergrund, dass die Entstehung verschiedener Parteien und Konfessionen innerhalb des Protestantismus seiner Ansicht nach in den je unterschiedlichen Gewichtungen und damit verbundenen Verhältnisbestimmungen der beiden Prinzipien begründet ist, wie in dem oben genannten Zitat bereits deutlich wird.113 Die Einheit des Protestantismus hängt Dorner zufolge 110
AaO., 14. I. Dorner, Princip unsrer Kirche (1883), 86 [Hervorhebung im Original]. Dorner begründet dies damit, dass das Christentum sowohl eine reale als auch eine ideale Seite habe, die in Christus vereinigt seien. Die »Vermählung des Idealen und Realen, des Göttlichen und Menschlichen setzt sich stets fort durch Pflanzung des Glaubens (d. h. im materialen Princip), der Christum ergreifend seiner theilhaftig wird«. Von dieser Prämisse ausgehend fragt Dorner sodann weiter, wie der Mensch Christus ergreifen könne und antwortet: »Das Historische muß vernommen werden von außen: einen anderen Weg gibt es nicht. Das Historische ist Erfahrungssache, empirisch.« (AaO., 72). Somit ergibt sich der unauflösliche Zusammenhang von rechtfertigendem Glauben und der Schrift, die von der historischen Seite zeugt: »Der Ruin des formalen Princips zieht auch den des materialen nach sich (…).« (AaO., 74). 112 AaO., 91. 113 Vgl. oben Anm. 102. 111
120
III. Das Wesen des Protestantismus
eben deswegen von der richtigen Verhältnisbestimmung der beiden Prinzipien ab. Dennoch hält er aber grundsätzlich an der Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus fest. Genau an diesem Punkt setzt nun Schenkels Kritik ein. Zwar anerkennt Schenkel grundsätzlich Dorners Bemühungen, das Verhältnis der beiden Prinzipien zu klären, allerdings hält Schenkel schon die geläufige Terminologie, an der Dorner nicht nur festhält, sondern die er darüber hinaus festigt, für ›verwirrend‹ und lehnt sie bereits aus diesem Grund ab.114 Dorners Beobachtung, dass weder das Schriftprinzip die alleinige Grundlage des Protestantismus115 noch »die Rechtfertigungslehre (…) ausschließliches Princip unserer Kirche sein könne«116 , stimmt Schenkel hingegen zu. Er kritisiert aber Dorners Schlussfolgerung, dass das sogenannte materiale Prinzip zwingend die Schrift als das Formalprinzip nach sich ziehe. Dorner weist, so Schenkel, nämlich lediglich nach, »daß das Princip des Protestantismus nicht blos eine subjektive, sondern auch eine objektive Seite hat«117. Diese objektive Seite ist seiner Ansicht nach nun aber »so wenig etwas Formales, daß wir umgekehrt die eigentlich materiale Basis des Princips darin erblicken möchten. Es ist der objektive Christus, die objektive – in der Schrift in Schriftform überlieferte – Heilsoffenbarung, auf welcher das protestantische Princip nothwendigerweise ruht, von welcher es getragen werden muß, wenn nicht der Protestantismus in den Subjektivismus einer zeitläufigen Philosophenschule ausarten soll«118 .
Genau darum geht es laut Schenkel eigentlich auch Dorner, der »an dem formalen Principe nicht mehr als das Substantielle seiner Form, d. h. das fest[hält], daß eine treue dem Glauben objektive Darstellung des Christenthums stets vorhanden sein und vom Glauben selbst verlangt werden müsse«119. Somit kritisiert Schenkel an Dorners Prinzipienlehre zwei Punkte: Zum einen, dass Dorner an der Schrift als Prinzip des Protestantismus festhält, obwohl es ihm selbst nicht um die Schrift in ihrer äußerlichen Form – und das versteht Schenkel unter ›formal‹ – sondern um das dem glaubenden Subjekt gegenüberstehende Objek114 »Vor Allem ist es zu bedauern, daß man sich je der verwirrenden Bezeichnung ›formales‹ und ›materiales‹ Princip des Protestantismus bedient, und daß es bis auf die neueste Zeit keinen Anschein hat, als ob man sich dieser unglücklichen Ausdrucksweise endlich entledigen wollte.« (D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 12). 115 Wie auch Dorner ist Schenkel der Ansicht, dass aus der alleinigen Anerkennung des Schriftprinzips, »ein Rückfall in eine Gesetzes- oder Vernunft-Hierarchie die unvermeidliche Folge davon ist« (ebd.), wie in der kirchlichen Orthodoxie einerseits und dem Rationalismus andererseits zu sehen sei. Auf diese Konsequenz hatte auch Dorner aufmerksam gemacht. Statt von der kirchlichen Orthodoxie spricht er zwar vom ›katholischen Princip‹, was für Schenkel allerdings keinen Unterschied bedeutet, vgl. I. Dorner, Princip unsrer Kirche (1883), 58 f. 116 D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 13. 117 AaO., 15. 118 Ebd. 119 AaO., 14.
2. Das Prinzip des Protestantismus
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tive – und das heißt Christus – gehe; 120 und zum anderen, dass er dieses objektive Gegenüber sodann als Formalprinzip identifiziert, das Schenkel zufolge die eigentlich materiale Basis des Protestantismus bildet.121 Dorner hat nach Schenkels Auffassung also lediglich gezeigt, dass der Protestantismus sowohl auf einem subjektiven Moment, das mit dem Glauben gegeben ist, als auch einem objektiven Moment, eben der Christusoffenbarung, beruht. Diese beiden Momente will Schenkel nun aber gerade nicht als zwei Prinzipien verstanden wissen: »Das sind aber nicht zwei Principien, die sich als solche gegenseitig auf heben müßten, sondern zwei Momente eines und desselben Princips (…).«122 In der Auseinandersetzung mit Dorner treten damit zwei für Schenkels Position charakteristische Aspekte hervor: die bereits erwähnte Einzigkeit des protestantischen Prinzips sowie die Ablehnung der Schrift als objektiver Dimension des Protestantismus. Allerdings trifft Schenkel mit Letzterem nicht den Kern des damit verbundenen Anliegens, denn schon die Verbindung mit der Rechtfertigungslehre zeigt, dass es weder Dorner noch anderen Vertretern dieser Position um die Schrift als solche ging, sondern nur um die Schrift in ihrem Bezug zum Heilswerk Christi.
2.4. Subjektivität als Prinzip des Protestantismus: Ferdinand Christian Baur Auch mit Ferdinand Baur123 (1792 – 1860) – der nach Emanuel Hirsch »größte und zugleich umstrittenste Theolog, welcher dem deutschen evangelischen 120
Dorner selbst macht auf die Priorität der Christusoffenbarung vor der Schrift und der Kirche aufmerksam: »Und so ist er, der ewige, objective Christus, die Gottesoffenbarung in ihm, dem Glauben auch das eigentliche formale Princip, oder die christliche Objectivität, deren es bedarf, und auf die der Glaube durch sich selbst stets hinausweist, mit der er auf hören würde. Mit Christo verglichen kann die Kirche und selbst das apostolische Wort nur secundär das formale Princip heißen (…).« (I. Dorner, Princip unsrer Kirche (1883), 111). Zum Verhältnis von Schrift und Christus bei Dorner erklärt Jan Rohls pointiert: »Da nun aber Christus als historische Gestalt der Vergangenheit angehört, dient nunmehr die Schrift als Ersatz der historischen Erscheinung Christi.« (J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 573). Insofern trifft Schenkel mit seiner Kritik nicht den Kern von Dorners Anliegen. 121 Dass Dorners Terminologie hinsichtlich der Rede vom Formal- und Materialprinzip durchaus widersprüchlich ist, zeigt auch Holte, vgl. R. Holte, Vermittlungstheologie (1965), 166 – 168. 122 D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 16 [Hervorhebung im Original]. Um dem möglichen Vorwurf, die Schrift gering zu schätzen, von vornherein zu begegnen, erklärt Schenkel in diesem Zusammenhang, dass er die Schrift sehr wohl als Norm anerkenne – eine Norm sei aber eben kein Prinzip, sondern ein Maßstab, vgl. aaO., 16 f. 123 Ferdinand Christian Baur studierte Theologie in Tübingen. Dorthin erhielt er 1826 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Kirchen- und Dogmengeschichte. Baur wurde stark beeinflusst durch Schleiermacher und Hegel. Er gilt als Urheber der historisch-kritischen Theologie. Vgl. K. Steck, Baur (1994); J. Rohls, Baur (2002).
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III. Das Wesen des Protestantismus
Christentum nach Schleiermacher geschenkt worden ist«124 – hat Schenkel sich kritisch auseinandergesetzt. Für Baur war die Frage nach dem Wesen des Protestantismus gleichermaßen relevant wie die nach dem Wesen des Christentums, und so hat er die Frage nach dem Wesen und Prinzip des Protestantismus in mehreren Schriften intensiv bearbeitet, gleichwohl Christian Albrecht feststellt, dass Baur »nicht zu den prominenten Theoretikern des protestantischen Prinzips«125 zählt: »Sie [Baurs Protestantismusdeutung; Anm. d. Vf.] ist nicht prominent, schwer erschließbar, verdient aber möglicherweise, klassisch genannt zu werden.«126 Auch Baur sieht die Berechtigung der Fragestellung in den verschiedenen Strömungen und Parteien innerhalb des Protestantismus begründet und fragt: »Wie kann man wissen, mit welchem Rechte so verschiedenartige, so weit auseinandergehende, sich sogar gegenseitig ausschliessende Richtungen als protestantisch gelten, wenn man nicht weiss, was überhaupt protestantisch ist?«127 Im Gegensatz zu Dorner lehnt allerdings Baur die Rede vom Formal- und Materialprinzip ebenso wie Schenkel ab und scheint stattdessen – zumindest auf den ersten Blick – die Subjektivität in Anknüpfung an Hegel128 als das protestantische Prinzip anzusehen. In der Schrift Kritische Studien über das Wesen des Protestantismus129, die primär eine Auseinandersetzung mit Carl Hundeshagens 1847 zunächst anonym veröffentlichter Schrift Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesammten Nationalentwicklung beleuchtet von einem deutschen Theologen130 darstellt, nimmt Baur ausführlich Stellung zu der Prinzipienfrage. Darin kritisiert er die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip aus zwei Gründen: Zum einen sei das Verhältnis der beiden Prinzipien nicht eindeutig geklärt und zum anderen – und das ist der entscheidende Grund – hat nach Ansicht Baurs das Materialprinzip nur in der lutherischen Kirche eine hervorragende Bedeutung, während in der reformierten Tradition 124
E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 518. Ch. Albrecht, Differenzvermittlung (1998), 137. 126 AaO., 139. Nach Christian Albrecht hat Baurs Protestantismusdeutung »teil am paradoxen Schicksal seines Gesamtwerkes« (aaO., 137), das sich nur wenigen kundigen Lesern erschließe und in der Theologie ansonsten kaum rezipiert werde. Neben dem sehr lesenswerten Aufsatz von Albrecht bietet auch Traugott Koch einen kurzen informativen Überblick über Baurs Ansatz, vgl. T. Koch, Was ist das spezifisch »Evangelische« (1992), 53 – 58; vgl. auch N. Slenczka, Einheit der Kirche (2002), bes. 184 – 193. 127 F. Baur, Kritische Studien (1847), 506 f. 128 Vgl. H. Fischer, Art. »Protestantismus« (1997), 545. 129 F. Baur, Kritische Studien (1847). Vgl. außerdem zum Prinzip und Wesen des Protestantismus ders., Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus (1834); ders., Ueber Princip und Character des Lehrbegriffs (1847); ders., Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung (1852); ders., Das Princip des Protestantismus (1855). 130 C. Hundeshagen, Der deutsche Protestantismus (1847). 125
2. Das Prinzip des Protestantismus
123
die absolute Erwählung Gottes die regierede Mitte des Glaubens sei. Insofern könne also das Materialprinzip nicht als Prinzip des Protestantismus gelten.131 Damit wird deutlich, dass Baur sich auch gegen die Identifizierung des Protestantismus mit einer bestimmten Form oder einem Lehrbegriff wendet und stattdessen den ursprünglichen dahinterliegenden Impuls des Protestantismus ergründen möchte.132 Ausgehend vom Gegensatz des Protestantismus zum Katholizismus erklärt Baur: »[S]o ist das Erste, worin das Princip des Protestantismus zum Dasein kam, der Akt der Emancipation des Subjekts von der bindenden Macht der äussern Auctorität, eben dieser Akt der Selbstbestimmung des Subjekts, durch welchen es in sich selbst zurückging, um sich nur in sich selbst zu haben, ein Akt, in welchem es sich in seinem eigensten innersten Selbst erfasste und sich des unveräusserlichen absoluten Rechts seiner Subjektivität bewusst wurde, sich frei zu wissen von allem, worin es nicht sein eigenstes innerstes Interesse erkennen konnte. In diesem Sinne ist das Princip des Protestantismus das Princip der Subjektivität, weil das Subjekt nur im Protestantismus zu seinem absoluten Recht kommen kann, oder, wie es gewöhnlich genannt wird, das Princip der Gewissensfreiheit.«133
Subjektivität und Gewissensfreiheit sind hier die zentralen Stichwörter, die das Wesen des Protestantismus beschreiben. Baur hebt darauf ab, dass das sogenannte Prinzip der Subjektivität »das kritische Prinzip für den Inhalt, der dem Glauben gilt, darstellt«134. Das Subjekt wird zum Kriterium, da es sich die Inhalte nur aneignet, sofern diese Heilsgewissheit schaffen. »Das ›eigenste, innerste Interesse‹ ist eben das Heilsinteresse des Individuums, das in der Reformation (…) als unverzichtbares und so als hermeneutische Prämisse und Geltungsvoraussetzung aller theologischen Aussagen zu stehen kommt – und genau dies nennt Baur das Prinzip der ›Gewissensfreiheit‹.«135
Baurs Beschreibung des Wesens des Protestantismus scheint sich damit zunächst – im Gegensatz zu den bisher dargestellten Ansätzen – beinahe ausschließlich auf die Subjektivität zu konzentrieren. Allerdings ist mit der Subjektivität das 131
Vgl. F. Baur, Kritische Studien (1847), 532 f. Diese Feststellung hält Baur allerdings nicht davon ab, immer wieder zu betonen, dass das Prinzip des Protestantismus in der lutherischen Kirche angemessener verwirklicht sei als in der reformierten, denn »nur im lutherischen System, gemäß der Richtung, welche das religiöse Bewusstsein durch das ursprüngliche Interesse der Reformation und das Princip des Protestantismus erhalten hat, [kann] der Begriff des Subjekts zu seinem Rechte kommen (…).« (F. Baur, Ueber Princip und Character (1847), 377 u. ö.). Baur betont in diesem Zusammenhang den dogmatischen Unterschied der beiden protestantischen Konfessionen und kritisiert Unionsbemühungen, die diese Unterschiede aufweichen möchten. Dennoch plädiert auch Baur im Anschluss an Schleiermacher für die kirchliche Union. 133 F. Baur, Kritische Studien (1847), 530. 134 N. Slenczka, Einheit der Kirche (2002), 189. 135 AaO., 190. 132
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III. Das Wesen des Protestantismus
Prinzip noch nicht vollständig erfasst – auch wenn ihm die hervorragende Stellung zukommt, wie Baur später vor allem gegen Schenkel geltend macht. Denn in der Vertiefung des Subjekts in sich selbst strebt »das Subjekt in der Unendlichkeit seines Selbstbewusstseins sich ebensosehr der Absolutheit der objektiven Gottes-Idee bewusst zu werden«136 . Erst der Zusammenhang dieses objektiven mit dem subjektiven Moment bildet nach Baur demnach das protestantische Prinzip: »Kann auch der Protestantismus sein Princip der Subjektivität nie verläugnen, so gehört es doch (…) nicht minder zu seinem ursprünglichen Wesen, alles, was zum Heile des Menschen dient, nur als etwas Empfangenes, aus der unmittelbaren absoluten Quelle alles Heils Mitgetheiltes zu betrachten.«137
Somit versucht auch Baur das Wesen des Protestantismus in der Spannung von Subjektivität und gleichzeitig gesetzter »unbedingte[r] Abhängigkeit des Menschen von Gott«138 als objektivem Gegenüber festzuhalten. Im Unterschied zu Dorner allerdings verweigert das protestantische Prinzip »sich jeder inhaltlichen Bestimmbarkeit, die etwa in materialdogmatischen Fixierungen (Rechtfertigungslehre, Schriftprinzip) bestehen könnten«139. Baur geht damit über die üb136 F. Baur, Kritische Studien (1847), 536. Im Hintergrund steht hier Hegels Deutung der Reformation und des Protestantismus in ihrer Einordnung in die europäische Geistesgeschichte wie sie etwa in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie greif bar wird, vgl. N. Slenczka, Einheit der Kirche (2002), 184 f. Die Grundzüge von Hegels Reformationsund Protestantismusdeutung sind knapp und präzise dargelegt bei G. Meckenstock, Protestantismustheorien (1998), 51 – 54. 137 F. Baur, Princip des Protestantismus (1855), 74. Albrecht bemerkt jedoch zu Recht: »Allenfalls verwirrend könnte die Tatsache sein, daß Baur in zahlreichen Zusammenhängen das Prinzip des Protestantismus lediglich als das ›Prinzip der Subjektivität‹ bezeichnet, ohne daß dies als Glied eines Gegensatzes vorgeführt würde. Erst aus der Zusammenschau verschiedener Äußerungen aus verschiedenen Zusammenhängen ergibt sich, daß Baur in solchen Fällen offensichtlich abgekürzt redet: Der Akzent liegt in diesen Äußerungen auf der Erklärung des Wesens der Subjektivität – daß diese zugleich Teil eines Gegensatzes ist, ist offensichtlich mitgemeint.« (Ch. Albrecht, Differenzvermittlung (1998), 152). 138 F. Baur, Princip des Protestantismus (1855), 14. Diese Spannung spiegelt sich auch in Baurs Verständnis der Schrift wider, wie Hermann Fischer zu Recht hervorhebt, vgl. H. Fischer, Art »Protestantismus« (1997), 546. So heißt es bei Baur hinsichtlich der Autorität der Schrift: »Darum ist derselbe Akt, in welchem es [das Gewissen; Anm. d. Vf.] die falsche Auctorität negirt, die Affirmation der allein wahren und göttlichen Auctorität der Schrift, in deren Inhalt das heilsbegierige Subjekt allein finden kann, was zur Befriedigung seines Heilsbedürfnisses dient.« (F. Baur, Kritische Studien (1847), 531). Allerdings kommt der Schrift diese Autorität nur insofern zu, als »der Inhalt erst durch die richtige Auslegung ausgemittelt und das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden werden muss«, sodass es »zum Inhalt der Schrift, ungeachtet seiner Gebundenheit durch die Auctorität der Schrift, keine andere als eine kritische Stellung geben« kann. »Es versteht sich hiemit von selbst, dass es kein höheres Princip des Protestantismus geben kann, als das Schriftprincip in diesem doppelten Sinne, in welchem das Subjekt einerseits ebensosehr in der Schrift die höhere Macht, an die es gebunden ist, erkennt, als es auf der andern Seite des unveräusserlichen Rechts seiner subjektiven Freiheit selbst der Schrift gegenüber sich bewusst ist.« (Ebd.). 139 Ch. Albrecht, Differenzvermittlung (1998), 157.
2. Das Prinzip des Protestantismus
125
liche im Rahmen der Rechtfertigungslehre festgehaltene Subjektivität hinaus, indem die Gewissensfreiheit die Rechtfertigung aus sich heraussetzt.140 Dass Baur die Subjektivität als das protestantische Prinzip so stark hervorhebt und die objektive Größe nicht eindeutig bestimmt,141 kritisiert Schenkel und wirft ihm vor, dass es seiner »Anschauung an der Demuth des menschlichen Subjekts vor der übermenschlichen, göttlichen transcendenten Wahrheit, die doch dem Protestantismus erst seinen eigenthümlichen Charakter verleiht«142 fehle, denn »[d]as Subjekt erkennt nach Baur nichts außer sich an, was ihm nicht in seinen immanenten Entwicklungsprozeß hineinzuverarbeiten gelingt, d. h. es glaubt im innersten Wesen und Grunde doch nur an sich selbst«143. Für Schenkel ist demnach der Bezug des Protestantismus auf eine ihm gegenüberstehende Objektivität, die der Subjektivität übergeordnet ist und an die sich das Subjekt gebunden weiß, von besonderer Relevanz.
2.5. Das theanthropologische Prinzip des Protestantismus: Daniel Schenkel Schenkel hat sich erstmals 1852 ausführlich und in kritischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Diskussion in die Prinzipiendebatte in der Schlussabhandlung Das Princip des Protestantismus eingemischt; diese ist im Folgenden zugrunde gelegt.144 Darin setzt er sich kritisch mit der Annahme eines Formal- und Materialprinzips auseinander und nimmt dabei aber die Unterscheidung als Frage nach der Zuordnung von ›subjektiven‹ und ›objektiven‹ Moment im Protestantismus konstruktiv auf. Bei der Rekonstruktion der Schenkel’schen Prinzipienbestimmung steht man vor einer für Schenkel charakteristischen Schwierigkeit: Die Terminologie, de140 »[D]em Selbst des Menschen, als dem Subjekt des Selbstglaubens, [wird] eine intensivere Bedeutung gegeben (…), und es wird demnach mit jenem Satze vom Selbstglauben nicht blos diess gesagt, dass der Mensch selbst zu glauben habe, oder nur er das dabei thätige Subjekt sei, sondern auch, dass er nichts zum Inhalt und Gegenstand seines Glaubens machen kann, was nicht mit seinem eigenen innersten Interesse zusammenstimmt, oder nichts, womit er nicht seinem innersten Wesen nach sich Eins wissen kann. Es ist klar, dass mit dem Selbstglauben im letztern Sinn dem Subjekt ein Recht seiner Subjektivität zugestanden wird, das in dem rechtfertigenden Glauben als solchem noch nicht enthalten ist (…).« (F. Baur, Kritische Studien (1847), 529 f.). 141 »Allein was ist das für eine Objektivität, für ein Absolutes, in welchem das Subjekt seine wahre Realität gewinnt? Hierüber spricht sich Baur nirgends deutlich aus.« (D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 21). 142 Ebd. Diese Kritik ist in ihrer Schärfe sicherlich unberechtigt. Baur hat gegen den Vorwurf Schenkels dann auch heftig protestiert und seinerseits gegen Schenkels Auffassung des protestantischen Prinzips polemisiert, vgl. F. Baur, Princip des Protestantismus (1855), 5 ff. 143 D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 22. 144 Schenkel hat sich zu der Prinzipienfrage auch noch in anderen Kontexten geäußert, allerdings hat er sie in dieser Schrift am breitesten behandelt und begründet.
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III. Das Wesen des Protestantismus
rer er sich bedient, ist nicht einheitlich. So bezeichnet Schenkel das Prinzip des Protestantismus zum Beispiel als theanthropologisches Prinzip, christologisches Prinzip, kirchenbildendes Prinzip, Unionsprinzip oder auch Gewissensprinzip.145 Die hermeneutische Grundidee des protestantischen Prinzips bleibt allerdings immer dieselbe: Schenkel geht es um die Einzigkeit des einen protestantischen Prinzips, das verschiedene Dimensionen integriert. 2.5.1. Das Princip des Protestantismus (1852) Wie oben bereits erwähnt, bestimmt Schenkel das protestantische Prinzip primär in kritischer Auseinandersetzung mit und Abgrenzung gegenüber seinen Zeitgenossen, die sich mit der Frage beschäftigt haben. Die Ergebnisse des dreibändigen Das Wesen des Protestantismus nimmt er dagegen kaum explizit auf, gleichwohl diese selbstverständlich im Hintergrund stehen und das Gliederungsprinzip des Werkes Theologie – Anthropologie – Ekklesiologie146 , wie sich zeigen wird, in dem von Schenkel bestimmten protestantischen Prinzip aufgehoben ist. Während Schenkel im ersten Teil der Abhandlung sein Verständnis des protestantischen Prinzips entwickelt – hier wird die für Schenkels Protestantismusverständnis charakteristische Struktur deutlich – geht er im zweiten Teil auf das Verhältnis der beiden großen protestantischen Konfessionen ein und stellt auf Grundlage der im ersten Teil gewonnen Prinzipienbestimmung Aufgaben und Ziele für die Zukunft des Protestantismus dar, und zwar hinsichtlich der zu bildenden Union zwischen Reformierten und Lutheranern. Damit werden bereits in der Anlage der Schrift Kontext und Ziel der Prinzipienfrage sichtbar – auch Schenkel entfaltet sie konsequent im Rahmen der Unionsproblematik. In Schenkels Kritik an sowohl Dorners als auch Baurs Konzeption ist deutlich geworden, dass Schenkel gegen die übliche Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus ein einziges protestantisches Prinzip setzt. Gleichzeitig möchte er aber die zentralen Anliegen sowohl Dorners als auch Baurs aufnehmen. Diese integriert Schenkel als Momente des protestantischen Prinzips und differenziert auch deren materiale Bestimmung. Dass der Protestantismus dem Subjekt und der Subjektivität eine besondere Stellung einräumt, hat Schenkel weder gegenüber Dorner noch Baur bestritten, wobei die genaue Bestimmung dieses Moments noch offen geblieben ist. Dagegen zielt Schenkels 145
Vgl. z. B. D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 86; ders., Unionsberuf (1855), 632. Da Schenkel in der im Folgenden zugrunde gelegten Schrift primär vom ›theanthropologischen Prinzip‹ spricht, und dieses m. E. auch am besten sein Anliegen in der Prinzipiendebatte, nämlich das anthropologische und theologische Moment miteinander zu vermitteln, widerspiegelt, wird hier der Begriff des theanthropologischen Prinzips aufgenommen. 146 Vgl. II.2.3.
2. Das Prinzip des Protestantismus
127
Kritik sowohl gegen Dorner als auch gegen Baur vor allem auf deren jeweilige Bestimmung des objektiven Moments. Dieses ist Schenkel zufolge für das Wesen des Protestantismus zentral. Anders als Dorner identifiziert er es nicht mit der Schrift,147 sondern mit der Tatsache der Heilsoffenbarung in Christus; er spricht insofern auch immer wieder vom ›christologischen Prinzip‹148. Die Relevanz dieses objektiven – oder wie Schenkel auch sagt ›theologischen‹ – Moments arbeitet er zu Beginn der Abhandlung in Abgrenzung gegenüber dem Rationalismus und Humanismus aus. Schenkel zufolge versteht der Rationalismus »den Protestantismus als Religion der Vernünftigkeit«149. Demgegenüber erinnert Schenkel seine Leser daran, dass die Reformatoren »der Vernunft jegliches endgültige Urtheil in göttlichen Dingen absprechen« und »der Mensch in seinem noch unwiedergebornen Zustande für das Verständniß des Göttlichen kein entsprechendes Organ in sich hat«150. Aus diesem Grund bezeichnet Schenkel den Protestantismus als wesentlich »anti-pelagianisch«. Der Rationalismus dagegen ist nach Schenkels Urteil »seinem Grundtriebe nach pelagianisch«151, da er die Sünde des Menschen und dementsprechend die Erlösungsbedürftigkeit nicht ernst genug nehme, »indem er den Menschen nach seinem natürlich-menschlichen Wesen für gut hält« und hiernach »derselbe auch keines übernatürlich-göttlichen Wesens, das ihn erst gut machte«152 bedürfe. Im Rationalismus werde demnach gerade im Gegensatz zum Wesen des Protestantismus ein zu optimistisches und damit unangemessenes Verständnis des Menschen vertreten, demzufolge es in der Kraft eines jeden Menschen selbst läge, dass er sittlich möglichst vollkommen werde. Da die Reformatoren aber richtig erkannt hätten, dass der Mensch gerade sündhaft und somit unfähig sei, für sein eigenes Heil Sorge zu tragen, kommt Schenkel zu dem Ergebnis, dass der Rationalismus nicht die Verwirklichung des Wesens des Protestantismus sein kann, sondern vielmehr eine ›Abirrung‹ desselben darstellt.153 Gleichzeitig ist Schenkel allerdings davon überzeugt, »[d]aß die Reformatoren zu weit gegangen sind, wenn sie dem Menschen auch die religiöse Empfänglichkeit abzusprechen sich nicht scheuen«154. Er ist also der Ansicht, dass auch die »Anerkennung der sittlichen Freiheit des menschlichen Geistes«155 im Heilsgeschehen dem Protestantismus wesentlich ist. Das Wesen des Protestantismus besteht demnach in der Anerkennung der objektiven Heilstat Gottes 147
Vgl. dazu allerdings oben Anm. 120. Vgl. z. B. D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 86. 149 AaO., 1. 150 AaO., 3. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Vgl. aaO., 3. 154 AaO., 4. 155 AaO., 5. 148
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III. Das Wesen des Protestantismus
einerseits, sowie der Freiheit des Subjekts andererseits.156 Letzteres erörtert Schenkel in Auseinandersetzung mit Hundeshagen, der den Protestantismus »als ein Produkt des sittlichen Geistes, des Gewissens, daher auch als eine Auflehnung wider Gewissenszwang«157 versteht. Schenkel knüpft an Hundeshagens Einsicht an, dass der Protestantismus wesentlich ethisch zu verstehen sei. Dieses ethische Moment ist Schenkel zufolge aber nicht mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre zu identifizieren, vielmehr handelt es sich seines Erachtens um »eine sittliche Aktion« – um den »lebendigen Drange nach sittlicher Heilsbeschaffung«158. Ethisch oder sittlich bezeichnet dabei die freie Handlung des Subjekts; der Glaube als ethischer Akt ist somit gleichermaßen die freie Antwort des Subjekts auf das Heilshandeln Gottes und er ist allein Tat des Subjekts. Somit verortet Schenkel an diesem Punkt die subjektive Dimension des Protestantismus. Es zeigt sich, dass das Wesen des Protestantismus Schenkel zufolge sowohl durch ein objektives Moment, das Schenkel auch als theologisches bezeichnet, nämlich die Heilsoffenbarung in Christus, als auch durch ein subjektives oder anthropologisches Moment, das heißt die freie sittliche Aneignung der objektiven Heilstatsache als freie Tat des Subjekts, bestimmt ist. Diese beiden Momente bilden gewissermaßen den Ausgangspunkt des Protestantismus und insofern nimmt Schenkel die Anliegen der oben dargestellten Positionen auf. Dennoch ist damit das protestantische Prinzip noch nicht vollständig und in seiner ganzen Tiefe erfasst: »Es kann überhaupt nur ein wirkliches, tiefstes Princip des Protestantismus geben, aus welchem heraus die Gesammterscheinung desselben begreiflich werden muß. Dieses eine Princip ist weder einseitig theologischer, noch einseitig anthropologischer Natur, sondern es ist ein theantropologisches, d. h. es liegt ihm die Idee der Wiederherstellung der Menschheit durch den Glauben an Jesum Christum, den Gottmenschen, zu einer sittlich vollendeten Lebensgemeinschaft mit Gott zu Grunde.«159
Ziel und gleichzeitig Prinzip des Protestantismus gehen bei Schenkel über das bisher beschriebene theologische und anthropologische Moment hinaus: Das 156 Zu dieser Spannung bemerkt Baur bissig: »Es ist doch eine Logik ganz eigener Art, darin, dass die Reformatoren im Gegensatz gegen den Pelagianismus sich allzuweit haben fortreissen lassen, nur einen Beleg für die Richtigkeit des Satzes zu sehen, ›dass der Protestantismus ein durchaus antipelagianisches und antirationalistisches Princip habe‹. Wie kann er durchaus antipelagianisch und antirationalistisch sein, wenn man zugleich von ihm verlangt, dass er dem Pelagianismus auch wieder sein Recht lasse, somit, freilich nur innerhalb bestimmter Grenzen, selbst pelagianisch sei? (…) Aus der ganzen Erörterung des Hrn. Dr. Schenkel aber kann man nur die Folgerung ziehen, dass der Protestantismus sowohl pelagianisch als antipelagianisch ist, womit in dieser Unbestimmtheit für den Zweck, das Princip des Protestantismus zu bestimmen, so gut wie nichts gesagt ist.« (F. Baur, Princip des Protestantismus (1855), 3 f.). 157 D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 23. 158 AaO., 24. 159 AaO., 11 [Hervorhebung im Original].
2. Das Prinzip des Protestantismus
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Wesen des Protestantismus besteht nicht nur in der Anerkennung der Heilstat Gottes und der freien Glaubenstat des Menschen, sondern es geht letztlich um die Gemeinschaft der Menschheit mit Gott, und zwar in der Verbindung der beiden Ausgangspunkte zu einer Einheit. Schenkel sieht diesen Gedanken bei Schleiermacher grundgelegt – der allerdings sowohl das theologische als auch das anthropologische Moment übersehen habe.160 Richtig erkannt habe Schleiermacher dagegen, »daß die Wiederherstellung der Gemeinschaft, die Reform der Kirche, der tiefste principielle Gedanke des Protestantismus sein muß. Begründung des Gottesreiches: ist immer das letzte Wortes des Christenthums, und auch der Protestantismus hat, indem er die römische Kirche von ihren Irrthümern und Mängeln gereinigt und befreit hat, eigentlich nichts Anderes gewollt, als die wahre Kirche begründen.«161
Erst mit und in dieser Zielrichtung wird nach Schenkel das protestantische Prinzip vollständig beschrieben. Damit wird nun die Ekklesiologie zum Horizont für den Protestantismus und die Fragen nach der wahren Kirche als Verwirklichung des Wesens des Protestantismus und ihrem Verhältnis zur verfassten protestantischen Kirche rücken in den Mittelpunkt der Beschäftigung mit dem Protestantismus.162 Das Wesen der wahren Kirche besteht, wie sich zeigen wird, genau darin, dass in ihr die Gemeinschaft von Gott und Mensch realisiert ist. Für Schenkels Protestantismusverständnis ist dabei wesentlich, dass die Gemeinschaft ausschließlich in einem unmittelbaren und persönlichen Gottesverhältnis des Subjekts verwirklicht wird. Das protestantische Prinzip ist Schenkel zufolge somit erst durch diese drei Momente – theologisches, anthropologisches und theanthropologisches – hinreichend bestimmt. Offen ist freilich noch das Verhältnis dieser zueinander, das Schenkel aber angesichts seiner Kritik an Dorner notwendig klären muss. Das ursprüngliche Moment ist das theologische, »die Erkenntniß der göttlichen Wahrheit«163. Diese Erkenntnis muss nach Schenkel vom Menschen erkannt werden und er muss »die göttliche Wahrheit demüthig in sich aufnehmen, in die Lebensgemeinschaft mit Gott eingehen und sittlich eins werden mit seinem 160
»Die objektive Gottesoffenbarung in Christo und dem Worte und das Streben nach subjektiver Heilsaneignung und Heilsgewißheit tritt zurück vor dem kirchenbildenden Prozesse in der werdenden christlichen Gemeinschaft.« (AaO., 28). 161 AaO., 28 f. Schenkels Schleiermacher-Interpretation ist an dieser Stelle sehr eigenwillig und seine Kritik verfehlt den Kern von Schleiermachers Ansatz. Zur christologischen Fokussierung der Theologie Schleiermachers vgl. M. Schröder, Kritische Identität (1996), bes. 55 – 100. 162 Hier knüpft denn auch der zweite Teil der Schrift an, in dem Schenkel nachzuweisen versucht, dass die Unterschiede zwischen den Konfessionen lediglich wissenschaftlicher Natur seien, dass ihnen aber grundsätzlich dasselbe Prinzip zugrunde liege, sodass die Union ursprünglich im Prinzip des Protestantismus selbst angelegt und begründet sei. 163 D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1852), 42 [Hervorhebung d. Vf.].
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III. Das Wesen des Protestantismus
Gott«164. Allerdings beeilt Schenkel sich zu betonen, dass dieses anthropologische Moment dem theologischen gegenüber sekundär ist. Beide Momente gehen jedoch über sich hinaus, sodass das protestantische Prinzip letztlich kirchenbildend oder wie Schenkel es nennt ›theanthropologisch‹ ist.165 So kommt er zu dem Ergebnis: »Der Protestantismus ist weder eine bloße Lehrform objektiv-christlicher Wahrheit, noch eine bloße Glaubensform subjektiv-christlicher Gewissenhaftigkeit, sondern eine Lebensform kirchlich-christlicher Heilsgemeinschaft. (…) Er will eine thatsächliche Wiederherstellung der sündigen Menschheit zur Lebensgemeinschaft mit Gott durch den lebendigen Glauben an Jesu Christum, den Sohn Gottes. Das nennen wir das theanthropologische Princip des Protestantismus.«166
Dieses theanthropologische Prinzip ist also das protestantische Prinzip und umfasst – wie der Begriff ›theanthropologisch‹ schon andeutet – sowohl die theologische als auch die anthropologische Dimension: Das Wesen des Protestantismus besteht darin, die Gemeinschaft und Einheit von Gott und Mensch – und zwar der gesamten Menschheit – wiederherzustellen. Die Frage, ob und inwiefern es Schenkel letztlich gelingt, das protestantische Prinzip präzise zu bestimmen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich; 167 die Abhandlung ist insofern von Bedeutung, als Schenkel hier nicht nur vehement die Einzigkeit des protestantischen Prinzips gegen die weit verbreitete Annahme eines Formal- und Materialprinzips verteidigt, sondern mit dem theologischen, anthropologischen und theanthropologischen Moment seiner Ansicht nach die grundlegenden Dimensionen des Protestantismus benennt, die auch in der Folgezeit sein gesamtes Nachdenken über das Wesen des Protestantismus leiten. Zeit seines Lebens ringt Schenkel damit, die objektive Heilstat Gottes mit der freien Annahme derselben durch den Menschen und das heißt, dem neuzeitlichen Postulat der Anerkennung der Subjektivität zu vermitteln, und zwar so, dass beide Dimensionen über sich hinausgehen und in der Verbindung miteinander in Bezug auf die Menschheit ihr Ziel haben.168 Damit ist dann von 164
Ebd. Vgl. aaO., 43. 166 AaO., 43 f. 167 Ganz abzuweisen ist Baurs scharfes Urteil wohl nicht, wenn er schreibt: »Es ist Hrn. Dr. Schenkel sehr ernstlich darum zu thun, dieses [theanthropologische; Anm. d. Vf.] Princip bestimmt auszusprechen und die principiell-kirchliche Bestimmung und Berufsaufgabe des Protestantismus gegen alle diejenigen entschieden zu behaupten, welche das Wesen des Protestantismus in dieser Beziehung noch verkennen oder wenigstens noch nicht kräftig genug anerkennen. Fragt man nun aber, was durch alles diess für die eigentliche Aufgabe, deren Lösung hier gegeben werden soll, das Princip des Protestantismus nach seinem wahren Begriff zu bestimmen, geleistet worden ist, so kann man sich nur darüber wundern, wie Hrn. Dr. Schenkel die völlige Resultatlosigkeit seiner Untersuchung so ganz entgehen konnte.« (F. Baur, Princip des Protestantismus (1855), 5). 168 Der Begriff ›theanthropologisch‹ hat zwar starke Anklänge an die Christologie, allerdings versteht Schenkel den Begriff nicht so, dass sich in der Verbindung der beiden Momen165
2. Das Prinzip des Protestantismus
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vornherein die weitere Aufgabe gestellt, auch den protestantischen Kirchenbegriff so zu bestimmen, dass die Anerkennung der Subjektivität darin wesentlich zur Geltung kommt. Auch wenn Schenkel in den folgenden Jahren sein Verständnis des Wesens des Protestantismus weiter differenziert und entwickelt, bleiben diese drei Strukturmomente ebenso wie die Betonung der Einzigkeit des protestantischen Prinzips bestimmend. 2.5.2. Die weitere Differenzierung des protestantischen Prinzips In der weiteren Entwicklung des Verständnisses des protestantischen Prinzips sind zwei Aspekte besonders relevant: Es fällt zunächst auf, dass die Prinzipienfrage zumindest terminologisch in den Hintergrund tritt – der noch in der Prinzipienschrift im Mittelpunkt stehende Begriff ›theanthropologisches Princip‹ findet sich kaum noch und auch vom theologischen und anthropologischen Moment des protestantischen Prinzips spricht Schenkel nur noch gelegentlich. Zwar lehnt er auch weiterhin die Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip ab, allerdings gebraucht er selber den Prinzipienbegriff nur noch sparsam und die Vermutung liegt nahe, dass er auf diese Weise seine eigene Position gegenüber den verbreiteten Ansätzen, in deren Zentrum eben der Prinzipienbegriff stand, besser abzugrenzen meinte. Dies war für ihn vor allem deshalb von Bedeutung, weil die Unterscheidung, wie Schenkel bemerkt, von einigen Theologen immer stärker dazu benutzt wurde, die fundamentale Differenz des reformierten und lutherischen Protestantismus hervorzuheben und somit die Union als künstliches, unhistorisches und den unterschiedlichen Prinzipien der Konfessionen widersprechendes Konstrukt zu attackieren.169 Insofern betont Schenkel vor allem die Einzigkeit des Prinzips, ohne die drei Momente noch
te Christus selbst darstelle. So spielt auch der Gedanke der Gemeinschaft als Leib Christi bzw. umgekehrt die Realisierung Christi in der Gemeinde keine Rolle in dieser Abhandlung. 169 »Was mir aber zunächst an den im Uebrigen höchst dankenswerthen Versuchen neuerer Gelehrter, den Protestantismus auf sein Grundwesen anzusehen, als unbefriedigend erschien, das war der Umstand, daß es Keinem gelingen wollte, den einen Grundgedanken aufzufinden und auszusprechen, aus welchem die Gesammterscheinung des Protestantismus, seine verschiedenen Ausläufer mit hinzu gerechnet, sich begreifen läßt. Ich bin zwar weit entfernt, es tadeln zu wollen, daß hervorgehoben worden ist, wie der Protestantismus namentlich durch die beiden Lehrsätze von der ausschließlichen normativen Autorität der heiligen Schrift und von der Rechtfertigung allein durch den Glauben seinen dogmatischen Abschluß gewonnen habe, obwohl es gewiß sehr bedenklich ist, den reformirten Protestantismus aus dem ersteren, den lutherischen aus dem letzteren entspringen zu lassen (…). [D]a will es mir doch weit mehr künstlich als geschichtlich scheinen, wenn man durch solche Kategorien wie Formal- und Materialprincip noch immer den Unterschied zwischen reformirtem und lutherischem Protestantismus bezeichnen zu können meint.« (D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1855), 24 f.).
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III. Das Wesen des Protestantismus
eingehend gesondert zu betrachten und so eventuell den Eindruck zu erwecken, dass es sich eigentlich doch um drei Prinzipien handelt. In dem Aufsatz Ueber das Princip des Protestantismus170, der primär auf Kritiker seiner Prinzipienschrift antwortet, bemüht sich Schenkel, seine 1852 dargestellte Position zu präzisieren, wobei er gleichzeitig neue Akzente setzt, die im Hinblick auf die weitere Differenzierung seiner Protestantismustheorie von Bedeutung sind. Dabei fällt vor allem auf, dass er immer öfter vom Gewissen spricht und damit den Begriff einführt, der für ihn in der Frage des Wesens des Protestantismus eine immer prononciertere Stellung einnimmt. Als entscheidend für Schenkels Argumentation hat sich die These herauskristallisiert, dass der Protestantismus aus einem gemeinsamen Prinzip hervorgegangen ist, wobei Schenkel nun einräumt, dass für »das, was ich damit meine, eine noch entsprechendere Bezeichnung [als Prinzip; Anm. d. Vf.] aufgefunden werden könnte«171. Unter Prinzip möchte Schenkel das verstanden wissen, »was nicht erst, um begriffen werden zu können, von einem Anderen abgeleitet oder durch ein Anderes erklärt werden muß, sondern das Unbedingte und allein Bedingende allem Andern voransteht«172 . Dementsprechend spricht er zwar in diesem Aufsatz durchaus noch vom Prinzip des Protestantismus, er bevorzugt nun allerdings die Bezeichnung ›Grundfaktor‹ oder ›Grundtrieb‹. Gegenüber dem Begriff des Prinzips bringen diese beiden Begriffe stärker den dynamisch-prozesshaften Ursprung des Wesens des Protestantismus zur Geltung. Schenkel verlagert damit die Frage auf den ursprünglichen Impuls der Reforma toren – also auf den die Reformatoren bewegenden Trieb, der an sich immer einheitlich ist – der zur Grundlage und zum Ausgangspunkt der Wesensfrage wird, sodass die Fragestellung insgesamt historisiert wird. Damit vollzieht Schenkel einen Ebenenwechsel, denn das Prinzip der reformatorischen Theologie ist nunmehr im ursprünglichen Impuls oder Trieb begründet und gibt nicht den Grund des Protestantismus an. Damit ist die Wahl des Begriffs ›Grundtrieb‹ gleichzeitig auch ein Hinweis auf die Verlagerung von Schenkels Interesse auf das Subjekt bzw. das subjektive Moment. Schenkel wendet sich in diesem Kontext nochmals entschieden gegen die übliche Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip: Der einheitliche Grundtrieb der Reformation und des Protestantismus ist weder mit der Schrift bzw. dem Schriftprinzip noch mit der Rechtfertigungslehre identisch; Schrift 170
Vgl. D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1855). AaO., 23. 172 AaO., 25. Schenkel nimmt eine Präzisierung des Prinzipienbegriffs vor, indem er an Luthers Prinzipien-Begriff, wie dieser ihn in der Assertio (1520) im Rahmen der Entfaltung des sola scriptura verwendet hat, anknüpft, vgl. M. Luther, Assertio (1520), 80; vgl. auch J. Lauster, Prinzip und Methode (2004), 11 f. Allerdings ist Schenkel der Ansicht, dass Luther die Schrift gerade nicht als Prinzip verstanden habe, da »er sich vielmehr für befugt hielt, dieselbe nach dem Maße einer noch ursprünglicheren Autorität zu beurtheilen« (D. Schenkel, Princip des Protestantismus (1855), 26). 171
2. Das Prinzip des Protestantismus
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und Rechtfertigungslehre haben zwar eine hervorragende Stellung im Protestantismus inne, sind aber aus dem Grundtrieb abgeleitet und nicht mehr selber Teil dieses Grundtriebs.173 Den Grundtrieb des Protestantismus beschreibt Schenkel als »ethische[n] Wiederherstellung- oder Erneuerungstrieb (...), welcher durch Selbstglauben das allein durch Christum vermittelte Heil ergreift und eine Gemeinschaft lebendiger Gläubiger, d. h. in unmittelbare Lebensgemeinschaft mit Gott Getretene bildet (...)«174.
Diese Beschreibung unterscheidet sich zunächst kaum von dem in der Prinzipienschrift entfalteten theanthropologischen Prinzip, wenngleich der prozesshafte Charakter stärker hervorgehoben wird. Letztes Ziel des Protestantismus ist auch hier die Gemeinschaft – der ekklesiologische Horizont bleibt also erhalten. Auffällig ist allerdings, dass Schenkel hier explizit vom ›ethischen Wiederherstellungs- oder Erneuerungstrieb‹ spricht und sich somit der Schwerpunkt verschiebt. Zwar hatte er auch schon 1852 im Anschluss an Hundeshagen die sittliche Dimension des Protestantismus hervorgehoben, an dieser Stelle betont er diese aber stärker als Grundtrieb und damit als ursprünglichen Impuls des Protestantismus. Das ist insofern von Bedeutung, als Schenkel in dem Aufsatz vor allem um eine Präzisierung dieses Aspekts bemüht ist, der zahlreiche Kritik herausgefordert hatte. Der Protestantismus ist nach Schenkels Verständnis demnach eine Form der Realisierung dieses Strebens nach der unmittelbaren Gemeinschaft des Subjekts mit Gott und umgekehrt: Er realisiert sich nur dort, wo dieses Streben gegeben ist. Damit rückt nun die anthropologische Dimension des protestantischen Prinzips stärker in den Mittelpunkt. Der Glaube ist Schenkel zufolge »eine ethische That des Menschen«175, die in der subjektiven Aneignung der objektiven Heilstat Gottes besteht.176 Ort des Glaubens ist das Gewissen. Die Verbindung von Gewissen und Glauben und damit von Gewissen und 173
»Das sogenannte Formalprincip, oder die heilige Schrift, ist die Norm aller Lehrentwickelung und Lehrdarstellung auf dem Gebiete des kirchlichen Protestantismus, mithin der ursprüngliche Maßstab, woran aller Lehrinhalt der evangelisch-protestantischen Kirche geprüft und gemessen werden soll, aber es ist nicht selbst ein Principium, oder ein lebendiger, immanenter Grundtrieb des Protestantismus. Das sogenannte Materialprincip, oder die Rechtfertigungslehre, ist ein sehr wichtiger Lehrsatz des Protestantismus, aber nicht der Grundtrieb selbst, aus dem der Protestantismus hervorgegangen ist und durch den er sich noch immer erhält und fortpflanzt.« (AaO., 73). 174 Ebd. 175 AaO., 54. 176 Da es Schenkel zufolge »auf die ethische Bethätigung des Subjectes ankommt« und nicht auf die »materielle Substanz« (aaO., 56) lehnt er die Rede von der Rechtfertigungslehre als Materialprinzip ab. Zudem weist er darauf hin, dass die Rechtfertigungslehre auch deswegen in ihrer reformatorischen Gestalt nicht der ursprüngliche Grundfaktor des Protestantismus sein könne, weil diese »selbst noch einer Revision bedürftig ist« und »unter den Reformatoren weit mehr Unsicherheit in der Formulierung desselben herrschte, als man gewöhnlich annimmt« (aaO., 44).
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III. Das Wesen des Protestantismus
dem anthropologischen Moment des protestantischen Prinzips hatte Schenkel zwar als die entscheidende Einsicht Hundeshagens hervorgehoben, diese aber letztlich nicht konsequent aufgenommen. Drei Jahre später nun weist er das Gewissen als Ort des Glaubens aus und hebt damit die Bedeutung des Subjekts stärker hervor. »Das aber glaube ich noch bemerken zu dürfen, daß der von mir als Princip aufgestellte Satz weder künstliche, noch abstracte Gedanken enthält, sondern die einfache Erfahrungsthatsache beschreibt, daß der Protestantismus durch Gewissensregung und Glaubensvertiefung, durch die ernste religiös-sittliche Arbeit des Subjectes die Menschheit in Jesu Christo zur Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen und sie so thatsächlich und wirklich wiederherzustellen sucht (…). Darum muß der Protestantismus sich Allem widersetzen, was die Gewissens- und Glaubensarbeit hemmt und stört (…).«177
Gegenüber seiner Abhandlung aus dem Jahr 1852, in der Schenkel sowohl gegen Baur als auch gegen Dorner besonders die Bewahrung und Feststellung der objektiven Heilstat Gottes hervorgehoben hat, betont Schenkel nun also die subjektive Dimension des Protestantismus, wenn er erklärt, dass der Protestantismus durch ›Gewissensregung und Glaubensvertiefung‹ seinen Ausgang nimmt. An der Gebundenheit des Subjekts an Gott als objektivem Gegenüber hält er ebenso fest wie an der Einsicht, dass das Gegenüber im Prozess zur Gemeinschaft aufgehoben wird. Die Struktur des Wesens des Protestantismus, die in der subjektiven sowie objektiven Dimension besteht und schließlich auf den Zusammenschluss beider in der Einheit von Gott und Mensch zielt, bleibt demnach erhalten, die Gewichtung ist aber nunmehr eine andere. Mit der Einführung des Gewissensbegriffs deutet sich hier der für Schenkel zentrale Punkt seiner weiteren Theologie an, der sich ab Mitte der 1850er Jahre zum entscheidenden hermeneutischen Schlüssel für Schenkels Protestantismusverständnis entwickelt. Schenkel leitet ihn insbesondere aus der Reformation ab und vertieft von dort ausgehend seine Auffassung des Wesens des Protestantismus als Gewissenstat, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
3. Der Protest gegen den Katholizismus: Der Protestantismus als Gewissenstat Dass den Reformatoren und der Reformation eine besondere Relevanz in der Frage nach dem Wesen des Protestantismus zukommt, scheint zunächst eine triviale Feststellung zu sein. Damit ist aber freilich noch nichts darüber ausgesagt, welchen Stellenwert und welche Bedeutung die Reformation und der Bezug auf die Reformatoren genau für das Selbstverständnis des Protestantismus haben. Wie verhalten sich also Ursprung und Gegenwart des Protestantismus 177
AaO., 67.
3. Der Protest gegen den Katholizismus: Der Protestantismus als Gewissenstat
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zueinander? Ist das Wesen des Protestantismus in den Schriften der Reformatoren oder in ihrem Protest gegen die römische Hierarchie schon vollständig ausgesprochen? Oder ist die Reformation ›nur‹ der historische Ausgangspunkt, sodass das Wesen des Protestantismus entsprechend aus seiner gesamten Entwicklung begriffen werden muss? In Schenkels Protestantismusverständnis nimmt die Reformation eine Schlüsselposition ein, wie schon sein erstes Hauptwerk Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen der Reformationszeit zeigt, denn »[d]er Protestantismus ist der Geist, die Energie, die Erfüllung der Reformation«178. Schenkel war der Überzeugung, dass das Wesen des Protestantismus sich aus den Ursprüngen der Reformation deduzieren lasse, da es sich im Protest der Reformatoren gegen die römisch-katholische Kirche vollkommen ausgesprochen habe. Sein Interesse an der Reformation war dabei zeitdiagnostisch motiviert. – Je größer in seiner Wahrnehmung das Selbstbewusstsein und der Einfluss der restaurativen Theologie, die immer mehr vom Konfessionalismus bestimmt wurde, als gleichsam katholisches Element innerhalb der protestantischen Kirche wuchs, und sie den Anspruch erhob das Erbe von Luther weiterzuführen, desto mehr verstand Schenkel seine Gegenwart im Licht der Reformationszeit, die noch nicht vollendet sei, selber als Reformation: »Wir sagen ohne Bedenken: die Reformation ist noch nicht vollendet. (…) Die Reformatoren haben gethan, was Gott sie geheißen hat (…). Aber die evangelische Kirche hat das Werk der Reformatoren nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, fortgeführt.«179
Die Vollendung der Reformation ist für Schenkel insofern bleibende Aufgabe des Protestantismus, die dieser jedoch nur erfüllen kann, wenn er seinem Wesen und Prinzip treu bleibt bzw. zu ihm zurückkehrt. In dieser Situation beruft Schenkel sich nun auf konkrete Ereignisse der Reformation, in denen sich seiner Ansicht nach das Wesen des Protestantismus ausgesprochen hat und der ›Grundtrieb‹ so sichtbar geworden ist. Dies ist Schenkel zufolge zum Beispiel bei Luthers Anschlag der 95 Thesen am 31. Oktober 1517, der Protestation und Appellation der evangelischen Fürsten und Stände am 19. April 1529 vor dem Reichstag zu Speyer sowie bei Luthers Bekenntnis in Worms am 17./18. April 1521 der Fall gewesen.180 So schreibt Schenkel über 178
D. Schenkel, Wesen des Protestantismus (1862), 1: vgl. II.2.3. D. Schenkel, Für Bunsen (1856), 69. 180 Weder in Das Princip des Protestantismus noch in dem drei Jahre später veröffentlichten Aufsatz Ueber das Princip des Protestantismus bezieht Schenkel diese Ereignisse in seine Argumentation mit ein. In Die Reformatoren und die Reformation betont er dagegen bereits, dass der Geist des Protestantismus aus dem Geist der Reformatoren zu begreifen sei: »Da aber der Protestantismus (…) nicht eine Angelegenheit der Schule, sondern ein Werk des Lebens ist, da es lebendige Persönlichkeiten gewesen sind, denen er zunächst seine Entstehung und Verbreitung verdankt, und wir mithin das Wesen der Reformation unmöglich begreifen 179
136
III. Das Wesen des Protestantismus
den Thesenanschlag Luthers: »Die fünf und neunzig Sätze sind ein Gewissensprotest, die erste, öffentliche Manifestation des Protestantismus aus der innersten Wurzel seines Wesens.«181 Das Wesen des Protestantismus hat sich also zuerst öffentlich im Protest gegen den römischen Katholizismus geäußert und muss Schenkel zufolge eben deswegen aus seinem Gegensatz zu diesem eruiert werden. Auch Schleiermacher hat, wie bereits bemerkt, erklärt, dass sich niemand dem Unterschied von Katholizismus und Protestantismus gegenüber neutral verhalten könne, sodass »nun für den evangelischen Dogmatiker ganz natürlich die Aufgabe [entsteht], den eigenthümlichen Charakter des Protestantismus im Gegensaz zum Katholizismus zu einem deutlichen Bewußtsein zu bringen, und also wo möglich den Gegensaz selbst in einer Formel festzustellen«182 .
Schleiermacher fasst den Gegensatz sodann in folgender, sehr einflussreich gewordenen Formel zusammen: »Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rükkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war, sondern eine eigenthümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensaz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältniß zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältniß zur Kirche.«183
Für die Bestimmung des Wesens des Protestantismus hat damit Schleiermachers Formel eine für ihn ganz eigentümliche doppelte Stoßrichtung: Auf der einen Seite steht aufgrund seines historischen Ausgangspunktes die Abgrenzung gegenüber dem Katholizismus, die mit Hermann Fischer als »kritische[s], polemische[s] Element«184 des Wesens des Protestantismus bezeichnet werden kann. Neben diese zunächst negative Bestimmung tritt allerdings auf der anderen können, wenn wir nicht den Geist der Reformatoren begriffen haben: so wollen wir das Werk der Reformation vor Allem aus dem Wirken der Reformatoren kennen lernen.« (D. Schenkel, Reformatoren (1856), 14); vgl. auch ders., Art. »Protestantismus« (1860), 251 ff. 181 D. Schenkel, Wesen des Protestantismus (1862), 35. 182 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 24.2, 165. 183 AaO., § 24, 163 f. Joachim Birkner macht auf die Funktion dieser These im Rahmen der Glaubenslehre aufmerksam: »Unmittelbar vorher – im § 23 – ist die These formuliert, daß der Gegensatz zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche seinen eigentlichen Höhepunkt noch gar nicht erreicht habe, daß daher der Dogmatik in diesem Bezuge die Aufgabe entstehe, den Gegensatz auch in den Lehrstücken aufzusuchen, in denen er noch nicht sichtbar geworden sei. Für die Lösung dieser Aufgabe will der § 24 einen Leitfaden geben. Es muß allerdings angemerkt werden, daß Schleiermachers Forderung in der Ausführung seiner eigenen Glaubenslehre relativ unwirksam geblieben ist.« (H.-J. Birkner, Deutung und Kritik (1966), 9). 184 H. Fischer, Art. »Protestantismus« (1997), 544 [Hervorhebung im Original].
3. Der Protest gegen den Katholizismus: Der Protestantismus als Gewissenstat
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Seite »als Faktum der Geschichte«185 ein positives, individuelles Element, indem Schleiermacher betont, dass der Protestantismus nicht nur Negation ist, sondern eine ›eigenthümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft‹, die als solche neben dem Katholizismus ihre Berechtigung hat. In Bezug auf die Reformation betont Schleiermacher jedoch primär den ›reinigenden Charakter‹, »da (…) beim Entstehen des Protestantismus das reinigende Bestreben allein entschieden hervortrat, und der eigenthümliche Geist, der sich zu entwikkeln begann, sich hinter jenem bewußtlos verbarg«186 . Das bedeutet, dass nach Schleiermachers Verständnis zur Wesensbestimmung des Protestantismus gerade nicht nur die Reformation in den Blick genommen werden darf, sondern vielmehr der Protestantismus in seiner Entwicklung für die Wesensfrage relevant ist. Darüber hinaus gibt Schleiermacher zu bedenken, dass das gegenwärtige Verhältnis zwischen Katholizismus und Protestantismus ein anderes ist als in der Reformationszeit, »indem wir nicht auf hören gegen das, was wir wirklich zu den Verderbnissen rechnen, durch Wort und That zu polemisiren, wir doch zugleich voraussezen, daß anderes dort einheimische und uns eben so fremde doch von der Art ist, daß wir es neben dem unsrigen glauben bestehen lassen zu dürfen, also anders als das unsrige gestaltet, aber ebenso christlich«187.
Schleiermacher geht folglich vom berechtigten Nebeneinander der Konfessionen aus, denn: »Die konfessionellen Differenzen sind deshalb nicht allein lehrhafter Art, vielmehr gründen sie in einer unterschiedlichen Bestimmung der religiösen Bewusstseinszustände selber.«188 Schleiermacher begreift das konfessionelle Problem also »mit der Kategorie der Eigentümlichkeit, der Individualität«189. Insofern ist es nur konsequent, wenn er in den Erläuterungen der Leitthese den Schwerpunkt auf die ›individuelle Dimension‹ des Protestantismus legt und ihm primär an der Explikation des individuellen Charakters des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus gelegen ist. Im Anschluss an Schleiermacher will auch Baur das Wesen des Protestantismus im Ausgang von seinem Gegensatz zum Katholizismus beschreiben und formuliert folgende Einsicht: 185
Ebd. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 24.3, 166. Zu Schleiermachers Reformations- und Protestantismusdeutung vgl. M. Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften (1989). 187 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 24.1, 164; vgl. auch H.-J. Birkner, Deutung und Kritik (1966), 12. Schleiermacher begründet diese Feststellung damit, dass der Protestantismus nicht versuche, den Katholizismus zu missionieren und folglich Elemente der Wahrheit auch im Katholizismus vorhanden sein müssen. 188 M. Schröder, Kritische Identität (1996), 61. 189 H.-J. Birkner, Deutung und Kritik (1966), 11. 186
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III. Das Wesen des Protestantismus
»Da das Wesen des Protestantismus nur aus seinem Gegensatz zum Katholicismus begriffen werden kann, so ist das Erste, worin das Princip des Protestantismus zum Dasein kam, der Akt der Emancipation des Subjekts von der bindenden Macht der äussern Auctorität (...).«190
Gleichzeitig lehnt Baur aber wie auch Schleiermacher die verbreitete Vorstellung ab, dass das Wesen des Protestantismus in der Reformation vollkommen verwirklicht gewesen sei und man allein aus den Anfängen des Protestantismus sein Wesen und Prinzip bestimmen könne.191 Die zu treffende Unterscheidung von Wesen und Erscheinung verbietet es seiner Ansicht nach, allein bei der Reformation stehen zu bleiben, denn »in demselben Verhältniss, in welchem keine einzelne bestimmte Periode der Geschichte des Protestantismus als der allein adäquate Ausdruck des protestantischen Princips gelten kann, [kann] überhaupt dasselbe nur als ein in steter fortschreitender Entwicklung begriffenes gedacht werden«192 .
Schenkel legt demgegenüber nun einen anderen Ansatz vor, wenn er das Wesen des Protestantismus in dem ersten Auftreten der Reformation ausgedrückt sieht und es ihm darum geht, zu diesem zurückzukehren und gleichsam die Reformation zu vollenden.193 Wie bemerkt worden ist, ist Schenkel davon überzeugt, dass »vielmehr der eigenthümliche Geist, der innerste schöpferkräftige Quell190
F. Baur, Kritische Studien (1847), 530. Nach Albrecht kommt für Baurs systematische Wesensbestimmung des Protestantismus der Reformation allerdings in zweierlei Hinsicht ein besonderer Stellenwert zu: 1. »Der systematische Einsatzpunkt von Baurs Deutung des protestantischen Prinzips fällt in eins mit dem historischen Anfangspunkt des Protestantismus« und 2. »in dem epochengründenden Anfangspunkt selbst [ist] schon das Wesensprinzip der neuen Epoche mitgesetzt« (Ch. Albrecht, Differenzvermittlung (1998), 142 [Hervorhebung im Original]). Notger Slenczka betont, dass der Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus bei Baur nicht in einer bestimmten Lehre liegt; vielmehr ist es »eine ›innere‹ Uneinigkeit, ein alle Lehrstücke durchziehender, sie als Teile einem Ganzen zuordnender konfessionsspezifischer Grundcharakter, der sie alle prägt und der auch gleichlautenden Formulierungen einen unterschiedlichen Sinn gibt.« (N. Slenczka, Einheit der Kirche (2002), 181). 191 »Wer so, wie der Verf. [Hundeshagen; Anm. d. Vf.] die volle Verwirklichung des protestantischen Princips schon in den ersten Trägern desselben erblickt (…), der schliesst das protestantische Princip schon in der ersten Sphäre seiner Entwicklung so ab, dass er mit demselben Interesse, das sonst nur dem katholischen Stabilitätsprincip eigen ist, sich zu der ganzen Entwicklungsgeschichte des Protestantismus nur schlechthin negativ verhalten kann.« (F. Baur, Kritische Studien (1847), 526). 192 AaO., 509. 193 Die Eigentümlichkeit dieser Position wird besonders deutlich im Gegenüber zu Schleiermacher, der die Wesensbestimmung als Aufgabe der Philosophischen Theologie ansieht und für die Beurteilung der geschichtlichen Erscheinungen eben diesen Wesensbegriff einfordert, vgl. oben Anm. 15. Schenkel dagegen vertritt die These, dass sich das Wesen des Protestantismus aus konkreten Ereignissen der ersten Phase der Reformation bzw. der ursprünglichen Einsicht der Reformatoren deduzieren lässt und zwar ohne vorher (explizit) ein allgemeines Kriterium zu ermitteln, das ihm zur Beurteilung der historischen Erscheinungen dient.
3. Der Protest gegen den Katholizismus: Der Protestantismus als Gewissenstat
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punkt, aus welchem der Protestantismus entsprungen, aus den Quellen des Reformationszeitalters sich aufzeigen und beschreiben lassen«194 muss. Schenkel geht es also auch nicht primär um die Quellen der Reformationszeit als solche, sondern er will den die reformatorischen Schriften hervorbringenden und ihnen zugrundeliegenden Impuls und Geist, der sich auch in den genannten historischen Ereignissen und Taten ausgesprochen hat, eruieren, wie bereits im Rahmen der Prinzipiendiskussion deutlich geworden ist. Hier manifestiert sich das eigentümliche Wesen des Protestantismus und ist entsprechend von seinem Ursprung, vom dem ihm zugrundeliegenden Impuls her zu begreifen. Der dynamische Charakter des Wesens des Protestantismus, der sich in der Differenzierung der Bestimmung des protestantischen Prinzips schon gezeigt hat, wird an dieser Stelle nochmals deutlich hervorgehoben. Im Protest der Reformatoren gegen den Katholizismus kommen nun zwei eng miteinander zusammenhängende und für die Wesensfrage grundlegende Fragen zum Ausdruck, die auch in der Prinzipiendiskussion im Hintergrund standen: Zum einen ist zu klären, aus welchem Impuls heraus die Reformatoren und evangelischen Fürsten gehandelt bzw. auf welche Autorität sie sich gegen die staatsrechtliche Autorität der Kirchen berufen haben195 ; zum anderen ist zu fragen, wogegen sich der Protest überhaupt gerichtet hat, was also das eigentliche Ziel des reformatorischen Protests war: »Auf die Frage aber, welches denn der ursprüngliche bewegende Factor gewesen sei, von dem alle jene Impulse ausgegangen, lautet nach meiner Ueberzeugung die Antwort: das Gewissen. (…) Das Gewissen ist der Schlüssel, welcher allein das Räthsel der Reformation aufschließt, der unsichtbare doch allumfassende Hebel, welcher die alte Welt vor drei Jahrhunderten aus ihren Angeln rückte und eine neue Welt in’s Leben rief.«196
An diesen ursprünglichen Grund der Reformation erinnert Schenkel am 15. September 1857 in seinem Vortrag Wie haben sich die evangelischen Christen bei dem aggressiven Verfahren der römisch-katholischen Kirche zu verhalten? 197 bei der ›Versammlung evangelischer Christen aus allen Ländern‹ seine Zuhörer: Das Gewissen ist hiernach der ausschlaggebende Impuls für die Reformation gewesen. – Auf das Gewissen hat sich Luther beim Thesenanschlag berufen; auf ihre Gewissen haben sich die evangelischen Fürsten und Stände 1529 in Speyer berufen; 198 Luthers Bekenntnis in Worms ist »[d]ie eigentliche entscheidende reformatorische Gewissensthat Luthers«199 gewesen. Leitend ist dabei nach Schen194
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 429. Vgl. D. Schenkel, Art. »Protestantismus« (1860), 252 f. 196 D. Schenkel, Evangelische Christen (1857), 1252 [Hervorhebung im Original]. 197 Vgl. D. Schenkel, Evangelische Christen (1857). 198 Vgl. zu Schenkels Interpretation der Protestation in Speyer sowie Luthers Bekenntnis in Worms N. Slenczka, Neuzeitliche Freiheit (2005), 210 ff. 199 D. Schenkel, Wesen des Protestantismus (1862), 40. 195
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III. Das Wesen des Protestantismus
kel jeweils die grundlegende Überzeugung gewesen, »daß dem Gewissen in den Angelegenheiten des Heils die erste und entscheidende Stimme zukommt. Ohne dieses Principat des Gewissens gäbe es keinen Protestantismus.« 200 Damit stellt sich, so Schenkel, nach protestantischem Verständnis das Subjekt jeder Instanz, die in Heilsfragen Autorität über das Gewissen des Einzelnen beansprucht, entschieden entgegen, eben weil es sich auf die Autorität seines Gewissens beruft: Mit dem Gewissen ist nämlich eine Autorität aufgerufen, die »von allen menschlichen Autoritäten schlechthin unabhängig ist. (…) Wie der Mensch sich auf sein Gewissen beruft, so beruft er sich damit auf eine Autorität, die höher ist als er selbst, von der er sich selbst schlechthin abhängig weiß, vor der er sich unbedingt beugen muß.« 201
Das Subjekt ist sich also seiner Abhängigkeit bewusst, aber diese besteht eben nicht in einer Bindung an eine äußere Autorität, wie zum Beispiel an die Schrift, sondern sie ist im Gewissen des Subjekts gegenwärtig und besteht in einem Verhältnis der Unmittelbarkeit. Das Gewissen ist demnach auch nicht etwas bloß Subjektives und Individuelles, sondern im Gewissen ist sich der Mensch gerade seiner unbedingten Abhängigkeit von einer höheren Autorität bewusst, sodass sich das Subjekt frei weiß von allen menschlichen Autoritäten und allem geltenden Recht.202 Im Protest gegen die römische Kirche wird das Wesen des Protestantismus als ein solches offenbar, das keine andere Autorität als die Gottes anerkennt und von daher das Gewissensrecht des Individuums gegenüber weltlichen Autoritäten begründet. Damit stellt diese Gebundenheit also gerade die Grundlage für die Freiheit des Subjekts gegenüber der Welt dar. Schenkel profiliert auf diese Weise den Protestantismus als Religion der Freiheit, die das Gewissensrecht des Individuums unbedingt anerkennt und aus der Einsicht in die ursprüngliche Gebundenheit des Subjekts an Gott als unbedingter Autorität im Gewissen des Subjekts ihren Ursprung nimmt. Dieser Aspekt wird dann, wie sich zeigen wird, besonders im Hinblick auf die politische Dimension des Protestantismus relevant.203 Mit dem ursprünglichen Impuls ist sodann die Zielrichtung des Protestantismus gesetzt: Aus der Bezugnahme auf das Gewissen als einzige Autorität in Heilsfragen folgt nach Schenkel konsequent die Kritik und der Protest der Reformatoren am Selbstverständnis der römischen Hierarchie, die den Anspruch erhoben habe und immer noch erhebe, Mittlerin zwischen dem einzelnen Subjekt und Gott zu sein. Auf diese Weise binde sie, so Schenkel, das Subjekt an sich – ein freies persönliches Gottesverhältnis sei dem Subjekt dann nicht mög200
AaO., 61. D. Schenkel, Art. »Protestantismus« (1860), 255. 202 Vgl. N. Slenczka, Neuzeitliche Freiheit (2005), 212. Hier deuten sich erste Grundzüge von Schenkels Gewissensverständnis an, die er dann der Dogmatik weiterentwickelt hat, vgl. dazu III.4.1.3. 203 Vgl. III.5.; IV.4. 201
3. Der Protest gegen den Katholizismus: Der Protestantismus als Gewissenstat
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lich.204 Indem der Protestantismus demgegenüber auf die Befreiung des Subjekts zu einem persönlichen Gottesverhältnis zielt, ist darin auch die radikale Kritik an der Kirchenverfassung des römischen Katholizismus im Wesen des Protestantismus impliziert: »Die Vorstellung von der Kirche als einer göttlich eingesetzten und autorisirten, durch einen privilegirten Stand repräsentierten Macht- und Gnadeninstitution ist von den Reformatoren aufgegeben worden. Dahin drängte sie schon die Anerkennung der Gewissensrechte des gläubigen Subjekts. (…) Die Reformation war mithin die Negation des bisherigen Kirchenbegriffs und die Position eines neuen, in welchen nicht mehr das Institut, sondern das Subjekt zuerst gesetzt, und die Kirchengewalt nicht von einem besonderen Stande, sondern ganzen Gemeinde hergeleitet war.« 205
Schenkel betont also – wie auch Schleiermacher – dass der Protestantismus nicht nur in der Negation des römischen Katholizismus besteht, sondern dass dem vielmehr etwas Positives entgegengesetzt wird, nämlich ein neuer Kirchenbegriff. Er wendet sich somit implizit gegen Positionen, die den Protestantismus als kirchenfeindlich oder gar kirchenauflösend verstehen. Stattdessen erkennt Schenkel es als das Ziel der Reformatoren, eine dem Gewissen und damit dem persönlichen Gottesverhältnis angemessene Gemeinschaft zu bilden, die als Grundlage das Subjekt hat. Die leitende Frage ist dann, ob und wie es Gemeinschaft geben kann, die unter der Prämisse der individuellen Freiheit steht. Der ekklesiologische Horizont der Wesensfrage wird also in diesem Kontext an den Ursprung, das Gewissen des Subjekts, gebunden. Im Protest der Reformatoren gegen die römische Hierarchie spricht sich somit Schenkel zufolge – im Gegensatz zu Schleiermacher oder auch Baur – das Wesen des Protestantismus vollständig aus, indem hier gleichsam der ursprüngliche Impuls sowie das Ziel des Protestantismus sichtbar werden. Die Reformation ist damit im Hinblick auf die Bestimmung dessen, was protestantisch ist, gleichsam der hermeneutische Ausgangspunkt in Schenkels Deutung.
204 Dies erinnert auf den ersten Blick an eine schärfere Fassung von Schleiermachers berühmtem Unterscheidungsdiktum. Allerdings ist Schenkel der Ansicht, dass Schleiermacher das Wesen des Katholizismus nicht treffend beschrieben habe, wenn dieser die These vertrete, dass der Katholizismus das Verhältnis des Einzelnen zu Christus von der Kirche abhängig mache. Nach Schenkel trifft diese Einsicht nicht den Kern des Problems, dass seines Erachtens eben darin besteht, dass »es ihm [dem Katholizismus; Anm. d. Vf.] zugleich eigenthümlich [ist], das Verhältniß zu Christo überhaupt zurücktreten oder ganz verschwinden zu lassen, und dagegen dasjenige zu blos geschöpflichen Persönlichkeiten, wie z. B. der Jungfrau Maria (....) hervorzuheben« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 425). 205 D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 576 [Hervorhebung im Original].
