Geschichtskritik nach ›1945‹. Aktualität und Stimmenvielfalt [1. ed.] 9783787344345, 9783787344352


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German/English Pages 600 [601] Year 2023

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Geschichtskritik nach ›1945‹. Aktualität und Stimmenvielfalt [1. ed.]
 9783787344345, 9783787344352

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GESCHICHTSKRITIK NACH ›1945 ‹ BU R K H A R D L I EB S C H ( HG .)

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BURKHARD LIEBSCH (HG.)

GESCHICHTSKRITIK NACH ›1945‹ Aktualität und Stimmenvielfalt

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Für Benjamin, Freja, Solvy, Emilio und ihre Zukunft •

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4434-5 ISBN eBook 978-3-7873-4435-2 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG); Projektnummer 458118637 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover Umschlagabbildung: Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Dieter und Si Rosenkranz, Foto: Jens Ziehe, Berlin © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§&53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Layout, Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r Hard

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Vorwort Wer zurück sieht, ist verloren. Horst Krüger1 Der Schrecken hält höchstens für zwei Generationen. Christiane Hoffmann2 So eilig und flüchtig, so schattenhaft und sorglos, das heißt verantwortungslos lernten wir leben. Wahrhaft leicht fiele uns ein plötzlicher Untergang. Wjatscheslaw Iwanow3

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ie Zeit liegt nicht sehr weit zurück, in der das Attribut »historisch« zu den am meisten missbrauchten und infolgedessen auch abgenutztesten zählte. Zwischen 1933 und 1945 wähnten die Machthaber des sogenannten Dritten Reiches, so ziemlich alles, was ihnen in den Sinn kam, sei gewiss von »historischer« Bedeutung, wie Victor Klemperer in seinem Bericht über die lingua tertii imperii schreibt.4 Grund genug, sich zurückzuhalten in dieser Sache und nicht gleich alles, was einem seit dem Untergang des NS-Regimes in der eigenen Lebenszeit als einschneidende Zäsur oder als epochaler Bruch vorkommt, nun in erklärtem Gegensatz zu nazistischer Propaganda ›historisch‹ überzubewerten – um womöglich wenig später feststellen zu müssen, dass das Fleisch der Geschichte bzw. derer, die unvermeidlich geschichtlich existieren, wie es die Hermeneutik seit Wilhelm Dilthey lehrt, übersäht ist mit Blessuren und Rissen, Einschnitten, Brüchen und Desastern, nur gelegentlich unterbrochen von hoffnungsvollen Geschichtszeichen wie etwa dem Fall der Mauer im Jahre 1989 und den daraus sich ergebenden Folgen bis hin zur inzwischen brutal ernüchterten Aussicht auf Überwindung des Kalten Krieges. Die mit diesem Zeichen verknüpfte Hoffnung auf dauerhafte Pazifizierung wenigstens der europäischen internationalen Verhältnisse ist durch die katastrophale Beendigung der euphemistisch viel zitierten Friedenszeit in Europa, deren Apologeten die u."a. im ehemaligen Jugoslawien, in Tschetschenien und Georgien verübte Gewalt nicht selten großzügig ignorierten – vom Nahen und Mittleren Osten einmal ganz abgesehen –, infolge des verbrecherischen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wohl für lange Zeit zunichte gemacht worden. Allseits besinnt man sich  Krüger (1990: 193).  Hoffmann (2022: 213). 3 Iwanow (o."J.: 41). 4 Vgl. Klemperer (262015: 57), sowie Faye (2009, 133–156). 1

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Vorwort

deshalb auf die angebliche Unumgänglichkeit, auch liberale, republikanische und demokratische Staaten wieder ›stark‹, resilient und wehrhaft zu machen5 – auch um den Preis, in ein fatales Souveränitäts- und Machtstaatsdenken zurückzufallen, das sich von Feinden das »Gesetz« vorgeben lässt, wie man sie überleben kann – nämlich nur so, dass man im ›Ernstfall‹ zu allen verfügbaren Mitteln gegen sie greift, auch zu den äußersten. So steht es ja in der in diesen Dingen allen waffentechnischen Innovationen zum Trotz bis heute aktuellen Kriegstheorie von Carl v. Clausewitz zu lesen.6 Kurz bevor dieses Vorwort geschrieben wurde, hat Vladimir Putin (inzwischen mehrfach wiederholte) atomare Drohungen gegen den Westen ausgestoßen, wo man die eigenen Hände in dieser Hinsicht allerdings seit 1945 gewiss zu keiner Zeit in Unschuld waschen konnte. (Man denke nur an die nuklearen Pläne des amerikanischen, glücklicherweise rechtzeitig entmachteten Generals Douglas MacArthur im Koreakrieg oder an die Kubakrise, als John F. Kennedy die strategischen B-52Bomber der USA zum Alarmstart bereit machte.) Das Gleiche gilt für die politische Gegenwart, wie bereits ein flüchtiger Blick in aktuelle Dokumentationen geltender Militärstrategien beweist.7 Allseits sieht man sich darauf zurückgeworfen, dass alle politischen und technischen Fortschritte binnen Kurzem Makulatur werden können, die man wie den Verzicht, zu Mitteln eines Angriffskrieges zu greifen, der seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 als völkerrechtlich kriminalisiert gilt, bereits für irreversibel gehalten hat. Vielleicht ist das im Hinblick auf unsere Vorstellungen davon, wie sich Geschichte vollzieht und was es mit ihr und mit uns, die wir geschichtlich existieren, langfristig auf sich hat, allerdings eine ›allzu menschliche‹ Sicht der Dinge. Sollten wir nicht längst wissen, dass jede(r) dazu verurteilt ist, früher oder später unterzugehen (fragt sich nur, wie, sei es palliativ versorgt, sei es einsam verreckend zwischen rauchenden Trümmern…), so dass nichts und niemand überleben kann, auch die vermeintlich stärksten Mächte, Imperien und Reiche nicht, deren ruinöse Hinterlassenschaft weltweit zu besichtigen ist? Hegel, der bis heute wichtigste Verfechter einer komprehensiven, scheinbar nichts draußen lassenden Theorie der Geschichte, hätte das freilich nicht als Einwand dagegen gelten lassen, dass es in der Geschichte vernünftig zugeht, war er doch davon überzeugt, dass sich der Geist, der sie von Anfang an gleichsam beseelt, wie er meinte, aus der Asche jedes Desasters wieder wird erheben können.8 So, wie es dieses, aus Hegels Sicht tiefsinnigste Bild abendländischer Metaphysik nahelegt, könnte es sich auch mit Europa und der ganzen Welt verhalten: Möglicherweise wird man nach desaströser Gewalt irgendwann wieder ganz von vorn anfangen müssen, ungeachtet allen Widersinns, der gerade darin liegen mag.  Vf. (2022).  Clausewitz (41994: 25). 7 Vgl. www.The-rise-of-us-nuclear-primacy; Kroenig (2018). 8 Hegel (1994: 35). 5

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Vorwort

Aber wer ist ›man‹? Künftige Überlebende, die sich wieder den gleichen Illusionen hingeben werden, es sei ›sinnvoll‹, auf nachhaltige Fortschritte vor allem sozialer, politischer und rechtlicher Art zu bauen, obgleich eine solche Vorstellung der ›Bewirtschaftung‹ von Geschichte längst hinlänglich widerlegt zu sein scheint? Oder lässt sie sich gar nicht ›endgültig‹ widerlegen, weil man künftiger Geschichte in keiner Weise vorgreifen kann, in der es immer ›anders kommt‹, wie es sprichwörtlich heißt? Bedeutet das, dass wir angesichts eines solchen Triumphs der Kontingenz mit Jean-Luc Nancy von einem generellen »Rückzug des Sinns aus jeglicher geschichtlichen Bedeutung« auszugehen haben?9 Spricht man von einem solchen Rückzug aber indifferent − oder vielmehr gerade deshalb, »weil noch nicht alles gleichgültig« ist, wie Václav Havel im Kontext ihm als »absurd« erscheinender politischer Verhältnisse schrieb?10 Dafür spricht, ungeachtet der vielfältigen Bedeutung des Begriffs ›Sinn‹ selbst, in der Tat eine nach 1945 verbreitete Literatur der Verzweiflung, an die denn auch hier zu erinnern ist. Sie hat sich, schwerstens durch willkürliche Internierung, Bombardierungen, vielfache Traumatisierung, Flucht und Vertreibung in Mitleidenschaft gezogen, teils mit Verachtung von einer schlechterdings nicht hinzunehmenden Auslieferung an geschichtliche Gewalt abgewandt, die gerade mächtigen Sinnstiftern zur Last zu legen war, die für die Zukunft ihrer Gefolgsleute das Kommen einer besseren Welt in Aussicht gestellt haben. Den tödlichen Preis dafür hatten Andere zu bezahlen, die im Diskurs über die Frage, was Geschichte bedeutet, wie sie widerfährt, wie sie bis auf weiteres zu überleben ist und Überlebenden ihr Überleben selbst zu denken geben muss, bis auf wenige Ausnahmen nicht vertreten sind. Deshalb besteht der Verdacht, alle, die sich zu diesen Fragen überhaupt noch äußern können, seien durch die bloße Tatsache ihres vorläufigen Überlebthabens bereits kompromittiert und dieses könne sich in keiner ›angemessenen‹ Art und Weise zu jenen ins Verhältnis setzen, die nicht überlebt haben und weiterhin sprachlos untergehen. Doch gerade dies wird wiederum von Überlebenden bezeugt, die wir in gewisser Weise alle sind – ohne uns einfach einer Geschichtsverachtung hingeben zu dürfen, die diejenigen zu verraten droht, welche jetzt unter neuer vermeidbarer Gewalt zu leiden haben. Zwischen diesen Polen – zwischen radikaler, teils verzweifelter, teils verächtlicher, teils stoischer Abkehr von jeglicher Geschichtlichkeit einerseits und unbeirrt-weltbürgerlichem, aber auch von Trauer erfülltem Festhalten an künftiger Geschichte in pragmatischer Absicht auf den Spuren Kants ›trotz allem‹ andererseits – bewegen sich die Beiträge zu diesem Band. Und zwar ganz bewusst, ohne sich einem Zwang der Vereinheitlichung in einem synthetischen Zugriff zu unterwerfen. Jegliches tradierte Geschichtsverständnis muss als radikal erschüttertes gelten; und wenn es zu erneuern ist, wie es etwa Paul Ricœur versucht hat, wird es allenfalls überzeugen  Nancy (1987: 105).  Havel (1990: 65, 142, 231, 247).

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Vorwort

können, wenn es die Radikalität des Erschüttertseins nicht leugnet, worauf auch der tschechische, infolge brutaler Polizeiverhöre im Jahre 1977 verstorbene Philosoph Jan Patočka bestanden hat.11 So wäre auch zu verstehen, was Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schreibt: »Was auf dem Spiel steht, ist die Existenz der Geschichte selbst, sofern sie verstanden und darum erinnert werden kann«12 – wenn auch vielleicht nur in einem fragmentierten Erzählen oder in einer an Sprachlosigkeit grenzenden Poetik des Exils, diasporischen Überlebens und Fremdgewordenseins in einer Geschichtlichkeit, der man ›mit Haut und Haaren‹ ausgesetzt ist, aber nicht ›auf Gedeih und Verderb‹ auch derart ausgeliefert sein will, wie es jetzt – wieder – weltweit verbreitete Bilder auch denen vor Augen führen, die sich vom aktuellen Kriegsgeschehen weit genug entfernt glauben. Seit Fotografen wie im Krim-Krieg des 19. Jahrhunderts und Reporter des Vietnam-Krieges den Krieg auch entfernt komfortabel Weiterlebenden in allen Einzelheiten nahegebracht haben, muss es schwerfallen, ihn nicht mehr als unbedingt abzuwendendes Übel zu begreifen. Erst recht nicht, nachdem nun eine Atommacht den Krieg nach Europa hat ›zurückkehren‹ lassen, wie es oft heißt – so als ob der Krieg zuvor nicht als Drohung permanent uns, den Europäern, aber auch allen anderen Bürgern dieser Welt, gegenwärtig gewesen wäre.13 Man denke nur an die nach wie vor keineswegs obsolete Doktrin der mutually assured destruction (MAD). Wenn es möglich ist, dass wir derart auf den Krieg zurückgeworfen werden können, wie es in Europa nun der Fall ist, was haben wir dann überhaupt erreicht? Alles – nicht nur alle politisch-rechtlichen Sicherungssysteme und internationalen Verträge, die Putin gebrochen hat – steht im Lichte dieser Frage nun zu radikaler Revision an. Dabei sollte nicht vergessen werden, wie radikal nach 1945 die Erfahrung, geschichtlicher Gewalt ausgesetzt und ausgeliefert worden zu sein, bereits artikuliert worden ist. Die Frage, ob und inwieweit das überhaupt Beachtung gefunden hat, bricht gegenwärtig wieder auf, wo es scheint, als hätte man auch aus ärgstem Leiden nichts gelernt – wie auch zuvor im Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und angesichts der von den USA im Mittleren Osten völkerrechtswidrig geführten Kriege. Mit einer solchen Bilanz sollte man es sich allerdings nicht zu leicht machen. Auch solches Leiden »verleiht keine Rechte« (Camus 1972: 22); und es taugt auch als vielfach bezeugtes nicht als gegen jegliche Kritik immune Berufungsinstanz. So bitter das manchen erscheinen mag: Es bleibt auf Bewahrheitung, Verifikation und Rektifikation durch Andere rückhaltlos angewiesen.14 Zudem wäre zu fragen, von welchem ›man‹ im Lernen aus Leiden überhaupt die Rede sein kann, das seit Aischylos’ Agamemnon nicht selten bloß als Stereotyp zitiert wird (πάθει µάθος). Soll von den Erben des europäischen und amerikanischen Kolonialismus und Imperialismus die Rede sein? Oder von den Überlebenden der nazistischen Konzentrations Vgl. Ricœur (2004); Patočka (2010: Kap. 6).  Arendt (31993: 34). 13 Vgl. Taureck, Vf. (2020). 14 Vgl. Vf. (2012). 11

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Vorwort

und Vernichtungslager? Oder (auch) von denen, die sich im Zeichen geschichtlicher Verantwortung in deren Nachfolge situieren? Oder (auch) von jenen, die erst seit wenigen Jahren überhaupt die Chance haben, ihre eigene Vorgeschichte angesichts der von Nazis und Stalinisten hinterlassenen osteuropäischen bloodlands in Verbindung mit nüchterner Historiographie zu erinnern (Snyder 2010)? Stehen wir nicht erst am Beginn eines langen Prozesses mannigfaltiger lateraler Verflechtungen zwischen vielfach versehrten Geschichten und Gedächtnissen, die neue Gewalt heraufzubeschwören drohen, wenn sie isoliert und auf eigenes Leiden fixiert bleiben? Ganz bewusst werden hier ohne fragwürdige Syntheseversuche und ohne abwegigen Vollständigkeitsanspruch Ausschnitte aus der Vielfalt teils verzweifelter, teils konstruktiver Stimmen vergegenwärtigt, die sich mit Problemen radikaler Geschichtskritik nach 1945 auseinanderzusetzen hatten – wobei die Kritik gelegentlich von der Erfahrung einer bestimmten Geschichte, ihres Verlaufs und ihrer Deutungen zur Kritik an der Verstrickung in jegliche Geschichte bzw. in die spätestens seit Dilthey für hermeneutisch unhintergehbar gehaltene Geschichtlichkeit selbst vorstößt und somit die radikale Frage Aldous Huxleys aufwirft, wie man ihr je entkommen können sollte. »Every reasonable person should try, so far as he can, to escape from history − but into what?«15 Ist das ›Privatsache‹, oder geht diese Frage der Flucht und des Entkommens aus jeglicher Geschichte und Geschichtlichkeit alle an? Geschichtskritiker haben nicht nur die »bisherige Geschichte« (Alfred Weber) zu revidieren verlangt, sondern darüber hinaus dazu verleitet, den Begriff ›der‹ Geschichte, ihrer Einheit und Finalität ganz und gar zu verwerfen. Stimmen, die das bezeugen, kommen hier ebenso zu Wort wie Ansätze zu trotz allem16 konstruktiven Theorien der Geschichte und zur Kritik der mit ihnen erhobenen Geltungsansprüche, denen wir heute abverlangen müssen, sich zu vorgängigen Erfahrungsansprüchen aufgeschlossen zu verhalten, seien es auch finstere, die uns aus der Nacht erreichen, in der Millionen untergegangen sind. Ohne tiefstes Erschrecken angesichts dessen, was unsere verrückte Spezies an Gewalt gerade gegen Wehrlose hervorgebracht hat und immer neu hervorzubringen droht, ist spätestens seit 1945 kein Geschichtsdenken mehr möglich – jedenfalls keines, das sich nicht einer ignoranten Beschönigung geschichtlicher Erfahrung schuldig macht und insofern seinerseits keine Zukunft haben dürfte. Welche ›Schlussfolgerungen‹ daraus zu ziehen wären, steht immer noch dahin. Bis heute wissen wir nicht einmal sicher, wie ein Staat einzurichten wäre, der wenigstens glaubhaft versprechen könnte, die Schwächsten (bzw. diejenigen, die man als Diskriminierte überhaupt erst zu Hilf- und Wehrlosen gemacht hat) wirksam gegen die vernichtende Gewalt Anderer zu schützen. Wer glauben macht, ›Demokratie‹ sei auch auf diese Frage die längst gefundene Antwort, irrt  – zumindest  Huxley (1960: 217).  Ricœur (2016: 31) spricht mit Blick auf die menschliche Gewaltgeschichte geradezu von einer »lange[n] Litanei der ›Trotz alledem‹«. 15 16