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III. Das Wesen des Protestantismus
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion Dass der Protestantismus seinem Wesen nach Gewissensreligion ist, wird zunehmend zum bestimmenden Thema in Schenkels Theologie und diese Einsicht ist das positive Implikat der Deutung der Reformation als Gewissenstat. Konsequent führt er diese Überzeugung in einem seiner Hauptwerke Die christliche Dogmatik vom Standpunkt des Gewissens aus dargestellt 206 durch, in dem er nicht nur ausführlich den für das Verständnis des Protestantismus fundamentalen Gewissensbegriff 207 entfaltet, sondern auch den Anspruch erhebt, die gesamte Dogmatik vom Gewissen her zu begründen und zu durchdringen. Sein Gewissensverständnis entwickelt Schenkel im Rahmen der seiner Dogmatik zugrundliegenden Frage, was Religion sei; damit macht er die gesamte Dogmatik vom Religionsbegriff abhängig.208 Dabei ist Schenkel von der Überzeugung geleitet, dass »[e]ine gründliche Revision des Religionsbegriffes (…) gegenwärtig außerordentlich Noth« 209 tut, da Schleiermacher seiner Dogmatik einen falschen Religionsbegriff zugrundegelegt habe, dem die meisten Dogmatiker auf die eine oder andere Weise gefolgt seien.210 In der Dogmatik sucht Schenkel nun Wesen und Lehren des Protestantismus nicht wie bisher primär aus den Schriften und dem Wirken der Reformatoren zu bestimmen, vielmehr geht er hier von religionsphilosophischen Grundlegungen aus und versucht auf diese Weise, den Protestantismus – wie die gesamte Dogmatik – allgemein aus dem Wesen der Religion zu begründen und zu 206 Vgl. II.4.5. Schenkel betont, dass es eigentlich nur eine christliche Dogmatik gibt, denn »christliche Dogmatik (…) ist die wissenschaftlich zusammenhängende in persönlicher Ueberzeugung begründete Darstellung von der Wahrheit des christlichen Heils, wie dieselbe geschichtlich vermittelt ist in der Form des christlichen Gemeindebewußtseins.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 1). Da keine konfessionelle Gemeinschaft »alle wahren Elemente des christlichen Heilsbewußtsein in sich aufgenommen« (aaO., 12) hat, wird in Schenkels Augen eine konfessionelle »Darstellung unvermeidlich theils einen apologetischen, theils einen polemischen Charakter annehmen und [die] Beweisführung dadurch jene Unbefangenheit verlieren« (aaO., 13), die nach Schenkels Ansicht gerade für die Dogmatik unerlässlich ist, da Dogmatik überzeugen und nicht überreden möchte. Allerdings wird schnell deutlich, dass die christliche Dogmatik letztlich eine im Sinne von Schenkel protestantische Dogmatik ist, wobei der Protestantismus die geschichtliche Realisierung des Wesens des Christentums ist. 207 Zwei Jahre vor der Veröffentlichung der Dogmatik hat Schenkel sein Gewissensverständnis bereits in dem Lexikonartikel »Gewissen« in der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche dargelegt, vgl. D. Schenkel, Art. »Gewissen« (1856). Im Folgenden werden primär Schenkels Ausführungen aus der Dogmatik zugrunde gelegt, da er hier seinen Gewissensbegriff am ausführlichsten begründet und entfaltet. Auf inhaltliche Unterschiede wird unten (III.4.1.3.1.) eingegangen. 208 »Das System der Dogmatik hat seine tiefsten Wurzeln im Religionsbegriffe; ist der dem Systeme zu Grunde gelegte Religionsbegriff falsch, so leidet das ganze System an einem unverbesserlichen Fehler.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 79). 209 Ebd. 210 Vgl. aaO., III f.
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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entfalten. Dabei ist für das gesamte Werk die Prämisse leitend, »daß Gott ein lebendiger und persönlicher ist, daß es eine thatsächliche unmittelbare persönliche Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen giebt« 211. Möglichen Vorwürfen, dass sein Entwurf bloß subjektive Projektion und Spekulation des religiösen Subjekts sei, möchte Schenkel auf diese Weise zuvorkommen. Die Dogmatik ist zunächst in zwei Teile gegliedert, einen grundlegenden, in dem Schenkel die Quellen der Dogmatik erörtert sowie einen ausführenden oder materialen Teil. Das Wesen des Protestantismus entfaltet Schenkel im Rahmen der grundlegenden Ausführungen im ersten Teil. Strukturiert werden beide Teile durch drei dogmatische Grundvoraussetzungen, die Schenkel der Dogmatik als Prolegomena voranstellt.212 Diese sind erstens das menschliche Heilsbedürfnis, das in der anthropologischen Grundverfassung des Menschen begründet ist; zweitens die göttliche Heilsmitteilung; und drittens die heilsgeschichtliche Vollendung der Menschheit. Diese drei Grundvoraussetzungen, die nach Ansicht Schenkels die Theologie »einfach anzunehmen« hat, da sie »auf einem durch die Erfahrung vermittelten Glauben« beruhen und »unmittelbar dem menschlichen Selbstbewußtsein gegeben« 213 sind, stellen die Bedingung der Möglichkeit christlicher Dogmatik dar und begründen zudem ihre Notwendigkeit. – Sie sind untrennbar aufeinander bezogen, dennoch hat das menschliche Heilsbedürfnis den anderen gegenüber Priorität, denn: »Das Heilsbedürfniß, ohne welches es auch keine Heilswahrheit und darum überhaupt keine Dogmatik geben kann, ist die Grundthatsache, welche wir zunächst anerkannt haben, und aus welcher die Thatsache der Heilsmittheilung und der heilsgeschichtlichen Vollendung mit Nothwendigkeit sich ergeben« 214.
Der erste Ausgangspunkt der christlichen Dogmatik ist damit »in dem menschlichen Selbstbewußtsein genommen« 215. Dementsprechend erklärt Schenkel, dass ein dogmatischer Satz nur dann wahr sein könne, wenn er die drei Voraussetzungen erfüllt, und zwar gemäß ihres inneren Verhältnisses zueinander.216 211
AaO., VIII f. »Die drei von D. Schenkel nachgewiesenen Voraussetzungen begründen nun auch für ihn eine ganz neue Anordnung und Gliederung des Stoffes, sie sind die Principien, aus denen er das System von der Wahrheit des christlichen Heils construiert.« (G. Steitz, Rez. zu: Dogmatik (1859), 329). 213 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 78. 214 Ebd. 215 Ebd. 216 »Die Wahrheit einer Heilsthatsache ist vor Allem erweislich aus dem religiösen Bewußtsein, d. h. es muß nachgewiesen werden, daß, was als Heilsthatsache geltend gemacht werden will, einem wirklichen menschlichen Heilsbedürfnisse entspricht (…). Die Wahrheit einer Heilsthatsache ist aber zweitens auch erweislich aus einer göttlichen Selbstmittheilung an die Menschen (…). Endlich ist die Wahrheit einer Heilsthatsache auch noch aus der fortschreitenden heilsgeschichtlichen Entwicklung der christlichen Gemeinschaft erweislich.« (AaO., 81 f. [Hervorhebung d. Vf.]). 212
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III. Das Wesen des Protestantismus
Im grundlegenden Teil entfaltet Schenkel sodann die Quellen der genannten Voraussetzungen bzw. die ›Erkenntnisquellen des christlichen Heils‹: die Religion als Quelle des menschlichen Heilsbedürfnisses; die Offenbarung als Quelle der göttlichen Heilsmitteilung; sowie die Überlieferung »als der Quelle der auf Grund der Religion und Offenbarung in Gott sich vollendenden Heilsgemeinschaft« 217. Da, so Schenkel, ein dogmatischer Satz nur dann wahr ist, wenn er die genannten Voraussetzungen erfüllt, kann er folglich auch nur dann wahr sein, wenn er sich auf die jeweiligen Quellen zurückführen lässt, wobei die erste und wichtigste Quelle immer die Religion ist. Auch der ausführende Teil spiegelt diese Voraussetzungen wider: Der erste Teil »handelt von der gottwidrigen Selbstbestimmung des Menschen, als der Hauptthatsache, auf welcher das menschliche Heilsbedürfniß« 218 gründet; der zweite »von der Erlösung des Menschen durch Jesum Christum, als der Hauptthatsache, auf welcher die göttliche Selbstmittheilung« 219 beruht; der dritte Teil »von der Wiederherstellung der Menschheit im Reiche Gottes, als der Haupt thatsache, auf welcher die in Gott sich vollendende Heilsgemeinschaft ruht« 220. In dem gesamten Auf bau der Dogmatik spiegeln sich damit die dogmatischen Voraussetzungen wider; die drei von Schenkel im Rahmen der Prinzipiendebatte begründeten Momente – anthropologisch, theologisch und theanthropologisch – kommen wiederum in den Voraussetzungen zum Tragen, und zwar im Anschluss an die gezeigte Differenzierung, dass Schenkel die anthropologischen Dimension nunmehr vorordnet.221 Wie sich zeigen wird, sind die drei Momente allerdings nicht nur in den Voraussetzungen enthalten, vielmehr sind sie bereits im Wesen der Religion bzw. der Quelle der Religion selbst integriert. Als diese Quelle identifiziert Schenkel das Gewissen und knüpft damit an die Erkenntnisse an, die er im Rahmen seiner Reformationsdeutung gewonnen hat: Im Gewissen sind die drei für das Wesen des Protestantismus konstitutiven Momente aufgehoben, sodass das Wesen des Protestantismus nur vom Gewissen her bestimmt werden kann, das damit zur kritischen Instanz gegenüber allen dem Gewissen äußerlichen Autoritätsansprüchen wird. Im Folgenden geht es deswegen zunächst um Schenkels Verständnis des Gewissens; erst vor diesem Hintergrund wird anschließend Schenkels Bestimmung des Wesens des Protestantismus, wie in der Dogmatik dargestellt, erörtert. 217
AaO., 62. AaO., 62 f. 219 AaO., 63. 220 Ebd. 221 Vgl. III.2.5.2. Ganz deutlich wird diese neue Gewichtung im Vergleich zum Auf bau der ersten Auflage von Das Wesen des Protestantismus, in der Schenkel zuerst die theologischen Fragen und erst im Anschluss daran die anthropologischen und theanthropologischen Fragen erörtert, vgl. D. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (1846 ff.), Bd. 1, XIV. 218
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Schenkel untersucht das Gewissen im Rahmen einer Analyse des Religionsorgans und des Religionsbegriffs (4.1.). Gewissens- und Religionsbegriff bilden dabei einen unauflöslichen Zusammenhang. Zunächst sind hier anthropologische Voraussetzungen zu klären, die dem Religionsbegriff und damit auch Gewissensbegriff zugrunde liegen (4.1.1.). Seine eigene Position zum Religionsorgan und Religionsbegriff profiliert Schenkel wie üblich zunächst in Abgrenzung gegen andere verbreitete Auffassungen. Aus diesem Grund wird auf Schenkels Kritik an Kant, dem Katholizismus sowie an Schleiermacher einzugehen sein (4.1.2.), um dann seinen eigenen Ansatz zu erörtern (4.1.3.). Im Anschluss daran kann schließlich Schenkels Verständnis des Wesens des Protestantismus als Wiederherstellung der wahren Katholizität beschrieben und präzisiert werden (4.2.).
4.1. Religionsorgan und Religionsbegriff Schenkel geht von der Schleiermacher’schen Prämisse aus, dass »Religion ein eigenthümliches und selbständiges Gebiet des menschlichen Geistes« 222 ist und schließt daraus, dass es dementsprechend »im menschlichen Geiste ein eigen thümliches und selbständiges Organ für die religiöse Thätigkeit geben« 223 muss. Religion als das »sich kundgebende Bewußtsein des menschlichen Geistes, daß er seines ewigen Wesens vermöge seiner ursprünglichen und unmittelbaren persönlichen Gemeinschaft mit Gott gewiß ist« 224, ist also anthropologisch verankert, denn »der menschliche Geist als solcher [hat] ein ursprüngliches Verhältniß zu Gott (…) und es [gibt] mithin ein von den Kundgebungen der geschichtlichen Offenbarung unabhängiges Gottesbewußtsein im Menschen« 225. Dementsprechend muss der Religionsbegriff im Ausgang der religionsphilosophischen Anthropologie, die Schenkel im Kontext der ersten dogmatischen Voraussetzung, dem menschlichen Heilsbedürfnis, darlegt, entfaltet werden: Der Religionsbegriff ist hiernach von der richtigen Bestimmung des religiösen Organs im menschlichen Geist, das »ein Bewußtsein des Unendlichen haben« 226 muss, abhängig. 4.1.1. Anthropologische Voraussetzungen Die grundlegende Prämisse, von der Schenkel ausgeht, ist, wie bereits bemerkt, »eine in der Persönlichkeit des Menschen ursprünglich mitgesetzte Bezogenheit auf Gott als absolute Persönlichkeit« 227. Dass diese Prämisse zutrifft, leitet 222
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 136. Ebd. 224 AaO., 135. 225 AaO., 88 [Hervorhebung im Original]. 226 AaO., 90. 227 AaO., 15. 223
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III. Das Wesen des Protestantismus
Schenkel aus der Anthropologie ab, die »aus dem anthropologischen Theile der Religionsphilosophie herüberzunehmen ist« 228. Schenkel versteht den Menschen als trichotomisches Wesen, wobei für diesen Zusammenhang vor allem das Verhältnis von Geist und Materie von Interesse ist. Während der Mensch die ›stoffliche Seite‹ mit allen Geschöpfen teilt, ist er nach seiner ›geistigen Beschaffenheit‹ – dem so genannten ›Personleben‹ – von diesen wesentlich unterschieden. Das Personleben beschreibt Schenkel »als ein an und für sich immaterielles, sich stets gleich bleibendes, organischer Veränderung nicht unterworfenes«, das »seinem Wesens nach – Geist«229 ist. Das Wesen des Geistes oder seine Erscheinungsform ist Selbstbewusstsein, das »erfahrungsgemäß jeder Mensch (…) in seinem eigenen Innern vorfindet« 230 und das somit keines weiteren Nachweises bedarf. Damit sind Geist und Materie zunächst als zwei gegensätzliche Pole im Wesen des Menschen beschrieben: »Der Geist steht als das Unveränderliche, Unzerstörbare, Ewige, in sich Selbständige dem Stoffe, als dem Veränderlichen, Zerstörungsfähigen, Zeitlichen, Selbstständigkeitslosen gegenüber.« 231 Im Hinblick auf das Verhältnis von Geist und Natur impliziert dies, dass der Geist des Menschen der Natur unbedingt übergeordnet ist; in dieser Superiorität des Geistes gegenüber der Natur besteht das wahre Wesen des Menschen, denn »das wahrhaft Seiende [ist] nicht der Stoff (…), sondern der Geist« 232 . 228
AaO., 16. Ebd. 230 AaO., 17. 231 AaO., 16. Diese dualistische Sicht auf das Wesen des Menschen vertritt unter anderem auch Richard Rothe, der großen Einfluss auf Schenkel hatte. In seiner Theologische[n] Ethik schreibt er, dass der Mensch »zwischen zwei Principe gestellt [ist], die sich in ihm berühren, zwischen die Principe der beiden Elemente, deren unmittelbare Verknüpfung in ihm sein eigenthümliches Wesen ausmacht, zwischen das materielle (sinnliche) Princip in seinem materiellen Naturorganismus (…) und das nicht- und übermaterielle (…) Princip in seiner Persönlichkeit (seinem Ich).« (R. Rothe, Theologische Ethik (1845), Bd. 1, 211). 232 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 20. Trotzdem stehen Materie und Geist nicht einfach in einem bloßen Widerspruch zueinander, sondern befinden sich in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander, in dem Geist und Materie folgendermaßen aufeinander bezogen sind: »Ohne Materie würde dem Geist der Gegenstand mangeln, an dem er sein immaterielles ewiges Wesen offenbaren könnte. Deshalb ist es die Bestimmung des Stoffes, die urbildlichen Gedanken des Geistes im Abbilde zur Erscheinung zu bringen. Ohne den Geist wäre der Stoff eine verworrene, gedankenleere Massenanhäufung; der geistlose Stoff wäre etwas und doch nichts; denn er wäre das Sein des noch nicht Wirklichgewordenseins.« (Ebd.). Da der Gegensatz zwischen Geist und Materie jedoch so groß ist, kann das Verhältnis der beiden zueinander nur durch die Vermittlung einer dritten Größe hergestellt werden, die so die Einheit des Menschen gewährleistet. Dieses Dritte ist nach Schenkel die Seele, die selber weder Geist noch Materie ist, aber zu beiden in einem positiven Verhältnis steht und so zwischen ihnen vermittelt, sie »ist das Band, welches den Geist mit dem stofflichen Organismus verknüpft und dessen Einwirkung auf die ihrem Wesen nach ihm fremdartigen materiellen Objecte ermöglicht« (aaO., 22). Schenkel bezieht sich aber später nicht mehr auf die Seele, auch nicht in solchen Zusammenhängen, in denen er das Wirken des Geistes auf die Welt beschreibt. 229
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Im Geist bezieht sich der Mensch nun einerseits auf sich selbst, andererseits bezieht er sich aber auch auf Anderes außerhalb seiner selbst und zwar vermöge der Vernunft und des Willens, die Schenkel als Organe des Geistes versteht.233 Das Subjekt wird sich im Geist somit sowohl seiner Unterschiedenheit als auch Abhängigkeit von der Welt bewusst. »Auf dem ersten Wege gelangt das Personleben in der Form der persönlichen Selbstbestimmung, auf dem zweiten in der Form der Natur- und Weltgemeinschaft zu seinem Selbstvollzuge.« 234 Diese doppelte Bezogenheit des Geistes wird für die im Folgenden zu erörternde Frage nach dem Religionsorgan relevant werden. Damit ist aber bisher noch nichts über die ursprüngliche Bezogenheit des Menschen auf Gott ausgesagt. Diese zeigt sich, wenn weiter nach dem Ursprung des Geistes gefragt wird. Da der Geist der Materie übergeordnet ist, kann der Ursprung desselben nur entweder in sich selbst oder in etwas Höherem liegen. Nach Schenkel ist der Geist sich allerdings bewusst, »nicht nur einmal einen Anfang genommen, sondern auch, denselben nicht selbst gesetzt zu haben« 235, sodass der menschliche Geist sein Dasein letztlich nur einem Höheren verdanken kann, das selber Geist sein muss.236 Da das Wesen des menschlichen Geistes Selbstbewusstsein und Persönlichkeit ist, muss auch der ›Ursprungsgeist‹ seinem Wesen nach Selbstbewusstsein und Persönlichkeit sein, denn »hinsichtlich des Selbstbewußtseins muß daher der menschliche Geist demjenigen, aus welchem er seinen Ursprung hat, gleichartig sein (…)« 237. Der Unterschied besteht darin, dass dieser ursprüngliche Geist selber keinen Anfang hat, sondern aus sich selber ist. Schenkel zieht daraus folgende Schlussfolgerung: »Es giebt also ein absolutes Selbstbewußtsein, einen absoluten Geist, ein absolutes Personleben.« 238 Dieser absoDie Superiorität des Geistes gegenüber der Materie betont auch Rothe: »Der Mensch ist Mensch wesentlich nur dadurch, daß er persönliches Geschöpf ist, das persönliche Princip ist also das ihm spezifische, und es liegt unmittelbar in seinem Begriff, daß er nur indem er sich für dieses bestimmt wirklich sich selbst und für sich selbst bestimmt. Bestimmt er sich für das materielle oder sinnliche Princip, so bestimmt er sich selbst in ausdrücklichem Widerspruch mit seinem eignen Begriffe.« (R. Rothe, Theologische Ethik (1845), Bd. 1, 212). 233 Vgl. dazu III.4.1.2.1. 234 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 18. 235 AaO., 24. 236 In den Lehrausführungen im zweiten Teil der Dogmatik präzisiert Schenkel: »Das Selbstbewußtsein ist dem Menschen durch ein göttliches Allmachtswunder anerschaffen.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 117). 237 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 24 [Hervorhebung im Original]. 238 AaO., 25 [Hervorhebung im Original]. Man könnte diese Argumentationsführung als eine Art kosmologischen Gottesbeweis auf dem Grund der Subjektivität verstehen. Zwar lehnt Schenkel Gottesbeweise ab – der Nachweis der Existenz Gottes sei nicht Aufgabe der Dogmatik, sondern der Religionsphilosophie, die Dogmatik müsse die Existenz Gottes immer schon voraussetzen – allerdings gesteht Schenkel doch ein, dass die drei dogmatischen Voraussetzungen letztlich keinen anderen Inhalt als die traditionellen Gottesbeweise haben, sodass man den Eindruck bekommt, dass Schenkel die Gottesbeweise letztlich doch wieder durch die Hintertür einführt. Vgl. aaO., 55 – 61.
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III. Das Wesen des Protestantismus
lute Geist ist Gott. Schenkel schließt also von der Verfasstheit des menschlichen Geistes auf die Verfasstheit des Wesens Gottes. Hier deutet sich schon ein entscheidender Unterschied zur Konzeption Schleiermachers an, auf den später noch genauer einzugehen sein wird: Während bei Schleiermacher das Wort ›Gott‹ dazu dient, das in dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit gesetzte Woher auszudrücken, in dem sich das fromme Selbstbewusstsein ausspricht, schließt Schenkel vom Wesen des menschlichen Geistes auf ein konkretes, persönliches Sein Gottes, an dem der Mensch Anteil hat. Die ursprüngliche Bezogenheit des menschlichen Geistes auf Gott drückt sich als Gottesbewußtsein im Geist aus: »Der menschliche Geist ist als Geist, d. h. als wesentlich gottverwandter, unmittelbar auf Gott bezogen; das Gottesbewußtsein ist ihm anerschaffen; indem er von sich als Geist weiß, weiß er auch zugleich von Gott.« 239 Das Gottesbewusstsein gehört damit ursprünglich zum Wesen des Menschen; Gottesbewusstsein und Selbstbewusstsein sind untrennbar aufeinander bezogen, sodass Gott und Mensch im Geist eine Einheit bilden.240 Damit werden in den anthropologischen Voraussetzungen zwei Aspekte sichtbar, die für den Religionsbegriff Schenkels grundlegend sind: zum einen die klare Unterscheidung von Geist und Welt, und das heißt von Gott und Welt; zum anderen die ursprüngliche und unmittelbare Bezogenheit des menschlichen Geistes auf den absoluten und persönlichen Geist, in dem der menschliche Geist seinen Ursprung findet. 4.1.2. Abgrenzungen Wie auch in Das Princip des Protestantismus entwickelt und profiliert Schenkel seine eigene Position in der Dogmatik, indem er sich zunächst kritisch mit verbreiteten Ansätzen auseinandersetzt. Aus diesem Grunde sind auch hier zuerst die Abgrenzungen zu zeigen, vor deren Hintergrund Schenkels Position sich dann schärfer profilieren lässt.
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AaO., 27 [Hervorhebung im Original]. Dass das Gottesbewusstsein dem Menschen ursprünglich mitgesetzt ist, hat auch Schleiermacher festgehalten: »Eben dies ist nun vorzüglich gemeint mit der Formel, daß sich schlechthin abhängig fühlen und sich seiner selbst als in Beziehung mit Gott bewußt sein einerlei ist, weil nämlich die schlechthinige Abhängigkeit die Grundbeziehung ist, welche alle anderen in sich schließen muß. Der lezte Ausdrukk schließt zugleich das Gottesbewußtsein so in das Selbstbewußtsein ein, daß beides (…) nicht von einander getrennt werden kann.« (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 4.4, 40). 240
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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4.1.2.1. Religion als Ausdruck der Vernunft und des Willens Wie auch Schleiermacher kritisiert Schenkel Positionen, die Religion als »Aeußerung der Vernunft« 241 – wie es seines Erachtens im Falle der Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie bzw. der lutherischen Konfessionalisten 242 einerseits, sowie des Rationalismus andrerseits ist – oder als »Aeußerung des Willens« 243 – wie, so Schenkel, im Katholizismus und Moralismus – begreifen, da diese Religion primär als ›um etwas wissen‹ und ›um etwas erkennen‹ verstünden und nicht als Bewusstsein der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott. Schenkel wirft Schleiermacher dann allerdings vor, dass dieser es unterlassen habe, »den Beweis für seinen Satz aus dem Begriffe des Wissens und des Thuns selbst zu führen« 244. Gleichwohl erinnern viele Ausführungen, wie sich zeigen wird, stark an Schleiermachers Gedanken in der Glaubenslehre, auch wenn Schenkel sich nicht explizit auf ihn bezieht. Sowohl die Vernunft als auch der Wille sind Schenkel zufolge sogenannte Organe des Geistes. Durch sie ist der Geist auf die geschöpfliche, endliche Welt bezogen: Durch die Vernunft versucht der Geist, die Natur um ihn herum zu begreifen und im Denken sodann das geschöpfliche Sein in sich selbst abzubilden: »Das Ziel des Denkens und Erkennens (…) ist das Wissen, d. h. ein der Wirklichkeit vollkommen congruentes Bewußtsein von dem Sein.« 245 Das Wissen ist dabei jedoch keineswegs mit dem Sein identisch, sondern stellt nur ein Abbild desselben dar. Da die Vernunft auf die Endlichkeit bezogen ist, kann sie nicht auch in unmittelbarer und persönlicher Gemeinschaft mit dem absoluten und unendlichen Geist sein, da Welt und Geist unterschieden sind; persönliche Gemeinschaft mit dem Geist ist also nur durch ein Bewusstsein der Unendlichkeit möglich. Das entscheidende Defizit der Vernunft liegt also darin, dass sie – weil sie immer auf Endliches bezogen ist – niemals die Erfahrung der Einheit 241
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 85. »So unwahrscheinlich es klingt, so unzweifelhaft ist es, daß die Dogmatiker der alt-orthodoxen, insbesondere der lutherisch-confessionellen Schule die religiöse Thätigkeit ihrem Wesen nach als Vernunftthätigkeit aufgefaßt haben (…).« (AaO., 86). 243 AaO., 85. 244 AaO., 106. In der zweiten Rede begründet Schleiermacher allerdings ausführlich, weshalb Religion weder Metaphysik noch Moral sein kann: »Wir mögen nun die eine Physik nennen oder Metaphysik, mit Einem Namen, oder wiederum getheilt mit zweien, und die andere Ethik oder Pflichtenlehre oder praktische Philosophie, über den Gegensaz, den ich meine, sind wir doch einig, daß nämlich die eine die Natur der Dinge beschreibt, oder wenn Ihr davon nichts wissen wollt und es Euch zu viel dünkt, wenigstens die Vorstellungen des Menschen von den Dingen, und was die Welt als ihre Gesammtheit für ihn sein, und wie er sie finden muß; die andere Wissenschaft aber lehrt umgekehrt, was er für die Welt sein und darin thun soll.« (F. Schleiermacher, Reden, (1831), 46). Da Schenkel wie im 19. Jahrhundert üblich mit der 4. Auflage der Reden gearbeitet hat, wird diese Auflage im Folgenden zugrunde gelegt. 245 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 90. 242
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III. Das Wesen des Protestantismus
mit dem absoluten Geist machen kann. Allerdings gesteht Schenkel der Vernunft zu, eine Ahnung vom absoluten Geist haben zu können: Denn indem sie die Welt erforscht, gelangt sie an einen Punkt, an dem sie erkennen muss, dass sie nicht der Grund alles Seins ist.246 Die Vernunft ist also zu der Erkenntnis fähig, dass es etwas anderes außerhalb ihrer selbst geben muss, das ursprünglich ist, sie ist jedoch nicht in der Lage, sich davon ein adäquates Bild zu machen. – Der absolute Geist bleibt der Vernunft fremd, da er ihr als auf die Endlichkeit bezogenes geistliches Organ nicht unmittelbar gegenwärtig sein kann. »Unmittelbar ist ihr daher lediglich die Idee der Welt, nicht aber die Idee Gottes gegeben.« 247 Schreibt man der Vernunft das zentrale religiöse Vermögen zu, so besteht Schenkel zufolge Frömmigkeit entweder im Aufstellen von Lehrsätzen 248 – so wie in der kirchlichen Orthodoxie – oder das Denken führt wie im Rationalismus an den Grenzen des der Vernunft Erkennbaren »mit Nothwendigkeit zu der substantiell inhaltslosen Vorstellung des Absoluten, zu einer blos hypothetischen Idee von Gott, die ohne alle sachliche Realität ist« 249. Hat der Geist die Natur einmal erkannt, will er darin handelnd und gestaltend eingreifen.250 Im Wollen tritt der Geist deshalb, so Schenkel, aus sich heraus in die Welt, er ist wesentlich auf das Tun ausgerichtet. Wie auch die Vernunft besteht die Tätigkeit des Willens wesentlich im Bilden, im Unterschied zur Vernunft aber nicht im Nachbilden der Welt, vielmehr ist es »ein Sichhineinbilden des Geistes in die Welt. Hieraus aber folgt, daß die Willensthätigkeit der Natur der Sache nach noch weniger unmittelbar auf Gott bezogen ist, als die Vernunftthätigkeit.« 251 Wenn dagegen der Wille dennoch als das religiöse Vermögen des Geistes aufgefasst wird, bestehen Religiosität und Frömmigkeit wesentlich im Halten und Erfüllen von Geboten, die dann der Maßstab dafür sind, wie religiös ein 246
Vgl. aaO., 96. AaO., 95. 248 So auch Schleiermacher: »Soll nun die Frömmigkeit im Wissen bestehen, so wäre sie doch wohl vorzüglich dasjenige Wissen ganz oder das wesentliche davon, welches als der Inhalt der Glaubenslehre aufgestellt wird (…). Ist nun die Frömmigkeit dieses Wissen, so muß auch das Maaß dieses Wissens in einem Menschen das Maaß seiner Frömmigkeit sein. (…) Sonach wäre unter der aufgestellten Voraussezung der beste Inhaber der christlichen Glaubenslehre auch immer zugleich der frömmste Christ.« (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 3.4, 27 f.). Schleiermacher spielt hier, wie er im Ersten Sendschreiben an Lücke schreibt, ausdrücklich auf die kirchliche Orthodoxie an, gegen die sich auch Schenkels Kritik richtet, vgl. aaO., 27 [kritischer Apparat]. 249 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 96. 250 Vgl. aaO., 99. Auch dies erinnert stark an Schleiermacher: »Aber wenn auch das Wissen als Erkannthaben ein In sich bleiben des Subjectes ist, so wird es doch als Erkennen nur durch ein Aussicherheraustreten desselben wirklich, und ist in sofern ein Thun.« (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 3.3, 25). 251 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 99. 247
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Mensch ist.252 – Laut Schenkel beruht der römische Katholizismus eben auf dieser falschen Annahme, sodass dieser dem wahren Wesen der Religion, das in der Einheit von Gott und Mensch und nicht im Halten weltlicher Gebote besteht, widerspreche. Neben dem Katholizismus richtet Schenkel seine Kritik auch gegen den Moralismus, den er in Kants Religionsbegriff erkennt. Schenkels Argumentation verläuft hier im Wesentlichen analog zur dargestellten Kritik am Rationalismus: Die Idee Gottes leite Kant »aus dem Bewußtsein unserer moralischen Verpflichtungen« 253 ab. Tatsächlich bezieht sich der Mensch nach Schenkel aber gerade in seiner sittlichen Funktion auf die Welt, da das Handeln an sich wesentlich auf die Welt bezogen ist. Hier verwickele sich Kant deswegen in Widersprüche: »Das moralische Gesetz ist dem menschlichen Geiste immanent, seine unbedingte Verbindlichkeit kündigt sich in der Form des kategorischen Imperatives, oder des absoluten Sollens an (…); der sittliche Wille des Menschen ist unbedingt autonomisch.« 254
Das Kant’sche Sittengesetz sei damit letztlich nur Ausdruck des menschlichen Geistes. – So wie die Vernunft an die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeiten stößt, so steht der Wille vor dem Rätsel des Sittengesetzes und setzt an dieser Stelle Gott ein.255 Die Welt stellt also Schenkel zufolge sowohl für die Vernunft als auch für den Willen die Grenze dar, die sie nicht überschreiten können. Beide können sich zwar eine Vorstellung über das unendliche absolute Wesen machen, und somit eine Ahnung der Bedingung ihrer Möglichkeit haben, sie sind aber nicht unmittelbar auf den absoluten Geist bezogen. So kommt Schenkel zu folgendem Ergebnis: »Gott ist für die Vernunft eine Hypothese, für den Willen ein Ideal. Die Hypothese ›Gott‹ ist – ein substanzloser Begriff; das Ideal ›Gott‹ – ein unrealisierbarer Traum. Nicht Gott denken und wollen, sondern Gott haben ist Religion.« 256 Die in Bezug auf die Vernunft und den Willen folgenden Religionsbegriffe sind demnach mangelhaft, da sie ihrem Wesen nach notwendig der Welt verhaftet bleiben: Die Erfahrung der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott, die der Inhalt der Religion ist, lässt sich weder von der Vernunft noch vom Willen her realisieren.
252 So auch Schleiermacher: »Soll hingegen die Frömmigkeit im Thun bestehen: so ist offenbar, daß das sie constituirende Thun nicht durch seinen Inhalt bestimmt sein kann; denn die Erfahrung lehrt, daß neben dem vortrefflichsten auch das scheußlichste, neben dem gehaltreichsten auch das leerste und bedeutungsloseste als fromm und aus Frömmigkeit gethan wird.« (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 3.4, 29). 253 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 102. 254 Ebd. 255 Vgl. aaO., 104 f. 256 AaO., 105.
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III. Das Wesen des Protestantismus
Schenkels kritische Auseinandersetzung und Kritik an Positionen, die das religiöse Vermögen in der Vernunft oder im Willen des Menschen verorten, verdeutlicht die grundlegende Bedeutung, die Schenkel dem Religionsorgan und damit dem Religionsbegriff zuspricht: Von der Bestimmung des Religionsorgans hängt nicht nur die Erkenntnis des wahren Wesens Gottes und des Menschen ab, vielmehr steht die Erfahrung der Gemeinschaft des Menschen mit Gott und damit nichts anderes als die wahre Religion, in der sich das Wesen des Menschen verwirklicht, auf dem Spiel. 4.1.2.2. Religion als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit Ausführlich setzt sich Schenkel mit Schleiermachers Religionsbegriff 257 auseinander, wobei er sich vornehmlich auf Schleiermachers Ausführungen in den Reden über die Religion sowie der Glaubenslehre bezieht.258 Wie bereits bemerkt, ist Schenkel der Ansicht, dass auch Schleiermacher einen falschen Religionsbegriff zugrunde gelegt hat, der allerdings in der evangelischen Theologie sehr einflussreich geworden ist. Auch bei Schleiermacher richtet sich Schenkels Kritik insbesondere gegen die Bestimmung des Religionsorgans, auch wenn er anerkennt, dass »es doch seine bahnbrechende That [war], daß er die Religion nicht mehr als eine vereinzelte Aeußerung der Vernunft oder des Willens betrachtet, sondern sich bemühte, ein ursprünglich und selbständiges Centralorgan des menschlichen Geistes aufzufinden, in welchem die religiöse Funktion sich vollzieht« 259.
Schleiermachers berühmtes Diktum allerdings, dass Religion ›weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl‹ bzw. ›eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins‹ ist, begründet Schenkel zufolge einen ebenfalls falschen Religionsbegriff. 257 Zur Entwicklung von Schleiermachers Religionsbegriff vgl. H.-P. Grosshans, Gefühl (2008). 258 Da Schenkel seiner Auseinandersetzung die 4. Auflage der Reden, die im selben Jahr wie die 2. Auflage der Glaubenslehre erschienen ist, zugrunde legt, geht er nicht auf Schleiermachers Differenzierung des Religionsbegriffs innerhalb der verschiedenen Auflagen der Reden ein. Zur Modifikation des Religionsbegriffs in den verschiedenen Auflagen der Reden vgl. F. W. Graf, Ursprüngliches Gefühl (1978). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Schenkel den in der Glaubenslehre entwickelten Religionsbegriff von den Reden her rezipiert, was deswegen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Schleiermacher-Rezeption, die primär auf der ersten Auflage der Reden beruht, zunächst ungewöhnlich erscheinen mag. So verteidigt z. B. Friedrich Wilhelm Graf die These, »daß eine argumentativ-begreifende Explikation des Begriffs der Schleiermacherschen Theologie nur in dem Maße gelingen kann, in dem sie sich primär den Publikationen des sog. älteren Schleiermacher zuwendet und seine früheren Arbeiten, insbesondere die Reden und Monologen, nur als sekundäre, weil von ihm selbst kritisierte und durch seine systematischen Hauptwerke überbotene Interpretationsdokumente ansieht« (aaO., 147). 259 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 107.
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Den Religionsbegriff Schleiermachers in den Reden fasst Schenkel folgendermaßen zusammen: »Religion ist Schleiermachern auf dieser Anfangsstufe seiner theologischen Entwicklung Gefühl der absoluten Identität der Einheit des Universums und ihrer Gegensätze, Leben des Universums im Gefühl, absolutes Leben im Gefühl.« 260 Schenkel ist der Auffassung, dass Schleiermacher von der unbewiesenen Behauptung ausgeht, dass das Gefühl ein Vermögen des Geistes ist: »Daß Vernunft und Wille Organe des menschlichen Geistes sind, das ist unzweifelhaft. Ob das Gefühl ebenfalls der menschlichen Geistesseite angehöre, darüber läßt sich streiten.« 261 Er erinnert demgegenüber daran, dass die Erscheinungsform des Geistes Selbstbewusstsein ist. Ist das Gefühl ein Vermögen des Geistes, muss darum auch ihm die Form des Selbstbewusstseins eigen sein, Letzteres stellt das Kriterium für die Zugehörigkeit zum Geist dar. Genau dieses Kriterium erfüllt das Gefühl laut Schenkel aber nicht, denn das Gefühl »hat lediglich die Form des Bewußtseins an sich. Das Kind fühlt, bevor das Selbstbewußtsein in ihm entwickelt ist, bevor es sich selbst als Persönlichkeit, als freithätiges Ich begriffen hat.« 262 Das Gefühl kann demnach eben nicht ein Vermögen des Geistes sein, sodass Schenkel fragt: »Haben wir denn von hieraus nicht ein Recht zu der Schlußfolgerung, daß das Gefühl gar nicht der Geistesseite, sondern der seelisch-sinnlichen des Menschen angehört, und aus dieser entspringt?« 263 Das Gefühl kann, so Schenkel, lediglich wahrnehmen, was angenehm oder unangenehm ist, nicht aber, was wahr oder falsch ist. Das impliziert, dass das Gefühl eine ästhetische und gerade keine ethische oder religiöse Funktion hat. Es ist als solches religiös neutral und indifferent und an sich niemals unmittelbar auf Gott bezogen. »Es kann sich auch an und für sich gar nicht auf Gott beziehen, weil die Bezogenheit des Menschen auf Gott eine ursprüngliche Bestimmtheit seines Geistes, das Gefühl aber ursprünglich keine Aeußerung des Geistes ist.« 264 Schenkel konstatiert, dass Schleiermacher eben damit einen falschen Religionsbegriff zugrunde legt. Dass Schleiermacher mit seinem in den Reden entfalteten Religionsbegriff selbst nicht zufrieden gewesen sei, zeigt sich Schenkel zufolge daran, dass er sich 260
AaO., 109. AaO., 110 f. 262 AaO., 111. 263 Ebd. Als weiteres Argument gegen die Verortung des Gefühls im Geist führt Schenkel unter anderem an, dass es viele »geistverlassene, z. B. die sinnlichen Gefühle« (aaO., 112) gebe. 264 AaO., 114. Das bedeutet nicht, dass das Gefühl in gar keiner positiven Beziehung zu den Funktionen des Geistes steht, entscheidend ist aber, dass der Geist auf das Gefühl einwirkt und nicht umgekehrt. In dem rechten Verhältnis von Geist und Gefühl äußert sich das von der Vernunft normierte Gefühl dann in der Phantasie und das vom Willen normierte Gefühl in der Liebe, vgl. aaO., 115. Fest steht: »Was wir aber an den Gefühlen wirklich schätzen und hochachten: das ist immer das in ihnen auf dem Grunde organischer Krafterregung sich manifestirende höhere Leben des Geistes.« (AaO., 115). 261
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III. Das Wesen des Protestantismus
in der Glaubenslehre um eine weitere Präzisierung bemüht habe.265 Allerdings übt Schenkel auch an dieser Durchführung scharfe Kritik und hier zeigt sich dann deutlich, welche schwerwiegenden und problematischen Implikationen der Schleiermacher’sche Religionsbegriff nach Schenkels Ansicht hat. In der Glaubenslehre habe Schleiermacher, so Schenkel, die »Religion als dasjenige von allen anderen sich unterscheidende Gefühl bezeichnet, wodurch wir uns unser selbst als schlechthin abhängig, oder was dasselbe sagen wolle, als in Beziehung mit Gott bewußt sind« 266 . Schenkel richtet seine Kritik in diesem Zusammenhang vor allem auf den darin implizierten Gottesbegriff. In den Reden habe Schleiermacher nämlich ein pankosmistisches Gottesverständnis entwickelt, nach dem Gott und Welt nicht mehr voneinander unterscheidbar gewesen seien: »Religionsgefühl ist ihm dort Gefühl von der Einheit des Universums, romantischer Weltenthusiasmus.« 267 Schenkel anerkennt zwar, dass Schleiermacher in der Glaubenslehre um eine Differenzierung von Gott und Welt bemüht gewesen sei, diese sei ihm jedoch nicht gelungen, »weil die Idee Gottes von der Idee der Welt sich durch kein einziges positives Merkmal unterscheidet. Der Gott des Schleiermacher’schen Religionsbegriffes ist daher auch in der Glaubenslehre im Grunde blos eine von der Welt abgezogene Idee ohne positive Realität (…).« 268
Wie in den oben dargestellten Voraussetzungen deutlich geworden ist, ist jedoch gerade die eindeutige Unterscheidung von Geist und Natur oder Materie die hermeneutische Prämisse für Schenkels Religionsverständnis: Nur durch diese Unterscheidung kann überhaupt »das Wesen Gottes als dasjenige der absoluten Persönlichkeit oder des absoluten Geistes« 269 richtig verstanden werden. Auch in der Präzisierung des Religionsgefühls als ›schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl‹ ist Schenkel zufolge also die oben aufgezeigte Aporie nicht aufgelöst, denn durch die mangelhafte Unterscheidung beziehe sich auch das Abhängigkeitsgefühl letztlich auf die Idee der Welt – und nicht auf Gott. Schenkel bemerkt zwar, dass man sich von der Idee des Seins abhängig fühlen könne, tatsächlich sei man es aber nicht, da man immer nur auf bestimmte Teile des Ganzen bezogen bleibe, niemals aber auf das Ganze an sich.270 Somit beschreibe Schleiermacher mit dem Abhängigkeitsgefühl nicht die Abhängigkeit des Menschen vom absoluten Geist, sondern lediglich die Abhängigkeit von den Naturzusammenhängen und der Weltordnung. Diese Abhängigkeit sei jedoch bloß eine Empfindung.271 Das Problem des Weltbezuges, das Schenkel bei den 265
Zum Religionsbegriff in der Glaubenslehre vgl. z. B. J. Rohls, Frömmigkeit (1985). D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 118. 267 AaO., 119. 268 AaO., 122. 269 AaO., 121. 270 AaO., 124. 271 Auch die Beschreibung des religiösen Gefühls als ›unmittelbares Selbstbewusstsein‹ 266
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Religionsbegriffen, die auf der Vernunft oder dem Willen gründen, gesehen hat, sieht er demnach bei Schleiermacher wiederholt: Während Schenkel zufolge das religiöse Bewusstsein notwendig frei von jedem Weltbezug entsteht, wird es seines Erachtens bei Schleiermacher gerade erst durch diesen erfahrbar. Die Kritik Schenkels ist insofern von seinem Standpunkt aus berechtigt, als der Schleiermacher’sche Religionsbegriff tatsächlich keine positiven Rückschlüsse auf das Wesen Gottes als absolute Persönlichkeit oder Geist zulässt. »Das Unendliche ist allein in dieser Wirklichkeit, die von ihm geheimnisvoll getragen wird, da als durch und an uns handelnd. Daher sind sowohl die Vorstellung von einem überweltlichen persönlichen Gott und Welturheber (…) als im Wesen der religiösen Anschauung nicht enthaltne Grenzüberschreitungen der Phantasie verstanden« 272 ,
fasst Hirsch Schleiermachers Anliegen präzise zusammen. Allerdings – und das ist das grundlegende Missverständnis Schenkels – ist das auch gar nicht Schleiermachers Absicht: Während Schenkel von seinem Religionsbegriff auf einen positiv gefüllten und gefassten Gottesbegriff schließt, eben weil er voraussetzt, dass die Verfasstheit des menschlichen Geistes nicht nur auf das Wesen Gottes verweist, sondern er darin auch Anteil am Wesen Gottes hat, dient der Ausdruck ›Gott‹ bei Schleiermacher der Auslegung des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit: »Wenn aber schlechthinige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserm Saze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem Selbstbewußtsein mit gesezte Woher unseres empfänglichen und selbstthätigen Daseins durch den Ausdrukk Gott bezeichnet werden soll (…).« 273
Das impliziert, wie Wilhelm Gräb hervorhebt, dass »[d]ie theologischen Begriffe (…) und die gegenständlichen religiösen Vorstellungen von Gott und seinem Handeln (…) in die zweite Position [rücken]. Sie werden zu religiösen Reflexionsbegriffen, zu Deutekategorien subjektiv-individueller, religiöser Erfahrung.« 274
Zwar versteht auch Schenkel theologische Begriffe als bloß sekundär, aber die Erfahrung Gottes als persönlicher Geist ist dem Selbstbewusstsein unmittelbar gegeben und gerade nicht theologischer Reflexionsbegriff.
lehnt Schenkel ab, da Schleiermacher zufolge »das angeblich unmittelbare niemals ohne das sinnliche Selbstbewußtsein sich vorfindet« (aaO., 126). Das widerspricht aber wiederum Schenkels eindeutiger Unterscheidung von Gott und Welt. 272 E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 4, 513. 273 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 4.4, 38 f. 274 W. Gräb, Der kulturelle Umbruch (2000), 175.
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III. Das Wesen des Protestantismus
Schenkel begreift also im Anschluss an Schleiermacher Religion im Ausgang vom Subjekt, für seinen Religionsbegriff ist jedoch die Annahme Gottes als absoluten und persönlichen Geist, auf den der menschliche Geist unmittelbar bezogen ist, zentral. Dieses Bewusstsein von Gott als persönlichen und absoluten Geist ist dem Menschen unmittelbar in seinem Gewissen gegeben und es geht darum, dass nach Schenkels Ansicht Gott gerade nicht in aller Wirklichkeit erfahren werden kann, sondern nur abseits von allem Weltbezug. Der menschliche Geist kann sich seiner Gebundenheit und Einheit mit dem absoluten Geist nur in seinem unmittelbaren und ungestörten Bezug auf sich selbst und darin auf seinen Ursprung bewusst sein. 4.1.3. Das Gewissen Nachdem Schenkel nachgewiesen hat, dass weder die Vernunft, noch der Wille oder das Gefühl ihrem Wesen nach Religionsorgan des menschlichen Geistes sein können, entfaltet er schließlich seine Position: Das einzige Organ des menschlichen Geistes, das unmittelbar und persönlich auf Gott bezogen ist, ist Schenkel zufolge das Gewissen, es ist das ›religiöse Zentralorgan‹ des Menschen, es ist der innerste Punkt im Subjekt, nur dort wird es seiner selbst und Gottes gewiss, nur hier sind Gott und Mensch unmittelbar und ursprünglich aufeinander bezogen und bilden eine Einheit. Nachdem zuvor bereits deutlich geworden ist, dass das Gewissen eine immer zentralere Rolle in der Frage nach dem Wesen des Protestantismus einnimmt und gleichsam als hermeneutischer Schlüsselbegriff fungiert, ist dies freilich keine überraschende Erkenntnis, dennoch ist sie alles andere als selbstverständlich, da der Gewissensbegriff in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts insgesamt keine große Rolle gespielt hat.275 4.1.3.1. Das Wesen des Gewissens Schenkel definiert das Gewissen folgendermaßen: »[D]as Gewissen als religiöses Centralorgan des menschlichen Geistes [ist] zugleich auch ethisches Centralorgan, und die Synthese des religiösen und ethischen Faktors ist ursprünglich im Gewissen enthalten.« 276
Zunächst fällt auf, dass Schenkel das Gewissen als religiöses Vermögen des menschlichen Geistes versteht. Damit wendet er sich gegen Positionen, die seiner Ansicht nach das Gewissen als wesentlich ethische Größe ansehen, wie zum
275
Vgl. U. Barth, Gewissensbegriff (2010), 293. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 135 [Hervorhebung im Original].
276
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
157
Beispiel Kant oder Fichte277, auf die Schenkel hier verweist.278 Im Anschluss an Richard Rothe betont Schenkel dagegen die religiöse Funktion des Gewissens279 und das bedeutet für ihn: Im Gewissen ist Gott dem Menschen unmittelbar gegenwärtig: »Der Mensch hat Gott ursprünglich im Gewissen, und wir setzen hinzu: er hat ihn nur im Gewissen so. Das Gewissen ist der Ort im menschlichen Geiste, wo dieser den absoluten Geist in sich selbst findet, wo er sich seiner in jenem bewußt wird.« 280
Im Gewissen ist der Mensch damit in ursprünglicher und persönlicher Gemeinschaft mit seinem Ursprung verbunden. Religion als Gemeinschaft von Gott und Mensch ist demnach an das Gewissen gebunden und findet hier gewissermaßen statt. Als Organ des Geistes ist das Gewissen »die eigenthümlichste und selbständigste Form des Selbstbewußtseins« 281. Während der Geist durch Vernunft und Wille auf die Welt bezogen und sich somit auch immer Anderes außerhalb sei277 Obwohl Fichte die Religion ebenfalls im Gewissen verortet, setzt Schenkel sich mit dessen Position nicht weiter auseinander, sondern belässt es bei der genannten Kritik. Freilich steht Fichtes Religionsverständnis, wie er es im Rahmen des Atheismusstreits vertreten hat, Schenkels Religions- und Gewissensbegriff gegenüber, da Fichte die Ansicht vertritt, dass der Mensch in seinem Gewissen zwar teilhat an der moralischen Weltordnung bzw. sich dieser unmittelbar gewiss ist, darüber hinausgehende Bestimmungen Gottes als eines persönlichen Einzelwesens jedoch als Reflexion, die die Grenzen der Religion überschreitet, ablehnt. Zum Atheismusstreit vgl. R. Stalder, Der neue Gottesgedanke (1979); U. Barth, Ethikotheologie (2003). 278 Dass Kant ebenso die religiöse Dimension in seinen Gewissensbegriff zu integrieren sucht, die ihren Grund allerdings immer nur in einem Akt des Subjekts hat, zeigt Ulrich Barth in seinem sehr lesenswerten Aufsatz Reformatorisch-theologischer und neuzeitlich-philosophischer Gewissensbegriff, vgl. bes. U. Barth, Gewissensbegriff (2010), 287 f. »Der erste Erweiterungsschritt bestand in der Einführung des Gedankens einer Stellvertreterrolle des Forum internum für das Forum divinum auf der Basis des Begriffs der Heiligkeit des Sittengesetzes; der zweite, der auf seine Weise ebenso ›unvermeidlich‹ ist, führte auf den Gedanken eines sich innerlich bekundenden höchsten Richters, wodurch das Gewissen den Charakter einer Verantwortung vor Gott empfängt. Kant lässt indes keinen Zweifel daran, dass es sich bei beiden Erweiterungen um ›bloß‹ subjektive Prinzipien der Vernunft handelt (…), die zu keinerlei Setzung einer an sich existierenden Wirklichkeit berechtigen oder gar verpflichten, da beide Annahmen sich dem reflektierenden Verfahren symbolischer Analogiebildung verdanken. Insofern ruht Kants religiöse Deutung des Gewissens auf denselben erkenntnistheoretischen Grundlagen wie seine Religionsphilosophie insgesamt.« (AaO., 288 f.). 279 Rothe beklagt in seiner Ethik, dass der Sprachgebrauch des Gewissensbegriffs völlig unklar ist und bestimmt dagegen den Gewissensbegriff in dreifacher Hinsicht: »Einmal daß das Gewissen durchaus eine wesentlich religiöse Bestimmtheit ist. Der Gedanke des Gewissens steht und fällt mit der Idee Gottes. (…) Sodann das Gewissen hat seine Bedeutung wesentlich nur für das Practische (…). Es geht immer nur auf unser Wollen und Thun (…) Endlich es hat wesentlich einen individuellen Charakter (…).« (R. Rothe, Theologische Ethik (1845), Bd. 1, 264 f.). Im Unterschied zu Schenkel verortet Rothe das Gewissen also, wie besonders in der zweiten Bestimmung deutlich wird, »auf der Seite der Selbstthätigkeit, nicht auf der des Selbstbewußtseins« (aaO., 265). 280 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 138 [Hervorhebung im Original]. 281 Ebd.
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III. Das Wesen des Protestantismus
ner selbst bewusst ist, bezieht sich das Subjekt, so Schenkel, in seinem Gewissen ausschließlich auf sich selbst und ist sich ausschließlich seiner selbst bewusst und zwar »so wie wir auf Gott bezogen sind« 282 . Das Subjekt wird sich in seinem Gewissen in jedem Moment Gottes als des absolut bestimmenden Grundes seiner selbst bewusst. Damit findet der Mensch nur hier »die unerschütterliche Gewißheit seiner selbst und seines eigenen Wesens« 283. Da diese Gewissheit seiner selbst in Bezogenheit auf den absoluten Ursprung nicht, wie Schenkel betont, durch das Weltbewusstsein vermittelt ist, kann es seinen Ursprung folglich nur in Gott selbst haben,284 sodass Schenkel die Schlussfolgerung zieht, dass das Subjekt sich in seinem Gewissen »Gottes (…) als des positiv real, d. h. in unserem Geistesleben persönlich, gegenwärtigen und sich als gegenwärtig bezeugenden absoluten Geistes bewußt« 285 ist. Im Gewissen sind Selbstbewusstsein und Gottesbewusstsein also ursprünglich untrennbar miteinander verbunden und aufeinander bezogen und zwar so, dass das Selbstbewusstsein als Gottesbewusstsein ausgelegt und dabei gleichzeitig der gegenständliche Sinn des Begriffs ›Gott‹ als ein objektives, vom Selbstbewusstsein Unterschiedenes bewahrt wird: »Indem wir im Gewissen unser selbst als auf Gott bezogener bewußt werden, ist uns erfahrungsgemäß zugleich gewiß, daß wir dieses Bewußtsein von Gott selbst haben, und wir sind uns unsers Selbstes einzig und allein nur darum wahrhaft gewiß, weil wir die Gewißheit in uns tragen, daß es mit demjenigen des absoluten Geistes in uns auf eine ursprüngliche Weise verknüpft ist.« 286
Die religiöse Funktion des Gewissens besteht demgemäß darin, diese ursprüngliche und unmittelbare Bezogenheit des menschlichen Geistes auf den absoluten Geist zu erhalten. Wie aus der eingangs zitierten Definition hervorgeht, nimmt Schenkel neben dieser religiösen Funktion auch eine sogenannte ›ethische Funktion‹ des Gewissens an. Diese Verbindung von ethischem und religiösem Bewusstsein ist für 282
AaO., 139 [Hervorhebung d. Vf.]. Ebd. 284 Hier kommt nochmals Schenkels Kritik an Schleiermachers Religionsbegriff zum Tragen: »Während Schleiermacher das Gottesbewußtsein durch das sinnliche Gefühl angeregt werden und somit unzweifelhaft aus dem Weltbewußtsein seinen Ursprung nehmen läßt, nimmt die Entstehung des Gottesbewußtseins nach unserer Darstellung vielmehr den umgekehrten Weg. Es entsteht zunächst im Gegensatz zu dem Weltbewußtsein, in dem außerhalb unmittelbarer Bezogenheit auf die Welt befindlichen Orte des menschlichen Geistes, in der abgeschiedenen Stille reiner Innerlichkeit, in welcher das Wesen des Menschen nach Innen gekehrt und nur auf sich selbst bezogen ist.« (AaO., 140 [Hervorhebung im Original]). 285 AaO., 142. 286 AaO., 140. Es legt sich die Vermutung nahe, dass Schenkel den Gewissensbegriff gleichsam etymologisch auslegt. Dies zeigt sich zum einen an der Verbindung von Gewissen – gewiss – Gewissheit, dann aber auch, wie unten deutlich wird, in dem Bewusstsein des im Gewissen mit gesetzten »Fremden Ich«, wie es im lateinischen ›conscientia‹ und auch griechischen Begriff συνείδησις festgehalten ist. 283
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Schenkels Gewissens- und Religionsbegriff kennzeichnend. Das Subjekt ist sich im Gewissen nämlich auch »von einem Nichtmehrsein unser in Gott«287 bewusst. Der ›normale‹ oder ›heile‹ Zustand, in dem sich das Subjekt seiner Bezogenheit auf Gott vollkommen bewusst ist, ist nach Schenkel erfahrungsgemäß niemals mehr vollkommen gegeben: Aufgrund der doppelten Bezogenheit des menschlichen Geistes ist es möglich, dass der Mensch nicht mehr in jedem Moment seines Daseins vom Gottesbewusstsein sondern vielmehr vom Weltbewusstsein bestimmt wird.288 Sobald das Weltbewusstsein aber nicht mehr vom Gottesbewusstsein normiert wird, ist damit das ursprüngliche Gottesverhältnis gestört und der Mensch wird ›irreligiös‹: »Denn das Wesen der Irreligiosität besteht eben darin, daß der Mensch an die Stelle des absoluten Geistes die endliche Welt als absolut, und sich selbst in ein absolutes Abhängigkeitsverhältniß zur Welt setzt.« 289 An diesem Punkt integriert Schenkel die ethische Dimension des Gewissensbegriffs, insofern die ethische Funktion des Gewissens darin besteht, genau diesem Zustand zu begegnen – das Gewissen »legt (…) von jeder Nichtkundgebung des göttlichen Seins in uns, wo dieselbe hätte stattfinden sollen, als einem Bewußtsein von einem realen Mangel an göttlichem Geistesleben in uns, sofort Zeugnis ab« 290. Charakteristisch für Schenkels Gewissensbegriff ist, dass das Gewissen auch in seiner ethischen Funktion immer auf Gott bezogen bleibt, »aber nicht mehr auf ein Sein Gottes, welches real gegenwärtig ist, sondern auf ein Nichtmehrgegenwärtigsein, und darum Seinsollen Gottes. In seiner vorangehenden [religiösen; Anm. d. Vf.] Thätigkeit besitzt, in seiner nachfolgenden vermißt das Gewissen Gott; es hat ihn nicht mehr, allein es möchte ihn gern haben.« 291
Die ethische Funktion ist damit dem Wesen des Gewissens nicht fremd, sondern gehört ebenso wie die religiöse Funktion zum Wesen des Gewissens, da es auch hier konsequent auf Gott bezogen bleibt,292 gleichwohl – und das ist die Pointe von Schenkels Gewissensverständnis – die religiöse Tätigkeit die ursprüngliche und vorangehende ist: »Das Gewissen muß zuerst Gott gehabt ha-
287
AaO., 141. Ähnlich auch Schleiermacher, vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 66 ff. Allerdings bezieht sich Schenkel auch hier wieder nicht explizit auf Schleiermacher. Im Gegensatz zu Schleiermacher spricht Schenkel in diesem Zusammenhang jedoch (noch) nicht von Sünde. 289 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 143. Das heißt, Religionsbegriffe, die von der Vernunft, dem Willen oder dem Gefühl ausgehen, sind ihrem Wesen nach irreligiös. 290 Ebd. 291 AaO., 146. 292 Slenczka macht darauf aufmerksam, dass damit das Gewissen auch als kritische Instanz in seiner ethischen Funktion »Ausdruck der Würde des Menschen und der Ort des Bewußtseins dieser Würde« (N. Slenczka, Neuzeitliche Freiheit (2005), 228) ist. 288
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III. Das Wesen des Protestantismus
ben, um das Nichtmehrhaben Gottes als eine schmerzliche Entbehrung wahrzunehmen.« 293 An dieser Stelle ist der zwei Jahre vor der Dogmatik erschienene Gewissens-Artikel Schenkels in der Realenzyklopädie erhellend,294 da Schenkel hier den Gewissensbegriff vom Sündenfall her konzipiert und insofern die Gewichtung eine andere ist – von Sünde spricht Schenkel in der Konzeption seines Gewissensverständnisses in der Dogmatik nicht. Schenkel erklärt in diesem Artikel, dass es vor dem Fall eigentlich noch gar kein Gewissen gegeben habe: Selbstbewusstsein und Gottesbewusstsein fielen vielmehr unmittelbar zusammen. Erst mit dem Bewusstsein der Sünde tritt das Gewissen in der doppelten Funktion von religiösem und ethischem Bewusstsein auf. Das heißt: »Das Gewissen ist daher (…) die Form des menschlichen Selbstbewußtsyns, wie dasselbe in seiner anormalen, durch die Sünde getrübten Wesensbeschaffenheit ist. Im Gewissen erscheint das menschliche Selbstbewußtseyn nicht mehr als ein gesundes, sondern als ein erkranktes, heilungsbedürftiges; das Gewissen ist selbst ein Symptom der Erkrankung.« 295
Das Gewissen beschreibt Schenkel hier also zunächst im Zusammenhang mit der Sünde. Daneben nimmt er allerdings auch hier die religiöse Funktion des Gewissens an; im Unterschied zur Dogmatik vertritt Schenkel jedoch die Ansicht, dass Gottesbewusstsein und Selbstbewusstsein nach dem Sündenfall auseinandertreten, sodass das Gottesbewusstsein nunmehr nur noch mittelbar, und »das heißt als ein Vermögen seines individuell-persönlichen Geistes, sein Selbstbewußtseyn auf Gott zu beziehen, Gott noch immer zu vernehmen« 296 , im menschlichen Geist erhalten geblieben ist. Hier spricht Schenkel also nur noch von einem Vermögen des Selbstbewusstseins, sich auf das Gottesbewusstsein zu beziehen, während er in der Dogmatik die religiöse Funktion als Bewusstsein der ursprünglichen und unmittelbaren Bezogenheit des menschlichen Geistes auf den absoluten Geist versteht. Dennoch betont Schenkel auch im Lexikonartikel die Synthese des religiösen und sittlichen Bewusstseins im Gewissen und entwirft somit letztlich doch ein positives Bild vom Gewissen, das die Instanz im Menschen ist, durch die sich der Mensch auf Gott bezieht und sich so seines wahren Wesens bewusst wird: 293 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 148. Dies scheint auf den ersten Blick das religiöse Moment von Vernunft und Willen aufzunehmen, insofern diese durchaus nach Gott fragen, ihn aber eben nicht haben. Im Unterschied zur Vernunft und zum Willen ist das Gewissen aber auch in seiner ethischen Funktion unmittelbar auf Gott bezogen. Das sind Vernunft und Wille Schenkel zufolge aber gerade nicht – sie sind ihrem Wesen nach nur auf die Welt bezogen. 294 D. Schenkel, Art. »Gewissen« (1856), vgl. auch oben Anm. 195. 295 D. Schenkel, Art. »Gewissen« (1856), 136. 296 AaO., 132 [Hervorhebung d. Vf.].
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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»Vielmehr ist das Gewissen eine vom menschlichen Selbstbewußtseyn unzertrennliche Bezogenheit desselben auf Gott, eine nothwendige und zwar die centrale Bestimmtheit des menschlichen Selbstbewußseyn, so daß ein absolut gewissenloser Mensch eigentlich aufgehört hätte, ein Mensch zu seyn.« 297
Religiöse und ethische Funktion sind Schenkel zufolge untrennbar miteinander verbunden, es besteht »eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen der religiösen und der ethischen Thätigkeit des Gewissens« 298. Das Gewissen besteht demnach in einer Synthese des religiösen und sittlichen Bewusstseins und Schenkel betont, dass beide Funktionen ständig gemeinsam auftreten und in Wechselwirkung miteinander stehen; Religion und Sittlichkeit gehören somit untrennbar zusammen: »Die sittliche Funktion ist (…) ebensosehr die Religiosität erneuernde, als die religiöse eine die Sittlichkeit hervorbringende.« 299 Drückt die Religion die Gemeinschaft und Einheit zwischen Gott und Mensch aus, so zielt die Sittlichkeit auf die Wiederherstellung dieser Gemeinschaft, der Religion und damit des wahren Wesens des Menschen.300 Das religiöse und sittliche Bewusstsein bringen nun je unterschiedliche Wirkungen hervor: Während sich das religiöse Bewusstsein als Gewissheit der Zugehörigkeit und der Unabhängigkeit von der Welt im Glaubensbewusstsein äußert, bewirkt das sittliche Bewusstsein ein Gesetzesbewusstsein im Menschen. »Weil der Mensch als solcher Gewissen hat, darum hat er als solcher Glauben (…)«, wobei der Glaube in dieser allgemeinen Bestimmung noch nicht näher inhaltlich bestimmt ist, sondern »in seiner allgemeinsten Lebensform sich bethätigt«301. Glaube und Gewissen hängen demnach ursprünglich zusammen – der Glaube ist zusammen mit dem Gewissen dem Menschen wesentlich. Das Gesetzesbewusstsein wiederum verwirft das Nichtsein Gottes in uns, bejaht gleichzeitig Gott außerhalb unserer selbst und wird damit zur Kraft und Quelle sittlicher Selbsterneuerung. »Der Glaube stärkt das Selbstbewußtsein in Gott, das Gesetz reinigt dasselbe von dem Uebergewicht der Welt.«302 Das Gesetz darf hier natürlich nicht als ein konkretes Gebot oder Gesetz verstanden werden, sondern als Bewusstsein um die eigentliche Bestimmung des Menschen, »um 297
AaO., 136. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 149. 299 AaO., 153. 300 »Und so fassen wir (…) unsere Beschreibung vom Wesen der Religion in dem Satz zusammen, daß Religion dasjenige im Gewissen sich kundgebende Bewußtsein des menschlichen Geistes ist, wornach (sic!) derselbe seines ewigen Wesens, vermöge seiner ursprünglichen unmittelbar persönlichen Gemeinschaft mit Gott, vollkommen gewiß ist. Die Sittlichkeit hat in ihrer auf diesem Standpunkte unauflöslichen Synthese mit der Religion keine andere Bedeutung, als daß sie das Bedürfniß des menschlichen Geistes nach Wiederherstellung der Religion, oder der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott, wo dieselbe zerstört ist, ausdrückt.« (AaO., 152). 301 AaO., 150. 302 AaO., 151. 298
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III. Das Wesen des Protestantismus
das, was der Mensch in seinem Verhältnisse zu Gott sein oder thun soll«303. Dieses Bewusstsein erfährt das Subjekt im Selbstbezug auf sein Gewissen. Die Einheit des religiösen und ethischen Bewusstseins zeigt sich sodann in der Relation des Menschen zur Welt: Religion bildet das Fundament von Sittlichkeit und ist somit für die Stellung und das Handeln des Subjekts in der Welt wesentlich. Dabei ist durch die Gewissheit der Gemeinschaft mit Gott vor allem ein Bewusstsein der Herrschaft über die Welt mit gesetzt: »Das Gewissen (…) stellt eine positive Auszeichnung dar und vergewissert den Menschen seiner Stellung über der sonstigen Schöpfung; das Gewissen ist der Ort des Bewußtseins der höheren Bestimmung des Menschen zur Einheit mit Gott und als Selbstbewußtsein der Punkt, in dem die Subjektivität ganz unterschieden von der Welt und eines mit Gott ist.« 304
Somit wirken Gewissen und Religion, obwohl sie ihrem Wesen nach in der reinen Bezogenheit des Subjekts auf sich selbst und seinen Ursprung bestehen, dennoch auch auf das Subjekt in seiner Bezogenheit auf die Welt und zwar in dem Bewusstsein, sich gegenüber weltlichen fremden Autoritäten frei zu wissen: Gewissen und Freiheit bilden für Schenkel einen Zusammenhang und dieses Bewusstsein von Freiheit bestimmt dann die Stellung des Subjekts zur Welt.305 Weshalb Schenkel das Gewissen und damit die Religion, als die erste Heilsquelle des christlichen Heils versteht, ist damit deutlich: Nur hier weiß der Mensch um seine unmittelbare und persönliche Gemeinschaft mit Gott, sodass hier Mensch und Gott zu einer Einheit verbunden sind. Beruft der Mensch sich auf sein Gewissen, beruft er sich auf Gott. Subjektivität und Objektivität sind so untrennbar in Schenkels Gewissensbegriff aufeinander bezogen, dass trotz des Ausgangspunktes im menschlichen Selbstbewusstsein, Gott nicht nur als Projektion oder auch menschliche Selbstauslegung zu verstehen ist, sondern Gott als real Objektives im Gewissen des Subjekts selbst gegenwärtig ist und das Subjekt in seinem Selbstbezug auf sein Gewissen sich zu einer unmittelbaren und persönlichen Gemeinschaft mit Gott verbunden weiß. Während Ulrich Barth feststellt, dass der »altprotestantische Gewissensbegriff (…) seine ursprüngliche Heimat in der Bußfrömmigkeit« hat und »den mentalen Ort individueller Schuld-, dann aber auch Vergebungserfahrung«306 bezeichnet, hat Schenkel einen ganz eigentümlichen Gewissensbegriff entwickelt. 303
Ebd. N. Slenczka, Neuzeitliche Freiheit (2005), 227 f. 305 Vgl. III.5; IV.4. 306 U. Barth, Gewissensbegriff (2010), 276. 304
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Denn er versteht das Gewissen eben nicht primär als ›schlechtes Gewissen‹, sondern vielmehr als positive Instanz im Menschen, vermöge derer dieser sich seiner ursprünglichen Zugehörigkeit und Bezogenheit auf Gott vergewissert und bewusst ist und so mit ihm in Gemeinschaft ist. Georg Steitz, ein Rezensent der Dogmatik, fasst diesen Umstand treffend zusammen: »Jene [die religiöse Funktion; Anm. d. Vf.] ist die Grundthätigkeit, die primäre und vorangehende, diese [die ethische; Anm. d. Vf.] die secundäre und nachfolgende, denn das Gewissen muß zuerst Gott gehabt haben, um das Nichtmehrhaben Gottes schmerzlich zu empfinden.« 307
Das bedeutet, dass eben nicht die Erfahrung des Gesetzes und damit die Erfahrung der Anfechtung und des schlechten Gewissens am Anfang stehen, sondern die Gewissheit der unmittelbaren Gemeinschaft mit dem absoluten Ursprungsgeist ist das ursprüngliche Bewusstsein des Menschen.308 Diese Eigenheit zeigt sich auch in Schenkels Bezugnahme auf Luthers Berufung auf das Gewissen: Schenkel bezieht sich hier auf die positive Autorität des Gewissens, in der sich Luther frei von allen menschlichen Autoritäten wusste; die Anfechtungen Luthers, die dieser als schlechtes oder böses Gewissen erfahren hat, nimmt Schenkel dagegen kaum wahr.309 Dieser fundamentale Unterschied trifft dann auch auf die ethische Funktion des Gewissens zu, denn auch hier bleibt der Geist, wie gezeigt wurde, konsequent auf Gott bezogen, selbst wenn sich dies in der Kritik an der eigentlich falschen Bezogenheit äußert und damit einen Zustand widerspiegelt, den es zu überwinden gilt. 307
G. Steitz, Rez. zu: Dogmatik (1859), 334. So geht Schenkel zufolge zwar der Erlösung das Heilsbedürfnis voraus, aber dem Heilsbedürfnis, das aus dem Bewusstsein des So-Sein-Sollens entspringt, geht eben das Bewusstsein der Einheit mit Gott voraus und kann sich erst darauf hin einstellen. 309 Karl Holl hat Luthers Erfahrung der Anfechtung sehr eindrücklich in dem berühmten Aufsatz Was verstand Luther unter Religion? beschrieben. Holl zeigt darin, dass sich für Luther das Gewissen zunächst als schlechtes Gewissen meldet: »Wen Gott in seinem Gewissen straft, um den kümmert er sich, den will er gewinnen. Das kann Luther nur in persönlicher Erfahrung gelernt haben. Es muß einen Augenblick gegeben haben, wo ihn inmitten seiner Qual die Ahnung durchzuckte, daß Gott durch eben diese Pein ihn sucht und zu sich heranzieht.« (K. Holl, Was verstand Luther unter Religion (1932), 29). Insofern kann Holl erklären: »Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Wortes« (aaO., 35), denn das Gewissen ist der Ort der Erfahrung der unbedingten Forderung Gottes an den Menschen. Damit sieht Holl den Fokus bei Luther zunächst auf der Sittlichkeit liegen, indem der Mensch zuerst versucht, sich durch sittliches Handeln vor Gott zu behaupten. Während Holl also »die Krise, in der der vor Gott stehende Mensch sich befindet, zum Angelpunkt seiner Deutung der Theologie Luthers« (J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 162 f.) macht, deutet Schenkel den Protestantismus ganz von der positiven Berufung Luthers auf sein Gewissen als letzte Autorität. Deswegen begreift Holl das Gewissen zunächst auch im Kontext der Sittlichkeit, während Schenkel von der religiösen Bedeutung desselben ausgeht. Schenkel denkt damit primär anthropologisch und ausgehend vom Menschen – freilich in der Bezogenheit auf Gott – während nach Holl Luther primär theozentrisch denkt: »Luther denkt von Gott aus, dessen Ehre es fordert, daß er unnachgiebig auf seinem Willen besteht« (K. Holl, Was verstand Luther unter Religion (1932), 20). 308
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III. Das Wesen des Protestantismus
In dieser damit positiven Fassung dient der Gewissensbegriff Schenkel als hermeneutischer Schlüssel für die Auslegung der Reformation sowie seiner Protestantismustheorie. 4.1.3.2. Gewissen und Gemeinschaft Schenkels Verständnis des Wesens des Gewissens und auch der Religion ist damit allerdings noch nicht vollständig erfasst: Hatte Schenkel im Rahmen der Prinzipiendebatte bereits die Einsicht Schleiermachers hervorgehoben und aufgenommen, dass der Protestantismus auch wesentlich gemeinschaftsbildend sei, versucht er in der Dogmatik auch diesen Aspekt im Rahmen des Wesens des Gewissens und damit der Religion zu verorten. Auffälliger Weise bezieht Schenkel sich in der Dogmatik mit keinem Wort positiv auf Schleiermacher – obwohl dieser ja sowohl in der vierten Rede der Reden über die Religion als auch in der Glaubenslehre seinen Kirchenbegriff aus dem Wesen der Religion herleitet; 310 stattdessen bekräftigt Schenkel seine oben dargestellte Kritik und erklärt, dass von Schleiermachers Standpunkt aus niemals erklärt werden könne, »[w]ie die Religion, wenn sie eine Gefühlsfunktion wäre, einen gemeinschaftsbildenden Charakter an sich tragen könnte«311. Bisher sind Religion als subjektives Verhältnis des Menschen zu Gott sowie das Gewissen als subjektives Vermögen des Menschen bestimmt worden: Das einzelne Subjekt hat Religion, indem es in seinem Gewissen unmittelbar auf Gott bezogen ist und darin eine Gemeinschaft mit ihm bildet. »Er ist darin [in der religiösen Tätigkeit; Anm. d. Vf.] mit seinem Gott alleine, und darum hat auch jeder Mensch ein Recht zu verlangen, daß in dieses innerste geheimnißvolle Verhältniß zwischen ihm und seinem Gott kein Unberufener vorwitzig sich hineindränge.« 312
Diese subjektive Dimension der Religion hebt Schenkel immer wieder hervor, denn »es gehört zu ihrer Eigenthümlichkeit, daß sie in ihrer innersten Lebenswurzel durchaus subjectiv ist und ihren Ausgangspunkt immer aufs Neue wieder in dem stillen und verborgenen, der Welt verschlossenen, Grunde unsichtbarer persönlicher Geister nimmt«313.
Allerdings geht darin das Wesen der Religion noch nicht auf, vielmehr ist sie nach Schenkel auch wesentlich gemeinschaftsstiftend, da es bei allen Menschen
310
Vgl. dazu IV.1.2. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 157. 312 AaO., 156 [Hervorhebung im Original]. Das antiautoritäre Moment, das mit dem Gewissen verbunden ist, kommt hier deutlich zum Ausdruck. 313 Ebd. 311
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
165
ursprünglich dasselbe ist,314 sodass das Gewissen nicht nur das subjektivste, sondern gleichzeitig auch das ›universellste Organ‹ 315 des menschlichen Geistes ist: »Da es der Natur der Sache nach in allen Menschen eigentlich dieselbe Funktion auszuüben hat, so ist es auch ein allen Menschen wesentlich gemeinsames Organ: es ist nicht nur ein Organ des Menschen, sondern ein Organ der Menschheit.« 316
Das Gewissen weist Schenkel somit als anthropologische Konstitutionsbedingung aus, die allen Menschen gemeinsam ist, sodass auch die Religion »ein allgemeines Verhältniß der Menschen zu Gott«317 begründet. Die Einsicht in die Universalität des Gewissens ist für Schenkel insofern relevant, als er dann auf dieser Grundlage behaupten kann, dass das seinem Wesen nach eigentlich subjektive Gewissen auch zum gemeinschaftsbildenden Organ wird: Indem die Subjekte sich anderen mitteilen, fühlen sie »sich auf einander angewiesen und zu einander hingezogen«, und zwar »um so mehr derselbe [der Vollzug der Subjektivität nach außen; Anm. d. Vf.] ein gleichartiger sein wird«318. Durch diesen gleichartigen Vollzug nach außen erfahren sich die Subjekte als gleichsam ›gewissensverwandt‹, sodass Schenkel erklärt: »Die Gleichartigkeit der Gewissensfunktion ist das Band, das sie verbindet; das Gewissen erweist, sobald es sich in Beziehung auf Andere selbst bethätigt, sich immer auch als gemeinschaftsstiftend.«319 Das heißt, das Gewissen, das als solches immer subjektiv ist, wird gemeinschaftsstiftend, indem es Subjekte, deren äußerer Vollzug einander ähnlich ist, als innerer, verwandter Grund miteinander verbindet.320 Letzteres führt zu Schenkels zweitem Argument, das auf den ersten Blick nun wieder stark an Schleiermacher erinnert: Schenkel ist der Überzeugung, dass das Gewissen als das religiöse und sittliche Zentralorgan des Menschen auf das 314 »Das Sein Gottes manifestirt sich vermittelst der normalen Bezogenheit des Selbstbewußtseins auf das Gottesbewußtsein in allen Menschen auf gleiche Weise, wie es ja auch für alle Menschen nur einen und denselben Gott giebt.« (AaO., 157). 315 Auch hier fühlt man sich wieder an Schleiermacher erinnert, wenn es heißt, »daß dieses schlechthinige Abhängigkeitsgefühl (…) nicht etwas zufälliges ist noch auch etwas persönlich verschiedenes, sondern ein allgemeines Lebenselement« (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 33, 205). 316 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 157 [Hervorhebung im Original]. Das impliziert freilich, dass »die wahre Religion in allen Menschen auch nur eine und dieselbe sein« (ebd.) kann, wie Schenkel hervorhebt. Dass es unterschiedliche Religionsgemeinschaften gibt, führt er darauf zurück, dass der ›heile Zustand‹ eben nicht gegeben ist und deshalb »die Gewissenswirkung in verschiedenen Menschen eine verschieden geartete geworden« (aaO., 158) ist. 317 AaO., 157 [Hervorhebung im Original]. 318 AaO., 158. 319 Ebd. 320 Der im Gewissensbegriff immer schon mitgeführte Aspekt der Individualität bleibt an dieser Stelle unterbestimmt. Zwar ist Religion subjektiv und individuell, wie Schenkel immer wieder hervorhebt, indem die religiöse Funktion in ihrem ursprünglichen Zustand allen Menschen gleich ist, scheint der Aspekt der Individualität an dieser Stelle jedoch wieder eingeholt.
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III. Das Wesen des Protestantismus
ganze Subjekt bezogen ist, sodass auch »die Religion in Beziehung auf den Umfang ihrer Thätigkeit nicht auf ein vereinzeltes Organ des menschlichen Geistes eingeschränkt bleiben« kann; sie ist »nicht etwas Apartes im Menschen, sondern die Wahrheit des ganzen Menschen« und hat »eben aus diesem Grunde auch ein Anrecht auf den ganzen Menschen und den gesammten Umfang seiner inneren und äußeren Thätigkeiten«321. Wie oben bereits bemerkt, drückt sich das Gewissen auch in einer bestimmten Relation zur Welt aus und Schenkel präzisiert hier nun, dass das Gewissen und das heißt die Religion die bestimmende Kraft des Subjekts in Bezug auf die Welt ist. Allerdings kann das Gewissen aufgrund seines ausschließlichen Selbstbezugs als solches nicht in der Welt wirken: Aufgrund der strikten Unterscheidung von Geist und Welt ist die Kommunikation mit anderen außerhalb seiner selbst für das Gewissen an sich nicht möglich. Es kann vielmehr nur aus sich heraustreten und gemeinschaftsbildend sein, indem es normierend auf die übrigen, auf die Welt bezogenen Organe des Geistes wirkt: »Aus diesem Bewußtsein der unmittelbaren Gewissheit seines transcendentalen Inhaltes ist das Gewissen nun aber genöthigt herauszutreten, sobald es sich Anderen mittheilen will. Denn eine Mittheilung an Andere ist nur möglich, auf dem Wege der Vernunft-, Willens- oder Gefühlsthätigkeit (…).« 322
Die dann entstehende Gemeinschaft – die niemals die Religion an sich darstellen kann, da sie sich eben nur den auf die Welt bezogenen geistlichen Organen verdankt – ist freilich nur dann dem Wesen der Religion entsprechend, wenn die Superiorität des Gewissens den anderen geistlichen Vermögen gegenüber gewahrt ist. Das Verhältnis des Gewissens zur Vernunft, dem Willen und Gefühl stellt sich nun folgendermaßen dar: Die vom Gewissen in die Pflicht genommene Vernunft »reflektirt als solche auf die religiöse Thätigkeit und entwirft sich ein Bild von dem Wesen und Inhalte jener«, die sie sodann »in der Form von Begriffen und Urtheilen zur erkenntnismäßigen Darstellung« 323 bringt, das heißt in Lehrsätze fasst. Die Vernunft ist dabei freilich nicht unmittelbar auf Gott bezogen, »sondern auf den Menschen, wie er in Gemeinschaft mit Gott ist, und bildet auf diesem Wege das Göttliche der Endlichkeit ein, die ja allein der unmittelbare Gegenstand der Vernunfterkenntniß ist«324. Wenn auch die Lehrsätze mit dem Inhalt der Religion nicht zu identifizieren sind, so stehen sie dennoch in einem engen Verhältnis miteinander. Schenkel konstatiert, 321
AaO., 159. AaO., 161 f. 323 AaO., 160. 324 AaO., 161. 322
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
167
»daß die Form der erkennenden Thätigkeit in ihrem Verhältnisse zum Inhalte der religiösen Erfahrung lediglich eine symbolisirende sein kann, d. h. daß die religiösen Erkenntnisse wohl bedeutungsvolle Zeichen für die unmittelbare Gewissenssubstanz, niemals aber identisch mit dieser selbst sind. Die religiöse Erfahrung verhält sich zur religiösen Erkenntnis wie das Urbild zum Symbol.« 325
In der Lehre wird die Religion also in mehr oder weniger vernünftigen Lehrsätzen im Zusammenhang dargestellt und auf diese Weise dem Wesen der Vernunft entsprechend in die Welt hineingebildet. Dabei ist Lehre nicht nur Ausdruck einer Privatmeinung, sondern sie ist »das Gesammtbild und Gesammtsymbol des in einer religiösen Gemeinschaft geschichtlich entstandenen und gleichzeitig vorhandenen religiösen Bewußtseins«326 . Allerdings erschöpft sie sich nicht darin, bloßer Ausdruck des religiösen Bewusstseins einer Gemeinschaft zu sein, sondern sie zielt vielmehr auch positiv auf den Auf bau und Erhalt dieser Gemeinschaft: Wie die Lehrsätze Reflex und Ausdruck der religiösen Erfahrung eines Subjekts in einer bestimmten Gemeinschaft sind, so soll mithilfe der symbolisierenden Lehrsätze dieselbe religiöse Erfahrung in einem anderen Subjekt wiederum angeregt werden.327 Insofern sind die Lehrsätze wesentlich für den Auf bau und Erhalt der Gemeinschaft.328 Allerdings betont Schenkel – und hebt damit einmal mehr den subjektiven Charakter des Gewissens und der Religion hervor – dass diese Wirkung der Lehre nur dort erfolgreich sein kann, wo sie auf ein zumindest in geringen Maßen bereits vorhande325 AaO., 163. Die Richtigkeit und Angemessenheit der Lehrsätze hängt dabei von zwei Faktoren ab: zum einen von der religiösen Lauterkeit des Subjekts, zum anderen von der »Correktheit der erkennenden Vernunftthätigkeit« (aaO., 165). Beides ist in den Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt, sodass es Schenkel zufolge in einer Gemeinschaft immer Lehrer und Schüler gibt. »Daher lassen sich unter den religiös angeregten Menschen von vorn herein zwei verschiedene Arten voneinander unterscheiden: diejenigen, welche als die religiös schwächer Angeregten sich receptiv verhalten (…) und diejenigen, welche als die religiös stärker Angeregten sich zum Producieren aufgefordert und die in ihnen vorfindliche religiöse Erfahrung auf Andere zu übertragen in sich den Trieb fühlen (…).« (AaO., 165 f.). 326 AaO., 166. Der hier implizierte gemeinschaftliche Aspekt der Lehre ist auch schon in Schenkels Definition der Dogmatik deutlich geworden, wenn er schreibt, dass der Dogmatiker die Wahrheit des christlichen Heils so darstellt, »wie dieselbe geschichtlich vermittelt ist in der Form des christlichen Gemeindebewußtseins« (aaO., 1). 327 »In der ursprünglichen erkennenden Thätigkeit ist die Religion immer der das Erkennen hervorbringende Faktor. Das Zeichen hat mithin nur die Bestimmung, von sich hinweg auf den ursprünglich hervorbringenden Faktor zurückzuweisen und denselben in denen, welche das Lehrprodukt in sich aufnehmen, zu reproducieren. Die religiösen Erkenntnisse sind demzufolge niemals sachliche Selbstzwecke, sondern immer nur symbolische Erregungsmittel. Sie sollen in dem sie aufnehmenden Subjekte dieselbe religiöse Erfahrung noch einmal bewirken, von welcher sie selbst bewirkt und aus welcher sie unmittelbar hervorgegangen sind.« (AaO., 168). 328 Dies scheint Schenkels These zu widersprechen, dass das Subjekt Religion immer nur im Selbstbezug finden und haben kann. M. E. nimmt Schenkel hier Einsichten vorweg, die er erst später entfaltet, wenn er den faktisch sündhaften Zustand der Menschheit stärker in den Blick nimmt. Trotzdem wird auch hier deutlich, dass die religiöse Tätigkeit des Subjekts immer vorgeordnet bleibt.
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III. Das Wesen des Protestantismus
nes religiöses Bewusstsein stößt. Die Symbole können überhaupt nur dann verstanden und angeeignet werden, wenn »der innere religiöse Sinn (…) den Geist der religiösen Gedanken zu verstehen [vermag]; für die irreligiöse Gesinnung bleiben diese Gedanken stets nur eine unverständliche Hieroglyphensprache«329. Die Superiorität des Gewissens über der Vernunft ist also nicht nur im Entstehen, sondern auch im Aufnehmen von religiösen Lehrsätzen entscheidend: Das Subjekt muss erst überhaupt ein religiöses Bewusstsein haben, um dann die Lehrsätze aufnehmen zu können. Dieses Verhältnis kann Schenkel zufolge jedoch nicht von außen hergestellt werden, sondern muss im Subjekt ursprünglich im Selbstbezug auf sein Gewissen gegeben sein. Neben dem Bedürfnis, die religiöse Tätigkeit des Geistes in Gedanken und Lehrsätzen abzubilden, hat das religiöse Subjekt ebenso das Bedürfnis, so Schenkel, die Gemeinschaft »zu einem wirklichen Spiegel und Abbilde des religiösen Geistes zu machen«330. Dieses Bedürfnis drückt sich im öffentlichen Kultus aus. Indem das Gewissen auf den Willen wirkt, will es »das innerlich vorhandene religiöse Leben der Gemeinschaft auch in gemeinsamem öffentlichem Thun zur Darstellung«331 bringen. Dabei spiegelt sich im Kultus das Gewissen sowohl in seiner religiösen als auch sittlichen Funktion wider, »je nachdem jenes den Ausdruck schon vorhandener, oder erst noch wiederherzustellender Gemeinschaft mit Gott enthält«332 . Wie auch in Bezug auf die Lehre warnt Schenkel davor, Religion mit dem Kultus zu identifizieren und zu verwechseln: Religion ist der Grund des Kultus und wesentlich von diesem unterschieden, auch der Kultus ist nur ›symbolisches Zeichen‹. Dabei dient der Kultus wie auch die Lehre dem Auf bau der Gemeinschaft, allerdings hat er eine andere Zielrichtung: »Während jene [die religiösen Gedanken und Lehren; Anm. d. Vf.] die Gemeinschaft nach innen weisen, damit innerhalb derselben ein gleichmäßiges religiöses Verhältniß zu Gott entstehe: so weisen diese die Gemeinschaft nach außen, um innerhalb derselben ein gleichmäßiges sittliches Verhalten in Beziehung auf die Welt zu Stande zu bringen.« 333
Unter sittlichem Verhalten versteht Schenkel hiernach ein der religiösen Erfahrung angemessenes Verhältnis der Gemeinschaft zur Welt, das durch den gemeinsamen öffentlichen Kultus hergestellt werden soll, indem »ein jeder dazu mitwirkt, das, was Gott zuwider ist, aus dem Leben der Gesammheit auszuscheiden, das, was Gott gemäß ist, in dasselbe hineinzupflanzen«334. 329
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 168 f. AaO., 170 f. 331 AaO., 171. 332 Ebd. 333 AaO., 172. Dieser Unterschied spiegelt damit die Funktion von Vernunft und Willen wider, vgl. III.4.1.2.1. 334 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 172. 330
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Abschließend bleibt noch das Verhältnis von Gewissen und Gefühl, das Schenkel zufolge ja gar kein geistliches Vermögen ist, zu klären. Dennoch ist auch das vom Gewissen normierte Gefühl für den Auf bau und Erhalt der Gemeinschaft essentiell – es empfindet Freude über die Gemeinschaft mit Gott sowie Schmerz über die Trennung von Gott. Je stärker in den Mitgliedern einer Gemeinschaft nun die Freude über die Gemeinschaft mit Gott herrscht, desto stärker werden sie sich Schenkel zufolge miteinander verbunden fühlen. Das Gefühl ist damit der entscheidende zur Gemeinschaft beitragende Faktor. Konkret äußert sich dies in der kirchlichen Verfassung: Je stärker das vom Gewissen normierte Gefühl am religiösen Leben beteiligt ist, desto weniger Regeln sind nach Schenkel für das Bestehen der Gemeinschaft notwendig. Eine starke äußere kirchliche Verfassung, mithilfe derer die Gemeinschaft zwanghaft hergestellt werden soll,335 deutet umgekehrt gerade darauf hin, dass die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft sich nicht durch ein gleichartiges religiöses und sittliches Bewusstsein aufeinander bezogen fühlen: »Denn es bedarf nicht erst eines Nachweises, daß je mehr die inneren Motive lebendiger Freude über alles Gottgemäße und aufrichtigen Schmerzes über alles Gottwidrige, der Liebe zu Gott und des Widerwillens gegen das Böse, die Gemeinschaft zusammenhalten: desto weniger die Impulse der Selbstsucht oder des Zwanges zu Hülfe genommen werden müssen, um die Auflösung zu verhüten (…).« 336
Obwohl Religion also primär die Realisierung der individuellen Gottesbeziehung ist, drängt sie zur Gemeinschaft und ist somit auch gemeinschaftsbildend. Dies ist darin begründet, dass das Gewissen als religiöses und ethisches Zentral organ einerseits das subjektivste, gleichzeitig aber auch das universellste geistliche Organ des Menschen ist. Insofern das Subjekt vermöge seines Gewissens allerdings nur auf Gott und sich selbst bezogen ist, kann es gemeinschaftsbildend in Bezug auf andere nur dann sein, wenn es auf die übrigen geistlichen Funktionen sowie das Gefühl einwirkt. Dabei kommt alles darauf an, ein ausgewogenes Verhältnis von Gewissen einerseits und Vernunft, Wille und Gefühl andererseits herzustellen, in dem die Superiorität des Gewissens und damit das Recht des Subjekts immer gewahrt bleibt. Diese Superiorität des Gewissens und darin auch des Subjekts gegenüber der Gemeinschaft zeigt sich besonders, wenn Schenkel festhält, dass »das religiöse Vermögen, wie es an sich ist, durch seinen bestimmenden Einfluß auf die übrigen Vermögen nicht stärker« wird und es »entwickelt sich nicht an ihnen«337. 335 »[V]or der Reformation (…) war die christliche Gemeinschaft beinahe ganz in Verfassungseinrichtungen aufgegangen, und nur dadurch war es möglich, sie wieder in die rechte innere Verfassung zurückzubringen, daß die äußere ihrer Auflösung überlassen wurde.« (AaO., 175). 336 AaO., 176. 337 AaO., 159.
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III. Das Wesen des Protestantismus
Schenkel versucht also Individualität und Freiheit des Subjekts mit der Gemeinschaft zusammenzuführen, indem er einerseits nachzuweisen sucht, dass es der Religion wesentlich ist, gemeinschaftsbildend zu sein und andrerseits die Priorität des Subjekts vor allem anderen betont. Schenkel kann so zwar zeigen, dass Religion als innerster Punkt des Subjekts auch nach außen drängt und insofern gemeinschaftsstiftend ist. Allerdings gelingt ihm die Vermittlung von Individualität und Gemeinschaft letztlich nicht überzeugend, da er nicht zeigt – und das ist ein großes Defizit gegenüber Schleiermacher, wie sich in Kapitel IV zeigen wird – wie die individuelle Gewissensfreiheit die Grundlage einer für sie konstitutiven Gemeinschaft sein kann.338 Das Subjekt weiß sich, wie gezeigt wurde, mit Gott in seinem Gewissen verbunden und dieses Bewusstsein gewinnt es, indem es sich auf sich selbst bezieht, ein Impuls von außen ist dafür gerade aufgrund der strikten Unterschiedenheit von Gott und Welt nicht notwendig.339 Durch die Konzentration und Vorordnung des auf sein Gewissen bezogenen Subjekts konstruiert Schenkel ein so asymmetrisches Verhältnis von Religion und Gemeinschaft, dass er dann beide nicht mehr als wesentlich aufeinander bezogen zusammendenken kann. Zwar geht Schenkel durchaus von Rückwirkungen der Lehre, des Kultus und der Verfassung bzw. Gemeinschaft auf das religiöse Subjekt aus, allerdings zeigt er nicht, inwiefern diese Rückwirkungen für die religiöse Funktion des Gewissens wesentlich sind oder wie diese sich auswirken. Vielmehr betont er stets wieder die subjektive Dimension der Religion. Schenkels Aussagen über die Funktion und Wirkung von Lehre, Kultus und Verfassung stehen dazu in Spannung. Gleichwohl impliziert das Verhältnis von Gewissen und Vernunft, Wille und Gefühl, dass die Gestalt der religiösen Gemeinschaft unmittelbar vom Religionsbegriff abhängt: Liegt ein mangelhafter Religionsbegriff vor, sei es durch eine falsche Bestimmung des Religionsorgans und dem dadurch entstehenden falschen Verhältnis der geistlichen Vermögen zueinander oder auch durch eine einseitige Betonung der religiösen oder sittlichen Funktion des Gewissens, kann auch die religiöse Gemeinschaft nur ein mangelhafter Ausdruck der Religion oder gar ihre Verzerrung sein.340 Religionsbegriff- und Kirchenverständ338 Das religiöse Bewusstsein »ist sich seiner und seiner unmittelbaren Bezogenheit auf Gott in sich selbst vollkommen gewiß; es schöpft aus sich selbst allein die Quelle seiner Kraft, und nicht etwa aus dem Denken, Wollen u.s.w.; es bleibt auch ungeachtet seiner Vermittelung mit den übrigen Organen doch wesentlich in sich selbst und nur die Möglichkeit ist während dieses Vermittlungsprocesses für dasselbe vorhanden, daß es von seiner ursprünglichen Kraft verliere, daß es an das Denken, Willen u.s.w. ungehörige Concessionen mache.« (Ebd.). 339 Dies gibt Schenkel auch selbst zu: »In der religiösen Thätigkeit ist der Mensch mithin zunächst ganz für sich (…). Eben deßhalb ist es aber auch irrig, die Religion an sich schon als ein Verhältniß des Einzelnen zur Gemeinschaft, oder der Gemeinschaft zu dem Einzelnen zu betrachten.« (AaO., 156). 340 Vgl. aaO., Elftes Lehrstück, 177 – 195. Krankhafte religiöse Gemeinschaften sind in Schenkels Augen: der Mystizismus und Moralismus, die auf einer einseitigen Betonung der
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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nis hängen demnach untrennbar miteinander zusammen, wie Kapitel IV zeigen wird. Im Gewissens- und damit auch Religionsbegriff hat Schenkel letztlich die drei für den Protestantismus wesentlichen Dimensionen – Subjekt, Gott sowie die Einheit von Subjekt und Gott, oder anthropologisch, theologisch und theanthropologisch – integriert. Das Wesen des Protestantismus scheint deswegen mit dem Religionsbegriff zusammenzufallen. Allerdings präzisiert Schenkel in der Dogmatik den Protestantismusbegriff dahingehend, dass er das Wesen des Protestantismus als ›wiederherstellend‹ charakterisiert, wie es auch schon in der Prinzipiendebatte angeklungen ist. Schenkel weist dem Protestantismus damit im Bezug auf das Christentum als wahre Religion einen bestimmten geschichtlichen Ort bzw. eine Aufgabe zu, die ihren Ausgang darin nimmt, dass der Mensch sich faktisch in seinem Gewissen nicht auf sich selbst, und damit nicht auf seinen Ursprung bezieht, sodass entsprechend auch das Verhältnis von Gewissen und den übrigen geistlichen Vermögen sowie dem Gefühl gestört ist und der Wiederherstellung bedarf.
4.2. Das Wesen des Protestantismus: Die Wiederherstellung der wahren Katholizität Obwohl Schenkel die Dogmatik bewusst als ›Christliche Dogmatik‹ verstanden wissen will, erörtert er im dritten und letzten Hauptstück des ersten Bandes Von der Ueberlieferung341 im Rahmen der Lehrgrundlegungen auch das Wesen des Protestantismus. Diese Einordnung unterstreicht bereits, dass Schenkel das Wesen des Protestantismus nicht an bestimmte materialdogmatische Inhalte knüpft und es sich auch nicht in bestimmten Lehren ausspricht, sondern diese vielmehr dem Wesen des Protestantismus nachgeordnet, also sekundär sind. Grundlegend für das Wesen des Protestantismus ist der dargelegte Gewissensbegriff, wie Schenkel auch in seiner Vorstellung der Dogmatik in der AKZs erklärt: »Der Protestantismus hat gar keinen Boden mehr, wenn er den Standpunkt des Gewissens aufgibt.«342 In dem Protestantismuskapitel der Dogmatik präzisiert Schenkel nun allerdings seine Protestantismustheorie noch weiter, indem hier Einsichten zum Tragen kommen, die er aus dem Offenbarungsbereligiösen bzw. ethischen Gewissensfunktion beruhen; der Orthodoxismus und Rationalismus, bei denen die Bezogenheit des Gewissens auf die Vernunft gestört ist; der Hierarchismus sowie Individualismus, bei denen die Bezogenheit des Gewissens auf den Willen gestört ist; und schließlich die Sektenbildung bei der das Verhältnis von Gewissen und Gefühl falsch ist. Die krankhaften religiösen Gemeinschaften sind damit alle Ergebnis eines falsch zugrunde gelegten Religionsbegriffs. 341 AaO., 390 – 500. 342 D. Schenkel, Christliche Glaubenslehre (1860), 28.
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III. Das Wesen des Protestantismus
griff als der zweiten Quelle der Dogmatik gewonnen hat, und die für das Wesen des Protestantismus ebenfalls wesentlich sind. 4.2.1. Wahre Katholizität In dem Kapitel Das Wesen des Protestantismus343 beschreibt Schenkel im Leitsatz Ausgangspunkt und Ziel des Protestantismus folgendermaßen: »Der Protestantismus ist im Gegensatze zum falschen Katholicismus, aber zugleich in der bewußten Absicht und mit dem wohlberechtigten Anspruche entstanden, die wahre Katholicität in der Christenheit wiederherzustellen.« 344
Wie üblich definiert Schenkel das Wesen des Protestantismus zunächst ausgehend vom Protest gegen den sogenannten falschen Katholizismus und zeigt zudem auf, dass das Wesen des Protestantismus nicht im bloßen Protest und der Negation aufgeht, sondern dem falschen Katholizismus vielmehr ein positives Ziel gegenüberstellt. Der falsche Katholizismus geht von einem grundlegend verkehrten, weil der Welt verhafteten Religionsbegriff aus und verhindert somit ein persönliches Gottesverhältnis des Subjekts.345 Der ›echte Katholizismus‹ weiß sich demgegenüber unmittelbar auf Gott bezogen und zielt auf das persönliche Gottesverhältnis des Subjekts. Dabei ist jedoch nicht nur das einzelne Subjekt im Blick, sondern vielmehr die gesamte Menschheit, deren Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt werden soll. Der einzige Bezugspunkt des echten Katholizismus ist Gott. Der Protestantismus zielt seinem Wesen nach also nicht auf die Aufrichtung einer bestimmten kirchlichen Glaubensgemeinschaft, und es geht auch nicht darum, ihn als eigentümliche Gestalt des Christentums zu profilieren. Sein Ziel ist viel weiter gefasst: Er ist darauf ausgerichtet, die gesamte Menschheit wieder in ein persönliches Gottesverhältnis und das heißt in Einheit mit ihrem Ursprung zu bringen, das Subjekt also zu seinem unmittel343
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 427 – 4 42. AaO., 427. 345 Schenkel fasst den Grundfehler des Katholizismus in diesem Zusammenhang noch einmal sehr anschaulich zusammen: »Der Grundirrthum beider unächt katholischer Richtungen [Schenkel unterscheidet hier zwischen dem ›amtshierarchischen‹ und dem ›lehrhierarchischen‹ Katholizismus; Anm. d. Vf.] ist im Wesentlichen ganz derselbe; beide halten, indem sie das Wesen der Religion als einer Gewissensbezogenheit auf Gott, verkennen, das Heil für erwirkbar durch die äußere Zustimmung zu den durch menschliche Vernunft- und Willenskraft vermittelten Formen religiöser Erkenntniß und ethischen Handelns; beide verzichten auf die freie Thätigkeit der Gewissen; beide scheuen sich nicht, es auszusprechen, daß der kirchliche und theologische Gehorsam, so weit thunlich, auch erzwungen werden müsse. Indem sie das Princip der gläubigen Subjektivität, d. h. freier innerer Aneignung und überzeugungsvoller äußerer Darstellung der Heilswahrheit, diese tiefe Lebenswurzel aller Religion, für die Gemeinschaftsgenossen preisgeben, zerstören sie die unentbehrliche Grundlage aller Heilsentwicklung, und verwandeln die christliche Gemeinde aus einer lebendigen Trägerin des religiösen Geistes und der sittlichen Kraft in eine gesetz- und leider auch weltförmige Rechts- und Machtanstalt.« (AaO., 422). 344
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
173
baren, und das heißt freien Gottesverhältnis zu befreien.346 Insofern ist der Protestantismus ›Dienst an der Religion‹ und hat Schenkels Protestantismustheorie eine immanent kritische Funktion gegenüber falschen Heteronomieansprüchen mit denen das Subjekt konfrontiert wird. Indem Schenkel zunächst auf die Entstehung und den Ursprung des Protestantismus rekurriert, ruft er auch in der Dogmatik für die Definition des Wesens des Protestantismus die Reformation als Zeugin und wesentlichen Ausgangspunkt seiner Betrachtung auf: »Unter allen Umständen muß (…) der eigen thümliche Geist, der innerste schöpferkräftige Quellpunkt, aus welchem der Protestantismus entsprungen, aus den Quellen der Reformationszeitalter sich aufzeigen und beschreiben lassen«347. Der Protestantismus nimmt seinen Ausgang vom Subjekt in seiner Bezogenheit auf Gott,348 allerdings präzisiert Schenkel diese Einsicht in diesem Kapitel der Dogmatik noch weiter: Der Protestantismus ist nicht nur auf das religiös bestimmte Subjekt in seiner Gebundenheit an Gott zurückgegangen, »sondern auf dasselbe, wie es im Gewissen zugleich auch an das Objekt des göttlichen Wortes gebunden ist: also auf die subjektive Freiheit des Gewissens in ihrer objektiven Gebundenheit durch die Wahrheit der schriftgemäßen Offenbarungskunde hat der Protestantismus sich ursprünglich gegründet« 349.
Der grundlegende Ausgangspunkt ist zwar das Gewissen, aber es ist das Gewissen in seiner Gebundenheit an die göttliche Offenbarung. Damit knüpft Schenkel an Ergebnisse an, die er im Rahmen seiner Ausführungen zur zweiten Erkenntnisquelle – eben der göttlichen Offenbarung – gewonnen hat, und die an dieser Stelle nun für ein vollständiges Bild von Schenkels Protestantismusverständnis kurz skizziert werden müssen. 4.2.2. Offenbarung und Glaube Die Offenbarung versteht Schenkel als zweite Erkenntnisquelle des christlichen Heils. Sie trägt vor allem dem faktischen Zustand der Menschheit als im Widerspruch zu ihrem Wesen und ihrer Bestimmung stehende Rechnung. Unter Offenbarung versteht Schenkel »eine derartige persönliche Selbstmittheilung des göttlichen Geistes an den menschlichen, vermöge welcher Gott demselben das Heil innerhalb der heilsgeschichtlichen Entwicklung auf unmittelbare Weise darbietet«350. Das Zentrum des wiederherstellenden Heilshan346 Schenkel nimmt damit hier auf und führt fort, was er im Rahmen der Prinzipiendebatte als das ›theanthropologische Prinzip‹ eingeführt hat, vgl. III.2.5. 347 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 429. Damit richtet sich Schenkel gegen Schleiermacher, der in der Reformation primär das »reinigende Bestreben« des Protestantismus erkannt hatte, vgl. III.3. 348 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 429. 349 AaO., 429 f. 350 AaO., 223.
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III. Das Wesen des Protestantismus
delns Gottes ist Christus, er »ist diese vollkommen heilskräftige, unbedingt Gott angemessene Persönlichkeit, welche das Centrum der heilsgeschichtlichen Offenbarungen (…) bildet.«351 Die Pointe dieses Offenbarungsbegriffs zeigt sich besonders im Gegenüber zur Religion, denn zwischen Offenbarung und der religiösen Tätigkeit ist klar zu unterscheiden, da Schenkel zufolge der Modus von Offenbarung und Religion ein anderer ist: In der religiösen Funktion, die dem Menschen angeboren ist, das heißt mit dem Wesen des Menschen gesetzt ist, teilt Gott sein ewiges Wesen unmittelbar im Gewissen des Menschen mit, »so daß der Mensch in Folge dessen sich bewußt wird, an dem ewigen, heiligen Wesen Gottes die Wahrheit und Vollkommenheit seines eigenen Wesens zu haben. Das Eigenthümliche in der religiösen Funktion ist also ein Bewußtsein des menschlichen Geistes, daß er als solcher Theil an Gott, und in der Gemeinschaft mit dem göttlichen die Bürgschaft für die Wahrheit seines eigenen Wesens besitzt.« 352
Während in der Religion das Subjekt in seiner Bezogenheit auf Gottes Wesen im Blick ist, teilt Gott in der Offenbarung dagegen, so Schenkel, nicht in erster Linie sein ewiges Wesen, sondern sein Leben mit, und zwar »wie es innerhalb der heilsgeschichtlichen Bewegung und Entwicklung ein geschichtlich wiederherstellendes ist«353. In der Offenbarung kommt damit im Unterschied zur Religion der faktische ›gottwidrige Zustand‹ der gesamten Menschheit zum Tragen, wie schon der Begriff ›wiederherstellend‹ zeigt. Die göttliche Offenbarung konsitutiert nicht das Gottesverhältnis, sondern bringt allein die ursprüngliche Gottunmittelbarkeit des Subjekts wieder zu Bewusstsein. Darüber hinaus impliziert die Offenbarung eine geschichtliche Entwicklung – sie ist im Gegensatz zur Religion also wesentlich prozesshaft und dynamisch gedacht – weshalb durch sie die Wiederherstellung der Heilsgemeinschaft überhaupt ermöglicht wird: »Das Heil ist eine geschichtliche Veranstaltung Gottes, durch welche nicht blos der Mensch an sich, sondern die Menschheit in ihrer Totalität aus dem gottwidrigen Zustande in den gottgemäßen zurückversetzt wird. Daher bezieht sich auch das Heil niemals auf die einzelnen Individuen als solche, sondern immer auf die Gesammtheit der Gemeinschaft.« 354 351
AaO., 337. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Schenkels Christologie ausführlich zu entfalten: Schenkel versteht Jesus als Urbild der Menschheit und historische Verwirklichung des Ebenbildes Gottes, da in ihm »das Selbstbewußtsein Gottes, sofern es von Ewigkeit bezogen ist auf die Menschheit, (…) seine vollkommene menschheitliche Selbstoffenbarung gefunden hat« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 643). Es ist auch sachlich begründet, an dieser Stelle nicht auf die Christologie einzugehen, da Schenkel die Christologie erst im zweiten Teil der Dogmatik in den Lehrausführungen entfaltet, während die Offenbarung als zweite Quelle der Dogmatik, um die es an dieser Stelle geht, wie auch das Wesen des Protestantismus zu den Lehrgrundlegungen gehört. 352 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 226. 353 Ebd. 354 Ebd.
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Die Offenbarung Gottes hat also die Wiederherstellung der Gemeinschaft von Gott und Mensch, und zwar aller Menschen zum Ziel. Schenkel zieht aus der Unterscheidung von Religion und Offenbarung nun die Schlussfolgerung, dass »der religiöse Mensch an sich nicht einer Offenbarung Gottes« bedarf, dass es aber im Wesen der Offenbarung begründet ist, »daß, was dem Einzelnen an Heilsbewußtsein mitgetheilt wird, immer für die Gemeinschaft, d. h. zur Förderung der heilsgeschichtlichen Entwickelung, verwendet wird«355. Der Aspekt der Gemeinschaft rückt somit in den Mittelpunkt des Offenbarungsgeschehens, während Schenkel gleichzeitig auch hier die wesentlich individuelle und subjektive Dimension des Religionsbegriffs hervorhebt. Diese Aussage scheint zunächst in Spannung zum Gewissens- und Religionsbegriff zu stehen, für die Schenkel ebenfalls behauptet hatte, dass sie wesentlich gemeinschaftsbildend seien. Diese Spannung lässt sich dann verstehen, wenn man den Offenbarungsbegriff im Gegensatz zum Religionsbegriff eben stärker im Kontext des faktischen gottwidrigen Zustands des Menschen versteht.356 Eine Entwicklung zur Heilsgemeinschaft ist nur durch die Selbstoffenbarung Gottes möglich: Während das Gewissen seinem Wesen nach immer dasselbe und demnach ungeschichtlich ist, sodass allein von ihm aus keine Entwicklung möglich ist, ist die Offenbarung wesentlich geschichtlich; »weil jeder Offenbarungsakt ein geschichtlich Neues, menschheitlich noch niemals Dagewesenes enthält, so muß auch von der Kunde eines solchen jedesmal ein neuer göttlicher Lebensreiz auf die Menschheit ausgeübt werden«357. Von der Offenbarung geht damit der entscheidende Impuls zur geschichtlichen Entwicklung der Heilsgemeinschaft aus und das heißt auch zur Wiederherstellung der echten Katholizität. Entscheidend ist an dieser Stelle das Verhältnis von Offenbarung und Gewissen, denn »die offenbarende Thätigkeit Gottes (…) [ist] auf die Gewissenssphäre beschränkt (…). Offenbarung giebt’s nun einmal nur da, wo Gott selbst persönlich offenbar wird, d. h. ein ewiges Heilsleben thatsächlich mittheilt.«358 Das Gewissen und damit die Religion bleiben demnach der Offenbarung vorgeordnet: »Das Gewissen ist – darauf ruht ja das ganze Gebäude unserer Dogmatik – der geborne Träger alles dessen, was von Gott kommt, und da die Offenbarung das größte Werk Gottes in Beziehung auf den Menschen ist, so kann auch hier nur Gleichartiges wieder
355
AaO., 226 f. So auch G. Steitz, Rez. zu: Dogmatik (1859), 342. 357 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 239. Demgegenüber gilt: »Die Religion, d. h. die religiöse Thätigkeit als solche, ist selbstverständlich ungeschichtlich; denn sie ist in jedem Menschen und zu allen Zeiten ihrem Wesen nach dieselbe. Hätten die Menschen nur Religion, so gäbe es keine menschheitliche religiöse Entwicklung, keinen lebendigen Fortschritt nach dem Ziele der Heilsvollendung hin.« (Ebd.). 358 AaO., 234. 356
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III. Das Wesen des Protestantismus
Gleichartiges, d. h. nur der auf Gott bezogene Geist im Gewissen sein ihm verwandtes Produkt, erkennen.« 359
Die Erkenntnis der Offenbarung wird damit an das Gewissen gebunden. Indem der Protestantismus nach Schenkel vom Rückgang des Subjekts auf sein Gewissen ausgeht, geht er damit dann aber eben nicht nur auf die persönliche und unmittelbare Bezogenheit eines jeden Subjekts auf Gott zurück und lässt die Gottesgemeinschaft des Individuums damit zu seinem Recht kommen, sondern nur durch den Bezug auf das Gewissen kann die Offenbarung im Subjekt zu ihrem Ziel kommen. Damit zeigt sich, dass von der Religion bzw. dem richtigen Religionsorgan in seinem uneingeschränkten und unbedingten Bezug ausschließlich auf den absoluten Geist auch das richtige Verständnis der Offenbarung abhängt. Damit bleibt dann auch die Wiederherstellung der menschheitlichen Heilsgemeinschaft mit Gott unbedingt an das Gewissen gebunden. In der Offenbarung nimmt die Schrift bei Schenkel eine herausragende Bedeutung ein. Hier ist also das Schriftprinzip, dem Gewissen nachgeordnet, aufgehoben, denn: »War aber der Protestantismus vermitteltest seiner primitiven Gewissensaktion zunächst auf Gott selbst zurückgeführt worden, so entstand nothwendig die weitere Frage, wo denn Gott in seiner reinsten Selbstoffenbarung und vollkommensten Wesensmittheilung zu finden sei?« 360
Durch diese Frage wird der Protestantismus nun Schenkel zufolge »von selbst auf die verhältnißmäßig lauterste Quelle der göttlichen Heilswahrheit, die h. Schrift, hingewiesen«361. Demnach hat der Protestantismus durch den Bezug auf das Gewissen die Schrift »wieder aufgedeckt und zu verdienten neuen Ehren gebracht«362 . – Nicht also die Schrift hat den Protestantismus hervorgebracht, sondern der Protestantismus die Schrift, sodass folglich die Schrift nicht Prinzip des Protestantismus sein kann. Die Schrift stellt, so Schenkel, das Korrelat zur Offenbarungsgeschichte dar; in ihr haben Autoren, die ihnen zuteil gewordene Selbstmitteilung Gottes festgehalten und weitergegeben,363 in ihr ist von den Autoren »das Bild Christi, seiner Person, seines Werkes, seiner Wirkungen«364 überliefert worden. Die Schrift ist deswegen nicht selbst göttliche Offenbarung, sondern menschliche Offenbarungskunde,365 die der Auslegung bedarf, denn »so kommt nun Alles 359
AaO., 304. AaO., 435. 361 Ebd. 362 Ebd. 363 Vgl. aaO., 291 f. 364 D. Schenkel, Christliche Glaubenslehre (1860), 28. 365 In der Differenzierung von göttlicher Offenbarung und menschlicher Offenbarungskunde kommt erneut Schenkels klare Unterscheidung von Geist bzw. Gott und Welt zur Geltung. 360
4. Der Protestantismus als Gewissensreligion
177
darauf an, den heilsgeschichtlichen Kern aus der weltgeschichtlichen Schaale (sic!) herauszuschälen, und die in dieser enthaltenen Heilskunde dem Glauben zugänglich zu machen«366 . Dieser ›heilsgeschichtliche Kern‹ kann nach allem, was bisher über das Verhältnis von Gott und Mensch erörtert wurde, freilich nur durch das Gewissen eruiert werden: »Wie die Schrift aus dem Geiste des Gewissens hervorgegangen ist; wie nur das Gewissen über die Dignität einer Offenbarungsurkunde zu entscheiden vermag: so muß die Schrift auch aus dem Geistes des Gewissens heraus ausgelegt werden, so vermag auch nur der Geist des Gewissens den Inhalt der Offenbarungskunde wahr zu deuten.« 367
Die Freiheit der Schriftforschung ist somit im Wesen des Protestantismus impliziert und sie stellt deswegen eine der wichtigsten Forderungen Schenkels dar: Göttliche Autorität hat die Schrift nur insofern, als das Gewissen ihr diese zuschreibt. Das Gewissen ist der hermeneutische Schlüssel für Schrift und Offenbarung. Nur indem das Subjekt sich in seinem Gewissen auf die Offenbarung bezieht, kann es die wiederherstellende Tat, die in der Offenbarung sichtbar wird, in sich aufnehmen und aneignen. Diese freie Aneignung der göttlichen Heilstat durch das Subjekt versteht Schenkel als Glaube, der »selbst nichts Anderes als eine gesteigerte Gewissensthätigkeit«368 ist. Glaube und Gewissen bilden, wie oben aufgezeigt worden ist, einen unauflöslichen Zusammenhang, wobei das Gewissen die Quelle des Glaubens ist: »Der Glaube ist in der That der Selbstvollzug des Gewissens auf dem Grunde der christlichen Heilsoffenbarung, die Offenbarung des Gewissens in der Art, wie es sich entwickelt hat unter der Einwirkung des Personlebens Christi.«369 Der Protestantismus hat wie auch die Schrift somit den Glauben hervorgebracht, denn erst durch das Gewissen in seiner Gebundenheit an die göttliche Offenbarung entsteht Schenkel zufolge der Glaube, sodass das Subjekt sich der »wiederhergestellten Gemeinschaft des menschheitlichen Gesammtlebens mit Gott für seine Person«370 bewusst wird und also die religiöse Funktion des Gewissens des Menschen auf Gott wiederhergestellt wird.371 Die Rechtfertigung 366 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 319. »In dem Personleben Jesu Christi erschloß sich dem Protestantismus die vollendete Fülle des der Menschheit geoffenbarten göttlichen Heils; in der Schrift stellte sich ihm das persönliche Bild Christi in reiner unverfälschter Zeichnung dar (…).« (AaO., 435). 367 AaO., 328. 368 AaO., 434. 369 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 869. Der Glaube ist also nicht mit dem Glauben bzw. Glaubensbewusstsein, von dem Schenkel im Rahmen der Bestimmung des Gewissensbegriffs spricht, zu identifizieren, der da als noch nicht inhaltlich bestimmt, beschrieben wurde, vgl. dazu III.4.1.3.1. 370 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 865. 371 In Bezug auf die Rechtfertigungslehre bedeutet das, dass auch diese nicht Prinzip des Protestantismus sein kann: »Bevor die Lehren von der alleinigen Rechtfertigung durch den Glauben und der normativen Autorität der heiligen Schrift wieder ans Licht gebracht waren, war der Protestantismus selbst als eine jenen Lehrsätzen vorangegangene Thatsache in seinem
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III. Das Wesen des Protestantismus
durch den Glauben ist hiernach im Wesen des Protestantismus begründet und stellt neben der Schriftautorität und dem Priestertum aller Gläubigen eine der drei Grundlehren des Protestantismus dar, die aus dem Wesen des Protestantismus abgeleitet sind. 4.2.3. Die Wiederherstellung der echten Katholizität durch den Protestantismus Daraus ergeben sich nun die Mittel, vermöge derer nach Auffassung Schenkels der Protestantismus sein Wesen zu verwirklichen hat: zunächst »durch Erneuerung der Gewissensaktion«372 , die der Ausgangspunkt des Protestantismus überhaupt ist, sowie durch den Rückgang auf die Schrift und die Aneignung der darin offenbarten Heilstat Gottes in Christus im Glauben, als einer erneuerten Hervorhebung der Rechtfertigungslehre, die sich ebenso aus dem Wesen des Protestantismus ableitet. Und schließlich muss die Wiederherstellung der echten Katholizität »in der Form der unter göttlicher Heilseinwirkung zu einer in Gott erneuerten Menschheit immer mehr sich vollendenden gläubigen Gemeinde geschehen«373. Die ekklesiologische Zielrichtung des Protestantismus ist hier festgehalten. Damit scheinen allerdings das Wesen des Christentums und des Protestantismus zusammenzufallen. Diesen möglichen Vorwurf vorwegnehmend erklärt Schenkel, dass der Protestantismus »im innersten Punkte kein anderes als das wahre Wesen der christlichen Religion sein könne; denn kein, dem Christenthume fremder, Bestandtheil darf innerhalb des Protestantismus eine nothwendige Stelle finden«374. Allerdings – und darin unterscheidet sich der Protestantismus seinem Wesen nach nun vom Wesen des Christentums – steht der Protestantismus in einer ganz bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit, die sowohl durch die Spannung zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen als auch mit der Welt gekennzeichnet ist. Insofern versteht Schenkel den Protestantismus als »die Manifestation des Christenthums im Kampfe mit den in dasselbe eingedrungenen auflösenden Elementen (…); er ist das Christenthum innerhalb seiner geschichtlichen Bewegung, wie es sich in seiner selbsterhaltenden und reinigenden Kraft«375 zeigt. Das heißt, der Protestantismus zielt seinem Wesen nach auf die Verwirklichung des Christentums und er ist seinem Wesen nach das Christentum in seiner geschichtlichen und das heißt auch in seiner weltlichen, angefochtenen Form. Von diesem Ort her ist die Aufgabe des Protestantismus nunmehr eindeutig zu benennen: Wesen und Geiste, seiner Kraft und Stärke, vorhanden. Nicht der rechtfertigende Glaube und die heilige Schrift haben also den Protestantismus hervor-, sondern dieser hat jene ans Licht gebracht; und man muß sich mithin hüten, die Wirkung mit der Ursache zu verwechseln.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 432 [Hervorhebung im Original]). 372 AaO., 434. 373 AaO., 436. 374 Ebd. 375 AaO., 436 f.
5. Fazit: Der Protestantismus als Gewissensreligion und Religion der Freiheit
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»Ein Leben aus Gott in die Welt zu pflanzen, und das Heil in der Menschheit durch die ewigen Offenbarungskräfte wiederherzustellen: das ist die wahrhaft positive Aufgabe des Protestantismus, eine Aufgabe, die er freilich nur unter der Bedingung wirklich erfüllen kann, daß er sich selbst, d. h. seinem ursprünglichen Wesen und Principe, unerschütterlich treu bleibt, und, wo er davon abgefallen ist, wieder dahin zurückkehrt.«376
›Treu bleiben‹ muss sich der Protestantismus auf die Weise, dass er seinen Ausgang allein im Gewissen des Subjekts in Gebundenheit an die göttliche Offenbarung nimmt. Denn nur dann ist die Wiederherstellung der echten Katholizität, und das heißt der unmittelbaren und persönlichen Gemeinschaft der Menschheit mit Gott, möglich und nur so kann er seine Aufgabe erfüllen und sein Wesen als ›Dienst an der Religion‹ verwirklichen.
5. Fazit: Der Protestantismus als Gewissensreligion und Religion der Freiheit Schenkel versucht, das Wesen des Protestantismus zunächst im Rahmen des Prinzipiendiskurses, der vor allem Mitte des 19. Jahrhunderts die theologischen Debatten geprägt hat, zu bestimmen. Hier haben sich zwei für Schenkels Position wesentliche Aspekte herauskristallisiert: Zum einen geht es Schenkel darum, die Einzigkeit des protestantischen Prinzips herauszustellen, denn das war für ihn vor allem im Hinblick auf die Union der lutherischen und reformierten Konfession ein zentrales Argument. Zum anderen steht für ihn im Vordergrund zu zeigen, dass das protestantische Prinzip weder einseitig in der Subjektivität, noch in der einseitigen Anerkennung der Autorität Gottes besteht. Schenkels Absicht ist es vielmehr, das Wesen des Protestantismus so zu bestimmen, dass beide Aspekte aufgenommen werden und das Ziel schließlich die Gemeinschaft von Gott und Subjekt ist. Entsprechend bezeichnet er in diesem Kontext das Prinzip des Protestantismus als ›theanthropologisch‹, womit es sich jeder materialdogmatischen Bestimmung entzieht: Das Wesen des Protestantismus wird Schenkel zufolge gerade nicht durch eine Lehre bezeichnet, sondern besteht in der Erfahrung und in dem Bewusstsein des persönlichen, unmittelbaren Gottesverhältnisses. Während Schenkel im Rahmen der Prinzipiendebatte zu Beginn der 1850er Jahre noch eine Vorordnung des theologischen Aspekts annimmt, tritt dieser im Laufe der Zeit eher in den Hintergrund und Schenkel betont den subjektiven Ausgangspunkt des Protestantismus stärker. Vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses der konfessionellen Theologie wie auch des massiven Auftretens der katholischen Kirche zum Beispiel in den Jesuitenmissionen oder während der Kulturkämpfe und der dort vertretenen Betonung der Kirche als objektiver Instanzen zur Wahrung der Wahrheit gegenüber dem 376
AaO., 441 f.
180
III. Das Wesen des Protestantismus
Subjekt, sucht Schenkel den Protestantismus so zu bestimmen, dass er nicht nur mit dem neuzeitlichen Bewusstsein vereinbar wird, sondern für dieses tatsächlich eine konstitutive Bedeutung gewinnt. Dies gelingt Schenkel, indem er die neuzeitliche Orientierung am Subjekt wie auch die damit einhergehende Konzentration von Lehrinhalten auf die Neubestimmung von Subjektivität als genuin protestantisch bestimmt und seine Protestantismustheorie von dort entwirft. Als Grundbegriff der anthropologischen Fundierung des Protestantismus dient Schenkel der Gewissensbegriff und zwar in einer für ihn ganz eigentümlich positiven Fassung. Schenkel leitet diesen zunächst aus der Reformation ab, die er als Gewissenstat der Reformatoren gegen die römische Hierarchie versteht: Die Reformatoren beriefen sich gegen das geltende Recht auf ihr Gewissensrecht, da sie sich in ihrem Gewissen an eine über allen menschlichen Autoritäten stehende Autorität gebunden wussten. Gleichzeitig ist mit dem Gewissensprotest der Reformatoren auch das Ziel der Reformation gesetzt: Schenkel betont, dass es den Reformatoren nicht um bloßen Protest gegen die römische Hierarchie ging, vielmehr strebten sie die Wiederherstellung der wahren Kirche an, die ihrem Wesen nach in der persönlichen Gemeinschaft von Individuum und Gott besteht. Das Ziel ist damit dem Ursprung inhärent und erst durch die Verbindung beider Aspekte ist das Wesen des Protestantismus vollständig beschrieben. Ausführlich hat Schenkel seinen Gewissensbegriff in der Dogmatik dargelegt und nochmals vertieft. Im Rahmen seiner Explikation des Religionsbegriffs weist er das Gewissen als das Religionsorgan des menschlichen Geistes aus: Nur im Gewissen ist sich das Subjekt seiner persönlichen und unmittelbaren Bezogenheit auf Gott bewusst und nur im Gewissen stehen das Subjekt und sein Ursprung damit in Gemeinschaft. Religionsbegriffe, die demgegenüber von der Vernunft, dem Willen oder auch dem Gefühl ausgehen, bleiben notwendigerweise immer auf die Welt bezogen, sodass eine unmittelbare Gemeinschaft von Subjekt und Gott nicht möglich ist. Dieser Aspekt der ausschließlichen Gebundenheit des Gewissens an Gott und der darin implizierten Unabhängigkeit von der Welt ist für Schenkels Deutung des Protestantismus als Religion der Freiheit zentral und kommt dann besonders im Hinblick auf die außerkirchliche und außertheologische Bedeutung des Protestantismus zum Tragen, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Für die Explikation des Wesens des Protestantismus ist neben dem Gewissensbegriff zudem noch der Offenbarungsbegriff konstitutiv, den Schenkel ebenfalls vom Gewissen her konzipiert. Nur durch die Offenbarung Gottes ist die Entwicklung und Wiederherstellung der Heilsgemeinschaft möglich, da die Religion ihrem Wesen nach ungeschichtlich ist. Von ihr allein kann keine Entwicklung ausgehen, dies ist nur aufgrund der Offenbarung des göttlichen Lebens möglich. Allerdings kann das Subjekt sich auf die Offenbarung nur durch
5. Fazit: Der Protestantismus als Gewissensreligion und Religion der Freiheit
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sein Gewissen beziehen und sich diese im Gewissen aneignen. Dieser Moment der Aneignung der Offenbarung durch das Gewissen ist (inhaltlich bestimmter) Glaube. Die hervorragende Stellung des Gewissens und seine für die Religion konstitutive Bedeutung bleiben somit gewahrt und für den Protestantismus wesentlich. Sein Ziel findet der Protestantismus schließlich in der Wiederherstellung der sogenannten echten Katholizität, das heißt der Gemeinschaft der Menschheit mit Gott. Das Gewissen, das ursprünglich allen Menschen gleich ist, und die Offenbarung finden darin gemeinsam ihr eigentliches Ziel. Darin besteht dann auch das Wesen des Protestantismus, insofern dieser aus dem Grundimpuls heraus entstanden ist, die Religion als die ursprüngliche Einheit von Mensch und Gott wiederherzustellen. Die drei in der Prinzipiendebatte entfalteten Dimensionen des protestantischen Prinzips bleiben demnach für Schenkels Protestantismusverständnis fundamental. Durch die Bindung des Protestantismus an das Gewissen hat Schenkel jedoch die ursprüngliche Voranstellung des theologischen Aspekts zugunsten des subjektiven aufgegeben, wobei durch seinen eigentümlichen Gewissensbegriff die Subjektivität immer an Gott gebundene Subjektivität ist. Die Wesensfrage des Protestantismus ist für Schenkel nicht nur in theologischer und kirchenpolitischer Hinsicht relevant, vielmehr spricht er ihr auch politische und gesellschaftliche Bedeutung zu. Diese Bedeutung kann zunächst allgemein beschrieben werden: Schenkel versteht die »religiöse Gesinnung« als »die Grundgesinnung des Menschen, der ihn, auch unbewußt, in seinem gesammten Denken und Handeln mehr oder weniger beherrscht«377, sodass der Protestantismus als Wiederherstellung eben dieser religiösen Gesinnung des Menschen zu einem die Menschheit bewegenden Grundprinzip wird, das dann nicht nur auf einen privaten religiösen oder kirchlichen Bereich beschränkt sein kann, sondern vielmehr den Anspruch erhebt, das gesamte Leben sowie die menschheitliche Entwicklung zu bestimmen: Der Protestantismus ist demzufolge »das Prinzip eines weltgeschichtlichen, ja menschheitlichen Umschwungs, ein Sauerteig, der seit drei Jahrhunderten alle civilisirten Völker, meist ihnen selbst unbewußt, durchsäuert hat«378. Weder der römische Katholizismus, noch der restaurative und konfessionelle Protestantismus können dies für sich in Anspruch nehmen, weil sie, von einem falschen Religionsbegriff ausgehend, nicht die Wiederherstellung der wahrhaft religiösen Tätigkeit des Subjekt realisieren, sondern dieses vielmehr äußerlich binden, die subjektive Dimension der Religion also nicht anerkennen und somit eine unfreie Haltung des Subjekts gegenüber der Welt begründen.
377
D. Schenkel, Zur Sammlung (1862), 278. D. Schenkel, Zur kirchlichen Lage (1860), 7 [Hervorhebung im Original].
378
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III. Das Wesen des Protestantismus
Aufgrund von Schenkels eigentümlichem Gewissensbegriff lässt sich diese allgemeine Bedeutung nun noch weiter spezifizieren: Da der Protestantismus nämlich seinen Ausgang im Gewissen nimmt und damit in dem Ort des menschlichen Geistes, in dem das Subjekt sich frei von allen weltlichen Autoritäten weiß und einzig an Gott gebunden ist, ist er gegenüber allen äußeren Autoritätsansprüchen, die das Subjekt binden wollen, kritisch. Wahre Freiheit ist allein in der Gebundenheit an Gott begründet. Das Gewissen stellt somit die Bedingung der Möglichkeit von wahrer Freiheit überhaupt dar, wie Notger Slenczka hervorhebt: »Die Einheit des Menschen mit Gott und das Bewußtsein des Begründetseins des Menschen in Gott, für das der Begriff Gewissen steht, bezeichnet zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit des Menschen gegenüber allen Instanzen der Fremdbestimmung und gegenüber allen Bindungen durch die außermenschliche Natur. Wiewohl also in diesem Begriff von menschlicher Freiheit und Selbständigkeit das Moment der Abhängigkeit von Gott mitgedacht ist, handelt es sich doch um eine Abhängigkeit, die als Moment und Konstitutionsbedingung der Freiheit gedacht ist, auf der das eigentliche Gewicht des Gewissensbegriffs liegt.« 379
Zwar hat der Protestantismus das Subjekt zunächst von der kirchlichen Autorität befreit – indem aber das individuelle Gewissensrecht des Subjekts überhaupt im Protestantismus zu seiner Anerkennung und Verwirklichung kommt, wurde dieser »auch der natürliche Vertreter der Volksfreiheit gegenüber den bloßen Standesfreiheiten, der Wächter des allgemeinen Rechtes gegenüber dem bloß überlieferten Recht, der Herold der allgemeinen Vernunft gegenüber der Sondervernunft, d. h. den Vorurtheilen der privilegirten Klassen« 380.
Der Protestantismus begründet damit die Gleichheit der Menschen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die kirchliche Hierarchie, sondern auf das gesamte soziale wie auch politische Leben. Da das Gewissen als Konstitutionsbedingung der Freiheit den Menschen zu einem selbstverantwortlichen Subjekt macht, kann sich dies dann nicht mehr nur auf den kirchlichen Bereich beziehen, sondern gilt für das Subjekt grundsätzlich in allen seinen Bezügen.381 Insofern ist der Protestantismus in seiner Begründung von Freiheit auch in politischer wie auch gesellschaftlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung, denn: »Der ge sammte Culturfortschritt der Völker unseres Jahrhunderts beruht auf den 379
N. Slenczka, Neuzeitliche Freiheit (2005), 228. D. Schenkel, Die Kirchliche Frage (1862), 50. 381 »Ist einmal das Netz der geistigen und gesellschaftlichen Bevormundung an einem Punkte durchbrochen, so kann es an keinem mehr auf die Dauer undurchbrochen bleiben, und nichts ist natürlicher als daß, nachdem einmal der priesterliche Absolutismus in der Kirche gestürzt war, mit der Zeit auch der fürstliche Absolutismus im Staate den Ideen der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit, welche der Protestantismus in den Völkern wach gerufen hatte, Zugeständnisse machen mußte.« (AaO., 51). 380
5. Fazit: Der Protestantismus als Gewissensreligion und Religion der Freiheit
183
Grundlagen der religiösen, sittlichen und geistigen Freiheit, und eben darum auf dem Protestantismus.«382 Der Protestantismus ist Gewissensreligion und erweist sich darin als die Reli gion der Freiheit, in der letztlich das neuzeitliche Autonomiepostulat begründet ist, und zwar so, dass es seine Realisierung erst in der Bindung an Gott findet. Schenkel konzipiert damit den Protestantismus nicht nur so, dass er mit neuzeitlichen Voraussetzungen vereinbar ist, sondern er bestimmt sein Wesen so, dass der Protestantismus gleichsam zum wesentlichen und unverzichtbaren Grund des neuzeitlichen subjektiven Bewusstseins und einer sich unter neuzeitlichen Bedingungen freiheitlich und modern entwickelnden Gesellschaft wird: 383 Er ist »ein Princip des religiös-sittlichen Lebens in seiner welterneuernden Kraft: ein Princip der Freiheit aus dem Gewissen und der Wahrheit aus Gott«384.
382
AaO., 12. »In England, in den Niederlanden, in Schottland siegte die Freiheit erst mit dem Protestantismus. Dieser bildet, vermöge der von ihm unzertrennlichen Geltung der im Gewissen und in der Vernunft berechtigten Individualität, in den protestantischen Staaten immer noch eine gewisse Schutzwehr gegen das Uebermaß fürstlicher Allgewalt und gegen heillose Bedrückung der Gewissen und Geister.« (AaO., 76 f.). Da der Protestantismus die Religion des deutschen Volkes ist, hat es in Bezug auf die Verwirklichung des Protestantismus eine besondere Verantwortung auch für die übrigen Völker inne. – Im Hintergrund dieser Einschätzung steht Schenkels Überzeugung, dass jedes Volk eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat. Das deutsche Volk hat als Volk der Reformation einen religiösen Beruf, während z. B. Frankreich einen sozialen und England einen politischen Beruf zu erfüllen haben: »Den Engländern scheint zunächst die Aufgabe geworden, die Idee des Staates, der geordneten lebensfähigen öffentlichen Freiheit zu vertreten; den Franzosen scheint das Loos zugefallen, die sociale Idee einer die gesellschaftlichen Standes- und Vermögensunterschiede nach Möglichkeit mildernden Gleichheit zu verwirklichen (…). Das deutsche Volk ist berufen an der Spitze der Entwicklung der religiösen Ideen zu stehen, den übrigen Völkern in der Lösung der religiösen Frage voranzugehen, sich immer auf ’s neue wieder in dieselbe zu vertiefen, und auf diesem Wege der Herold einer besseren religiösen Zukunft nicht nur für unsern Welttheil, sondern für die ganze Menschheit zu werden.« (D. Schenkel, Reformatoren (1856), 2 f.). 384 D. Schenkel, Art. »Protestantismus« (1860), 259. 383
IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus Neben der Auseinandersetzung mit dem Wesen des Protestantismus bildet die Beschäftigung mit dem Wesen und der Gestalt der Kirche den zweiten Schwerpunkt von Schenkels Theologie. Dies ist nur konsequent, da Wesens- und Kirchenfrage einen engen Zusammenhang bilden, denn »[a]n der Stellung zur Kirche entscheidet sich (…) das Selbstverständnis des Protestantismus überhaupt; im Medium der Kirchenlehre wird stets zugleich die konfessionelle Identität des protestantischen Christentums verhandelt«1. In der Diskussion um die Kirche ist also immer auch die Identitätsfrage angesprochen und dementsprechend beschäftigt die Reflexion auf das Wesen der Kirche, ihre Gestalt und Aufgabe nahezu alle Theologen des 19. Jahrhunderts.2 Schenkels Interesse an der Kirchenfrage spiegelt sich eindrucksvoll in der überaus breiten Quellenlage wider: So hat er sich diesem Thema mit großer Leidenschaft nicht nur monographisch gewidmet – hier sind neben Der Unionsberuf des evangelischen Protestantismus, Die Erneuerung der Deutschen Evangelischen Kirche, Die kirchliche Frage und ihre protestantische Lösung natürlich auch die einschlägigen Abschnitte der Dogmatik 3 zu nennen – sondern er hat sich vor allem auch in zahlreichen Artikeln in der AKZ und AKZs eingehend mit dem Thema beschäftigt und so lautstark wie ausführlich zu Wort gemeldet: Beeindruckendes Zeugnis hiervon sind zum Beispiel Kirchliche Betrachtungen sowie Kirchliche Rückblicke und Aussichten sowie Kirchliche Umschauen 4, in denen Schenkel ausführlich die kirchliche Situation analysiert, zumeist rücksichtslos kritisiert und 1
M. Laube, Kirche (2011), 132. Dieses Urteil trifft auch die Selbsteinschätzung der Theologen des 19. Jahrhunderts, wie Wilhelm Löhe im Jahr 1844 konstatiert: »Alle reden in unseren Tagen von der Kirche.« (Zitiert in: T. Rendtorff, Kirche (1966), 20). 3 D. Schenkel, Unionsberuf (1855); ders., Dogmatik (1858/59), Bd. 2, hier bes. 918 – 990; ders., Erneuerung (1860); ders., Die kirchliche Frage (1862). In der RE hat Schenkel außerdem 1856 den Artikel Kirche verfasst, in dem er insbesondere die theologiegeschichtliche Entwicklung des Kirchenbegriffs nachzeichnet und sich mit dieser, aber auch der gegenwärtigen Debatte gewohnt kritisch auseinandersetzt, vgl. ders., Art. »Kirche« (1857). 4 Vgl. u. a. D. Schenkel, Zustände der Gegenwart (1852); ders., Kirchliche Rückblicke (1853); ders., Kirchliche Zustände (1854); ders., Kirchliche Umschau (1857); ders., Kirchliche Betrachtungen (1861). 2
IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
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dagegen den seines Erachtens genuin protestantischen Lösungsweg präsentiert. Bereits in Kapitel II ist die Verortung der kirchlichen Fragen im aktuellen politischen und gesellschaftlichen Kontext als für Schenkels Theologie charakteristisch ausgewiesen worden. Er schreibt ihnen große Relevanz für die nationalen und politischen Herausforderungen zu, sodass ihre Klärung auch im Hinblick auf das nationale Wohlergehen von existentiellem Interesse ist und nicht nur den Theologen angeht: »Wir haben namentlich erkannt, daß die gewaltigen Probleme der Gegenwart auf dem politischen und socialen Gebiete gar nicht wirklich gelöst werden können ohne gleichzeitige Lösung der kirchlichen und ethischen.«5 Schenkels kirchenpolitisches Wirken wird von der Einsicht bestimmt, dass die theologischen Grundentscheidungen der Neuzeit mit ihrer Orientierung am Subjekt nicht ohne Konsequenzen für die institutionelle Verfassung der Kirche bleiben können. Der Protestantismus muss sein Wesen deswegen in einer Gestalt verwirklichen, die auf der Freiheit des Gewissens und des Subjekts gründet. Die zentrale Frage ist also, wie eine Gemeinschaft beschaffen sein muss, die dem Wesen des Protestantismus insoweit dient, dass das Wesen desselben als ›Wiederherstellung der wahren Katholizität‹ in ihr zum Ausdruck kommt, wie also das freie Subjekt in seinem individuellen Gottesverhältnis mit der Gemeinschaft vermittelt werden kann. Konkreter Anlass für seine Untersuchungen sind insbesondere die Verfassungsfrage – vor allem hinsichtlich der Frage nach dem Amt und seinem Verhältnis zur Gemeinde – sowie die Unionsproblematik. Beide Themen wurden in der Theologie des 19. Jahrhunderts intensiv diskutiert und in beiden Bereichen sah Schenkel nicht nur die protestantische Kirche, sondern vielmehr den Protestantismus selbst durch den wachsenden Einfluss der konfessionellen Theologie bedroht. Das tieferliegende Problem, das überhaupt für den kritischen Zustand der protestantischen Kirche verantwortlich ist, liegt Schenkel zufolge in der mangelhaften oder gar falschen Verhältnisbestimmung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche begründet, die das Fundament seiner Ekklesiologie ist und die Mitte des Jahrhundert in der protestantischen Theologie stark umstritten war. Für Schenkel ist eine eindeutige Unterscheidung von unsichtbarer Kirche, die allein die wahre Kirche ist, und sichtbarer Kirche im Wesen des Protestantismus begründet, da in ihr die Realisierung des persönlichen Gottesverhältnisses des Subjekts und damit die Freiheit des Individuums gegenüber äußerlichen Autoritätsansprüchen festgehalten ist. Die Frage nach der Bestimmung der Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche, die Realisierung des Protestantismus in der protestantischen 5
D. Schenkel, Zur Sammlung (1862), 277.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Kirche sowie die damit verbundene außerkirchliche und außertheologische Relevanz stehen im Zentrum dieses Kapitels. Im ersten Teil soll kurz der ideengeschichtliche Hintergrund 6 der ekklesiologischen Debatten des 19. Jahrhunderts in Erinnerung gerufen werden, vor dem sich Schenkels Entwurf deutlich profilieren lässt (1.). Nachdem die Ausgangssituation der Kirchen zu Beginn des 19. Jahrhunderts skizziert wurde (1.1.), wird der Fokus auf die Entwürfe Friedrich Schleiermachers (1.2.) und Friedrich Julius Stahls (1.3.) gelegt, deren Positionen beide auf sehr unterschiedliche Weise die kirchlichen Debatten des 19. Jahrhunderts beeinflusst haben: Während sich anhand von Schleiermachers Neubegründung des Kirchenbegriffs die Grundfragen der ekklesiologischen Diskurse des 19. Jahrhunderts sehr schön explizieren lassen – auch bei Schenkel werden zahlreiche Bezüge zu Schleiermacher sichtbar, gleichwohl er diese wie gewohnt kaum explizit macht 7 – ist Stahl als einer der Hauptgegner Schenkels in der Kirchenfrage für diese Arbeit von Interesse, denn Schenkels Entwurf lässt sich insbesondere als Reaktion auf die von Stahl vertretene konfessionelle Position verstehen. Da für Schenkel die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche die Grundlage der Ekklesiologie bildet, werden auch die Entwürfe Schleiermachers und Stahls im Hinblick auf ihr jeweiliges Verständnis dieser Unterscheidung besonders in den Blick genommen. Im zweiten Teil wird Schenkels Verständnis der unsichtbaren und sichtbaren Kirche ausführlich untersucht. Die Unterscheidung ist das hermeneutische Zentrum seiner Ekklesiologie (2.). Zunächst wird sein Verständnis der wahren Kirche analysiert, das die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche begründet (2.1.); anhand der Eigenschaften der unsichtbaren Kirche wird der hier dargelegte Kirchenbegriff dann präzisiert (2.2.). Wie auch in der Entwicklung des Religionsbegriffs meint Schenkel im Kirchenbegriff gravierende Fehlentwicklungen in der Theologiegeschichte zu erkennen, die in der Identifizierung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche kulminierten und die erst durch den Protestantismus aufgehoben wurden (2.3.). Schließlich wird Schenkels Verständnis der sichtbaren Kirche und ihr Verhältnis zur unsichtbaren Kirche erörtert, wobei auch politische Implikationen von Schenkels Ekklesiologie deutlich werden (2.4.).
6 Für den realgeschichtlichen Hintergrund in Baden insbesondere Ende der 1850er/ Anfang der 1860er Jahre vgl. II.4. Einen guten allgemeinen Überblick über den hier relevanten Zeitraum bietet G. Ris, Konstitutionalismus (1988), 48 – 87. 7 Schenkel erwähnt Schleiermacher nicht einmal unter der einschlägigen Literatur, die er zu Beginn eines jeden Kapitels in der Dogmatik nennt. Bedenkt man, welch große Rolle die Kirchenfrage auch in Schleiermachers Denken einnimmt, ist dieser Umstand doch zumindest als verwunderlich zu bezeichnen. Noch bemerkenswerter mutet allerdings das Urteil Schenkels in seinem RE-Artikel »Kirche« an, in dem er schreibt: »Wenn auch Schleiermacher seine Lehre von der Kirche nirgends mit wünschenswerther Ausführlichkeit im Zusammenhange entwickelt hat (…).« (D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 596).
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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Im dritten Teil soll schließlich Schenkels Vorschlag zur Verwirklichung der verfassten Kirche untersucht werden. Dabei werden die außerkirchlichen wie außertheologischen Bezüge nochmals besonders berücksichtigt (3.). Die beiden Hauptstreitpunkt der ekklesiologischen Debatten, spiegeln sich auch in Schenkels Werk wider: So werden zunächst seine Position in der Unionsfrage (3.1.) und anschließend sein Verständnis einer genuin protestantischen Kirchenverfassung erörtert (3.2.). Ihre Spitze finden Schenkels Protestantismusdeutung und Ekklesiologie in ihrer im gesamten Kapitel thematisierten außerkirchlichen und außertheologischen Bedeutung für Staat und Gemeinwesen. Dieses positive Verhältnis von Staat und Kirche, Protestantismus und Kultur soll deswegen in einem eigenen Abschnitt nochmals explizit gemacht werden (4.). Abschließend werden die Ergebnisse dieses Kapitels in einem Fazit gebündelt (5.).