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Vorwort

insofern, als bislang keine derartige politische Lebensform ohne radikale Selbstgefährdung denkbar ist. Auch als gegen ihre erklärten inneren und äußeren Feinde verteidigte ›offene‹ Gesellschaft neigt sie allzu leicht dazu, sich in ein geschlossenes, exklusives und identitäres System zu verwandeln. Und dass sie sich so oder so weder auf eine arché noch auf ein télos glaubhaft berufen kann, um auf diese Weise verlässlichen Halt zu finden, erspart uns nicht den Versuch, inmitten zwischenzeitlichen, radikalem Dissens ausgesetzten Lebens neu zu bestimmen, wie und was wir einander ›geschichtlich‹ angehen – wir, denen keine Anthropologie und keine Transzendentalphilosophie, keine Sozial- und keine Geschichtswissenschaft jemals ›in letzter Instanz‹ darüber Auskunft geben wird, was und wer wir im Verhältnis zu einander sind, sein und (nicht) werden wollen bzw. sollten. Wie es scheint, lässt sich das allenfalls aus und in unseren Verhältnissen zueinander ermitteln, wobei der Erfahrung des Erschreckenden, von Terror und äußerster Gewalt die Bedeutung eines negativistischen Leitfadens in der Erkundung dessen zukommen könnte, was für uns unannehmbar ist – und wer in diesem Zusammenhang ›wir‹ ist. Eine geschichtliche Gemeinschaft, der das einfach zu entnehmen wäre, ist nirgends in Sicht, derart tief reicht die Zerrüttung der menschlich-unmenschlichen, bürger- und nachbarschaftlichen, internationalen und globalen Lebensverhältnisse, deren künftige Besserung allenfalls unter der Voraussetzung einer schonungslosen Bestandsaufnahme einer bis auf weiteres nur noch gebrochen vorstellbaren Zugehörigkeit zu gemeinsam geteiltem Zusammenleben dürfte gelingen können, wenn überhaupt. Aber ist das Erschreckende überhaupt ›erfahrbar‹? Lässt es sich nach bewährtem Vorbild generell unter geschichtlicher Negativität subsumieren, aus der noch dialektisches Kapital zu schlagen wäre?17 Die in der Form eines Exposés zunächst aufgeworfene Frage, welche Autorinnen und Autoren sich nach 1945 ›geschichtskritisch‹ zur Zeit vor und nach 1945 geäußert18 und sich von diesem Datum her geschrieben haben19, wie man in Anlehnung an Paul Celan sagen könnte, wird in den hier versammelten Beiträgen ganz unter Vgl. Angehrn, Küchenhoff (Hg. 2014).  Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht ist in diesem Band die bereits 1943 verstorbene Simone Weil, deren Aufzeichnungen sich jedoch teilweise »als Vermächtnis an die Nachkriegszeit lesen« lassen, wie es im Beitrag zu ihrem Werk heißt. 19 Mit Blick auf Georg Büchners Erzählung Lenz, wo es heißt, dieser Einsame par excellence sei am »20. Januar […] durchs Gebirg« gegangen (Büchner 1978: 101), fragt Celan anlässlich seiner 1960er Büchner-Preis-Rede wörtlich: »Schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?« − auf einem »Weg des Unmöglichen«, der poetisch danach sucht, ob »noch ein Anderes frei« wird (Celan 1981: 96, 102/1968: 142, 148). In seinem Nachwort zur Anthologie Jahrhundertgedächtnis münzt Harald Hartung (1998: 440) diese Fragen auf den 20. Januar des Jahres 1942, den Tag der berüchtigten Wannseekonferenz, und suggeriert mit Blick auf die deutsche Poetik der Nachkriegszeit indirekt, das ›Datum‹ 1945 sei die Markierung eines »ungeheuern« Risses, der sich, wie es in Büchners Erzählung heißt, in der »Welt« aufgetan hat (Büchner 1978: 120). Celan aber stößt uns auch auf die Frage, welchen Daten wir uns auf solche Weise »zuschreiben« und welche Daten wir uns dabei womöglich aneignen. Das kann offenbar auch so gesche17

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Vorwort

schiedlich aufgegriffen: teils in der Form eines informativen Steckbriefs, der die Betreffenden vorstellt, teils in der Form einer persönlichen, politisch oder auch religiös motivierten Stellungnahme, teils in Form eines Essays ganz ohne Anmerkungen, wie sie sonst üblich sind, teils in der Form einer komplex angereicherten historischen Situationsbeschreibung und Diagnose. So zeigt dieser Band auch, wie unterschiedlich die Einzelnen mit der Aufgabe umgegangen sind, sich mit ihren Beiträgen ihrerseits zu einer Zeit außerordentlicher geschichtlicher Umbrüche zu verhalten, in der wir weniger denn je wissen, wie es weltweit, mit ›uns‹, mit Europa, mit der Menschheit ›weitergeht‹ und was für die eigene Gegenwart und Zukunft das bisherige Geschichtsdenken in dieser Hinsicht lehrt, das nach 1945 in zum Teil radikalisierter Form vertreten, aber auch förmlich als unhaltbar verworfen worden und durch ein ganz anderes ersetzt worden ist. Man denke nur an Michel Foucaults Archäologie des Wissens oder an die serielle Geschichtsschreibung der (bereits 1929 gegründeten) Annales E.1S.1C.20 in Frankreich, wo die Geschichtstheorie ohnehin in enger Nachbarschaft zu anderen Wissenschaften wie der Physik und der Biologie und deren epistemologischer Geschichtlichkeit steht, wie gerade Foucaults Bezugnahmen auf Gaston Bachelard und Georges Canguilhem deutlich machen.21 Hinsichtlich der Form und des Stils der Auseinandersetzung mit Geschichtskritik nach ›1945‹ sollte vor dem aktuellen Hintergrund jener Fragen bewusst großer Spielraum bleiben. Dabei wartet kaum jemand mit ohne weiteres verallgemeinerbaren Lehren auf. (Vielleicht mit der Ausnahme Karl Poppers.) Im Vordergrund steht stattdessen eine breit angelegte, aber sicher bei weitem nicht erschöpfende Vergegenwärtigung der Vielzahl heterogener geschichtskritischer Reaktionen, die nach 1945"festzustellen waren  – vielfach im Zeichen der vom sogenannten Dritten Reich angerichteten Desaster, aber auch der Ost-West-Konfrontation, die bis heute tiefe Spuren in geteilten Gedächtnissen und Geschichten hinterlassen hat und nach dem auf die Auflösung der Sowjetunion folgenden Intermezzo ca. zweier Jahrzehnte erneut droht. Positionen der Geschichtskritik, an die hier erinnert wird, wären angesichts dieser Drohung, die die Möglichkeit eines Dritten Weltkrieges wahrscheinlicher denn je macht, heute gewiss neu zu beurteilen. Das aber muss anschließenden Projekten überlassen bleiben. Der naheliegenden Versuchung, die Vergegenwärtigung mehr oder weniger radikaler Geschichtskritik unvermittelt mit einer kritischen Beurteilung unserer Gegenwart kurzzuschließen, wird hier mit Bedacht nicht nachgegeben. Nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil das hier vergegenwärtigte geschichtskritische Denken und Schreiben unverkennbar einen westeuropäischen Bias aufweist22, der nach Korrektur und Ausgleich verhen, dass man sie sich auf fragwürdig enthistorisierende Art und Weise zu eigen macht. (Nachbemerkung am 20. Januar 2023.) 20 Vgl. Bloch, Braudel, Febvre u."a. (1977); Ricœur (1980); Middell, Sammler (Hg.; 1994). 21 Siehe dazu Foucault (1981: 269−274). 22 Möglicherweise auch einen spezifisch deutschen. Ebenso wie die Rede von Geschichtlichkeit ist das Geschichtliche ein relativ junger, erst im 19. Jahrhundert zur Geltung

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Vorwort

langt23 − und zwar zu allererst durch Andere, keinesfalls nur durch eine sich permanent selbst überbietende, an sich nicht zu verachtende, aber doch zur Hybris neigende europäische Selbstkritik, die die Stimme der Anderen glaubt selbst antizipieren und integrieren zu können. Nicht einmal der westliche Kolonialismus und das brutale Erbe der Versklavung Fremder können bis heute im Geringsten so als ›aufgearbeitet‹ oder gar ›bewältigt‹ gelten, dass deren Stimmen genügend zur Geltung gekommen wären. Auch die sich inzwischen anbahnenden Auseinandersetzungen mit diesen Problemkomplexen werden möglicherweise von dem Eingeständnis geprägt sein, dass alles Reden von Bewältigung allzu oft nur auf eine unannehmbare Verharmlosung dessen hinausläuft, wie Andere geschichtlicher Gewalt ausgeliefert waren und erneut zum Schweigen verurteilt bleiben, wo man selbst für sie glaubt sprechen zu können, sei es auch in der besten Absicht. Die Selbstkritik solcher fragwürdig ›bester Absichten‹ muss nicht darauf hinauslaufen, im Gegenzug die Stimmen Anderer kritiklos hinzunehmen. Aber sie sollte sich vorschnellen Verständigungen und angemaßten Versöhnungen widersetzen − in dem Wissen, dass jede(r) in gewisser Weise für immer ein(e) Internierte(r) bleibt, die bzw. der in Lagern interniert war, so wie die Gefolterte eine Gefolterte und der Flüchtling ein Davongekommener bleibt, dessen Flucht möglicherweise nie aufhört.24 Vielleicht wird man sich gerade in der Einsicht, dass der Schmerz irreversibler Verluste niemals mehr verschwinden wird, dass man exiliert und fremd bleibt, ohne je ›endgültig‹ anzukommen, weit eher verstehen können als im Geist einer Verständigung und Versöhnung, die all das letztlich für in allen Bedeutungen des Wortes ›aufhebbar‹ hält. Ob es sich indessen so verhält, werden nur anschließende Forschungen erweisen köngekom mener wissenschaftlicher Begriff, der noch Mitte des 20. Jahrhunderts in dem Verdacht steht, eine »typisch deutsche« Angelegenheit zu sein (Bauer 1963: 4"f.). Das hat sich seither vor allem durch die grenzüberschreitende Karriere der Hermeneutik geändert, die ihre Prägung durch einen spezifischen kulturgeschichtlichen Kontext jedoch keineswegs ganz losgeworden ist. Das zeigt sich nicht zuletzt im Werk Ricœurs, dessen hermeneutische Substanz immer wieder unter Berufung auf deutschsprachige Philosophen entfaltet wird. 23 So schreibt Czeslaw Milosz in West und Östliches Gelände (o."J.: 261): »Zum Studium des menschlichen Wahnsinns trägt die Geschichte des Weichsellandes während der Zeit, da es den grotesken Namen Generalgouvernement führte, sehr wertvolles Material bei. Aber ein Verbrechen, das allzu große Ausmaße annimmt, wirkt abstumpfend auf das Vorstellungsvermögen, und deshalb ist in den Chroniken des von den Nazis unterworfenen Europas sicher viel mehr von der Vernichtung des tschechischen Städtchens Lidice und des französischen Städtchens Oradour die Rede als von einem Gebiet, in dem es Hunderte von Lidices und Oradours gegeben hat.« Im Übrigen war der Holocaust nach dem Zeugnis von Tomas Venclova im Nordosten Europas, jenem »größeren Nirgendwo«, speziell im Umfeld Litauens, an das erst seit Kurzem auch im Westen erinnert wird (Vollmer, Zülch 1989), »noch furchtbarer als anderswo« (Venclova 32017: 61, 158, 231). Ähnliches gilt für die stalinistische Zeit (ebd.: 210"f.). 24 Vgl. die von Henning Müller (1994) herausgegebene reichhaltige Anthologie zu den Themen Asyl und Exil; zum Problem der Flucht Vf. (2017; 2019); Piskorski (2013); Ther (2017); Kossert (2020).

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Vorwort

nen, in denen auch zu versuchen wäre, die hier vorgestellten geschichtskritischen Perspektiven viel mehr miteinander zu verschränken, als es bislang der Fall war. Solche künftige Verschränkung könnte dieser Band wenigstens anbahnen helfen. Dem diente auch eine Pilottagung zum Thema, die auf Initiative des Herausgebers im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts zum Werk Paul Ricœurs im April 2022 am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover veranstaltet worden ist. Für finanzielle die Unterstützung danke ich dem Direktor des Instituts, Jürgen Manemann, für logistische Hilfe besonders Sylvia Hergemöller und Robin Wehe. Für das frühzeitig bezeugte Interesse an diesem Projekt danke ich darüber hinaus dem Hamburger Meiner Verlag, namentlich Marcel Simon-Gadhof und Ulla Hansen besonders für das sorgfältige Lektorat sowie Jens-Sören Mann für die umsichtige herstellerische Betreuung. Die Vorbereitung der Drucklegung des gesamten Manuskripts ist zudem wesentlich durch Isabel Helen Wrobel, Alexander Husenbeth, Gianluca Elbert und Jennifer Marie Liebsch unterstützt worden. Ihnen gilt mein Dank ebenso wie Natalie Eder, Ella-Mae Paul, Jan Eike Dunkhase und Eckhardt Lindner für ihre Übersetzungen sowie Birgit Maurer-Porat und Maya Kadishman für die großzügige Genehmigung, eine Aufnahme der Installation Shalechet (Gefallenes Laub) von Menashe Kadishman, die sich im Jüdischen Museum in Berlin befindet, für den Umschlag zu verwenden. BL, im März 2023

Liter atur E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, Zürich G. Bauer, »Geschichtlichkeit«. Wege und Irrwege eines Begriffs M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse G. Büchner, »Lenz«, in: Gesammelte Werke A. Camus, Tagebücher 1935−1951 P. Celan, »Der Meridian«. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises; in: Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden Büchner-Preis-Reden 1951− 1971 C. v. Clausewitz, Vom Kriege, Berlin E. Faye, »Der Nationalsozialismus in der Philosophie«, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Philosophie im Nationalsozialismus M. Foucault, Archäologie des Wissens H. Hartung, »Nachwort«, in: ders. (Hg.), Jahrhundertgedächtnis. Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert, V. Havel, Fernverhör, G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I. Die Vernunft in der Geschichte,

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Vorwort C. Hoffmann, Alles, was wir nicht erinnern, Collected Essays W. Iwanow, Das alte Wahre. Essays, Frankfurt/M. o. J. V. Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart A. Kossert, Flucht. Eine Menschheitsgeschichte M. Kroenig, The Logic of American Nuclear Strategy. Why Strategic Superiority Matters H. Krüger, Das zerbrochene Haus B. Liebsch, Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, WeiZeit-Gewalt und Gewalt-Zeit. Dimensionen verfehlter Gegenwart in phänomenologischen, politischen und historischen Perspektiven Europäische Ungastlichkeit und ›identitäre‹ Vorstellungen. Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen aktuellem Anlass«, in: Scheidewege. Schriften für Skepsis und Kritik. Neue Edition. Band 52 M. Middell, S. Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929−1992, C. Milosz, West und Östliches Gelände, Köln, Berlin o. J. H. Müller (Hg.), Exil – Asyl. Tatort Deutschland. Texte von 1933 bis heute − eine literarische Anthologie, J.-L. Nancy, Das Vergessen der Philosophie Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte J. M. Piskorski, Die Verjagdten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, München P. Ricœur, The Contribution of French Historiography to the Theory of History Gedächtnis, Geschichte, Vergessen Vom Übersetzen Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin Drohung Krieg. Sechs philosophische Dialoge zur Gewalt der Gegenwart, Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa Vilnius. Eine Stadt in Europa, Berlin Aufstand der Opfer. Verratene Völker zwischen Hitler und Stalin, Göttingen

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G ESCH ICHTSKR ITI K NACH > 1 945 < Einleitung Geschichtskritik nach ›1945‹ und deren gegenwärtige Aktualität r Hard

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An Geschichte krank. Dušan Hamšík1 Von nun an bedeutet Existieren Bleiben […] von einer Gastlichkeit […], einem menschlichen Empfang […] aufgetan. Emmanuel Levinas2

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ie angebliche »Rückkehr des Krieges« nach Europa im Februar 2022, der Beginn der Corona-Pandemie im Winter 2019/20, die noch lange nicht ausgestandene, nach wie vor bedrohliche Schatten vorauswerfende Finanzkrise des Jahres 2008, der mehrfache Terroranschlag auf die USA am 11. September des Jahres 2001, der Fall der Mauer im Jahre 1989 – das sind nur einige der markanteren Daten, die man seither als Geschichtszeichen deuten konnte. Zumindest im Westen. Andernorts gehen die historischen Uhren anders. In Afghanistan angesichts der erneuten Machtergreifung der Taliban (2021), in China mit Blick auf die Inthronisierung des Autokraten Xi Jinping (2012/3), in Ruanda seit dem Genozid an den Tutsi (1994), in Russland und seinen Nachbarstaaten in der Erinnerung an das Ende der Sowjetunion (1991), in Israel seit dem Sechstagekrieg (1967), der Staatsgründung (1948) und der vorausgegangenen Shoah, diesem radikalen Exodus …, werden andere Daten ›zählen‹. Das Gleiche gilt mehr oder weniger für verschiedene Generationen überall auf der Welt. Für die Nachkommen verblasst hier wie dort alles, was nicht im kommunikativen, normalerweise allenfalls drei Generationen umfassenden Gedächtnis präsent gehalten wird, früher oder später unvermeidlich, und neue Daten, Wendepunkte und Zäsuren drängen sich auf. Hoch betagte Zeitzeugen müssen erleben, dass sie selbst, mitsamt allem, woran sie sich noch erinnern, bald einer Vergangenheit angehören werden, die möglicherweise in keine später zu erzählende Geschichte eingehen wird. Und der Diskurs der Historiker, der sich dem widersetzt, kann sich am allerwenigsten auf irgendeine bereits feststehende Ordnung stützen, der einfach zu entnehmen wäre, welche geschichtlichen Erfahrungen, Daten und 1

 Zit. n. Kundera et al. (1968: 45).  Levinas (1987: 223).