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund 8 Die Frage nach der Kirche, ihrem Wesen und ihrer Gestalt ist seit der Reformation ein eigenständiger Topos der Dogmatik. Seitdem ist sie bis auf den heutigen Tag Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen und Diskussionen. Für die protestantische Ekklesiologie stellt die reformatorische Einsicht der Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche eine besondere Herausforderung dar, die es aufzunehmen gilt, ohne dabei jedoch »das Spannungsverhältnis zwischen dogmatischer Bestimmung und empirischer Wirklichkeit der Kirche (…) zu übergehen oder programmatisch einzuebnen, sondern konstruktiv fruchtbar zu machen«9. Dieses Spannungsverhältnis ist für die Auseinandersetzung um die empirische Kirche, die der eigentliche Gegenstand der Ekklesiologie ist,10 in zweierlei Hinsicht besonders relevant: Zum einen muss an der in der Spannung implizierten Einsicht in die Geschichtlichkeit und damit auch Irr8 Die Hintergründe und Entwicklungen der ekklesiologischen Debatte des 19. Jahrhunderts sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden und müssen hier deswegen nicht ausführlich behandelt werden, vgl. dazu besonders E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 145 – 231, Kapitel 49 Der Streit um den Kirchenbegriff, in dem er die kirchlichen Positionen ausführlich analysiert und dargestellt hat; weiterführend sind zudem Ch. Link, Kirchenverfassung (1966); T. Rendtorff, Kirche (1966); R. Anselm, Ekklesiologie (2000); N. Slenczka, Diskussion um das kirchliche Amt (2001). Notger Slenczka macht darauf aufmerksam, dass die Fokussierung auf die Ekklesiologie im 19. Jahrhundert nicht nur ein protestantisches Phänomen ist, sondern ebenso für die römisch-katholische Kirche gilt, vgl. aaO., 114. 9 M. Laube, Kirche (2011), 133. Einen sehr gelungenen Vorschlag, wie man die Unterscheidung konstruktiv fruchtbar machen kann, hat Ulrich Barth vorgelegt, vgl. U. Barth, Sichtbare und unsichtbare Kirche (2008). 10 Vgl. M. Laube, Kirche (2011), 133.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
tumsfähigkeit der verfassten Kirche festgehalten werden, ohne sie jedoch der völligen religiösen Bedeutungslosigkeit preiszugeben. Zum anderen ist zu klären, »wie die geschichtlich gewachsene Vergemeinschaftungsform der Kirche so gestaltet werden kann, dass sie der christenmenschlichen Freiheit des einzelnen nicht widerspricht, sondern entspricht«11. Damit sind der protestantischen Ek klesiologie zwei Aufgaben gestellt: Sie muss einerseits nach dem Wesen der sichtbaren Kirche und ihrem Verhältnis zur unsichtbaren Kirche fragen, andererseits eine Organisationsstruktur finden, welche die Freiheit des Glaubenden mit der verfassten Gemeinschaft zu vermitteln vermag. Beide Fragen hängen dabei aufs engste miteinander zusammen, da das Wesen und die Gestalt eines Gegenstandes niemals unabhängig voneinander betrachtet werden können. Diese beiden Punkte waren auch zentraler Gegenstand der ekklesiologischen Debatten des 19. Jahrhunderts, die sich vor allem an der Gestaltung der Kirche, präziser noch an der Ämterfrage, entzündet haben, und die auch für Schenkel im Vordergrund standen. Zu Recht stellt Reiner Anselm deshalb fest: »Als dauernde Herausforderung markiert die Frage nach der rechten Sozialgestalt der Kirche das geheime Leitthema des deutschen Protestantismus.«12
1.1. Die kirchliche Ausgangssituation zu Beginn des 19. Jahrhunderts Für die Theologie des 19. Jahrhunderts gilt Anselms Feststellung in besonderem Maße. Die Frage nach der Kirche überhaupt markiert hier allerdings nicht nur das geheime Leitthema des deutschen Protestantismus, sondern stellt ganz offensichtlich eines der zentralen Leitthemen dar, und zwar über alle kirchlichen und konfessionellen Lager hinweg, wie Emanuel Hirsch bemerkt: »Der Geschichte der evangelischen Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert haftet die Eigentümlichkeit an, daß in einem Maße, welches keinem früheren Zeitalter, auch nicht dem der Reformation, bekannt ist, die Kirche selber, ihr Wesen, ihre Aufgabe, ihre Gestalt und Ordnung, ihr Verhältnis zum Staat und zum allgemeinen Leben überhaupt, der Gegenstand, wo nicht gar Mittelpunkt theologischen Urteilens und Handelns wird.«13
Die Hintergründe für dieses gesteigerte Interesse an der Kirchenfrage sind äußerst komplex und vielfältig, zumal politische und theologische Interessen hier wie in kaum einem anderen theologischen Diskurs miteinander verwoben sind; schließlich waren aufgrund der engen Verbindung der protestantischen Kirche mit dem Staat bei theologischen bzw. kirchlichen Entscheidungen immer auch Staatsinteressen berührt. So zeigt sich die Bündelung und Vermischung von verschiedenen Perspektiven in der Ekklesiologie unter anderem darin, dass 11
Ebd. R. Anselm, Ekklesiologie (2000), 11. 13 E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 145. 12
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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staatliche Modelle in den Diskussionen um die Kirchenverfassung aufgerufen und, wie vor allem nach der Revolution von 1848, theologisch bewertet wurden.14 In den Debatten um die Kirchenverfassung schwang so immer auch eine staats- und gesellschaftspolitische Option mit. Ganz allgemein kann zunächst auf dieselben tiefgreifenden und umfassenden politischen sowie gesellschaftlichen Entwicklungen, die auch schon die Diskussion um das Wesen des Protestantismus ausgelöst und bestimmt haben,15 verwiesen werden – schließlich bekam das Wesen des Protestantismus in der Auseinandersetzung um das rechte Kirchenverständnis und ihre Gestalt gewissermaßen sein Gesicht: Die bestehenden Differenzen zwischen den theologischen bzw. kirchlichen Parteien wurden an diesem Punkt besonders sichtbar und virulent. Ausgangspunkt der Debatte ist zunächst die trostlose Lage, in der sich die Kirchen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden. Die Einsicht in diese Krise bestimmte bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die ekklesiologischen Diskussionen über alle kirchlichen Lager hinweg, wurde aber freilich jeweils ganz unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Sehr anschaulich beschreibt Thomas Nipperdey die kirchliche Ausgangssituation um die Jahrhundertwende: »Aber die Kirchen, halb traditionalistisch, halb aufgeklärt, stehen nicht gerade in Blüte. (…) Das kirchliche, das religiöse Leben ist vielfach – trotz der innerkirchlichen Gegensätze von Auf klärung und Tradition – über das normal menschliche Maß hinaus konventionell und verflacht. Staat und Bürokratie stehen den Kirchen kühl und distanziert gegenüber, sie bevormunden und gängeln sie, benutzen sie als Erziehungsinstanzen – zur Einübung von Moral und Gehorsam, zur Propagierung nützlicher Dinge wie Bienenzucht und Kartoffelanbau. (…) Die Kirchen sind nicht sonderlich vital und attraktiv und auch nicht sonderlich mächtig. In der Bildungsschicht, von Auf klärung und Klassik bestimmt, stehen Religion und Kirche nicht sonderlich hoch im Kurs; der ›Zeitgeist‹ steht in Distanz zur Religion.«16
Nipperdey nennt hier zwei entscheidende Gründe, die seiner Ansicht nach für den Zustand der Kirche verantwortlich waren: zum einen die enge Verzahnung von Staat und protestantischer Kirche, und zum anderen den kirchen- und religionskritischen Einfluss der Auf klärung auf weite Teile der gesellschaftlichen Eliten.17 14
Vgl. z. B. D. Schenkel, Gespräche (1852/53); vgl. dazu II.3.2. Vgl. III.1.1. 16 Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1998), 403. So auch das Urteil Gerhard Besiers: »Das Denken der Auf klärung und die staatsergebene Haltung der Kirchen hatten der evangelischen Frömmigkeit, ja dem kirchlichen Leben insgesamt schwere Schäden zugefügt.« (G. Besier, Religion, (1992), 13). 17 Auf den engen Zusammenhang der beiden Aspekte macht Wolf-Dieter Marsch aufmerksam: »Staatliche cura religionis und auf klärerischer Autonomie-Anspruch des einzelnen 15
190
IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Die enge Verbindung von Staat und Kirche, die sich in der Ausbildung des landesherrlichen Kirchenregiments manifestierte, war zu diesem Zeitpunkt »zu einem solchen staatskirchenrechtlichen System ausgebildet worden, das die ›Territorialhoheit‹ zum obersten, auch für die kirchliche Gestaltung regierenden Prinzip machte und so ›die kirchlichen Behörden der weltlichen Staatsverwaltung eingliederte und damit auch die Kirche in den Dienst der Staatsräson stellte‹«18 .
Die Kirchen wurden vom Staat zur volkserzieherischen Institution vereinnahmt und hatten ihren Grund und Zweck damit nicht mehr in sich selbst, sondern vom Staat her. Dass dieser Zustand nicht dem Wesen der Kirche entsprach, war unter den Theologen unumstritten und entsprechend laut waren die Forderungen nach einer Trennung von Kirche und Staat, in der sich tatsächlich die Mehrheit der Theologen aller Richtungen einig war. Strittig war dagegen, wie denn eine neue kirchliche Verfassung zu gestalten sei – problematisch war hier vor allem die Frage nach dem Wesen des Amtes sowie seinem Verhältnis zur Gemeinde – und wie das Verhältnis zum Staat neu zu bestimmen, also die Trennung umzusetzen sei.19 Darüber hinaus stellte der sich an die Auf klärung anschließende Kirchenbegriff des Rationalismus, der die Kirche in letzter Konsequenz der religiösen Bedeutungslosigkeit preisgab, eine besondere Herausforderung für die protestantische Theologie dar: 20 Die für die Auf klärung charakteristische Betonung des Geschichtlichen sowie die damit verbundene Unterscheidung von Wesentlichem und Geschichtlichem, also Wandelbarem, schärfte den Blick für die geschichtliche Erscheinung auch der verfassten Kirchen. Die reformatorische Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche wurde nunmehr dahingehend gedeutet, dass die »Idee der Kirche und historisch-empirische (…) Christen, seine Religionsmündigkeit und die Toleranzpflicht des Staates, konnten sich immer schwerer miteinander vertragen. Christlicher Glaube und Kirchlichkeit gerieten in Spannung zueinander.« (W.-D. Marsch, Institution (1970), 23). 18 G. Lämmlin, Individualität und Verständigung (1998), 73; vgl. auch Ch. Link, Kirchenverfassung (1966), 31 ff. 19 Dies war auch innerhalb der politischen Parteien, die für eine Trennung von Kirche und Staat eintraten, umstritten, wie exemplarisch die Diskussionen innerhalb der liberalen Partei in Baden zu Beginn der 1860er Jahre zeigen, vgl. Kap. II, Anm. 249. 20 Vgl. E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 150. Christoph Link beschreibt den rationalistischen Kirchenbegriff und seine Konsequenzen sehr treffend: »Die Individuen schließen sich durch Vertrag über die gemeinsame Gottesverehrung zur sichtbaren Kirche zusammen. Nicht das Wesen, sondern allein der Zweck unterscheidet diese von anderen Vereinen.« (Ch. Link, Kirchenverfassung (1966), 43). Die sichtbare Kirche wird nunmehr im Hinblick auf ihre Menschlichkeit und Geschichtlichkeit reflektiert und beurteilt und wird somit »zu einem aliud gegenüber der ›unsichtbaren‹ wahren Kirche. (…) Damit ist die für das lutherische Kirchenverständnis so verhängnisvolle Zweiteilung des Kirchenbegriffs vollzogen, die Verflüchtigung der communio sanctorum in die ›Sphäre ideeller Jenseitigkeit‹, in eine civitas platonica auf der einen, die Auslieferung der empirischen Kirchen an die weltliche Gewalt, sei diese staatlich oder kirchlich, auf der anderen Seite. Beide standen einander nahezu beziehungslos gegenüber.« (Ebd.).
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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Erscheinung der Kirche« 21 differenziert wurden: Während die unsichtbare wahre Kirche zu einem Ideal verflüchtigt wurde, wurde die Geschichtlichkeit, Irrtumsfähigkeit und also Relativität der empirischen Kirchen – und das betrifft dann freilich auch ihre Bekenntnisse und Lehren – so stark betont, dass ein positives Verhältnis von verfasster und geglaubter Kirche kaum noch hergestellt werden konnte: »Die Kirche wird somit notwendig aufgefaßt als eine Religionsgesellschaft, deren Zweck und Richtung durch Einsicht und Wille der sie gestaltenden Menschen bedingt ist und gemäß dem Wachstum und Wandel dieser Einsicht und dieses Willens Fortbestimmungen unterliegt, hinter der höchsten Idee aber immer zurückbleiben wird.« 22
Dieses Verständnis der Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche impliziert dann jedoch, dass »eine tiefere religiöse Betrachtung der Kirche überhaupt nicht mehr« 23 möglich ist, wie Hirsch zu Recht betont. Damit geht aber auch die positive religiöse Bedeutung der sichtbaren Kirche, die diese nach reformatorischem Verständnis sehr wohl für den Glaubenden hat, verloren: Ob und inwiefern das glaubende Individuum in religiöser Hinsicht wesentlich auf die verfasste Kirche bezogen ist, kann durch die so bestimmte Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche kaum plausibel gemacht werden.24 Wollte die protestantische Kirche nicht in die völlige Bedeutungslosigkeit versinken, musste sie sich also dringend ihrer eigenen Identität und Aufgabe vergewissern, ihr Wesen, ihre Gestalt sowie ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit im Allgemeinen und zum Staat im Besonderen reflektieren. Dabei war ein Kirchenbegriff gefordert, der an die Stelle der Kirche als staatliche Behörde treten konnte; eine Option stellte hier ein starker Amtsbegriff dar, den Schenkel aus seinem Protestantismusverständnis heraus jedoch strikt ablehnte. Die Anfragen an die Kirche um die Jahrhundertwende standen auch im Hintergrund von Schleiermachers Kirchenbegriff. Er antwortete auf sie mit seiner Neubegründung des Kirchenbegriffs und legte damit den Grundstein für die ekklesiologischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts.25 Die Rezeption seines Kirchenbegriffs vollzog sich dann hauptsächlich 21
E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 149. AaO., 150. 23 Ebd. 24 Die Konsequenzen dieses Kirchenbegriffs sieht Emanuel Hirsch sehr klar: »Er scheint, bis ins Letzte durchgeführt, das eigentümlich Christliche bestenfalls anzusehn als volkserzieherisch gerechtfertigtes Hilfsmittel, die Menschen zur geistig-sittlichen Religion der Vernunft heranzubilden.« (Ebd.). 25 »Die Bedeutung, die der Kirchenbegriff für die evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts gehabt hat, muß in erster Linie im Gefolge des tiefen und nachhaltigen Einflusses gesehen werden, den Schleiermacher gerade an diesem Punkte ausgeübt hat.« (T. Rendtorff, Kirche (1966), 19). 22
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
»unter zwei Aspekten, die beide, aber in verschiedener Weise epochalen Charakter haben: Als Überwindung der Auf klärung und darin auf breitester Front; und, seit Mitte des Jahrhunderts, als Ausgangspunkt einer nunmehr betont ›kirchlichen‹ Theologie im Sinne der pietistisch-konfessionellen Theologie« 26.
1.2. Friedrich Schleiermachers Neubegründung des Kirchenbegriffs27 Die Frage nach Wesen und Gestalt der Kirche gehört auch ins Zentrum von Schleiermachers Theologie. Dies zeigt nicht nur sein kirchenpolitisches Engagement in der Kirchenverfassungsfrage in Preußen sowie sein Einsatz für die kirchliche Union, sondern auch die Stellung und der Umfang der Ekklesiologie in der Glaubenslehre: Sie stellt nicht nur im materialen Teil der Dogmatik den ausführlichsten Teil der Glaubenslehre insgesamt dar, sondern bildet auch durch ihre Grundlegung in den Lehnsätzen der Ethik in der Einleitung den Rahmen des gesamten Werkes.28 Erstmals hat Schleiermacher sein Kirchenverständnis in der vierten Rede Ueber das Gesellige in der Religion oder über Kirchen und Priesterthum 29 dargelegt. Das Staatskirchentum und der auf klärerische (Religions- und) Kirchenbegriff stehen hier im Hintergrund: »In der doppelten Stoßrichtung gegen ein die ideologische Vereinnahmung der Kirche betreibendes landesherrliches Kirchentum einerseits und gegen die die Auswanderung aus der Kirche befördernde moderne Religionsauffassung andererseits, hat Schleiermacher den Neuentwurf seines ekklesiologischen Modells unternommen.« 30
Schleiermacher strebt eine Neubegründung des Kirchenbegriffs an, mit dem Ziel, »die unverzichtbare Leistung der Kirche für die Christenheit, die Welt und die einzelnen Gläubigen aufzuweisen und plausibel zu machen«31. Ausgangspunkt von Schleiermacher ist die Kritik der Adressaten seiner Reden an den bestehenden Zuständen der verfassten Kirche, die er sich zu eigen
26 AaO., 20. Nach Link ist es Schleiermachers Wiederentdeckung des Gemeinschaftsbegriffs für die Ekklesiologie, die »ihn zu einem unentbehrlichen Mittler zwischen Auf klärung und konfessioneller Theologie werden läßt« (Ch. Link, Kirchenverfassung (1966), 47). 27 Schleiermachers Ekklesiologie ist breit rezipiert worden. Für eine ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung vor allem mit der Ekklesiologie der Glaubenslehre vgl. u. a. A. Weirich, Kirche in der Glaubenslehre (1989); Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996); G. Lämmlin, Individualität und Verständigung (1998); W. Gräb, Kirche (2013). Zum Kirchenverständnis Schleiermachers in den Reden vgl. u. a. W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989); Ch. Axt-Piscalar, Kirche (2003). Darüber hinaus vgl. auch T. Rendtorff, Kirche (1966), 115 – 167; M. Ohst, Schleiermacher und die Kirche (2000). 28 Vgl. dazu Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 53 f. 29 Vgl. F. Schleiermacher, Reden (1799), 266 – 292. 30 W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 235. 31 Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 66.
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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macht.32 Allerdings, und darin widerspricht Schleiermacher nun seinen Zuhörern, entspricht dieser Zustand seiner Ansicht nach gerade nicht dem Wesen der Kirche und so möchte er »den ganzen Begrif einer neuen Betrachtung unterwerfen und ihn vom Mittelpunkt der Sache aus aufs neue erschaffen, unbekümmert um das, was bis jezt wirklich ist und was die Erfahrung uns an die Hand giebt«33. Schleiermacher ist also der Ansicht, dass der Begriff der wahren Kirche gerade unter Absehung der tatsächlich empirischen Kirche zu entwickeln ist. Deshalb will er nach dem Mittelpunkt, das heißt dem ihr eigenen Grund fragen. Dieser Mittelpunkt der Sache liegt im Religionsbegriff, den Schleiermacher in der zweiten Rede entfaltet hat und von dem her er nun den Kirchenbegriff neu konzipiert. Das Diktum lautet bekanntlich: »Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein: es liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz vorzüglich in der ihrigen.«34 Die Kirche verdankt sich nicht nur dem Willen und Wunsch verschiedener Individuen, zu einer Gemeinschaft zusammenzukommen, sondern dass eine religiöse Gemeinschaft entsteht, gründet in der sozialen, geselligen Natur des Menschen und dem Wesen der Religion selbst. Die Begründung für die Bildung einer Gemeinschaft ist dann eine doppelte: Zum einen möchte der Mensch das, was ihn zutiefst bewegt mit anderen teilen, ihnen mitteilen.35 Zum anderen ist er sich bewusst, immer nur einen Teil des Universums erfasst zu haben, sodass er in Kommunikation mit anderen tritt, um seine Ansicht zu überprüfen und ergänzen zu lassen. Damit entsteht eine gleichwertige und wechselseitige Kommunikationsstruktur zwischen den glaubenden Individuen, die ihrem Wesen nach frei von hierarchischen Strukturen ist: Das religiöse Subjekt teilt sich einerseits seinen Mitmenschen mit und ist darin primär aktiv, andererseits ist es um der Ergänzung willen passiv, indem es die anderen auf sich wirken lässt. Die Kirche ist Ort dieser (notwendigen) religiösen und gleichwertigen Kommunikation. Sie verdankt sich demnach zwar dem Zusammentreten und Handeln von Menschen, ihre Gestalt ist aber dennoch »auf die der Religion ursprünglich eigene Gemeinschaftsbildung zurückzuführen«36 . Geradezu überschwänglich erscheint dann auch das Bild, das Schleiermacher seinen Zuhörern von der ihm vorschwebenden Kirche zeichnet:
32 »Knechtische Aufopferung des Eigenthümlichen und Freien, geistloser Mechanismus und leere Gebräuche« (F. Schleiermacher, Reden (1799), 266) sind demnach die wenig rühmlichen Merkmale der verfassten Kirche. 33 AaO., 267. 34 Ebd. 35 »Ihr müßt gestehen, daß es etwas höchst widernatürliches ist, wenn der Mensch dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen will. (…) Der eigentlichste Gegenstand aber für dieses Verlangen ist unstreitig dasjenige, wobei der Mensch sich ursprünglich als leidend fühlt, Anschauungen und Gefühle (…).« (Ebd.). 36 W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 235.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
»Ich wollte ich könnte Euch ein Bild machen von dem reichen schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes, wenn ihre Bürger zusammenkommen, jeder voll eigner Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde alles aufzufaßen und sich anzueignen, was die Andern ihm darbieten mögen. Wenn einer hervortritt vor den Übrigen ist es nicht ein Amt oder eine Verabredung die ihn berechtigt, nicht Stolz oder Dünkel, der ihm Anmaßung einflößt: es ist freie Regung des Geistes, Gefühl der herzlichsten Einigkeit Jedes mit Allen und der vollkommensten Gleichheit (…).« 37
Dieses Bild hat nun drei für die Organisation der Kirche weitreichende Implikationen: 1) Eine Unterscheidung von Priestern und Laien ist ausgeschlossen und widerspricht dem Wesen der Religion und damit auch der wahren Kirche. Diese ist vielmehr eine Gemeinschaft gleichberechtigter und freier Individuen, die ihre religiöse Erfahrung sowohl teilen als auch an den religiösen Erfahrungen anderer teilhaben möchten: 38 Zweck und Gestalt der Kirche fallen demnach zusammen.39 2) Da es ganz verschiedene religiöse Anschauungen und Gefühle gibt, ist die »Anerkennung der Pluralität religiöser Anschauungen und eine von daher motivierte religiöse Toleranz«40 der wahren Kirche wesentlich. Damit sind die Kategorien von ›wahr‹ und ›falsch‹ ausgeschlossen, wie es sich auch exemplarisch in Schleiermachers Auffassung des Verhältnisses von Katholizismus und Protestantismus zeigt.41 3) Das religiöse Subjekt ist frei darin, sich einer religiösen Gemeinschaft anzuschließen, in der das eigene religiöse Bewusstsein angesprochen wird. Die Parochialgemeinde entspricht demnach nicht dem Wesen der wahren Kirche. Schleiermacher schweben freie Gemeinden vor, denen sich das freie Individuum seines religiösen Bewusstseins entsprechend anschließt. Die revolutionäre Sprengkraft dieses Ansatzes für das traditionelle Kirchensystem ist offensichtlich. Zwar ist das Verhältnis des jungen Schleiermacher zur Französischen Revolution kaum erforscht,42 dennoch ist unverkennbar, dass Schleiermacher Grundideen der Französischen Revolution aufnimmt und diese 37
F. Schleiermacher, Reden (1799), 269. »Was Schleiermacher seinen Lesern vor Augen malt, das ist ein Zirkel hochgebildeter, äußerst feinfühliger religiöser Individuen, der nichts mit irgendeinem empirischen Kirchentum gemein hat.« (M. Ohst, Schleiermacher und die Kirche (2000), 57). Wilhelm Gräb weist darauf hin, dass Schleiermacher sich diese jedoch nicht als in sich von der Wirklichkeit abgeschlossene Zirkel vorstellt: »Nicht die kleine, sich dann selber wieder von der gesellschaftlichen Allgemeinheit des religiösen Interesses separierende, nach außen abgrenzende religiöse Gemeinschaftsbildung schwebte Schleiermacher im Entwurf seines ekklesiologischen Modells vor.« (W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 236). Vielmehr »intendierte Schleiermacher (…) die Entschränkung der in ihrer eigenen Substanz gründenden Kirche in die Universalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (aaO., 237). 39 Vgl. M. Ohst, Schleiermacher und die Kirche (2000), 57. 40 Ch. Axt-Piscalar, Kirche (2003), 145. 41 Vgl. dazu III.3. 42 Vgl. K. Nowak, Französische Revolution (1985). Miriam Rose geht im Rahmen ihrer Untersuchung von Schleiermachers Staatslehre auch auf dessen Deutung der Französischen Revolution im Hinblick auf seine Staatslehre ein, vgl. M. Rose, Staatslehre (2011), 31 – 39, 49 – 64. 38
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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auf die Kirche überträgt, wie Albrecht Geck zutreffend hervorhebt: »Es würde die Analogie wohl nicht überdehnen, wenn man behauptet, daß es die Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, waren, die hier im Medium der religiösen Geselligkeit wiederkehren (…).«43 Sichtbar wird dies dann vor allem in Schleiermachers Kirchenverfassungsentwurf, in dem er den Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen zum leitenden Verfassungsprinzip macht.44 Die besondere Stärke des so begründeten Kirchenbegriffs liegt darin, dass Schleiermacher die Entstehung der Kirche als sowohl der Religion wie auch dem Menschen wesentlich ausweisen kann und somit die Kirche als Ort der religiösen Kommunikation als eine der menschlichen Natur notwendige und spezifische Gemeinschaft konzipiert, die sich gleichzeitig von anderen Gemeinschaften unterscheidet.45 Darüber hinaus gelingt es ihm, das freie religiöse Individuum und die Gemeinschaft so miteinander in Verbindung zu setzen und zu vermitteln, dass Freiheit, Individualität und Gemeinschaft einen unauflöslichen Zusammenhang bilden: Religion ohne Gemeinschaft ist für Schleiermacher nicht denkbar. 46 Damit hat Schleiermacher den Kirchenbegriff nun, wie Wilhelm Gräb zeigt, »kommunikationstheoretisch und organisationssoziologisch konzipiert«47 und so »die Kirchenlehre vom Kopf auf die Füße gestellt. Er hat die Kirche als eine menschliche Einrichtung aufgefasst, die es braucht, damit die religiöse Kommunikation in der Gesellschaft einen Ort hat und mit Niveau betrieben werden kann.«48
Die Kommunikation geschieht dabei mit dem Ziel, dass »[i]m geselligen Umgang der Menschen miteinander und insbesondere dort, wo dieser eine religiöse Tiefendimension erreicht (…) die Individuen ihre Individualität darstellen können, sie einen Zugang zu sich und ihrer persönlichen Identität gewinnen«49.
Die Kirche ist damit – als Raum der religiösen Kommunikation – der Ort in der Gesellschaft, in dem Individualität gebildet wird und zwar durch die Vermittlung mit der Gemeinschaft. Auf diese Weise gelingt es Schleiermacher, die 43
A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (1997), 33 f. Vgl. IV.3.2.1. 45 »Eine rein individualistische Form des Religion Habens, wie sie in unserer Zeitgenossenschaft vielfach gelebt wird, hat in Schleiermacher nicht ihren religionstheoretischen Ahnherrn.« (Ch. Axt-Piscalar, Kirche (2003), 147). 46 Christine Axt-Piscalar macht darauf aufmerksam, dass damit »die ›wahre‹ Kirche als Idealgestalt der gelungenen Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft« (vgl. aaO., 135) konzipiert ist. 47 W. Gräb, Kirche (2013), 311. 48 AaO., 312. 49 AaO., 316. Gräb bezieht diese Einsicht hier zwar nicht auf die Reden, m. E . lässt sich diese Aussage aber auch auf Schleiermachers Ausführungen in der vierten Rede beziehen. Zu Schleiermachers Verständnis der Individualität vgl. aaO., 313 ff. 44
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Kirche als eine Gemeinschaft zu begründen, die in der Gesellschaft ihre unverwechselbare und unverzichtbare Funktion hat, die für die Ausbildung der Individualität des Subjekts konstitutiv ist und von der aus sie in die Gesellschaft hinein wirksam ist.50 Es ist auffällig, dass Schleiermacher in Zusammenhängen, in denen er seinen Zuhörern sein Kirchenbild vor Augen führt, von der wahren Kirche spricht und diese der empirischen Kirche gegenüber stellt. Die Pointe liegt darin, dass Schleiermacher hier mit dem Begriff der wahren Kirche gerade nicht das bezeichnet, was gemeinhin unter dem Ausdruck der unsichtbaren Kirche verstanden wird, sondern der Ansicht ist, dass die wahre Kirche sich sichtbar verwirklicht. Er beruft sich hierfür auf die Unterscheidung von triumphierender und streitender Kirche, wobei er davon überzeugt ist, dass die von ihm beschriebene triumphierende Kirche nicht erst in der Zukunft liegt, sondern immer schon so gewesen und auch jetzt so ist: 51 »Ich habe Euch eine Gesellschaft von Menschen dargestellt, die mit ihrer Religion zum Bewußtsein gekommen sind und denen die religiöse Ansicht des Lebens eine der herrschenden geworden ist, und da ich Euch überzeugt zu haben hoffe, daß das Menschen von einiger Bildung und von vieler Kraft sein müßen, und daß ihrer also immer nur sehr Wenige sein können, so müßt Ihr freilich ihre Vereinigung da nicht suchen wo viele Hunderte versammelt sind in großen Tempeln (…).« 52
Abseits von den verfassten Großkirchen kann sich folglich die wahre Kirche als eine Gemeinschaft freier religiöser Individuen tatsächlich verwirklichen. Demgegenüber kann Schleiermacher sogar behaupten, dass die empirische Kirche gerade die Gemeinschaft nicht-religiöser Menschen, und darum nicht Kirche im eigentlichen Sinne des Wortes ist: »[M]an ist in dieser Verbindung nur deswegen weil man keine Religion hat, man verharrt darin nur so lange als man keine hat«53. Diese Kritik an der empirischen Kirche ist jedoch durchaus kon struktiv zu verstehen – sie zielt nicht etwa auf die Abschaffung der verfassten Kirche, was sich darin zeigt, dass Schleiermacher trotz aller Kritik das Ende der verfassten Kirche oder auch nur die Trennung von ihr ausdrücklich nicht wünscht: 50 »Denn Religion und Kirche thematisieren etwas, was allen anderen Systemen implizit eingestiftet ist: die Bezogenheit alles Endlichen auf das Unendliche sowie die Frage der gelungenen Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft. Indem Religion und Kirche diese mit der Natur des Menschen verbundene individuelle und gemeinschaftliche Bestimmung eigentümlich zur Darstellung bringen, sind sie faktisch immer schon auf das gesellschaftliche Leben im Ganzen bezogen.« (Ch. Axt-Piscalar, Kirche (2003), 142). 51 »Die wahre Kirche ist in der That immer so gewesen und ist noch so (…).« (F. Schleiermacher, Reden (1799), 273). 52 Ebd. 53 AaO., 276.
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»Nein, wenn die wahre Kirche doch immer nur denjenigen offen stehen wird welche schon im Besiz der Religion sind, so muß es doch irgend ein Bindungsmittel geben zwischen ihnen und denen welche sie noch suchen, und das soll doch diese Anstalt sein, denn sie muß ihrer Natur nach ihre Anführer und Priester immer aus jener hernehmen.« 54
Die verfasste Kirche ist damit das Bindeglied zwischen denen, die schon Religion haben und in der wahren Kirche sind, und denen, die noch auf der Suche sind. Auch die verbreitete Ansicht, dass Schleiermacher hier schlicht das Herrenhuter Gemeindeideal vor Augen hat, ist so nicht richtig, wie Gräb überzeugend zeigt, wenngleich Schleiermacher freilich von diesem beeinflusst ist.55 Schleiermacher entwirft sein Programm nicht gegen die verfasste Großkirche, sondern vielmehr als Reformprogramm für diese.56 Diesen konstruktiven Aspekt arbeitet Schleiermacher dann besonders in den Überarbeitungen und ergänzenden Erläuterungen in den weiteren Auflagen der Reden aus, in denen er insbesondere die vierte Rede bearbeitet hat.57 Schleiermachers Verständnis der wahren Kirche ist somit als Kritik an der Wirklichkeit der empirischen Kirche und als Reformprogramm zu verstehen, wobei sich die Kritik vor allem an den zwei bereits genannten Punkten entzündet: der bestehenden Trennung von 54
AaO., 277. Vgl. W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 236 f.: »Anders als die Herrnhuter selbst hat Schleiermacher jedoch deren Gemeindeverständnis so aufgenommen, daß es nicht mehr ein am Ideal kleiner Gemeinschaften orientiertes Korrektiv zum Verfall des religiösen Lebens in der institutionalisierten Großkirche darstellen sollte, sondern die Option auf deren durchgreifende Reform am Leitfaden der Umstellung ihrer autoritär-hierarchischen Organisationstruktur hin auf ihre soziale Repräsentanz in kommunalen, die wechselseitige Artikulation des religiösen Interesses ermöglichenden Sozialformen. (…) Bei aller Inspiration durch das Gemeindeleben der Herrnhuter ging es ihm vielmehr darum, die gesellschaftlich allgemeine und zugleich individuell höchst vielfältig vorkommende religiöse Erfahrung wieder in eine die Kommunikation untereinander und zugleich die Verständigung über ihren eigenen Grundsinn ermöglichende Sozialgestalt, also in die Kirche als einen Ort der offenen und öffentlichen Kommunikation des religiösen Interesses einzubinden.« 56 Hirschs Urteil fällt in dieser Hinsicht vernichtend aus: »In Wahrheit ist somit die vierte Rede nichts als ein Programm des romantischen Geistes für die Reform der protestantischen Kirchen, der erste und in manchem noch sehr unentwickelte der Versuche Schleiermachers, eine über Orthodoxie, Pietismus und Auf klärung gleichmäßig hinausführende neue Gestalt unseres Kirchenwesens herauszuführen.« (E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 4, 525). 57 Zur Entwicklung des Kirchenbegriffs innerhalb der Auflagen der Reden vgl. G. Meckenstock, Historische Einführung, hier: XXV: »Schleiermacher hat sich vom scharfen Kirchenkritiker zum Kirchenreformer gewandelt. Sein programmatisches Anliegen zielt nun auf die ›bessere Gestaltung der bestehenden Kirche‹. Die vorhandene Kirche wird deutlich positiver gezeichnet.« Christoph Dinkel folgt in seinen Ausführungen Günter Meckenstock, macht aber auch darauf aufmerksam, dass Schleiermacher »schon 1799 in der vierten Rede ein konkretes Kirchenreformprogramm« (Ch. Dinkel, Kirche (1998), 273) entwickelt. Letzteres betonen vor allem sowohl Gräb als auch Axt-Piscalar, vgl. W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), bes. 233 – 244; Ch. Axt-Piscalar, Kirche (2003). Zur Entwicklung des Kirchenbegriffs Schleiermachers bis etwa 1808 vgl. den sehr instruktiven Artikel von M. Ohst, Schleiermacher und die Kirche (2000). 55
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Priestern und Laien in der Anstaltskirche; und der Zweckentfremdung derselben durch den Staat, wobei Schleiermacher im Letzteren den Ursprung des katastrophalen Zustands der empirischen Kirche zu erkennen meint.58 Die positive Bedeutung der verfassten in ihrem Bezug zur wahren Kirche betont Schleiermacher im Laufe der weiteren Jahre immer stärker, was sein wachsendes Interesse an der empirischen Kirche widerspiegelt.59 Der Idealbegriff der wahren Kirche und das Bild der verfassten Kirche bilden nunmehr einen engeren Zusammenhang, sodass die empirische Kirche nicht mehr bloß ein ›Bindemittel‹ ist, wie Martin Ohst feststellt: »Das Idealbild der Kirche bildet sich um zum hermeneutischen Instrument, mittels dessen mitten in der wirklichen Kirche mit all ihren Zweckwidrigkeiten doch auch die Lebensvollzüge der wahren Kirche aufgesucht werden können. Und damit gewinnt die wirkliche Kirche, gewinnen die wirklichen Kirchentümer eine spezifische Würde: Sie und nur sie sind der Ort, wo die wahre Kirche verborgen präsent ist (…).« 60
Letzteres zeigt sich auch ganz deutlich in der Glaubenslehre. Hier entwickelt Schleiermacher den Kirchenbegriff zunächst in der Einleitung in den Lehnsätze der Ethik 61 – die Ekklesiologie bildet also gleichermaßen den Rahmen für die Glaubenslehre – und er hält zunächst ganz allgemein fest, »[d]aß eine Kirche nichts anders ist als eine Gemeinschaft in Beziehung auf die Frömmigkeit« 62 . Indem Schleiermacher die Kirche in Bezug auf die Frömmigkeit bestimmt, die er in den folgenden Paragraphen als der menschlichen Natur wesentlich nachweist, gelingt es ihm wie schon in den Reden, die Kirche als dem menschlichen Wesen entsprechende, notwendige und von anderen Vereinen unterschiedene Gemeinschaft zu konzipieren: »Die ethische Reflexion der Funktion der Kirche dient dazu, fromme Gemeinschaften als ein für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges Element darzustellen. Mithilfe des ethischen Kirchenbegriffs kann Schleiermacher die christliche Kirche als 58
»Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt eine solche Constitutionsakte politischer Existenz auf die religiöse Gesellschaft: alles versteinert sich so wie sie erscheint. Alles nicht Zusammengehörige, was nur für einen Augenblik in einander geschlungen war ist nun unzertrennlich aneinander gekettet; alles Zufällige, was leicht hätte abgeworfen werden können ist nun auf immer befestigt (…).« (F. Schleiermacher, Reden (1799), 281). 59 So urteilt Dinkel über die Entwicklung Schleiermachers: »Schleiermachers Vorstellung von der wahren Kirche in den Reden von 1799 ist utopisch und visionär. Die verfaßte Kirche will er zwar verbessern, ihr gilt aber nicht sein eigentliches Engagement. Sein Ziel ist vielmehr eine elitäre Gemeinschaft der religiösen Virtuosen. Schleiermachers Bild von der Kirche wandelt sich in den Jahren nach der Veröffentlichung der Reden erheblich. Aus dem Utopisten und Visionär wird ein realistischer Kirchenpolitiker, der sich mit Sachverstand und eifrigem Bemühen der Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse widmet.« (Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 51). 60 M. Ohst, Schleiermacher und die Kirche (2000), 59. 61 Zum Ort und Auf bau der Ekklesiologie in der Glaubenslehre vgl. Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 62 ff. 62 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 3.1, 20.
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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eine spezifische, von anderen signifikant unterschiedene, religiöse Gemeinschaft ausweisen und das Wesen des Christentums bestimmen.« 63
Damit geht Schleiermacher wie schon in den Reden deutlich über den auf klärerischen Kirchenbegriff hinaus. Auf den Kirchenbegriff der Glaubenslehre ist hier im Einzelnen nicht ausführlich einzugehen; relevant ist in diesem Zusammenhang primär Schleiermachers Verständnis des Verhältnisses von unsichtbarer und sichtbarer Kirche, mit dem er sich bewusst von der reformatorischen Tradition absetzen möchte, wie es sich ja schon in den Reden abgezeichnet hat. – Schleiermacher will gerade »die wahre Gemeinschaft der Glaubenden, nirgendwo anders als in der sichtbaren Kirche finden« 64. In der Glaubenslehre beschreibt er das Verhältnis folgendermaßen: »Die unsichtbare Kirche ist also die Gesammtheit aller Wirkungen des Geistes in ihrem Zusammenhang; dieselben aber in ihrem Zusammenhang mit den in keinem einzelnen von dem göttlichen Geist ergriffenen Leben fehlenden Nachwirkungen aus dem Gesammtleben der allgemeinen Sündhaftigkeit constituiren die sichtbare Kirche.« 65
Die Kirche ist auf das Wirken des Geistes zurückzuführen, »[d]enn jeder Gläubige gelangt ›nur in der Gemeinschaft und durch sie zu dem neuen Leben‹ und jeder hat ›seinen Anteil an dem H. Geist nicht in seinem persönlichen Selbstbewußtsein für sich betrachtet, sondern nur, sofern er sich seines Seins in diesem Ganzen bewußt ist, d. h. als Gemeinbewußtsein‹« 66.
Schleiermacher versteht die Kirche hiernach zunächst in der Tradition der Reformation als Gemeinschaft der Gläubigen. Die Widergeborenen bilden ein neues Gesamtleben, »das dem alten Gesamtleben der Sünde entgegensetzt ist« 67, wobei der Begriff des Gesamtlebens hervorhebt, dass es sich bei der Kirche um wirkliche Gemeinschaft handelt, in der die Individuen notwendig aufeinander bezogen sind.68 Der Geist verbindet dabei »die Gemeinschaft der Gläubigen zu einem kommunal handlungsfähigen Subjekt« 69. Die entscheidende Pointe in Schleiermachers Kirchenverständnis ist, dass der Ort des Wirkens des Geistes immer die sichtbare Kirche ist 70 – sie ist der geschichtliche Ort, an dem Gott 63
Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 55 [Hervorhebung im Original]. W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 241. 65 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 148.1, 428. 66 Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 68 f.; vgl. auch F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 123. Der enge Zusammenhang von Ekklesiologie und Pneumatologie wird besonders im Leitsatz von § 123 deutlich, wenn es heißt: »Der heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesammtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes.« (AaO., § 123, 288). 67 Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 68. 68 Vgl. ebd. 69 W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 239 f. 70 Damit ist der Rahmen der traditionellen Ekklesiologie gesprengt: »Denn die Kirche ist nunmehr notwendiges Interpretament für das Ganze von Religion in seinem geschichtlichen Zusammenhang.« (T. Rendtorff, Kirche (1966), 131). 64
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
vermöge des Geistes in der Welt gegenwärtig und in ihr wirksam ist 71, »[i]n ihr vereint sich das göttliche Wesen mit der menschlichen Natur und bildet das Reich Gottes auf Erden«72 . Der Grund für die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche liegt für Schleiermacher nämlich darin, dass die Kirche nicht in der Welt sein kann, ohne dass Letztere auch auf diese wirkt: »Dadurch, daß die Kirche sich aus der Welt nicht bilden kann, ohne daß auch die Welt einen Einfluß auf die Kirche ausübt, begründet sich für die Kirche selbst der Gegensaz zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche.«73 Die Kirche ist hier als Größe charakterisiert, die einerseits Teil der Welt ist, andererseits jedoch als der Ort der Gegenwart des Geistes der Welt als dem Ort der Sünde entzogen ist bzw. gegenübersteht: Es ist demnach nicht von zwei nebeneinanderstehenden Kirchen die Rede, sondern von der einen sichtbaren Kirche. Diese hat sowohl eine göttliche oder geistliche Seite, als auch eine menschliche, sodass gilt: »Die Kirche nimmt an der eigentlichen infralapsarischen Seinsweise der Gläubigen teil, sie ist simul iustus et peccator.«74 Unsichtbare und sichtbare Kirche bilden folglich einen unauflöslichen Zusammenhang: Die unsichtbare Kirche als die Gesamtheit der Wirkungen des Heiligen Geistes ist der Grund der sichtbaren Kirche und in dieser wirksam: sie ist nur »innerhalb der sichtbaren Kirche«75. Die sichtbare Kirche ist der Ort, an dem der Geist wirkt und Gott gegenwärtig ist; die unsichtbare Kirche ist darin die Gesamtheit der Wirkungen, die ausschließlich vom Geist bestimmt sind. »So scheidet sich demnach, wenn wir von da ausgehn wo das neue Leben sich anknüpft, sehr bald das reine und das unreine, und zwar gerade wie das sichtbare und das unsichtbare, denn was in das erscheinende Bewußtsein übergeht, ist schon nicht mehr das reine.«76
Die wahre Kirche ist also einerseits nur dort, wo die sichtbare Kirche ist, gleichzeitig geht sie aber nicht in dieser auf: »Wovon diese Kirche in Wahrheit lebt, das sollten vielmehr jene Wirkungen des Heiligen Geistes sein, wie sie dem Glauben an die unsichtbare Kirche immer schon in ihrer Totalität präsent sind, im geschichtlichen Dasein der Kirche jedoch das Potential des kämpferischen Weltbezugs der in der Gemeinschaft der Glaubenden sozial präsenten Kirche bedeuten.«77
71 Zur Bedeutung von Christentum und Kirche für Politik und Gesellschaft bei Schleiermacher vgl. A. von Scheliha, Religion (2008). 72 Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 69. 73 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 148, 427. 74 Ch. Link, Kirchenverfassung (1966), 53 [Hervorhebung im Original]. 75 Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 70 [Hervorhebung im Original]. 76 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), § 149.1, 431. 77 W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 241.
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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Die reformatorische Differenzierung löst Schleiermacher demnach dahingehend auf, dass er die Differenz »innergeschichtlich«78 in der sichtbaren Kirche verarbeitet. Es geht ihm nicht darum festzuhalten, dass nicht alle Mitglieder der sichtbaren Kirche auch Teil der unsichtbaren Kirche sind, sondern vielmehr gehören nach seiner Auffassung alle Kirchenmitglieder gleichermaßen zur sichtbaren wie auch zur unsichtbaren Kirche, da sie zwar Wiedergeborene sind, aber dennoch Teil der Welt bleiben: »Unsichtbar ist im geschichtlichen Leben der Menschheit die den Weltbezug überwunden habende bzw. ihn vollständig in sich zur Auf hebung bringende ›reine Kirche‹, die nichts der alten Welt der Sündhaftigkeit Angehörendes mehr in und gegen sich hat.«79
Entscheidend ist aber: Die empirische Kirche hat ihren Grund in der wahren, vollkommenen Kirche und umgekehrt ist die wahre Kirche nur gegenwärtig in der empirischen Kirche. Damit erfährt die verfasste Kirche nun nicht nur in pragmatischer Hinsicht eine erhebliche Aufwertung gegenüber der auf klärerischen Unterscheidung, sondern die religiöse Dimension und Bedeutung derselben für den Glaubenden wird von Schleiermacher stark gemacht, ohne dabei freilich die Kirche zu einer göttlich verordneten Anstalt zu machen, denn trotz des engen Zusammenhangs hebt er die Unterscheidung keineswegs auf. Wie auch in den Reden ist die empirische Kirche »der sichtbare Interaktions- und Kommunikationszusammenhang derer (…), die kraft des Heiligen Geistes in die Lebensgemeinschaft mit der Person Jesu und damit in die Teilhabe an seinem erlösenden und versöhnenden Tun sich hineingestellt wissen« 80.
Nach Hirsch ist damit die neuprotestantische Kirchenidee formuliert, die seiner Ansicht nach »die geistige Grundlage aller bewußt protestantischen Auffassung von der Kirche im 19. Jahrhundert« 81 bildet. Die Attraktivität und Stärke dieses Kirchenbegriffs liegen auf der Hand: Einerseits wird durch die Unterscheidung das Anliegen der Auf klärung so aufgenommen, dass »[d]as Autoritäre und das Lehrgesetzliche« 82 des Kirchenbegriffs überwunden werden: Eine hierarchisch strukturierte Gemeinde, in der die Amtsautorität über derselben steht, ist ausgeschlossen, vielmehr wird der Kirchenbegriff vom autonomen Subjekt her entworfen und so das neuzeitliche Anliegen aufgenommen; andererseits wird durch die Betonung des Zusammenhangs der verfassten Kirche mit dem Heiligen Geist die religiöse Dimension auch in Bezug auf die sichtbare Kirche wiedergewonnen, der dann auch eine weiterreichende Bedeutung in Bezug auf die Welt zukommt, indem 78
U. Barth, Sichtbare und unsichtbare Kirche (2008), 183. W. Gräb, Sichtbare Darstellung (1989), 241. 80 AaO., 239. 81 E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 152. 82 AaO., 153. 79
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
»die geschichtliche Erscheinung der Kirche als den mit Jesus Christus in die Menschheit eintretenden Geist einer Gemeinschaft, welcher an dem vorgefundenen Gesamtleben der Menschheit als ein umbildendes, geistig, sittlich und religiös erneuerndes Prinzip wirkt« 83.
Als Ort der Gegenwart des göttlichen Geistes ist die Kirche über den kirchlichen Raum hinaus in der Gesellschaft wirksam und die die Gesellschaft wesentlich prägende Kraft. Dieser Kirchenbegriff hat nun weitreichende Implikationen, die bereits angedeutet wurden: So werden Toleranz und Freiheit zu den zwei zentralen Stichwörter des neu-protestantischen Kirchenverständnisses. Es gibt nur ein Kriterium, an dem die Gemeinschaften zu messen sind: »eben die wider alle religiöse Unfreiheit, welche sich durch Priestertum oder Lehrgesetz oder Überlieferung gebunden erachtet, welche zwischen dem religiösen Gewissen des Christen und seinem natürlichen Bewußtsein von dem, was wahr und recht ist, einen Zwiespalt aufreißt.« 84
Die religiöse Autonomie des Subjekts gegenüber äußerlichen Bindungen wird damit zum Kriterium des Kirchenbegriffs erhoben.85
1.3. Kirche als Institution und Anstalt. Das Kirchenverständnis Friedrich Julius Stahls Dem Kirchenverständnis Schleiermachers steht nun die Ekklesiologie der kirchlichen Orthodoxie 86 gegenüber, die vor allem Mitte des 19. Jahrhunderts die kirchlichen und theologischen Diskurse prägte. Hirsch charakterisiert das Anliegen dieser Strömung folgendermaßen: »Wider das denkende Zeitbewußtsein mit seinem gebrochnen Verhältnis zum Christlichen, ebenso aber auch wider alles theologische Bemühen, zwischen Christentum und neuerem Wahrheitsbewußtsein zu vermitteln, tritt das kirchliche Prinzip als die sicherste, dem menschlichen Widerstreben gegen Gott uneinnehmbare Trutzburg des Offenbarungsglaubens.« 87 83
AaO., 151. AaO., 154. 85 Nach Hirsch lässt sich dieser Kirchenbegriff auch nur auf dem Boden des Protestantismus realisieren: »Die katholische Kirche kann nur als ein Gebilde angesehn werden, in welchem die christliche Gemeinschaft unter der Herrschaft eines dem christlichen Geiste fremden Prinzips gebunden liegt.« (AaO., 155). 86 Zum Hintergrund der konfessionellen Theologie vgl. H. Fagerberg, Bekenntnis (1952). 87 E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 170 f. Hirsch hat für den Kirchenbegriff der protestantischen Orthodoxie keine Sympathien übrig und macht daraus wie üblich keinen Hehl: Dies zeigt sich schon daran, dass er das Kirchenverständnis Schleiermachers und auch Hegels als genuin protestantisch versteht und diesen dann den orthodoxen Kirchenbegriff gegenüberstellt. 84
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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Kirche und Welt werden einander gegenübergestellt, sofern die Welt nicht auf die Kirche bezogen ist.88 Zur Konzeption ihrer Ekklesiologie greifen die Theologen der kirchlichen Orthodoxie auf Konzeptionen der altprotestantischen Orthodoxie zurück, wobei, wie Anselm betont, dieser Bezug von einem starken Gegenwartsinteresse geleitet ist.89 Letzteres ist für ein angemessenes Verständnis der kirchlichen Orthodoxie besonders relevant: Es wäre eine Verkürzung und ein gravierendes Missverständnis, wenn man die konservativen Theologen so verstehen würde, als ginge es ihnen um das bloße Festhalten an alten Lehren und Gebräuchen. Darauf macht deshalb zu Recht auch Friedrich Wilhelm Graf aufmerksam: »Die protestantischen Frühkonservativen beschwören nicht einfach kirchliche Überlieferung. Sie suchen Tradition unter den neuen, durch die Auf klärung definierten Reflexionsbemühungen umzuformen. Leitbegriffe der Auf klärung wie Kritik, Autonomie, Mündigkeit und Freiheit nehmen sie auf und geben ihnen darin zugleich einen neuen Gehalt.« 90
Das heißt, das Kirchenverständnis der kirchlich Orthodoxen ist ebenso wie Schleiermachers Ansatz zu verstehen als kritische Auseinandersetzung mit der kirchlichen Situation des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen sowie der Auf klärungstheologie im Besonderen und als konstruktiver Versuch zu bewerten, die eigenständige und besondere Existenz der Kirche in der modernen Gesellschaft zu begründen und zu bewahren. Vor diesem Hintergrund wird auch die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche fruchtbar gemacht, der »lutherische Konfessionalismus bediente sich des Merkmals der Unsichtbarkeit, um sowohl die religiöse Geschlossenheit wie die kulturelle, gesellschaftliche und politische Stellung der sichtbaren Kirche zu stärken«91. Freilich bietet auch die konfessionelle Theologie kein einheitliches Bild, vielmehr umfasst diese Strömung ganz verschiedene Personen, Schulen und Positionen, allerdings kann man dennoch von einer »einheitlichen konfessionellen Theologie sprechen«, insofern »gewisse Züge trotz aller nicht zu leugnenden Ungleichheit gemeinsam waren«92 . Dieses Gemeinsame erkennt Hirsch in dem »Drang, die 88 »Der Gegensatz von Christus und Welt geht ihr [der kirchlichen Orthodoxie; Anm. d. Vf.] ganz in dem von Kirche und Kirchenentfremdung auf.« (AaO., 170). 89 »In Opposition zu der von Schleiermacher und seinen Anhängern vertretenen Gemeindeorientierung der Ekklesiologie und dem Kollegialismus als der adäquaten Kirchenverfassung dominiert die konfessionelle Theologie bis zur Reichsgründung 1870 die Auseinandersetzung um das rechte Kirchenverständnis. Ihre Vertreter sind es, die sich mit einem dezidierten Gegenwartsinteresse der lutherischen Orthodoxie zuwenden.« (R. Anselm, Ekklesiologie (2000), 24 f.). Zur Ekklesiologie des lutherischen Konfessionalismus vgl. H. Fagerberg, Bekenntnis (1952); Ch. Link, Kirchenverfassung (1966); R. Anselm, Ekklesiologie (2000). 90 F. W. Graf, Spaltung des Protestantismus (1993), 173. 91 U. Barth, Sichtbare und unsichtbare Kirche (2008), 181. 92 H. Fagerberg, Bekenntnis (1952), 22.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Frömmigkeit zu objektivieren in tatsächlicher greif barer Ordnung und Gegenständlichkeit«93. Entsprechend rücken zum Beispiel die Bekenntnisschriften, aber auch Gottesdienstordnungen und vor allem das Amt in den Fokus des Kirchenverständnisses. War der Ausgangspunkt des neuprotestantischen Kirchenbegriffs das religiöse Bewusstsein eines jeden Gläubigen und der Gemeinde,94 so ist hier der Ausgangspunkt die objektive Wahrheit, die in Amt und Bekenntnis bzw. der Kirche auf bewahrt ist und die gegenüber dem Subjekt vertreten werden muss: »Die religiöse Gemeinschaft wird Vollzug anstalts- und stiftungsgemäßen Lebens, der naturgemäß an bestimmte Regeln gebunden ist. Von hier aus erscheint die neue Kirchlichkeit als Kampf für die Objektivität der Stiftung Christi wider alle subjektivistische Auflehnung.« 95
Der konservative Kirchenentwurf ist damit zunächst als Reaktion und Gegenmodell zu demokratisierenden Tendenzen sowohl in der Kirche aber auch im Staat zu verstehen, die als Ausdruck rationalistischer und damit revolutionärer und gottloser Vorstellungen gedeutet werden, nach denen das Subjekt sich von der göttlichen Wahrheit emanzipiert hat.96 Einer der prominentesten und streitbarsten Vertreter der konfessionellen Ekklesiologie war der Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl,97 in ihm hat »[d]ie anstaltliche Konstruktion der Kirche (…) auf protestantischem Boden ihren extremsten, aber auch zugleich ihren geistvollsten und einflußreichsten Vertreter
93
E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 172. Das darf nun allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, als sei innerhalb des gesamten orthodoxen Protestantismus die Gemeinde gegenüber dem Amt unterbestimmt gewesen. Auch innerhalb der konfessionellen Theologie waren die Ämterfrage und die Rolle der Gemeinde umstritten und wurden heftig diskutiert, vgl. H. Fagerberg, Bekenntnis (1952), 22. Die Vertreter der Erlanger Schule hatten ein lebhaftes Interesse an der Gemeinde und auch Hirsch urteilt über diese: »Von der Erlanger theologischen Fakultät ausgehend ersteht auch eine gemäßigte Gestalt der Lehre von Kirche und Amt. Sie ist hinsichtlich der Erneuerung der Kirche von Amt und Gnadenmitteln her mit jenen praktisch einig (…). Aber sie bleibt doch dem theologischen Auf bau nach näher bei den reformatorischen Aussagen.« (E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 197). So versuchte beispielsweise Johann Höfling das institutionelle Amt »aus der Voraussetzung des Priestertums aller Gläubigen« abzuleiten, »ohne daß dabei das Gegenüber von Amt und Gemeinde verlorengeht« (N. Slenczka, Diskussion um das kirchliche Amt (2001), 136). 95 E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 173. Hirsch erklärt, dass die Anhänger der neuorthodoxen Strömung mit ihrem Kirchenbegriff geradezu der Reformation widersprechen, obwohl sie der festen Überzeugung waren, das Erbe Luthers zu bewahren und gegen die vermeintlich »Unkirchlichen« zu verteidigen, vgl. Hirschs Urteil aaO., 174 f. 204 ff. 96 Vgl. II.3.2. Als Gegenmodell, auf das noch einzugehen ist, wurde jedoch keinesfalls ein vor-revolutionäres absolutistisches Modell vertreten, das ebenso als Ergebnis des Rationalismus gewertet wurde, vgl. IV.3.2.2. 97 Vgl. Kap. II, Anm. 186. 94
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
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(…) gefunden«98. So ist es nicht verwunderlich, dass Stahl einer der Hauptgegner Schenkels war.99 Deswegen ist es aufschlussreich, hier auch Stahls Kirchenverständnis zu skizzieren, wobei der Fokus wieder auf der für Schenkel grundlegenden Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche liegt.100 Gegen Stahl wird oftmals der Vorwurf erhoben, dass er die Kirche auf die reine Anstaltskirche reduziert habe, in der es keinen Platz mehr für die Gemeinschaft der Glaubenden gebe, da er nämlich die sichtbare mit der unsichtbaren Kirche identifiziert habe. Diese Sicht erweist sich allerdings als zu einseitig, denn für Stahl ist die Kirche »ihrem Wesen nach und von ihrer ersten Gründung an beides. Sie ist eine Institution, eine gegliederte Anstalt, und ist Gemeinschaft der Gläubigen oder, richtiger bezeichnet, ein Reich des Glaubens (…).«101 Allerdings steht der anstaltliche und institutionelle Gedanke bei Stahl eindeutig im Vordergrund, sodass sein Ansatz im Widerspruch zum neuprotestantischen Kirchenverständnis steht. Dies lässt sich deutlich anhand des Verhältnisses von unsichtbarer und sichtbarer Kirche zeigen, wie Stahl es vor allem 1862 in der zweiten Auflage seiner Schrift Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten102 entfaltet hat. Die primäre Motivation hinter Stahls Kirchenverständnis besteht zunächst darin, eine Kirchenverfassung zu entwerfen, »durch welche auch die weit grelleren Abwege oder Erneuerungen der alten Irrthümer ihre Beseitigung erhalten«103. Sein Programm hat dabei eine doppelte Stoßrichtung: Zum einen richtet er sich wie auch Schleiermacher gegen das überkommene Staatskirchentum,104 in dem die Kirche zu einem verlängerten Arm des Staates geworden ist; 98
Ch. Link, Kirchenverfassung (1966), 63. Vgl. z. B. D. Schenkel, Für Bunsen (1856) und ders., Union (1859). 100 Auf den Kirchenverfassungsentwurf Stahls wird unten eingegangen, vgl. IV.3.2.2. Das sehr differenzierte und komplexe Kirchenverständnis Stahls ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden, vgl. dazu u. a. H. Fagerberg, Bekenntnis (1952), bes. 197 – 225; Ch. Link, Kirchenverfassung (1966), 63 – 85; E. Hirsch, Geschichte (1968), bes. 178 – 185; A. Nabrings, Friedrich Julius Stahl (1983); R. Anselm, Ekklesiologie (2000), 30 – 52; N. Slenczka, Diskussion um das kirchliche Amt (2001), 126 – 134. 101 F. Stahl, Lutherische Kirche (1860), 280 f. [Hervorhebung im Original]. 102 Vgl. F. Stahl, Kirchenverfassung (1862). In der ersten Auflage der Kirchenverfassung geht Stahl noch von der Vorordnung der unsichtbaren Kirche aus, dies ändert sich jedoch – so Reiner Anselm – in der 2. Auflage »unter dem Eindruck der um die Mitte des Jahrhunderts intensiver werdenden Diskussion um die Relation dieser beiden Bestimmungen des protestantischen Kirchenbegriffs« (R. Anselm, Ekklesiologie (2000), 49, Anm. 101). Anselm weist darauf hin, dass die Verhältnisbestimmung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche allerdings dem schon in der 1. Auflage entwickelten Anstaltsgedanken widersprochen habe, vgl. aaO., 49 f., Anm. 101; die Korrektur ist also nur konsequent, wie auch Stahl selber erklärt, vgl. F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 55, Anm. 19. Hirsch bezieht sich in seinem Kapitel hinsichtlich der Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche bei Stahl auf die 1. Auflage, sodass seine Darstellung zu einem anderen Ergebnis kommt, vgl. E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 180. 103 F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), VIII. 104 Vgl. aaO., 16 – 27. Trotz der Ablehnung des Territorialismus und der Betonung der 99
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
zum anderen kritisiert Stahl auch das Kirchenverständnis der Auf klärung, die »die Kirche in ihrem Charakter als göttliche Einrichtung«105 verkennt: »Der göttlichen Würde entkleidet, fungierten ihre Ordnungen und Ämter lediglich als Ausfluß einer zufälligen und stets wandelbaren menschlichen Überzeugung.«106 Im Gegensatz zu Schleiermacher ist Stahl jedoch der Auffassung, dass auch an der Gemeinde orientierte Konzepte, ebenso wie das Staatskirchentum Ergebnis des individualistisch geprägten Rationalismus sind, »den Stahl theologisch als Emanzipation des Menschen von Gott und politisch als die Proklamation des revolutionären Prinzips der Volkssouveränität«107 versteht. Zwischen den beiden Irrwegen des sogenannten Territorialismus und Kollegialismus108 sucht Stahl deswegen den Mittelweg zu gehen, den er in der Episkopalverfassung zu finden meint: »Insbesondere aber ist die bischöfliche Verfassung im specifischen Wesen der Kirche gegründet.«109 Den Grund für die Fehlentwicklung des Kollegialismus sieht Stahl primär in der vermeintlichen Trennung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche: »Der äußerste Irrthum über dieses Verhältniß, und der am meisten zur Auflösung des protestantischen Kirchenrechts beitrug, ist jene Trennung, nach welcher unsichtbare und sichtbare Kirche, jede als eine Sache für sich ohne Zusammenhang mit der andern erscheint. Damit wird das göttliche Wirken im Innern des Einzelnen beschlossen ohne Wirkung nach außen und für die Gemeinschaft, dagegen der Bestand der äußeren Kirche der Willkür der Menschen preisgegeben.«110
Trennung von Kirche und Staat nimmt Stahl einen grundsätzlichen Zusammenhang der beiden an. So versteht Stahl den Staat als göttliche Einrichtung, »Volkssouveränität, Parlamentsherrschaft, Revolution sind ihm Erscheinungen menschlicher Empörung wider Gott« (E. Hirsch, Geschichte (1968), Bd. 5, 179). Stahls Kritik richtet sich vielmehr auf Umstände, in denen die Obrigkeit sich in geistliche Angelegenheiten der Kirche einmischte, vgl. dazu auch A. Nabrings, Friedrich Julius Stahl (1983), bes. 167 – 179. 105 F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 32. 106 Ebd. 107 T. Jähnichen, Protestantische Staatslehre (1996), 87. »Das Kollegialsystem ist das volle Ergebniß der rationalistischen Richtung. Die Auf hebung der höhern Autorität, der gegebenen Gewalt, die Rückführung aller Ordnung und alles Gesetzes auf den Willen der Einzelnen, das sind eben die Charakterzüge des Rationalismus.« (F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 33). Stahls Kritik ist demnach zum einen als theologisches Gegenmodell zu den Ideen der Französischen Revolution zu verstehen und zum anderen allgemein als Kritik an der Auf klärung und dem Rationalismus, vgl. R. Anselm, Ekklesiologie (2000), 31. 108 Gegen Christian Bunsen schreibt Stahl: »Das sogenannte Kollegialsystem, welches in jener Zeit des äußersten Verfalls der Kirche und des Kirchenrechts galt, sagte (…): die Kirche ist eine freie Vereinigung von Menschen, welche derselben religiösen Ueberzeugung sind, und sie kann nichts Bindendes anerkennen, als bloß den Willen, die Ueberzeugung der Gesellschaftsglieder.« (F. Stahl, Wider Bunsen (1856), 16 f.). 109 F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 228. 110 AaO., 54.
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
207
Stahl entfaltet seine Ekklesiologie demgegenüber ausgehend von der verfassten Kirche, und behauptet die göttliche Einsetzung und Stiftung nicht nur der unsichtbaren, sondern gerade auch der sichtbaren Kirche: »Die Kirche entstand, als Christus die erste Schar von Gläubigen um sich selbst versammelte, das Apostelamt einsetzte und befahl, daß das Wort gepredigt, die Sakramente verwaltet und die Kirchenzucht durch die eigenen Diener der Kirche ausgeübt werden sollten. Als am ersten Pfingsttag der Geist ausgegossen wurde, gab es schon die Lehre, das Amt und die Sakramente. Sie bilden den Grund, worauf die Kirche ruht.«111
Lehre, Amt und Sakramente bilden nach Stahl den von Christus gestifteten Grund der Kirche, der schon vor Pfingsten bestand und nicht etwa erst durch das Pfingstereignis konstituiert wurde. Die Kirche als Institution besteht damit vor den Glaubenden und wird nicht erst durch den Zusammenschluss von Glaubenden aufgrund eines Willensentschlusses derselben gebildet: »Die Menschen werden Anhänger der Kirche nicht dadurch, daß sie dieselbe errichten, sondern dadurch, daß sie in dieselbe berufen und aufgenommen werden.«112 Damit ist die Institution dem Individuum vorgeordnet. Sie ist von Gott eingesetzt, um das Reich Gottes zu fördern und als solche ist sie Heilsanstalt, die den Glaubenden übergeordnet ist: »Die Menschen sind also weder thatsächlich noch rechtlich eine Macht, welche über der Kirche steht, sondern die Kirche ist die Macht, unter welcher die Menschen stehen.«113 Seine Spitze findet Stahls Verständnis der sichtbaren Kirche im Amt. Darin geht er deutlich und ganz bewusst über CA VII hinaus und will damit den seiner Ansicht nach verkürzten Kirchenbegriff der Reformation überwinden: »Es ist in derselben zwar keineswegs die sichtbare Seite der Kirche ignorirt; denn die reine Verkündigung des Evangeliums wird als die sichtbare Seite derselben bezeichnet und als solche nachdrücklich geltend gemacht. Aber es ist die organische Seite der Kirche ignoriert – Amt und Regierung. (…) Es ist blos das göttliche Moment hervorgehoben, die Wirkung des h. Geistes in den Seelen und das Wort Gottes und das Sakrament, nicht aber das Medium des menschlichen Momentes, die äußere Ordnung und Gliederung unter den Menschen, durch welche das Wort rein bewahrt und verkündigt werden soll.«114
Das Amt, dem neben der Verkündigung und Verwaltung der Sakramente auch das Kirchenregiment zugeordnet ist, ist der sichtbaren Kirche ebenso wesentlich wie Wort und Sakrament.115 Gott offenbart sich in dieser von ihm gesetzten und gestifteten Ordnung, die damit dem menschlichen Gestaltungswillen entzogen 111
H. Fagerberg, Bekenntnis (1952), 207; vgl. F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 60. F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 75. 113 Ebd. 114 AaO., 43 f. 115 »Dieser principale Beruf des Amtes zur Kirchenregierung beruht (…) vor allem aber auf der positiven Ordnung und Stiftung Christi und dem besonderen Segen, welcher dem Amte verheißen ist.« (AaO., 175). 112
208
IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
ist.116 Das Amt ist nicht als zweckmäßige menschliche Einrichtung zu verstehen und geht auch nicht aus der Gemeinde hervor, sondern ist vielmehr ebenso wie Wort und Sakrament göttliche Stiftung und Werkzeug Gottes, das in einer dem christlichen Glauben kritisch gegenüberstehenden Zeit die christliche Wahrheit bewahrt und weitergibt. Notger Slenczka macht darauf aufmerksam, dass auch dieses Verständnis zeitdiagnostisch zu verstehen ist: »Angesichts dieses Plausibilitätsverlustes [der religiösen Bindekraft des konfessionellen Luthertums] bedarf es einer Instanz, die die Reinheit der lutherischen Lehre und Verkündigung auch gegen die Mehrheit der Kirchenglieder zu wahren hat (…). Die Rückbindung des Amtes an die unmittelbare Stiftung durch Gott und die Wahrung dieser Verantwortung des (…) Amtes allein vor Gott und nicht vor der Gemeinde etabliert dieses Amt als Gegenpol zur Korrosion.«117
Indem Stahl die göttliche Stiftung der sichtbaren Kirche so stark hervorhebt, scheint er auf den ersten Blick nicht nur die Differenzierung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche aufzugeben, sondern gleichzeitig damit die neuzeitliche Anerkennung des Individuums; dies sind genau die Vorwürfe, die Schenkel ihm wiederholt macht. Stahl begründet das Verhältnis von unsichtbarer und sichtbarer Kirche jedoch damit, dass sie sich beide der göttlichen Stiftung verdanken; sie sind demnach gleichursprünglich, denn »das Verhältniß zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche [ist] nicht blos das Band unter ihnen selbst (…), sondern ihr gemeinsamer Ursprung in Christus und ihre fortwährende gemeinsame Erhaltung und Regierung durch Christus«118. Damit gibt Stahl die Unterscheidung nicht einfach auf, sondern deutet sie vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Anstalt und Gemeinde: »Die Kirche ist nach ihrem Begriff zugleich die Gemeinde der Heiligen und Anstalt des Heils, ein inneres Glaubensreich und eine zur Wirksamkeit nach außen geordnete In stitution. Das ist der Grund der Unterscheidung ihrer unsichtbaren und sichtbaren Seite.«119
Die unsichtbare Seite bezieht sich auf den Bereich des Glaubens, der als solcher unsichtbar ist, die sichtbare Seite auf die institutionelle Anstalt und hier hält Stahl dann auch das Priestertum aller Gläubigen fest. 120 Er lehnt diesen Grundsatz also keineswegs ab, aber er wendet ihn nicht als leitendes Prinzip auf die 116 Stahl zufolge gilt dies ebenso für den monarchischen Staat, der als göttliche Ordnung auch gegenüber der Revolution behauptet werden muss. Vgl. zur rechtsphilosophischen Grundlegung von Stahl Kirchenverfassungsentwurf Ch. Link, Kirchenverfassung (1966), 63 – 73. 117 N. Slenczka, Diskussion um das kirchliche Amt (2001), 132. 118 F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 58. 119 AaO., 58 f. 120 »Als unsichtbare Kirche, als Glaubensreich besteht sie in dem Wirken des h. Geistes in den Seelen und der menschlichen Aufnahme seines Wirkens, daher in dem innern Glauben der einzelnen Menschen und ihrem gemeinsamen Bewusstsein desselben und dessen wechselseitiger Erweckung durch das christliche Zusammenleben.« (AaO., 59).
1. Der ideengeschichtliche Hintergrund
209
Kirchenverfassung an, da dies dem Autoritätsprinzip der von Gott gestifteten Ordnung widersprechen würde. Das Priestertum aller Gläubigen ist Stahl zufolge Ausdruck des unmittelbaren Gottesverhältnisses der Gemeindeglieder.121 Dieser Aspekt ist entscheidend, denn an dieser Stelle ist die neuzeitliche Individualitätsforderung aufgehoben: Das Individuum ist auch für Stahl in seinem Gottesverhältnis unvertretbar. Allerdings, und da holt Stahl dann das neuzeitliche Postulat wieder ein, ist dem Individuum die Institution als Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung dieses Gottesverhältnisses vorgeordnet. Entscheidend ist im Blick auf das Verhältnis von unsichtbarer und sichtbarer Kirche, dass nach Stahl die sichtbare Kirche ihren Grund nicht in der unsichtbaren Kirche hat und sich demnach auch nicht aus dieser ableitet – das würde eine Vorordnung der unsichtbaren vor der sichtbaren Kirche implizieren – sondern sie lassen sich beide gleichermaßen auf die göttliche Stiftung zurückführen. Nichtsdestoweniger lässt sich bei Stahl auch trotz der Betonung, dass beide in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, feststellen, dass die Kirche als sichtbare Heilsanstalt der unsichtbaren Gemeinschaft des Glaubens vorgeordnet ist: »Die beiden Seiten der Kirche sind von Uranfang und fortwährend in Wechselwirkung und Wechselbedingung. Der h. Geist wirkt den Glauben und die Gemeinschaft des Glaubens (das Glaubensreich) durch die Institution der Kirche (…), er wirkt sie nicht ohne die Institution durch die aggregatistisch ungegliedert nebeneinander lebenden Individuen. (…) [D]as hat zu seiner nothwendigen Voraussetzung und Grundlage die Institution der Kirche und die Wirksamkeit des h. Geistes in und kraft der Institution.«122
Stahls primäres Interesse gilt demnach ganz eindeutig der Kirche als sichtbarer Anstalt und die Unterscheidung dient ihm eben auch dazu, sein »übergeordnete[s] Interesse, den Anstaltscharakter der Kirche zu betonen«123. Sowohl Schleiermacher als auch Stahl versuchen mit ihren ekklesiologischen Konzeptionen auf die Herausforderungen, mit denen die Kirche durch das Staatskirchentum einerseits und den auf klärerischen Kirchenbegriff andererseits konfrontiert war, zu reagieren und die Kirche innerhalb der modernen Gesellschaft so zu begründen, dass sie nicht nur ihrem eigenen Wesen entspricht, sondern ihr darin auch eine unverzichtbare und wesentliche Bedeutung für die Gesellschaft zukommt. Die Ekklesiologie der beiden großen Denker ist 121 »Das allgemeine Priesterthum bezieht sich demnach nur auf die persönliche Beschaffenheit und Stellung zu Gott, nicht auf den gliedlichen Bau der Kirche, nicht auf den Dienst für die Gemeinde; es enthält den eigenen Zugang zu Gott, nicht die werkzeugliche Auswirkung göttlicher Vollmachten.« (AaO., 96). 122 AaO., 62. 123 R. Anselm, Ekklesiologie (2000), 49 f.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
dabei von einem ernsthaften Interesse an der sichtbaren Kirche geleitet. Deswegen ist es gleichzeitig ihr Anliegen, die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche vor diesem Hintergrund fruchtbar zu machen. Entscheidend ist, dass beide diese Unterscheidung nicht als Trennung verstanden wissen wollen, sondern letztlich auch in der sichtbaren Kirche die wahre Kirche erkennen. Während Schleiermacher jedoch die Neubegründung des Kirchenbegriffs im Ausgang vom religiösen und freien Individuum vornimmt, begründet Stahl sein Kirchenverständnis umgekehrt von der göttlichen Stiftung der Kirche her und entzieht sie damit dem menschlichen Zugriff. Im Unterschied zu diesen beiden Theologen betont nun Schenkel die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche sehr deutlich. Grundlage ist im Folgenden insbesondere seine Dogmatik, da Schenkel hier seine Ekklesiologie am ausführlichsten darlegt und begründet sowie vom oben dargestellten Religionsbegriff aus entfaltet; sie bildet auch das theologische Fundament seiner späteren Auseinandersetzungen mit dem Thema.
2. Die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum von Schenkels Kirchenverständnis Schenkel bearbeitet die Ekklesiologie in der Dogmatik im ersten Kapitel des dritten und letzten großen Teils Von der Wiederherstellung der menschlichen Gemeinschaft mit Gott124. Damit bildet die Ekklesiologie Ziel und Höhepunkt der Dogmatik und entspricht so dem Wesen des Protestantismus. In die Ekklesiologie ordnet Schenkel auch die Eschatologie ein, die denn auch als Die Vollendung der Kirche das letzte Kapitel der Dogmatik darstellt.125 Weitere Themen der Ek klesiologie sind die Bekehrung, Taufe und Heiligung sowie das Abendmahl. Grundlegend für Schenkels Ekklesiologie ist die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche – sie prägt und trägt sein gesamtes Nachdenken über die Kirche und ist das hermeneutische Zentrum für seinen Kirchenbegriff: Er leitet diese Unterscheidung aus seinem Begriff von Religion ab, genauer: aus der den Religionsbegriff tragenden Unterscheidung von Gott und Welt bzw. 124
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 918 – 1228. Auch bei Schleiermacher bildet die Ekklesiologie den Zielpunkt der Dogmatik und auch die Eschatologie verortet er in der Ekklesiologie, vgl. Ch. Dinkel, Kirche (1998), 274. Schleiermacher leitet den Kirchenbegriff allerdings schon im Rahmen der Einleitung ein, sodass sie auch das Fundament der Glaubenslehre bildet. Bei Schenkel bildet die Kirche, oder allgemeiner formuliert die christliche Gemeinschaft nur insofern den Rahmen, als er im ersten Kapitel der Dogmatik erklärt, dass Dogmatik immer im Kontext einer bestimmten christlichen Gemeinschaft betrieben werde; eine grundsätzliche und allgemeine Entfaltung des Kirchenbegriffs, wie Schleiermacher sie vornimmt, findet sich bei Schenkel im Rahmen der Grundlegungen allerdings nicht, vgl. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 9 ff. 125
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
211
Geist und Welt, die sich somit auch als grundlegend für die Ekklesiologie erweist.
2.1. Das Wesen der wahren Kirche Grund und Wesen der Kirche beschreibt Schenkel im Leitparagraphen des 17. Lehrstücks Das Wesen der Kirche126 : »In Folge des vermittelst des Glaubens der Menschheit sich mittheilenden Personlebens Jesu Christi entsteht ein neues, gottgemäß sich entwickelndes, menschheitliches Gesammtleben, die Gemeinde Christi oder die Kirche. Die Kirche als solche ist die Gesammtheit aller Glaubigen, in welchen das Personleben Christi durch sein Wort und seinen Geist, wenn auch erst keimkräftig, zur bewußten Selbstverwirklichung gelangt ist. Sie ist eine heilige, allgemeine, auf dem geschichtlichen Grunde der apostolischen Stiftung ruhende und von da aus sich vollendende.«127
Grund der Kirche ist Jesus Christus. Durch den Glauben an ihn entsteht ein neues, gottgemäßes Gesamtleben, in dem die unmittelbare und persönliche Bezogenheit des Einzelnen auf Gott in seinem Gewissen wiederhergestellt ist. Dieses Gesamtleben ist die Kirche, und zwar die unsichtbare wahre Kirche. Sie verdankt sich dem Wirken Gottes. Ihrem Wesen nach ist sie eine, heilige, allgemeine und apostolische, wie Schenkel in Aufnahme der im Nicaenum-Konstantinopolitanum bekannten Attribute der Kirche feststellt. Ausgangspunkt für Schenkels ekklesiologische Überlegungen ist die Einsicht, dass »die Versöhnung in Christo nicht eine Friedensstiftung zwischen Gott und einzelnen Menschen, sondern zwischen Gott und der gesammten Menschheit war«128. In Christus erweist sich das Heil als auf alle Menschen und nicht nur auf einige Individuen bezogen. Der Grund hierfür liegt darin, dass in der Persönlichkeit Christi »die Idee des wahren menschlichen Personlebens, wie es ewig von Gott gewollt ist, zur vollen sittlichen Selbstverwirklichung gelangt ist«, sodass damit »der Menschheit die Bahn ihrer Heilsentwicklung vorgezeichnet«129 ist. Da in Christus das wahre Wesen des Menschen verwirklicht und offenbar geworden ist, gilt seine Sendung und Versöhnung auch allen Menschen. Aus diesem Grund versteht Schenkel die wahre Kirche als von Christus gestiftet,130 und zwar mit dem einzigen Ziel, die Menschheit mit ihrem Ursprung zu versöhnen,131 und das heißt die religiöse Tätigkeit der Menschen 126
Vgl. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 918 – 990. AaO., 918 f. 128 AaO., 920 f. 129 AaO., 920. 130 In dem RE-Artikel hebt Schenkel hervor, dass »[d]ie Gemeinde Gottes auf Erden (…) so alt [ist] als die Offenbarungsthätigkeit Gottes den Menschen gegenüber« (D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 560), sodass die Gemeinde Gottes in diesem Sinne nicht erst mit Christus, sondern vielmehr ihren Anfang in Adam und Eva genommen hat. 131 »Daß die Menschheit glaubig, und vermöge des Glaubens mit Gott versöhnt und von 127
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
wiederherzustellen. Menschliche oder weltliche Ursprünge schließt Schenkel hier also dezidiert für die unsichtbare Kirche aus: Ursprung und Grund ist allein Christus, der seinen Geist der Gemeinde gab und der diese ›zeugt‹ und erhält. Da Schenkel seine gesamte Dogmatik auf dem Gewissensbegriff auf baut, muss er auch die Existenz der unsichtbaren Kirche aus dem Gewissen, und das heißt der Religion als erster Quelle der Dogmatik begründen.132 Für diesen Schritt knüpft er an seine Überlegungen zum Zusammenhang von Gewissen und Gemeinschaft an und erinnert daran, dass das Gewissen »das allgemeinste Geistesvermögen des Menschen«133 ist. Gleiches gilt nun für den Glauben, der nichts anderes ist als eine ›gesteigerte Gewissensaktion‹ – auch er ist auf die gesamte Menschheit bezogen, sodass der Gläubige »ein Vertreter des in Christo gestifteten neuen gottgemäßen Menschheitlebens«134 ist. Dennoch bleibt hier ein scheinbarer Widerspruch bestehen: Sowohl der Glaube als gesteigerte Gewissensaktion wie auch die Religion als Einheit von Gott und Mensch sind rein innerlich, das Subjekt ist darin ausschließlich auf sein Gewissen bezogen. Diesem individuellen Charakter scheint die Vorstellung einer Gemeinschaft unter den Glaubenden geradezu zu widersprechen, wie Schenkel selber feststellt, wenn er fragt, »wie über den anscheinenden Widerspruch hinauszugelangen ist, daß, was als solches das eigenste Wesen des besonderen Individuums ist, zugleich auch das wahre Wesen der Gesammtheit werden soll«135. Schenkel sucht diesen Widerspruch so zu lösen, dass er in diesem Zusammenhang nunmehr den gemeinschaftlichen bzw. menschheitlichen Bezug im Gewissen stärker hervorhebt: »Im Gewissen als solchem ist der Mensch sich allerdings zunächst als dieses einzelnen, aber zugleich auch als eines auf Gott bezogenen, bewußt, und eben damit als eines allgemeinen, da Gott das Allgemeinste ist. Der Mensch hat sich selbst mithin im Gewissen als einen Theil der Menschheit.«136
Der Mensch wird im Gewissen also nicht nur seiner eigenen unmittelbaren Bezogenheit auf Gott ansichtig, sondern er erfährt sich darüber hinaus als Teil der Menschheit. So ist das Individuum im Glauben gewiss, »daß er den Glauben nicht lediglich als ein für ihn seiendes, sondern vielmehr als ein menschheitliches Gut hat, und daß erst in der Summe des gesammten, durch das Personleben Christi erzeugten menschheitlichen Glaubenslebens sich der ganze Inbegriff des göttlichen Heilslebens darstellt«137. der Sünde erlöst, d. h. in Gott vollendet, werde: Das war der Zweck der Sendung Christi auf Erden, und insofern auch der Stiftung seiner Kirche.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 927). 132 Vgl. III.4. 133 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 921. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd.; vgl. dazu III.4.1.3.2. 137 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 921.
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
213
Das Gewissen und die Offenbarung verknüpfen sich an dieser Stelle: Im Gewissen als dem allgemeinsten menschheitlichen Organ ist das Subjekt sich zunächst ganz allgemein als Teil der Menschheit bewusst. Im Glauben konkretisiert sich dieses Bewusstsein gleichsam durch die Offenbarung insofern, als das Subjekt sich nunmehr als Teil der wiederherzustellenden Heilsgemeinschaft versteht. Durch diese Verknüpfung sucht Schenkel demnach das Individuum, das in seinem Gewissen ganz auf sich und Gott bezogen ist und bleibt, mit dem Gedanken einer menschheitlichen Heilsgemeinschaft zu verbinden und zu vermitteln. Das Wesen der wahren Kirche besteht also in der Verwirklichung des religiösen Bewusstseins ihrer Mitglieder: »Das Wesen der unsichtbaren Kirche beruht aber darauf, daß jedes Mitglied derselben in unmittelbarem lebendigem Verhältnisse zu Gott steht und lediglich in einem solchen das Bewußtsein des Friedens und der Versöhnung mit Gott hat.«138 Aus diesem Grund ist die wahre Kirche notwendig unsichtbar, weil das Wirken Gottes rein innerlich und so auch der Glaube und die Bezogenheit des Subjekts auf Gott allein im Innern des Menschen bestehen. Gegenüber Schleiermacher und Stahl fällt zunächst auf, dass Schenkel die unsichtbare Kirche mit der wahren Kirche identifiziert. Schleiermacher hat demgegenüber versucht, die wahre Kirche in der sichtbaren Kirche zu verorten, ohne dabei jedoch die gebrochene Wirklichkeit der empirischen Kirche zu ignorieren,139 und Stahl hat die verfasste Anstaltskirche als Garant für die geoffenbarte Wahrheit ebenfalls als die wahre Kirche verstanden. Für Schenkel ist dagegen die Pointe, dass die wahre Kirche als solche niemals dargestellt oder abgebildet werden kann. Diese Einsicht ist in seinem Religionsbegriff begründet: Die unsichtbare Kirche besteht ihrem Wesen nach aus der Gemeinschaft derjenigen, die glauben und sich also in persönlicher unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott erfahren. Sie ist somit ihrem Wesen nach frei von weltlichen Bezügen. Die Unterscheidung dient Schenkel demnach dazu, das autonome Subjekt ins Zentrum zu stellen, und es als Fundament eines genuin protestantischen Kirchenbegriffs gegenüber einer katholischen oder lutherisch konfessionellen Konzeption zu profilieren. Schenkels Ekklesiologie ist somit als Antwort und Gegenmodell zu einem an der sichtbaren Institution orientierten Modell zu verstehen, dass die Institution dem Subjekt vorordnet. 138
D. Schenkel, Erneuerung (1860), 20. »Dabei geht es ihm bei der Bestimmung der ›wahren‹ Kirche, und das hält Schleiermacher ausdrücklich fest, nicht um die ecclesia invisibilis, sondern um die Kirche, die als solche bereits Wirklichkeit ist und sich in einer bestimmten, empirisch wahrnehmbaren Sozialgestalt darstellt.« (Ch. Axt-Piscalar, Kirche (2003), 144). Schenkel geht auf diesen gravierenden Unterschied nicht ein; er kritisiert an Schleiermacher lediglich, dass dieser den Ursprung der unsichtbaren Kirche nicht ausreichend bedacht habe, da er die Kirche als die Wirkung des Geistes verstehe, vgl. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 989. 139
214
IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
2.2. Die Eigenschaften der unsichtbaren Kirche Das Wesen der wahren unsichtbaren Kirche140 beschreibt Schenkel mithilfe der Eigenschaften, die das Nicaenum-Konstantinopolitanum nennt,141 auf das er sich allerdings nicht explizit bezieht. Vielmehr erhebt er den Anspruch, diese Eigenschaften aus dem Gewissen abzuleiten und zu begründen und findet sie darüber hinaus in der Schrift bestätigt. Die Eigenschaften beschreiben Schenkel zufolge nicht nur das Wesen der Kirche, sondern der Kirche sind damit auch bestimmte Aufgaben gestellt. Dies deutet bereits auf eine Eigentümlichkeit in Schenkels Ekklesiologie hin. So geht er davon aus, dass die Kirche nicht einfach ›ist‹, sondern vielmehr noch im Werden begriffen ist, was sich auch in dem eingangs zitierten Leitsatz zeigt, in dem Schenkel festhält, dass die Kirche eine sich noch vollendende ist. Dass die Kirche ihrem wahren Wesen nach nur eine ist, stellt die für Schenkels Kirchenverständnis zentrale Eigenschaft dar, denn »[w]ie es nur einen Erlöser giebt, in welchem die Beseligung der Menschheit beschlossen ist, nur ein Heil, welches alle Menschen umfaßt, nur einen Glaube, durch welchen alle in die Gemeinschaft mit Christus und in ihm mit dem Vater treten, nur eine Menschheit innerhalb welcher die göttliche Heilsabsicht sich verwirklicht: so giebt es in Wirklichkeit auch nur eine Gesammtheit derer, in welchen Christus lebendig wird und durch ihn das Leben in Gott sich menschheitlich vollendet.«142
Zugespitzt bedeutet dieses Argument, dass es nur eine Kirche geben kann, eben weil es nur einen Gott gibt. Schenkel verarbeitet hier die Einsicht, die er im Rahmen der Erörterung seines Religionsbegriffs gewonnen hat, dass die Religion aller Menschen ihrem Wesen nach identisch ist, da das Gewissen in allen Menschen identisch ist.143 Indem der Glaube als die gesteigerte Gewissensaktion das einzige Kriterium für die Teilhabe an der wahren Kirche darstellt, und dieser immer auf denselben Gegenstand, nämlich Gott, bezogen ist, ist die Einheit der Kirche damit immer schon gegeben und »in der Natur der Sache nach begründet«144. Diesen Befund findet Schenkel auch von der Verkündigung Jesu bestätigt: So erkennt Schenkel die Einheit zum Beispiel in der Überwindung des alttestamentlichen Partikularismus, wie seines Erachtens exemplarisch in 140 Schenkel bevorzugt eigentlich den Begriff der Gemeinde, den er dann allerdings nicht konsequent benutzt, vgl. aaO., 922, Anm *. 141 »Die Stetigkeit ihrer Entwicklung ist durch die Wirkung des Wortes und Geistes Christi bedingt, und es sind vier Eigenschaften, in welchen die Wahrheit ihres Wesens zur Erscheinung kommt.« (AaO., 922 f ). Offen bleibt allerdings, wie genau man sich das ›Zur-Erscheinung-Kommen des Wesens‹ vorstellen muss, wenn sich die Eigenschaften doch nur auf die unsichtbare Kirche beziehen und diese gerade nicht äußerlich darstellbar ist. 142 AaO., 923. 143 Die Religion »ist in jedem Menschen und zu allen Zeiten ihrem Wesen nach dieselbe« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 239). Vgl. III.4.1.3.2. und III.4.2.2. 144 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 923.
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
215
Joh 4,25 deutlich wird: »Die Rede an die Samariterin proclamirt die Einheit des religiösen Geistes, in seiner Freiheit von der nationalen Bestimmtheit, als eine göttliche Nothwendigkeit.«145 In der einen christlichen Kirche sind die Glaubenden allein durch den einen Geist miteinander verbunden; äußere, und das heißt weltliche Differenzen sind hier irrelevant, sodass Schenkel die Schlussfolgerung zieht: »Diese durch Christum aus allen Völkern gesammelte, lediglich vermittelst des Glaubenslebens mit ihm verbundene, von äußeren Formen unabhängige, Gemeinschaft bekehrter Menschen ist die eine christliche Kirche, außerhalb welcher es keine andere giebt.«146
Die Einheit impliziert die Allgemeinheit der Kirche. Die Allgemeinheit bezieht sich, so Schenkel, auf die Tatsache, dass das Gewissen aller Menschen dasselbe ist und dass sich das Heil und damit die Gemeinschaft der Glaubenden auf alle Menschen bezieht. »Ist Christus der Versöhner und Erlöser der ganzen Menschheit, so haben auch alle Menschen Anspruch auf sein Heil, und es ist als ein unvollkommener Zustand der Kirche zu betrachten, wenn ein Theil der Menschheit von der Heilsgemeinschaft mit ihm noch ausgeschlossen ist.«147
Einheit und Allgemeinheit der Kirche sind demnach eng miteinander verbunden; dass damit unterschiedliche Dimensionen des Wesens der Kirche bezeichnet sind, wird deutlich, wenn man die damit jeweils verbundenen Aufgaben in den Blick nimmt: Während die Einheit der Kirche die vereinigende Aufgabe der Kirche bezeichnet, impliziert »der Charakter der Allgemeinheit (…) eine gewinnende«148. Die Kirche ist heilig: Durch den Glauben und der darin realisierten Verbundenheit mit Christus ist die Gemeinschaft der Glaubenden von der Welt unterschieden. Insofern ist der Glaubende heilig, als er »das Heil als die Keimkraft einer sein Personleben heiligenden sittlichen Entwicklung in sich trägt, und in einem, seine Heilsvollendung verbürgenden, Verhältnisse zu Gott steht«149. Er ist aber nicht heilig, weil er etwa sündlos wäre; allerdings ist die bestimmende Macht in ihm Schenkel zufolge nicht mehr die Sünde, sondern eben der Glaube. 145
AaO., 924. Ebd. Den einheitsfördernden Aspekt des Christentums überhaupt für alle Bereiche des Lebens hebt Schenkel auch in einem AKZs-Artikel aus dem Jahr 1860 hervor: »Es ist von Anfang an ein auszeichnendes Merkmal der christlichen Religion gewesen, daß sie die Gegensätze und Besonderungen des socialen Lebens gemildert, die Völker einander genähert, die Individuen zu gemeinsamen Aufgaben und Zwecken gesammelt hat.« (D. Schenkel, Fortbildung (1860), 2) Dieser Aspekt hat dann auch nationale Bedeutung im Blick auf eine Einigung der deutschen Staaten, vgl. IV.2.3. 147 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 924 f. 148 Ebd. 149 Ebd. 146
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Das bedeutet nun aber, dass auch »die Kirche als Gemeinschaft der Glaubigen nicht irrthums- oder sündlos«150 ist und sie insofern auch noch nicht vollkommen ist; sie soll sich daher »einem ununterbrochenen Reinigungsprocesse von der Sünde (…) unterziehen, bis zu ihrer herrlichen Vollendung«151. Und schließlich ist die Kirche ihrem Wesen nach apostolisch: Sie ist auf ihren Stifter Jesus Christus gegründet und auf ihn wesentlich bezogen. Dieser Aspekt ist für Schenkel vor allem deswegen relevant, da aufgrund des Vermittlungsprozesses nach außen »fremdartige Bestandtheile in den Verlauf derselben eindringen: so ist unerläßlich, daß auf die ursprünglichste Kirchenbildung, als die ungetrübteste Vermittlungsform des christlichen Glaubens, immer wieder zurückgegangen wird, nicht um dieselbe in bloß äußerlichem Nachahmungstriebe wiederherzustellen, sondern um von ihren Grundzügen aus eine diesen möglichst entsprechende, von störendem Beiwerke gesäuberte, Kirchenform zu gewinnen«152 .
Dass die Kirche apostolisch ist, stellt demnach primär ein Korrektiv für die sichtbare Gemeinde dar, von der im Rahmen der Wesensattribute hier erstmals die Rede ist. Offen bleibt allerdings, was Schenkel unter der ›ursprünglichsten Kirchenbildung‹ versteht: Durch die Begriffe ›Kirchenbildung‹ und ›ungetrübteste Vermittlungsform‹ scheint Schenkel diese Aussage auf die erste Gemeinschaft der Jünger um Christus zu beziehen, was jedoch seiner eigenen Intention widerspricht, steht für ihn doch fest, dass die genannten Eigenschaften die unsichtbare Kirche beschreiben: »Die Frage, ob eine sichtbare Kirche, mit den eben beschriebenen Eigenschaften ausgerüstet, zeitgeschichtlich wirklich sich vorfinde, können wir nur mit Nein beantworten.«153 Die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche möchte Schenkel unbedingt gewahrt wissen, scheint sie jedoch nicht immer konsequent durchzuhalten: Zum einen ist es problematisch, dass Schenkel in diesem Zusammenhang von der Aufgabe der Kirche spricht, denn wenn sich die wahre Kirche alleine dem Wirken Gottes verdankt, wem ist diese Aufgabe dann überhaupt gestellt? Zum anderen ist im Hinblick auf die wahre Kirche zu fragen, weshalb diese noch im Werden, also noch nicht vollkommen ist – wie kann sie dann die wahre Kirche sein? So erklärt Schenkel auch in dem RE-Artikel:
150
Ebd. AaO., 926. Die Heiligkeit der Kirche leitet Schenkel nicht explizit aus dem Gewissen und der Schrift ab. An dieser Stelle zeigt sich ein Unterschied zum klassisch reformatorischen Verständnis der verborgenen Kirche, nach dem die Kirche heilig ist, weil sie durch Gott geheiligt ist: »Alles, was Gott gehört, und nur das, was Gott gehört, ist heilig. Deswegen ist die Gemeinschaft der Glaubenden heilig, sie ist die communio sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen.« (W. Härle, Art. »Kirche« (1989), 290 [Hervorhebung im Original]). 152 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 926. 153 Ebd. 151
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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»Uebrigens ist die Kirche, obwohl die eine, weltumfassende, geheiligte, wahre, ächt apostolische, doch nicht vollkommen und nicht unfehlbar, ihr kommt nicht Infallibilität zu; sie ist vielmehr eine werdende, wachsende, sich immer mehr heiligende und vollendende (…).«154
Schenkel versteht die Eigenschaften der unsichtbaren wahren Kirche nicht deskriptiv, sondern normativ, was vor allem in Bezug auf ihre Heiligkeit und Apostolizität zu Widersprüchen führt, da er die Unterscheidung von unsichtbarer, von weltlichen Bezügen freier Kirche und sichtbarer, weltlicher Kirche an diesen Punkten dann nicht mehr konsequent durchhalten kann.155 Für Schenkel ist die unsichtbare Kirche demnach die wahre Kirche, weil sich in ihr das individuelle Gottesverhältnis realisiert, jedoch ist sie im Werden, da noch nicht die gesamte Menschheit Teil der unsichtbaren Kirche ist.
2.3. Die Fehlentwicklung im Kirchenverständnis und die Wiederentdeckung der wahren Kirche durch den Protestantismus Die Einsicht in die grundsätzliche Unterschiedenheit von unsichtbarer und sichtbarer Kirche geriet Schenkel zufolge schon zu Beginn der Christentumsgeschichte in Vergessenheit und ist tatsächlich niemals vollends durchgesetzt worden: Schenkel ist der Überzeugung, »daß der lautere Kirchenbegriff, wie wir ihn dargestellt haben, in der Christenheit eigentlich niemals zum klaren Bewußtsein gelangte, und schon in den ersten Jahrhunderten der Entwicklung des Christenthums aufs Gröbste verwirrt und verdunkelt wurde«156.
Stattdessen sind, so Schenkel, zunächst die Eigenschaften der unsichtbaren Kirche auf die sichtbare übertragen und schließlich beide miteinander identifiziert 154
D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 598. Das hier auftretende Problem liegt m. E. darin begründet, dass Schenkel die Differenz der Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche einerseits und von der kämpfenden und triumphierenden Kirche andererseits nicht beachtet. »Die Unterscheidung zwischen der verborgenen und der sichtbaren Kirche ist nicht identisch und darf deswegen nicht gleichgesetzt oder verwechselt werden mit der gemeinchristlichen Unterscheidung zwischen der kämpfenden bzw. pilgernden (…) und der triumphierenden bzw. verherrlichten Kirche (…).« (W. Härle, Art. »Kirche« (1989), 286 [Hervorhebung im Original]). Letztere beschreibt den Zustand der Kirche in ihrem vollendeten Zustand im Eschaton. »Sie erinnert daran, daß nicht wir es sind, die die Kirche begründet haben und erhalten, sie erinnert daran, daß die Toten nicht aus der Gemeinschaft der Kirche hinausfallen, sondern zu ihr bleibend, ja auf vollendete Weise, hinzugehören, und sie erinnert mit alledem an die eschatologische Perspektive, die dem Glauben mit der Verheißung ewigen Lebens gegeben ist.« (Ebd.). Demgegenüber bezeichnet die unsichtbare, wahre Kirche die Gemeinschaft der Glaubenden in ihrem Bezug auf Gott. Da hier aber, wie Schenkel nicht müde wird zu betonen, der Bezug auf Gott rein innerlich gegeben ist und damit unmittelbar und persönlich, ist diese Gemeinschaft deswegen eine, allgemeine, heilige und apostolische Kirche, die nicht noch zu dieser werden muss, sondern es vermöge des Glaubens schon ist. 156 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 926. 155
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
worden. Erst der Protestantismus hat das wahre Wesen der Kirche wiederentdeckt, wobei auch dieser nach Auffassung Schenkels nicht an der seinem Wesen entsprechenden Einsicht in die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche festgehalten hat und der Kirchenbegriff auch im Protestantismus schon kurz nach der Reformation verfälscht wurde. In der Verwechslung bzw. Identifizierung der unsichtbaren und sichtbaren Kirche erkennt Schenkel also den Grund für die Missstände der Kirche und zeichnet diese Entwicklung in einer beeindruckenden ›Dekadenzgeschichte‹ nach.157 Da Schenkels Deutung der Entwicklung des Kirchenbegriffs in der Christentumsgeschichte besonders deutlich die Relevanz aufzeigt, die seiner Ansicht nach die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche für die Ekklesiologie hat, und zudem der Zusammenhang zum Wesen des Protestantismus sehr deutlich wird, soll sie hier kurz skizziert werden. Der erste Schritt, der zu einer Verzerrung des Kirchenbegriffs geführt hat, ist nach dem Urteil Schenkels schon im 2. Jahrhundert vollzogen worden: Angesichts der dogmatischen Streitigkeiten und Differenzen suchten die Theologen die Einheit der Kirche zu bewahren bzw. wiederherzustellen, indem sie Lehren und Bekenntnisse aufstellten und darüber die Einheit der Kirche sichtbar machen wollten. Lehre und Bekenntnis wurden fortan zum Kriterium für die sichtbare Kirche. Schenkel zufolge gingen die Theologen damit zwar zunächst durchaus von der richtigen Einsicht der Einheit der Kirche aus, allerdings übertrugen sie dieses Attribut, das nur der unsichtbaren Kirche zukommt, auf die sichtbare Kirche; die Differenz von sichtbarer und unsichtbarer Kirche wurde somit schon hier nicht mehr durchgehalten und die sichtbare Kirche vermöge ihrer Einheit zur wahren Kirche erhoben, in der das Dogma, das diese Einheit herstellen sollte, an die Stelle der lebendigen Religion gesetzt wurde. Erste Anzeichen für diese Fehlentwicklung meint Schenkel bei Irenäus zu erkennen und urteilt:158 »Die Vermischung der sichtbaren Form der Kirche mit ihrem unsichtbaren Wesen war so viel als vollzogen.«159 157 Vgl. zu dieser Dekadenzgeschichte D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 563 – 576. Schenkel stellt die Entwicklung hier besonders ausführlich dar. 158 »Der berühmte Ausspruch des Irenäus: wo die Kirche, da sei der Geist Gottes, und wo der Geist Gottes, da die Kirche: war schon an und für sich irreleitend, weil Irenäus unter der Kirche nicht mehr lediglich die Gemeinschaft der Glaubigen, sondern die der Autorität des Episkopates untergeordnete christliche Lehr-, Cultus- und Verfassungsanstalt verstand. Daß die Einheit der Lehre, des Gottesdienstes, der Verfassungsordnungen bewahrt bleibe: Das erschien diesem Kirchenvater bereits als das höchste, in der Kirche zu erstrebende, Ziel.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 930). 159 AaO., 931. Ganz anders klingt demgegenüber Schenkels Äußerung aus dem Jahr 1838: »Denn was sie unsichtbare Kirche nennen, was damit gesagt sein soll, darüber ist in neuerer Zeit viel Streit gewesen, und Herr Dr. Rothe in Heidelberg hat wohl nicht ganz Unrecht, wenn er dieser Unsichtbaren den Krieg ankündigt. Unsichtbar ist sie gewiß; denn wir bekommen, Gott weiß es, nicht viel von ihr zu sehen! Immer mehr scheint sie in dogmatische
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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Diese Fehlentwicklung ist, so Schenkel, auch nach Irenäus unauf haltsam vorangeschritten und Cyprian hat in einem nächsten Schritt zwar »die Allgemeinheit der Kirche proclamirt«160, diese gleichzeitig aber ›lokalisiert‹, indem er den »rechtmäßige[n] Glaubensbesitz bereits an die äußere Verbindung mit dem römischen Bischofsstuhl«161 knüpfte. Das Heil sei somit bei Cyprian nicht mehr an die unmittelbare Bezogenheit auf Gott im Glauben an Christus geknüpft, sondern nunmehr an die Bezogenheit auf die Hierarchie.162 Damit hat sich nach Schenkel die Kirche aber noch weiter von ihrem Grund und Wesen gelöst. Das Heil wurde nicht mehr in der unmittelbaren Bezogenheit des Menschen auf Christus gesehen, sondern vielmehr an die Kirche bzw. den Priesterstand gebunden, was sich in der Ausbildung eines Laien- und eines davon unterschiedenen Priesterstandes manifestierte.163 Diesen falschen Weg habe schließlich Augustin – dem Schenkel grundsätzlich zugesteht, dass er von seinem theologischen Standpunkt her den Missständen eigentlich hätte entgegenwirken können164 – angesichts der Auseinandersetzungen mit den Donatisten weiterhin vertieft, indem er endgültig die Differenz von unsichtbarer und sichtbarer Kirche eingeholt und die sichtbare Kirche als die wahre Kirche identifiziert habe: »Die sichtbare Kirche ist ihm als solche auch die wahre und bedarf keiner innern ethischen Legitimation.«165 Schenkel macht seine These an Augustins Erklärung fest, dass es außerhalb »der sichtbaren Kirche keinen Zusammenhang mit dem
Lehrbücher ihr unsichtbares Dasein zu flüchten. Mag diese unsichtbare Kirche ein schönes Ideal, ein frommer Gedanke sein, sie ist ach! doch nur ein Kind der Sehnsucht und einer unkirchlichen Zeit, ein trauriges Surrogat für die sichtbare Kirche, die sie uns entrissen haben! Die Kirche des Irenäus ist sichtbar, sie ist wahrhaftig und wirklich vorhanden.« (D. Schenkel, Verhältniß (1838), 22). 160 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 932. 161 Ebd. 162 »Während der Glaube auf dem evangelischen Standpunkte, als die unmittelbare Bezogenheit des offenbarungsgemäß erweckten Gewissens auf das Personleben Christi, von fremden Persönlichkeiten unabhängig, das schlechthin Persönliche im Menschen ist: so ist er dagegen bei Cyprian als unmittelbare Bezogenheit – nicht mehr des Gewissens, sondern der Vernunft, des Willens, der Gefühlszustände auf die äußere kirchliche Anstalt schlechthin unpersönlich, bloß sachliche Unterwerfung unter die Hierarchie.« (AaO., 933 f.). 163 Vgl. aaO., 934. 164 »Wie nahe hätte es doch Augustinus auf seinem principiellen Standpunkte gelegen, sich von der innern Unwahrheit seiner Ansicht zu überzeugen. Wenn ihm einerseits das Wesen der Kirche auf der mittlerischen Thätigkeit der Bischöfe beruht, und wenn er doch andererseits wieder zugiebt, daß man in Gemeinschaft mit den Bischöfen und außerhalb der Kirche sich befinden könne; wenn er einerseits den Umfang der Kirche durch das bischöfliche Regiment begrenzt sein läßt, und wenn er doch andererseits wieder erklärt, daß die Kirche aller Grenzen spotte: tritt denn hierin nicht unverkennbar jener Doppelgehalt seiner Grundüberzeugung hervor, die ihn bald als Schutzpatron des römisch-katholischen Systems, bald als Propheten der Reformation erscheinen läßt?« (AaO., 935 f.). 165 AaO., 935. Schenkel wirft Augustin darüber hinaus vor, die Trennung von Staat und Kirche aufgeweicht zu haben, vgl. aaO., 936.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Leib Christi, d. h. der von den Menschen verborgenen Glaubensgemeinschaft, mehr gebe«166 . Das von Augustin geprägte Kirchenverständnis hat nach Schenkel die gesamte weitere Theologie- und Kirchengeschichte bestimmt; 167 Höhepunkt dieser Fehlentwicklung war das Konzil von Trient:168 »Damit ist denn auch die tiefste dogmatische Verirrung bloßgelegt, welche in Betreff des Kirchenbegriffes möglich ist: die Uebertragung der versöhnenden und erlösenden Wirksamkeit des Personlebens Christi auf die äußere Kirchengemeinschaft, die Gleichsetzung der Dignität der Kirche mit der Dignität Christi selbst.«169
Mit diesem Schritt habe sich die Kirche nun allerdings endgültig von ihrem Grund und Stifter gelöst, denn: »Eine solche Kirchengemeinschaft ist das gerade Gegentheil von derjenigen, welche Christus gewollt hat (…). An die Stelle von Wort und Geist Christi trat nun aber in der priesterlichen Anstaltskirche Gesetz und Zwang der Hierarchie (…).«170 Indem die Kirche sich nach Schenkel an die Stelle Christi gesetzt hat, hat sie das Ziel der Sendung Christi verkehrt, weil sie das Subjekt an sich bindet und den Glauben an Christus und damit ein unmittelbares und persönliches Gottesverhältnis des Subjekts unterbindet. Damit ist jedoch auch das Wesen der unsichtbaren Kirche verkehrt und »in dem römisch-katholischen Kirchenbegriffe an die Stelle des kirchlichen Wesens die Wesenlosigkeit der kirchlichen Form getreten«171. Der römische Kirchenbegriff stellt also nicht nur in dogmatischer Hinsicht eine Fehlinterpretation des Christentums dar, vielmehr verfehlt der Kirchenbegriff das Wesen der Religion selbst. Die Verzerrung des wahren Kirchenbegriffs ist nun – wie auch beim Religionsbegriff – durch den Protestantismus aufgehoben worden: Dass das Wesen der 166
AaO., 935. »Ist es scheinbar auffallend, daß es während des Mittelalters an einer eigentlichen Lehrentwickelung in Betreff des Dogma’s von der Kirche fehlt: so liegt der Grund hievon darin, daß die Lehre seit Augustinus festgestellt war und nur noch die praktischen Folgerungen daraus gezogen werden mußten. Aber eben in diesen Folgerungen kommt der tiefe und schwere Abfall von dem ursprünglichen Kirchenbegriffe zur Erscheinung.« (D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 573). 168 »Die zuerst durch Cyprian und sodann durch Augustinus verschuldete Vermengung dessen, was zur äußern Erscheinung des Christenthums mit Dem, was zu seinem innern Wesen gehört, d. h. der symbolisirenden Funktionen mit dem Glauben, hat in dem tridentischen Romanismus den Gipfel erreicht. Hier wird, allen Protesten des Gewissens, allen Zeugnissen der h. Schrift, allen Gegenbeweisen der religiösen Erfahrung zum Trotze, keck behauptet, daß die Erscheinung und das Wesen der Kirche sich decken, daß die Formen der lehrbildenden, cultushandelnden, verfassungsgestaltenden Thätigkeit, so weit sie innerhalb der römisch-katholischen Gemeinschaft äußere Rechtsautorität erhalten haben, schlechthinige Offenbarungen, nicht nur des menschlichen Glaubenslebens, sondern Christi und seines heiligen Geistes selbst sind.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 939). 169 AaO., 938. 170 AaO., 937. 171 AaO., 944. 167
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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wahren Kirche allein durch den Glauben des Subjekts, und das heißt dann durch seinen unmittelbaren Bezug auf Gott konstituiert wird, und dass diese wahre Kirche als solche von der sichtbaren Kirchengemeinschaft grundsätzlich unterschieden ist, ist Schenkel zufolge eine Einsicht, die der Protestantismus wieder hervorgebracht hat.172 Durch den Selbstbezug der Reformatoren auf ihr Gewissen, mussten sie notwendig mit der römischen Kirche wie auch dem römischen Kirchenbegriff brechen.173 »Indem sich der Protestantismus aus dem Gewissen und den unmittelbaren göttlichen Offenbarungsquellen herausbildete, stets darauf gerichtet, das Heil in seiner ursprünglichen Wahrheit zu besitzen, blieb ihm keine andere Wahl, als mit einer Kirchenform zu brechen, welche das Gewissen als heilsbedingenden Faktor aufgegeben und das geschichtliche Bild des Gekreuzigten in Mystik und Magie verhüllt hatte. War man einmal darüber einig, daß der Glaube allein die Gemeinschaft mit Christus, und daß Christus allein die Gemeinschaft mit Gott vermittle: so fiel der vielgegliederte kunstreiche Prachtbau der mittelalterlichen Theokratie in sich selbst zusammen (…).«174
Alles, was sich zwischen das Subjekt und Gott stellt, hindert das persönliche Gottesverhältnis, und damit die Wiederherstellung der Heilsgemeinschaft. Die »durch eine geniale Gewissensintuition erkannte Wahrheit« bestand laut Schenkel dann auch darin, »daß zwischen der Kirche, als einer innern Glaubensgemeinschaft, und der Kirche, als einer äußern Rechtsinstitution, ein grundsätzlicher Unterschied bestehe, daß man der einen angehören könne, ohne Mitglied der anderen zu sein, von der einen verdammt werden könne und gleichwohl in der anderen selig zu werden vermöge«175.
Die Unterscheidung ist damit im Wesen des Protestantismus begründet, denn indem dieser die unmittelbare Bezogenheit des Subjekts auf seinen Ursprung wieder zur Geltung gebracht hat, hat er auch das Wesen der wahren Kirche erkannt und das wahre Verhältnis von Christus, Glaube und Kirche wieder aufgerichtet. Der protestantische Kirchenbegriff ruht demnach auf zwei wesentlichen Wahrheiten: zum einen, dass »die Teilnahme an der wahren Kirche durch ein unmittelbares Verhältniß zu Christo bedingt ist«, und zum anderen, dass »Christus im innersten Punkte der Persönlichkeit, im Glauben, angeeignet werden muß«176 . Der Protestantismus zielt demzufolge seinem Wesen nach gerade nicht auf den Auf bau einer bestimmten sichtbaren Kirche, einer konfessi172 Schenkel zufolge hat sich dieser Bruch der Reformation mit dem katholischen Kirchenbegriff schon seit dem 14. Jahrhundert vorbereitet: »Je mehr die sichtbare Kirche sich mit der Welt und ihren Lastern befleckte, desto unerläßlicher ward es, zwischen dieser höchst mangelhaften Erscheinung und ihrer reinen Idee zu unterscheiden.« (D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 574). 173 Vgl. III.3. 174 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 944 f. 175 AaO., 947 [Hervorhebung im Original]. 176 AaO., 945 f.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
onellen Sondergemeinschaft oder auf die Ausbildung bestimmter material-dogmatischer Lehren oder Identitätsmarker, sondern vielmehr auf die Ausdehnung der unsichtbaren und wahren Kirche. Ihr gilt das primäre Interesse des Protestantismus, denn nur in ihr ist die Heilsgemeinschaft des Subjekts mit Gott wiederhergestellt und verwirklicht, während der Bezug des Subjekts auf die sichtbare Kirche in dieser Hinsicht irrelevant ist. Damit ist hier ein entscheidender Unterschied zu Stahl markiert: Bei Stahl ist das Individuum eben genau auf die Institution als Bedingung der Möglichkeit des dann unvertretbaren Gottesverhältnisses angewiesen, während es bei Schenkel gerade nicht auf die Institution zur Verwirklichung des individuellen Gottesverhältnisses angewiesen ist, sondern ganz auf sein Gewissen bezogen bleibt. Allerdings ist Schenkel der Überzeugung, dass auch im Protestantismus diese Einsicht nie vollkommen verwirklicht wurde. Aus eben diesem Grund misst Schenkel den kirchlichen Fragen seiner Gegenwart eine so große Bedeutung zu, weil er von der Auseinandersetzung mit dem Kirchenbegriff der kirchlichen Orthodoxie die Entscheidung erwartet, ob der Protestantismus den genuin protestantischen Kirchenbegriff verwirklicht oder von ihm und damit eben auch vom Wesen und Prinzip des Protestantismus selber abfällt. So wie der Protestantismus schon kurz nach seinem ersten Auftreten von seinem Wesen in Bezug auf den Religionsbegriff abgefallen ist, hat er auch an der aus seinem Wesen erkannten Wahrheit des Kirchenbegriffs nicht festhalten können, wie Schenkel zeigt.177 Denn schon bald ist auch im Protestantismus, so Schenkel, die wahre Kirche mit der Lehre und dem Bekenntnis verbunden worden, wie er vor allem an CA VII fest macht: »War nämlich von Luther ursprünglich lediglich der Glaube als der kirchenbildende Faktor erkannt worden: so wurde später die reine Lehre und stiftungsgemäße Sacramentsverwaltung, zuerst vorzugsweise, bald ausschließlich, als Merkmal der wahren Kirche betrachtet.«178 An dieser Stelle wird der Widerspruch zwischen Stahl und Schenkel noch einmal besonders deutlich: Richtet sich Stahls Kritik an CA VII darauf, dass durch den fehlenden Ämterbezug die sichtbare Kirche als göttlich gestiftete organische Anstalt unterbestimmt ist, ist Schenkel gerade der gegenteiligen Auffassung, dass durch CA VII der Begriff der wahren Kirche mit einer bestimmten Lehre verbunden und somit der Kirchenbegriff verfälscht wurde. Mit CA VII ist nach Schenkels Ansicht ein Widerspruch im protestantischen Kirchenbegriff impliziert, da nun einerseits die wahre Kirche an einen bestimmten Lehrbegriff geknüpft und gleichzeitig an der Differenz zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche festgehalten wird, wie sie nach Schenkel bereits in der Her177
Vgl. bes. D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 576 ff. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 946 f.
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2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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vorhebung der Rechtfertigungslehre impliziert ist.179 Man habe dann versucht, diesen Widerspruch so aufzulösen, »daß die Kirche beides sei: eine Gemeinschaft im Glauben und h. Geiste nach innen, und eine Gemeinschaft in übereinstimmender Lehre und Sacramentsverwaltung nach außen«180. Demnach habe die Kirche also zwei Seiten: eine unsichtbare Seite des Glaubens, der nur die Gläubigen angehören, aber auch eine sichtbare Seite der Lehre und des Bekenntnisses, der aber wiederum sowohl Gläubige als auch Ungläubige zuzurechnen sind. Diesem Verständnis kann Schenkel sich zwar grundsätzlich anschließen, allerdings ist es ihm zufolge nicht bei dieser Unterscheidung geblieben, da beiden Seiten darüber hinaus miteinander verknüpft wurden: »Von dem Augenblicke an, in welchem Uebereinstimmung mit dem kirchlich autorisirten Lehrbegriffe als nothwendiges Erforderniß der Theilnahme an der wahren Kirche, d. h. an dem christlichen Heile, betrachtet wird: wird die Theilnahme am Heil von einer Bedingung abhängig gemacht, welche außerhalb der Gewissens- oder Glaubenssphäre liegt, d. h. nicht mehr vom Glauben allein.«181
Diese Verknüpfung bewertet Schenkel als Abfall vom Wesen und Prinzip des Protestantismus, da die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche damit aufgebeben und infolgedessen auch der vom Protestantismus wieder zur Geltung gebrachte Religionsbegriff verzerrt worden sei: »[W]er – entgegen dem Zeugnisse des Gewissens, der Schrift und der Reformation – dennoch die wahre Kirche zu einer sichtbaren äußern Institution macht: der dringe folgerichtig dann auch auf äußere Uebereinstimmung in Lehre, Cultus und Verfassung. Aber dann räume er zugleich ein, daß nicht der Glaube, d. h. eine Aktion des unmittelbar auf Gott bezogenen Gewissens, sondern der Gehorsam, d. h. eine Aktion der Vernunft und des Willens, als der auf die Welt bezogenen Geistesvermögen, also etwas Anderes als Religion in den Angelegenheiten des Heils das Entscheidende sei.«182
Schenkel führt diese Fehlentwicklungen auf katholisierende Überreste zurück, die noch während der Reformation zur Spaltung des Protestantismus geführt hätten und er sieht diese Tendenz nun in der konfessionellen Theologie seiner Zeit festgehalten, sodass der Kampf zwischen dem von ihm identifizierten katholischen und dem protestantischen Prinzip sich innerhalb des Protestantismus selbst, und zwar konkret an der Kirchenfrage entscheidet: »Der neuerlich gemachte Versuch, innerhalb des Protestantismus das Dogma von der ausschließlichen Sichtbarkeit der wahren Kirche aufzurichten, ist daher als ein schlechthin mißlungener zu betrachten, und seinen Urhebern bleibt, wenn sie folgerichtig han-
179 »Wird eingeräumt, daß der Glaube allein, abgesehen vom kirchlichen Lehrbegriffe, das Heil vermittle: wo bleibt dann die unbedingte Gültigkeit des Lehrbegriffes?« (AaO., 951). 180 AaO., 947. 181 AaO., 949. 182 AaO., 960 f.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
deln wollen, nichts mehr übrig als unbedingte Rückkehr unter die ›Mutterkirche‹ Roms.«183
Die Darstellung der Fehlentwicklung des Kirchenbegriffs verdeutlicht, wie sehr Schenkels Ekklesiologie als Reaktion auf die vom Katholizismus und der kirchlichen Orthodoxie vertretene Priorität der verfassten Kirche gegenüber dem glaubenden Individuum zu begreifen ist. Die Unterscheidung von der wahren und der sichtbaren Kirche dient ihm dazu, die Vorordnung des Subjekts und seines persönlichen Gottesverhältnisses gegenüber der empirischen Kirche zu wahren, es dabei mit der Gemeinschaft zu verbinden und so einen Kirchenbegriff zu begründen, in dem die neuzeitliche Konzentration auf das Subjekt konstitutiv aufgenommen ist. Für Schenkel hängt von dieser Unterscheidung im Wesentlichen ab, ob das Subjekt sich in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott erfährt und in der Einheit mit Gott sein Wesen verwirklicht oder ob es, so Schenkel, wie im Katholizismus und der kirchlichen Orthodoxie des Protestantismus bloß äußerlich an die kirchliche Institution und Hierarchie gebunden wird. Die Unterscheidung ist damit weit über die Ekklesiologie hinaus wirksam. – In der Ekklesiologie stehen sowohl der Religionsbegriff als auch das Wesen des Menschen auf dem Spiel, sodass die Unterscheidung auch soteriologisch relevant wird. Darüber hinaus wird sie dann auch über Theologie und Kirche hinaus wesentlich, insofern Religion nämlich der den Menschen bewegende Grundfaktor ist.184 Das heißt wiederum: Dadurch, dass die Position der kirchlichen Orthodoxie, wie sie von Stahl vertreten wird, die göttliche Stiftung der Institution behauptet, die sichtbare Kirche als wahre Kirche identifiziert und das Subjekt an diese bindet, vertritt sie nicht »nur« einen falschen Kirchenbegriff. Sondern sie verfehlt darüber hinaus das Wesen des Protestantismus als Religion der Freiheit und entzieht so der an dem freien Individuum und der Subjektivität orientierten modernen Kultur ihre wesentliche Grundlage. Nach seinem eignen Selbstverständnis muss Schenkels Engagement für die Kirche deswegen nicht nur als ein Versuch der Durchsetzung seiner kirchenpolitischen Position verstanden werden, sondern vielmehr als Engagement für die Verwirklichung des freien Subjekts und der auf diesem seines Erachtens genuin protestantischen Prinzip gründenden modernen Gesellschaft und Kultur.185
183
AaO., 961. Vgl. III.4.1.3 und III.5. 185 Vgl. II.4.4.; III.5.; IV.4. 184
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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2.4. Die sichtbare Kirche und ihr Verhältnis zur unsichtbaren Kirche Im Gegensatz zur unsichtbaren Kirche beruht Schenkel zufolge die sichtbare Kirche ausschließlich auf dem Wirken des Menschen:186 Die sichtbaren Bekenntnisgemeinschaften entstehen dadurch, »daß besonders begabte Gläubige ihren Glauben vermöge kräftiger Gefühlserregung in Wort und That zur äußern Darstellung bringen (…). Was nun aber bei der Entstehung von Gemeinden in ihnen zur Erscheinung kommt, ist nicht mehr das Wesen der wahren Kirche selbst, welches seinem schlechthinigen Geistcharakter zufolge rein innerlich bleiben muß, sondern es ist ein Produkt der wahren Kirche.«187
Die sichtbare Kirche ist auf die unsichtbare zwar bezogen, aber da in ihr das Wesen derselben nicht vollkommen abgebildet werden kann, ist sie wesentlich von dieser unterschieden. In dem gläubigen Subjekt entsteht Schenkel zufolge das Bedürfnis,188 mit anderen in Gemeinschaft zu treten und es ist zu diesem Zweck gezwungen, aus seiner reinen Selbstbezogenheit hinauszutreten: »Da er [der Glaube, Anm. d. Vf.] nun aber, um Anderen sich mittheilen und zu einem Gemeinbesitze der Menschheit werden zu können, sich äußern muß, so kann er zum Zwecke seiner Veräußerlichung der Funktionen des Denkens, Wollens und Fühlens, nicht entbehren. (…) Die äußere Vermittelung des inneren Glaubenslebens war (…) die Aufgabe der von Christo gestifteten Gemeinde.«189
In diesem Vermittlungsprozess entstehen, wie im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, Lehre, Gottesdienstformen und Kirchenordnungen,190 die jedoch immer nur Versuche darstellen, die Religion zur äußeren Darstellung zu bringen. Die sichtbare Kirche hat demnach zwar ihre Wurzel in der unsichtbaren Kirche, 186 Diese Einsicht leitet Schenkel aus dem Religions- bzw. Gewissensbegriff ab, findet sie aber auch in der Verkündigung Jesu bestätigt: »Nichts zeugt mehr von der göttlichen Weisheit des Erlösers, als daß er keine äußere Anordnungen getroffen hat, um eine Kirchenanstalt auf Erden aufzurichten. Was menschlich ist, überließ er den Menschen; was göttlich ist, stiftete er durch seinen heiligen Geist.« (D. Schenkel, Erneuerung (1860), 7 f.). 187 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 964 [Hervorhebung im Original]. 188 In Kapitel III ist gezeigt worden, dass Schenkel Religion als das Zentrum der Persönlichkeit versteht, das nach außen drängt. Im Rahmen der Ekklesiologie betont Schenkel das Bedürfnis des Glaubenden mit anderen in Gemeinschaft zu treten nun stärker, wenn er schreibt: »Und zwar muß in jedem Glaubigen, vermöge seines persönlichen Glaubenslebens, ein dreifaches Bedürfniß entstehen: erstens, Solchen, die noch kein eigenes, oder kein so weit gefördertes besitzen, sein Glaubensleben mitzutheilen und die Summe des Heilsbesitzes in der Menschheit dadurch zu vermehren; zweitens, die Gesammtsumme menschheitlicher Glaubenserweckung auf sein subjectives Glaubensleben zurückwirken zu lassen, und so weitere Glaubensförderung auch zu empfangen; drittens, in der Gemeinschaft mit allen Glaubigen sich der allgemeinen Glaubenswirkungen mit zu erfreuen.« (AaO., 921 f. [Hervorhebung d. Vf.]). Dass der gläubige Mensch dieses Bedürfnis hat, liegt im Wesen der Offenbarung begründet, was Schenkel hier allerdings nicht mehr eigens erläutert, vgl. III.4.2.2. 189 AaO., 927. 190 Vgl. III.4.1.3.2.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
aber sie bleibt eben durch den Bezug auf die Welt doch strikt von ihr unterschieden und ist nicht etwa Teil derselben, »die Lehr-, Cultus- und Verfassungsformen sind an sich Produkte, nicht Faktoren des Glaubenslebens. Der innerliche, der Potenz nach schon vorher vorhandene, Glaube vollzieht sich in ihnen aktuell nach außen, nach dem Verhältnisse der Persönlichkeit zur Welt«191.
Aufgrund dessen lehnt Schenkel es ab, überhaupt von zwei Kirchen zu sprechen und betont stattdessen, dass der Protestantismus nur eine Kirche kennt: »Allein in Wirklichkeit kennt der Protestantismus doch nur eine Kirche, die Gemeinschaft der Glaubigen (…). Es giebt also nicht zwei Kirchen in dem Sinne, daß neben der einen, als der innern, noch eine andere, als die äußere, bestände, sondern die in ihrem innern Wesen, d. h. in der Glaubensgemeinschaft, eine und untheilbare geht auf demjenigen Gebiete, welche der Außenwelt und darum der Veränderlichkeit angehört, in verschiedenen Formen der Erscheinung auseinander.«192
Kirche im eigentlichen Sinne ist nur die unsichtbare Kirche, da nur in ihr die Gemeinschaft von Gott und Mensch realisiert ist; die sichtbaren Glaubensgemeinschaften sind demgegenüber nicht Kirche im eigentlichen Sinne, sie müssen vielmehr von ihrem Bezug auf die Welt her verstanden werden: Sie sind »mannichfaltige Versuche, die Glaubensgemeinschaft, oder die wahre Kirche, in der Welt zu verwirklichen. Sie sind also weder die Kirche, noch auch Kirchen, sondern die von der Kirche bearbeitete, von den Kräften des Glaubens berührte und zum Theil schon durchdrungene, Welt«193.
Die verfassten Kirchen sind primär als Teil der Welt zu verstehen – Stahl verstand die verfasste Kirche dagegen als göttliche Stiftung gerade im Gegenüber zur Welt – gleichwohl als ein solcher, in dem die unsichtbare Kirche, und das heißt der Glaube, bestimmend ist, sodass sie insofern gleichzeitig von der Welt unterschieden sind und nicht in dieser aufgehen. Die sichtbaren Gemeinden gehören der Welt an, »und zwar der in Berührung und Wechselwirkung mit dem Personleben des Erlösers gebrachten, von der wahren Kirche bereits zum Theil in Besitz genommenen Welt«194. Schenkel knüpft hier offensichtlich (wenn auch nicht explizit) an Schleiermacher an, im Gegensatz zu diesem kann er aufgrund der getroffenen Unterscheidung jedoch nicht sagen, dass die sichtbare Kirche auch die wahre Kirche ist: Die sichtbaren Glaubensgemeinschaften haben gleichwohl die Aufgabe, »das Wesen der einen wahren Kirche mit Hülfe der auf die Welt bezogenen Geistesvermögen in die Welt hineinzubilden«195 191
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 965. AaO., 955 f. 193 AaO., 956. 194 Ebd. 195 AaO., 919. 192
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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und sind also der menschliche Versuch der Vergegenwärtigung der unsichtbaren Kirche in der Welt. Damit wird an dieser Stelle auch das Ziel der unsichtbaren Kirche deutlich, nämlich die Welt so zu durchdringen und in ihr wirksam zu sein, dass die gesamte Menschheit mit Gott in ursprünglicher Gemeinschaft ist und Religion so zum Grund des menschlichen Handelns wird. Die unsichtbare Kirche bestimmt demnach immer stärker die natürliche Welt, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein.196 Den sichtbaren Glaubensgemeinschaften kommt im Verhältnis zur unsichtbaren Kirche die Aufgabe zu, »die Welt für die Kirche zu gewinnen«197. Sie müssen dabei ihren Blick von sich selbst hin auf die unsichtbare Kirche richten und sich von ihr eindeutig unterscheiden: Die Frage, wie eine Gemeinschaft ihr Verhältnis zur unsichtbaren Kirche verwirklicht, ist »in Betreff ihres innern Werthes und ihrer Bedeutung für die Heilserweckung der Welt«198 entscheidend.199 Für die kirchlichen Institutionen heißt dies, »daß die im Principe behauptete nothwendige Einheit der sichtbaren Institution mit der unsichtbaren Gemeinschaft in der That nicht vorhanden ist, und daß die unsichtbare Kirche zu ihrer Verwirklichung nicht schlechterdings sichtbarer Institutionen bedarf. Die Anstalten, in welchen die Christen sich unter dem Feldzeichen gemeinsamer Bekenntnisse, Gottesdienste und Ordnungen sammeln, sind menschliche Einrichtungen mit dem Zwecke, das im Glauben an Christum innerlich und wesentlich gewonnene Heilsleben der Welt einzuleben; sie sind zweckmäßige Erziehungsanstalten der Menschheit für die Kirche, aber nicht nothwendige Erscheinungen der Kirche.« 200
Den sichtbaren Kirchengemeinschaften kommt keine absolute Notwendigkeit für das Heil zu – dies ist wiederum gegen den katholischen Kirchenbegriff gewendet – sie sind aber Schenkel zufolge »gegenwärtig noch pädagogisch unentbehrlich, und insofern relativ nothwendig« 201. Entscheidend ist für Schenkel also, dass die Ausbildung von kirchlichen Institutionen – wie auch des Kultus 196
Vgl. III.5. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 966 [Hervorhebung im Original]. 198 AaO., 969. 199 »Je mehr die öffentliche Lehre das geschichtliche Bild Christi in ursprünglicher Reinheit und lebendiger Uebereinstimmung mit seinem geoffenbarten Worte und Geiste darstellt; je mehr der öffentliche Gottesdienst die Bestimmung hat, Gott allein in Christo und nicht den Menschen, die Natur und die Welt zu verherrlichen; je mehr die öffentliche Verfassung darauf hinzielt, die volle und freie Bethätigung des Glaubens in der Gemeinde zu begründen und zu schützen, nicht aber die Gewissen zu verstricken, die freie Bewegung des Glaubens zu hemmen und ein vergängliches Mittlerthum an der Stelle des ewigen Jesu Christ aufzurichten: umsomehr wird die sichtbare Kirchengemeinschaft ihren Zweck, für die wahre Kirche Mitglieder aus der Welt zu gewinnen, erreichen, und eine ihrem Begriffe entsprechende Erziehungsanstalt der Menschheit für die Wiederherstellung des Heilslebens in Gott sein.« (AaO., 969 f.). 200 AaO., 967 [Hervorhebung im Original]. Damit wendet sich Schenkel gegen Stahl, vgl. F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 48 ff. 201 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 988. 197
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
und der kirchlichen Lehre – nicht im Wesen der Kirche begründet liegen, sondern diese immer nur Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses sind, und ihnen deswegen keinerlei Heilsrelevanz zugesprochen werden kann und darf. »Es gibt, könnte man sagen, die Kirche, weil es Glaubende gibt, der Glaube selbst aber ist auf die Vermittlung einer institutionellen Kirche nicht angewiesen.« 202 Damit steht auch das Ziel der sichtbaren Gemeinschaften fest: »Kein anderes als ihre dereinstige Auflösung, welche der Natur der Sache nach dann eintreten muß, wenn vermittelst des Glaubens an Christum dessen Personleben sich vollständig in die Menschheit hineingebildet und alle für das Heil empfänglichen Theile derselben sich assimilirt haben wird.« 203
Die sichtbaren Glaubensgemeinschaften haben nur so lange Bestand, bis das endgültige Ziel – die Gemeinschaft der gesamten Menschheit mit Gott – erreicht ist. Damit zeichnet Schenkel die sichtbaren Kirchen in eine menschheitliche Entwicklungsgeschichte ein, an deren Ende die Durchdringung der Welt durch die unsichtbare Kirche steht, in der dann die sichtbaren Kirchen keinen Zweck mehr erfüllen.204 Ob und inwiefern die Glaubensgemeinschaften nun angemessener Ausdruck der unsichtbaren Kirche sind, hängt von der religiösen Befähigung ihrer Mitglieder ab. Hier liegt auch der Grund für die Verschiedenheit kirchlicher Gemeinschaften, in denen immer auch die Möglichkeit der Trübung gegeben ist, sodass »je nach der verschiedenen Stufe der Intelligenz, nach der verschiedenartigen Ausprägung des Charakters, nach der verschiedenen Richtung des Gemüthes, auch verschiedene kirchliche Lehr-, Cultus- und Verfassungsformen zu Stande kamen, und daß dieselben verschiedenartige Standpunkte der geistigen, sittlichen und ästhetischen Entwicklung darstellten« 205. 202
N. Slenczka, Diskussion um das kirchliche Amt (2001), 124. »Der Glaube in Verbindung mit Christus bringt die Kirche, und nicht die Kirche als äußere Anstalt den Glauben hervor. Wo der wahre Glaube, da ist die Kirche; aber nicht wo (äußere) Kirche, da auch wahrer Glaube.« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 945 f.). 203 AaO., 985. 204 Schenkel nimmt hier in differenzierter Weise einen Gedanken Richard Rothes auf, dem er insofern zustimmt, als »was man ›Kirche‹ zu nennen pflegt (…) in Wahrheit nicht Kirche ist, keinen dauernden Bestand hat« (aaO., 986). Allerdings ist Schenkel nicht der Auffassung, dass die Kirche sich im Staat auflöst, wie er es bei Rothe zu lesen meint. M. E. beruht diese Lesart auf einer weit verbreiteten Verkürzung von Rothes Staats-und Kirchenbegriff: Rothes These, dass die Kirche im Staat aufgeht, ist als Diagnose zu verstehen, die Ausdruck einer innergeschichtliche verstandenen Eschatologie ist. Es geht nicht darum, dass die Kirche sich in den vorhandenen Staat auflöst, vielmehr wird das Christliche das Allgemeine, sodass die Kirche sich ebenso in den allgemeinen christlichen Staat auflöst, wie der Staat die Kirche ist. Aufgehoben ist damit die Trennung von beiden. Zu Rothes Staats- und Kirchenverständnis vgl. A. Dörfler-Dierken, Luthertum und Demokratie (2001), 49 – 113. 205 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 927.
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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Damit liegt es im Ursprung der sichtbaren Kirche selbst begründet, dass es unterschiedliche Strömungen und Glaubensgemeinschaften gibt. Das Nebeneinander von verschiedenen sichtbaren Gemeinschaften widerspricht Schenkel zufolge also gerade nicht dem Wesen der sichtbaren Kirche, sondern ist vielmehr in der Natur der Sache begründet: »Der Glaube aber, als eine ursprüngliche Funktion des Gewissens, ist so rein innerlich, in seiner unmittelbaren Bezogenheit auf Gott so lediglich unendlich, daß er eben deßhalb niemals in der symbolisirenden Thätigkeit aufgehen kann. Sobald daher diese, von der Innerlichkeit und Unendlichkeit des Glaubenslebens abgelöst, als etwas für sich, ein Selbständiges behandelt wird, so ist auch die Zertrennung des kirchlichen Ganzen unvermeidlich. In ihren Lehr-, Cultus- und Verfassungsformen müssen die Christen auseinandergehen; denn die symbolisierende Thätigkeit ist von äußeren, unter verschiedenen Umständen nothwendig verschiedenen, Bedingungen abhängig.« 206
Da es aus dem Wesen der sichtbaren Kirchen selbst folgt, dass es notwendig verschiedene Glaubensgemeinschaften gibt, fordert das gegenseitige Toleranz ein. Und weil die wahre Kirche niemals vollkommen in einer verfassten Kirche abgebildet werden kann, kann keine sichtbare kirchliche Gemeinschaft jemals für sich in Anspruch nehmen, die wahre Kirche zu sein – »die äußere Bekenntnißgemeinschaft, als solche, [bietet] weder eine ausreichende Bürgschaft für eine dem Wesen der wahren Kirche entsprechende Glaubenserweckung, noch für die durchgängige Theilnahme von wirklich Glaubigen an ihrer Institution. Sie stellt unter allen Umständen nur ein Bild der durch die Einwirkung der unsichtbaren Kirche berührten, bewegten, umgestimmten Welt, niemals aber ein Bild des wahren Gottesreiches dar.« 207
Die oben herausgestellten zentralen Stichwörter des neuprotestantischen Kirchenbegriffs Freiheit und Toleranz stehen somit auch im Zentrum von Schenkels Ekklesiologie, die er sodann für den außerkirchlichen Raum fruchtbar macht und zwar im Gegenüber zum katholischen Kirchenbegriff. Durch die Identifizierung der sichtbaren Kirche mit der wahren Kirche ist der katholische Kirchenbegriff gegenüber nicht katholischen Glaubensgemeinschaften seinem Wesen nach, so Schenkels Überzeugung, intolerant:
206 AaO., 931 [Hervorhebung d. Vf.]. Diesen kirchlichen Pluralismus sieht Schenkel auch von der Schrift bestätigt: Schon zur Zeit der Apostel war es seiner Ansicht nach vollkommen unproblematisch, dass verschiedene Lehr-, Kultus- oder Verfassungsformen nebeneinander bestanden: »Im Denken waren selbst die Apostel nicht Eins gewesen, was die Mehrheit ihrer Lehrtropen beweist. (…) Auch im Wollen, und seiner kirchlichen Vollstreckung, dem gottesdienstlichen Thun, bildeten sich, je nach den Bedürfnissen, Ueberlieferungen, Eigenthümlichkeiten einzelner Gemeinden (…) mannigfaltige Ausdrucksformen. Es gab bald Abweichungen im Cultus. Auf dem Grunde des Gefühlslebens endlich entschied man, nach Neigung oder Abneigung, sich bald für diese, bald für jene Verfassungsform.« (AaO., 928). 207 AaO., 965 f.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
»Das Dogma, welches die katholische Glaubenslehre für ausschließlich wahr, die katholische Kirche für allein seligmachend, den protestantischen Glauben dagegen für eine Staats- und Sittengefahr, die protestantische Kirche für eine Incarnation des Irrthums und der Sünde erklärt, ist eine ständige Kriegserklärung gegen den protestantischen Bevölkerungstheil, eine fortgesetzte Beleidigung gegen die Hälfte der deutschen Nation, eine unauf hörliche Veranlassung zu neuer Erbitterung, Reibung, Aufregung zwischen den beiderseitigen Glaubensgenossen.« 208
In diesem Kirchenverständnis erkennt Schenkel deswegen eine konkrete Bedrohung für ein konfessionsgemischtes Gemeinwesen,209 da es seiner Ansicht nach nicht das friedliche Zusammenleben der konfessionsverschiedenen Bürger fördert, sondern der protestantischen Bevölkerung vielmehr ihre Anerkennung entzieht und somit die konfessionelle Glaubensspaltung in den deutschen Staaten verschärft. Damit behindert die römische Kirche wie auch der gleichsam ›katholische Protestantismus‹ Schenkel zufolge den nationalen Aufschwung und die Einigung der deutschen Kleinstaaten. Der protestantische Kirchenbegriff impliziert demgegenüber aufgrund der Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche Toleranz gegenüber unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften: »Der Protestantismus ist seinem Ursprung und seinen Grundsätzen nach duldsam. Er erhebt grundsätzlich nicht den Anspruch, allein seligmachend zu sein; er schließt andere Bekenntnisse und Kirchen neben seinem Bekenntnis und seiner Kirche nicht schlechthin aus. Schon seine Ansicht von dem Wesen der Kirche hindert ihn, unduldsam zu sein.« 210
Damit ist im Gegensatz zur katholischen Position der genuin protestantische Kirchenbegriff die Grundlage eines freien und toleranten Gemeinwesens und paritätischen Staates, der deswegen auch innerhalb des Protestantismus gegenüber katholischen Tendenzen für das Gemeinwesen verteidigt werden muss. Das protestantische Verständnis des Verhältnisses von unsichtbarer und sichtbarer Kirche ist darüber hinaus für eine weitere nationale Problemstellung konstruktiv. Die Verhältnisbestimmung von Einheit und Besonderheit stellte bei der Verwirklichung der Einigung der deutschen Kleinstaaten ein zentrales Problem dar, denn die Bildung eines deutschen Nationalstaats war nur möglich unter Vermittlung mit und Anerkennung der Kleinstaaten.211 Hier bot nun die Unterscheidung und Zuordnung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche ein für die 208 D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862), 20. Freilich ist das tieferliegende Problem im falschen Religions- und Glaubensbegriff der katholischen Kirche begründet. 209 Vgl. II.4.2; IV.4. 210 D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862), 16 f. 211 In der Verfassung des Deutschen Reiches der Paulskirchenversammlung 1849 ist dieser Gedanke z. B. in der Bestimmung festgehalten, dass kein Deutscher in einem anderen Kleinstaat als Ausländer behandelt werden darf, vgl. Abschnitt VI, Art. I, § 134, in: U. Sautter, Deutsche Geschichte (2004), 68.
2. Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche als hermeneutisches Zentrum
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Nationalbildung instruktives Modell, bei dem die Besonderheiten in und mit der Einheit bestehen bleiben konnten.212 Oben ist bereits im Kontext der Eigenschaften der Kirche auf den universalen Aspekt der unsichtbaren Kirche hingewiesen worden.213 Indem die unsichtbare Kirche nationale Schranken transzendiert und somit Universalität beansprucht, bietet sie im Zusammenhang mit den sichtbaren Glaubensgemeinschaften ein geeignetes Interpretationsmodell für die Verhältnisbestimmung und Vermittlung von Universalität bzw. Einheit und Partikularismus bzw. Besonderheit. Besonderheiten und Partikularitäten schließen sich vor diesem Hintergrund nicht gegenseitig aus, sondern sind vielmehr als eigentümlicher Ausdruck eines zugrundeliegenden, verbindenden Universalen zu verstehen, die auch in der Verbindung der Besonderheiten miteinander zu einer Einheit bestehen bleiben können. Das Verhältnis von unsichtbarer und sichtbarer Kirche bietet somit die Möglichkeit, das Verhältnis eines geeinigten Deutschlands zu den kleindeutschen Staaten zu deuten und auf dieser Grundlage zu realisieren. Schenkel stellt diesen Zusammenhang zwar nicht explizit her, allerdings betont er, dass das Christentum, obwohl es universalen Charakter hat, »dem Nationalcharakter sich angeschmiegt und auf Volksleben und Volkssitte einen entscheidenden Einfluß bewährt« 214. Diese nationalen Besonderheiten kann eben der Protestantismus aufgrund des zugrundeliegenden Religionsbegriffs und dem darin implizierten Kirchenbegriffs anerkennen und annehmen, während der ultramontane Katholizismus, der auf seine Stellung als Weltkirche drängt, diese gerade zu nivellieren versucht. Den Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus macht Schenkel somit ausgehend von der Ekklesiologie im Blick auf die politischen Implikationen besonders stark und stilisiert die beiden Konfessionen von hier aus zu gegenüberstehenden politischen Prinzipien. Da die kirchliche Orthodoxie inzwischen größeren Einfluss auf die öffentlichen Debatten ausübte als das noch bei Schleiermacher der Fall gewesen war, betont Schenkel die Unterscheidung wesentlich stärker als Schleiermacher und geht so über diesen hinaus, wenngleich man festhalten muss, dass Schenkel in wesentlichen Grundzügen Schleiermachers Kirchenbegriff rezipiert. Anders als Schenkel betont Schleiermacher allerdings den positiven Zusammenhang von unsichtbarer und sichtbarer Kirche stärker, indem er die pneumatologische Dimension innerhalb der sichtbaren Kirche verortet und die Unterscheidung innergeschichtlich trifft. Die verfasste Kirche versteht Schleiermacher jedoch zumindest in den späteren Auflagen der Reden sowie der Glaubenslehre als Kirche im eigentlichen Sinn. Schenkel betont demgegenüber, das die verfasste Kirche 212
Vgl. auch IV.2.3. Vgl. IV.2.1. 214 D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862), 5. 213
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
eben nicht Kirche im eigentlichen Sinne ist, sondern Teil der Welt – wenn auch vom Glauben berührte Welt – und sie bleibt durch den Bezug zur Welt immer der unsichtbaren wahren Kirche nachgeordnet, die unabhängig von der sichtbaren Kirche ihre Existenz hat. Vor allem die Bezeichnung der sichtbaren Kirche als ›zweckmäßige Erziehungsanstalten‹ erinnert an den oben skizzierten rationalistischen Kirchenbegriff, über den Schenkel jedoch hinausgeht, indem er die sichtbaren Kirchen in ihrem Ziel konsequent auf die unsichtbare Kirche und ihre Wirkung in der Welt bezieht. Im Gegensatz zu Positionen wie der Stahls baut Schenkel die Vergemeinschaftung auf Grundlage des autonomen Individuums auf. Ihm schwebt eine Gemeinschaft vor, die ihren Grund gerade in der Freiheit des individuellen Gewissens hat. Wahrheit hat das Subjekt immer nur in seiner Gebundenheit an das Gewissen, sodass Schenkel Konzeptionen, welche die Wahrheit an die in stitutionelle Einrichtung binden, von seinen religionsphilosophischen Voraussetzungen her widerspricht. Da Schenkel vor diesem Hintergrund die Individualität und Innerlichkeit der Religion so stark betont, gelingt es ihm anders als Schleiermacher nur schwer, die sichtbare Gemeinschaft in ihrer wesentlichen religiösen Bedeutung für das Individuum auszuweisen. Hier bleibt ein Defizit in Schenkels Kirchenbegriff bestehen, das er allerdings insofern wieder einholt, als er die sichtbare Kirche konsequent auf die unsichtbare bezieht und ihr darin einen geschichtlichen Ort im Bezug auf die unsichtbare Kirche zuweist. Aus diesem Grund zeigt Schenkel auch ein lebhaftes Interesse an der protestantischen Kirche, denn so wie der Protestantismus die »Manifestation des Christenthums (…) innerhalb seiner geschichtlichen Bewegung« 215 ist, realisiert er sich historisch in der sichtbaren Kirche. Umso wichtiger wird die Frage nach der Gestalt der empirischen Kirche, da diese nicht das eigentliche Ziel des Protestantismus ist, sondern nur dem Wesen und Ziel des Protestantismus als Wiederherstellung der echten Katholizität dient.
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche Nach dem Sieg Napoleons waren nicht nur auf der politischen Ebene Neuordnungen notwendig geworden, sondern auch im kirchlichen Raum war man von der Notwendigkeit durchgreifender Reformen überzeugt. Drei eng miteinander zusammenhängende Themen bestimmten dabei die theologischen Debatten um Auf bau und Gestalt der protestantischen Kirche: 1) die Frage nach dem Verhältnis von Kirche, Staat und zumeist dem Monarchen; 2) die Frage nach der inneren Kirchenverfassung, zugespitzt auf die Frage nach dem Verhältnis von Amt bzw. Kirchenleitung und Gemeinde; 3) die Unionsproblematik. 215
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 436 f.
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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Auch Schenkel hat sich mit diesen drei Problemkomplexen befasst, wobei sein Schwerpunkt auf der Verfassungs- und der Unionsfrage lag, die für ihn letztlich einen Zusammenhang darstellten. Wie auch in der Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche ging es ihm dabei nicht bloß um die Durchsetzung seiner kirchenpolitischen Position, sondern um die Verwirklichung des Protestantismus und damit um die Realisierung des persönlichen Gottesverhältnisses.