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Markierungen für wen und in welcher Hinsicht ›zählen‹ oder ›historisch‹ bedeutsam sind bzw. sein müssten. Das heißt nicht, dass in Bestimmungen von Erfahrungen, Daten, Markierungen und Geschichtszeichen pure Willkür herrschen müsste. Denn allen diesen  – stets nur nachträglich möglichen  – Bestimmungen liegt Geschichte als Widerfahrnis, also ›pathologisch‹, voraus. Sie geht den geschichtlich Existierenden zuerst mehr oder weniger gewaltsam unter die Haut, auch buchstäblich wie im Fall von eintätowierten Häftlingsnummern, und verlangt unter bestimmten Bedingungen im Nachhinein nach historischer Einordnung, die stets einordnet, was nicht ›immer schon‹ einer bestimmten Ordnung angehört. So verhält es sich auch mit der Jahreszahl 1945. Sie markiert – abgesehen von den Kapitulationen des sogenannten Dritten Reiches und Japans, die das förmliche Ende des Zweiten Weltkriegs bedeuteten – in kaum zu überbietender, überdeterminierter Art und Weise millionenfache Verletzungen und Verwundungen, Verstümmelungen, Verwüstungen, Todesfälle und Massenmorde, Vergewaltigungen, Vertreibungen, Niederlagen und Befreiungen, Siege und vernichtende Desaster, auf individuellen und sozialen, ethnischen, gesellschaftlichen, politischen und religiösen, nationalen und internationalen Ebenen. Ein derartiges Übermaß diverser Signifikanzen ist mit dieser Jahreszahl verknüpft, dass sie ironischerweise gerade deshalb als eigentümlich leer erscheinen kann. Es will einfach nicht gelingen, mit der Nennung dieser Zahl sogleich europaoder gar weltweit verbindlich Bestimmtes zu verknüpfen. Und ihre Bewertungen gehen derart auseinander, dass man bezweifeln muss, ob sie überhaupt einen Fokus gemeinsamer Bedeutung (im Frege’schen Sinne) aufweisen – wie sich allein schon an der oberflächlichen, aber lang anhaltenden Auseinandersetzung um die Frage erkennen lässt, ob man es mit Rücksicht auf das nazistische »Dritte Reich« organisierter Gemeinheit ›nur‹ mit einer Niederlage, mit einem ›Zusammenbruch‹ oder ›auch‹ mit einer Befreiung zu tun hat, wovon und wie nachhaltig auch immer. Wie weit die Bewertungen auch innerhalb sehr reflektierter Kommentare zum Kriegsende auseinandergehen konnten, zeigt ein im Oktober 1945 mit La fin de la guerre übertitelter Beitrag Jean-Paul Sartres in Les Temps Modernes, wo zu lesen ist, zwar sei dieser Krieg zu Ende gegangen, aber an das Ende der Kriege bzw. des Krieges als solchen könne niemand mehr glauben. War nicht bereits abzusehen, dass immer neue Kriege in der »vollen Tragik der Conditio humana« zukünftig weitergehen würden? Weder daran noch am »Alltagsleben« schien sich unterdessen viel geändert zu haben (Sartre 1985: 74). Sehr bald sind jedoch mit polemischer Verve geführte Auseinandersetzungen um die Frage entbrannt, ob und inwiefern das Jahr 1945 nicht doch eine tiefe, auf diese Weise nicht ›normalisierbare‹ Zäsur in der deutschen, europäischen und globalen Geschichte – und vielleicht in der Geschichtlichkeit eines jeden – bedeutet. In welchem Sinne, ist allerdings bis heute nicht klar, wie u."a. die jüngst wiederaufgelebten Debatten um eine fällige Historisierung des Nationalsozialismus zeigen, bei denen es beileibe nicht nur darum ging, ihn normalisierend in die deutsche Geschichte zu

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Einleitung

»integrieren« (Broszat 1988: 215, 281). Für die Rekonstruktion der vorangegangenen Weltkriege und ihrer Vorgeschichte, der historischen Bedeutung der durch Hiroshima und Nagasaki offensichtlich gewordenen nuklearen Bedrohung, der beiden totalitären Systeme des Nationalsozialismus und des Stalinismus sowie der Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager hat die historiografische Forschung noch Jahrzehnte gebraucht.3 Und dieser Prozess, in dem es nicht zuletzt um die künftige Tragweite jener Zäsur geht, ist bis heute nicht abgeschlossen. Zumal angesichts einer gewissen Renaissance »völkischer«, antisemitischer, rassistischer, nationalistischer und revisionistischer Ideologeme kann man kaum behaupten, er sei ›bloß noch von historischem Interesse‹. Im Gegenteil: Wir haben genug Gründe, von einem Nachleben ihrer genealogischen Voraussetzungen auszugehen, mag es sich heute auch vielfältig anders darstellen als etwa zu der Zeit, als Theodor W. Adorno seine über sie aufklärende Pädagogik entwarf. Ohne besondere Rücksicht auf das Fortwirken einer eminent gewaltträchtigen Genealogie unserer Gegenwart wurde von verschiedenen Seiten gleichwohl mehrfach das viel zitierte »Ende der Geschichte« ausgerufen. Die vor allem von Francis Fukuyama angeheizte Debatte über die Bedeutung dieses Ausdrucks erscheint inzwischen ihrerseits als merkwürdig überholt: Nach 1989, nach der Auflösung des Warschauer Paktes, nach der Auflösung der Sowjetunion und nach dem (vorschnell ausgerufenen) Ende des Kalten Krieges kamen bis hin zum Ausbruch der CoronaPandemie wie eingangs angedeutet bereits diverse Ereignisse in Betracht, die man hinsichtlich ihrer welthistorischen Bedeutung mit der Französischen Revolution vergleichen könnte (Krauß 22015), auf die Kant den Begriff des »Geschichtszeichens« zunächst gemünzt hatte. Weit entfernt, mit einer weltweit vorbildlichen, anderswo nur noch nachzuahmenden Etablierung eines westlichen Typs von Demokratie virtuell bereits ›am Ende‹ zu sein, drohte die Geschichte aller im Zeichen der Globalisierung mehr denn je aufeinander angewiesenen Menschen u."a. durch die 2008 akut gewordene, nach wie vor latent anhaltende Krise eines von allen sozialen Bindungen weitgehend entfesselten Finanzkapitalismus wieder auseinanderzubrechen. Von mehrfach dank neo-imperialer Ambitionen aufflackernden Vorzeichen eines neuen Weltkriegs einmal ganz abgesehen, beschwört auch die vorläufige letzte Pandemie eine weltweite Desintegration herauf, während sie zugleich, nicht nur in der Bereitstellung von Impfstoff, nach globalen Solidarisierungsprozessen verlangt, ohne die man ihr langfristig nicht wirksam wird begegnen können.4 Das Gleiche gilt für die  Zweifellos: Was den NS angeht, hat die Forschung gleich 1946 mit Eugen Kogons Anatomie des NS-Staates, sodann u."a. mit Léon Poliakovs und Joseph Wulfs Das Dritte Reich und seine Diener (1956) und dann vor allem mit Raul Hilbergs Die Vernichtung der europäischen Juden (1961) eingesetzt. Doch selbst dieses Standardwerk wurde erst mit der Verspätung von einigen Jahren nach der Publikation einer günstigeren Ausgabe breit rezipiert. Zum Kontext vgl. Berg (2003). 4 Das betreffende Virus bleibt ja weiter in der Welt; und ihm steht dank noch nicht absehbarer Mutationen möglicherweise noch eine große Zukunft bevor … 3

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Gefährdung weltweiter digitaler Vernetzungen durch virale Prozesse oder durch großflächige elektromagnetische Impulse infolge von Sonnenwinden und nuklearen Explosionen sowie für die ökologischen Konsequenzen eines im Verhältnis zu seinen Kollateralschäden weitgehend ignoranten Wirtschaftens, das unter der Last immer weiter zunehmender Schulden jederzeit zusammenzubrechen droht. So werfen Gefährdungspotenziale ihre Schatten voraus und rufen Solidarisierungsprozesse auf den Plan, zwingen aber auch zu geschichtlichen Rückfragen danach, woher beide jeweils rühren, ob und wie sie ereignishaft Gestalt annehmen (wenn auch nicht unbedingt so prägnant wie eine mit Terror einhergehende Revolution) und inwiefern damit zukunftsweisende ›Zeichen‹ einer Geschichtlichkeit zu verknüpfen sind, die weltweit alle Menschen, ihre Lebensgrundlagen und alle anderen Geschöpfe angeht, die schon so lange von ihnen in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Seit 1945 ist es immer wieder zu Versuchen gekommen, in diesem Sinne geschichtliche Rückfragen, Gegenwartsdiagnosen und teleonome Zukunftsbestimmungen zu integrieren, die inzwischen, im Zeichen des weltweit zu spürenden Klimawandels und der absehbaren Grenzen ökonomischer (Un-)Vernunft5, wieder anders ausfallen als in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als man sich zunächst noch (positiv oder negativ) an Geschichtstheorien orientiert hatte, die aus der europäischen Vorgeschichte vertraut waren.6 Dabei kam es zu erneuten Rückgriffen auf Hegels Geschichtstheorie und auf deren einflussreiche Reaktualisierung durch Alexandre Kojève (im Paris der 1930er Jahre), aber auch zu Rückbesinnungen auf die neuere Geschichte des geschichtstheoretischen Denkens selbst, das sich nach 1945 diesseits des Rheins vor allem angeregt von Friedrich Meinecke, Karl Löwith, Karl Jaspers, Hans Blumenberg, Hanno Kesting, Günther Anders, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Hans Jonas sowie u."a. von Arthur Koestler, Henri-Irénée Marrou, Raymond Aron, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre und Paul Ricœur jenseits des Rheins mit Hilfe des überkommenen Arsenals geschichtstheoretischer Begriffe darum bemüht hatte, zu verstehen, was sich seither zugetragen hat. Wesentlich bereichert, aber auch verkompliziert wurde die Geschichte historischtheoretischen Denkens darüber hinaus inzwischen durch Beiträge zum Verhältnis von Historik und Hermeneutik (von Hans-Georg Gadamer über Reinhart Koselleck bis hin zu Ernst Nolte und Jörn Rüsen), zur Theorie der Narrativität (von Hayden White, Paul Ricœur, Donald Spence und David Carr bis hin zu Jan Ankersmit), zum Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte (von Maurice Halbwachs über Pierre Nora bis hin zu Helmut König, Aleida und Jan Assmann), zu Phänomenen genozidaler Gewalt und desaströser Vernichtungspolitik (von Raphael Lemkin und Hannah Arendt über Robert Antelme und Zygmunt Bauman bis hin zu Maurice Blanchot, Enzo Traverso, Edith Wyschogrod und John K. Roth), zu politischen Praktiken der Versöhnung und Formen des Erinnerns und des Vergessens (besonders nach der  Zu diesem Ausdruck von André Gorz vgl. Mason 2016: 23.  Vgl. bspw. mit Bezug auf R. Aron M. Oppermann (2008).

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Einleitung

Beendigung diverser Gewaltregime in Südafrika, in Argentinien, in Kambodscha usw.). Dabei rückte einerseits immer deutlicher in den Vordergrund, was es heißt, rückhaltlos geschichtlicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Andererseits erschien im gleichen Maße die Frage dringlich, was gegen sie schützt; und zwar vor allem auf der Ebene resilienter institutioneller Strukturen, wie sie noch Jürgen Habermas in seinem Spätwerk Auch eine Geschichte der Philosophie (2019) als Formen politischer Willensbildung ins Auge fasst, die in den 1948 durch die UNO deklarierten Menschenrechten ihren letzten normativen Rückhalt haben und künftiger Geschichte die richtige Richtung weisen sollten. Neben vielfachen Rückgriffen auf die philosophische Begriffs- und Ideengeschichte und weitgehendem Verzicht auf eine der Geschichte unterstellte, immanente normative Finalität, die ihren ganzen Sinn ausmachen könnte7, reflektiert dieses Werk freilich auch das Bewusstsein, dass die aktuellen Probleme, die sich einer im Entstehen begriffenen globalen Welt-BürgerGesellschaft stellen, im überlieferten Geschichtsdenken möglicherweise noch gar nicht angemessen aufgeworfen worden sind und dass sie bspw. nach neuen, zukunftsweisenden ökologischen Konzepten verlangen, die man auch aus einer gegen die technizistische Moderne in Stellung gebrachten Philosophie der Natur nicht ohne weiteres ableiten kann (vgl. Jauß 22015). Dabei gibt sich Habermas’ jüngste Bestandsaufnahme geschichtstheoretischen Denkens mit ihrem Verzicht auf Fortschrittsgläubigkeit und auf jegliches Teleologisieren8 als außerordentlich ernüchtert. Wie schon bei Kant und Hegel erscheint die Aussicht auf künftige, im Einzelnen nicht vorwegzunehmende Geschichte bei ihm als geradezu trostlos und bringt ein existenzielles Missverhältnis zwischen dem Leben der Einzelnen und der absehbaren, bedrohten Zukunft der Menschheit wiederum scharf zu Bewusstsein (vgl. Vf., Taureck 2021). Werden wir schließlich wieder auf eine »terroristische Vorstellungsart« (Kant) der Geschichte zurückgeworfen, gegen die nur eine Eschatologie aufzubieten wäre? Oder ist längst jeglicher eschatologische Horizont der Geschichte verblasst? Bleiben uns nur noch bis auf weiteres zu bearbeitende praktische Probleme, auf deren langfristig sich bewährende Lösung man kaum zu hoffen wagt? Oder triumphiert eine Geschichtsverachtung, die den Sinn für das trotz allem praktisch Erforderliche schwächt, das sich an regulativen Ideen orientieren könnte? Kann diesen noch der ethische Sinn einer »Humanisierung der Zeit« (Ricœur) – wenn nicht der Zeit selbst, so doch ›unserer‹ sozial und politisch geteilten Zeit – bzw. einer über weite Strecken unmenschlich-gewaltsamen Geschichtlichkeit zukommen? Sollte sich daran das menschliche, endliche Selbst orientieren, um sich gegen einen exzessiven Negativismus zu behaupten, der sich aus wehrloser Auslieferung an ein Übermaß des  Vgl. Nagl-Docekal (Hg., 1996).  Damit ist nur der Verzicht auf die Unterstellung einer der Geschichte immanenten Teleologie gemeint, keineswegs aber ein Verzicht auf jeden Versuch, auf ein mehr oder weniger absehbares Ende hin zu erzählen. Vgl. dagegen Schmidt-Biggemann (2018). 7

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Leidens speist, gegen das – Søren Kierkegaard, Ernst Bloch und Jacques Derrida zum Trotz – eine als weitgehend erschöpft geltende utopische Leidenschaft für das Mögliche und für das Un-Mögliche nichts mehr ausrichtet?9 Wie groß die Ratlosigkeit ist, die in dieser Hinsicht herrscht, zeigt u."a. das Nachdenken über das 20. Jahrhundert, das die Historiker Tony Judt und Timothy Snyder in der Form langer Dialoge entfaltet haben. In diesen Dialogen lesen wir: »Wenn du meine Kollegen fragst: Was ist und was will Geschichte? Worum geht es bei Geschichte? Du würdest nur verständnislose Blicke ernten. Der Unterschied zwischen guten und schlechten Historikern ist der, dass die guten auch ohne Antwort auf diese Fragen auskommen, die schlechten nicht« (Judt/Snyder 2015: 264). Von Zielen, Zwecken oder anderen (pseudo-)›teleologischen‹ Konzepten wie Sinn, die man immer wieder auf ›die‹ Geschichte angewandt hat, ist bei diesen Historikern so wenig die Rede wie von Wahrheit – außer einer: »Es gibt eine Wahrheit, die uns sucht (und nicht umgekehrt), eine Wahrheit, die für sich allein steht: Wir alle müssen sterben.« Andere »Wahrheiten«, worum auch immer es sich dabei handeln soll, »kreisen um diese eine wie Sterne um ein schwarzes Loch, heller, neuer, leichter« (ebd.: 17). Doch müsste es für Historiker – und erst recht für diejenigen, die ein ›vergängliches‹, ›vorübergehendes‹ und im Vorübergehen sich vollziehendes geschichtliches Leben leben, ohne ihre und die Geschichte je ganz professionellen Geschichtsschreibern überlassen zu können –, nicht entscheidend darauf ankommen, wer wie stirbt, umkommt oder vernichtet und vielleicht nicht einmal würdig bestattet werden kann? Oder liegt das »Individuum« mitsamt seiner »Seele«, die ihre Definition einst durch den Tod empfing, wie Paul Valéry (1963: 31) seinen Faust im Jahre 1940"feststellen ließ, seinerseits längst auch insofern »im Sterben«, als es wie in pandemischen und demografisch überforderten Zeiten »in der Zahl« seines massenhaften Vor- und Umkommens mitsamt seines ›eigenen‹ Todes zu »ertrinken« droht? Ist davon allemal nur indifferent zu berichten wie von irgendwelchen anderen facts, wie es ein positivistisches Wissenschaftsverständnis lange Zeit nahelegte (Collingwood 1946: 131"ff.)? Stoßen wir an dieser Stelle nicht doch auf eine über die jeweils eigene Sterblichkeit hinausweisende, nach ›Wahrheit‹ verlangende (wenn auch schwache) Verbindung zwischen Geschichte und Ethik, so ›kontingent‹, d."h. hier: nicht (absolut) notwendig und so hilflos sie sich auch immer angesichts einer eminent gewaltsam und anscheinend unsteuerbar weiterlaufenden Geschichte darstellen mag (ebd.: 94"f.)? Beide Historiker wissen, dass man gerade im 20. Jahrhundert immer wieder ›Ethik‹ gegen eine katastrophale Geschichtlichkeit glaubte aufbieten zu müssen – von Emmanuel Levinas’ Apologie unverfügbarer Alterität des Anderen über Karl Jaspers’ und Hans Jonas’ Philosophie(n) der Verantwortung bis hin zu Zygmunt Baumans Postmoderner Ethik (2018). Aber als Historiker verbieten sie es sich selbst,  Zur fraglichen Leidenschaft und zu einem nicht-privativen Begriff des Un-Möglichen, wie ihn Derrida verwandte, vgl. Vf. (2008: Kap. V). 9

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Einleitung

derart ›fachfremdes‹ Terrain zu betreten.10 Diejenigen, die, ohne selbst Historiker zu sein, geschichtlich ›existieren‹ (wenn auch vielleicht nicht mehr so, wie es eine oft klischeehaft zitierte sogenannte ›Existenzphilosophie‹ vor und direkt nach 1945 beschrieben hat11), brauchen sich jedoch nicht derart zu disziplinieren. Und sie können es auch nicht, wenn nichts mehr dafür bürgt, sich gewissermaßen so ›auf der richtigen Seite der Geschichte‹ zu befinden, dass diese nicht gewaltsam über sie hinweg weitergeht, in welcher Zukunft auch immer, und sie zum Schweigen verurteilt. Ist inzwischen weitgehende Desorientierung in dieser Hinsicht eingetreten? Oder kann man sich auf eine kleinteilige »Politik des Verstandes« zurückziehen, die sich damit bescheidet, bis auf weiteres erreichbare praktische Fortschritte sicherzustellen, sei es auch ›nur‹ in der Verhütung des Schlimmsten, vor allem von Grausamkeit, wie es Judith N. Shklars Liberalismus der Furcht empfiehlt?12 Es stehe jedenfalls »außer Frage, daß keines der historischen philosophischen Systeme in der Lage war«, uns »gegen den Schrecken der Geschichte zu verteidigen«, schrieb Mircea Eliade (dem antisemitische und faschistische Affinitäten nachzuweisen sind) in seinem Buch Kosmos und Geschichte kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1949; dt. 1986). Wenn das stimmt, wie sollen wir dann unser Leben überhaupt noch als geschichtliches begreifen, zumal wenn der unerhört gewaltsamen Geschichte kein immanenter Fortschritt im Sinne einer List der Vernunft innewohnt und wenn sie keinerlei Kompensation für äußerste Ungerechtigkeit in Aussicht stellt? Bleibt jede(r) sich letztlich selbst überlassen und dabei auf eine antigeschichtliche Position verwiesen, die womöglich keine praktischen, der Zukunft zugewandten Perspektiven eröffnet? Kann diesen Perspektiven allein ein politischer »Realismus«, wie er etwa von Herfried Münkler angesichts der europäischen Gewaltgeschichte selbst nach Vladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine noch verteidigt wird, oder eine unbedingte Gegenwartsorientierung Rechnung tragen, die sich um künftige Geschichte nicht mehr schert? In dieser komplexen Lage werden in diesem Band Rückbesinnungen auf wichtige geschichtskritische Positionen vorgelegt, die seit 1945 vertreten worden sind; seitens derer, die ›geschichtsphilosophisches‹ Denken für weitgehend obsolet gehalten oder es wie Benedetto Croce »für tot erklärt« haben; seitens derer, die wie Albert Camus das »Urteil der Geschichte« zurückgewiesen oder mit Arnold Gehlen vom Posthistoire, in vager Anlehnung an Hegel vom »Ende« der Geschichte oder von einer vollkommenen Desillusionierung aller Vorstellungen von ›machbarer‹ Geschichte gesprochen haben13; aber auch seitens der Kritiker solcher Rede. Dabei  Vgl. Judt/Snyder (2015: 53"f.).  Vgl. Judaken/Bernasconi (Hg. 2012); Vf. (2018: Kap. IV). 12 Vgl. ebd. 54, sowie Shklar (2013) und zur politischen Theorie Judith N. Shklars auch den Schwer punkt in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 62, Nr. 4 (2014) (Hg. H. Bajohr, B. Liebsch). Zur »Politik des Verstandes« mit Verweis auf Max Weber vgl. Merleau-Ponty (1974: 8). 13 Collingwood (1946/1977: 118"f., 190"ff. zu B. Croce); Broch (1932/1977: 49); Camus (1969: 10 11

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sollte es nicht um eine umfassende Bestandsaufnahme im Sinne einer Historiografie von Geschichtstheorien gehen, die hier keineswegs allein zuständig sind. Die Geschichte ›gehört‹ den Theoretikern nicht. Zunächst ist sie die Angelegenheit derer, denen Geschichte widerfährt (worauf schon Jacob Burckhardt aufmerksam gemacht hat), bzw. derer, die sie »unendlich mehr zu erdulden« hatten, »als daß sie sie machten«. Ungezählte sind ihr zum Opfer gefallen. In diesem Sinne spricht der 2005 verstorbene französische Hermeneutiker Paul Ricœur (1991: 350) den Opfern den Status von »Zeugen par excellence für diese wesentliche Struktur des historischen Seins« zu. Wir, »die wir die monströsen mit dem Phänomen des Totalitarismus verbundenen Ereignisse des 20. Jahrhunderts durchquert haben, haben Gründe, dem unvergleichlich bedrückenderen entgegengesetzten Urteil Gehör zu schenken, das die Geschichte selbst [!] durch den Mund der Opfer verkündet« (Ricœur 1996: 310). Ihrer Erfahrung, sofern sie sich überhaupt aussprechen, aufschreiben und überliefern lassen hat, wäre demnach zuallererst zu entnehmen, was es heißt, rückhaltlos geschichtlich affizierbar, also dem páthos ausgesetzt zu sein.14 Ob vom páthos geschichtlicher Erfahrung überhaupt nachvollziehbare und das Widerfahrene nicht ihrerseits gewaltsam verkürzende Wege zum lógos historischer Diskurse führen, erscheint indessen als radikal fraglich – von Collingwoods The Idea of History (1946) über Ricœurs Histoire et vérité (1955) und Sartres Critique de la raison dialectique (1960) bis hin zu Derridas Specters of Marx (1993). Mit Bedacht konzentriert sich das vorliegende Buch zunächst auf die fruchtbarsten, noch heute zu weiterführender Auseinandersetzung anregenden Positionen, deren Auswahl zunächst den aktiv Beitragenden überlassen blieb. Sie konnten also entscheiden, wo sie das fragliche Anregungspotenzial für die Gegenwart sehen, für das sich auch unsere Nachkommen interessieren könnten. Dabei sollte die Beschränkung auf die Zeit nach 1945 zunächst lediglich andeuten, dass der Schwerpunkt der Arbeit der besprochenen AutorInnen in der Nachkriegszeit (bis heute) liegt und sich zu letzterer auch verhält. Als Vertreter jener Positionen kommen neben den bereits Genannten u."a. folgende höchst unterschiedlicher kultureller und politischer Provenienz in Betracht (ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit): Gerhard Krüger, Jan Patočka, Leszek Kołakowski, Gajo Petrović, Alexander Sinowjew, Arnold Toynbee, Eric Voegelin, Karl R. Popper, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Siegfried Kracauer, Jacob Taubes, August Brunner, Richard Schäffler, Saul Friedländer, Stephan Otto, Johann B. Metz, Christian Meier, Charles Taylor, Tzvetan Todorov, Annette Wieviorka, Edith Wyschogrod und Jean-François Lyotard. Darüber hinaus sind radikale Kritiker ›geschichtsphilosophischen‹ Denkens selbst bedeutsam: von Emmanuel Levinas über Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy bis hin zu Emile Cioran und Karl H. Bohrer. Im Vordergrund sollte jedoch nicht 199"f., 203); Niethammer (1989); Fukuyama (1992); Meyer (1993); Anderson (1993); Furet (1996: 8"ff., 624"f.); Stierle, Warning (Hg., 1996); Bobbio (1999: 38"ff.); Vf. (2007). 14 Zur entsprechenden Vorgeschichte vgl. Goltermann (2017).

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Einleitung

etwa die ›Prominenz‹ der Namen, sondern der Aspekt der gegenwärtig besonders nachwirkenden Irritation stehen, deren zukunftsweisendes Anregungspotenzial erst zu bedenken wäre. Ausdrücklich geht es nicht um eine Art Handbuch, das einen fragwürdigen Überblick oder gar einen ohnehin nicht einzulösenden Vollständigkeitsanspruch suggerieren würde. Im Übrigen stößt man auf wichtige geschichtskritische Impulse auch dort, wo prima facie keinerlei Geschichtsphilosophie betrieben wird. Man denke etwa an Hermann Broch, der das Kriegsende nur um sechs Jahre überlebt hat, an George Steiner und Georges Didi-Huberman oder an freie, disziplinär gar nicht oder doch weitestgehend ungebundene Autorinnen und Autoren wie Wassili Grossman, Charlotte Delbo, Czesław Miłosz, Hans Sahl, Nelly Sachs, Jean Améry, Manès Sperber, Jorge Semprun, Peter Weiss, Anne Michaels und Imre Kertész. Gerade die Schriften von Kertész (1992; 1993; 1999; 2004; 22016) zeigen beispielhaft, dass das viel zitierte ›Vergehen‹ der Zeit, das irgendwann auch die jüngere Geschichte ins Vergangene und Vergessene absinken lassen wird, keineswegs wie ein unabänderliches Gesetz unsere geschichtliche Gegenwart beherrscht. Vielmehr bringen sie eine unaufhebbare Verstörung und ein bleibendes, anscheinend unheilbares Verwundetsein durch in gewisser Weise unvergangene Vergangenheit in unserer Gegenwart zur Geltung, das der Autor schonungslos offenlegt und an keiner Stelle verharmlost, auch nicht durch fragwürdige Aussichten auf eine dialektische Aufhebung oder Versöhnung mit der fraglichen Vergangenheit.15 Erst recht reden Kertész’ Schriften nicht der demnächst einzustellenden »Aufarbeitung« oder einer früher oder später gelingenden »Bewältigung« dieser Vergangenheit das Wort, wonach man so oft verlangt hat – anscheinend ohne zuvor überhaupt verstört und sprachlos geworden zu sein angesichts radikaler und exzessiver Gewalt.16 Nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit ihr sucht man nach dem Zweiten Weltkrieg gerade bei jenen lange vergeblich, die eine Rückbesinnung auf scheinbar unbetroffene Bestände der Überlieferung propagiert haben, um daraus abzuleiten, wie es ›weiter gehen‹ und als wer man sich dabei verstehen soll. Mit solchen Rückgriffen war man nach dem Zweiten Weltkrieg (hierzulande) rasch bei der Hand. Man denke nur an Friedrich Meinecke, der 1947 zum ersten Rektor der neu gegründeten Berliner Freien Universität ernannt worden ist, nachdem er unter dem Titel Die deutsche Katastrophe seine Bilanz des Nationalsozialismus veröffentlicht hatte, an der er gleich im April 1945 zu arbeiten begann.17 Das Jahr 1933 markierte für ihn den Beginn des »allergrößten Unglücks für Deutschland«, das als sogenanntes Drittes Reich in »seine größte Schande« stürzte.18 Meinecke wollte unbedingt begreifen, wie es dazu kommen konnte. Es gelte, so schreibt er, »unser«,  Vgl. Vf. (Hg., 2010).  Vgl. Eggebrecht (1983: 10); Anders (21985: 188"ff.). 17 Im Folgenden zit. mit der Sigle DK nach der Ausgabe von B. Sösemann (Hg.), Friedrich Meinecke. Die deutsche Katastrophe. Edition und internationale Rezeption, Berlin 2019. 18 DK: 25, 59, 136. 15 16

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ohne weiteres auch als »abendländisch« eingestuftes »Schicksal« zu verstehen. Zu diesem Zweck bedürfe »unser herkömmliches Geschichtsbild […] allerdings einer gründlichen Revision«, auch wenn das Jahrhunderte kosten könnte.19 Ob sich Geschichte überhaupt oder primär als »Bild« darstellt, und zwar »uns« (ohne dass dabei klar wäre, wer damit gemeint ist), beschäftigt Meinecke nicht, so tief sitzt offenbar sein Vor-Urteil, es könne hier nur um den Rahmen seiner eigenen historisch-akademischen Bildung gehen. Diese zwingt ihn allerdings zu weit ausholender Bestandsaufnahme »viel älterer« Ursachen der rezenten Katastrophe. So nennt er (a) eine »kulturwidrige«, spätestens seit der Entlassung Wilhelm v. Humboldts und Hermann v. Boyens offensichtliche, ins Militaristische tendierende Erbschaft Preußens;20 (b) den Bruch mit der Goethe-Zeit (DK: 110) infolge einer philosophischen, vor allem auf Hegel zurückgeführten Nobilitierung eines machtstaatlichen Bewusstseins mit machiavellistischer Ausrichtung, in der man sich des Krieges wie einer beherrschbaren Technik glaubte bedienen zu können; (c) einen auf die Spitze getriebenen, schließlich zum »Herrengeist« tendierenden Nationalismus, dem das sittliche und logische Gewissen erliegen müsse  – entsprechend dem Drei-Stadien-Schema Franz Grillparzers: von der Humanität zur Nationalität und sodann zur Bestialität;21 (d) den Bevölkerungszuwachs als die »dynamische Grundtatsache der letzten eineinhalb Jahrhunderte;22 (e) das Aufkommen jener vom Schweizer Historiker Jakob Burckhardt vorausgesehenen terribles simplificateurs, die ein fatales, durch Reichtum und Schnelligkeit bewerkstelligtes »Avancieren« »nach unerreichbarem Menschenglück der Massen« anheizten, wie es schon Goethe und Hegel vorausgesehen zu haben schienen;23 (f) das Zusammentreffen zweier »Wellen«, nämlich der nationalen und der sozialen Fragen (DK: 63), die zu integrieren mehrfach gescheitert sei; (g) eine politisch irregeleitete, über Pseudo-Synthesen nicht hinausgekommene Romantik, die wesentlich zum Ersten Weltkrieg beigetragen habe (mit dessen Beginn Meinecke freilich eingedenk der »Romantik der Augusttage« von 1914 »unverlierbare Erinnerungswerte höchster Art« verbindet);24 (h) politisch kalkulierte Lügen wie die Dolchstoßlegende, mit der man die eigene Verantwortung für die Niederlage 1918 auf Sündenböcke abwälzte, sowie die für den Versailler Vertrag angekündigte Revanche; (i) die »jede Privatexistenz erschütter[nde]« Geldentwertung besonders des Jahres 1923 und die mit ihr einhergehende Schwächung der Mittelschicht als Rückgrat der Weimarer Republik;  DK: 154, 58, 60. Einer derartigen Revision bedürfte es allerdings nicht, wenn sich nach 1945 gezeigt hätte, dass Geschichte ohnehin »absurd« sei, wie man bei Reinhart Koselleck lesen konnte. Zum Kontext der Nachkriegszeit in dieser Hinsicht mit Blick auf Meinecke, Koselleck u."a. vgl. Hoock (2021: 192"ff.). 20 DK: 69, 153. 21 DK: 81, 108. 22 DK: 64, 107. 23 DK: 60, 67, 69. 24 DK: 91, 82"f. 19

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Einleitung

(j) deren Preisgabe »am Stammtisch«, wo sie zuerst zugrunde gegangen sei (DK: 88); (k) ihren keineswegs erzwungenen Verrat durch Männer wie Alfred Hugenberg und Paul v. Hindenburg25, der schließlich als »Fortsetzung von Preußen« erscheinen lassen konnte, was in Wahrheit (l) die »Durchbrüche eines satanischen Prinzips in der Weltgeschichte« zur Folge gehabt haben müsse (DK: 71); (m) die weit verbreitete Ignoranz angesichts dieser schon früh offensichtlichen »Tatsache« (DK: 121); (n) die Singularität der Person Adolf Hitlers sowie die schieren Zufälle, ohne die er, ein »Hochstapler« und »Bankrotteur« mitsamt seines »Verbrecherklubs«, vermutlich niemals an die Macht gekommen wäre;26 (o) die daraus folgende »innere Fremdherrschaft« eines neuen, amoralischen Heidentums, das (p) in seinem »Hass auf das Gewissen«, jegliche Verbindung mit dem Christentum zerschnitten habe; und zwar derart erfolgreich, dass »in den Gaskammern der Konzentrationslager« (aber vielleicht nicht nur dort) »schließlich auch der letzte Hauch christlich-abendländischer Gesittung und Menschlichkeit [ersterben]« musste.27 Zwar erkennt Meinecke entsprechende Vorstadien (q) in gewissen antisemitischen Bewegungen, die schließlich »antihumanitär überhaupt« werden mussten, wie er meint, aber als (r) »Ursünde« des Dritten Reiches und als das »giftigste seiner Mittel« gilt ihm doch erst der »terroristische Gewissensdruck« (ebd.), zu dem es gekommen sei, seit unter diktatorischer Herrschaft die »Einzelseele ihren Eigenwert an das Ganze verloren« habe (DK: 65). »Was von echter Religion trotzdem immer noch lebte«, habe allenfalls noch abseits der Geschichte und abgeschieden überdauern können (DK: 95). Meinecke konnte alle diese Einsichten, die heute als höchst unzulänglich und beschränkt anmuten mögen28, seinerzeit nicht auf aufwändige historische Forschung stützen und gab das auch unumwunden zu. Womöglich würde die Forschung noch in vielen künftigen Generationen damit zu tun haben, das Geschehene zu rekonstruieren, meinte er. Umso erstaunlicher wirkt, wie Meinecke gleichwohl seine Gegenwartsdiagnose mit therapeutischen Empfehlungen verknüpft. Dabei schwankt die Diagnose zwischen spezifischen Ursachen wie den angegebenen, einer moralischen Bilanz »unserer« Demütigung, die in der eingetretenen Katastrophe (für die Deutschen, wen sonst?) liegen sollte, und einer Kapitulation vor der Aufgabe des Verstehen- und Erklärenwollens selbst, wo Meinecke sie geradezu trivialisiert in der Schlussfolgerung, »alle Geschichte« sei »zugleich Tragödie« bzw. Schicksal, wie es bei ihm immer wieder heißt.29 Nach dessen jüngster Wendung stünden nunmehr »alle in gemeinsamer Gefahr«, befindet Meinecke und glaubt angeben zu können, wie ihr künftig zu begegnen sei: durch Versöhnung der Sieger mit den Besiegten. Opfer werden nicht erwähnt (vgl. DK: 161). Das scheint auch weiter gar nicht nötig zu sein, wenn es vor allem darum  DK: 115, 122, 143, 203.  DK: 111"f., 143. 27 DK: 151, 133, 135. 28 Vgl. kontrastiv die 30 Jahre spätere Kontextualisierung bei F. Stern (1984). 29 Vgl. DK: 155, 438, 441. 25 26