3.1. Die protestantische Kirche als Unionskirche Die Beschäftigung mit der Unionsthematik bildet schon früh einen Schwerpunkt in Schenkels Werk und zieht sich gleichsam als roter Faden durch seine gesamte Theologie. Die kirchliche Union versteht Schenkel als Ausdruck und notwendige Folge einer auf der Gemeinde ruhenden Kirche, in der theologische Differenzen – die nur von einem autoritären, der Gemeinde übergeordneten Lehrstand als kirchentrennend festgehalten werden – keine Bedeutung mehr haben. Die Unionskirche wird vielmehr von dem religiös-sittlichen Bewusstsein der Gemeinde getragen. Damit erweist sich Schenkels Engagement für die protestantische Unionskirche ebenso als Engagement für die Sicherung der Glaubensautonomie des Subjekts und folgt notwendig aus einem konsequent am Subjekt orientierten Kirchenbegriff. Dabei sah Schenkel die Unionsproblematik auch in einem engen Zusammenhang mit der Einheitsfrage Deutschlands: Schenkel war der Überzeugung, dass eine Einigung Deutschlands unmöglich war, solange konfessionelle Differenzen das gemeinsame religiöse Bewusstsein des protestantischen Volkes hinderten. Für den Heidelberger Professor waren in der Unionsfrage zwar vor allem die Ereignisse um die kirchliche Union in Baden unmittelbarer Anlass für sein kirchen- und theologiepolitisches Engagement,216 neben den Auseinandersetzungen in Baden hat Schenkel aber auch die Ereignisse in Preußen mit großer Aufmerksamkeit beobachtet und in der AKZs analysiert und kommentiert.217 Dieses lebhafte Interesse an Preußen ist darin begründet, dass Schenkel Preußen als den »Hort des Protestantismus« 218 verstand und den Entwicklungen in Preußen deswegen eine besondere Bedeutung für den Protestantismus in den übrigen deutschen Staaten zumaß. Aus diesem Grund sind die Ereignisse in Preußen immer als Hintergrund von Schenkels Unionsverständnis zu bedenken und sie sollen deswegen kurz skizziert werden. Die Auseinandersetzungen um die kirchliche Union in Preußen sind darüber hinaus für diesen Zusammenhang 216
Vgl. II.4. Vgl. u. a. D. Schenkel, Fortbildung der evangelischen Kirchenverfassung (1860); ders., Gegenwärtige Lage (1867); ders., Evangelische Kirche in Preußen (1868); ders., Kirchliche Umschwung in Preußen (1869). 218 Vgl. z. B. D. Schenkel, Preußen (1866). 217
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
aufschlussreich, weil in kaum einem anderen Land die Union eine so wechselvolle Entwicklung erlebt hat, anhand derer die Grundfragen der Unionsthematik sichtbar werden. 3.1.1. Die kirchliche Union in Preußen Erste Unionsbemühungen gab es in Preußen bereits seit 1798. Kurz nach Thronantritt versuchte Friedrich Wilhelm III. eine liturgische Union herzustellen,219 allerdings blieb dieser Plan zunächst erfolglos und nach der Niederlage gegen Napoleon 1806/07 kamen seine Bemühungen zunächst ganz zum Erliegen. Neue Impulse erfuhr das Unionsprojekt erst wieder durch die Befreiungskriege. Anlässlich des 300-jährigen Jubiläums von Luthers Thesenanschlag erließ Friedrich Wilhelm III. am 27. September 1817 eine Kabinettsordre, in der er zur Union der Reformierten und Lutheraner aufrief. Dieser Aufruf kann zweifellos als eines der bedeutsamsten und prägendsten kirchenpolitischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts gelten. Er war Ausdruck und Ergebnis des sinkenden konfessionellen Bewusstseins im Zuge der Auf klärung und des Pietismus einerseits und der religiösen Begeisterung in den Befreiungskriegen andererseits.220 In der Kabinettsordre heißt es: »Eine solche wahrhaft religiöse Vereinigung der beiden, nur noch durch äußere Unterschiede getrennten protestantischen Kirchen ist dem großen Zwecke des Christentums gemäß; sie entspricht den ersten Absichten der Reformatoren; sie liegt im Geiste des Protestantismus; (…). Dieser heilsamen (…) Vereinigung, in welcher die reformierte Kirche nicht zur lutherischen, und diese nicht zu jener übergehet, sondern beide Eine neu belebte, evangelisch-christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters werden, stehet kein in der Natur der Sache liegendes Hindernis mehr entgegen (…).« 221
219
M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006), 43. »Die Generation, aus deren Gedanken die Union hervorging, war noch unter dem Einfluß der Auf klärung groß geworden, die die Bekenntnisse hinter der Vorherrschaft von Vernunft und Moral zurücktreten ließ; die beiden herrschenden theologischen Richtungen des Rationalismus und Supranaturalismus hatte das dogmatische Gewicht der Unterscheidungslehren geschwächt. Eine neuerwachte, glutvolle Frömmigkeit, welche sich an die gewaltigen Bewegungen der Jahren 1813 bis 1815 anschloß und sich unmittelbar an die Hl. Schrift und das innerste religiöse Gemütsleben hielt, ließ nichts leichter und selbstverständlicher erscheinen, als den dreihundertjährigen Riß im Protestantismus endlich zu schließen.« (G. Besier, Preußische Kirchenpolitik (1980), 14 f.). Vgl. auch M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006), 56 ff. Martin Friedrich macht darauf aufmerksam, dass die Unionsbildungen auch »in die Zeit der beginnenden Restauration [passen], da die Territorialfürsten in jedem Fall das Heft in der Hand hielten und die Herrschaft über die evangelische Kirche behaupteten. Die Unionen brachten keine größere Selbständigkeit, sondern eher noch eine Vereinfachung der staatlichen Kontrolle.« (M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006), 60). 221 E. Huber / W. Huber (Hg.), Staat und Kirche (1976), Bd. 1, 577. 220
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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Dem König schwebte nicht eine bloße Verwaltungsunion vor, vielmehr träumte er von der Bildung einer neuen christlich-evangelischen Kirche als einer wahrhaften Kirchenvereinigung von Reformierten und Lutheranern. Die Unterschiede beschränkten sich seiner Ansicht nach nur noch auf bloße Äußerlichkeiten, während die eigentliche innere Union schon längst Faktum sei und nun auch offiziell vollzogen werden sollte. Bewusst verzichtete Friedrich Wilhelm III. darauf, die Union anzuordnen; er hoffte vielmehr, dass die Gemeinden seinem Beispiel folgten, »das bevorstehende Säkularfest der Reformation in der Vereinigung der bisherigen reformierten und lutherischen Hof- und Garnison-Gemeine Potsdam, zu einer evangelisch-christlichen Gemeine [zu] feiern, und mit derselben das heilige Abendmahl [zu] genießen«222 und die Union freiwillig durch eine gemeinsame Abendmahlsfeier vollziehen. Sein Aufruf wurde zunächst auch tatsächlich begeistert von zahlreichen Gemeinden aufgenommen, gleichwohl es in den wenigsten Gemeinden zu über die Abendmahlsfeier hinausgehenden rechtlichen Konsequenzen kam: Da die Neuordnung der kirchlichen Verfassung noch zu keinem Abschluss gekommen war, fehlten schlicht kirchliche Organe, die die Union konsequent hätten durchsetzen können.223 Der Status der kirchlichen Union in Preußen blieb deswegen die folgenden Jahrzehnten ungeklärt und wurde durch drei weitere Faktoren zusätzlich geschwächt: Erstens regte sich auch im Lager der Unionsbefürworter Widerstand an der Art und Weise der Durchführung der Union; zweitens wurde die Durchsetzung der kirchlichen Union durch die Liturgiereform, die Friedrich Wilhelm III. seit den 20er Jahren durchzusetzen versuchte, erschwert; und schließlich wurde drittens durch die Union das konfessionelle Bewusstsein erneut geweckt, insbesondere in den lutherischen Gemeinden, die sich im Laufe der Zeit immer massiver gegen die Einführung der Union wehrten und mehr und mehr Einfluss beim König gewannen. Die Kritik der Unionsbefürworter zeigt sich implizit in der Amtliche[n] Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30. Oktober von ihr zu haltende Abendmahlsfeier 224, die unter dem Vorsitz Schleiermachers verfasst wurde. Darin gaben die Geistlichen bekannt, beim Reformationsfest gemeinsam das Abendmahl feiern zu wollen »und die Austheilung des Abendmahls, anstatt polemisch an den Gegensatz beider Par theien zu erinnern, sich an den Worten Christi selbst begnügt, aus deren verschiedener Auslegung die verschiedenen Meinungen der Lutheraner und Reformirten hervorge-
222
Ebd. Vgl. M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006), 58. 224 Vgl. F. Schleiermacher, Amtliche Erklärung (1817); vgl. dazu M. Stiewe, Unionsverständnis (1969), 29 ff. 223
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
gangen sind, und bei denen sich als auch jeder Einzelne seiner ganzen Vorstellung kann bewußt werden« 225.
Der wesentliche Differenz- und Kritikpunkt an der Unionsvorstellung des Königs kommt hier zum Ausdruck: Die Berliner Geistlichen wollten nicht eine Konsensunion, wie sie dem König vorschwebte, »sondern lediglich eine allgemeine Kommunikantenduldung im Sinne einer Kultusunion unter Annahme einer überparteilich gedachten Abendmahlsform« 226 . Die Synode anerkannte die bestehenden Lehrdifferenzen, erklärte sie allerdings für nicht hinderlich,227 wenn man auf die gemeinsame biblische Basis zurückginge. Eine weitere dritte evangelische Kirche neben der lutherischen und der reformierten wollten die Geistlichen ausdrücklich nicht; vielmehr beabsichtigten sie eine Gemeinschaft, in der es möglich ist, dass »die Kommunikanten (…) auch das Abendmahl ihrer Gemeinschaft und ihres Ritus feiern« 228. Die Erklärung verdeutlicht, dass auch unter den Befürwortern über grundsätzliche Fragen bezüglich der Art und Weise der Einführung sowie der Gestalt und des Ziels der Union keine Klarheit bestand, was die Durchsetzung der Union erheblich erschwerte. Ein besonderes Hindernis bei der Durchführung der Union stellte sodann die Liturgiereform dar: Friedrich Wilhelm III. versuchte die Union wie schon Jahre zuvor auf dem Wege einer Liturgiereform durchzusetzen. Zu diesem Zwecke erarbeitete er in den Jahren nach dem Unionsaufruf selbst eine Liturgie, die Ende 1821 zunächst in der Armee eingeführt und einige Monate später an alle Gemeinden versandt wurde. Zwar wurde auch diese Liturgie ähnlich wie die Union selbst zunächst nicht verbindlich angeordnet, allerdings wurde massiv auf ihre Einsetzung gedrängt und 1829 wurde sie – wenngleich in einer sehr modifizierten Fassung – schließlich per Kabinettsordre endgültig eingeführt, was erneuten Widerstand auf breiter Front nach sich zog.229 Neben Einwänden gegen die liturgische Ausgestaltung entzündete sich die Kritik vor allem an der Art der Durchführung der Liturgiereform. Schleiermacher veröffentlichte 1824 unter dem Pseudonym »Pacificus sincerus« die Schrift Über das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten 230, in der er vor dem Hintergrund der von ihm geforderten Selbständigkeit der Kirche das Recht des Landesherren, eine für alle Gemeinden verbindliche Agende einzuführen, bestritt. Der preußische Agendenstreit ging somit weit über die Agendenfrage hinaus, denn er berührte auch 225
F. Schleiermacher, Amtliche Erklärung (1817), 182 f. G. Besier, Preußische Kirchenpolitik (1980), 17. 227 Schenkel erkennt darin das genuine Unionsverständnis Schleiermachers, vgl. D. Schenkel, Friedrich Schleiermacher (1868), 466. 228 M. Stiewe, Unionsverständnis (1969), 31 [Hervorhebung im Original]. 229 Vgl. M. Friedrich, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch (2006), 60 f.; G. Besier, Preußische Kirchenpolitik (1980), 20 f. 230 Vgl. F. Schleiermacher, Liturgische Recht (1824). 226
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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verfassungsrechtliche Aspekte und diese Verwicklungen der ungelösten kirchenpolitischen Fragen Preußens verkomplizierten und verschärften auch den Streit um die kirchliche Union. Die dritte Front gegen die Union bildeten die lutherischen Konfessionalisten. Das konfessionelle Bewusstsein war zunächst durch den Unionsaufruf geweckt worden, wurde dann durch die neue Agende, die als ›Unionsagende‹ vehement abgelehnt wurde, weiter angestachelt und vor allem durch das Jubiläumsjahr der Confessio Augustana 1830 nochmals gestärkt.231 Die wachsende Abneigung gegen die Union und die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelm III. kulminierte schließlich 1834 in der Separation der Schlesischen Lutheraner. In dieser Situation sah sich der König zur Beruhigung der Lage gezwungen, eine Kabinettsordre zu erlassen, in der er versicherte, dass der Beitritt zur Union nicht die Aufgabe des eigenen Bekenntnisses implizierte: »Die Union bezweckt und bedeutet kein Aufgeben des bisherigen Glaubensbekenntnisses, auch ist die Autorität, welche die Bekenntnisschriften der beiden evangelischen Konfessionen bisher gehabt, durch sie nicht aufgehoben worden. Durch den Beitritt zu ihr wird nur der Geist der Mäßigung und Milde ausgedrückt, welcher die Verschiedenheit einzelner Lehrpunkte der andern Konfession nicht mehr als den Grund gelten läßt, ihr die äußerliche kirchliche Gemeinschaft zu versagen.«232
Mit dieser Kabinettsordre blieb der König hinter seinem eigenen Aufruf von 1817 deutlich zurück, war die Union jetzt doch nur noch als »Konföderation« zweier Bekenntnisse gedacht. Sie spiegelt damit das Unionsverständnis der konfessionellen Partei wider, die inzwischen einigen Einfluss auf den König gewonnen hatte: So bezeichnete Stahl diese Kabinettsordre dann auch als »›Magna Charta der Konfession‹ und damit auch Lutherischen Kirche innerhalb der Union« 233. Die beiden Kabinettsorden von 1817 und 1834 stellen das Ergebnis der Unionsentwicklung in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm III. dar. Gemeinsam boten sie sowohl den Gegnern als auch Befürwortern eine jeweils geeignete Grundlage für ihre Position, sodass der Status der Union gut 20 Jahre nach ihrer Einführung in Preußen zum Ende der Regierungszeit des Königs ungeklärter war denn je. Trotz einiger Bemühungen änderte sich diese Situation auch nicht mit dem Amtsantritt Friedrich Wilhelm IV.234 Und durch die im Zuge der Revolution 231
Vgl. III.1.1., bes. Kap. III, Anm. 14. E. Huber / W. Huber (Hg.), Staat und Kirche (1976), Bd. 1, 583. 233 J. Schoeps, Preußische Union (1968), 158. 234 Friedrich Wilhelm IV. berief 1846 eine Generalsynode ein, auf der nochmals versucht wurde, den Status der Union zu klären, allerdings brachte auch diese keinen Fortschritt, »die Generalsynode von 1846 offenbarte nur, daß die Kirche der Union kein einigendes Bekenntnis besaß. Der behauptete Lehrkonsensus bleib eine unbekannte Größe (…).« (AaO., 161). 232
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
von 1848 gestärkten und vom Staat geförderten restaurativen Kräfte, wurde eine positive Entwicklung hin zur Union immer unwahrscheinlicher und schwieriger realisierbar. 1852 schienen Stahl und seine Anhänger endgültig am Ziel zu sein – sie erreichten beim König eine Kabinettsordre, die im Wesentlichen auf eine Re-Konfessionalisierung der preußischen Kirche hinauslief. Die Union wird dort so bestimmt, dass sie nicht der »Übergang der einen Konfession zur andern und noch viel weniger die Bildung eines neuen, dritten Bekenntnisses« ist, sondern »die Vereinigung von Mitgliedern beider Konfessionen am Tische des Herrn« und die Vereinigung »beider(r) Bekenntnisse zu Einer evangelischen Landeskirche« 235. Zwar werden die beiden Kabinettsordern von 1817 und 1834 aufgenommen, die Union aber insofern eingeschränkt, als sie nur noch auf der Ebene der Landeskirche verortet und auf das Abendmahl eingeschränkt wird, sodass sie letztlich eine Verwaltungsunion ist. Die Re-Konfessionalisierung kommt besonders in den weiteren Bestimmungen zur Geltung, in denen der Evangelische Oberkirchenrat beauftragt wurde, »ebensowohl die evangelische Landeskirche in ihrer Gesamtheit zu verwalten und zu vertreten, als das Recht der verschiedenen Konfessionen (…) zu schützen und zu pflegen« 236 . Lief der ursprüngliche Unionsaufruf von 1817 auf die Bildung einer evangelischen Kirche hinaus, in der die Unterschiede nicht mehr gelten, wurden nunmehr die Konfessionen ausdrücklich gestärkt und geradezu vor der Union geschützt: »Der Gegensatz von lutherischer und reformierter Kirche war in der obersten Kirchenbehörde durch Anordnung der itio in partes bei der Entscheidung konfessioneller Fragen festgehalten.« 237 Es ist nur auf den Widerstand einiger engagierter Vermittlungstheologen zurückzuführen, allen voran Carl Imanuel Nitzsch, dass eine vollständige Auflösung der Union schließlich doch verhindert werden konnte.238 Das Ergebnis dieser Entwicklung war jedoch nunmehr, dass konfessionelle und unierte Gemeinden nebeneinander bestanden, sodass Wilhelm Neuser zu Recht bemerkt, Julius Schoeps zitiert in diesem Zusammenhang eine sehr erhellende Äußerung Ludwig Gerlachs aus seinem Tagebuch vom 6. Dezember 1846, der festhält: »Überall ist das unierende Kirchenregiment auf Neutralität, Halbheit und Umgehung des ja oder nein gerichtet. Aber da die Kirchenbehörden und Unionsstifter selber die großen Gegensätze der Zeit unüberwunden in sich tragen, so muß, wenn sie den Konfessionsbestand auch nur antippen, eine Erschütterung aller Fundamente der Kirchen erfolgen. Ein Überwinden der Gegensätze würde besondere Charismata erfordern, die die Kirche nie weniger als jetzt gehabt.« (Zitiert in: ebd.). Vgl. auch W. Neuser, Union und Konfession (1994), 30 ff. 235 E. Huber / W. Huber (Hg.), Staat und Kirche (1976), Bd. 2 , 319. 236 AaO., 320. Vgl. zu den weiteren Bestimmungen auch W. Neuser, Union und Konfession (1994), 36. 237 A. Nabrings, Friedrich Julius Stahl (1983), 197. Zu Schenkels Beurteilung der Entwicklungen in Preußen vgl. D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 551 ff. 238 Der König ließ sich von dem breiten und heftigen Protest beeindrucken und erließ am 12. Juli 1853 eine weitere Kabinettsordre, die die Störung der Landeskirche und Auflösung der Union verhindern möchte, vgl. W. Neuser, Union und Konfession (1994), 38; E. Huber / W. Huber (Hg.), Staat und Kirche (1976), Bd. 2 , 320 f.
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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dass Stahls Unionsverständnis in Preußen sich letztendlich durchgesetzt hat. »In der ›conservativen Union‹ würden die unterschiedlichen Bekenntnisse bewahrt, doch sei sie keine wirkliche kirchliche Vereinigung. In Preußen bestehe daher nur eine ›Abendmahlsunion‹ und eine ›Kirchenregimentsunion‹« 239. Das heißt, die Unionsgegner anerkannten die Union zwar als gegebenes Faktum, versuchten aber innerhalb dieser Union die Existenz der Konfessionen und ihrer Bekenntnisse weitestgehend zu bewahren. Für Stahl konnte – zumindest noch zu diesem Zeitpunkt – die Union nur eine Vereinheitlichung der kirchlichen Verwaltung bedeuten, die keine Auswirkungen auf die inneren Angelegenheiten der Konfessionen haben durfte.240 Bis zum Amtsantritt von Wilhelm I. 1858 führte die Union in Preußen nur ein Schattendasein, was Schenkel mit Sorge beobachtete. Die Kabinettsordern von 1852 und 1853 wertete er beide als Sieg der Restaurationspartei und entsprechend sensibel war er für jegliche restaurativen Tendenzen innerhalb der badischen Landeskirche. Mit der ›Neuen Ära‹ schien jedoch für die Union in Preußen ein Neubeginn angebrochen zu sein: Gleich zu Beginn seiner Amtszeit bekannte sich Wilhelm I. offen zur Union und erteilte den orthodoxen Kräften eine dezidierte Absage.241 Dieser Auf bruch wurde auch in Baden hoffnungsvoll von der liberalen Opposition aufgenommen.242 3.1.2. Schenkels Begründung der kirchlichen Union Schenkels Begründung der kirchlichen Union wurde bereits an mehreren Stellen thematisiert, sodass die folgenden Ausführungen daran anknüpfen und die Argumentationsstruktur im Vordergrund stehen kann. Dass der Protestantismus alles daran zu setzen habe, sich wieder zu vereinigen, stellte eine Grundforderung Schenkels dar.243 Vor allem seit dem Ende der 1850er Jahre wurde die Unionsfrage zum Mittelpunkt von Schenkels Werk und Wirken. Zu diesem Zeitpunkt sah er die Union zunächst durch die konfessio239 W. Neuser, Union und Konfession (1994), 41; vgl. F. Stahl, Lutherische Kirche (1860), 1 – 10. 240 Vgl. A. Nabrings, Friedrich Julius Stahl (1983), 199 f. Nabrings analysiert ausführlich die Entwicklung von Stahls Unionsverständnis, das schließlich in der völligen Ablehnung der Union mündete, vgl. aaO., bes. 203 f. 241 Vgl. II.4.1. Allerdings blieb diese ›Neue Ära‹ nur eine relativ kurze Übergangszeit: »Im tiefsten Grunde seines Wesens blieb Wilhelm I. die wesentlich vom Bürgertum getragene liberale Bewegung fremd; er gehörte vielmehr dem alten preußisch-konservativen System an, dessen Gewalten auch zunehmend Macht über ihn gewannen.« (G. Besier, Preußische Kirchenpolitik (1980), 40). Dies wirkte sich allerdings weniger auf die Union als vielmehr auf die Kirchenverfassungsfrage aus, die in den 1860er Jahren zum Kampfplatz der preußischen Kirchenpolitik wurde. 242 Vgl. II.4.1. und II.4.2. 243 Vgl. u. a. II.2.3. und II.3.4.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
nellen Kräfte in Preußen und später dann auch in Baden durch den Agendenstreit 244 gefährdet und nachdem die liberale kirchliche Opposition in Baden sich gegen die positiven Kräfte durchgesetzt hatte, suchten Schenkel und seine Mitstreiter im Protestantenverein diese Entwicklung in allen deutschen Staaten anzuregen.245 Ausgangspunkt und Zentrum von Schenkels Unionsverständnis ist die Überzeugung, dass der Protestantismus aus nur einem Grundprinzip entstanden ist und dieses eine Prinzip beiden protestantischen Konfessionen wesentlich zugrunde liegt.246 Davon ausgehend lassen sich dann zwei ineinandergreifende Argumentationsfiguren identifizieren: eine primär theologiegeschichtliche, anhand derer Schenkel nachweisen möchte, dass die Reformatoren jeweils zu Beginn ihres Wirkens von diesem einen Grundprinzip ausgegangen sind und in den zentralen theologischen Fragen eine Position vertreten haben; und daran anknüpfend ein primär theologisches Argument, das seinen Kern darin hat, dass Lehre stets nur sekundär gegenüber der Religion ist, und damit auch die konfessionellen Lehrdifferenzen nur sekundär gegenüber dem eigentlichen Wesen des Protestantismus sind. Eines der Hauptargumente der Unionsgegner lautete, dass die kirchliche Union auf rationalistischen Ideen gründet und sie deswegen die Lehrdifferenzen schlicht übergeht bzw. sich ihnen gegenüber indifferent verhält.247 Im Hintergrund dieser Kritik steht die Auffassung, dass die beiden Konfessionen auf unterschiedlichen Prinzipen beruhen und ihrem Wesen nach grundverschieden sind.248 Gegen diesen Vorwurf macht Schenkel in verschiedenen Schriften geltend, dass die Union gerade nicht unhistorisch und künstlich ist, da die Reformatoren zu Beginn der Reformation alle von demselben Grundimpuls ausgegangen sind und in den Grundlehren übereingestimmt haben.249 Um dies zu zeigen, untersucht Schenkel die Theologie der Reformatoren jeweils zu Beginn ihres reformatorischen Wirkens, da er hier den Grundimpuls und das Wesen des Protestantismus ausgedrückt sieht.250 Die Lehrdifferenzen sind demgegenüber erst 244
Vgl. II.4.1. Vgl. II.4.4. 246 Vgl. III.2.5. 247 Vgl. D. Schenkel, Unionsberuf (1855), IV f. 248 Auch hier kann Stahl als einer der prominentesten Vertreter genannt werden. Insbesondere in der Abhandlung Die Lutherische Kirche und die Union (1860) hat er diese Position verteidigt. Schenkel hat sich mit der genannten Schrift Stahls in einer eigenen Antwort ausführlich und gewohnt polemisch auseinandergesetzt, vgl. D. Schenkel, Union (1859). 249 Vgl. bes. II.2.3.; II.3.4. 250 Im Unionsberuf weist Schenkel dies für den religiösen Ausgangspunkt (Gott), den ethischen Ausgangspunkt (Sündenlehre), den religiösen Mittelpunkt (Christologie), den ethischen Mittelpunkt (Rechtfertigungslehre), den religiösen Zielpunkt (Ekklesiologie) sowie den ethischen Zielpunkt (Gottesdienstordnung) nach und kommt zu dem Ergebnis: »Es hat 245
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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später entstanden, als nämlich die Reformatoren sich mit Vorwürfen aus ganz unterschiedlichen Richtungen konfrontiert sahen und sich gegen diese verteidigen mussten. In diesem Zusammenhang sind sie nach Schenkel von ihrer ursprünglichen Grundeinsicht und dem Wesen des Protestantismus abgewichen. Entscheidend ist, dass Schenkel nicht nachweisen will, dass die Reformatoren in allen Einzelheiten dieselbe Lehre vertreten haben; ihm geht es vielmehr darum, den Grundimpuls des Protestantismus zu identifizieren, der, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, das Wesen des Protestantismus ausmacht, und der für die Feststellung der ursprünglichen Einheit des Protestantismus hinreichend ist.251 Die Einheit des Protestantismus besteht demnach vor den Konfessionen und somit entspricht auch allein die Einheit des Protestantismus dem Wesen desselben. Dieses theologiegeschichtliche Argument unterstreicht Schenkel sodann durch ein weiteres dezidiert kirchengeschichtliches Argument, indem er auf die Unionsbemühungen verweist, die es schon seit Beginn der drohenden Spaltung gegeben habe.252 Von Anfang an wurde, so Schenkel, die konfessionelle Spaltung als Übel angesehen, und die Einigung intendiert. Schenkel sieht darin ein weiteres Argument für die Richtigkeit seiner These, dass die Einigung der beiden Konfessionen die vorzügliche Aufgabe des Protestantismus ist. Die konfessionelle Spaltung wurde endgültig erst im 17. Jahrhundert bekräftigt, wobei Schenkel hervorhebt, dass diese Differenzen eben nur dogmatischer, lehrhafter Natur gewesen sind und nicht religiöser Art. An dieser Stelle knüpft nun die genuin theologische Argumentationsfigur an, die Schenkel zum Beispiel auch in der Dogmatik durchführt und die über das theologiegeschichtliche Argument noch insofern hinausgeht, als Schenkel die Union nunmehr auf der Grundlage seines Religionsverständnisses begründet. Nachdem Schenkel das Wesen des Protestantismus in der Dogmatik entfaltet hat, setzt er sich auch dort mit der konfessionellen Spaltung auseinander. Hier zeigt sich sehr gut, wie theologiegeschichtliche und theologische Argumentation insich uns als unwidersprechlich herausgestellt, daß während der ersten grundlegenden Periode der Reformation alle vier Hauptreformatoren in den wesentlichen Punkten, auf die es eigentlich ankommt, in völliger Uebereinstimmung zueinander stehen, ja, daß selbst hinsichtlich der Lehre von den Sakramenten im Wesentlichen keine abweichenden Meinungen unter ihnen zu bemerken sind.« (D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 186). 251 Vgl. III.2.5. Dieses Grundprinzip lässt sich Schenkel zufolge durch eine genaue Analyse der reformatorischen Schriften nachweisen: »Nicht vermittelst oberflächlicher Betrachtungen oder geistreicher Aperçüs, sondern in Folge vieljähriger Studien in den Quellenschriften des sechzehnten Jahrhunderts ist die Ueberzeugung in uns entstanden und zu immer größerer Sicherheit und Festigkeit ausgebildet worden, daß der Protestantismus seinem innersten Wesen nach nur ein Princip, ein Grundprincip hat, und daß, um das besondere Wesen der Confessionen richtig zu beurtheilen, man von der Einheit dieses seines Princips ausgehen muß.« (D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 19). 252 Schenkel verweist in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Unionsversuche vom Marburger Religionsgespräch bis hin zu Speners Bemühungen, vgl. aaO., 411 – 479.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
einander greifen. Schenkel geht zunächst von der im Rahmen des theologiegeschichtlichen Arguments entwickelten Prämisse aus, »[d]aß es keine ursprünglichen und grundsätzlichen Lehr- und Lebens-Differenzen innerhalb des Protestantismus gebe« 253, wobei er sie in diesem Kontext als Postulat seinen weiteren Ausführungen voranstellt und nicht eigens begründet. Das gemeinsame Fundament von Lutheranern und Reformierten entspricht dem, was Schenkel als Grundtrieb des Protestantismus nachgewiesen hat, nämlich, »daß das Heil auf keinem andern Wege geschafft werden könne, als durch Gott selbst aus der Unmittelbarkeit seines Geistes (...) und allein auf dem Wege persönlicher Gewissenserfahrung« 254. Die Differenzen, die Schenkel keineswegs übergehen möchte, sind demgegenüber sekundär, und zwar nicht nur, wie oben gezeigt, weil sie gegenüber dem ursprünglichen Prinzip zeitlich später sind, sondern weil sie in der kirchlichen Lehre gründen, die gegenüber der Religion immer nur sekundär ist.255 Aus diesem Grund berühren auch die in den Bekenntnisschriften und dogmatischen Lehrgebäuden fixierten Differenzen nicht das eigentliche Wesen des Protestantismus und sie stellen keinen hinreichenden Trennungsgrund dar: Lehre und damit auch die Bekenntnisschriften sind immer nur menschlicher und damit unvollkommener Ausdruck der einen religiös-sittlichen Grundeinsicht.256 Dass es also überhaupt zu einer konfessionellen Spaltung des Protestantismus gekommen ist, war nur möglich, weil der Protestantismus an die Stelle der Religion als dem lebendigen unmittelbaren Verhältnis des Subjekts zu Gott ein Lehrsystem gesetzt und damit unsichtbare und sichtbare Kirche miteinander identifiziert hat.257 253
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 443. AaO., 446 f. 255 Vgl. III.4.1.3.2. Dies schlägt sich deutlich auch in Schenkels Sicht auf die Bekenntnisschriften nieder – sie sind für ihn zwar eine besondere Lehrquelle, nicht aber Lehrnorm und sind vom Gewissensstandpunkt sowie der Offenbarung auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen, vgl. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 1, 455 – 474. 256 Nach Schenkel sind sowohl der lutherische als auch der reformierte Protestantismus vom protestantischen Prinzip abgewichen, sodass auf beiden Seiten Einseitigkeiten im dogmatischen Lehrgebäude aufgetreten sind: »Soweit der lutherische Protestantismus der Versuchung nachgiebt, das Göttliche in der Form der Substanz vorzustellen, läuft er damit Gefahr, die menschlich-geschichtliche Erscheinung Christi abermals mythologisirender Verdunkelung preiszugeben. Soweit der reformirte Protestantismus das Göttliche lediglich in der Bestimmtheit des Geistes haben will, ist er auf dem Wege, die menschlich-geschichtliche Erscheinung Christi zu einer zufälligen, oder doch unwesentlichen, herabzusetzen.« (AaO., 452). Schenkel ist allerdings auch der Überzeugung, dass die Gefahr, vom Wesen des Protestantismus abzufallen, im Luthertum weitaus größer ist als in der reformierten Kirche, da die reformierte Kirche aufgrund des stärkeren Traditionsabbruchs immer das Recht des Subjekts und die Gewissensfreiheit hervorgehoben hätte, vgl. ebd. Mit dieser Auffassung wendet sich Schenkel implizit gegen Baur, der das Recht der Subjektivität gerade im Luthertum auf bewahrt sieht, vgl. dazu III.2.4. 257 Vgl. D. Schenkel, Princip der Union (1867), 609. Demgegenüber stellt sich die Ursprungssituation der Reformation in Bezug auf den Lehrbegriff nach Schenkel folgendermaßen dar: »Es gab auch wirklich eine Zeitlang keinen herrschenden Lehrbegriff mehr inner254
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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»Es ist darum ein durchaus gerechtfertigtes Urtheil, wenn wir die Rückkehr des Protestantismus zum Dogmatismus als eine schwere Verirrung, ja als einen Abfall von seinem Princip bezeichnen. Der Dogmatismus trägt die Schuld an der unseligen Spaltung der protestantischen Kirche in zwei Confessionen.« 258
Weil die konfessionelle Spaltung ihren Grund in der Lehre hat, ist sie unprotestantisch und ist es eine der dringendsten Aufgaben des Protestantismus, auf die kirchliche Union zu drängen und die konfessionelle Spaltung wieder aufzuheben. Wie diese Aufgabe nach Schenkels Ansicht umgesetzt werden muss, soll nun im Folgenden untersucht werden. 3.1.3. Die Durchführung der Union In den Auseinandersetzungen um die kirchliche Union in Preußen hat sich gezeigt, dass eine der zentralen Fragen die Bedeutung sowie der Status der Bekenntnisschriften war, zumindest dann, wenn die Union sich nicht bloß auf die kirchliche Verwaltung beziehen sollte. Wie sensibel dieser Aspekt war, zeigt unter anderem der Vorwurf der Unionskritiker, dass eine kirchliche Union nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass die bindende Autorität der Bekenntnisschriften aufgehoben wird; eine vermeintlich gemeinsame Grundlage der beiden protestantischen Konfessionen hat es ihrer Ansicht nach niemals gegeben und kann es auch nicht geben. Dies führte dann zu dem weiteren Vorwurf, dass kirchliche Unionen dogmatisch indifferent sind und damit letztlich beliebig. Damit wurden sie jedoch gleichsam als Produkt des Rationalismus, dem dieser Vorwurf ebenso galt, identifiziert und diffamiert. Peter Brunner hat anhand der Unionsurkunden des 19. Jahrhunderts drei Hauptformen der Union herausgestellt, mithilfe derer sich die Bekenntnisproblematik sehr gut verdeutlichen lässt: »a) Alle Bekenntnisse werden als solche außer Geltung gesetzt. Als Glaubensgrund und Lehrnorm wird allein die Heilige Schrift anerkannt. (…) b) Als Bekenntnis soll das gelten, was den gemeinsamen Inhalt der reformierten und lutherischen Bekenntnisse ausmacht. Dieser gemeinsame Inhalt wird weder in einem neuen Bekenntnis formuliert noch sonstwie kenntlich gemacht. (…) c) Die Bekenntnisse, die vor der Einführung der Union galten, sollen in den betreffenden Gebieten je für sich auch weiterhin gelten. Jedoch werden die Lehrunterschiede zwischen diesen Bekenntnissen nicht mehr als so schwerwiegend empfunden, daß man halb des Protestantismus. Die religiösen Ideen waren beim Beginn der Reformation in einem wunderbaren Flusse; gleich dem Metall, das im Ofen glüht, schmolz das alte Dogma im Feuer der neuen Geistesfreiheit; die verglommenen Schlacken scheinen nur noch der alten Kirche zu bleiben: die aus der Glühhitze sich herausbildende reformatorische Christengemeinde hatte keinen inneren Grund, die in Fluß gekommenen neuen Ideen abermals in starre Formen zu gießen.« (Ebd.). 258 AaO., 610.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
sich nicht gegenseitig die Gemeinschaft der christlichen Kirche zuerkennen und gemeinsam in einer verfaßten Kirche miteinander verbunden sein könnte.« 259
Die ersten beiden Formen werden als absorptive Union bezeichnet, Letztere als konföderative.260 Schenkels Position ist der absorptiven Kategorie zuzuordnen, gleichwohl er zumindest noch Mitte der 50er Jahre auch Gedanken der konföderativen Union scheinbar aufnimmt, denn zu diesem Zeitpunkt ist er noch darum bemüht, den Vorwurf der dogmatischen Indifferenz konstruktiv zu entkräften. Im Unionsberuf fasst Schenkel seine Vorstellung folgendermaßen zusammen: »Wir sind ganz entschieden der Ueberzeugung, daß die Union nicht nur trennende Schranken auf heben, nicht nur bestehende Differenzen verneinen, sondern auch gemeinsame Grundlagen aufstellen, feste Positionen bejahen soll, ja wir möchten (…) das Trennende gar nicht vermischen, sondern das Gemeinsame nur ungeachtet und trotz des Trennenden anerkannt und das Band der Einigung in der evangelischen Kirche mit Eifer und Liebe festgehalten wissen (…).« 261
Schenkel versucht hier zweierlei: Gegen den Vorwurf des dogmatischen Indifferentismus betont Schenkel zwar, dass die konfessionellen Unterschiede keineswegs übergangen und eingeebnet werden sollen – hier scheint er also auf den ersten Blick den Grundgedanken der konföderativen Unionsidee aufzunehmen – diese Unterschiede treten jedoch hinter die Gemeinsamkeiten zurück, die er allerdings sehr wohl positiv bestimmen möchte und die dann die Grundlage für die Union bilden. Insofern holt Schenkel die Idee einer konföderativen Union zugunsten einer letztlich doch absorptiven Union wieder ein, bei gleichzeitiger Versicherung der Anerkennung der Differenzen. Schenkel geht auch insofern über die Kategorisierung Brunners hinaus, als er das Gemeinsame inhaltlich bestimmen möchte und dieses im Prinzip des Protestantismus ausgedrückt findet.262
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P. Brunner, Union und Konfession (1946), 101. Zur Veranschaulichung kann an dieser Stelle nochmals die Situation in Preußen dienen: Während der Unionsaufruf Friedrich Wilhelms III. 1817 auf eine absorptive Union zielte, vertritt die Kabinettsordre von 1834 eine konföderative Union. 261 D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 11. Schenkel identifiziert im Ausgang von Unionsbemühungen des 17. Jahrhunderts vier Unionstypen: die moralische, politische sowie humanitarische Union und die »Union in der Form der Glaubens- und Liebensgemeinschaft« (aaO., 479). 262 Als Beispiel schwebt Schenkel die Urgemeinde vor: »Eine solche Mannichfaltigkeit von christlichen Lehrbildungen und Lebensgestaltungen auf dem einen Glaubensgrund (1 Cor. 3, 11) stellt uns auch das apostolische Zeitalter vor Augen; denn (…) so viele unwidersprechliche Thatsachen lassen sich dafür anführen, daß wirkliche Lehrverschiedenheiten und Lebensungleichheiten in der apostolischen Kirche sich vorgefunden haben, ohne daß das Band der Gemeinschaft im Herrn dadurch gelöst und das Gefühl der christlichen Bruderliebe deßhalb getilgt worden wäre.« (AaO., 11 f.). 260
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf Schleiermacher aufschlussreich: Schenkel kritisiert im Unionsberuf Schleiermachers vermeintliches Desinteresse an konfessionellen Eigentümlichkeiten. Diese Kritik wiederholt er später jedoch nicht mehr, was auf die weitere Differenzierung in Schenkels eigenem Unionsverständnis hindeutet. Drei Schriften sind in diesem Kontext zum Verständnis von Schleiermachers Unionsauffassung besonders relevant: 263 zum einen Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat 264, sodann die bereits erwähnte Erklärung der Berlinischen Synode 265 und schließlich die Schrift An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Säze 266. Entscheidend ist für Schleiermachers Unionskonzept, dass es nicht auf eine einheitlich gestaltete Kirche als gleichsam dritte Konfession zielt. Gleich zu Beginn des ersten Gutachtens spricht Schleiermacher sich eindeutig gegen eine kirchliche Union aus, die der Art ist, dass alles kirchliche Leben einheitlich zu gestalten ist.267 Wie auch Schenkel ist er der Ansicht, dass die Lehrdifferenzen keinen hinreichenden Grund für die konfessionelle Spaltung darstellen, was jedoch keineswegs bedeutet, dass er diese auf heben möchte: »Die Vielfalt ist legitim, korrekturbedürftig sind allein die Trennungen, die sie hervorgebracht hat.« 268 Aus diesem Grund möchte Schleiermacher die kirchliche Union herstellen, »ohne daß die Unterschiede im Lehrbegriff und die Abweichungen im Rituale angetastet werden dürfen; und daß diese Wiederherstellung erfolgen muß, ohne irgend jemand in der Freiheit seines Glaubens und seines Thuns zu beschränken« 269. Schleiermacher möchte also keineswegs die Lehrdifferenzen übergehen und eine Lehrunion herstellen, sondern plädiert für eine »die Individualitäten in sich aufnehmende(…) kirchliche(…) Union« 270. Grundlage dieser Union ist die religiöse Grundsignatur des Protestantismus, wie Schleiermacher in seiner Schrift gegen Ammon hervorhebt, und die er später auch in der Glaubenslehre im Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus festhält. Diese religiöse Grundsignatur besteht für Schleiermacher in der Rechtferti263
Zu Schleiermachers Unionsverständnis vgl. M. Stiewe, Unionsverständnis (1969). Vgl. F. Schleiermacher, Unvorgreifliche Gutachten (1804). 265 Vgl. oben Anm 224. 266 Vgl. F. Schleiermacher, An Ammon (1818). 267 »Jene haben ihre Absicht gerichtet auf beide Kirchen im Ganzen; sie sollen überall eins werden in der Lehrmeinung, in den Gebräuchen, in der Verfassung. Denn diese Vielfachheit der Formen und Formeln ist ihnen eben so sehr zuwider, und sie möchten sie vertilgen, so weit ihr Auge reicht. Davon soll aber hier, wie die Folge zeigen wird, gar nicht die Rede sein; vielmehr wünscht der Verfasser gar sehr, daß es hierin beim Alten bleiben möge.« (F. Schleiermacher, Unvorgreifliche Gutachten (1804), 369 f.). 268 M. Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften (1989), 175. 269 F. Schleiermacher, Unvorgreifliche Gutachten (1804), 392. 270 M. Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften (1989), 175. 264
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
gungslehre oder allgemeiner in der Art und Weise der Beziehung des gläubigen Subjekts auf Christus: »Wenn Sie Ihr Verhältniß zum Erlöser, wie es in unserer Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben ausgedrükkt ist, auf das tiefste empfinden, können Sie da nicht dem Reformirten als Gleichgesinnten in einem Sinne die Hand reichen, in welchem Sie sie dem Katholiken nicht reichen können (…)?« 271
Vollziehen möchte Schleiermacher die Union durch ein gemeinsames Abendmahl, jedoch nicht, wie oben deutlich geworden ist, auf Grundlage einer gemeinsamen Abendmahlslehre, sondern als »Erlaubnißgesetz«. Er erklärt, »daß es überall weder in bürgerlicher noch in kirchlicher und religiöser Hinsicht für eine Veränderung solle gehalten werden, wenn, wer bisher nach dem einen Ritus und bei einer Gemeine der einen Confession communicirt hat, in Zukunft, es sei nun immer oder abwechselnd, bei einer Gemeine der andern Confession und nach dem andern Ritus communicirt.« 272
Die Gemeinden sollen sich also ungeachtet der weiterhin bestehenden Differenzen gegenseitig Abendmahlsgemeinschaft gewähren. Brunner bezeichnet diese Art der Union als »Verwaltungsunion mit gegenseitiger Kommunikantenzulassung« 273. Nach Ansicht Schenkels impliziert Schleiermachers Unionskonzeption jedoch, dass ihm konfessionelle Eigentümlichkeiten letztlich gleichgültig sind, auch wenn er diese bewusst nicht auflösen, sondern bestehen lassen möchte: »So wird unstreitig durch diese Annahme die Uebereinstimmung in dem Consensus als eben so gleichgültig, wie die Uebereinstimmung in dem Dissensus betrachtet, und das kirchliche Bewußtsein überhaupt seines dogmatischen Gehaltes entleert. Das Abendmahl wird aus einem kirchlichen Bekennitßakte der, an die darin sich mittheilende real-persönliche Gegenwart des Herrn glaubenden, Gemeinden in einen gemeinsamen Gefühlsakt des frommen christlichen Gemeindebewußtseins verwandelt, welchem Gefühle aber eben der bestimmte dogmatische Inhalt fehlt.« 274
Da das Abendmahl auf keiner gemeinsamen Grundlage steht, sondern bloß Ausdruck eines gemeinsamen, nicht näher bestimmten Gefühls ist, wird es Schenkel zufolge sinnentleert und ist ohne ›objektive‹ Substanz.275 Diese Kon271
F. Schleiermacher, An Ammon (1818), 340. F. Schleiermacher, Unvorgreifliche Gutachten (1804), 392. 273 P. Brunner, Das lutherische Bekenntnis (1952), 18. Allerdings bezieht Peter Brunner sich an dieser Stelle nicht auf das Unvorgreifliche Gutachten, sondern auf die Erklärung der Berlinischen Synode. Martin Stiewe weist darauf hin, dass diese Definition das Unionsverständnis der Gutachten nur bedingt widergibt, »da Schleiermacher auch Prediger und Kandidaten berufen lassen möchte, ohne nach Ritus und Konfession zu fragen« (M. Stiewe, Unionsverständnis (1969), 20, Anm. 27). 274 D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 505 [Hervorhebung im Original]. 275 Hier spiegelt sich noch die konservativere Haltung Schenkels zu Beginn und Mitte der 272
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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sequenz führt Schenkel zurück auf Schleiermachers Theologie, die seiner Ansicht nach subjektivistisch ist und in der dem Glauben das objektive Gegenüber fehlt. Dagegen betont Schenkel, um genau diesem Vorwurf des dogmatischen Indifferentismus und damit letztlich dem Vorwurf, eine rationalistische Theologie zu vertreten, zu begegnen, nicht nur die Berechtigung der konfessionellen Eigentümlichkeiten, sondern er möchte zudem die Union auf einen lehrhaften Grund stellen, zumindest was die wesentlichen kirchentrennenden Lehren betrifft.276 Schenkel macht sich damit den Vorwurf der Unionskritiker zu eigen und möchte zeigen, dass dieser selbst auf einem Missverständnis der Union beruht, weshalb er die positive Grundlage für die Union betont. In Bezug auf das Abendmahl hebt Schenkel lobend den Ansatz des badischen Kirchenrats Bruno Brauer hervor, der versucht habe, auch für das Abendmahl einen gemeinsamen Bekenntnisstand zu formulieren,277 und zwar so, dass jeder dennoch frei sei zu entscheiden, was beim Abendmahl geschieht. Das gemeinsame Bekenntnis wird also so weit formuliert, dass eine darüber hinausgehende Deutung und Näherbestimmung möglich ist, diese jedoch nicht den Grundkonsens und damit die bekenntnishafte Grundlage der Union beeinträchtigt.278 Die Auflösung der konfessionellen Eigentümlichkeiten und Differenzen ist damit verhindert: Eindeutig ist freilich, dass diese hinter die gemeinsame Grundlage zurücktreten müssen, da nur dann eine positive Union möglich ist, wenn die Differenzen nicht mehr als trennend angesehen werden und sie so letztlich ihre Bedeutung verlieren.279 »Die Union schließt das Fortbestehen der confessionellen Eigenthümlichkeiten nicht an und für sich aus, hindert aber jedenfalls dieselben in so ausschließlicher Besonderung aufzutreten, daß die Einheit des evangelischen Lehr- und Lebensgrundes dadurch negirt und die kirchliche Gemeinschaft gestört oder gar gelöst würde.« 280
50er Jahre wider, in der er das objektive Moment an Kirche und Bekenntnis gebunden und dieses gegenüber der Subjektivität stärker hervorgehoben hat, vgl. II.2 und II.3. 276 Schenkel sieht dies in der Unionsurkunde in der Badischen Landeskirche durchgeführt, vgl. dazu Kap. II, Anm. 192. 277 Dieser Konsens wird folgendermaßen formuliert: »Indem Brod und Wein als Nahrungs- und Stärkungsmittel des leiblichen Lebens genossen würden, werde zugleich auch jene Nahrung und Stärkung des geistigen Lebens, welche Jesus durch Hingebung seines Leibes und Vergießung seines Blutes bereitet hat, jedem Communicanten dargeboten.« (D. Schenkel, Unionsberuf (1855), 508 f.). 278 Schenkel bezeichnet die preußische Kabinettsordre von 1817 als materiale Lehrunion, insofern zwar nicht die Lehrunterschiede aufgehoben, jedoch die Unterschiede für unwesentlich erklärt wurden und stattdessen an die biblischen Grundlagen erinnert wurde, vgl. aaO., 515 ff. 279 Diese wahre Umsetzung der Union sieht Schenkel in den südwestdeutschen Landeskirchen gegeben, während der Status der Union in Preußen, nachdem er zunächst Vorbildcharakter gehabt habe, nunmehr unklar sei, vgl. aaO., 640 ff. 280 AaO., 660 f.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Schenkel stimmt also mit Schleiermacher darin überein, dass die Lehrdifferenzen keine kirchentrennende Bedeutung haben, versucht aber gegen Schleiermacher für die wesentlichen kirchentrennenden Lehren wie das Abendmahl, ein gemeinsames Fundament zu formulieren. In Folge der Auseinandersetzungen um die Union in Baden sowie insbesondere mit Stahl in Preußen entfernt Schenkel sich in den folgenden Jahren von seiner Position der Lehrunion und argumentiert nun primär auf der Grundlage seines Religions- und Protestantismusbegriffs: Er wertet die konfessionelle Spaltung als Krankheitssymptom, das sich dem katholischen Rückfall des Protestantismus verdanke, da statt der Bezogenheit des Subjekts auf Gott die Bezogenheit des Subjekts auf einen bestimmten Lehrbegriff gesetzt werde. So konnte laut Schenkel die konfessionelle Spaltung erst Wirklichkeit werden, als das Gewicht von der Gemeinde auf die Lehre und damit auf die Hierarchie verlagert wurde. Für die Durchsetzung der kirchlichen Union bedeutet dies umgekehrt, dass sie von der Gemeinde ausgehen und auf ihr ruhen muss, damit die unprotestantische Lehrherrschaft in der protestantischen Kirche gebrochen wird. Eine Lehrunion ist damit nicht mehr das Ziel von Schenkels Unionsbemühungen. »Die Union ist kein Kunststück der kirchlichen Diplomatie, sondern eine That des evangelischen Lebens, kein Product der theologischen Schulen, sondern ein Werk des heiligen Geistes.« 281 Im Gegensatz zu seinen Ausführungen zur Umsetzung der Union im Unionsberuf vertritt Schenkel sieben Jahre später also nunmehr die Überzeugung, dass eine kirchliche Union die vollständige Auf hebung der konfessionellen Differenzen bedeutet und damit auch die Auf hebung der Autorität der Bekenntnisschriften: »Aber die Union, wenn sie wirklich ein kirchlicher Fortschritt, ja wenn sie die kirchliche Selbstverwirklichung des Geistes und Wesens des Protestantismus sein soll, muß die h. Neutralisirung des confessionellen Gegensatzes (grundsätzliche) Auf hebung, d. selbst, sein. Indem sie aber den letzteren neutralisiert, so bricht sie überhaupt der herkömmlichen Lehrherrschaft die Spitze ab.« 282
Damit lehnt Schenkel die von ihm ursprünglich postulierte Anerkennung der konfessionellen Eigentümlichkeiten ab und stellt stattdessen Union und Konfessionen einander scharf gegenüber, wie sich deutlich in dem bereits oben zitierten Vortrag über das Unionsprinzip zeigt: »Wir dürfen weder uns noch Andere darüber täuschen: die kirchengesetzliche Gebundenheit an die Autorität der Bekenntnißschriften ist mit einer vollständigen und aufrichtigen Durchführung der Union unverträglich, der confessionelle Standpunk steht mit dem unionistischen in einem grundsätzlichen Widerspruche, und ich betrachte es 281
D. Schenkel, Erneuerung (1860), 38. Ebd.
282
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
249
als eines der unglücklichsten Experimente jetzt so beliebter theologischer und kirchlicher Halbheit, der Confession und der Union zugleich gerecht werden zu wollen, auf der einen Seite ›das volle Recht der Confession‹ zu wahren, und auf der andren der Union einen zuverlässigen Schutz zu verheißen.« 283
Schenkel möchte damit den Bekenntnisschriften nicht jegliche Autorität absprechen, sie gilt ihm jedoch nur insofern, als die »großen Grundsätze«, die »ewig lebendigen Ideen, aus denen sie entsprungen sind«284 dieselben implizit tragen, wenngleich sie auch nicht explizit formuliert sind. Die Unterscheidung von wesentlichem Grundtrieb und daraus hervorgegangener Lehre trägt Schenkel so in die Bekenntnisschriften selbst ein und interpretiert sie vor diesem Hintergrund. In diesem Zusammenhang hebt Schenkel nunmehr auch Schleiermachers Verdienste um die Union und sein Konzept positiv hervor; dieser habe eben die Bedeutung der Lehresysteme durchbrochen und »den gottesbedürftigen Herzen der Zeitgenossen den Zugang zu den ursprünglichen Quellen der Religion, in Gemüth und Gewissen, in der innersten tiefsten persönlichen Erfahrung, und damit den Zugang zu dem Leben der Gottheit selbst wieder eröffnet« 285.
Schenkel rechnet es hier also ausdrücklich als Schleiermachers Verdienst an, die Bedeutung der Lehre für die Religion im Allgemeinen und damit auch für die Union im Speziellen aufgegeben und stattdessen an den wahren Grund der Union, die Religion, erinnert zu haben.286 Dieser Einsicht konsequent folgend, lehnt Schenkel es nunmehr ab, die Union auf der Grundlage einer gemeinsamen Abendmahlslehre zu begründen, da diese Vorstellung weiterhin von der falschen Prämisse ausginge, dass die Union über eine gemeinsame Lehre hergestellt werden müsse. Die Differenzierung wird mit Blick auf das Abendmahl besonders deutlich: Wollte Schenkel für dieses zuvor noch ein gemeinsames, wenn auch ein sehr offenes Bekenntnis formulieren, lehnt er dies nun dezidiert ab. Die Grundlage der Union macht wie auch bei Schleiermacher allein das Wesen des Protestantismus aus und das heißt das Bewusstsein des persönlichen Gottesverhältnisses und der Teilhabe an der unsichtbaren Kirche als der wiederhergestellten menschheitlichen Gottesgemeinschaft sowie die darin implizierten Grundsätze der freien Schriftforschung – die nicht an Bekenntnisschriften gebunden ist –, der Rechtfertigung allein durch den Glauben sowie des Priestertums aller Gläubigen.
283
D. Schenkel, Princip der Union (1867), 615. AaO., 618. 285 AaO., 611. 286 »Er hat uns gelehrt, daß das Dogma, sowie es herrschen will, immer trennt, und daß nur die Religion, die stets nur dienen will, einigt.« (Ebd.). 284
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
3.1.4 Die Bedeutung der Union für eine Vereinigung der deutschen Kleinstaaten Die kirchliche Union sollte Schenkel zufolge nun keineswegs auf die landeskirchliche Ebene beschränkt bleiben. Vielmehr findet das Unionsprinzip seine Erfüllung in der Bildung einer deutschen Nationalkirche. Sie war der große Traum und das Ziel sowohl Schenkels als auch seiner Mitstreiter im Protestantenverein.287 Die landeskirchliche Zersplitterung wurde von vielen Protestanten im 19. Jahrhundert als Schwäche wahrgenommen und zwar insbesondere im Gegenüber zum zentralisierten Katholizismus. Diese Ansicht vertrat auch Schenkel: »In der Zersplitterung (…) hat der deutsche Protestantismus keine auch nur einigermaßen gesicherte Zukunft zu erwarten. Eine nationale Machtentfaltung kann er nur dadurch gewinnen, daß er sich zu einer Nationalkirche ausbaut (…).« 288 Die Nationalkirche wird vor allem als Stärkung des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus wie auch gegenüber hierarchischen Bestrebungen innerhalb des Protestantismus gesehen und ermöglicht eine stärkere und deutlichere Positionierung gegenüber den Staaten. Schenkel forderte eine föderal organisierte Nationalkirche, die auf der Gemeinde ruht und ihre Spitze in einer Nationalsynode findet.289 Seine Vorstellung zum Auf bau einer Nationalkirche spiegelt damit das Verhältnis von unsichtbarer und sichtbarer Kirche wider: Sie ist nicht durch einheitliche Lehre oder Gottesdienstform gekennzeichnet, sondern durch »Einheit im Glauben«, »Einheit in den Grundsätzen«, »Einheit in der Liebe« 290. Schenkel bezeichnet den Grundsatz dieser Nationalkirche entsprechend als »Einheit in der Freiheit« 291. Die verbindende Grundlage stellt das religiöse Bewusstsein ihrer Mitglieder dar, das die Gemeindeglieder zu einer Gemeinde und Kirche vereint und das aber in den verschiedenen Landeskirchen und Gemeinden seinen unterschiedlichen, kulturell geprägten Ausdruck findet.292 287
Vgl. II.4.4. D. Schenkel, Princip der Union (1867), 626. 289 Zum Auf bau und den Aufgaben einer Nationalkirche vgl. D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862), 362. An den Einigungsversuchen des Deutschen Kirchentags wie auch der Eisenacher Kirchenkonferenz kritisiert Schenkel, dass sie lediglich Theologenveranstaltungen sind und nicht Ausdruck der gemeindlichen Tätigkeit, vgl. II.4.4. Zu den Einigungsversuchen im Protestantismus in der Mitte des Jahrhunderts vgl. J. Cochlovius, Bekenntnis (1980). 290 D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862), 362. 291 Ebd. 292 Im Hintergrund steht Schenkels Überzeugung, dass das Christentum zwar nationalstaatliche Grenzen transzendiert, es jedoch gleichzeitig vermag, sich nationalen Gegebenheiten anzupassen; auch die Reformation hatte nationale Charakter: »Die Reformation selbst war eine specifische That des deutschen Volksgemüthes, Luther der Mann aus dem Volke, der beredte Dolmetscher dessen, was im Gewissen des deutsche Volkes längst verborgen gelebt hatte.« (AaO., 6). Diese nationalen Eigentümlichkeiten kann die katholische Kirche als 288
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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Es ist bemerkenswert, dass Schenkel dieses Unionsprogramm nun nicht nur auf den Protestantismus beschränkt, sondern auch den liberalen Katholizismus mit in seine Überlegungen einbezieht und Grundsätze aufstellt, die für eine Konföderation – keine kirchliche Union! – von Seiten des liberalen Katholizismus anerkannt werden müssten um »sich mit den Vertretern des freien Protestantismus zu gemeinsamem Handeln verbinden« 293 zu können: Der Grundsatz 1) der Gewissensfreiheit, 2) der Toleranz, 3) der freien Forschung und 4) der Freiheit und Unabhängigkeit des Staates von der Kirche. Diese Grundsätze drücken die Wahrung der Freiheit des Subjekts wie auch des Gemeinwesens gegenüber (kirchlichen) Autoritätsansprüchen aus und Schenkel formuliert sie explizit im Widerspruch zum ultramontanen Katholizismus – »[m]it diesem, dem sogenannten ultramontanen, Katholizismus ist keine Verständigung, kein Frieden möglich« 294. Das Prinzip der Freiheit wird somit zum notwendigen wie hinreichenden Kriterium einer Konföderation erhoben. Wie genau Schenkel sich diese Konföderation vorstellt, legt er nicht dar. An einer auch strukturellen und institutionellen Vereinigung scheint er weniger Interesse zu haben. Deutlich wird dagegen das damit verbundene Ziel: Schenkel geht es mit dieser Verbindung um die Verteidigung und Durchsetzung der genannten Grundsätze – die ja nicht nur das religiöse Individuum, sondern vielmehr die zentralen Bereiche des Gemeinwesens überhaupt betreffen – gegenüber dem römischen Katholizismus wie auch gegenüber dem ›katholischen Protestantismus‹. Die kirchliche Union der Protestanten sowie die Verbindung mit dem liberalen Katholizismus sind somit im Blick auf die nationale Entwicklung von größter Bedeutung,295 da sie die Freiheit des Individuums wie auch des Gemeinwesens verteidigen und damit überhaupt erst Freiheit und Fortschritt ermöglichen. Zudem sind sie auch besonders relevant für die Einigung Deutschlands. Diese Überzeugung ist in Schenkels Verständnis der Religion als Grundfaktor allen Lebens begründet: Herrscht auf diesem Gebiet Uneinigkeit, so fehlt in allen anderen Bereich der wesentlich Grund der Einheit. In nationaler Hinsicht stellt Weltkirche gerade nicht anerkennen und ihr Ziel ist im Gegensatz zum Protestantismus vielmehr die Überwindung des nationalen Lebens. 293 D. Schenkel, Protestantische Freiheit (1865), 18. In der Auseinandersetzung mit Gervinus, vgl. II.2.2., hatte Schenkel die Zusammenarbeit aufgrund eines fehlenden gemeinsamen Fundaments zurückgewiesen. Zwar wiederholt Schenkel auch jetzt seine Kritik, dass es dem liberalen Katholizismus an einer positiven Grundlage fehle und er seinen Grund nur in der Negation des römischen Katholizismus finde: »[E]s fehlt ihm der große reformatorische Hintergrund, die schöpferische Gedankenmacht des sechzehnten Jahrhunderts, welche die Keime einer neuen zukunftsreichen Glaubens- und Lebensordnung für die Völker in sich schließt« (D. Schenkel, Protestantische Freiheit (1865), 18); aufgrund der Entwicklung in Schenkels Theologie und der damit verbundenen Betonung der Subjektivität im gegenüber zur Objektivität hält er nun jedoch die Zusammenarbeit auf den formulierten Grundlagen, die ja wesentlich die Orientierung an der Subjektivität festhalten, für möglich. 294 D. Schenkel, Protestantische Freiheit (1865), 3. 295 Vgl. bes. II.3.4.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
die Union deswegen geradezu ein Desiderat dar, weil erst durch sie die protestantische Bevölkerung sich in einem Geist verbunden weiß und nicht mehr durch unterschiedliche Lehren getrennt wird. Dieses Bewusstsein der Einheit im religiösen Geist bildet dann das Fundament der nationalen Vereinigung.296 Die Konföderation mit den liberalen Kräften im Katholizismus würde dieses Bewusstsein auch im Blick auf die katholische Bevölkerung stärken, die prägende Glaubenskluft zwischen Katholiken und Protestanten im deutschen Volk lindern und so die auf der Freiheit gründende nationale Einheit der deutsche Staaten befördern.
3.2. Die Verfassung der sichtbaren Kirche Im Zuge des liberalen Umschwungs in Baden 1860 wurde auch die Kirchenverfassung der evangelischen Kirche Badens neu ausgearbeitet.297 Schenkel hat diese Verfassung nachhaltig beeinflusst, sodass in Baden eine Kirchenordnung in Kraft trat, in der Schenkels Verständnis eines genuin protestantischen Kirchenbegriffs im Wesentlichen realisiert ist. Ausführlich hat er seine Vorstellungen einer protestantischen Kirchenverfassung in Die Erneuerung der Deutschen Evangelischen Kirche 298 begründet. Eine weitere wichtige Schrift ist in diesem Kontext Die kirchliche Frage und ihre protestantische Lösung 299. Diese Monographie ist nur zwei Jahre später entstanden, bietet jedoch einige Modifikationen, in denen Schenkel die Grundsätze seiner Ekklesiologie noch konsequenter umzusetzen versucht. 3.2.1. Grundsätze der protestantischen Kirchenverfassung Es ist gezeigt worden, dass Schenkel trotz der eindeutigen Unterscheidung der sichtbaren von der unsichtbaren Kirche die sichtbare Kirche als auf die unsichtbare bezogen und gegründet versteht. Dementsprechend muss auch die Kirchenorganisation im Wesen der unsichtbaren Kirche gründen, und das heißt im persönlichen Gottesverhältnis ihrer Mitglieder. Schenkel fasst diesen Grundsatz folgendermaßen zusammen: 296 Diese Meinung vertrat Schenkel auch noch 1870, also nach der politischen Einigung des Deutschen Reiches, die entgegen der Hoffnung vieler Protestanten keine kirchliche Einigung gebracht hatte: »Die kirchliche Einheit würde ohne Zweifel der mächtigste Kitt der deutschen Stammesverschiedenheit, der wirksamste Hebel eines auf Gesinnung, Glauben und Sitte gegründeten deutschen Staatslebens sein.« (D. Schenkel, Deutsche Reich (1871), 57). 297 Vgl. dazu II.4.2. Die Kirchenverfassungskonzeptionen des 19. Jahrhunderts, insbesondere der konfessionellen Partei, sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden, vgl. dazu Ch. Link, Kirchenverfassung (1966); G. Ris, Konstitutionalismus (1988). Zu 298 Vgl. II.4.3. 299 Vgl. D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862).
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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»Das Wesen der unsichtbaren Kirche beruht aber darauf, daß jedes Mitglied derselben in unmittelbarem lebendigen Verhältnisse zu Gott steht und lediglich in einem solchen das Bewußtsein des Friedens und der Versöhnung mit Gott hat. Um diese innere religiöse Befriedigung, dieses Bewußtsein wiederhergestellter Gemeinschaft mit Gott zu begründen, zu dem Zwecke mußte der Protestantismus innerhalb seiner sichtbaren Kirchenstiftung Alles vermeiden, was die Wiederaufrichtung eines mittlerischen Priesterthums und creatürlichen Mittlerthums irgend begünstigen konnte. Er mußte Ernst machen mit der apostolischen Wahrheit vom allgemeinen Priesterthum, von der unmittelbaren Gemeinschaft aller Gläubigen mit Gott; er mußte zur Ausführung bringen, was in der Ueberzeugung liegt, daß es nur einen Mittler, Jesu Christum, giebt, dessen Wort und Geist alle Gemeindeglieder zu Priestern, d. h. zu selbständigen Geistesmenschen und selbstverantwortlichen Gewissensmenschen, weiht.« 300
Ausgangspunkt einer genuin protestantischen Kirchenverfassung muss das gläubige Subjekt und schließlich die Gemeinde als Gemeinschaft gläubiger Subjekte sein. Ihren dogmatischen Ausdruck findet diese Ansicht in der Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, die ihr Fundament im Gewissensstandpunkt des Protestantismus hat. Das Priestertum aller Gläubigen wird wie auch bei Schleiermacher zum leitenden Verfassungsprinzip und impliziert für Schenkel die Ablehnung einer kirchlichen Hierarchie und der Unterscheidung eines Laienund Priesterstandes. Diesen Grundsatz sieht Schenkel auch in den Schriften der Reformatoren, (zumindest in der Anfangszeit) leitend,301 wenngleich er zugibt, dass auch in der protestantischen Kirche dieser Grundsatz niemals zu seiner vollen Geltung gekommen ist, sodass sich auch hier die »unprotestantische« Unterscheidung von Laien und Priestern und damit eine hierarchische Struktur wieder durchgesetzt hat.302 Damit ist dem Protestantismus die bleibende Aufgabe gestellt, sich seinem Wesen entsprechend auf der Grundlage des Priestertums aller Gläubigen zu organisieren und eine Kirchenordnung zu schaffen, die selbst Ausdruck des Protestantismus ist und diesem dient: 300
D. Schenkel, Erneuerung (1860), 20. »Daß die Seligkeit nicht von menschlicher Autorität und von elementarischen Mittel ursachen abhängig ist, daß sie unmittelbar von Gott kommt, daß der Mensch nur dann mit Gott versöhnt ist, wenn er das göttliche Offenbarungsleben in sein eigenes Personleben mit Freiheit und mit Liebe aufgenommen hat: das sind die einfachen, aber herzen- und weltbewegenden Gedanken, von welchen die Reformatoren ausgegangen sind. Von diesen aus mußte der Unterschied zwischen Klerus und Laien im hergebrachten Sinne fallen.« (AaO., 18). 302 »Hiernach galt es schon zur Reformationszeit, sich gemeindlich zu organisiren, alle Kräfte und Gaben der Gemeindeglieder ordnungsgemäß zu ihrem lebendigen Ausdruck, zu einer kräftigen Entfaltung zu bringen. Ist diese Aufgabe der Reformation gelöst? Wir antworten darauf mit einem unumwundenen Nein. Daß Lösungsversuche in diesem Sinne gemacht wurden, ist wohl anzuerkennen. Luther bis zum unglücklichen Ausgange des Bauernkrieges, Zwingli bis an seinen Tod auf dem Schlachtfelde zu Kappel, Calvin während seiner reichgesegneten langjährigen Wirksamkeit in Genf (...): diese drei Reformatoren haben jene Aufgabe ins Auge gefaßt (…), aber gelöst ist sie gleichwohl auch in der Gegenwart noch nicht.« (AaO., 21). 301
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
»Der Geist Christi ruht nicht auf einzelnen Standespersonen, sondern auf der ganzen Gemeinde, und daher kann sich der Protestantismus nur dann begriffsgemäß kirchlich richtig entwickeln, wenn er seine Kirchenverfassung auf die Basis eines wohlorganisirten Gemeindelebens stellt.« 303
Die Betonung der Gemeinde als Grund der Kirche impliziert wie auch bei Schleiermacher keineswegs eine radikale Ablehnung jeglicher Form von institutioneller Organisation. Damit die sichtbare Kirche überhaupt ihre pädagogische Aufgabe erfüllen kann, sind Schenkel zufolge vielmehr »gesetzlich-organische(...) Einrichtung[en]«304 notwendig. Nicht, ob Ämter dem Protestantismus überhaupt angemessen sind, sondern worauf sie gegründet sind und in welchem Verhältnis sie zur Gemeinde stehen, ist also die entscheidende Frage. Schenkel betont, dass die Gemeinde bei der Einrichtung der Ämter und Institutionen ihrem eigenen Bedürfnis folgt und nicht einer Anordnung Gottes. Kirchliche Institutionen und Ämter sind keine »nothwendige[n] Erscheinungen der Kirche«305, sie sind vielmehr geschichtlichen Entwicklungen und Bedürfnissen unterworfen und somit wandelbar, reformfähig und -bedürftig. Ganz deutlich grenzt Schenkel sich hier von Stahl ab, gegen den er betont, dass nur die unsichtbare Kirche über der Gemeinde steht, niemals aber die Institution,306 denn: »Jede Ausstattung gegenständlicher Instanzen mit göttlicher Autorität und dem Anspruch auf objektive Geltung wäre ein Verstoß gegen das Zentrum des Protestantismus.«307 So ist auch die sichtbare Kirche ihrem Wesen nach nicht Institution, sondern »eine Gesammtheit von aus der Welt zum Glauben berufenen Persönlichkeiten«308. Die Institution ist immer nur sekundär der Gemeinde gegenüber und hat ihren Grund in der Gemeinde, denn »die Gemeinden sind früher da gewesen als ihre Einrichtungen, der Glaube früher als das Bekenntniß, die Erweckung früher als der Cultus, die christlichen Gaben früher als die kirchlichen Aemter«309. Schenkel kehrt damit das ›zeitliche‹ Argument Stahls, dass die Kirche immer schon vor der Gemeinde besteht, um.310 Aus diesen Überlegungen leitet Schenkel nun folgende Grundsätze für die protestantische Kirchenverfassung ab:
303
D. Schenkel, Art. »Kirche« (1857), 598 f. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 972. 305 AaO., 967. 306 »Nur die unsichtbare, als die allein wahre, Kirche ist eine Macht, welche über den Menschen steht; die Formen dagegen, in welchen der Glaube sich einen lehrbegrifflichen, gottesdienstlichen und verfassungsmäßigen Ausdruck verschafft, sind durch Menschen hervorgebracht, und haben als solche keine Autorität über Gewissen und Glauben.« (AaO., 969). 307 N. Slenczka, Diskussion um das kirchliche Amt (2001), 124. 308 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 972. 309 Ebd. 310 Vgl. IV.1.3. 304
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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»1) Die Fülle der Kirchengewalt ruht ausschließlich in der Gemeinde, dem allgemeinen Priesterthum aller Gläubigen, der Gleichberechtigung aller Gemeindemitglieder vermöge des allen geschenkten göttlichen Wortes und heiligen Geistes. 2) Aus der Gemeinde entspringen alle kirchlichen Aemter; die Gemeinde hat dieselben darum auch zu bestellen. 3) Der Zweck der Kirchenverfassung ist, den Kräften und Gaben der Gemeinde zur vollen Entwickelung und umfassenden Selbstverwirklichung zu verhelfen. 4) Der Gegensatz zwischen Klerus und Laien ist unprotestantisch; es giebt auf dem Gebiete des Protestantismus keine klerikalen Vorzugsrechte, keine göttliche Autorität des Amtes über die Gemeinde. Das Amt ist aus und in der Gemeinde. 5) Die Gemeinde verwaltet ihre Angelegenheiten durch die Männer ihres Vertrauen, ihre Vertreter, selbst; sie bedarf nicht der Bevormundung, sondern umgekehrt selbständiger Entwickelung.« 311
Schenkel entwirft eine Kirchenverfassung, die konsequent ›von unten‹ konzipiert ist. Angelpunkt derselben ist der Einzelne, dann die Gemeinde; von ihr aus entwickelt sich die sichtbare Kirche und auf diese hin ist sie wieder gerichtet – die Gemeinde ist das Fundament, auf dem die gesamte Kirche ruht.312 Insgesamt wird deutlich, dass diese Grundsätze von liberalem Gedankengut geprägt sind.313 So betont Schenkel die Selbstverwaltung der Gemeinden, um die Freiheit der Gemeinden von kirchlichen Behörden zu sichern. Besonders in Punkt 5) zeigt sich, dass Schenkel diese Überzeugung mit demokratischen Prinzipien verbindet, die er acht Jahre zuvor in den Gespräche[n] über Protestantismus und Katholicismus noch vehement abgelehnt hatte.314 Neben der Reaktion auf die lutherische konfessionelle Theologie, ist dieser Umschlag vor dem Hintergrund der inzwischen in Baden veränderten politischen Situation zu verstehen 315 : In Baden war der politische liberale Umschwung vollzogen worden, an dem Schenkel ja maßgeblich beteiligt gewesen war und der sein Denken sichtlich beeinflusst hat. Gemäß der Grundsätze ist das Amt von der Gemeinde her zu verstehen, seine Autorität leitet sich allein aus ihr ab. Schenkel versteht das Amt als »die ordnungsgemäße Vertretung der Gemeinde in ihren wichtigsten Funktionen«316 . Diese Vertretung der Gemeinde stellt eine zentrale Forderung für Schenkel dar, 311
D. Schenkel, Erneuerung (1860), 23. »Von unten muß man bauen; oder welcher Baumeister stellt einen Bau in die Luft?« (AaO., 96). 313 Vgl. II.4.2. Insgesamt zeigen sich in diesen Grundsätzen starke Parallelen zum Grundrechtskatalog der Paulskirchenversammlung Abschnitt VI, insbesondere Art. II, § 137; Art. XI, § 184; Art. XII, in: U. Sautter, Deutsche Geschichte (2004), 68 – 75. 314 Vgl. II.4.2. 315 Zudem bekam auch die Kirchenverfassungsreform in Preußen neuen Schwung, nachdem Wilhelm I. im Februar verfügt hatte, dass die 1850 begonnene Reform weiterzuführen sei und zwar im Sinne einer ›gemäßigten‹ Presbyterial- und Synodalordnung, vgl. dazu G. Besier, »Neue Ära« (1994). Schenkel begrüßte diesen Erlass, vgl. D. Schenkel, Fortbildung (1860). 316 AaO., 21. 312
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
da nur sie gewährleistet, dass die Gemeinde die Kirche auf allen Ebenen leitet und somit auf allen Ebenen ›Gemeindekirche‹ ist. Das Amt ist als Dienst an der Gemeinde zu verstehen, das dem Auf bau und der Stärkung derselben dient. Das Priestertum aller Gläubigen als Grundlehre des Protestantismus findet auf diese Weise seinen sichtbaren Ausdruck. Im Anschluss an Calvin geht Schenkel von drei Gemeindeämtern aus: dem Lehr-, Pflege und Aufsichts- oder Hirtenamt, die seines Erachtens alle in der apostolischen Stiftung begründet sind.317 Die Kirchenverfassung, die die dargelegten Grundsätze verwirklicht, ist Schenkel zufolge »die Presbyterial- und Synodal-Verfassung, die einzige, welche aus dem Wesen des Protestantismus hervorgegangen ist«318. 3.2.2. Die Diskussion um die protestantische Kirchenverfassung und Schenkels Entwurf Die Entwicklung und Ausbildung der Presbyterial- und Synodalverfassung im 19. Jahrhundert wurde im Wesentlichen von Schleiermacher bestimmt, der 1808 in dem Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staate 319 im Rahmen der Stein’schen Reformen – und auch von diesem zu einem Verfassungsentwurf beauftragt – nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch Preußens erstmals ausführlich seine Vorstellungen einer protestantischen Kirchenverfassung begründet und ausgeführt hat. Dieser Vorschlag spiegelt allerdings noch ein frühes Stadium von Schleiermachers Vorstellungen wider.320 Wie auch in den ekklesiologischen Ausführungen in den Reden entwickelt Schleiermacher seinen Entwurf ausgehend von einer schonungslosen Analyse der kirchlichen Zustände.321 Den Grund für die missliche Lage der Kirche sieht er ebenfalls in der unzureichenden Trennung von Kirche und
317 Vgl. D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 972. Wohlgemerkt, sie verdanken sich der apostolischen Stiftung, nicht der Stiftung Christi. Bei Calvin findet sich an verschiedenen Stellen auch eine Vier-Ämter-Lehre, nach der er nochmals zwischen dem Lehr- und dem Pfarramt differenziert. Diese Differenzierung nimmt Schenkel nicht auf. Eine genaue Erörterung der Aufgaben der Ämter ist für diesen Zusammenhang nicht relevant, vgl. dazu bes. aaO., 971 – 985. 318 D. Schenkel, Erneuerung (1860), 23. 319 Vgl. F. Schleiermacher, Vorschlag (1808). 320 Vgl. dazu ausführlich A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (1997), 56 – 78. Zur Entwicklung von Schleiermachers kirchenpolitischem Denken und Handeln vgl. auch M. Honecker, Schleiermacher und das Kirchenrecht (1968); A. Geck, Schleiermachers Kirchenpolitik (2000); für eine systematisch-theologischer Perspektive vgl. Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996). 321 »Daß unser Kirchenwesen in einem tiefen Verfall ist, kann niemand leugnen. Der lebendige Antheil an den öffentlichen Gottesverehrungen und den heiligen Gebräuchen ist fast ganz verschwunden, der Einfluß religiöser Gesinnungen auf die Sitten und auf deren Beurtheilungen kaum wahrzunehmen, das lebendige Verhältniß zwischen den Predigern und ihren Gemeinen so gut als aufgelößt (…).« (F. Schleiermacher, Vorschlag (1808), 1).