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geht, »den deutschen Geist zu retten«, sich wieder »zu den Altären unserer Väter« hinzuwenden durch erneute (?) »Verinnerlichung« der Zeit von Johann Sebastian Bach, Johann W. Goethe und Johannes Brahms, um sich auf diese Weise wieder der »unersetzliche[n] Mission« jenes Geistes »innerhalb der abendländischen Gemeinschaft« zu versichern.30 Das schließt für Meinecke nicht aus, sondern gerade ein, den »Primat des Staates über die bewaffnete Macht wiederherzustellen«, vorausgesetzt, er reinigt sich als befreite Weltmacht von allem »Schmutz« (DK: 199). Dem soll nicht widersprechen, »positive Gehalte des Hitlerismus« anzuerkennen und sie abzüglich seiner falschen »Methoden« womöglich zu übernehmen, obgleich es nach 1945 den Anschein hat, als habe er »uns« in jeder Hinsicht ein »allgemeines Trümmerfeld« hinterlassen, in dem »wir […] künftig leben« müssten.31 So sollte allen Ernstes mit anscheinend unpolitischen Mitteln wie der Lektüre deutscher Klassiker und national vereinnahmter Musik ein politischer Weg aus der Katastrophe gewiesen werden, die als »deutsche« gleichsam an den Opfern vorbei einfach definiert wurde, ohne im Geringsten zu fragen, was sie für diese und die Überlebenden bedeutet haben mag. Beißend und kurz fiel denn auch die Kritik durch den ehemaligen Oberrabbiner Leo Baeck, den seinerzeit wichtigsten Repräsentanten des liberalen Judentums in Deutschland und weltweit, aus: Es handle sich bei Meineckes Buch um eine »jämmerliche« Schrift, die bezeichnenderweise mit einem »Aufruf zum Goethekränzchen schließt« (DK: 240). Wieder sollte die klassische, ursprünglich europaweit ausstrahlende, dann aber national angeeignete Musik politisch instrumentalisiert werden, mit der der Nationalsozialismus doch bis zum Schluss schamlos sein Unwesen getrieben hatte. ›Bis zum Schluss‹ heißt hier buchstäblich: bis zum Bekanntwerden von Hitlers Suizid im April 1945, woraufhin man in der deutschen Botschaft in Tokio neben dem Siegfried-Idyll von Wagner die Air aus Bachs − gegen derartigen Missbrauch natürlich völlig wehrlose − Orchester-Suite in D-Dur, das Horst-Wessel-Lied und den Badenweilermarsch, Hitlers Lieblingsmarsch, anstimmte, wie Erwin Wickert bezeugt.32 So hat der Nationalsozialismus alles in Mitleidenschaft gezogen, auch die von Meinecke beschworene »Liebe zu unserer Vergangenheit«, die in einer europäischen Föderation aufgehen sollte, welche auch für einen »neuen Aufstieg der deutschen Geschichtswissenschaft« Platz haben dürfte, wie er hoffte.33 Die geschichtliche Vorstellungswelt, in der sich dieser seinerzeit international wohl bekannteste Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft bewegte und die er aller als katastrophal eingestuften Gewalt und eingestandenen Revisionsbedürftigkeit des Geschichtsbegriffs zum Trotz offenbar aufrechterhalten wollte, mag heute als ganz und gar obsolet erscheinen. Nicht bloß deshalb aber, weil sie  DK: 160, 162, 164"f., 168, 430.  DK: 122"ff.; 128, 142, 469. 32 Sarkowitz (2005: 81); vgl. T. Mann (1977: 285), der sich angesichts solchen Missbrauchs dazu gezwungen sieht, die (deutsche) Romantik mehr oder weniger über Bord zu werfen. 33 DK: 442, 444. 30 31

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durch umfassende (immer noch anhaltende) geschichtswissenschaftliche Aufk lärung überholt wurde und weil diese von intensiven Auseinandersetzungen um Fragen damaliger und heutiger Verantwortung für das Geschehene begleitet wurde – nach langem, nur von wenigen unterbrochenem Schweigen in dieser Angelegenheit. Vor aller geschichtswissenschaftlichen Arbeit und vor aller moralischen Bewertung dessen, was sie in objektivierter Form zu Tage fördert, liegt, was Ricœur (1998) das Affiziertsein vom Vergangenen nannte. Ricœur hatte sich versuchsweise bereits in den 1940er und 1950er Jahren mit dem Nationalsozialismus und mit dessen Folgen für Europa auseinanderzusetzen begonnen. Erst nach langen hermeneutischen Umwegen aber kam er in seinem Spätwerk seit den 1990er Jahren auf das Grundproblem zurück, das ihn, wesentlich angeregt von Karl Jaspers, schon frühzeitig beschäftigt hatte: das Problem des Verhältnisses zwischen geschichtlicher Existenz und geschichtlichem Denken. Wir denken Geschichte, weil wir geschichtlich leben, so lautete bereits Wilhelm Diltheys in dieser Hinsicht entscheidende Einsicht, an die sinngemäß auch Ricœur anknüpfte, um geschichtlichem Denken abzuverlangen, unsere geschichtliche Existenz so weit wie möglich aufzuklären und infolgedessen auch auf sie zurückzuwirken. Was es mit dieser auf sich hat und warum sich Geschichtlichkeit und Existenz nicht völlig voneinander trennen lassen, zeigt sich aber zunächst in Formen des Affiziertwerdens – im Modus des Gedächtnisses und der Melancholie, des Bereuens und des Bedauerns, der Trauer und, allem voran, des Entsetzens, das sich womöglich nicht als erzählbar erweist, wie es narrativistische Theorien der Geschichtlichkeit bis heute vielfach voraussetzen. Müsste Entsetzen nicht am Anfang aller ernsthaften Auseinandersetzung mit der zwischen 1933 und 1945 exzessive und radikale Formen annehmenden Gewaltgeschichte stehen? Müsste es sich nicht zunächst darauf beziehen, was man den Opfern der fraglichen Gewalt angetan hat? Und wäre nicht allenfalls maßlose, sprachlose Trauer darüber angebracht34 – bevor im Geringsten daran zu denken wäre, sich zu besinnen und zu fragen, welcher Sprache des historischen Verstehens, Erzählens, Erklärens und Erkennens man sich danach überhaupt noch bedienen kann (Vf. 2020/1) – mit dem  Bezeichnenderweise finden sich in ›geschichtsphilosophischer‹ Literatur der Nachkriegszeit allenfalls Spuren von Trauer. So bei Gerhard Krüger (1947: 10), wo mit Blick auf die Romantik von »ohnmächtiger Trauer um etwas schon Verlorenes« die Rede ist. Dabei handle es sich »nur« um philosophisch anscheinend unerhebliche »Totenklage und Totenbeschwörung«. Stattdessen redet dieser Autor von »›existenzielle[m] Betroffensein« des »Stehen[s] vor dem Nichts«, das er nicht etwa mit der eigenen politischen Geschichte, sondern mit der Geschichte als »Gegenteil alles Bleibenden und Sinnvollen« in Verbindung bringt, um dagegen (eigene) Tradition aufzubieten (ebd., 11, 20; Krüger 1948). − Wenig anders verhält es sich mit der politischen Nachkriegsliteratur, die sich mit der Vorgeschichte von ›1945‹ und den Folgen auseinandergesetzt hat (vgl. Böll [1957: 195"ff.; 1986]); seit der einschlägigen Veröffentlichung der Mitscherlichs immer wieder unter Hinweis auf die von ihnen diagnostizierte »Unfähigkeit zu trauern« (Albertz 1983: 199), die sich pri mär auf die Nachwirkung nicht eingestandener »libidinöser« Verbindungen zum NS-Regime bezieht, aber nicht auf dessen Opfer. 34

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Ergebnis, dass das Entsetzen oder Entrüstung mit all dem womöglich eher zunimmt als abnimmt, wie Ricœur (1991: 305) zu bedenken gab?35 Dergleichen Skrupel waren Meinecke offenbar fremd. Trauer kommt ihm nur ein einziges Mal in den Sinn, und zwar als »stolze« über das, was aus eigener Schuld gescheitert sei (DK: 156) und nun am Boden liege. Ansonsten ist der Ton, den der Historiker anschlägt, dermaßen ›aufrecht‹, ja stellenweise erhaben, dass man nicht erkennt, von welchem Boden er sich überhaupt erheben musste, um im Bewusstsein des Stolzes eine von den Nationalsozialisten in den Schmutz gezogene geliebte bzw. angeblich untadelige Vergangenheit beschwören zu können (vgl. Broszat 1988: 166– 171). Erst durch Willi Brandts Kniefall in Warschau wurde man Jahrzehnte später auf diese Frage so aufmerksam, dass man ihr nicht mehr aus dem Weg gehen konnte. Konnte es sich in Wahrheit nicht nur um den Boden handeln, auf dem man – auf der Stelle, wo auch immer, nicht bloß wie vor einem Mahnmal in politischer Funktion und öffentlich – niederkniet, sobald man auch nur ›ahnt‹, was geschehen ist? Muss nicht am Beginn jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit der fraglichen Gewaltgeschichte die Erfahrung stehen, keinen festen Stand mehr zu haben, weder im Leben noch in der Sprache und im Denken? Verrät die allgemeine Irritation angesichts von Brandts Geste nicht lediglich, wie gering unsere Ansprüche an politisches Handeln sind?36 Holte diese Geste nicht in Wahrheit nur ansatzweise nach, was ganz am Anfang hätte stehen müssen: die bedingungslose, vollkommen entwaffnete Demut angesichts dessen, was man Anderen (Juden, den ›Nächsten‹, Nachbarn, eigenen Mitbürgern, beliebig Diskriminierten) angetan hat? Möglicherweise greift auch dieses Wort (Demut) noch in einem ebenfalls in Mitleidenschaft gezogenen tradierten Vokabular ›moralisch‹ viel zu hoch und berührt nicht rückhaltlos genug jenen Boden, wo die Sprache aussetzen muss und jede Überlieferung ins Stocken gerät. Irritiert nicht an Meineckes Schrift ungeachtet aller Ernsthaftigkeit, die man ihr zugestehen wird, am allermeisten der Wortreichtum, die Fixierung auf ›eigene‹ Vergangenheit und wiederzugewinnende Zukunft? Die all das zumindest suspendierende, sprachlos-demütige Geste von Warschau bekundete demgegenüber zuerst einen bedingungslosen Verzicht auf eine eigene ›Position‹. Wer derart in die Kniee geht, mag sich wieder erheben, eine aufrechte Haltung wiedergewinnen und wieder zu sich kommen – aber erst nach dem sprachlosen Eingeständnis, ›aus der Fassung geraten‹ zu sein, jeglichen souveränen Selbstbewusstseins und jeglicher sprachlichen Sicherheit zu entbehren, wo er es mit radikaler und exzessiver Gewalt zu tun bekommt, die man Anderen angetan hat. Das entsprechende Bewusstsein ›historischer‹ Verantwortung, zu der sich deutsche Regierungschefs seither bekennen, um sie im Verhältnis zu Israel geradezu zu einer Angelegenheit der ›Staatsraison‹ zu  Ob man an dieser Stelle von Entsetzen, Entrüstung oder, wie Jan Patočka (2010: Kap."6) in seinen Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte, von Erschütterung spricht; nichts dergleichen kann als unangefochtene ›Evidenz‹ gelten. Man vergleiche nur, wie Georges Bataille (2008: 11−20) das Entsetzen vor sich selbst gedeutet hat. 36 Diese Frage ist seither keineswegs erledigt; vgl. Keller (2018: 611). 35

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erheben (was unmöglich noch in der seit Jean Bodin und Hugo Grotius bekannten, auch von Meinecke zuletzt beschriebenen, immer noch an staatlicher Souveränität orientierten Form geschehen kann, die sich vor allem ihre eigene Machterhaltung schuldig ist37), impliziert keinerlei nachträgliche Mitschuld für das Geschehene, aus der Sicht von Karl Jaspers jedoch Scham angesichts der Tatsache, der gleichen Gattung anzugehören und sich insofern nicht von der fraglichen Gewalt völlig freisprechen zu können. Die Frage, wie man sich selbst seinerzeit verhalten hätte, muss vor diesem Hintergrund auf zutiefst irritierende Art und Weise offenbleiben. Brandts weltweit beachteter, aber auch beargwöhnter Kniefall war weit mehr als eine bloße, im Grunde deplatzierte a-politische Geste oder symbolische Politik, der als solcher keinerlei Verbindlichkeit zukommen müsste (Krzeminski 2020). Sie zeigt vielmehr an, dass mit der bezeugten Demut überhaupt erst eine ernsthafte Auseinandersetzung beginnen kann, sobald man wenigstens in Ansätzen realisiert hat, mit welch exzessiver und radikaler Gewalt man es hier zu tun bekommt, und dass sich nicht nur Privatpersonen, sondern auch Staaten danach zu richten haben. Vom ersten, an den Nama und Herero Namibias, ehemals Deutsch-Südwest-Afrikas, verübten Genozid des 20. Jahrhunderts über den Völkermord an den Armeniern, die Vernichtung der Kulaken und Millionen Verhungerte im ukrainischen Holodomor sowie Millionen anderer, innerer und äußerer ›Staatsfeinde‹ unter stalinistischer Herrschaft und das Kambodscha Pol Pots bis hin zum ruandischen Desaster, zu Srebreniza und Darfur gilt seither, dass am Beginn aller sogenannten Versöhnungspolitik – sollte dergleichen überhaupt möglich sein, obgleich weder Versöhnbarkeit noch gar Vergebung politischem Handeln zu unterwerfen ist – das unumwundene Eingeständnis dessen stehen muss, was Anderen angetan worden ist, sei es ›im eigenen Namen‹, sei es von Vorgängern, für die man historisch-politische Verantwortung übernimmt. Seither sind an die Macht und Stärke eines Staates neue Maßstäbe anzulegen. Stark ist ein Staat nicht als Machtstaat, dem überlegene Gewaltmittel zur Verfügung stehen, um seine Nachbarn, innere und äußere Gegner, Vasallen und Feinde einzuschüchtern und tödlich zu bedrohen, wie es Putins Russland gegenwärtig tut, in dem zur gleichen Zeit die Arbeit der zivilgesellschaftlichen, um Aufklärung u."a. der unter Stalin verübten Verbrechen bemühten Initiative Memorial verboten wurde. Beides sichere Anzeichen für eine elende Staatlichkeit, die Derartiges ›nötig hat‹ (Gessen 22018). Als in Anbetracht der jeweils eigenen, zu verantwortenden Gewaltgeschichte ›stark‹ wird auch kein Staat mehr zu verstehen sein, dessen Repräsentanten nach Versöhnung aufseiten der Nachfahren ihrer Opfer verlangen. ›Stark‹ wird ein Staat  Und insofern das »Recht des Staates« prinzipiell »über das seiner Angehörigen setzt« und infolgedessen »das Grauen potentiell schon gesetzt« enthält, das aus ihm hervorgehen kann, wie Adorno (41975: 104) meinte. Wie weit man von diesem Souveränitätsbegriff inzwischen abrücken muss, hat eine weitläufige Diskussion der letzten Jahre deutlich gemacht. Vgl. nur bspw. Klein, Finkelde (2015) und demgegenüber Münkler (1987); Haffner (61985: 180"f.). 37

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niemals mehr sein, wenn seine Repräsentanten nicht wenigstens die Verbrechen eingestehen, die in seinem Namen begangen worden sind (Vf. 2022). In diesem Sinne ist neben den im Herzen Berlins für die Sinti und Roma sowie für die Homosexuellen errichteten Gedenkstätten das Denkmal für die ermordeten Juden Europas vielleicht ein Zeichen der Hoffnung. Man könnte es auch so verstehen, dass es in seiner Lage in unmittelbarer Nachbarschaft des deutschen Parlaments dem Sinn jener Geste Dauer verleiht. Wenn das richtig ist, wird der deutsche Staat immer, solange er besteht, von jenem unumwundenen Eingeständnis getragen sein – aus einer dem stummen Denkmal gleichsam anvertrauten Sprachlosigkeit angesichts dessen heraus, was man den Opfern angetan hat, zu deren Vernichtung er sich in Demut verhält; und zwar so, dass daraus für ihn das Versprechen folgt, sich in Zukunft jeglicher ›Vernichtungspolitik‹ von Anfang an zu widersetzen. (Allerdings haben wir allen Grund, daran zu zweifeln, ob dieser Staat − und irgendein Staat jemals − ein solches Versprechen wirklich halten kann. Sind nicht längst alle Staaten als potenzielle rogue states verdächtig, seitdem sich ein amerikanischer Präsident, der selbst einer auf Öl versessenen rapacious oligarchy angehörte, dazu versteigen konnte, Angehörige sogenannter »Schurkenstaaten« anscheinend reinen Gewissens zu outlaws zu erklären?38) Längst ist die bekannte Parole »Nie wieder!« zur Phrase verkommen (Farmer 2005; Judt/Snyder 2015: 278). Und die mit dieser Parole oft verknüpfte Rede von einem »Gründungsmythos Auschwitz« als angeblichem Fundament oder als säkularer Religion des deutschen Staates ist selbst ein Mythos (Schoeps 1990). Nichts davon ist ›in Beton gegossen‹, um im Bild zu bleiben. Vielmehr ist dieser Staat, wie jeder Staat, in einen ständigen Streit um seine Grundlagen und um die mit ihr verquickte Gewalt verstrickt und kann nicht wie eine unanfechtbare Substanz unabhängig davon existieren. Nicht zuletzt dreht sich der Streit darum, ob und wie sich ein Staat überhaupt, und nach Jahrzehnten noch, zu ›seiner‹ Vergangenheit verhalten kann und muss. In diesem Zusammenhang mit Blick auf Deutschland von einer ›mythischen‹ Fixierung auf kollektive Schuld zu reden, hat lange Zeit und bis in die jüngere Vergangenheit hinein nur dazu gedient, die Auseinandersetzung mit dieser Frage möglichst im Keim zu ersticken, wenn man nicht mit verstocktem Schweigen oder fragwürdig nobilitiertem »Beschweigen« weiter kam – das weit, weit entfernt blieb von radikalen Fragen danach, was Reden und Schweigen überhaupt noch vermögen in einer derart »gepeinigten Welt« (Levinas 1992: 128), in der »das Wort« womöglich bereits »tot ist«, wie George Steiner mit Karl Wolfskehls Sang aus dem Exil zu bedenken gab, um damit die Schwierigkeit des Ringens um Worte und um deren radikal fragliche ›Angemessenheit‹ nicht etwa abzutun oder für sinnlos zu erklären, sondern schmerzlich zu verschärfen (Steiner 1973: 113). Immer wieder funktionierte dieser, von solchen Problemen radikaler Sprachkritik gänzlich unbeeindruckte, Trick: Vorwürfe angeblich auch erblicher Schuld an ›die‹ 38

 Vgl. Scott (2017); Derrida (2003).