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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Staat, aufgrund derer die Kirche zu einer bloßen Staatsanstalt verkommen ist.322 Diese Überlegungen führen Schleiermacher zu der Überzeugung, dass eine bloße Verbesserung der alten Verfassung nicht ausreichend ist: »Gründliche Hülfe kann nur aus einer neuen Verfaßung herkommen oder vielmehr aus einer der Zeit angemeßenen Wiederherstellung der alten Verfaßung.«323 Die wichtigste Forderung stellt die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat dar. Schleiermacher plädiert für ein Verhältnis von Kirche und Staat »im Sinne der kollegialistischen Unterscheidung der iura in et circa sacra«324. Von dieser Prämisse ausgehend entwirft er eine »Episkopalverfassung mit (presbyterial-) synodalen Elementen«325 : Auf der Gemeindeebene plädiert Schleiermacher für die Einsetzung von Presbyterien, die neben den Finanzen, gemeindlichen Personalfragen sowie der Kirchenzucht, auch ein Mitspracherecht bei der Wahl des Predigers haben sollen.326 Darüber sollen Kreissynoden eingerichtet werden, und zwar als reine Geistlichkeitssynoden, weshalb dieser Verfassungsentwurf durchaus noch klerikale Züge erkennen lässt. Anstatt einer Provinzialsynode will Schleiermacher über die Kreissynoden dann »ein aus ›etwa sechs angesehenen Theologen zusammengesetztes Kapitel mit einem Bischof als Vorsteher‹ an die Spitze der Provinzialkirche«327 stellen. Trotz des episkopalen Moments, das einem Autoritätsprinzip zu folgen scheint, sind die demokratischen Grundzüge in diesem Verfassungsentwurf nicht zu übersehen, »[i]nsgesamt zielt Schleiermachers Verfassungsentwurf auf ein demokratisch kontrolliertes und legitimiertes Kirchenregiment, auf die Verteilung von Macht auf verschiedene Schultern einschließlich der Verlagerung von Kompetenzen an die rangniedrigsten Organe, mithin auf Subsidiarität« 328 .
Trotz seiner vorhergehenden Kritik an der zu engen Verbindung von Staat und Kirche gesteht Schleiermacher in diesem Entwurf dem Staat überraschend viele Einflussmöglichkeiten zu und räumt ihm bei der Besetzung des Kapitels ein Mitbestimmungsrecht ein. Geck weist jedoch darauf hin, dass »Schleiermacher das landesherrliche Kirchenregiment letztlich auf die Wahrnehmung der iura circa sacra im Sinne eines Rechtes auf Oberaufsicht«329 beschränkt, das der Staat durch ein Kirchenministerium wahrnehmen soll. Schleiermacher erweist sich damit als Realpolitiker, indem er »sein kirchliches Verfassungsideal auf die durch die Steinschen Reformideen prospektiv gegebenen politischen Rahmen-
322
Vgl. ebd. AaO., 1 f. 324 A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (1997), 67. 325 AaO., 66. 326 Vgl. dazu ausführlich, aaO., 68 ff. 327 AaO., 69. 328 Ch. Dinkel, Kirche gestalten (1996), 179. 329 A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (1997), 71. 323
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
bedingungen abzustimmen«330 versucht. Gleichwohl stärkt er auch die Gemeinden und gibt ihnen die Möglichkeit zur Mitgestaltung des gemeindlichen und kirchlichen Lebens. Schleiermacher differenziert diesen ersten Entwurf in den folgenden Jahren im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat sowie der stärkeren Beteiligung der Gemeinden noch weiter, aber schon hier kommt das demokratische Prinzip zumindest auf der Gemeindeebene deutlich zum Tragen. Für die weitere Ausbildung der Presbyterial-Synodalverfassung ist zudem die 1817 erschienene Schrift Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung331 relevant, in der Schleiermacher sich zu der aktuellen Entwicklung in Preußen äußert – im Hintergrund steht der Aufruf Friedrich Wilhelms III. zur Bildung der kirchlichen Union sowie zur Erarbeitung einer neuen Kirchenverfassung. Schleiermacher begründet darin die ihn auch später leitenden kirchenpolitischen Grundsätze. Er setzt sich in dieser Schrift für die Schaffung unierter Synoden ein, die nun auch von Laien besetzt werden sollen und er geht insofern über seine Vorstellungen einer reinen Geistlichkeitssynode von 1808 hinaus. Insgesamt wird der Entwurf von der Überzeugung geleitet, dass die Kirche von der freien Mitgestaltung der Gemeinden getragen wird. Auch die Einrichtung von Konsistorien lässt Schleiermacher nur noch als Phänomen der Übergangszeit gelten, um auf diese Weise die Verfügungsgewalt des landesherrlichen Kirchenregiments einzuschränken. Insgesamt strebt Schleiermacher eine noch eindeutigere Trennung von Kirche und Staat an. Er vertritt dabei eine gemischte Verfassung mit Synoden und Konsistorium, wobei er die Bedeutung der Synoden wesentlich hervorhebt, und zwar »so stark, daß im Laufe der weiteren Entwicklung die Synoden an die Stelle der Konsistorien treten sollen. Hier fungierten die Konsistorien nur als ›Platzhalter‹ der Synoden – und gerieten damit in die Rolle eines kirchenregimentlichen Provisoriums gegenüber den Synoden als dem zu erwartenden Definitivum.« 332
Die Perspektive dieses Entwurfs stellt also eine Presbyterial-und Synodalverfassung dar, in der das Priestertum aller Gläubigen als gleichsam demokratisches Verfassungsprinzip leitend ist. Dabei geht Schleiermacher davon aus, dass diese Form der Kirchenverfassung dann auch Folgen für die politische Verfassung hat, »dass die strikte Egalität der Menschen, die sich im protestantischen Christentum als kirchliches Organisationsprinzip zur Geltung gebracht hat, auf Dauer nicht ohne politischen Einfluss auf das Verhältnis von Regierung und Regierten im Staat sein wird.«333 330
AaO., 73. Vgl. F. Schleiermacher, Synodalverfassung (1817). 332 A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (1997), 137. Albrecht Geck weist auf den starken Zusammenhang von politischem und kirchlichem Konstitutionalismus hin, den Schleiermacher herstellt, vgl. aaO., 138 ff. 333 A. von Scheliha, Religion (2008), 330. 331
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Stahl hat seinen Kirchenverfassungsentwurf, der vom Autoritätsprinzip geleitet wird, gegen diese demokratischen Tendenzen verfasst, die er als rationalistisch und revolutionär verurteilt. Sein Entwurf ist stark von seinem Staatsverständnis geprägt; er überträgt seine Vorstellung des christlichen Obrigkeitsstaats auf die Kirchenverfassung. Den monarchischen Staat versteht Stahl als göttliche Ordnung – und insofern ist er ›sittliches Reich‹ – der für Ordnung und Stabilität sorgt.334 Dies kann er nur leisten, wenn er christlicher Staat ist. Christlicher Glaube ist dann nicht mehr nur auf den Bereich der Kirche bezogen, die der sündhaften Welt gegenübersteht, sondern »[d]as hier gemeinte Christentum ist […] vor allem auch eine gestaltende Weltanschauung, das gegen die Macht des Bösen Werte zur Versittlichung des öffentlichen Lebens vorgibt«335. Stahl ist sich indes sehr wohl bewusst, »daß die Teilnahme der Nation an der Gestaltung des öffentlichen Rechtszustands durch eine adäquate Vertretung das Ziel moderner Staatsauffassung sei«336 , und dass er diese Entwicklung nicht ignorieren kann. Er integriert deswegen ein konstitutionelles Moment in seine Staatskonzeption und rekapituliert nicht einfach einen vor-revolutionären Absolutismus, der ihm als ebenso rationalistisch gilt. Allerdings holt Stahl dieses konstitutionelle Moment sogleich wieder ein, indem er den Monarchen eindeutig dem parlamentarischen Prinzip überordnet und somit das Autoritätsprinzip als das leitende Prinzip bewahrt: »Der Fürst ist für ihn der Schwerpunkt der Verfassung und die positiv gestaltende Macht im Staate, so daß eine Verfassung nur von ihm oktroyiert werden kann.«337 Parallel dazu erkennt Stahl nun in der Episkopalverfassung die genuin protestantische Kirchenverfassung, die durch drei Stände gekennzeichnet ist: Kirchenregiment, Lehrstand, Gemeinde. Die Leitung der Kirche kommt dem Kirchenregiment, dem Bischof zu, das Stahl dem Landesherrn überträgt. Entscheidend ist, dass der Landesherr dieses Bischofsrecht im Sinne des Wesens und Auftrags der Kirche auszuüben hat und nicht als Landesherr – Staat und Kirche sind auch nach Stahl voneinander zu trennen; die Theorie des Territorialismus lehnt er ab.338 Die Aufgabe des Bischofs ist die Bewahrung der reinen Lehre. Hierfür sind ihm der Lehrstand und Konsistorien zur Seite gestellt, die den bischöflichen Entscheidungen zustimmen müssen: Die Macht des Landesherrn ist also äußerlich, »der Inhalt der Anordnung soll oder muß sich nach dem 334
Vgl. F. Stahl, Philosophie (1837), Bd. 2 .2., 1 ff. T. Jähnichen, Protestantische Staatslehre (1996), 88. 336 J. Rohls, Protestantische Theologie (1997), Bd. 1, 568. 337 Ebd. 338 Stahl ist wie auch Schenkel der Überzeugung, dass der Protestantismus den Staat von der kirchlichen Vorherrschaft befreit hat. Er sieht dies in der Rechtfertigungslehre begründet, die so zum politischen Prinzip wird und »das selbständige göttliche Recht der Fürsten begründet« (F. Stahl, Protestantismus (1853), 11). Dieses politische Prinzip weist den Menschen ein in die Anerkennung der göttlichen Ordnung, und das heißt auch in seinen familiären und beruflichen Stand. 335
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Urtheile des Lehrstandes bestimmen«339. Und schließlich die Gemeinde: Ihr steht das Recht der Zustimmung bzw. Ablehnung der Entscheidungen des Lehrstandes zu.340 Wie Stahl in der Staatsverfassung ein konstitutionelles Moment annimmt, bewahrt er dieses an dieser Stelle auch in der Kirchenverfassung auf. Das Autoritätsprinzip bleibt dabei jedoch eindeutig leitend und das Amt bzw. die Institution der Gemeinde übergeordnet – die Gemeinde verwaltet sich im Gegensatz zu Schleiermachers Entwurf gerade nicht selbst. Stahl entwirft damit seine Kirchenverfassung in unmittelbarer Anlehnung an seine monarchische Staatsauffassung und versucht durch das konstitutionelle Moment liberale Staats- und Kirchenverfassungsbestrebungen zu integrieren, die jedoch immer vom Autoritätsprinzip regiert werden. Schenkels Verfassungsentwurf ist stärker noch als Schleiermachers konsequent von der Gemeinde her konzipiert und insbesondere gegen Stahls Entwurf gerichtet. Auf Gemeindeebene bedeutet dies zunächst, dass jede Gemeinde ihre Angelegenheiten selbst ordnet und verwaltet. Hierzu bestimmt sie aus ihren Reihen Pfarrer, Älteste und Diakone. Schenkel tritt vehement für das freie Wahlrecht der Gemeinde ein – eine Position, die er im Laufe des Agendenstreites ausgebildet hat 341 und die nunmehr eine zentrale Forderung seiner Reformpläne darstellt. Dieses Wahlrecht dient zunächst dazu, die Selbstverwaltung der Gemeinden gegen den Einfluss einer Kirchenbehörde zu verteidigen und also die Freiheit der Gemeinden gegenüber der Institution zu behaupten: »Nur der Grundsatz der Vertretung verbürgt den Gemeinden eine ihren Bedürfnissen und Wünschen angemessene Leitung ihrer Angelegenheiten.«342 Gegner des Wahlrechtes haben vor allem zwei Einwände geltend gemacht, die Schenkel aufnimmt und entkräftet: Gegen den Einwand, dass die Kirche zu einer konstitutionellen Rechtsgemeinschaft wie der Staat wird, führt Schenkel zwei Argumente an: Erstens, dass der Staat nach reformatorischem Verständnis eine göttliche Ordnung ist, sodass sich Staats- und Kirchenordnung nicht grundsätzlich widersprechen können; und zweitens, dass die »Idee der Vertretung (…) keine lediglich staatliche, sondern eine ursprünglich apostolische«343 ist. Gegen den zweiten Vorwurf, dass die Gemeinden gegenwärtig gar nicht in 339
F. Stahl, Kirchenverfassung (1862), 13. Vgl. aaO., 15. 341 Vgl. dazu II.4.1.; D. Schenkel, Erneuerung (1860), 73 ff. Ganz anders hatte Schenkel dagegen in der Auseinandersetzung um Dulon argumentiert, vgl. II.3.1. 342 D. Schenkel, Erneuerung (1860), 98. Das Modell der Kooptation lehnt Schenkel entschieden ab, vgl. II.4.1. 343 D. Schenkel, Erneuerung (1860), 98. Auch Schleiermachers und Stahls Kirchenverfassungsentwürfe sind von den staatlichen Verfassungsdiskussionen geprägt. So wird Schleiermachers Entwurf von Ideen der Französischen Revolution geleitet, vgl. oben Anm. 42, wie sich in den Demokratisierungstendenzen zeigt, während Stahl die Kirchenverfassung gerade im Gegenüber zu dieser entwirft und das Autoritätsprinzip leitend ist. 340
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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der Lage sind, von einem Wahlrecht Gebrauch zu machen, gibt Schenkel zu bedenken, dass die Alternative – die Bevormundung der Gemeinden – zu einer noch größeren Entfremdung derselben gegenüber der Kirche führt und er erinnert zudem daran, dass die Gemeinden als sichtbare Kirche notwendigerweise unvollkommen sind.344 Der Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen soll freilich nicht nur auf die Gemeindeebene beschränkt werden, sondern er kommt vielmehr auch in Schenkels Überlegungen zur Bildung der Synoden zum Tragen. Die übliche Zusammensetzung der Synoden aus Geistlichen und Weltlichen lehnt Schenkel anders als Schleiermacher ab, da allein diese Unterscheidung schon dem Gegensatz von Laien und Priestern Vorschub leistet und damit dem Priestertum aller Gläubigen widerspricht.345 Stattdessen schlägt Schenkel gänzlich freie Wahlen vor. Hier geht er nun allerdings auf den Vorwurf ein, dass die Gemeinden gegenwärtig an eine derartige Beteiligung nicht mehr gewöhnt sind, und dass eine solche Wahl deswegen eine zu große Veränderung darstellt. Schenkel plädiert aus diesem Grund für eine Übergangszeit für eine paritätische Besetzung der Synoden, die jedoch von den Gemeinden selbst bestimmt werden soll.346 Die Einrichtung von Synoden, die möglichst oft tagen sollten, sieht Schenkel auf verschiedenen Ebenen (Diözesan-, Provinzial- und Generalsynode) vor, um auf diese Weise das Ideal der Gemeindekirche möglichst umfassend zu verwirklichen und die Gemeindebeteiligung auf allen Ebenen der Kirchenleitung sicherzustellen. Als Vermittlungsglied zwischen Generalsynode und den weiteren Synoden schlägt Schenkel einen geschäftsführenden Ausschuss der Generalsynode vor, »der jederzeit, wenn es die Umstände erfordern, einberufen werden kann«347. Der verfassungsleitende Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen findet somit seinen sichtbaren Ausdruck in einer auf allen kirchlichen Entscheidungsebenen von der Gemeinde bestimmten Verfassung. Was Schenkel allerdings nicht thematisiert, ist die Frage, wie in dieser demokratischen Verfassung, in der alles darum geht, das Recht des glaubenden Subjekt zur Ausübung seiner Gewissensfreiheit zu sichern, mit Minderheitenpositionen umzugehen ist. Schenkel differenziert seinen presbyterial-synodalen Verfassungsentwurf nur zwei Jahre später weiter. In seiner Schrift Die kirchliche Frage und ihre protestantische Lösung gibt er zu bedenken, dass im Laufe der Entwicklung dieser Verfassungsform Staats- und Kirchengewalt miteinander zur Deckung gebracht wurden.348 344
D. Schenkel, Erneuerung (1860), 98. Ob Schenkel mit dieser Überlegung eine Kritik am preußischen Drei-Klassenwahlrecht impliziert, kann nur vermutet werden. 346 Vgl. aaO., 101 f. 347 AaO., 102. 348 »Die Presbyterien nehmen unter solchen Verhältnissen überwiegend die Stellung von 345
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
So ist seiner Ansicht nach die Kirchenordnung Calvins nicht demokratisch, sondern vielmehr aristokratisch gewesen und somit »eine Verletzung des Prinzipes vom allgemeinen Priesterthum«349. Die besondere Schwierigkeit sieht Schenkel in der Durchführung der Kirchenzucht, die mithilfe der Staatsgewalt durchgesetzt wurde und so in Schenkels Wahrnehmung ein wesentlich katholisches Element in der reformierten Kirchenordnung bewahrt hat. So kommt Schenkel zu dem Ergebnis: »Eine Restauration der alten Presbyterial- und Synodalverfassung kann daher eben so wenig in unseren Wünschen liegen, als eine Wiederherstellung der alten Konsistorial- und Episcopaleinrichtungen.«350 Stattdessen setzt Schenkel sich für das Modell einer Volkskirche ein: »Volkskirchen sind durch ein zäheres Cement zusammengehalten: auf ihnen ruht die gesamte Sitte, Zucht, Bildung, Anschauungsweise und Denkart des Volkes; hier läßt sich nichts machen, hier muß Alles werden.«351 Die Volkskirche beruht dabei auf »einer aufrichtig gemeinten Organisation aller christlichen Volkskräfte«352 . Schenkel parallelisiert Volk und Gemeinde und sieht die Volkssouveränität bzw. den Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen nur in einer demokratischen Verfassungsordnung realisiert. Diese Parallelisierung zeigt sich besonders deutlich in Schenkels Forderung nach politischen Konsequenz einer so gestalteten demokratischen Kirchenverfassung: »Die Lehre vom allgemeinen Priesterthum ist die Quelle der Lehre von der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung.«353 Der Gemeindecharakter ist so noch stärker betont als in der Presbyterial- und Synodalordnung, was sich primär in den Begrifflichkeiten niederschlägt: »Ihre Basis wird durch die Orts-Gemeinde gebildet, die sich zu Diöcesan- (Provinzial-) Gemeinden erweitern, und in der Landesgemeinde organisch zusammenfassen. In dieser letzteren liegt die Quelle der öffentlichen kirchlichen Gewalt.«354 Schenkel spricht auf allen Organisationsebenen nunmehr von Gemeinden und hebt somit schon durch die Wahl der Begriffe die besondere Idee der Volkskirche hervor, nämlich die Selbstverwaltung der Gemeinden.355 »Die Thatsache, daß die Gemeinde die Kirche trägt, und daß die Gesammtheit der kirchlichen Funktionen prinzipiell in ihrem Schooße ruht, bildet den Schlüssel zu dieser Einrichtung.«356 Letztlich unterscheidet sich die volkskirchliche Verbürgerlichen Sittenaufsichtsbehörden an; die Synoden sind lediglich Conferenzen der Geistlichkeit, welche in theologischen und kirchlichen Fachangelegenheiten ihren Rath abzugeben hat und an die oberbischöfliche Staatsbehörde Anträge zu stellen berechtigt ist.« (D. Schenkel, Die kirchliche Frage (1862), 289). 349 Ebd. 350 AaO., 293. 351 AaO., 294. 352 AaO., 296. 353 AaO., 52. 354 AaO., 294. 355 Für die genauen Bestimmungen vgl. aaO., 296 ff. 356 AaO., 297.
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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fassung in ihrer Organisation kaum von der von Schenkel entworfenen Presbyterial- und Synodalverfassung. Die Volkskirche ist ebenso ›von unten‹ strukturiert und hat ihr Fundament in der Gemeinde. Sie ist aber als Ausdruck von Schenkels Wahrnehmung, dass das gemeindliche Element weiterhin nicht genügend umgesetzt ist, zu werten und demnach als sein Versuch, die Gemeinde als Fundament der Kirche noch mehr hervorzuheben und zu stärken. Die Kirche muss vollständig demokratisch – dieses Stichwort benutzt Schenkel nun auch selber 357 – verfasst sein, um die Selbstregierung der Gemeinde zu sichern. 3.2.3. Das landesherrliche Kirchenregiment Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang Schenkels Verständnis des Kirchenregiments, an dem das Verhältnis von Staat und Kirche virulent und die Kirchenverfassung nochmals präzisiert wird. Die Frage, wie das Verhältnis von Staat und Kirche zu ordnen ist, stellte einen der Hauptstreitpunkt der liberalen Partei nach dem Umschwung in Baden dar, der sich vor allem an der Haltung des Staates gegenüber der katholischen Kirche entzündete.358 Schenkel fordert eine Unterscheidung von Kirche und Staat, was für ihn jedoch keineswegs die Ablehnung des landesherrlichen Kirchenregiments impliziert. Nach Schenkel gehört dieses zwar nicht zum Wesen der Kirche, gleichwohl zu ihrer historischen Erscheinung und es ist nach seiner Überzeugung auch durchaus ›wünschenswert‹ 359. Das landesherrliche Kirchenregiment ist zwar »strukturell bereits im späten Mittelalter vorgebildet«360, entwickelt sich dann aber erst im Zuge der Reformation und der notwendig gewordenen Neuorganisation der protestantischen Gebiete zu einer eigenen Institution, die »zum wichtigsten Strukturprinzip der evangelischen Kirchenverfassung in Deutschland bis 1918 wurde«361. Seit dem 17. Jahrhundert wurden vor allem drei Theorien ausgebildet, die diese zunächst 357
Vgl. aaO., 298. Vgl. dazu L. Gall, Liberalismus (1968), 127 – 146; vgl. auch II.4.3. 359 In Die Erneuerung der deutschen evangelischen Kirche begründet Schenkel nicht, weshalb die Einrichtung des landesherrlichen Kirchenregiments wünschenswert ist. Hier hilft eine Äußerung aus der Dogmatik weiter, in der Schenkel erklärt, dass zur Ausübung der Kirchenleitung besonders solche Christen geeignet sind, »welche ein reiches Maß von Lebenserfahrung und einen umfassenderen staatsmännisch geschärften Blick« (D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 980) haben. Die Ausbildung des landesherrlichen Kirchenregimentes war also im Hinblick auf die Erfahrung und Praxis der Landesherren sinnvoll, ist aber dem Protestantismus nicht wesentlich: »Der Protestantismus hat daher einem richtigen Bedürfnisse Folge gegeben, wenn er nicht nur die (…) Stellung aufgab, welche die mittelalterliche Kirchenanstalt der Staatsgewalt gegenüber eingenommen hatte, sondern die Träger der Staatsgewalt mit Vorliebe bei den Aemtern der Kirchenleitung verwandte.« (Ebd.). 360 H.-W. Krumwiede, Art. »Kirchenregiment« (1990), 59. 361 P. Landau, Art. »Kirchenverfassungen« (1990), 148. 358
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
historische Gegebenheit theoretisch begründen sollten: der Territorialismus, der Episkopalismus sowie der verhältnismäßig junge Kollegialismus. Während die ersten beiden auf eine sehr enge Verzahnung von Staat und Kirche hinauslaufen, zielt der Kollegialismus, der sich erst in der Auf klärungszeit ausbildete, auf deren Trennung.362 Eindeutig erklärt sich Schenkel gegen die Theorie des Territorialismus, der zufolge dem Staatsoberhaupt die Kirchenleitung als Staatsoberhaupt zukommt. Diese Theorie lässt sich nach seiner Ansicht nicht mit einer auf der Gemeinde ruhenden Kirchenverfassung vereinbaren.363 Auch den Episkopalismus wie Stahl ihn vertritt kritisiert Schenkel in seiner Dogmatik. Nach diesem Modell wird der Landesherr als Notbischof verstanden, »der einen Teil der Aufgaben des früheren Bischofamtes aufgrund seiner Stellung als vornehmstes Glied der Kirche übernommen«364 hat. Eine bischöfliche Ordnung ist mit den Überzeugungen Schenkels nicht vereinbar, da sie als Autorität über der Gemeinde steht und nicht aus ihr heraus begründet ist. So gibt Schenkel zu bedenken, dass dem Landesherrn nur dann die Kirchenleitung übertragen werden sollte, wenn gesichert ist, dass »derselbe den Unterschied zwischen der kirchlichen und der staatlichen Gewalt genau erkannt hat und gesonnen ist, die kirchliche Gemeinschaft nach ihren eigenen kirchenpolitischen Grundsätzen und Ordnungen zu regieren«365. Kriterium bildet demnach die hinreichende Unterscheidung von Kirche und Staat, um die Freiheit der Glaubenden zu wahren. Da das Kirchenregiment nach Schenkels Auffassung auf der Gemeinde gegründet sein muss, steht er – ebenso wie Schleiermacher – der Einrichtung von Konsistorien, die immer auch staatliche Behörden sind, skeptisch gegenüber.366 Wie er sich das auf der Gemeinde ruhende Kirchenregiment vorstellt, wird deutlich anhand seiner Überlegungen zur Besetzung und Ernennung von höheren Ämtern. Hier möchte Schenkel das Ernennungsrecht des Landesherrn keineswegs auf heben, betont jedoch, dass die Vertreter der Gemeinden in diesem Prozess unbedingt gehört werden müssten, und zwar auch bei der Beset362
Vgl. aaO., 148 ff. »Nun darf man sich nicht vorstellen, daß diese Kirchengewalt ihre Quelle an der staatlichen Souveränität des Fürsten habe.« (D. Schenkel, Erneuerung (1860), 103). 364 P. Landau, Art. »Kirchenverfassungen« (1990), 148. 365 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 981 f. Es ist bemerkenswert, dass Stahl diesen Grundsatz ebenfalls vertritt. 366 Aus diesem Grund kann die kirchliche Gewalt des Fürsten auch nicht auf staatliche Konsistorien übergehen, die Schenkel als Staatsgewalt innerhalb der Kirche ablehnt: »Das traurigste Schicksal, welches die Gemeinden treffen könnte, wäre, wenn sie das bisherige landesherrliche Kirchenregiment künftighin mit einem Consistorialregimente vertauschen müßten, und die Befreiung der Consistorien, die ja selbst nur Staats-Kirchenbehörde sind, von der Staatsvormundschaft, ohne Befreiung der Gemeinden von der Consistorial-Vormundschaft, wäre gleichbedeutend mit der Begründung eines neuen protestantischen Papstthums.« (D. Schenkel, Erneuerung (1860), 103). 363
3. Die Verwirklichung der sichtbaren Kirche
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zung der kirchlichen Verwaltungsbehörden, damit diese nicht bloße Staatsbehörden werden.367 In der 1860 verfassten Verfassungsschrift wird damit sehr schön deutlich, wie Schenkel versucht, eine Kirchenverfassung zu entwickeln, die auf dem Boden der Gemeinde steht – von den positiven und hoffnungsvollen Signalen getragen, die Großherzog Friedrich in Baden der liberalen Partei gegeben hat, nämlich sich in Richtung einer ›von unten‹ aufgebauten, selbständigen Kirche zu entwickeln – ohne dabei jedoch radikal das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments zu fordern.368 Zwei Jahre später betont Schenkel die Unterscheidung und Trennung von Kirche und Staat noch stärker. Er entwickelt die Kirchenverfassungsüberlegungen im Ausgang von seinem Verständnis der Kirche als Volkskirche und zieht daraus die eindeutige Schlussfolgerung: »Eine besonders durchgreifende Wirkung wird die Herstellung einer protestantischen Volkskirche auf das bisherige Verhältniß der Kirche zum Staat äußern. Liegt es doch schon an und für sich in dem Wesen der Volkskirche, daß der Staat als solcher sie nicht mehr regieren kann.« 369
Bemerkenswert ist allerdings, dass Schenkel trotzdem das landesherrliche Kirchenregiment als historisches Faktum akzeptiert und dieses im Rahmen der Grundsätze einer genuin protestantischen Kirchenverfassung begründet, wenngleich er erklärt, dass in einer Situation, in der dieses Faktum nicht gegeben ist, das Kirchenregiment »aus der kirchlichen Landesvertretung unmittelbar hervorgehen zu lassen [sei] durch freie Wahl«370. Gegen Stimmen, die das landesherrliche Kirchenregiment konsequent abschaffen möchten, versucht Schenkel, bei aller spürbaren Sympathie für die Kritik,371 das landesherrliche Kirchenregiment so zu begründen, dass trotz der Personalunion von Kirche und Staat im Landesherrn die Trennung der beiden Institutionen gewahrt bleibt und die gemeindlichen Grundsätze verwirklicht werden. Er ordnet es damit zwar letztlich ebenfalls dem Prinzip der ›Volkssouveränität‹ unter, erweist sich in der Befürwortung des Kirchenregiments aber letztlich als Realpolitiker, denn dass der Großherzog seine Stellung als Bischof einfach aufgeben würde, war nicht zu erwarten und radikale Reformvorschläge hätten vermutlich seine eigenen Wirkmöglichkeiten deutlich eingeschränkt; zudem ist seine Befürwortung der Beibehaltung des landesherrlichen Kirchenregiments sicherlich auch vor dem Hintergrund der Überlegungen des liberalen Kreises um Julius Jolly und Franz 367
Vgl. aaO., 104 f. Vgl. II.4.2. 369 D. Schenkel, Die kirchliche Frage (1862), 351. 370 Ebd. 371 Vgl. aaO., 352 f. Im Kern zielt die Kritik auf die auch von Schenkel in der Dogmatik formulierten Bedenken, dass es praktisch nicht möglich sei, dass der Landesfürst, der in Personalunion Staats- und Kirchenoberhaupt ist, zwischen Staat und Kirche trennen könne. 368
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
von Roggenbach zu verstehen, sicherte das landesherrliche Kirchenregiment der evangelischen Kirche doch auch rechtliche Vorzüge, die sie bei einer vollständigen Trennung zu verlieren drohte, und es stärkte sie zudem auch in ihrer Position gegenüber der katholischen Kirche.372 Die Möglichkeit eines auf gemeindlichen Grundsätzen begründeten landesherrlichen Kirchenregiments sieht Schenkel nur gegeben, wenn auch dieses konstitutionell verfasst und begründet wird. »Als die Spitze der Kirchenverfassung ruht es auf der Basis der Gemeinde, handelt in ihrem Auftrage, sorgt für ihre Bedürfnisse, erweist sich, wie es eigentlich schon die Reformatoren faßten, als einen Dienst an der Gemeinde.«373 Der Landesherr und das Kirchenregiment sind hiernach in die Gemeinde eingeordnet und werden lediglich als Repräsentanten der Gemeinden verstanden. In diesem Verständnis sieht Schenkel trotz aller Vorbehalte – »auch in dieser Form [deutet es] noch immer auf eine Schwäche der protestantischen Kirche [hin]«374 – zwei Vorteile in der Einrichtung des landesherrlichen Kirchenregiments: Zum einen bietet es nach Ansicht Schenkels Schutz gegen eine erneuerte Theologen- und Geistlichkeitskirche und damit auch gegen die Herrschaft einer bestimmten kirchlichen oder theologischen Partei: »Das landesherrliche Kirchenregiment bildet in Zeiten theologischer Aufregung und kirchlicher Parteistürme das ruhige Zünglein der Waage, welche nicht stärker bewegt wird, als nöthig ist, um eine billige Ausgleichung und Verständigung zwischen entgegengesetzten Bestrebungen zu bewirken.« 375
Schenkel begründet das landesherrliche Kirchenregiment demnach wie auch die übrigen Ämter aus dem Bedürfnis der Gemeinde, im Gegensatz zu den Gemeindeämtern führt er es jedoch nicht auf eine apostolische Stiftung zurück, sondern begründet die Einrichtung desselben primär mit der in vielerlei Hinsicht schwierigen gegenwärtigen Situation der Kirche und schreibt ihm eine Schutzfunktion zu, die ihr Ziel darin findet, die Gemeinde vor theologischen und kirchlichen Autoritätsansprüchen zu schützen – es ist also gerade nicht Ausdruck eines latent vorhandenen Autoritätsprinzips, sondern ist strikt auf die Wahrung der religiösen Autonomie des Individuums bezogen. Diese Weiterentwicklung von Schenkels Position zum landesherrlichen Kirchenregiment wird besonders deutlich im Blick auf die Ämterbesetzung: Im Gegensatz zu der Bestimmung zwei Jahre zuvor erwähnt Schenkel ausgehend von der Konzeption der Volkskirche kein Ernennungsrecht des Landesherrn mehr, und scheint demnach seine Funktion wirklich allein in den beiden ge-
372
Vgl. Kap. II, Anm. 249. D. Schenkel, Die kirchliche Frage (1862), 353 [Hervorhebung im Original]. 374 AaO., 354. 375 Ebd. 373
4. Das Verhältnis von Staat und Kirche – Protestantismus und Kultur
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nannten Schutzfunktionen zu sehen. Dies unterstreicht einmal mehr die noch stärkere Stellung und Bedeutung der Gemeinde in der Volkskirche. Schenkel erweist sich somit als Anhänger der Theorie des Kollegialismus, nach der die Kirche als Zweckgemeinschaft verstanden wird, als eigenständiges Rechtssubjekt im Staat anerkannt ist, sich allein dem Willen und Entschluss der Glaubenden verdankt und somit grundsätzlich vom Staat unterschieden ist. »Als Korporation [hat] die Kirche eigene Gesellschaftsrechte (iura collegialia), die allerdings durch einen stillschweigenden Konsens auf den Landesherrn übergegangen [sind]; daraus [ergibt] sich dann das Kirchenregiment.«376 Die Rechte liegen demnach bei der Kirche bzw. der Gemeinde, die das Recht der Kirchenleitung überträgt, aber ebenso auch wieder entziehen kann, wobei dieser grundsätzliche Gedanke, der sich durchaus auch in Schenkels Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments einschreiben lässt, in der damaligen Kirchenverfassungsdebatte keinen realistischen Anhaltspunkt findet.377 Schenkels Entwurf ist somit insgesamt von seiner Überzeugung der Unterscheidung und Trennung von Kirche und Staat, gleichzeitig aber auch von der Annahme eines engen und positiven Zusammenhangs von Staat, Kirche und Protestantismus getragen.378
4. Das Verhältnis von Staat und Kirche – Protestantismus und Kultur Die besondere Relevanz, die Schenkel dem Protestantismus und der protestantischen Kirche für Staat, Gesellschaft und allgemein der Gegenwartskultur zuspricht, hat sich als ein wesentlicher Aspekt seiner Protestantismustheorie erwiesen, in der diese letztlich ihr Ziel findet. Bemerkenswert an Schenkels Position ist zunächst, dass er zu Beginn der 1850er Jahre, also seiner konservativen Phase, von derselben Prämisse ausgeht, wie 12 Jahre später, nämlich davon, dass der neuzeitliche Staat wesentlich christlich-protestantisch geprägt ist.379 Allerdings verbindet er diese Auffassung aufgrund der Weiterentwicklung seines Protestantismusverständnisses nunmehr mit genuin liberalen Motiven; Protestantismus und die auf die Subjektivität konzentrierte neuzeitliche Kultur bilden einen unauflöslichen Zusammenhang. 376
P. Landau, Art. »Kirchenverfassungen« (1990), 149. Dies zeigt sich z. B. darin, dass die liberalen Politiker in Baden das Staats-Kirchen-Verhältnis zunächst ohne Verhandlungen mit den Kirchen neuordnen wollten, was besonders auf katholischer Seite zu massiven Protesten führte, vgl. L. Gall, Liberalismus (1968), 127. 378 Auch wenn Schenkel die Kirchenverfassung nun nach liberal-demokratischen Verfassungsgrundsätzen baut, werden die Grundzüge seines Staats-Kirchenverständnisses schon in den Gesprächen 1852/53 sichtbar, vgl. II.3.2.; vgl. außerdem II.4.4. 379 Vgl. II.3.2. 377
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Zunächst: Staat und Kirche sind voneinander unterschieden und es ist Schenkel zufolge das große Verdienst der Reformation, die Würde des Staates wieder aufgerichtet zu haben: »Der Protestantismus hat zuerst die sittliche Selbständigkeit und eigenthümliche Würde des Staates zur Anerkennung gebracht. Indem er den Gegensatz zwischen ›weltlich‹ und ›geistlich‹ auf hob und die Religion als eine Thatsache des Gewissensbegriff, löste er den Staat nicht etwa, wie irrthümlich behauptet wird, von der Religion – denn das Recht und die Macht haben ihre Wurzelpunkte, wenn sie anders sittlicher Natur sind, im Gewissen –; aber er befreite den Staat von der Vormundschaft der Kirche.« 380
Diese Befreiung des Staates von der Autorität der Kirche sieht Schenkel darin begründet, dass der Protestantismus seinem Wesen nach auf die Innerlichkeit der Menschen, und also die unsichtbare Kirche bezogen ist, während er die sichtbare Kirche als Teil der Welt versteht, die sich als solche dem Staat unterordnen muss, »weil Gott ihm [dem Staat; Anm. d. Vf.] den Beruf verliehen hat, der irdische Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit und Weisheit zu sein« 381. Der Protestantismus anerkennt also den Staat als auf die äußere Welt bezogene göttliche Ordnung, unter dessen Autorität damit auch die verfasste Kirche als äußere Institution gehört. Staat und Kirche sind somit in Bezug auf ihre Aufgaben wesentlich voneinander unterschieden: Der Staat hat die Aufgabe, äußere Sicherheit, Gerechtigkeit und Ruhe herzustellen, während die Kirche »auch als Institution keinen anderen Zweck [hat], als die Welt zum Glauben an Christum zu führen«382 . Diese unterschiedlichen Aufgaben erkennt die protestantische Kirche im Gegensatz zur katholischen an,383 die demgegenüber versucht, so Schenkel, aufgrund ihres Selbstverständnisses ihren weltlichen Machtanspruch durchzusetzen, indem sie die Freiheit vom Staat fordert und dann versucht, den Staat sich für ihre Zwecke unterzuordnen. Die Unterscheidung von Staat und Kirche impliziert jedoch nicht ihre Trennung; vielmehr geht Schenkel von einem engen Verhältnis von Staat und Protestantismus bzw. protestantischer Kirche aus. Diese These gründet in Schenkels Überzeugung, dass Religion der bewegende Grundfaktor allen Lebens384 und deswegen der Grund von Sittlichkeit ist, das heißt also die Haltung des Menschen gegenüber der Welt und seinem Handeln in ihr begründet:
380 D. Schenkel, Der deutsche Staat (1860), 2. Diesen Aspekt hat Schenkel auch im Konkordatsstreit hervorgehoben, vgl. II.4.2. 381 D. Schenkel, Der deutsche Staat (1860), 12. 382 D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 980. 383 Diese Unterordnung der Kirchen unter den Staat war eine der zentralen Bestimmungen der Paulskirchenverfassung, vgl. Art. V, § 147, abgedruckt in: U. Sautter, Deutsche Geschichte (2004), 71. Zur Entwicklung des Staatkirchenrechts in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. P. Landau, Entstehung des Staatskirchenrechts (1993). 384 Vgl. III.5.
4. Das Verhältnis von Staat und Kirche – Protestantismus und Kultur
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»Die äußere Gerechtigkeit und deren Bethätigung nach allen Richtungen und auf allen Gebieten des Menschheitslebens muß einen ewigen Grund haben, wenn sie nicht in Lüge und Schein ausarten soll. Das staatliche Leben, als ein von Natur weltförmiges, muß in seinem tiefsten Innern ebenfalls durch das Gewissen bedingt sein (…).« 385
Vor diesem Hintergrund kritisiert Schenkel Positionen, die auf eine Trennung von Staat und Kirche und letztlich Staat und Religion drängen, denn der Staat ist wesentlich abhängig von dem religiösen Bewusstsein seiner Bürger. Schenkel geht davon aus, dass sowohl der ultramontane Katholizismus wie auch der restaurative (konfessionelle) Protestantismus aufgrund der jeweils zugrundeliegenden Religions- und Kirchenbegriffe eine unfreie Haltung des Individuums gegenüber der Welt begründen und somit im Widerspruch zum neuzeitlichen, auf dem freien Individuum gründenden Verständnis der öffentlichen Ordnung stehen. Diesen Positionen stellt Schenkel den Protestantismus als die Wiederherstellung der echten Katholizität gegenüber: Im Protestantismus ist das Gottesverhältnis des Individuums realisiert, er befreit das Subjekt von äußerlichen Bindungen und begründet hiernach wahre Freiheit und also eine freiheitliche Haltung des Subjekts gegenüber der Welt und seinen Mitmenschen, die ihren Grund in der Bindung des Subjekts an Gott hat. Damit wird im Protestantismus wahres Menschsein verwirklicht. Der Protestantismus ist aus diesem Grund für den modernen freiheitlichen Staat und das ebensolche Gemeinwesen, das sich dem wahren Wesen des Menschen entsprechend entwickeln will, unverzichtbar.386 Die Dimension der Freiheit im Blick auf Staat und Gesellschaft ist für Schenkel deswegen so wichtig, weil seines Erachtens nur auf der Grundlage von wahrer Freiheit auch Fortschritt möglich ist: »Der gesammte Culturfortschritt der Völker unseres Jahrhunderts beruht auf den Grundlagen der religiösen, sittlichen und geistigen Freiheit, und eben darum auf dem Protestantismus.«387 Von hier aus lässt sich der spezifische Ort und die unhintergehbare Funktion auch der protestantischen Kirche in Bezug auf den Staat und das Gemeinwesen bestimmen. Indem die protestantische Kirche die unsichtbare Kirche in die Welt hinein zu bilden und das religiöse Bewusstsein der Menschen wiederherzustellen sucht, sodass Religion die prägende Kraft des Lebens wird, bildet sie das religiös-sittliche Fundament des Gemeinwesens aus und zwar durch freie Schriftforschung, Betonung der Rechtfertigungslehre sowie die konsequente Durchsetzung des Priestertums aller Gläubigen. Diese enge Verbindung von Staat, Gemeinwesen, Protestantismus und protestantischer Kirche zeigt sich exemplarisch im Prinzip der Toleranz, das für 385
D. Schenkel, Dogmatik (1858/59), Bd. 2 , 981. Insofern Schenkel den Protestantismus als geistiges Fundament für den neuzeitlichen Staat anbietet, hätte dieses zur Konsequenz, dass dieser Staat sich dann überhaupt auf Grundlage individueller Gewissensfreiheit konstituiert. Allerdings verfolgt Schenkel diese Implikationen seiner Deutung nicht weiter. 387 D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862), 12. 386
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
den paritätischen Staat wie auch das friedliche Zusammenleben in konfessionsgemischten Gesellschaften grundlegend ist. Dieses Toleranzprinzip ist nach Schenkel im Protestantismus und dessen Kirchenbegriff impliziert und begründet; der moderne Staat ruht, indem er auf dem Prinzip von Freiheit und Toleranz aufgebaut ist, auf protestantischen Voraussetzungen.388 Während Schenkel also dem ultramontanen Katholizismus vorhält, den Staat dem vormodernen Katholizismus dienstbar zu machen, stellt er gleichzeitig die These auf, dass moderne Staaten und Gemeinwesen wesentlich von protestantischen Prinzipien geprägt werden und auf diesen gründen, denn durch die Befreiung der Gewissen hat der Protestantismus »eine neue sittliche Ordnung auf allen Gebieten des individuellen und des öffentlichen Lebens geschaffen«389. Dieses neuzeitliche, auf dem autonomen Individuum gründende Verständnis der öffentlichen Ordnung versteht Schenkel als genuin protestantisch, da der Protestantismus als Religion der Freiheit durch den Rückbezug auf das Gewissen des Individuums schon immer die Konstitutionsbedingung von wahrer Freiheit überhaupt darstellt. »Wir verstehen darunter [unter Protestantismus; Anm. d. Vf.] die freie Selbstbestimmung der Völker und der Individuen, zunächst in der innersten Wurzel der Persönlichkeit, dem Gewissen und Glauben, in der dem Ewigen und unendlichen zugekehrten Seite des Menschen. Wir begreifen darunter desßhalb auch die freie Selbstbestimmung in allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens, in Staat und Gesellschaft, in Sitte und Gesetz, in Wissenschaft und Kunst.« 390
Schenkel identifiziert an der modernen Gegenwartskultur diesen freiheitlichen Aspekt als Protestantismus. Das heißt, diese von Freiheit geprägte Gegenwartskultur ist nach seinem Verständnis immer schon protestantisch geprägt. Der Protestantismus erweist sich als Grund und Bedingung der modernen Kultur,
388 Vgl. IV.2.3. Es ist kritisch anzufragen, ob Schenkel nicht trotz der von ihm vehement vertretenen These, dass der Protestantismus seinem Wesen nach tolerant und plural ist, hier eine letztlich pluralismusfeindliche, ins Einheitskulturelle und Nationalistische hineingehende Protestantismus- und damit auch Kirchentheorie vertritt, wenn er davon ausgeht, dass der moderne Nationalstaat sich auf protestantischen Grundlagen gründet, die von einer protestantischen Kirche bewahrt werden. Die Gefahr dieser Konsequenzen ist durchaus in Schenkels Theorie angelegt, wird von ihm selber allerdings gar nicht als mögliche Gefahr oder Konsequenz wahrgenommen, eben weil für ihn feststeht, dass der Protestantismus und damit auch die genuin protestantische Kirche die Gewissensfreiheit des Einzelnen schützt, sodass sie wesentlich tolerant und plural sind. Diese Toleranz und Pluralität finden allerdings dort ihre Grenzen, wo die Freiheit des Gewissens des einzelnen Subjekts von heteronomen Autoritätsansprüchen, wie nach Schenkels Verständnis im Falle der römisch-katholischen Kirche, unterbunden wird. 389 D. Schenkel, Kirchliche Frage (1862), 12. 390 D. Schenkel, Protestantische Freiheit (1865), 5 [Hervorhebung d. Vf.].
5. Fazit: Schenkels (Für-) Sorge um die Kirche
271
»das moderne Culturleben [ist] wesentlich protestantisch«391. Damit ist für Schenkel die neuzeitliche Gegenwartskultur letztlich generalisierter Protestantismus. Schenkel macht das Protestantische in der Gegenwartskultur an vier Bereichen fest: 1) der Anerkennung des Staates als göttlicher und von der Kirche unabhängiger Ordnung; 2) der freien Forschung und dem freien Unterrichtswesen; 3) der Befreiung des Familienlebens von kirchlicher Aufsicht; 4) der freien Organisation des gesellschaftlichen Lebens.392 Diese Bereiche – Staat, Schule, Familie und Gesellschaft – umfassen das Individuum in seinen wesentlichen Bezügen und betreffen das gesamte gesellschaftliche Leben. Gegen diese freiheitlichen Grundsätze zielen nach Ansicht Schenkels die Angriffe der jesuitischen Partei, die auf diese Weise den Protestantismus – und das heißt: das moderne freiheitliche Kulturleben – bekämpft und die Macht über Staat und Gemeinwesen zurückbekommen will. Protestantismus und Katholizismus erscheinen vor diesem Hintergrund dann als zwei widerstreitende politische Prinzipien: Während Schenkel zufolge die modernen, vom Protestantismus getragenen Gemeinwesen als freie und fortschrittliche gekennzeichnet sind, sind die vom römischen Katholizismus geprägten Länder von Unfreiheit und damit Stillstand geprägt. Schenkel sieht es aus diesem Grund als dringende Aufgabe der deutschen Protestanten an, als Volk der Reformation an der Verwirklichung des Protestantismus wie auch der protestantischen Kirche zu arbeiten, um seinen weltgeschichtlichen religiösen Beruf zu erfüllen,393 der darin besteht, die Menschen zur wahren Freiheit zu befreien.
5. Fazit: Schenkels (Für-) Sorge um die Kirche Schenkels Werk ist von einer intensiven Auseinandersetzung mit ekklesiologischen Fragestellungen gekennzeichnet. Ein Großteil sowohl seiner monographischen Arbeiten als auch und vor allem der Zeitschriftenaufsätze haben das Wesen und die Gestalt der Kirche zu ihrem Thema, wobei er die Fragen stets in außerkirchliche politische, nationale und gesellschaftliche Zusammenhänge einordnet. Dabei ist Schenkels Ekklesiologie fest in seiner Protestantismustheorie verankert. Im Hintergrund der ekklesiologischen Diskurse des 19. Jahrhunderts steht auf der einen Seite der auf klärerische Kirchenbegriff, auf der anderen Seite die Erfahrung der Vereinnahmung und Verzweckung der Kirchen durch den Staat. 391
AaO., 7 [Hervorhebung d. Vf.]. Vgl. aaO, 8 ff. Mit dem vierten Punkt richtet Schenkel sich gegen das katholische Vereinswesen, in dem er die Bemühung der Jesuiten erkennt, die konfessionelle Spaltung in der Bevölkerung zu verschärfen und die katholischen Bürger unter den Autoritätsbereich der katholischen Kirche zu stellen, vgl. aaO., 12 f. 393 Vgl. II.3.4.; III.5. 392
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Gegen beide Seiten versuchten zahlreiche protestantische Theologen jener Zeit einen Kirchenbegriff zu entwerfen, der sowohl die religiöse Bedeutung der empirischen Kirchen wahrt, als auch den der Kirche eigenen, dem Staat gegenüber unabhängigen und selbständigen Grund zur Geltung bringt. Als besonders einflussreich für die Diskussion haben sich die Neubegründung des Kirchenbegriffs bei Schleiermacher und seine kirchenverfassungsrechtlichen Entwürfe sowie die dem entgegengesetzte Position Stahls erwiesen. Auffällig ist, dass die Diskurse stark von den politischen Diskussionen um die Staatsverfassungen geprägt wurden. So griffen die Theologen für ihre Kirchenverfassungsentwürfe auf staatliche Modelle zurück – ganz besonders sichtbar wird das bei Stahl – und beurteilten umgekehrt die Staatsverfassungen immer auch vor einem theologischen Hintergrund. Insofern sind die ekklesiologischen Positionen aller Lager als Ausdruck eines großen Gegenwartsinteresses zu verstehen, das über ein bloß kirchliches Interesse hinausging. Schenkels Entwurf entwickelt sich insbesondere seit Mitte der 1850er Jahre und ist vornehmlich als Reaktion auf den seines Erachtens katholischen Kirchenbegriff der restaurativen Theologie zu verstehen, in dem er die Verfehlung des Wesens des Protestantismus erkennt. Dies macht er insbesondere an der vermeintlichen Identifizierung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche fest, die in einer vom Autoritätsprinzip geleiteten Kirchenverfassung sowie in der Ablehnung der Union und der Sicherung der Konfession zum Ausdruck kommt. Dagegen formuliert Schenkel einen Kirchenbegriff, der konsequent von seinem Protestantismusverständnis her am Subjekt und dessen individueller Gotteserfahrung orientiert ist. Diese Orientierung wird Schenkel zufolge dann auch in der kirchlichen Organisation wirksam, die vom demokratischen Prinzip geleitet wird. Die Konzentration des Kirchenbegriffs auf das Subjekt kommt zunächst in der maßgeblichen Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche zum Ausdruck, die das Fundament von Schenkels Kirchenbegriff bildet; sie leitet sich aus dem Religionsbegriff ab und ist somit im Wesen des Protestantismus begründet. Die unsichtbare Kirche versteht Schenkel als Wiederherstellung der menschheitlichen Gemeinschaft mit Gott, sie stellt gleichsam das Ziel des Protestantismus dar und definiert dessen Wesen. Sie gründet ausschließlich auf dem Wirken Gottes und entsteht durch die unmittelbare persönliche Bezogenheit des Subjekts auf Gott; sie ist allein die wahre Kirche, die dem menschlichen Handeln und also weltlichen Einflüssen entzogen ist. Demgegenüber entsteht die sichtbare Kirche durch menschliches Handeln; sie ist menschlicher Ausdruck der unsichtbaren Kirche und stellt als solche niemals das Wesen der wahren Kirche dar. Die sichtbaren Glaubensgemeinschaften sind nicht Kirche im eigentlichen Sinne, sondern Teil der Welt, wenn auch ein von der unsichtbaren Kirche geprägter Teil der Welt. Schenkel wendet sich demnach gegen einen
5. Fazit: Schenkels (Für-) Sorge um die Kirche
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Kirchenbegriff, in dem unsichtbare und sichtbare Kirche miteinander identifiziert werden und die sichtbare selbst auch als wahre Kirche und göttliche Stiftung verstanden wird. Eine solche Identifizierung der sichtbaren Kirche als die wahre Kirche ist nach Schenkels Auffassung vielmehr katholisch, insofern dann nämlich das Heil des Subjekts von seiner Bindung an eine äußerliche Institution abhängig gemacht wird und diese an die Stelle der persönlichen Beziehung zu Gott tritt. Die konsequente Orientierung am Subjekt kommt sodann in Schenkels Forderung nach der kirchlichen Union zum Ausdruck. Grund für die Spaltung des Protestantismus ist Schenkel zufolge, dass Lehren an die Stelle der Religion getreten sind. Diese Lehren sind jedoch nach Schenkel nicht Ausdruck des persönlichen Gottesverhältnisses des Individuums und der Gemeinde, sondern verdanken sich der »Theologenherrschaft« in der Kirche. Die Spaltung ist somit Ausdruck einer hierarchischen Kirche, während demgegenüber eine auf dem Subjekt und der Gemeinde fußende Kirche, die Ausdruck des persönlichen Gottesverhältnisses ihrer Mitglieder ist, notwendig zur kirchlichen Union drängt. Und schließlich spiegelt insbesondere Schenkels Kirchenverfassungsentwurf seinen Kirchenbegriff wider. Gegenüber Kirchenordnungen, die vom Autoritätsprinzip bestimmt sind, macht Schenkel das Priestertum aller Gläubigen zum leitenden Verfassungsprinzip. Dieses äußert sich in einer demokratischen Ordnung, die das Gottesverhältnis des Subjekts sichtbar realisiert. Die Gemeinden verwalten sich damit auf allen kirchlichen Ebenen selbst und sind vor kirchlicher Bevormundung bewahrt. Für das richtige Verständnis der Ämter bedeutet das, dass auch diese sich ausschließlich aus der Gemeinde ableiten und gleichzeitig auf sie bezogen sind. Schenkel verbindet somit liberale und demokratische Grundsätze in seiner Kirchenverfassung.394 Ihre Spitze findet diese Ordnung im sogenannten volkskirchlichen Modell, mit dem Schenkel sicherstellen möchte, dass die Kirche vollkommen von der Gemeinde – Volk und Gemeinde parallelisiert Schenkel hiernach im Gegenüber zur sogenannten Aristokratie und H ierarchie – her geprägt und verstanden wird. Dieses Modell macht er vor allem Anfang der 60er Jahre stark, als in Baden im Zuge des politischen liberalen Umschwungs auch die Kirchenverfassung wie das Verhältnis von Kirche und Staat neu geordnet werden mussten. Es ist bemerkenswert, dass Schenkel, obwohl das Prinzip der Volkssouveränität die Kirchenverfassung bestimmt, dennoch am landesherrlichen Kirchenregiment als historischem Faktum festhält, das er jedoch konstitutionell begründet, sodass das Gemeindefundament bewahrt bleibt.
394
Vgl. IV.3.2.1.
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IV. Das Wesen der Kirche und ihre Verwirklichung im Protestantismus
Indem Schenkel einen Kirchenbegriff konzipiert, der sich konsequent aus seinem Protestantismusverständnis ableitet, bildet das Subjekt Zentrum und Kriterium eines genuin protestantischen Kirchenbegriffs wie auch der institutionellen Organisation. Auf diese Weise gelingt es Schenkel, die neuzeitliche Konzentration auf die Subjektivität mit der Kirche zu vermitteln und ihre bleibende Relevanz auch für das gesellschaftliche und politische Leben aufzuweisen, was hier an vier Punkten nochmals exemplarisch gezeigt werden soll. 1) Die unsichtbare Kirche ist die wiederhergestellte menschheitliche Gemeinschaft mit Gott. Sie durchdringt und bestimmt die Welt, ohne in ihr aufzugehen. Sie erweist sich damit als alle Lebensbereiche bestimmende Macht. Insofern die protestantische Kirche konsequent auf die unsichtbare bezogen ist, und ihre Aufgabe darin besteht, die unsichtbare Kirche in die Welt hinein zu bilden, kommt ihr eine unverzichtbare Aufgabe und ein unverwechselbarer Ort in der Gesellschaft zu. Ausgehend von dem konsequent auf dem freien Subjekt gründenden Kirchenbegriff, der seinen Grund im Protestantismus als Religion der Freiheit hat, kann diese Aufgabe dann dahingehend präzisiert werden, dass die protestantische Kirche das religiös-sittliche Fundament einer neuzeitlichen, am Individuum orientierten, freiheitlichen öffentlichen Ordnung ausbildet. 2) Die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche bietet ein Deutungsmodell des Verhältnisses von Einheit und Besonderheit, das für das Verhältnis eines geeinten Deutschlands zu den kleindeutschen Staaten fruchtbar gemacht werden kann. Während die unsichtbare Kirche ihrem Wesen nach immer eine ist, sind die sichtbaren Kirchen als menschliche Einrichtungen immer kulturell geprägt. Die von Schenkel getroffene Unterscheidung und Zuordnung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche ist damit auch von nationalem Interesse, da er zeigen kann, wie sich Einheit und Partikularismus miteinander vermitteln lassen. 3) Damit ist eng verbunden auch das Prinzip der Toleranz: Indem der Protestantismus die sichtbaren Kirchen als bloß menschlichen Ausdruck der unsichtbaren Kirche anerkennt, ist er notwendig tolerant gegenüber verschiedenen Lehr-, Verfassungs- und Kultusformen. Insofern der neuzeitliche Staat paritätisch ist, ruht er auf eben diesen protestantischen Voraussetzungen und macht sich den protestantischen Kirchenbegriff zu eigen. 4) Die kirchliche Union als sichtbarer Ausdruck für das gemeinsame und verbindende religiöse Bewusstsein der protestantischen Bevölkerung, stellt die Bedingung für eine politische Einigung Deutschlands dar, da die religiöse Einheit das grundlegendste Fundament darstellt. Zudem verteidigt die Unionskirche gemeinsam mit dem liberalen Katholizismus die für das neuzeitliche Gemeinwesen wesentlichen freiheitlichen Prinzipien gegenüber jesuitischen wie konfessionellen protestantischen Bestrebungen.
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An der Kirchenfrage entscheidet sich für Schenkel also, ob der Protestantismus sein Wesen verwirklicht oder von ihm abfällt. Das heißt, an der Kirchenfrage entscheidet sich auch, ob das Subjekt sein persönliches Gottesverhältnis realisieren und dieses dann zum tragenden Faktor seines Lebens überhaupt werden kann. Die kirchlichen Fragen sind somit immer über den bloß kirchlichen Rahmen hinaus relevant. Diese weit über das kirchliche und theologische Interesse hinausgehende Bedeutung der kirchlichen Fragen für die Gegenwart sind für Schenkels Ekklesiologie kennzeichnend – sie ist der Grund, weshalb er sich so sehr um die protestantische Kirche und ihre Zukunft gesorgt und für sie gestritten hat.
V. Fazit Daniel Schenkel hat für den Protestantismus gelebt, gestritten und gekämpft. Er war davon überzeugt, dass sich in seiner Zeit die Entscheidung über die Zukunft und Existenz des Protestantismus vollzog, und dass in dieser Situation alles darauf ankam, dass der Protestantismus seinem Wesen und Prinzip treu blieb bzw. zu diesem zurückkehrte. Diesen Kampf verstand Schenkel jedoch nicht bloß als Selbstzweck für das Bestehen des Protestantismus, vielmehr hing davon seines Erachtens die weitere Entwicklung der modernen, und das heißt für Schenkel freiheitlichen Gegenwartskultur ab, die er im Protestantismus begründet sah. Aus diesem Grund hat Schenkel das Wesen des Protestantismus auf wissenschaftlicher Ebene ausführlich untersucht, begründet und erörtert und auf kirchlicher Ebene für die Verwirklichung des Wesens des Protestantismus in der protestantischen Kirche gekämpft.
1. Schenkels Leben und Werk als Spiegelbild der Theologie- und Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts Trotz seines enormen Einsatzes für den Protestantismus und die protestantische Kirche ist Schenkel ein weitestgehend vergessener Theologe. Dabei ist die Beschäftigung mit Schenkel für das Verständnis der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts aufschlussreich, insofern sich in seinem Leben und Werk wie bei kaum einem anderen Theologen jener Zeit die kirchlichen und theologischen Diskussionen widerspiegeln: Schenkel war nicht nur Zeit seines Lebens in zahlreiche öffentliche Streitigkeiten verwickelt, sondern hat sich daneben auch zu beinahe allen theologischen und kirchlichen Frage- und Problemstellungen geäußert und diese dabei stets in einen größeren nationalen und politischen Kontext eingeordnet. So gewinnt man durch die Auseinandersetzung mit Schenkel eine klare Perspektive auf die Wahrnehmung und Deutung der Gegenwart eines weit über Theologie und Kirche hinaus interessierten Theologen, der versucht hat, angesichts der vielfältigen Herausforderungen und Fragestellungen, mit denen sich Theologie und Kirche im 19. Jahrhundert konfrontiert sahen, eine Position zu formulieren, die den Protestantismus als relevante religiöse wie auch gesellschaftliche Größe profiliert. Zusätzlich zu den Zeitschriftenartikeln, in denen Schenkel zeitnah zu konkreten Fragen und Entwicklungen Stellung
1. Schenkels Leben und Werk als Spiegelbild der Theologie- und Kirchengeschichte
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beziehen konnte, stellen einen Großteil seiner Veröffentlichungen Gelegenheits- und Streitschriften dar und auch seine größeren systematisch-theologischen Monographien ordnete Schenkel stets in diesen Kontext aktueller theologischer und kirchlicher Fragestellungen ein. Seine gesamte Theologie ist somit von einem großen Gegenwartsbezug gekennzeichnet. In der Untersuchung ist sichtbar geworden, wie Schenkel seine Theologie vornehmlich in kritischer Auseinandersetzung mit und als Reaktion auf sein jeweiliges Gegenüber entwickelt und profiliert, sodass seine theologische Position in ihrer Kontinuität wie in ihren Entwicklungsprozessen als Reflex auf seinen kirchlichen und theologischen Kontext verstanden werden muss. Eine Strömung, gegen die Schenkel sich abgrenzt, ist der Rationalismus, dem er vorwirft, die positiven Grundlagen des christlichen Glaubens dem willkürlichen Belieben des Subjekts anheimzustellen und so die Auflösung des Protestantismus in eine bloß subjektive, inhaltslose Religion zu betreiben. Die Kritik am Rationalismus nimmt vor allem nach der Revolution 1848 einen breiten Raum in Schenkels Theologie ein – sie ist allerdings auch in seinen Veröffentlichungen in den 1830er Jahren prägend. Sein ständiger Hauptgegner ist der ultramontane Katholizismus und immer stärker auch die kirchliche Orthodoxie, die Schenkel als gleichsam katholische Bewegung innerhalb des Protestantismus wahrnimmt. Primärer Anhaltspunkt seiner Kritik stellt der dort vertretene Kirchen- und Amtsbegriff dar, der eine Trennung von Priestern und Laien und damit verbunden die Überordnung einer kirchlichen Hierarchie gegenüber dem Subjekt impliziert. Dies bedeutet nach Schenkels Ansicht die Entmündigung des Subjekts. Schenkel versteht diese Position deswegen als Gegenbewegung und Widerspruch zu der neuzeitlichen Betonung der Autonomie des Subjekts. Seine Protestantismusdeutung ist dagegen von dieser neuzeitlichen Konzentration auf das Subjekt gekennzeichnet und je stärker der Einfluss des Katholizismus wie auch der kirchlichen Orthodoxie wurde, desto mehr entwickelt er einen streng am Subjekt orientierten Protestantismusbegriff, indem er die für den Protestantismus wesentliche Bedeutung der Glaubensautonomie des Subjekts gegenüber kirchlichen und weltlichen Instanzen hervorhebt. Für Schenkels Protestantismusdeutung ist neben der Annahme dieses subjektiven oder anthropologischen Moments die Annahme eines für das Christentum und den Protestantismus objektiven oder theologischen Moments konstitutiv. Im Hinblick auf das Verständnis von Schenkels Theologie als Spiegel der Kirchen- und Theologiegeschichte ist die Verhältnisbestimmung dieser beiden Momente besonders evident und soll zur Verdeutlichung der These noch einmal expliziert werden. Die Annahme dieser beiden Momente, also des objektiven und subjektiven, zeigt sich schon früh in Schenkels Theologie. Schenkel versucht auf diese Weise
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V. Fazit
eine vermittelnde Position zwischen dem Katholizismus mit seiner Hervorhebung der objektiven Wahrheit, für die die Kirche steht, und dem Rationalismus mit seiner Betonung der Autonomie des Subjekts und der damit verbundenen kritischen Stellung des Subjekts gegenüber aller vermeintlich gegebenen Wahrheit, einzunehmen. So betont Schenkel unter dem Einfluss seines Lehrers Wilhelm de Wette bereits zu Beginn seiner Lauf bahn die für den christlichen Glauben konstitutive Bedeutung der objektiv gegebenen Wahrheit. Ende der 1830er Jahre sieht Schenkel diese noch in der Kirche und ihren Bekenntnisschriften bewahrt. Dabei hebt er gleichzeitig hervor, dass diese Wahrheit durch das Subjekt angenommen und angeeignet werden müsse. In dieser Aneignung, die über ein bloßes Für-Wahr-Halten deutlich hinausgeht, will er die subjektive Dimension und damit ein neuzeitliches Anliegen festgehalten wissen. Das neuzeitliche Autonomiepostulat wird damit von Schenkel aufgenommen und institutionell rückgebunden. Programmatisch zeigt sich dies in Schenkels Antrittsvorlesung 1838 in Basel. In dieser Anfangsphase zeigt sich allerdings auch, dass Schenkel das objektive oder theologische Moment dem subjektiven gegenüber vorordnet: Diese Verhältnisbestimmung wird besonders in den Auseinandersetzungen mit Georg Gervinus und Rudolph Dulon sichtbar, im Zuge derer Schenkel versucht, das objektive Moment auch material zu bestimmen, indem er es eben an die Bekenntnisschriften der Kirche bindet, sodass die Kirche mit ihren Bekenntnisschriften in dieser Konzeption letztlich zur Bewahrerin und Garantin der objektiven Wahrheit wird, die den Rahmen bestimmt, innerhalb dessen dann auch Schriftauslegung betrieben werden kann. In Schenkels Position dieser Zeit ist damit trotz seines Vermittlungsversuches ein Schwerpunkt auf dem objektiven Moment festzustellen, den Schenkel primär in Opposition gegen eine rationalistische Theologie in Anschlag bringt. Im Zuge des wachsenden Einflusses des ultramontanen Katholizismus und der restaurativen Strömung innerhalb des Protestantismus, die nach der Revolution von den deutschen Kleinstaaten massiv unterstützt wurde, nimmt Schenkel schließlich eine Neubestimmung des Verhältnisses von objektivem und subjektivem Moment vor. Er ist davon überzeugt, dass die Glaubensautonomie im Sinne der freien Aneignung und der persönlichen Gottesbeziehung und -erfahrung in der römisch-katholischen Kirche durch die Ausbildung der Hierarchie und die Bindung des Subjekts an diese und ihre Lehren verhindert und die Anerkennung der Subjektivität damit zugunsten der einseitigen Hervorhebung der objektiven Wahrheit aufgegeben wird. Entscheidend ist damit, dass es in der Kirchenverfassungsfrage nicht einfach um eine bloß kirchenpolitische Frage geht, sondern um die Anerkennung und Wahrung der freien Subjektivität, die auch in der kirchlichen Organisation sichtbar zum Ausdruck kommen muss. Diese katholisierende Entwicklung meint Schenkel nun auch im Protestantismus selbst wahrzunehmen, was er einerseits an den Diskussionen um die Kir-
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chenverfassungen, andererseits an dem unsicheren Status kirchlicher Unionen insbesondere in Preußen zu erkennen meint. Ausgelöst durch den Agendenstreit in Baden führt diese Entwicklung schließlich zum Bruch mit seinen bisherigen Gesinnungsgenossen. Dabei ist bemerkenswert, dass Schenkel der Auffassung ist, dass nicht er von der vermittelnden Position abgewichen ist, sondern dass vielmehr seine Gegner die Anliegen der Vermittlungstheologie zugunsten einer restaurativen Position aufgegeben haben. Als Antwort auf diese Entwicklungen bestimmt Schenkel nun erstens, das Verhältnis von subjektivem und objektivem Moment neu und ordnet den subjektiven Aspekt dem objektiven vor. Diese Vorordnung findet ihren Ausdruck in Schenkels Begriff des Gewissens. Er versteht das Gewissen als Religionsorgan des Menschen, durch das sich das Individuum seiner unmittelbaren und ursprünglichen Bezogenheit auf Gott als seinem Ursprung bewusst wird. Ausgangspunkt des Protestantismus wird somit das Subjekt und nicht eine von der Kirche auf bewahrte objektive Wahrheit. Damit einher geht zweitens die Differenzierung der Bestimmung des objektiven Moments. Schenkel sieht das objektive Moment nicht mehr in den Bekenntnisschriften und dem Glauben der Kirche auf bewahrt, und auch eine genauere materiale Bestimmung bietet er nicht mehr, sondern er versteht es vielmehr allgemein als ›Wesen und Leben Gottes‹ oder auch als ›Heilstat Gottes‹ und befreit es somit von seiner Bindung an Kirche und Bekenntnisschriften. Drittens betont Schenkel, dass subjektives und objektives Moment über sich hinausgehen müssen und erst in ihrer Verbindung ihre Verwirklichung finden (»theanthropologisches Prinzip«). Gott und Mensch werden demnach nicht nur nebeneinander gestellt, sondern sind zu Gemeinschaft und Einheit verbunden. Diese unmittelbare und persönliche Gemeinschaft des Einzelnen mit Gott definiert das Ziel und damit das Wesen des Protestantismus. David Friedrich Strauß hat deshalb nicht ganz Unrecht, wenn er feststellt, dass Schenkel immer eine vermittelnde Position eingenommen hat und sein vermeintlicher Umschwung sich primär einer neuen Verhältnisbestimmung verdankt: »Wenn ein Theologe, bei Einhaltung derselben vermittelnden Stellung, seinen Mantel jetzt etwas mehr nach der linken Seite dreht, da er ihn vorher mehr rechts getragen hatte, so ist das noch lange keine Veränderung, die eine Umkehr des ganzen Menschen voraussetzt oder mit sich bringt.«1 1 D. F. Strauß, Die Halben und die Ganzen (1865), 36. Allerdings fährt Strauß überaus polemisch und nicht ganz treffend fort: »Aus der Einsicht, der er sich nicht verschloß, daß für seine mehr geistlich-demagogischen als eigentlich hierarchischen Gaben und Neigungen ein lockerer geknüpftes Kirchenwesen mit einem leichter geschürzten Credo einen günstigern Spielraum gewähren müsse, erklärt sich der ganze Umschwung, der im Laufe der letzten zehn Jahre mit Herrn Schenkel vorgegangen ist. Und wahrhaftig, wenn der Styl der Mensch
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V. Fazit
Diese ›Drehung des Mantels‹ in der vermittelnden Position Schenkels führte jedoch – und an diesem Punkt ist Strauß zu widersprechen – zu einer bedeutsamen Differenzierung und Neubestimmung in Schenkels Protestantismustheorie: Das Wesen des Protestantismus denkt er jetzt vom Subjekt aus und rückt es in seiner Bindung an Gott ins Zentrum der Theologie. Damit einher geht dann auch die Entwicklung seiner Ekklesiologie, deren sichtbarer Ausdruck eine konsequent vom Subjekt und dann der Gemeinde her gedachte Kirchenverfassung ist. Erst diese Neubestimmung begründet Schenkel zufolge die bleibende Relevanz und unverzichtbare Funktion des Protestantismus in der neuzeitlichen Gesellschaft.
2. Religion der Freiheit. Der Protestantismus als Gewissensreligion In Opposition zur konfessionellen Partei begreift Schenkel den Protestantismus als Gewissensreligion, und das heißt für ihn als Religion der Freiheit. Mit dieser Deutung verbindet er dann auch weitere politische Implikationen und Forderungen. In Kapitel III sind drei Argumentationsfiguren Schenkels herausgearbeitet worden, anhand derer Schenkel das Wesen des Protestantismus begründet und beschreibt: Im Kontext der Debatte um das Prinzip des Protestantismus hat Schenkel die Einzigkeit dieses Prinzips hervorgehoben und darin die oben dargestellten Momente integriert. Weiterhin ist sein Verständnis des Protestantismus als Gewissenstat, die er aus seiner spezifischen Deutung der Reformation ableitet, deutlich geworden. In seiner Dogmatik schließlich hat Schenkel sein Verständnis des Protestantismus als Gewissensreligion ausführlich entfaltet. Im Zentrum von Schenkels Deutung des Protestantismus steht sein Gewissensbegriff, der es ihm ermöglicht, den Protestantismus als Religion der Freiheit und als Konstitutionsbedingung von individueller Freiheit überhaupt zu begreifen. Eigentümlich und für Schenkels Theorie zentral ist dabei, dass er das Gewissen nicht als primär ›schlechtes Gewissen‹ versteht, sondern als positive Instanz, in der das Subjekt sich auf Gott bezogen und darin von weltlichen Autoritäten frei weiß.
ist, so ist Herr Schenkel stets derselben geblieben; denn sein Styl, seine Darstellungs- und Ausdrucksweise trägt noch heute dasselbe Gepräge, wie vor zwanzig Jahren. Jetzt wie damals fehlt demselben Haltung und Würde, wie ihm Schärfe und Feinheit fehlen; er ist platt wo er klar, buntscheckig, wo er lebendig sein will; die Ironie wird ihm zum groben Spaß; seine Bilder sind wie auf dem Trödelmarkte zusammengekauft; auf tiefes Ausholen, wie von seltener Weisheit, folgt seichtes Radotieren; aus erbaulichem Phrasenschwall fällt er in niedrige, grimassirende Höhnerei herab.« (AaO., 36 f.).
2. Religion der Freiheit. Der Protestantismus als Gewissensreligion
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Sehr anschaulich wird das in Schenkels Verständnis des Protestantismus als Gewissenstat, das auf seiner Reformationsdeutung gründet. Im Gegensatz zu Friedrich Schleiermacher und Ferdinand Christian Baur sieht Schenkel das Wesen des Protestantismus vollständig in der Anfangszeit der Reformation ausgedrückt, sodass seine Bestimmung des Wesens des Protestantismus wesentlich von der Deutung der Reformationszeit, und zwar insbesondere eben deren Anfangszeit, geprägt ist. Ausgangspunkt seiner Interpretation ist Luthers Thesenanschlag, dessen Bekenntnis vor dem Reichstag zu Worms und die Protestation der evangelischen Reichsstände in Speyer. In diesen Ereignissen hat sich Schenkel zufolge das Wesen des Protestantismus ausgesprochen. Er versteht diese Begebenheit so, dass sich Luther bzw. die evangelischen Reichsstände dabei gegen das positive Recht auf ihr Gewissen berufen haben, da sie sich dort an eine höhere, unbedingte, nicht weltliche Autorität gebunden wussten. Die Berufung auf das Gewissen war also nicht einfach eine Berufung auf sich selbst und die eigene Autorität, sondern eben auf das Selbst in seiner Bindung an Gott und dem darin gesetzten Bewusstsein, dass damit die unbedingte und ursprüngliche Autorität aufgerufen ist. In dem Protest Luthers und der evangelischen Stände wird das Wesen des Protestantismus demnach als ein solches offenbar, das sich allein an Gott als dem unbedingten Grund gebunden weiß und allein dessen Autorität anerkennt. In diesem Gewissensbegriff ist somit immer ein gegenüber äußerlichen Autoritäten antiautoritäres Moment impliziert. Das Eigentümliche des Schenkel’schen Gewissensbegriffs wird hier bereits deutlich: Wie auch Karl Holl versteht Schenkel Luthers Religion als Gewissensreligion, jedoch bestimmt er das Gewissen anders als Holl als positives Bewusstsein der ursprünglichen Einheit mit Gott. Eine Präzisierung und Vertiefung des Gewissens- und damit auch des Protestantismusbegriffs nimmt Schenkel in seiner Dogmatik vor. Dort bestimmt er das Gewissen als das Religionsorgan des menschlichen Geistes. Schenkel geht darin von zwei scheinbar widersprüchlichen Thesen aus, nämlich einerseits von der wesentlichen Unterscheidung von Gott bzw. Geist und Welt, und andererseits von der ursprünglichen Einheit des Menschen mit Gott, derer sich der Mensch stets bewusst ist. Schenkel stellt die These auf, dass der Mensch nur dann auf Gott bezogen sein kann, wenn es ein Gebiet im menschlichen Geist gibt, das von weltlichen Einflüssen vollkommen frei ist. Damit wendet sich Schenkel direkt gegen Schleiermacher, aber auch gegen die seines Erachtens falschen, weil an die Welt und den Menschen gebundenen, Religionsbegriffe von Katholizismus, Moralismus und Rationalismus. Für Schenkels Deutung des Protestantismus ist dieser Aspekt zentral: Der Mensch kann nur unmittelbar und persönlich auf Gott bezogen und sich der Einheit mit Gott als seinem Ursprung bewusst sein, wenn es ein Gebiet im menschlichen Geist gibt, auf das die Welt nicht bezogen ist und das umgekehrt auch selbst nicht auf die Welt bezogen ist. Gotteserfahrung ent-
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V. Fazit
steht demnach nicht, indem das Universum auf das Subjekt wirkt oder eine kirchliche Hierarchie Glaubenssätze aufstellt, die das Subjekt zu glauben hat, sondern indem das Subjekt sich auf sich selbst bezieht und sich darin seiner ursprünglichen Bezogenheit auf Gott und darin als Einheit mit ihm seiend, bewusst wird. Ort dieses Selbstbezugs ist das Gewissen. Im Gewissen fallen damit Selbstbewusstsein und Gottesbewusstsein zusammen. Von zentraler Bedeutung ist weiter, und damit setzt Schenkel sich insbesondere von Schleiermacher ab, dass Gott als persönlicher und absoluter Geist im Gewissen des Subjekts unmittelbar gegenwärtig ist. ›Gott‹ bringt also nicht nur eine bestimmte Erfahrung auf den Begriff, sondern Schenkel geht vielmehr von der realen Präsenz des persönlichen Gottes im Gewissen aus. Gott ist damit objektiv im Gewissen gegenwärtig. Den Vorwurf des Subjektivismus kann man Schenkel, wie er selbst meint, somit nicht machen, eben weil das Subjekt sich ja im Gewissen nicht bloß auf sich selbst bezieht, sondern nur auf sich selbst in seiner ursprünglich objektiven Bezogenheit auf Gott. Das heißt, die oben dargestellten Momente – anthropologisch, theologisch und theanthropologisch – sind im Gewissensbegriff aufgehoben. Dieser Gewissensbegriff bildet das Fundament von Schenkels Protestantismusdeutung. Das Wesen des Protestantismus bestimmt Schenkel als Wiederherstellung der echten Katholizität. Der Ausdruck ›echte Katholizität‹ bezeichnet die unmittelbare persönliche Gemeinschaft der Menschheit mit Gott: Der Protestantismus zielt seinem Wesen nach also auf das unmittelbare und persönliche Gottesverhältnis aller Menschen und insofern ist der Protestantismus Gewissensreligion. Der Begriff der Wiederherstellung zeigt an, dass dieser ursprünglich gegebene und wahre Zustand gestört ist und nunmehr erneut hergestellt werden muss. Das ist die Aufgabe des Protestantismus, die er durch freie Schriftforschung, die Stärkung der Rechtfertigungslehre sowie die Umsetzung des Grundsatzes des Priestertums aller Gläubigen erfüllt. Diese drei Grundsätze des Protestantismus leiten sich, so Schenkel, aus seinem Wesen ab und das heißt: Das Gewissen ist ihnen immer vorgeordnet. Schenkel entwirft demnach eine Protestantismustheorie, in der die Glaubensautonomie des Subjekts im Zentrum steht, indem er seinen eigentümlichen Gewissensbegriff zum Fundament seiner Deutung macht. An diesem Punkt schließt sich dann die über den theologischen und kirchlichen Raum hinausgehende Bedeutung des Protestantismus an. 1) Schenkel ist der Überzeugung, dass Religion, also die Gemeinschaft des Menschen mit Gott, der das gesamte Leben tragende Faktor ist. Der Mensch findet in ihr sein wahres Wesen verwirklicht: Wahres Menschsein realisiert sich ausschließlich in der Bezogenheit des Menschen auf seinen Ursprung.
3. Die protestantische Gemeindekirche als Verwirklichung des Wesens des Protestantismus 283
Das heißt, Religion ist, obwohl sie wesentlich innerlich und subjektiv ist, darüber hinaus prägend und bestimmend für das Individuum in all seinen Bezügen. Indem der Protestantismus nun die Gemeinschaft von Gott und Mensch, also die religiöse Funktion des Menschen, wiederherstellt, ist er auch die Bedingung der Möglichkeit einer dem wahren Wesen des Menschen entsprechenden Gesellschaft, in der das Wesen des Menschen dann auch sichtbar seinen wahren Ausdruck finden kann. Schenkel spricht deswegen vom Protestantismus als einer ›weltgeschichtlichen Kraft‹. 2) Diese öffentliche Bedeutung des Protestantismus wird durch die Konzeption des Protestantismus als Religion der Freiheit präzisiert. Da das Subjekt im Gewissen an die ursprüngliche und unbedingte Autorität Gottes gebunden ist, weiß es sich frei gegenüber weltlichen und kirchlichen Autoritäten, die es binden wollen. Wahre Freiheit gründet und realisiert sich Schenkel zufolge nur in der Gebundenheit des Menschen an seinen Ursprung. Das Gewissen ist damit die Konstitutionsbedingung von Freiheit überhaupt, die dann nicht mehr nur auf den kirchlichen Bereich beschränkt bleibt, sondern für das Subjekt in all seinen Bezügen gilt. Indem der Protestantismus auf das Gewissen des Individuums zurückgeht, befreit er das Subjekt zur wahren Freiheit und macht es so überhaupt erst zum selbstverantwortlichen Subjekt. Darin liegt nun Schenkel zufolge der fundamentale Widerspruch zum Katholizismus wie auch zum Protestantismusverständnis der kirchlichen Orthodoxie, die das Subjekt nicht befreien, sondern vielmehr äußerlich binden wollen und damit, so Schenkel, im Widerspruch zum neuzeitlichen Autonomiepostulat und zur modernen Kultur insgesamt stehen. Demgegenüber möchte Schenkel den Protestantismus durch die Konzentration auf das freie Subjekt in seiner unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott nicht nur als kulturfähig profilieren, sondern vielmehr als wesentlichen und unverzichtbaren Grund des neuzeitlichen subjektiven Bewusstseins und eines sich unter neuzeitlichen Bedingungen entwickelnden Gemeinwesens. Genau dieses Begründungspotential macht für Schenkel die unbedingte Relevanz des Protestantismus in und für die neuzeitliche Gesellschaft aus und ihn auch zu einer sprachfähigen Instanz in den entsprechenden öffentlichen Debatten.
3. Die protestantische Gemeindekirche als Verwirklichung des Wesens des Protestantismus Die Frage nach dem Wesen des Protestantismus und nach Wesen und Gestalt der protestantischen Kirche lassen sich in Schenkels Theologie nicht voneinander trennen: So hat seine Auseinandersetzung mit dem Protestantismus fast immer einen kirchlichen Anhaltspunkt; umgekehrt gründet seine Ekklesiologie unmittelbar in seinem Protestantismusverständnis. Anders als in der Entfaltung
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V. Fazit
des protestantischen Wesens konzipiert Schenkel seine Ekklesiologie ausschließlich in Abgrenzung gegenüber und als Antwort auf ein katholisches wie auch konfessionell lutherisches Kirchenverständnis. Die Auseinandersetzung mit dem rationalistischen Kirchenbegriff findet demgegenüber nicht statt, vielmehr erinnert Schenkels Ekklesiologie in manchen Zügen selbst an diesen. Schenkels ekklesiologischer Entwurf ist geleitet von der Überzeugung, dass ein auf der Subjektivität gründender Protestantismus sich auch auf den Kirchenbegriff und die kirchliche Verfassung auswirken muss. Dies hat sich schon in Schenkels Verständnis des Protestantismus als Gewissenstat gezeigt, denn in der Berufung auf das Gewissen war nach Schenkel nicht nur eine höhere Autorität aufgerufen, vielmehr waren darin auch notwendig die protestantische Kritik an der Hierarchie sowie die Setzung eines neuen Kirchenbegriffs impliziert. So steht das Subjekt auch im Zentrum von Schenkels Ekklesiologie. Das persönliche und unmittelbare Gottesverhältnis des Individuums stellt das Kriterium für eine genuin protestantische Ekklesiologie dar: Die insitutionell verfasste protestantische Kirche muss so verfasst sein, dass sie die Unmittelbarkeit des Gewissens schützt. Die zu klärende Frage lautet deswegen, wie das freie Subjekt sich mit der kirchlichen Gemeinschaft vermitteln lässt. Die Konzentration auf die Subjektivität kommt in Schenkels Ekklesiologie in drei Punkten zur Geltung: Erstens in der eindeutigen Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche, zweitens in der Forderung der kirchlichen Union von Lutheranern und Reformierten und schließlich drittens in einer auf der Gemeinde gründenden Kirchenverfassung. Die klare Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche bildet das hermeneutische Zentrum von Schenkels Ekklesiologie. Sie bietet ihm die Möglichkeit, sein gesamtes Kirchenverständnis vom persönlichen Gottesverhältnis her zu entwerfen, denn sie zielt gerade darauf, die Freiheit des Subjekts und die unmittelbare Gotteserfahrung von äußerlichen kirchlichen Ansprüchen jeglicher Art zu befreien und vor ihnen zu bewahren. In der unsichtbaren Kirche, die die Wiederherstellung der menschheitlichen Gemeinschaft mit Gott ist, ist dieses unmittelbare Verhältnis realisiert. Sie allein ist somit die wahre Kirche und definiert das Wesen des Protestantismus. Im Glauben ist sich das Individuum bewusst, Teil dieser wiederherzustellenden menschheitlichen Gemeinschaft mit Gott zu sein. Auf diese Weise verbindet Schenkel das zunächst rein subjektive Gottesverhältnis mit dem Gedanken der Heilsgemeinschaft. Die sichtbare Glaubensgemeinschaft versteht Schenkel dagegen als bloß menschlichen Ausdruck der unsichtbaren Kirche und als solche deswegen nicht als Kirche im eigentlichen Sinne. Heilsrelevant ist damit allein die unsichtbare Kirche. Schenkel betont diesen Unterschied gegenüber einer als katholisch qualifizierten Identifizierung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche so stark, dass er einem gleichsam rationalistischen Kirchenbegriff zu folgen scheint. Da er jedoch die sichtbare Kirche konsequent von der unsichtbaren her versteht und
3. Die protestantische Gemeindekirche als Verwirklichung des Wesens des Protestantismus 285
sie auf diese bezieht, kann er ihr eine ›relative Notwendigkeit‹ und insofern auch religiöse Bedeutung zusprechen. Damit wird die unverzichtbare Funktion der protestantischen Kirche in der Welt deutlich: Sie drängt auf die Verwirklichung der unsichtbaren Kirche in der Welt und damit auf die Wiederherstellung der menschheitlichen Gemeinschaft mit Gott, bzw. kurz: auf das Wesen des Protestantismus als Gewissensreligion. Die erste Konsequenz, die sich aus der Unterscheidung ableitet, ist die Bildung einer Unionskirche, die Schenkel als Ausdruck der Gemeindekirche versteht: Die ihrem Wesen nach ›unprotestantische‹ konfessionelle Spaltung ruht seiner Ansicht nach allein auf sekundären Lehrdifferenzen, die lediglich von einer ›Theologenschicht‹ festgehalten wird; diese erheben im Widerspruch zum genuinen Protestantismus den Lehrbegriff zum Kriterium für Religion und identifizieren damit die sichtbare Kirche als wahre Kirche. Dagegen wissen sich die gläubigen Individuen verbunden durch die Realisierung ihres persönlichen Gottesverhältnisses, das allein für die Kirchengemeinschaft wesentlich ist. Die bleibende Trennung ist also Ergebnis einer hierarchisch organisierten Theologenkirche und dem von der Hierarchie postulierten unprotestantischen Kirchenbegriff, während die Gemeindekirche demgegenüber notwendig zur kirchlichen Union drängt. Das grundlegende Verfassungsprinzip der protestantischen Kirche stellt für Schenkel im Anschluss an Schleiermacher das Priestertum aller Gläubigen dar. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Kirchenverfassungen mit der restaurativen Partei einerseits und dem liberalen politischen Umschwung in Baden andererseits nimmt Schenkel immer stärker liberale Motive auf. So plädiert er für eine Presbyterial- und Synodalordnung, in der die Gemeinden sich selbst verwalten und damit vor kirchlicher Bevormundung bewahrt werden. Die Presbyterien wie auch die Synoden sollen aus freien Gemeindewahlen hervorgehen. Im Gegenüber zu Verfassungsentwürfen, die wie bei Stahl vom Autoritätsprinzip geleitet sind, fasst Schenkel das Priestertum aller Gläubigen also als demokratisches Prinzip auf – eine Deutung, die er kurz vor und nach der Revolution 1848 noch vehement bestritten hat. Seine Spitze findet dieser Gedanke dann in dem volkskirchlichen Modell, das Schenkel aufruft und womit er noch stärker betont, dass die Kirche Gemeindekirche sein muss. In diese ordnet er auch das landesherrliche Kirchenregiment ein. Denn obwohl es der Vorstellung einer Gemeindekirche widerspricht, hält Schenkel an der Einrichtung desselben fest, erkennt es aber nur als historisches Faktum an. Schenkel begründet das landesherrliche Kirchenregiment konstitutionell von der Gemeinde her und versteht es gerade als Schutzfunktion gegenüber theologischen und kirchenparteilichen Autoritätsansprüchen. Die empirische Kirche ist damit durch die Vermittlung des Gewissensrechts und der Freiheit des Subjekts mit der Gemeinschaft gekennzeichnet, indem nämlich der Einzelne zumindest durch das freie Wahlrecht an der Gestaltung
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V. Fazit
der kirchlichen Entscheidungen teilhat und somit das Recht seiner Gewissensfreiheit ausübt und gegenüber kirchlichen Autoritätsentscheidungen wahrt. Indem die sichtbare protestantische Kirche dieses Recht der individuellen Gewissensfreiheit schützt, ist sie ›Kirche der Freiheit‹ in dem Sinne, dass sie als Institution der Freiheit des Individuums dient und von diesem Prinzip geleitet wird. Damit ist auch Schenkels Sorge um und sein Kampf für die protestantische Unions- und Gemeindekirche als Kampf für die Wahrung der Freiheit des Individuums gegenüber äußerlichen Autoritätsansprüchen und Bindungen zu verstehen. Während Schenkel die öffentliche Relevanz des Wesens des Protestantismus vor allem im Hinblick auf die Prägung des gesamten Lebens betont, verbindet er die Ekklesiologie besonders mit staatlichen und nationalen Implikationen. So ist im genuin protestantischen Kirchenbegriff die Freiheit der kirchlichen Ausdrucksformen impliziert und damit Toleranz gegenüber unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften gefordert. Die protestantische Unterscheidung von unsichtbarer wahrer und sichtbarer Kirche ist damit die Bedingung der Möglichkeit für das friedliche Zusammenleben konfessionsgemischter Gemeinwesen und auch der paritätische, von der Vorherrschaft der Kirche befreite Staat hat sich diesen protestantischen Kirchenbegriff, so Schenkel, zu eigen gemacht. Demgegenüber impliziert die Identifizierung der sichtbaren Kirche mit der wahren Kirche eine intolerante Haltung gegenüber anderen kirchlichen Gemeinschaften und ihren Mitgliedern und gefährdet somit den Frieden in paritätischen Gesellschaften. Nationale Bedeutung kommt nach Schenkel insbesondere auch der kirchlichen Union zu, die ihr Ziel in der Bildung einer protestantischen Nationalkirche findet. Sie ist der sichtbare Ausdruck des einen religiösen Bewusstseins ihrer Gemeindemitglieder und dieses Bewusstsein der religiösen Verbundenheit wirkt sich, so Schenkel, dann auch auf die nationale Entwicklung aus. Als bemerkenswert hat sich zudem erwiesen, dass Schenkel auch den liberalen Katholizismus an dieser Stelle mit in seine Überlegungen einbezieht und Grundsätze formuliert, die für eine Konföderation mit diesem von Seiten des liberalen Katholizismus anerkannt werden müssten. Diese Grundsätze beinhalten im Wesentlichen die Anerkennung der Freiheit des Individuums in all seinen Bezügen. Die protestantische Union sowie die Konföderation der protestantischen Unionskirche mit dem liberalen Katholizismus bilden nach Ansicht Schenkels auf diese Weise in der Anerkennung und Durchsetzung dieser freiheitlichen Prinzipien gemeinsam ein starkes Gegengewicht gegenüber jesuitischen und konfessionell lutherischen Angriffen auf die Freiheit des Individuums. Das zentrale Thema in Schenkels Leben und Werk war der Protestantismus. Er hat sich die Beschreibung des Wesens des Protestantismus sowie die Stärkung
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des protestantischen Bewusstseins in den Gemeinden zur Aufgabe gemacht, der er sich Zeit seines Lebens leidenschaftlich gewidmet hat. Sein Ziel war es dabei, die bleibende und unverzichtbare Bedeutung des Protestantismus für die moderne Gegenwartskultur aufzuzeigen. Schenkel hat das neuzeitliche Autonomiepostulat und die Konzentration auf das Subjekt in seine Protestantismusdeutung aufgenommen und so verarbeitet, dass der Protestantismus als Religion der Freiheit Konstitutionsbedingung für die Begründung der Subjektivität, der Freiheit des Individuums ist. Aufgrund seines eigentümlichen Gewissensbegriffs wird für ihn der Protestantismus zum unverzichtbaren Grund des neuzeitlichen Bewusstseins. Schenkel profiliert den Protestantismus also so, dass dieser nicht bloß kulturfähig und damit vermittelbar für das moderne Bewusstsein ist, sondern er begreift ihn als die das moderne Gemeinwesen, das auf dem Individuum auf bauende Verständnis der modernen Kultur aus sich heraussetzende Größe. Der Protestantismus ist damit Grund und Bedingung der modernen Kultur; die moderne Kultur ist wesentlich protestantisch. Diese für seine Protestantismustheorie kennzeichnende Verbindung von Protestantismus und Gegenwartskultur gelingt Schenkel, indem er die freiheitlichen Aspekte dieser Kultur als genuin protestantisch identifiziert. Die enorme Energie, mit der Schenkel sich dem Protestantismus und der protestantischen Kirche gewidmet hat, diente seinem eigenen Selbstverständnis nach deswegen zu nichts weniger als der Bewahrung und Verteidigung der Freiheit des Individuums sowie der darauf gründenden Gesellschaft.
Literaturverzeichnis 1. Daniel Schenkel Um einen möglichst vollständigen Überblick über Schenkels Werk zu geben, gehen die hier genannten Monographien, selbständigen Veröffentlichungen, Zeitschriften- und Lexikonartikel über die in der Arbeit genannte Literatur hinaus. Die Liste erhebt freilich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
1.1. Monographien und selbständig erschienene Veröffentlichungen – Johannes Schenkel Pfarrer von Unterhallau. Ein Denkmal auf den Grabhügel eines Verborgenen von der Welt, Hamburg 1837. – Dissertatio critico-historica de ecclesia Corinthia primaeva factionibus turbata quam ordinis venerandi theologici auspiciis, Basel 1838. – Über das ursprüngliche Verhältniß der Kirche zum Kanon. Akademische Inaugural Vorlesung, gehalten am 12. November 1838, Basel 1838. – Die Wissenschaft und die Kirche. Zur Verständigung über die Straußische Angelegenheit; mit einem Sendschreiben an Herrn Consistorialrath Dr. Lücke, Basel 1839. – Der Segen der Kirchenverbesserung. Eine Predigt über 1. Petr 2, 1 – 5, gehalten am 14. Juni 1840, mit einem offenen Vorworte an Professor Maurer-Constant, Basel 1840. – Briefe von Daniel Schenkel an Andreas Heusler 1840 – 1851, mit einer Einleitung von K. Schib, hg. v. K. Schib, in: Schaff hauser Beiträge 30 (1953), 163 – 230. – Der letzte Wille unseres Herrn an seine Jünger. Predigt gehalten Sonntags den 2. Mai 1841 in der Münsterkirche zu Schaff hausen, Schaff hausen 1841. – Der Segen des Unglücks. Predigt mit Beziehung auf das Brandunglück der Stadt Hamburg (Apg 11, 27 – 30), Schaff hausen 1842. – Die Predigt vom Evangelium in ihrer Wichtigkeit für unsere Zeit. Antrittspredigt über Röm 1, 15.16, Schaff hausen 1842. – Vierundzwanzig Predigten über Grund und Ziel unseres Glaubens, Zürich 1843/44. – In wie fern darf und soll der evangelische Geistliche von den ausgemachten sichern Resultaten der theologischen Wissenschaft im Volksunterricht Gebrauch machen? Referat, vorgetragen vor der schweizerischen Predigergesellschaft in Aarau am 16. August 1843, Aarau 1843. – Die confessionellen Zerwürfnisse in Schaff hausen und F. Hurters Uebertritt zur römisch-katholischen Kirche, Basel 1844. – Wie soll es mit uns besser werden? Predigt über 1. Petr 5, 6 am 21. September 1845, Schaff hausen 1845.
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– Das Sehnen der Völker nach dem Heil. Predigt über Jes 48, 17.18, gehalten am 20. September 1846, Schaff hausen 1846. – Das Wesen des Protestantismus, 3 Bde., Schaff hausen 1846/47/51. – Die protestantische Geistlichkeit und die Deutschkatholiken. Eine Erwiederung auf die neueste Schrift von G.G. Gervinius, Zürich 1846. – Der Standpunkt des positiven Christenthums und sein Gegensatz. Replik auf die Entgegnungen von G.G. Gervinus im »Morgenboten«, Zürich 1846. – Ob Krieg oder Frieden. Zwölf Briefe über die politische Lage der Schweiz im Sommer 1847, Zürich 1847. – Noch ein Wort über die Pacification der Schweiz. Zwei Briefe als Nachtrag zu den zwölf Briefen, Zürich 1847. – Die religiösen Zeitkämpfe in ihrem Zusammenhange mit dem Wesen der Religion und der religiösen Gesammtentwicklung des Protestantismus, in zwanzig Reden beleuchtet, Hamburg 1847. – Das Kommen des Herrn in unserer Zeit. Sechs Predigten gehalten in der Weihnachtszeit des Jahres 1848 (mit einem Sendschreiben an Herrn Prof. Dr. Hagenbach in Basel), Schaff hausen 1849. – W. M. L. de Wette und die Bedeutung seiner Theologie für unsere Zeit. Zum Andenken an den Verewigten, Schaff hausen 1849. – Die Idee der Persönlichkeit in ihrer Zeitbedeutung für die theologische Wissenschaft und das religiös-sittliche Leben. Antrittsrede, Schaff hausen 1850. – Das Heilswort der Liebe. Zwölf Predigten gehalten von Dr. Daniel Schenkel, Schaffhausen 1850. – Trostworte der Hoffnung. Zwölf Predigten gehalten von Dr. Daniel Schenkel, Schaff hausen 1851. – Zeugnisse evangelischer Wahrheit. Der evangelischen Gemeinde Heidelbergs von eingen Freunden der evangelischen Wahrheit in den Tagen der Jesuiten-Mission 1851 gewidmet, Heidelberg 1851. – Fels oder Sand, oder: Der evangelische Glaube steht noch fest. Allen Christen zur Betrachtung vorgelegt, Schaff hausen 1851. – Das Princip des Protestantismus. Mit besonderer Berücksichtigung der neuesten hierüber geführten Verhandlungen. Schlußabhandlung zu der Schrift des Verfassers über das »Wesen des Protestantismus«, Schaff hausen 1852. – Die Schutzpflicht des Staates gegen die Evangelische Kirche. Zur Erläuterung des Heidelberger Facultätsgutachtens in der Dulon’schen Angelegenheit, und zur Berichtigung des in derselben von Herrn Dr. Dittenberger abgegebenen Votums, Heidelberg 1852. – Die siegreiche Kraft des evangelischen Glaubens, Wiesbaden 1852. – Gesetzeskirche und Glaubenskirche oder Sand bleibt Sand und Fels bleibt Fels. Zur Abwehr gegen die Angriffe des Herrn Dr. A. Stolz auf die evangelische Kirche, Heidelberg 1852. – Was ist Wahrheit? Betrachtungen und Hoffnungen am Jahresschlusse 1852, Heidelberg 1852. – Das Gedächtnis der Gerechten bleibt im Segen! Trauerrede gehalten am 9. Mai im akademischen Trauergottesdienst zu Heidelberg für den höchstseligen Großherzog Leopold, Heidelberg 1852. – Predigt beim Jahresfeste des Vereins für Innere Mission in Karlsruhe, Karlsruhe 1852.
1. Daniel Schenkel
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– Die siegreiche Kraft des evangelischen Glaubens. Predigt in dem 3. Gottesdienste der 10. Allgemeinen Versammlung des evangelischen Gustav-Adolph-Vereins am 9. Sept. 1852 über 1. Joh 5, 4 – 15, Wiesbaden 1852. – Gespräche über Protestantismus und Katholizismus, 2 Bde., Heidelberg 1852/53. – Festpredigt über 1 Kor 16, 13.14 bei der Feier des Gustav-Adolf-Vereins, Frankfurt a. M. 1853. – Die gute Sache der evangelischen Kirche. Drei Briefe, Heidelberg 1853. – Evangelische Zeugnisse von Christo. Predigten über Abschnitte aus dem Evangelium Johannis, 3 Bde., Heidelberg 1853/59. – Der Apostel Paulus, ein Vorbild unserer evangelischen Kirche. Dritte Festpredigt gehalten während der zwölften Hauptversammlung des evangelischen Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung, Braunschweig 1854. – Abfertigung für Herrn Kuno Fischer in Heidelberg, Heidelberg 1854. – Das Wesen des christlichen Glaubens. Vorträge im Dienste der Inneren Mission, Frankfurt a. M. 1854. – Der Unionsberuf des evangelischen Protestantismus, aus der principiellen Einheit, der confessionellen Sonderung und der unionsgeschichtlichen Entwicklung desselben nachgewiesen, Heidelberg 1855. – Die Reformatoren und die Reformation, im Zusammenhange mit den der evangelischen Kirche durch die Reformation gestellten Aufgaben geschichtlich beleuchtet, Wiesbaden 1856. – Die Bedeutung der hohen Vermählung Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs Friedrich von Baden mit Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Louise von Preußen für das badische Land, Heidelberg 1856. – Für Bunsen wider Stahl. Die neusten Bewegungen und Streitigkeiten auf dem kirchlichen Gebiete, Darmstadt 1856. – Die Amtsentlassung des Professors Dr. Baumgarten in Rostock. Nach den Actenstücken beleuchtet, Darmstadt 1858. – Die christliche Dogmatik vom Standpunkte des Gewissens aus dargestellt, 2 Bde., Wiesbaden 1858/59. – Union, Confession und evangelisches Christenthum. Mit besonderer Beziehung auf die neulich erschienene Schrift von Dr. Stahl, »Die lutherische Kirche und die Union«, Darmstadt 1859. – Die Erneuerung der Deutschen Evangelischen Kirche nach den Grundsätzen der Reformation. Ein Beitrag zur Lösung der kirchlichen Reformfrage. Mit besonderer Berücksichtigung d. Großherzogl. Badischen Unions-Kirchen-Verfassung, Gotha 1860. – Die Briefe an die Epheser, Philipper, Kolosser. Theologisch-homiletisches Bibelwerk, Bielefeld 1860/21867. – Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen des Reformationszeitalters, Schaffhausen 21862. – Die kirchliche Frage und ihre protestantische Lösung, im Zusammenhange mit den nationalen Bestrebungen und mit besonderer Beziehung auf die neuersten Schriften J. J. J. von Döllinger‹s und Bischof von Ketteler‹s erörtert, Elberfeld 1862. – Die Bildung der evangelischen Theologen für den praktischen Kirchendienst. Eine Denkschrift zur fünfundzwanzigjährigen Stiftungsfeier des evang.-protestantischen Predigerseminars in Heidelberg, Heidelberg 1863. – Johann Heinrich Pestalozzi und dessen Bedeutung für seine und unsere Zeit. Ein Vortrag gehalten den 28. Februar 1863 zu Heidelberg, Heidelberg 1863.
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– Jesus Christus, der einige Grund, auf den wir uns als Christen stellen. Predigt bei der Eröffnung des Universitätsgottesdienstes für das Wintersemester, Wiesbaden 1864. – Das Charakterbild Jesu. Ein biblischer Versuch, Wiesbaden 1864 (1.–3. Auflage) [zitiert wird die 1. Auflage]. – Die Protestantische Freiheit in ihrem gegenwärtigen Kampfe mit der kirchlichen Reaktion. Eine Schutzschrift von Dr. Daniel Schenkel, Wiesbaden 1865. – Christenthum und Kirche im Einklange mit der Culturentwicklung. 20 Betrachtungen, 2 Bde., Wiesbaden 1867/21871/72. – Die gegenwärtige Lage der protestantischen Kirche in Preußen und Deutschland. Ein Vortrag gehalten im Auftrage des deutschen Protestantenvereins, Mannheim 1867. – Der Deutsche Protestantenverein und seine Bedeutung in der Gegenwart nach den Akten dargestellt, Wiesbaden 1868. – Friedrich Schleiermacher. Eine akademische Rede bei Gelegenheit der Gedächtnisfeier für Schleiermacher am 21. November 1868, Heidelberg 1868. – Friedrich Schleiermacher. Ein Lebens- und Charakterbild. Zur Erinnerung an den 21. November 1768 fuer das deutsche Volk bearbeitet, Heidelberg 1868. – Luther und seine Kampfgenossen. Eine Beleuchtung des Luther-Denkmals in Worms im Lichte unserer Zeit für Jedermann, Lahr 1868. – Brennende Fragen in der Kirche der Gegenwart. Drei Vorträge, Wiesbaden 1869. – Ernst Moritz Arndt. Ein politischer und religiöser deutscher Charakter, Elberfeld 1869. – Der Erneuerungskampf des deutschen Volkes nach seiner religiös-sittlichen Bedeutung, Heidelberg 1870. – Luther in Worms und in Wittenberg und die Erneuerung der Kirche in der Gegenwart, Elberfeld 1870. – Das Charakterbild Jesu nach den biblischen Urkunden wissenschaftlich untersucht und dargestellt, Wiesbaden 41873. – Die Grundlehren des Christenthums aus dem Bewußtsein des Glaubens im Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1877. – Das Christusbild der Apostel und der nachapostolischen Zeit. Aus den Quellen dargestellt, Leipzig 1879.
1.2. Herausgeberschaften – Allgemeine Kirchen-Zeitung. Ein Archiv für die neueste Geschichte und Statistik der christlichen Kirche, nebst einer kirchenhistorischen und kirchenrechtlichen Urkundensammlung, hg. v. ders./E. Zimmermann, Jg. 31 – 38 (1852 – 1858). – Bibel-Lexikon in fünf Bänden. Realwörterbuch zum Handgebrauch für Geistliche und Gemeindeglieder, 5 Bde., Leipzig 1869 – 1875. – Rothe, Richard, Nachgelassene Predigten, mit einem Lebensbilde des Verewigten, 2 Bde., Heidelberg 1868/69. – Rothe, Richard, Dogmatik. Aus dessen handschriftlichem Nachlasse, 2 Bde., Heidelberg 1870. – Die gegenwärtige Nothlage der evangelischen Landeskirche der Provinz Hannover. Eine Denkschrift hg. v. geschäftsführenden Ausschuß des Deutschen Protestantenvereins, Berlin 1877.
1. Daniel Schenkel
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1.3. Zeitschriftenartikel1 – Ueber den Brief des Barnabas. Ein kritischer Versuch, in: ThStKr 10 (1837), 652 – 686. – Ueber die neuesten Bearbeitungen des Lebens Jesu: Das Leben Jesu Christi, in seinem geschichtlichen Zusammenhange und seiner geschichtlichen Entwickelung dargestellt von Dr. A. Neander (3. Aufl.); Die evangelische Geschichte, kritisch und philosophisch bearbeitet von Chr. H. Weiße; Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet von Dr. D. F. Strauß (3. Aufl.); eine vergleichende Beurtheilung, in: ThStKr 13 (1840), 736 – 808. – Die zweite Gefangenschaft des Apostels Paulus, nach neuen Gesichtspunkten geprüft, in: ThStKr 14 (1841), 53 – 87. – Der Kampf der schaff hausischen Geistlichkeit mit ihrem Antistes. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, in: Hallische Jahrbücher 3 (1841), Nr. 36 – 43. – Rez. zu: Das Wesen des christlichen Glaubens vom Standpunkte des Glaubens dargestellt von W. M. L. de Wette, in: ThStKr 20 (1847), 419 – 492. – Rez. zu: Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhange der gesammten Nationalentwickelung beleuchtet von einem deutschen Theologen (Frankfurt a. M. Druck und Verlag von H. L. Brönner, 1847), in: ThStKr 20 (1847), 783 – 802. – Über das ursprüngliche Verhältniß der Kirche zum Staate auf dem Gebiete des evangelischen Protestantismus, in: ThStKr 23 (1850), 203 – 260.453 – 494. – Die Aufgabe der biblischen Theologie in dem gegenwärtigen Entwicklungsstadium der theologischen Wissenschaft. Antrittsrede, gehalten bei der Uebernahme einer ordentlichen Professur der Theologie an der Universität zu Heidelberg, in: ThStKr 25 (1852), 40 – 66. – Die Bedeutung des geistlichen Berufs, besonders für unsere Zeit. Vortrag, gehalten bei der Eröffnung des evangelisch-protestantischen Predigerseminars zu Heidelberg von dem neu antretenden Director, in: ThStKr 25 (1852), 205 – 220. – Die kirchlichen Zustände der Gegenwart. Eröffnungswort, in: AKZ 31 (1852), Nr. 53 – 59. – Ueber einige wichtige kirchliche Tagesfragen, in: AKZ 31 (1852), Nr. 103 – 108. – Öffentliche Erklärung an Se. Hochwürden den Bischof von Mainz, in: AKZ 31 (1852), Nr. 205. – Neujahrsbetrachtungen, in: AKZ 32 (1853), Nr. 1 – 4. – Die evangelische Union und die protestantischen Confessionen. Eine kirchliche Zeit-Betrachtung, in: AKZ 32 (1853), Nr. 86 – 89. – Kirchliche Rückblicke und Aussichten, in: AKZ 32 (1853), Nr. 103 – 108. – Erklärung an die Redaction der »Evangelischen Kirchenzeitung« in Berlin, in: AKZ 32 (1852), Nr. 110. – Das Christenthum und modernes Philosophenthum, in: AKZ 33 (1854), Nr. 12.
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Da in der AKZ zahlreiche Artikel über mehrere Heftnummern erschienen sind, werden die Artikel der AKZ zur Vereinfachung alle mit Heftnummern angegeben. Die Heftnummern bei der AKZs werden nur angegeben, wenn ein Jahrgang keine fortlaufenden Seitenzahlen enthält. Nicht namentlich gekennzeichnete Artikel, auf die in der Arbeit Bezug genommen wird und die aufgrund ihrer inhaltlichen Argumentation und des sprachlichen Stils eine Verfasserschaft Schenkels nahelegen, sind mit * gekennzeichnet.
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Literaturverzeichnis
– Reformation und Restauration. Eine kirchliche Betrachtung, in: AKZ 33 (1854), Nr. 52 – 58. – Erklärung, in: AKZ 33 (1854), Nr. 61. – Entgegnung, in: AKZ 33 (1854), Nr. 77. – Das Christenthum und der junghegel’sche Pantheismus, in: AKZ 33 (1854), Nr. 84 f. – Einige Betrachtungen über die kirchlichen Zustände der Gegenwart, in: AKZ 33 (1854), Nr. 102 – 106. – Ist das Abendmahl eine sacaramentale Opferhandlung? Eine Erwiderung gegen den Herrn Dr. Harnack, ordenl. Professor der Theologie in Erlangen, in: AKZ 33 (1854), Nr. 163 f. – Über die religiöse Toleranz in Rußland. Eine Erwiderung auf den »v. Bahder« unterzeichneten Artikel in Nr. 270 der Kirchenzeitung »Protestanten und Katholiken in Rußland und die Christen in der Türkei«, in: AKZ 33 (1854), Nr. 195 f. – Kirchliche Neujahrsbetrachtungen auf das Jahr 1855, in: AKZ 34 (1855), Nr. 1 – 9. – Anmerkung in Betreff einer Stelle in Herrn I. A. Dorner’s Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi. 2. Auflage, 2. Theil, letzte Abtheilung, 1. Heft, S. 549, Anmerkung 38, in: AKZ 34 (1855), Nr. 9. – Die Bedeutung der Predigt im evangelischen Gottesdienst, in: AKZ 34 (1855), Nr. 112 – 116. – Die theologische Wissenschaft und die »kirchliche Strömung«. Eine Betrachtung, in: AKZ 34 (1855), Nr. 155 – 162. – Ueber das Princip des Protestantismus. Ein Antwortschreiben auf das Sendschreiben des Hrn. Prof. D. Hagenbach in Basel, in: ThStKr 28 (1855), 22 – 74. – Ueber die neusten Bewegungen und Streitigkeiten auf dem kirchlichen Gebiete, in: AKZ 34 (1855), Nr. 52 – 60. – Ueber die Union und die Unionsaufgabe der evangelischen deutschen Landeskirche. Drei Antwortschreiben auf die drei Sendschreiben des Herrn Professors Dr. J. P. Lange, in: AKZ 35 (1856), Nr. 103 f. – Die Pflicht des evangelischen Christen, gerade jetzt festzuhalten an den Grundlagen der Reformation. Eine Rede gehalten am dreihundertjährigen großh. Badischen Reformations-Gedächtnißfeste im Universitätsgottesdienste zu Heidelberg, in: AKZ 35 (1856), Nr. 105. – Kirchliche Umschau, in: AKZ 36 (1857), Nr. 1 f. – Gott in der Geschichte, in: AKZ 36 (1857), Nr. 8. 27 f. – Wie haben sich die evangelischen Christen bei dem aggressiven Verfahren der römisch-katholischen Kirche zu verhalten? Vortrag gehalten auf der Septemberversammlung evangelischer Christen aus allen Ländern am 15. September 1857 in Berlin, in: AKZ 36 (1857), Nr. 39. – Der ethische Charakter des Christenthums, in: Protestantische Monatsblätter für innere Zeitgeschichte 9 (1857), 44 – 52. – Die der evangelischen Kirche durch die Reformation gestellten Aufgaben. Zur Abwehr, in: AKZ 37 (1858), Nr. 4. – Zur Steuer der Wahrheit, in: AKZ 37 (1858), Nr. 6. – Professor Dr. Baumgarten’s Amtsentlassung von der Grundlage der gedruckten »Actenstücke« aus beleuchtet, in: AKZ 37 (1858), Nr. 14 f. – Zur kirchlichen Umschau, in: AKZ 37 (1858), Nr. 27 f. – Noch ein Wort in der Baumgarten’schen Angelegenheit, in: AKZ 37 (1858), Nr. 45. – Das neue Kirchenbuch für die evangelisch-protestantische Kirche des Großherzogthums Baden, in: AKZ 37 (1858), Nr. 47. 49 – 51.*
1. Daniel Schenkel
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– Kirchliche Rückblicke und Ausblicke, in: AKZ 38 (1859), Nr. 1 f. – Prospect. Allgemeine kirchliche Zeitschrift. Ein Organ für die evangelische Geistlichkeit und Gemeinde. Unter Mitwirkung ausgezeichneter Theologen, Geistlichen und Gemeindegenosse herausgegeben von Professor Dr. Daniel Schenkel, Großherzoglich Badischem Kirchenrath, Seminar-Director und erstem Universitätsprediger, in: AKZs 1 (1860), Heft 1, 1 – 4. – Die Aufgabe der deutschen evangelischen Kirche in der Gegenwart, in: AKZs 1 (1860), Heft 1, 5 – 34. – Der deutsche Staat, das römische Kirchenthum und der evangelische Protestantismus, in: AKZs 1 (1860), Heft 2, 1 – 30.* – Zu Ph. Melanchthons 300jähriger Todesfeier am 19. April 1860, in: AKZs 1 (1860), Heft 3, 1 – 12. – Die Fortbildung der evangelischen Kirchenverfassung in Preußen, in: AKZs 1 (1860), Heft 4, 1 – 9.* – Die christliche Glaubenslehre auf dem Standpunkte des Gewissens, in: AKZs 1 (1860), Heft 4, 21 – 35. – Zur allgemeinen kirchlichen Lage, in: AKZs 1 (1860), Heft 6, 1 – 11. – Ankündigung zum zweiten Jahrgang der Allgemeinen kirchlichen Zeitschrift, in: AKZs 1 (1860), Heft 10, 1 – 3. – Ankündigung zum zweiten Jahrgang der Allgemeinen kirchlichen Zeitschrift, in: AKZs 2 (1861), 1 – 3. – Kirchliche Betrachtungen, in: AKZs 2 (1861), 5 – 40. – Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen, in: AKZs 2 (1861), 97 – 104. – Christenthum und Zeitgeist, in: AKZs 2 (1861), 353 – 360. – Das Wesen des Protestantismus, in: AKZs 2 (1861), 607 – 618. – Ein Sendschreiben an das verehrliche Comite des evangelischen Bundes in Genf, in: AKZs 2 (1861), 485 – 492. – Vorwort, in: AKZs 3 (1862), 1 f. – Die kirchliche Krise in Deutschland und ihre Lösung, in: AKZs 3 (1862), 3 – 34. – Ein moderner »bekenntnißtreuer« Streittheologe, in: AKZs 3 (1862), 123 – 128. – Spiegelbilder aus der Geschichte der neuesten Theologie, in: AKZs 3 (1862), 225 – 232. – Zur Sammlung, in: AKZs 3 (1862), 277 – 284.* – Die kirchliche Frage und ihre protestantische Lösung, in: AKZs 3 (1862), 469 – 475. – An Herrn Ober-Consistorialrath Dr. Wichern: eine abgenöthigte Antwort, in: AKZs 3 (1862), 527 – 538. – Die kirchliche Lage, in: AKZs 4 (1863), 3 – 39. – Christenthum und Politik, in: AKZs 4 (1863), 169 – 186.* – Die Gewissens-Aufgabe des deutschen Protestantismus, in: AKZs 4 (1863), 564 – 574. – Das Leben Jesu von Ernst Renan, in: AKZs 4 (1863), 620 – 625. – Kirchliche Betrachtungen, in: AKZs 5 (1864), 3 – 28. – Das Charakterbild Jesu, in: AKZs 5 (1864), 145 – 151. – Das Christenthum und die Humanitätsreligion des Herrn Dr. D. F. Strauß, in: AKZs 5 (1864), 225 – 236. – Zur Orientierung über meine Schrift »Das Charakterbild Jesu«, in: AKZs 5 (1864), 523 – 538. – Vorwort, in: AKZs 6 (1865), 1 – 2 .
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– Der Ernst der kirchlichen Lage beim Antritte des Jahres 1865, in: AKZs 6 (1865), 3 – 29. – Die Auferstehung Jesu als Geschichtsthatsache und als Heilsthatsache, in: AKZs 6 (1865), 289 – 304.579 – 592. – Der gegenwärtige Kampf um die protestantische Freiheit, in: AKZs 6 (1865), 472 – 476. – Erklärung: Mit Beziehung auf den neusten Angriff von Seiten des Herrn Dr. D. F. Strauß, in: AKZs 6 (1865), 508 – 509. – Die »wissenschaftliche« Quellenbehandlung der evangelischen Geschichte durch die »gläubige« Theologie, in: AKZs 6 (1865), 526 – 542. – Vorwort, in: AKZs 7 (1866), 1 – 2 . – Zur kirchlichen Lage, in: AKZs 7 (1866), 3 – 29. – Preußen als Hort des Protestantismus, in: AKZs 7 (1866), 377 – 383.* – Zur kirchlichen Lage, in: AKZs 7 (1866), 501 – 508. – Kirchliche Umschau, in: AKZs 8 (1867), 1 – 23. – Die Culturaufgabe des Christenthums, in: AKZs 8 (1867), 73 – 79. – Rez. zu: G. Längin, über die sittliche Entwickelung Jesu, Elberfeld, 1866, Verlag von R. L. Friderichs, in: AKZs 8 (1867), 126 f. – Die Richtungen und Parteien der neueren protestantischen Theologie und ihr Verhältniß zu Schleiermacher, in: AKZs 8 (1867), 141 – 155. – Rez. zu: Wattenbach, W. Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts. Berlin, W. Hertz, 1866. Zweite umgearbeitete Aufl., in: AKZs 8 (1867), 194 – 198. – Ankündigung: D. Schenkel, die gegenwärtige Lage der protestantischen Kirche in Preußen und Deutschland, Mannheim, Tobias Löffler, 1867, in: AKZs 8 (1867), 334. – Die Badische evangelisch-protestantische Generalsynode des Jahres 1867, in: AKZs 8 (1867), 341 – 367. – Rez. zu: J. Spörlein, die christliche Gesellschaftsordnung und die neue Zeit, Nördlingen, C. H. Becksche Buchhandlung, 1866, in: AKZs (1867), 398 f. – Zur Erinnerung an Dr. R. Rothe: erster Artikel, in: AKZs 8 (1867), 529 – 546. – Ueber das Princip der Union. Vortrag, gehalten den 26. September d. J., am zweiten Protestantentag zu Neustadt a. d. Hardt, in: AKZs 8 (1867), 608 – 628. – Zur Erinnerung an Dr. R. Rothe: zweiter Artikel, in: AKZs 9 (1868), 10 – 21. – Die evangelische Kirche in Preußen, in: AKZs 9 (1868), 21 – 29.* – Zur Erinnerung an Dr. R. Rothe: dritter Artikel, in: AKZs 9 (1868), 85 – 99. – Zur Erinnerung an Dr. R. Rothe: vierter Artikel, in: AKZs 9 (1868), 208 – 222. – Rez. zu: Dr. H. Baumgärtner, die Naturreligion oder die allgemeine Kirche, 2. Aufl., F. A. Brockhaus, 1868, in: AKZs 9 (1868), 255 f. – Zum Andenken an Fr. Schleiermacher, in: AKZs 9 (1868), 265 – 269. – Apologetische Selbsttäuschungen, in: AKZs 9 (1868), 334 – 343. – Rez. zu: Frances Baroness Bunsen, a Memoir of Baron Bunsen, drawn chiefly from Family papers, in two Volumes, London, Longmanns, Green and Co., 1868, in: AKZs 9 (1868), 384 – 386. – Rez. zu: P. Hinschius, Professor der Rechte in Berlin, die evangelische Landeskirche in Preußen und die Einverleibung der neuen Provinzen, Berlin, 1868, in: AKZs 9 (1868), 562. – Das päpstliche Bekehrungsschreiben an alle Protestanten und andere Akatholiken, in: AKZs 9 (1868), 577 – 582.
1. Daniel Schenkel
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– Erklärung in Betreff der nachgelassenen Predigten R. Rothe’s, in: AKZs 9 (1868), 602 – 603. – Rez. zu: J. H. A. Ebrard, Wissenschaftliche Kritik der evangelischen Geschichte. Dritte ganz umgearbeitete Auflage, Frankfurt a. M., Heyder u. Zimmer, 1868, in: AKZs 9 (1868), 612 – 614. – Zur kirchlichen Lage, in: AKZs 10 (1869), 1 – 18. – Zur Frage über das Wesen der Religion, in: AKZs 10 (1869), 67 – 81. – Rez. zu: Dr. E. Friedberg, das Veto der Regierungen bei Bischofswahlen in Preußen und der oberrheinischen Kirchenprovinz und das Recht der Domkapitel. Mit sämmtlichen auf die Frage bezüglichen ungedruckten Aktenstücken. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, 1869, in: AKZs (1869), 218 f. – Die kirchliche Reformbewegung in der französischen Schweiz, in: AKZs 10 (1869), 229 – 235. – Der kirchliche Umschwung in Preußen, in: AKZs 10 (1869), 292 – 312.* – Zur kirchlichen Reformfragen, in: AKZs 10 (1869), 350 – 355. – Zur kirchlichen Lage, in: AKZs 11(1870), 1 – 19. – Ein Beitrag zur Pathologie der modernen »Gläubigkeit«, in: AKZs 11 (1870), 86 – 88. – Zur Abwehr, in: AKZs 11 (1870), 140 – 141. – Das vatikanische Concil und die deutsche Reformation, in: AKZs 11 (1870), 229 – 235. – Die gegenwärtige Aufgabe des deutschen Protestantismus in: AKZs 11 (1870), 285 – 288. – Erklärung, in: AKZs 11 (1870), 335 – 338. – Die kirchliche Frage und der Krieg, in: AKZs 11 (1870), 395 – 305.* – Das Christenthum und der gegenwärtige Krieg, in: AKZs 11 (1870), 491 – 497. – Samariterdienst im Krieg. Betrachtungen über Lk 10, 25 – 37 im Gebetsgottesdienst vom 6. September, in der Providenzkirche zu Heidelberg, in: Protestantisches Sonntagsblatt für Religion und Kirche 18 (1870), 137 – 139. – Rez. zu: F. O. Stichart, Erasmus von Rotterdam. Seine Stellung zu der Kirche und zu den kirchlichen Bewegungen seiner Zeit. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1870, in: AKZs 11 (1870), 531 f. – Ein Blick in die Zukunft der deutschen Kirchen, in: AKZs 12 (1871), 4 – 11. – Das deutsche Reich und die deutsche Kirche, in: AKZs 12 (1871), 55 – 60.* – Der historische und der ideale Christus, in: AKZs 12 (1871), 65 – 70. – Rez. zu: Otto Pfleiderer, die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 2 Bde., 1. Band: das Wesen der Religion, 2. Bd.: die Geschichte der Religion, Leipzig, Fues’ Verlag (R. Reisland), 1869, in: AKZs 12 (1871), 154 – 156. – Stiftsprobst von Döllinger und das päpstliche Unfehlbarkeits-Dogma, in: AKZs 12 (1871), 240 – 253. – Rez. zu: Dr. Th. Keim, Geschichte Jesu von Nazareth. 2. Band. Das galiläische Lehrjahr. 1. Lieferung: der galiläische Frühling. 2. Lieferung: Die galiläischen Stürme, in: AKZs 12 (1871), 435. – Das apostolische Glaubensbekenntniß als kirchliche Bekenntnißformel, in: AKZs 13 (1872), 111 – 117. – Das kirchliche Unions-Bedürfniß im Deutschen Reiche, in: AKZs 13 (1872), 287 – 298. 348 – 358. – Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und seine Bedeutung für die neure Theologie, in: PKZ 25 (1878), 426 – 437.
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3. Literatur bis 1900
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Namensregister Albrecht, Christian 60, 122, 124, 138 Anselm, Reiner 187 f., 203, 205 f., 209 Axt-Piscalar, Christine 98, 106, 110, 113 ff., 192, 194 ff., 213 Augustin 31, 219 f. Bähr, Karl 54, 56 ff., 66 Barth, Ulrich 47, 156 f., 162, 187, 201, 203 Baur, Ferdinand Christian 20, 96, 106, 121–128, 134, 130, 137 f., 141, 242, 281 Baur, Jörg 103, 113 ff. Beck, Carl 107, Becker, Josef 53, 61 ff., 65 f., 87 f. Besier, Gerhard 7, 55, 189, 234, 236, 239, 255 Birkner, Hans-Joachim 136 f. Bluntschli, Johannn Casper 73, 85 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 40 Botzenhart, Manfred 42 Bretschneider, Karl Gottlieb 111 ff. Brunner, Peter 243 f., 246 Bunsen, Christian Carl Josias von 51 f., 59, 206 Calvin, Johannes 253, 256, 262 Christophersen, Alf 18 Cochlovius, Joachim 250 Cosmann, Peggy 8 Cyprian 219 f. Deuschle, Matthias 20, 33 Dierken, Jörg 6 Dinkel, Christoph 192, 197 ff., 200, 210, 256 f. Dörfler-Dierken, Angelika 228 Dorner, Isaak August 106, 115–122, 124, 126 f., 129, 134
Dulon, Rudolph 36 ff., 43, 49, 83, 87, 92, 260, 278 Ehmann, Reinhard 6 f., 13, 24, 76, 84 Fagerberg, Holsten 202 ff., 207 Feuerbach, Ludwig 27, 103, 106 Fichte, Johann Gottlieb 100, 157 Fischer, Hermann 122, 124, 136 Fischer, Kuno 34, 46–49, 83, 85 ff., 92 Friedrich, Martin 15, 38, 48, 234 ff. Friedrich von Baden 58, 65 f., 265 Friedrich Wilhelm III. 234–238, 244, 258 Friedrich Wilhelm IV. 48, 52 Fries, Jacob Friedrich 17 Gabler, Johann Philipp 108–112, 115 Gabriel, Paul 109 Gall, Lothar 33, 61 ff., 65, 67, 263, 267 Gass, Wilhelm 6, 13 f., 16, 18, 23 Geck, Albrecht 195, 256 ff. Gerlach, Ernst Ludwig von 33, 48, 52 Gerlach, Leopold von 48, 52 Gervinus, Georg Gottfried 25–29, 36 ff., 46, 49, 52, 86, 251, 278 Gieseler, Johann Karl 18 Gräb, Wilhelm 155, 192 ff. 197, 199 ff. Graf, Friedrich Wilhelm 4, 35, 97, 152, 203 Grane, Leif 3, 15, 97 Grosshans, Hans-Peter 152 Härle, Wilfried 216 f. Harms, Claus 99 Harnack, Adolf von 96 f. Hausrath, Adolf 6, 13, 15, 18, 23, 26, 28, 33 ff., 38, 46 f., 53, 55, 57 ff., 62, 66, 69, 76 f., 82–89
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Namensregister
Häusser, Ludwig 58, 63 f. Hengstenberg, Ernst Wilhelm 19 f., 26, 33, 35, 48, 52, 86 Herms, Eilert 1 Heusler, Andreas 19 ff., 24 Hirsch, Emanuel 3, 7, 14, 19, 99, 107 f., 111, 121 f., 155, 187 f., 190 f., 197, 201 ff. Holl, Karl 163, 281 Holte, Ragnar 4, 105, 112 f., 115 f., 121 Holtzmann, Heinrich 6, 13 f., 16 ff., 21, 23 f., 29, 52, 56, 59, 66, 69, 78, 82, 85, 90, 94 Honecker, Martin 256 Hönig, Wilhelm 1, 5 f., 13 f., 16, 18, 21, 24, 29, 33 ff., 53, 55, 57, 76 f., 88 f., 91 Huber, Ernst Rudolf 66 f., 70, 234, 237, 238 Huber, Wolfgang 66 f., 70, 234, 237, 238 Hundeshagen, Carl 53, 58, 60, 98, 122, 128, 133 f., 138 Hurter, Friedrich Emanuel von 21–23 Im Hof, Ulrich 15 Irenäus 19, 218 f. Jacobi, Friedrich 47 Jähnichen, Traugott 52, 206, 259 Jolly, Julius 66 f., 265 Kant, Immanuel 100, 116, 145, 151, 157 Kluckhohn, August von 58 Koch, Traugott 122 Kreyenbühl, Johannes 91 Krumwiede, Hans-Walter 263 Kuhlemann, Frank-Michael 76 Lamey, August 65 ff., 87 Lämmlin, Georg 190, 192 Landau, Peter 263 f., 267 f. Laube, Martin 184, 187 Lauster, Jörg 105, 114 f., 132 Lepp Claudia 7, 55, 65, 70 ff., 76, 83 ff., 87 f. Liermann, Hans 61, 67 ff. Link, Christoph 187, 190, 192, 200, 203, 205, 208, 252 Lücke, Gottfried Christian 15, 18
Luther, Martin 53, 88, 98 f., 107 ff., 114, 117, 132, 135 f., 139, 163, 204, 222, 250, 253, 281 Marsch, Wolf-Dieter 189 f. Meckenstock, Günter 97, 99 f., 112, 124, 197 Mehlhausen, Joachim 6, 20, 69 Menger, Christian-Friedrich 41 Merk, Otto 108 Mildenberger, Friedrich 7 Mulert, Hermann 21, 36, 46 Müller-Dreier, Armin 99, 104 Nabrings, Arie 205 f., 238 f. Nachtigall, Astrid 48 Nüßlin, August 66 Neuser, Wilhelm 238 f. Nipperdey, Thomas 2, 15, 39–43, 51, 97, 102, 189 Nitzsch, Carl Imanuel 18, 32, 238 Nowak, Kurt 3, 15, 97, 102, 194 Ohst, Martin 18, 137, 192, 194, 197 f., 245 Opitz, Claudia 15 Pannenberg, Wolf hart 7 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 35, 81, 82 Pfisterer, Hans 18, 33 Pfleiderer, Otto 77, 82 Reinhard, Franz Volkmar 107–113 Renan, Ernst 77, 78 Rendtorff, Trutz 184, 187, 191 f., 199 Ringleben, Joachim 1 Ris, Georg 186, 252 Ritschl, Albrecht 107, 108, 110–117 Roca, René 34 Roggenbach, Franz von 65 f., 266 Rohls, Jan 7, 16 f., 19, 79 f., 85, 111, 121, 154, 163, 259 Rose, Miriam 38, 194 Rössler, Dietrich 98 Rössler, Martin 100 f. Rothe, Richard 52, 59 f., 73, 85, 86, 106, 146 f., 157, 218, 228
Namensregister
Rothermundt, Jörg 116 Scheliha, Arnulf von 200, 258 Schenkel, Johannes 15 Schib, Karl 6, 13, 14, 16, 21, 23 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 3 f., 6, 9, 18, 31, 74 ff., 80, 82, 99–102, 106, 111, 116 f., 122, 129, 136–138, 141 f., 145, 148–156, 158 f., 164 f., 170, 173, 186, 191–203, 205 f., 209 f., 213, 226, 231 f., 235 f., 245–249, 254, 256–258, 260 f., 264, 272, 281 f., 285 Schmidt-Biggemann, Wihelm 42 Schoeps, Julius H. 237 f. Schröder, Markus 99, 100 f., 117, 129, 137 Schweitzer, Albert 17, 79 Sanderberger, Jörg f. 20 Sautter, Udo 230, 255, 268, Slenczka, Notger 7 f., 110 f., 122 ff., 138 ff., 159, 162, 182, 187, 204 f., 208, 228, 254 Stalder, Robert Robert 157 Stahl, Friedrich Julius 48, 52, 186, 202–210, 213, 222, 224, 226 f., 232, 237 ff., 248, 254, 259 f., 264, 272, 285 Steck, Karl 121
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Steitz, Georg 143, 163, 175 Stiewe, Martin 235, 236, 245, 246 Strauß, David Friedrich 17, 20, 26 ff., 77 ff., 83, 85 f., 103, 106, 279 f. Twesten, August Detlev Christian 111– 116, 118 Ullmann, Carl 18, 33 f., 55, 57 f., 66 Umbreit, Carl 18 Vicari, Hermann von 61 f., Voigt, Friedemann 18 Wagner, Falk 59 f. Wallmann, Johannes 3, 15, 34, 44, 97, 100 Wesseling, Klaus-Gunther 111 Weirich, Adele 192 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 14, 16 f., 19, 28, 30, 32, 82, 111–116, 119, 278 Wilhelm I. 55, 239, 255 Wolf, Stefan P. 7, 76 Wöllwarth, Wilhelm von 33 Wüstenberg, Ulrich 54
Sachregister Abendmahl 53, 57, 210, 235 f., 238 f., 246–249 Agende 53–57, 59, 236 f. Agendenstreit 53–60, 64–66, 83, 236, 279 Allgemeine Kirchen-Zeitung 47 Allgemeine kirchliche Zeitschrift 60, 90 Amt 102, 104, 185, 188, 190 f., 201, 204, 206–208, 222, 232, 254, 256, 260, 264, 266, 273 Auferstehung 82, 86 Auf klärung 2 f., 5, 39, 97, 99, 189 f., 191, 201, 203, 206, 234 Autonomie 10, 12, 20, 49, 74, 202, 266, 277 f. Bekenntnis 26, 48, 72, 99, 135, 139, 191, 218, 222, 239, 243, 247 Bekenntnisschriften 19, 22, 36 f., 39, 109 ff., 204, 242, 248 f., 278 f. Christentum 5, 12, 17, 26, 28, 30 f., 36, 48, 73, 92, 97, 101–103, 142, 171 f., 178, 250, 231, 234, 202, 215 Christologie 78, 80, 174, 240 Christus 37, 79, 102, 119–121, 130 f., 174, 178, 207 f., 211, 214–216, 219 f., 221 Demokratie / demokratisch 37, 39 f., 43, 46, 58, 204, 255, 257–263, 272 f., 285 Deutscher Kirchentag 70, 250 Deutschkatholiken 25–27 Durlacher Konferenz 63, 65, 68–70, 73, 84 Eisenacher Kirchenkonferenz 70, 250 Episkopalismus 264 Erbsünde 26, 36
Erweckungsbewegung 3 Forschungsfreiheit 50, 53, 86, 251, 271 Freiheit 38, 39–44, 46, 64, 76, 195, 229, 251, 264, 269 f., 284, 286 f. – wahre 6, 40, 45, 76, 182, 280, 283 Frieden 44 f., 64, 213, 251 Gefühl 86, 113, 116, 148, 152–155, 158 f., 164–166, 169–171, 180, 193 f., 219, 225, 229, 246 Gegenwartsinteresse 2, 203, 272 Gemeinde 45, 24, 27, 35, 37, 45, 52, 54–60, 78, 80 f., 103 f., 178, 185, 194, 197, 201, 204, 206, 208 f., 214, 225 f., 232 f., 235 f., 246, 248, 250, 253–267, 273, 284–287 Gemeinschaft 164–172, 180 Gemeinschaft mit Gott 42, 75, 134, 145, 149, 151, 161 f., 166, 168 f., 253, 272, 283, 285 Geist – absoluter 147–151, 154–160, 163, 176, 282 – menschlicher 75, 118, 127, 145–161, 163, 168, 174, 176, 180, 182, 281 – heiliger 199–202, 225, 248, 255 Gewissen 6, 50, 75, 90, 93, 96, 113, 115, 124, 128, 132–134, 139–142, 144 f., 156–177, 180–183, 202, 211–214, 219, 221, 232, 270, 279, 281–283 – ethische Funktion 151, 158–163, 165, 168, 170 – und Glaube 91, 133, 161, 177 f., 181, 212, 223, 229, 254, 270 – religiöse Funktion 157–165, 168–171, 174 f., 177 – Universalität 165
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Sachregister
Gewissensbegriff 6, 8, 10, 95, 134, 142, 156–159, 162, 164 f., 175, 180–182, 212, 268, 281 f., 287 Gewissensfreiheit 24, 52, 61, 68, 83, 85, 123, 125, 170, 185, 242, 269 f., 286 Gewissensrecht 45, 64, 140, 182, 285 Gewissensreligion 10, 74, 142 ff., 163, 179–183, 280 f., 283–285 Gewissenstat 10, 95, 134–142, 180, 280 f., 284 Glaube 17–19, 26, 28, 32, 40–43, 50 f., 90 f., 110, 112, 114–123, 125, 128–130, 133 f., 143, 177 f., 181, 200, 205, 208 f., 211–230, 232, 245, 247, 254, 259, 277, 284 Glaubensautonomie 12, 22, 233, 277 f., 282 Glaubensgemeinschaft 44, 172, 220 f., 226–231, 272, 284, 286 Gott 6, 40, 50, 75 f., 93 f., 130, 133 f., 143–145, 148 f., 151, 153, 157–159, 161–164, 166, 168–171, 176 f., 179–183, 199, 207, 209, 211–214, 221 ff., 227, 242, 248, 253, 272 f., 279–283 – und Welt 46, 148 f., 154, 170, 176, 210 f., 281 Gottesbewusstsein 75, 90, 145, 148, 158–160, 165, 282 Gottesdienstordnung s. Agende Gotteserfahrung 272, 281, 284 Gottesverhältnis 129, 141, 159, 172–174, 185, 209, 217, 220–222, 224, 252, 273, 282–285 Heilsbedürfnis 75, 124, 143–145, 163 Heilsgemeinschaft 130, 144, 174–176, 180, 213, 215, 221 f., 284 Heilsoffenbarung 22, 31, 120, 127 f., 177 Heilstat 27, 127, 129, 130, 133 f., 177 f., 279 Hierarchie 22, 37, 44 f., 79, 83, 103 f., 135, 140 f., 180, 182, 219 f., 224, 248, 253, 273, 277 f., 282, 284 f. Idealismus 3, 72, 100 Institution 2, 24, 37, 42, 76, 190, 197, 202 ff., 213, 222–224, 227–229, 254, 260, 265, 268, 273
Jesuitismus 43 f., 48, 71 f. Jesuitenmission 34, 44, 55, 102 f., 179 Katholizismus – Anti-Katholizismus 21 f. – liberaler 251 f. – ultramontaner 5, 34, 44 f., 72, 87, 92, 103, 231, 251, 269 f., 277 f. Katholizität 10, 171–179, 181, 185, 232, 269, 282 Kirche – Eigenschaften 214 ff. – und Gesellschaft 194–197, 202 f., 209, 274 – sichtbare – unsichtbare 42, 185–191, 196–210, 213, 216–219, 222–233, 250, 252–254, 272, 274, 284–286 – und Staat 37, 43, 44 f., 62 f., 66 f., 73, 90, 188–192, 205 f., 228, 257–272 – wahre 129, 180, 185 f., 191, 193 f., 196–201, 210–232, 271 f., 284–286 Kirchenregiment 88, 190, 207, 238, 257–259, 263–267, 273, 285 Kirchenverfassung 8, 10, 37, 45, 67–70, 76, 141, 169, 189, 205, 252–267, 272 f., 284 f. Kollegialismus 203, 206, 257, 264, 267 Konfessionalismus 5, 20, 49, 93, 135 Konkordatsstreit 53, 61–68, 73, 83 Konservativismus 42–44 Kulturkampf 34, 44, 62, 67, 179 Kultus 32, 57, 168, 170, 223, 226–229, 254 Lehre 36, 45, 49, 50, 65, 73 f., 78, 116, 138, 167 f., 170, 191, 207, 218, 222 f., 225, 241–243, 247–253, 273 Lehrfreiheit 33, 36, 47 f., 64, 84 f., 87–89 Liberalismus 2, 33, 38–42, 44, 62 f., 65, 92 Materie 146 f., 154 Menschheit 32, 50 f., 92, 128–130, 134, 143 f., 165, 167, 172–179, 181, 183, 202, 211–213, 215, 217, 225, 227 f., 282, 284 f. Nationalismus 39, 41 f., 51
Sachregister
Nationalkirche 69, 72, 74, 250, 286 Natur 146–150, 154 Offenbarung 8, 12, 18, 27, 84, 91, 99, 103, 112, 114, 144 f., 171–181, 213, 225, 242 Orthodoxie, kirchliche 6 f., 28, 48 f., 52, 55, 72, 87, 92, 102 f., 120, 150, 202 f., 222, 224, 231, 277 Pantheismus 46, 47 Parität 44, 55, 63, 66, 230, 270, 274, 286 Paulskirchenversammlung 37, 44, 48, 61, 67, 230, 255, 268 Pietismus 3, 234 Predigerseminar 34, 60, 76, 84, 88 f. Presbyterialverfassung 69, 72, 74, 76, 255–258, 261 f., 285 Priestertum aller Gläubigen 32, 45, 50, 56, 178, 195, 204, 208 f., 253, 256, 258, 261 f., 269, 273, 282, 285 Prinzip – christologisches 126 f. – demokratisches 37, 39, 58, 255, 258, 272, 285 – Formal- und Materialprinzip 31, 105–123, 125–133 – politisches 231, 159, 271 – des Protestantismus 50, 95, 98, 104–134, 179 f., 222–224, 240–244, 276, 280 – Schriftprinzip 97–99, 110, 114, 117 f., 120, 132, 176 – theanthropologisches 125–134, 173, 179, 279 – Unionsprinzip 50, 126, 248, 250 Protestantenverein 7, 60, 70–74, 83, 85, 240 Protestantismus – und Gesellschaft 2, 9 f., 12, 28, 39, 61, 64, 71, 74, 76, 92 f., 181 ff., 224, 267–271, 280 – und Kultur 5, 9, 61, 71–73, 92, 267–271, 276, 224, 287 – objektives (theologisches) Moment 19–22, 27 f., 31 f., 37, 45, 78, 93, 109, 113, 116, 119–121, 124 f., 127 ff., 277–279
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– Parteien 4, 29, 98 f., 119, 122, 189 – Pluralisierung 4 f., 98–101, 107 – Religion der Freiheit 10, 12, 92, 140, 179 f., 183, 224, 269, 274, 280, 283, 287 – und Staat 9, 36 f., 45, 63–65, 73, 92 f., 267–271, 274 – subjektives (anthropologisches) Moment 19–21, 27, 31, 45, 78, 93, 109, 115, 121, 124 f., 128–134, 277–279 – Wesen 4 f., 8, 10 f., 13, 25–33, 49–52, 64, 74–76, 92 f., 95–105, 122 ff., 127–145, 171–185, 218, 221, 276–287 Rationalismus 2–4, 19 f., 35, 45, 49, 80, 92 f., 97, 99, 103, 107, 110, 127, 150, 190, 206, 243, 277 f., 281 Rechtfertigung 26, 36, 50, 105 f., 108–120, 125, 128, 131–133, 177 f., 223, 240, 249, 259, 269, 282 Rechtfertigungslehre 22, 26, 36, 105 f., 109, 111, 113 f., 115, 117, 120, 125, 128, 132 f., 177 f., 223, 240, 259, 269, 282 Reformation 4, 5, 29, 51 f., 61, 75, 96, 98, 106 f., 109, 123 f., 132, 134–141, 164, 173, 180, 207, 223, 240–243, 250, 268, 281 Reformatoren 29, 49 f., 106 f., 117, 127, 132, 134–142, 180, 221, 234, 240 f., 253 Reichsdeputationshauptschluss 15, 97 Religion 26–28, 31, 51, 61, 64, 142 ff., 149–157, 161 f., 164–174, 181 f., 194–197, 212, 220, 224, 242, 249, 251, 268 f., 282 f., 285 Religionsbegriff 31, 74 f., 96, 142, 145, 151–159, 170–172, 175, 180 f., 192 f., 213 f., 222–224, 231, 248, 269, 272, 281 Religionskritik 99 Religionsorgan 145, 152 Restauration 33 f., 46, 52, 55, 62, 73, 102, 234 Restaurationspartei 48, 52 f., 56, 62, 76, 93, 239
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Sachregister
Revolution – Französische 14, 39, 43, 194 f., 260 – 1848 32 f., 37 f., 45, 48, 55, 92, 97, 189, 237 f., 277 f., 285 Romantik 3 Schenkel-Streit 7, 14, 76–88 Schrift 19 f., 36, 97–99, 110, 113, 115, 118–121, 176–187 – Auslegung 19, 25, 37, 39, 79, 110, 124, 176, 278 – Autorität 20, 50, 110 ff., 118, 178 – Forschung 3, 50, 53, 85, 178, 249, 269, 282 Selbstbewusstsein 75, 90, 124, 143, 146 ff., 152–158, 160–162, 174, 199, 282 Staat 9, 15, 27 f., 38–45, 48, 61–69, 92 f., 182 f., 187, 189, 204, 230–233, 240, 252, 259–263, 271, 274, 287, 286 Staatskirchentum 43, 69, 192, 205 f., 209 Staatskirchenverfassung 66 f. Staatsverfassung 43, 260, 272 Subjektivität 8, 11, 71, 94, 103, 114 f., 118, 121–126, 130 f., 147, 162, 172, 179–181, 224, 251, 274, 278, 284, 287 Sünde 32, 40, 42, 44, 127, 159, 160, 199, 215 f. Supranaturalismus 4, 18 f., 19, 80, 107, 234 Synodalverfassung 69, 72, 74, 76, 255 f., 258, 261–263, 285
Territorialismus 205 f., 264 Theologische Studien und Kritiken 18 Toleranz 26, 64 f., 194, 202, 229 f., 251, 269 f., 274, 286 – Kirchenunion 30, 48–50, 53, 56 f., 72 f., 99 f., 105 f., 126, 131, 234–252, 273 f., 285 f. Union s. Kirchenunion Unionskirche 50, 57, 90, 233, 285 f. Unterricht 62 f., 271 Vermittlungstheologie 2, 18, 28, 48, 56, 85, 116, 279 Vernunft 39, 97, 99, 110 f., 127, 147, 149–153, 155, 156 f., 159 f., 160–172, 180, 182 Volk 27, 40 f., 51, 71, 92, 104, 183, 231, 233, 250, 252, 262, 271 Volkskirche 70, 72–74, 262 f., 265–267 Wahrheit 12, 21, 32, 42 f., 71, 93, 97, 116, 118, 125, 129 f., 143, 173 f., 179, 183, 204, 208, 213, 221, 232, 278 f. Welt 140, 147 f, 150 f., 154, 157, 161 f., 166–168, 180 f.,200 f., 202, 226–229, 232, 274, 268 Weltbewusstsein 158 f. Wiener Kongress 15, 41, 97 Wille 147, 149–153, 155–157, 159 f., 166, 168–172, 180, 219, 223 Wunder 79–81, 86