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Deutschen derart zu überzeichnen, dass man sie ad absurdum führen konnte, um sich sodann auch von jeglicher weiteren Auseinandersetzung und von fortwirkender historischer Verantwortung zu entlasten. Heute lebt fast niemand mehr, der seinerzeit Schuld auf sich geladen hat. Umso mehr treten allgemeine, von ihrem historischen Ursprung allerdings niemals gänzlich abzulösende Fragen wie die in den Vordergrund, was es bedeutet, einer (politischen) Welt ›auf Gedeih und Verderb‹ unvermeidlich so anzugehören, dass man der diskrimierenden, am Ende die politische, rechtliche, persönliche und physische Existenz vernichtenden Gewalt Anderer ausgeliefert werden kann − und davor allenfalls durch Institutionen geschützt zu sein, die paradoxerweise ihrerseits eminente Gewaltpotenziale heraufbeschwören (Vf. 2015). Die Erinnerung daran, wie dies in Verbindung mit dem sogenannten Dritten Reich, unter spezifischen, sicher nicht wiederholbaren Umständen, anders wiederum in der Sowjetunion Stalins und anderswo geschehen konnte und wieder geschehen kann, bedeutet keine fragwürdige (aufrechnende, gar revanchistische) »Relativierung« singulärer Verbrechen, solange man sich dessen bewusst ist, am Vergleich von Unvergleichbarem schlechterdings nicht vorbeizukommen. Nur wenn er riskiert wird, ist auch die zukünftige Bedeutung von Analysen sicherzustellen, die zeigen, wo die fragliche Gewalt einsetzt (etwa in der systematischen Diskriminierung Anderer), wie ihr politisches Potenzial zuwachsen und wie sie sogar zur Grundlage eines terroristischen Staates werden kann; und zwar grundsätzlich überall auf der Welt. Auch und gerade dort, wo man sich einer Staats-Nostalgie hingibt (Mak 2005: 334"f.), die vergangener nationaler Größe nachtrauert, der Gegenwart Andersdenkender, -lebender und -liebender aber nach einschlägiger Erfahrung doch kaum anderes als repressive Gewalt anzubieten hat. Die nach 1945 veröffentlichte geschichtsphilosophische Literatur zeigt sich anfangs weitgehend unbesorgt um diese Fragen. Über weite Strecken lässt sie jegliches Interesse daran vermissen, erst einmal zu ermitteln, was geschehen war – von stummem oder artikuliertem Entsetzen und von Trauer ganz zu schweigen, von der einschlägigen Beobachtungen zufolge jahrzehntelang im Nachkriegsdeutschland – abgesehen von einigen wenigen sensiblen Autoren wie Heinrich Böll39, der hier nur stellvertretend genannt wird – kaum etwas zu spüren war40, bevor Hollywood im  Seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1963/4), seine Aufsatzsammlung Hierzulande (1964) und den mit René Wintzen veröffentlichten Interview-Band Eine deutsche Erinnerung (1981) muss man nicht überschätzen, wenn man sie, in starkem Kontrast zu einem weitgehend trauerlosen geschichtstheoretischen Schrifttum, als eine Literatur begreift, die »diese Väter verlassen« (Härtling 1990: 43) musste, um erst infolge dieses Aufbruchs in eine historisch sensibilisierte Geschichtlichkeit zurück finden zu können, die sich wie im Kommentar zu Lew Kopelew endlich auch für die ehemaligen ›Feinde‹ aufgeschlossen erweist (Böll 1982: 590"ff.). 40 Hannah Arendt stellte (1950) fest, dass seinerzeit »über Europa ein Schatten tiefer Trauer« lag, dass aber in Deutschland scheinbar »niemand über die Toten trauert[e]« – woher auch immer sie das gewusst haben wollte (Arendt 2000: 38). Inzwischen hat sich das geändert, wenn man jüngeren Diagnosen in diesem Punkt glauben kann. Allerdings mit 39

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Modus der Fiktion und mittels eines bis heute von den wenigsten verstandenen Begriffs wie Holocaust41 so etwas wie »Betroffenheit« zum Vorschein bringen konnte. Rückblickend hat es den Anschein, als habe man sich zuvor grundsätzlich weigern wollen, sich überhaupt rückhaltlos der geschichtlichen Erfahrung auszusetzen, die Millionen von Opfern nicht überlebt haben und Millionen nur mehr oder weniger schwer verwundet, verletzt und traumatisiert hatten überleben können. Erst viele Jahrzehnte danach werfen Jüngere Fragen nach diesem Überleben, nach verletzender, verwundender und vernichtender Gewalt als solcher auf, ohne gleich möglichst rasch ›fertig werden‹ zu wollen mit ihr  – wie Meinecke und die meisten seiner Zeitgenossen, bevor man mit Prozessen der Dokumentation und der Rekonstruktion überhaupt begonnen hatte. Mit diesem vorschnellen Fertig-werden-Wollen sind wir nunmehr fertig  – und möglicherweise jetzt erst dazu bereit, uns dem Vorgefallenen, d."h. dem, was man Anderen angetan hat, rückhaltlos, ›ohne Wenn und Aber‹, zu stellen, um zu ermitteln, was dies für unsere Gegenwart und für die Zukunft derjenigen, die nach uns kommen, bedeutet. Diese Fragen drängen sich zweifellos stets zuerst ›an Ort und Stelle‹ auf, buchstäblich auf dem Boden der jeweils ›eigenen‹ Vergangenheit, so fremd sie einem auch erscheinen mag. Aber darin gehen sie längst nicht mehr auf: Lateral strahlen sie aus auf die Geschichtlichkeit aller Menschen – vielleicht mit der geringen Chance, dass sie daraus das Potenzial der Besinnung darauf schöpfen, was sie, die Angehörigen ihrer jeweiligen Ethnie, ihres sogenannten Volkes, ihrer Nationalität oder der gleichen Gattung, einander keinesfalls und niemals mehr antun sollen, statt sich durch immer neue aus der Vergangenheit hergeholte Argumente wieder gegeneinander auf diskriminierende, polemogene und genozidale Art und Weise in Stellung bringen zu lassen. In dieser Perspektive müssen wir keineswegs einer trotzigen »Idiotie der Hoffenden« (Günther Anders) zum Opfer fallen, wenn wir nicht (und vielleicht nie) ›fertig‹ werden mit dem, was hier und anderswo, sei es in eigenem, sei es fremdem Namen gewaltsam (verletzend, verwundend, vernichtend) geschehen ist und wie die Versklavung Fremder weiterhin geschieht. Vielleicht bleiben wir ›verstört‹, wie es Hannah Arendt andeutete, als sie mit Blick auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und speziell Auschwitz sagte, »dies« hätte nie geschehen dürfen, ohne zu präzisieren, was genau sie damit meinte. Kann es sein, dass ihr die bisherige, von Voltaire bis Freud als mehr oder weniger ununterbrochene Reihenfolge von Kriegen und Völkermorden beschriebene Gattungsgeschichte noch als ›akzeptabel‹ erschien, bevor es zum Versuch der Vernichtung der Juden kam? Hätte nicht auch der Erste Weltkrieg mit seinen Technologien massenhafter Tötung ›nie geschehen dürfen‹? der Folge, dass die Trauer selbst in einen radikalen politischen Streit über ihre Möglichkeit, über ihre Politisierbarkeit und über ihren Sinn geraten ist. Vgl. die Beiträge von R. Koselleck in: Cullen (Hg., 21999: 100, 227), sowie Kirsch (2001). 41 Zur Einführung des Begriffs vgl. Hilberg (1994: 1122). Vielen erscheint er nach wie vor derart anstößig, dass sie ihn ganz meiden.

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Einleitung

Und haben nicht zuvor schon, seit zigtausenden von Jahren, Menschen alle seinerzeit mögliche Gewalt gegeneinander verübt, nicht nur Brüder- und Vätermorde, von denen in alten Mythen erzählt wird, sondern auch Völkermorde  – und anscheinend sogar mit Billigung von höchster Stelle, wie es der Bibel zu entnehmen ist? War das ›normal‹? Durfte das je als ›normal‹ gelten? Waren jene Angehörige des Polizeibataillons 101 aus Hamburg, die der Wehrmacht und der Waffen-SS bei ihrem genozidalen Tun hinter der Front behilflich waren, »ganz normale Männer«, wie Christopher Browning (1996) nachzuweisen versuchte? War nicht Adolf Eichmann »ganz normal«, weit normaler jedenfalls, als sich Arendt fühlte, nachdem sie sich anlässlich des 1961 in Jerusalem gegen ihn angestrengten Prozesses mit ihm konfrontiert sah? Wie können heute noch Begriffe wie Normalität und Geschichte zusammengehen? Sind wir etwa dazu bereit, angesichts erinnerter exzessiver und radikaler, anscheinend a-normaler Gewalt unsere Erwartung, wie es künftig mit ethnischen, zwischenstaatlichen und imperialen Konflikten weitergehen wird, zu renormalisieren, Vernichtungslager und den Einsatz von Atomwaffen eingeschlossen? Würde das auf die von Kant im Streit der Fakultäten42 als »terroristisch« bezeichnete »Vorstellungsart« von Geschichte hinauslaufen? Ist es überhaupt möglich, sich mit entsprechenden Zukunftserwartungen zu arrangieren, sei es gleichgültig, sei es im Zeichen von Nietzsches Apologie des amor fati, sei es verächtlich angesichts des »Untiers Mensch« (Horstmann 31983)? Und wie wäre demzufolge die menschliche Generativität vorzustellen, wenn sie die Nachkommen indifferent dem gleichen Schicksal überließe? Lässt sich das, was wir mit ›1945‹ bis heute verbinden, sei es im Zeichen der Atomwaffen, sei es im Zeichen der Vernichtungslager und totalitärer Gewaltambitionen, überhaupt noch normalisieren – und zwar ohne sich dabei auch nur in eine hinreichende Nähe zu dieser Gewalt zu begeben und dabei Gefahr zu laufen, irreversibel versehrt und ›sprachlos‹ zu werden durch das, was die Griechen der Antike das Entsetzliche (miarón) und Ungeheuerliche (deinón) nannten43, durch die – theologisch längst ausgebrannte – stereotyp zitierte »Hölle« des Krieges (William T. Sherman) oder durch das »Äußerste« (Carl v. Clausewitz) bzw. »Extreme« (Tzvetan Todorov; Eric Hobsbawm)? Taugen die alten Substantive und Superlative überhaupt noch, die schon Bartholomé de las Casas (1981: 41, 97) angesichts der kolonialistischen Verbrechen in der sogenannten Neuen Welt nur noch hyperbolisch glaubte gebrauchen zu können? Ist das wirklich Schreckliche nicht noch weit schrecklicher als das Schrecklichste? Und liegt das schlechterdings Unvorstellbare nicht noch weit jenseits des Nichtvorstellbaren – so wie äußerste Untaten noch jenseits dessen, was man klassisch als ›das Böse‹ tituliert hat? Wem stellt sich das heute so dar? Geraten wir hier nicht auch an Grenzen jeglicher Darstellbarkeit, wie sie Georges Didi-Huberman (2007; 42

 Zweiter Abschnitt, 3.a.  Aristoteles, Poetik, 1452b 34; 1453a 1; vgl. Taureck (2019: 88).

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2012) ausgelotet hat, und an Grenzen des zu Bezeugenden, des Denk-, Schreib- und Überlieferbaren?44 Ist die Rede von derartigen Grenzen aber nicht längst abgenutzt und zu einem düsteren Gemeinplatz verkommen? Droht Sprachlosigkeit auch durch eine Rhetorik, die immerzu beschwört, gerade das, was ›eigentlich‹ bezeugt, gesagt, geschrieben und überliefert werden müsse, um künftige Geschichte vor einer fatalen Wiederholung des Gleichen zu bewahren, lasse sich nicht ›wirklich‹, nicht ›angemessen‹ und ›vernünftig‹ bezeugen, sagen, schreiben und überliefern?45 In dieser Hinsicht ist Peter Härtling (1990: 2) recht zu geben, wenn er verlangt: »Hier müssen wir, wider die mächtige Sprachlosigkeit, [erneut] zu sprechen beginnen« – vorausgesetzt, man erkennt jene Gefahr nicht bloß im verstockten Schweigen oder Beschweigen, brutalen Vergessen und Verdrängen, das die historische, pädagogische und philosophische Auseinandersetzung mit der fraglichen Gewaltgeschichte so lange behindert hat, sondern auch in der viel zitierten ›Betroffenheit‹, in der allzu eloquenten, staatstragenden Gedenkrede und im bloß argumentativen Diskurs, der mit rationalen Gründen überzeugen und ein »moralisches Selbstbewußtsein« rehabilitieren will, aber womöglich nicht zeigen kann, worum es dabei geht.46 Doch was wäre das? Kann man sich darauf beschränken, zu zeigen, was geschehen ist bzw. »wie es gewesen« ist, wie es eine berühmte, für viele Historiker offenbar bis heute noch maßgebliche Formulierung besagt? Seit der Zeit, als Leopold v. Ranke dies schrieb (1824 und 1874), hat die methodologische Reflexion der Grundlagen historiografischer Arbeit allerdings gezeigt, wie sehr das, was man als Geschehenes erforscht, rekonstruiert und nachträglich narrativ aufbereitet, von sogenannter Standortbindung, Perspektivität und Rahmung abhängt. Und längst ist dadurch klar geworden, dass es keinen universalen Rahmen aller möglichen Rahmungen gibt, in dem alles Geschehene, in historischen Perspektiven Rekonstruierte und Erzählte aufgehen könnte. Aufgrund der Inkompossibilität diverser Ge schichten, die niemals eine einzige, alle übergreifende bzw. in sich aufhebende Geschichte ergeben werden (Kracauer 1971: 119"ff.; Veyne 1990: 41"f.), kommt es bis heute zu tiefgreifendem Dissens in der Frage, welche Geschichte möglicherweise vor anderen Geschichten Vorrang hat oder haben sollte und ob wir uns auf Dauer mit einer indifferenten Vielzahl inkompossibler Geschichten, einschließlich der Geschichten diverser Makroverbrechen, abfinden müssen, wie es nach Jean-François Lyotards Beschreibung des »postmodernen Wissens«, aber auch in den Augen von Beobachtern historiografischer Schematisierungen wie Siegfried Kracauer, Niklas Luhmann und Hayden White den Anschein hatte. Diese Frage wird auch von Universalhistorikern nicht befriedigend beantwortet. Aus ihren Schriften ergibt sich keineswegs eindeutig, wie weit man etwa in regressiver Hinsicht gehen muss, um  Vgl. Kofman (1988); Lyotard (21989); Baer (2000); Wieviorka (2013).  Vgl. S. Knopp et al. (Hg., 2016); Däumer et al. (Hg., 2017). 46 Vgl. Forum für Philosophie Bad Homburg (1988). 44 45

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Einleitung

auf ›den‹ Ursprung ›der‹ Geschichte zu stoßen, in dem ihr Telos, Ziel oder Zweck so zu erkennen wäre, dass auch jede partielle Geschichte in ihr ihren Platz finden könnte. Regressiv bzw. in genealogischer Hinsicht, wie sie Foucault (1987) unter Berufung auf Nietzsche dargelegt hat, stoßen wir auch nicht auf letzte Ursprünge oder Ursachen des Schlimmsten, dessen Wiederholung es unbedingt zu verhindern gilt. (Wenigstens das! Eine Forderung, die man erst nach den großen Desastern des 20. Jahrhunderts erhoben hat, allerdings ohne sie je konsequent befolgt zu haben oder − bis heute − auch nur zu wissen, wie das in Zukunft möglich sein könnte.) Gerade die Geschichte(n) von Makroverbrechen müssen dessen ungeachtet bis heute am meisten beunruhigen, zumal sie eine finstere Zukunft vernichtender Politik heraufbeschwören, die für immer neue Desaster verantwortlich sein wird. Deren bislang extremste und radikalste Manifestation haben wir hierzulande mit dem Nationalsozialismus vor Augen. Der NS ging aus einer Vielzahl von antezedenten, heterogenen Bedingungen hervor, darunter als eine der zweifellos wichtigsten der Antisemitismus. Viel zu einfach macht man es sich gewiss, wenn man bis heute etwa davon ausgeht, es handle sich hierbei nur oder im Wesentlichen um ein »deutsches Problem«.47 Obgleich dem von Hannah Arendt (1945) und Karl Jaspers (1946) bis hin zu Yosef H. Yerushalmi (1993) klar widersprochen wurde, konnte noch Daniel J. Goldhagen (1996) mit seiner Rede von einem angeblich allein in der deutschen Geschichte verwurzelten »eliminatorischen Antisemitismus« dieses Vorurteil bestätigen (Wiese 2017). Andere sind wie etwa Zygmunt Bauman (1990) viel weiter als Goldhagen und als Meinecke zurückgegangen und wurden prompt in den Anfängen der westlichen Moderne fündig. Sie erst habe einer eminent gewaltträchtigen Indifferenz im Verhältnis zu Anderen Tür und Tor geöffnet, die sich dann in Formen industrieller Ermordung manifestierte. Wieder andere gingen mit Sven Lindqvist (1999) den Ursprüngen des von Europa ausgegangenen Kolonialismus und Rassismus nach, ohne den sich schon die mittelalterliche Geschichte des Christentums nicht begreifen lässt. Philippe Lacoue-Labarthe (1990) schließlich landete bei den Ursprüngen Europas in der Antike ‒ so als sei ›der‹ im Nationalsozialismus kulminierende Antisemitismus nicht allein in der Geschichte Deutschlands oder des ›modernen‹, industrialisierten, auf eine ›instrumentelle‹ Rationalität beschränkten und rassistischen Westens, sondern in der Genealogie des Okzidents von Anfang an ›angelegt‹ gewesen48 und als würde es genügen, die Tür, durch die die Menschen ihn gleichsam betreten haben, rückwärts wieder zu verlassen ‒ in Richtung Altes Testament, wie es tatsächlich Emmanuel Levinas suggeriert hat.49 Doch auch dort finden sich Blutspuren genozidaler Kriege.  Enzensberger (31968: 11, 129).  Vgl. demgegenüber Meier (21990; 2002). 49 Levinas (1992: 181); Bernasconi (2010: 304, 314); vgl. Funkenstein (1995: 252) zur Kritik an Erklärungen des Holocaust aus dem Eindringen einer »heidnischen Mentalität«, die gelegentlich mit Säkularismus gleichgesetzt wird. 47

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Noch weiter gehen diejenigen zurück, die nach der inneren Konstitution derjenigen Wesen fragen, die bereit sind, zu solchen Mitteln der Gewalt zu greifen, ob gerechtfertigt oder nicht ‒ wie im Fall des ›Bösen‹, das noch Paul Ricœur (2004a) mit Jean Nabert als das Nichtzurechtfertigende par excellence eingestuft hat. Vom Ursprung dieser Wesen, Menschen genannt, verrät die Geschichte allerdings nichts mehr. Hier scheint nur noch das Mythische zuständig sein zu können. Wie aber, auch das ist genauso strittig wie die Antwort auf die nicht zu umgehende Frage, was denn der angeblich gleichursprüngliche Auftritt des Menschen und des Bösen, wie ihn der Mythos vom Sündenfall vor Augen führt, über unsere Gegenwart heute lehrt.50 Schließlich haben auch Menschen mit ihren Un-Taten auf eine Weise ›Geschichte gemacht‹, die sie nicht bloß als Wiederholung des Immergleichen, das »nichts Neues unter der Sonne« bietet, sondern auch im ›Bösen‹ als innovativ erscheinen lässt. In der Tat: Die Menschen sind »erfinderisch im Guten wie im Bösen«, wie Leo Strauss in Naturrecht und Geschichte (21989: 318) feststellte. Ein serieller, quasi industrialisierter Massenmord, Völkermord oder Genozid, wie ihn ›Auschwitz‹ darstellte, war jedenfalls zuvor unbekannt. Ob es sich ›nur‹ um eine technische Innovation gehandelt hat, die Heidegger in technik-kritischer Hinsicht mit gewissen Neuerungen in der Agrarindustrie meinte auf eine Stufe stellen zu sollen (um sich damit ein weiteres Mal nicht nur im ›Ton‹ zu vergreifen), oder auch und wesentlich darüber hinaus um eine dezidiert anti-semitisch und rassistisch radikalisierte Umsetzung der Idee der Vernichtbarkeit Anderer als solcher, bleibe hier dahingestellt (Vf. 22017). Jedenfalls wirft die in diesem Extrem unter deutscher Verantwortung kulminierende Geschichte des Antisemitismus nach wie vor Fragen nach dessen Anfängen, Ursprüngen und neuen Formen auf; Fragen, die nicht unter Verweis auf die Geschichte, das Alte Testament oder auf eine andere Mythik der menschlichen Gattung abzugelten sind. Das gilt ähnlich für die inzwischen mit Macht auf den gesamten Westen zurückschlagende Frage, wo er damit begonnen hat, »Barbarisches« als schlechterdings zu Vernichtendes zu denken: sei es in der griechischen Antike im Verhältnis zu Skythen und anderen ›Fremden‹, sei es in einem christlichunchristlichen rassistischen Kolonialismus im mittleren und südlichen Amerika, sei es in einem imperialistischen Beutekapitalismus im Herzen Afrikas.51 So oder so bleibt die menschlich-unmenschliche Befähigung zu Untaten aller Art, die Andere zum Untergang verurteilen, virulent, insofern damit zu rechnen ist, dass man unter nicht völlig vorherzusehenden Umständen in der Phantasie wieder mit ihr zu liebäugeln beginnt, die entsprechende Gewalt öffentlich verbal propagiert und Anhänger mobilisiert, um diese schließlich programmatisch zu politisieren. Wenn das effektiv gelingt (erfahrungsgemäß im Zuge immer weiter getriebener Dis Ricœur (21988); Blumenberg (1996); Chaouat (2017: 71).  Vgl. Ascherson (1998); Lindqvist (1999); www.br.de/kultur/film/raoul-peck-dokumentation-film-rottet-die-bestien-aus-europas-herz-der-finsternis-100.html 50 51

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Einleitung

kriminierungen52), ist selbst eine Wiederholung serieller Vernichtung im großen Stil und mit radikalsten Zielsetzungen in der Tat in keiner Weise auszuschließen. Bevor es dazu kommt, haben wir immerhin die Chance, der Frage auf den Grund zu gehen, wie es möglich ist, dass politischen Subjekten die Vernichtung Anderer überhaupt als ›attraktiv‹ erscheinen und wie es ihnen gelingen kann, Dritte für sich und für Untaten einer vernichtenden Politik zu gewinnen, an deren vorläufigem Ende die Zerstörung jeglicher Koexistenzmöglichkeit zu stehen scheint ‒ was sich u."a. daran zeigt, dass selbst Hannah Arendt die Todesstrafe als für solche Taten angemessen gerechtfertigt hat (Arendt 1990: 429). So zeichnet sich als Desiderat der heutigen Auseinandersetzung mit Antisemitismen unterschiedlichster Couleur nicht nur das Problem ab, ob man sie früh genug als für Andere tödliche politische Gefahr erkennt, sondern auch die Schwierigkeit, ob man dieser Gefahr anders begegnen kann, als sie endgültig eliminieren bzw. ›ausrotten‹ zu wollen. Darin liegt ebenfalls etwas Bedrohliches: sich einerseits über die anhaltende und in immer neuen Formen zutage tretende Virulenz von Antisemitismen und anderen Rassismen zu täuschen, die ein inflationärer Verdacht überall (auch und gerade bei den Kritikern von Antisemitismus und Rassismus) zu vermuten neigt, und ihnen andererseits im Kampf gegen sie auf fatale Weise ähnlich zu werden (Vf. 2010b), wenn man sie ›ein für alle Mal‹ loszuwerden trachtet. Derartigen Formulierungen ist zutiefst zu misstrauen. Nach einschlägiger historischer Erfahrung sind gerade die (vermeintlichen) ›Endlösungen‹ die schlimmsten, selbst wenn sie ›mit den besten Absichten‹ vorgetragen werden (Finkielkraut 1989). Sollte das inkriminierte ›Böse‹ im Übrigen wirklich in einer weitgehenden »Banalität« möglich geworden sein, wie es Hannah Arendt in ihrer polemischen und vielfach angefochtenen Diagnose zum Jerusalemer Eichmann-Prozess behauptet hatte, erscheint es ohnehin verfehlt, sich nur auf extreme Untaten und auf deren Verhinderung zu konzentrieren. Viel zu wenig – auch sozialphilosophisch – beachtet wurde demgegenüber die alltägliche, eher unauffällige, ›unausrottbare‹ Gemeinheit, gegen die anscheinend kein Recht der Welt ankommt und die uns sicherlich erhalten bleiben wird, wenn auch vielleicht nicht als legalisierte Form der Herrschaft und des Regierens selbst. Nur wenige haben bislang bedacht, ob nicht die Gemeinheit der Nährboden ist, auf dem schließlich Untaten ›großen Stils‹ gedeihen.53 Nun sind seit 1945 mehr als sieben Jahrzehnte vergangen. Der anschließende Kalte Krieg ist nach 1989 in neo-imperiale Konfrontationen zwischen den USA, Russland und China übergangen, die ihre Schatten vorauswerfen. Dabei drohen diese Großmächte genauso wie neue Anwärter auf diesen Status wie Indien und Brasilien von einer Welle scheinbar neuer, in Wahrheit ebenfalls weit zurückreichender Probleme überrollt zu werden, die ihre militärische, enorme Summen verschlingende Hochrüstung als schieren Anachronismus erscheinen lässt angesichts der ökologischen 52

 Vgl. Kertész (2004: 113); Hilberg (1994: 1268"ff.); Broszat (141995: 402, 437).  Zur Kategorie der Gemeinheit vgl. Berner (2004).

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Folgen eines um die natürlichen und sozialen Grundlagen menschlichen Lebens nach wie vor weitgehend unbekümmerten, ja rücksichtslosen, auf Erfolg und immer neuen Gewinn abzielenden Wirtschaftens, das sich als öko-nomisch (in Anlehnung an oikos und nomos) kaum mehr begreifen lässt (Polanyi 122015), als derart selbstzerstörerisch hat es sich längst erwiesen (Amery 31995) – nicht erst seit Joseph Schumpeters Beschreibung ökonomischer Prozesse »schöpferischer Zerstörung« oder gar erst seit der Entfesselung eines Finanzkapitalismus, der mit seinem Fiatgeld und exzessiver Überschuldung den »Zusammenbruch unserer Welt« heraufbeschwört, wie u."a. aus Paul Masons Postkapitalismus hervorgeht (2016: 35"f., 315"f.). Das Gleiche, wenn auch aus anderen Gründen, könnte für einen surveillance capitalism gelten, der ungeachtet der von ihm betriebenen und digital ausgebeuteten sogenannten Sozialen Medien gar keinen Begriff mehr davon hat, was die Rede von einer sozialen Welt im Grunde bedeuten müsste, wie u."a. Shoshana Zuboff (2019) argumentiert hat. Zwar sind Konzeptionen eines Weltgemeinwohls (bonum commune orbis), das allen Menschen zugutekommen sollte, uralt.54 Und Sorgen angesichts ökologischer Selbstdestruktivität ökonomisch-technischen Handelns sind gleichfalls nicht erst seit gestern vorgebracht worden. Dennoch konnte der Eindruck entstehen, gerade die Philosophie, aus deren Überlieferung jene Konzeptionen hervorgegangen sind, habe uns in keiner Weise auf diese neue, globale Problematik vorbereitet, aller Wirtschafts- und Technikkritik zum Trotz (die sie vielfach geübt hat, ohne ihrerseits technikgeschichtlich auf der Höhe der Zeit zu sein55). Infolgedessen steht auch jede Rückbesinnung auf Geschichtskritik nach ›1945‹ vor der doppelten Schwierigkeit, einerseits deren damalige, bis heute allerdings virulente Problematiken aufgreifen, aber andererseits auch damit rechnen zu müssen, dass sie hinter einer seither weitestgehend unvorhergesehen vonstattengegangenen Geschichte zurückzubleiben droht, wenn sie der inzwischen eingetretenen Distanz zur Nachkriegszeit gar nicht Rechnung trägt.56 In dieser Distanz sehen wir heute die ›Erbschaft‹ speziell der deutschen und europäischen, nicht einmal im Hinblick auf den von diesem Kontinent ausgegangenen Kolonialismus zureichend aufgearbeiteten Gewaltgeschichte in eine globale ökologische und medial formierte Geschichte einrücken, die ihre eigenen (alten und neuen) Gewaltpotenziale mit sich führt. Umso dringlicher ist der Versuch, zu ermitteln, wo wir als ›Erben‹ jener Zeit nunmehr im Verhältnis zu jenen stehen, die nach uns kommen werden und vielleicht schon da sind. Ihnen mag es überlassen bleiben, sich in der Kritik vorliegender Zwischenbilanzen wie dieser auf das zu besinnen, was sie im Gegensatz zu einer zu überwindenden europäischen, kolo Vgl. Lutz-Bachmann, Niederberger, Schink (2010).  Vgl. Pollmann (2020: 67, 71). 56 Besonders bemerkenswert ist unter speziell diesem Aspekt das Werk von Hans Jonas (31982; 1993; 1994), da es einerseits im weitesten Sinne ›geschichtsphilosophische‹ Konsequenzen von ›Auschwitz‹ auslotet, andererseits aber auch um eine Ethik auf der Höhe der gegenwärtigen technologischen Zivilisation bemüht ist. 54 55

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Einleitung

nialistischen, rassistischen und vielfach gegenüber Schwachen aller Art, wie auch immer Behinderten und Abweichenden, Kranken, Kindern und Frauen repressiven Gewaltgeschichte weiterzuführen verspricht, in der Europa allerdings zu keiner Zeit je ganz aufgegangen ist. Allzu leicht würden es sich diejenigen machen, die es mitsamt aller seiner Idiome angesichts dieser Gewaltgeschichte in Bausch und Bogen verwerfen wollten. Das Resultat wäre Sprach- und Begriffslosigkeit, die nur jenen in die Hände spielen würde, denen die besseren Anteile europäischer Überlieferung und vor allem Selbstkritiken der Europäer ein Dorn in ihren populistischen und autokratischen Augen sind. Wenn die Anlage dieses Buches, das dazu dienen sollte, die gegenwärtige Bedeutung der nach 1945 geäußerten Geschichtskritik zu ermitteln, äußerlich an ein Kompendium erinnert, so liegt das u."a. daran, dass sich ein solches Unterfangen heute nur noch kooperativ, auf viele Schultern verteilt, und mit Blick auf eine irreduzible Pluralität von Positionen realisieren lässt, der systematisches ›Durchgreifen‹ unweigerlich Gewalt antun müsste. Offen bleiben muss, was dabei herausspringt für diejenigen, die sich gegenwärtig mit neuer Gewalt konfrontiert sehen, von der niemand vorweg sagen kann, wohin sie führen wird. In einer polymorphen, mit sich selbst nicht gleichzeitigen Gegenwart, die ihre Vorgeschichte vielfach nur in Modi des Vergessens beinhaltet, können wir nicht einmal dafür einstehen, wenigstens die Geschichte der Gewalt ›unverkürzt‹ zu erinnern. Und zwar umso weniger, wie wir uns nicht nur mit der ›eigenen‹, vielfach nachträglich angeeigneten Vergangenheit befassen, sondern auch in den jeweiligen Nachbarländern Spuren einer Gewalt entdecken, über die angeblich früher oder später das sprichwörtliche ›Gras‹ wachsen muss. Historiker wie Timothy Snyder, Philosophen wie Georges Didi-Huberman und AutorInnen wie Anne Michaels, Winfried G. Sebald und Geert Mak lehren uns die entsprechende Topografie als eine durch Vergessen nach und nach unkenntlich gewordene terra incognita von bloodlands zu entziffern57 und stören empfindlich den Prozess einer darauf sich gründenden Normalisierung, der selbst ein Autor wie Ricœur das Wort redet, wenn er vor einem ›Zuviel‹ an Gedächtnis warnt. Dabei klingt zweifellos Nietzsches Frage nach »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« aus der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen an, die man gewiss nicht einfach von der Hand weisen kann:58 Wie viel an geschichtlich vergegenwärtigter Vergangenheit ist überhaupt zu ertragen? Diesem ›klinisch‹ anmutenden Problem steht freilich eine andere Frage gegenüber: Wie viel von angeblich lebensdienlichem Vergessen kann bzw. darf sich unsere jeweilige Gegenwart leisten, ohne aufgrund geschichtlicher Ignoranz letztlich einer Verachtung anheimzufallen, die sich von einer anscheinend unüberwindlich gewaltsamen Geschichte und Geschichtlichkeit glaubt abwenden und ganz anderswohin  Vgl. Snyder (2010); Didi-Huberman (2007, 2011); Michaels (1998); Sebald (2001); Mak (2005). 58 Ricœur (2004); Nietzsche (1980: 243–334). 57

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orientieren zu sollen? Eine Entscheidung in dieser Angelegenheit ist weithin nicht in Sicht. Vielleicht ist das aber kein fatales Manko, wenn es stimmt, dass die seit 1945 radikalisierte Geschichtskritik gerade davon zehrt, dass diese Entscheidung offen bleibt und nicht ad acta gelegt wird. Nur unter dieser Voraussetzung besteht auch die geringste Aussicht darauf, dass die Geschichte, die wir heute nicht mehr als Totalität, sondern als lateral uns Verbindendes denken, nicht auf unabsehbare Zeit bleiben wird, als was sie sich bislang dargestellt hat. Was aber heißt ›bislang‹? Kann sich Geschichtskritik nach 1945 auf die seither ›abgelaufene‹ Geschichte oder auf deren unmittelbare Vorgeschichte beschränken? Erschöpft sie sich in jenem age of extremes, wie es der britische Historiker Eric Hobsbawm mit Blick vor allem auf die europäische Gewaltgeschichte nannte? Ist diese Epoche durch die Jahreszahlen 1914 und 1991 (wie bei Hobsbawm) richtig markiert? Haben wir diese Epoche bereits hinter uns, so dass wir sie im Ganzen ›übersehen‹ und beurteilen können? Oder setzt sich diese Geschichte in unserer Gegenwart, wo die Drohung des Krieges weltweit auch zwischen den Großmächten wieder virulent wird, unbeirrt fort, so dass wir allen Grund dazu hätten, ihren womöglich viel weiter zurückliegenden Ursprüngen nachzugehen? Gilt das nicht auch für die Gewalt einer kapitalistischen Ökonomie, die man oft genug als selbstdestruktive und kriegerische beschrieben hat? Nicht nur verseucht und vermüllt sie analog und digital die Erde, auf der zur gleichen Zeit eine fatale, immer wieder als »explosiv« beschriebene demografische Fehlentwicklung immer mehr Menschen immer weniger ausreichenden Lebensunterhalt bietet. Sie hat auch in eine massive Überschuldung geführt, die die Weltwirtschaft einschlägigen Berechnungen zufolge in absehbarer Zeit zu erdrücken droht. Mason (2016: 315) meint, dass Ökonomen und Ökologen in dieser Lage eine »sinnlose Debatte« darüber führen, »welche der beiden Krisen die wichtigere ist: die der Biosphäre oder die der Wirtschaft. Die materialistische Antwort ist, dass ihre Schicksale miteinander verwoben sind. Wir lernen die Natur nur kennen, indem wir mit ihr interagieren und sie verändern: So hat uns die Natur gemacht. Selbst wenn es der Erde ohne uns besser ginge, wie manche Anhänger einer ›Tiefenökologie‹ behaupten, sind wir die Einzigen, die sie retten können.« Statt einfach Panik zu verbreiten, will der Autor dazu beitragen, dass der Blaue Planet nicht derart destabilisiert wird, dass die Welt, die wir gemeinsam teilen, unbewohnbar wird, mag die Erde auch weiterhin bestehen bleiben, bis sie ihr bereits absehbares kosmologisches Schicksal in vier bis sechs Milliarden Jahren ereilen wird. Das gerät ganz aus dem Blick, wenn man meint, nachdem die menschliche Gattung aus der Naturgeschichte hervorgegangen ist, sei diese nun ihrerseits ganz und gar in die »menschliche Geschichte der Natur« (Serge Moscovici) übergegangen, so dass sogar das Schicksal der Erde, wie es Jonathan Schell vor vierzig Jahren in einem Bestseller ausgemalt hat, völlig vom Menschen abhängen wird. Eine solche glatte Verwechselung von Erde und Welt lässt sich nicht halten, sie zeigt aber an, wie groß die allgemeine Besorgnis ist, die seit der Entwicklung ato-

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Einleitung

marer Waffen, durch die die Selbstauslöschung der Menschheit heraufbeschworen wurde, nunmehr nicht nur die seit alters bekannte Sorge des Einzelnen oder eine spezielle Lage, die Anlass zur Sorge geben mag, sondern die Welt selbst betrifft, die Menschen durch ihre irdischen und endlichen Verhältnisse selbst hervorbringen – und anscheinend nur so hervorbringen können, dass sie sie zugleich radikal gefährden (Horkheimer 1974: 13; Maier 1995: 22), sei es durch ökologisch rücksichtsloses Wirtschaften, sei es durch höchst effektive Waffentechnologie oder durch ihre schiere Vermehrung. In unserer Gegenwart treffen offenbar alle drei Entwicklungen wie Kreuzseen zusammen. Ob vollkommen überraschend oder auf längst absehbare Art und Weise, darüber streiten die Experten seit Paul J. Crutzens und Eugene F. Stoermers Prägung dieses Begriffs im Jahre 2002 im Zeichen des sogenannten Anthropozäns, demzufolge alle bisherigen ›epochalen‹ Einteilungen der irdischen Natur- und Weltgeschichte nicht zum Kern der Sache vorgedrungen zu sein scheinen, aus der sich die geradezu suizidale Dynamik der Gegenwart erkläre (Manemann 2014). Dieser Kern wird demzufolge nicht erkannt, wenn man sich in der Suche nach deren Ursprüngen auf das 20. Jahrhundert als age of extremes, auf die Moderne, auf die Neuzeit oder auf die antiken Quellen der Renaissance konzentriert, aus denen manche bis heute die Ursprünge des Anspruchs herleiten, die Geschichte der Menschheit müsse sich als eine letztlich vernünftige deuten lassen. Womöglich liegt ›das Problem‹ radikaler Selbstgefährdung der menschlichen Gattung viel tiefer, in der Anthropogenese selbst begründet, deren vermutete Ursprünge sich allerdings in unvordenklichen Zeiten verlieren. So weit man sie auch zurückverfolgt, man stößt nur auf kontingente Anfänge. Und nach einer zigtausende von Jahren währenden Zwischenzeit der ›Entwicklung‹ von den Primaten bis hin zur Gattung des homo sapiens ist das Ende nicht wirklich absehbar. Dagegen hatte man alle Epochen der Geschichte der Menschheit nachträglich, also nachdem sie bereits abgeschlossen zu sein schienen, zu deuten  – bis zu jener Zeit, die in ihrem Begriff bereits ihre eigene Unüberholbarkeit ankündigte und zugleich die Aussicht auf eine endgültige Emanzipation von ihrer eigenen Vorgeschichte eröffnete: bis zur Moderne. Als dem Neuen verpflichtete und sich ständig erneuernde dürfte sie auch von einer sogenannten Postmoderne gar nicht zu überholen sein, es sei denn durch eine fatale Regression in eine Zeit, die ganz und gar vergessen würde, wie die Geschichte der Menschheit im Zeichen der Moderne über ihren eigentlichen, vernünftigen Sinn aufgeklärt worden war. Auch Autoren, die diesen Sinn als Vernunftanspruch verteidigt haben, dem die Geschichte der menschlichen Gattung im Ganzen zu unterwerfen wäre, sahen sich jedoch dazu gezwungen, deren destruktive Kehrseiten einzuräumen. Und heute liegen diese Kehrseiten derart offen zutage, dass sich eine radikale Umdeutung dieser Geschichte im Zeichen des Anthropozäns geradezu aufdrängt: Möglicherweise handelt es sich nicht etwa um ein progressives und im Prinzip rationales Zu-sichselbst-Kommen dieser Gattung, sondern um die vorläufige Endphase einer Zeit des Menschen, in der dieser sich zum Unterwerfer, Meister und Besitzer von allem

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Anderem aufgeworfen hat – unter Berufung auf das Alte Testament, auf Descartes oder auch auf Hegels Apologie der »Aneignung« von allem, was sich theoretisch und praktisch ›fassen‹ lässt – abgesehen von radikaler Alterität, womit geistig überhaupt nichts anzufangen ist, wie der deutsche Idealist meinte. Geschichtskritik nach 1945, heißt das, wird auf Dauer nicht umhinkönnen, auch alle diejenigen Begriffe zu revidieren, die sie einer ihrerseits nun radikal in Frage stehenden Vorgeschichte entnommen hat, um sie ›vernünftig‹ zu deuten. Weniger denn je, so scheint es, wird uns dabei allerdings obsessives Festhalten bloß an der »Arbeit des Begriffs« auf der Suche nach unvordenklichen Ursprüngen der menschlichen Gattung oder an letzten Zielen weiterhelfen, von denen her man deren Gewaltsamkeit rechtfertigen könnte. All das ist längst radikal verworfen worden. Davon unbenommen bleibt der Sinn des Aufeinanderhörens in der daraus sich ergebenden, unsere Geschichtlichkeit heute ausmachenden, gemeinsam geteilten Lage. Diesem Sinn mögen die hier versammelten Beiträge in erster Linie dienen. Ob sie dazu verhelfen werden, jene Anmaßungen des Menschen endlich hinter sich zu lassen, um ihn – bzw. die Menschen in ihrer irreduziblen Pluralität und Alterität – von sich selbst zu sich selbst zu befreien, sei es auch nur aus Sorge angesichts bedrohlicher Unbewohnbarkeit ihrer Welt, steht ebenso dahin wie die Antwort auf die Frage, wie ein nicht oder doch weniger gewaltsames, technizistisch verblendetes und Anderen gegenüber rücksichtsloses menschliches ›Selbst‹ denn Gestalt annehmen könnte, statt wie ein surveillance capitalism, ein bereits zu anderen Planeten aufbrechender Anthropofuturismus oder ein aggressiver, allseits ›abschreckender‹ Neo-Imperialismus für die Zukunft nur ›mehr Desselben‹ in Aussicht zu stellen, was die menschliche Gattung bislang schon überaus selbstdestruktiv bedroht hat.

Liter atur T. W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit Die zornigen alten Männer. edanken über Deutschland seit 19 5, C. Amery, Die Botschaft des Jahrtausends. Von Leben, Tod und ürde G. Anders, Besuch im ades. Auschwit und Breslau 19 . Nach olocaust 1979 Zum Ende der Geschichte In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken , – Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen Aristoteles, Vom immel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, Schwarzes Meer Niemand eugt für den eugen . Erinnerungskultur nach der Shoah Deutsche Zeitschrift für Philosophie

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Einleitung G. Bataille, Henker und Opfer Z. Bauman, Modernity and the Holocaust Postmoderne Ethik Der Holocaust und die westdeutschen Historiker R. Bernasconi, »›Totalität und Unendlichkeit‹ Hegel und Levinas Theorie des B sen. ur ermeneutik destruktiver Verknüpfungen H. Blumenberg, Arbeit am Mythos Das eitalter der enschenrechte. st Toleran durchset bar , Aufsät e – Reden – Kritiken. Bd. ier ulande. Aufsät e ur eit, Frankfurter Vorlesungen Eine deutsche Erinnerung Das einrich B ll Lesebuch, Die Fähigkeit u trauern. Schriften und Reden 19 3–19 5 Philosophische Schriften 1. Kritik Nach itler. Der schwierige mgang mit unserer eschichte C. Browning, an normale änner. Das Reserve-Poli ei-Batallion 101 und die Endl sung in Polen A. Camus, Der ensch in der Revolte B. Chaouat, s Theory ood for the Jews French Thought and the hallenge of the New Antisemitism R. G. Collingwood, The dea of istory Über Zeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft Bilder trotz allem enn die Bilder Position be iehen. Das Auge der eschichte Überleben der Glühwürmchen Die ornigen alten änner. edanken über Deutschland seit 19 5 Kosmos und eschichte. Der ythos der ewigen iederkehr Deutschland, Deutschland unter anderem. u erungen ur Politik, The Tanner Lectures on Human Values Die vergebliche Erinnerung. Vom Verbrechen gegen die enschheit, erst rung des moralischen Selbstbewu tseins hance oder efährdung Von der Subversion des issens Das Ende der Geschichte Jüdische Geschichte und ihre Deutungen Das Ende der llusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert

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Burkhard Liebsch Die ukunft ist eschichte. ie Russland die Freiheit gewann und verlor, Berlin itler s illing Executioners. rdinary ermans and the olocaust S. Goltermann, pfer. Die ahrnehmung von Krieg und ewalt in der oderne Auch eine eschichte der Philosophie. Bd. 1 2, Berlin Im Schatten der Geschichte. Historisch-politische Variationen, Stuttgart er vorausschreibt, hat urückgedacht . Essays . R. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. 3 E. Hobsbawm, The Age of Extremes. The Short Twentieth entury 191 1991, Die Vergangenheit im Begriff. Von der Erfahrung der Geschichte zur Geschichtstheorie bei Reinhart Koselleck ur Kritik der instrumentellen Vernunft U. Horstmann, Das ntier. Konturen einer Philosophie der enschen ucht W. Iwanow, Das alte ahre. Essays Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage Folgen der Fran sischen Revolution Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation Dem b sen Ende näher. espräche über das Verhältnis des

enschen ur Natur,

Philosophische ntersuchungen und metaphysische Vermutungen, Situating Existentialism. Key Texts in ontexts, Nachdenken über das 20. Jahrhundert Schriften ur Anthropologie, eschichtsphilosophie und Pädagogik 1. erkausgabe Bd. Verkörperungen des Dritten im Deutsch-Französischen Verhältnis. Die Stelle der Übertragung Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Galeerentagebuch ch – ein anderer, Die exilierte Sprache Let te Einkehr. Ein Tagebuchroman, Reinbek Trauer und eschichte Souveränität und Subversion Figurationen des Politisch- maginären, Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog Erstickte

orte

Das Holocaust-Mahnmal. Dokumentation einer Debatte

eschichte – Vor den let ten Dingen Folgen der Fran sischen Revolution,

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Einleitung Geschichte im Denken der Gegenwart eschichte und Tradition Die Zeit Reden um V. Kongre des Tschechoslovakischen Schriftstellerverbandes Prag, Juni 19 7 Die eidegger-Kontroverse, B. de Las Casas, Kur gefa ter Bericht von der Verwüstung der

estindischen Länder

Die ntergegangenen und die eretteten E. Levinas, Totalität und nendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum B. Liebsch, Geschichte als Antwort und Versprechen astlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur Revisionen der Trauer. n philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven

Kantstudien 9 Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung Be eugte Vergangenheit oder Vers hnendes Vergessen. eschichtstheorie nach Paul Ricœur Deutschen Zeitschrift für Philosophie Renaissance des enschen um polemologisch-anthropologischen Diskurs der egenwart, naufhebbare ewalt. mrisse einer Anti- eschichte des Politischen. Leip iger Vorlesungen ur Politischen Theorie und So ialphilosophie Der Andere in der eschichte. So ialphilosophie im eichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar u Emmanuel Levinas handlung Die Schuldfrage

The Failures of Ethics Existen erhellung – ren bewusstsein – Sinn der eschichte. Dem Andenken an Karl Jaspers 1 3–19 9 . iener Jahrbuch für Philosophie 51 Schrift des Desasters eitschrift für eno idforschung 1 , Todes onen Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken 50 Telepolis

Telepolis

Trostlose Vernunft Vier Kommentare u Jürgen abermas Konstellation von Philosophie und eschichte, lauben und issen S. Lindqvist, Durch das Herz der Finsternis

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Burkhard Liebsch Kosmopolitanismus. ur eschichte und ukunft eines umstrittenen deals, Der iderstreit Eine Kultur oder viele Politische Essays n Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert Kritik des Anthropo äns. Plädoyer für eine neue uman kologie Essays. Bd. 2. Politik Postkapitalismus. Gundrisse einer kommenden Ökonomie Vier ig Jahre nach Auschwit . Deutsche eschichtserinnerung heute, Von Athen nach Auschwit Betrachtungen ur Lage der eschichte, Die Abenteuer der Dialektik Ende der eschichte , Fugitive Pieces , m Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neu eit, Der Sinn des istorischen. eschichtsphilosophische Debatten, Posthistoire. st die eschichte u Ende , Kritische Studienausgabe Bd. 1 Raymond Aron und Deutschland. Die Verteidigung der Freiheit und das Problem des Totalitarismus Ket erische Essays ur Philosophie der eschichte The reat Transformation. Politische und konomische rsprünge von esellschaften und irtschaftssystemen, Berlin Fragmente aus der End eit. Negatives eschichtsdenken bei ünther Anders, Göttin Symbolik des Bösen eit und Er ählung. Bd. . Die er ählte eit, Das Selbst als ein Anderer Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Ver eihen, Le mal. n d la philosophie et la th ologie edächtnis, eschichte, Vergessen, Als der Krieg u Ende war . Erinnerungen an den

ai 19 5

Paris unter der Besat ung. Artikel und Reportagen 19 –19 5 Deutsche eitschrift für Philosophie Leiden an Deutschland. Vom antisemitischen

ahn und der Last der Erinnerung,

The American Deep State. Big oney, Big il, and the Struggle for .S. Democracy, Lanham W. G. Sebald, Austerlit , Liberalismus der Furcht T. Snyder, Bloodlands. Europe between itler and Stalin, Friedrich einecke. Die deutsche Katastrophe. Edition und internationale Rezeption

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Einleitung G. Steiner, Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das nmenschliche, Re exionen nsterer eit. Zwei Vorträge von Fritz Stern und Hans Jonas Das Ende. Figuren einer Denkform. Poetik und ermeneutik V , L. Strauss, Naturrecht und eschichte Drei ur eln des Krieges, und warum nur eine nicht ins Verderben führt. Philosophische Linien in der Gewaltgeschichte des Abendlandes ein Faust, eschichtsschreibung – und was sie nicht ist, Antisemitism Before and Since the Holocaust. Altered ontexts and Recent Perspectives A. Wieviorka, L re du t moin, Diener von K nigen und nicht Diener von Dienern. Einige Aspekte der politischen eschichte der Juden, S. The Age of Surveillance apitalism, Internetquelle

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TH EO DO R W. ADO R N O Eine Art geschichtlicher Atempause Theodor W. Adornos Negative Dialektik und die Unmöglichkeit einer Geschichtsphilosophie ohne Geschichtsschreibung ertr d

H Die Welt ist schlimmer als die Hölle und besser.1

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dornos schwierigstes Buch ist die 1966 erschienene Negative Dialektik. Bereits im Wintersemester 1960/61 beschließt Adorno seine Vorlesung zu »Ontologie und Dialektik« mit dem Begriff der negativen Dialektik. Fünf Jahre später stellt Adorno die Negative Dialektik wiederum ins Zentrum einer Vorlesung. In dieser zweiten Vorlesung 1965/66 weist er auf Negative Dialektik als Kritik hin und zieht die direkte Verbindung zum Programm der Kritischen Theorie: »Durch das, was ich gesagt habe, wird Ihnen deutlich geworden sein, daß der Begriff der Dialektik, der negativen Dialektik − und das dürfte auch die Wahl des Terminus negativ nicht unwesentlich stützen − kritisch wird; daß also eine Art von Dialektik, der es nicht darauf ankommt, wie der späte Hegel es gefordert hat, in allen Negationen das Affirmative zu finden sondern das Gegenteil, − daß sie sich kritisch zu verhalten hat. Und ich möchte hier zunächst einmal thetisch ganz allgemein voranstellen, daß die negative Dialektik, von der ich Ihnen Elemente und Idee zu entwickeln habe, mit einer kritischen Theorie im Wesentlichen dasselbe ist. Ich würde denken, die beiden Termini Kritische Theorie und Negative Dialektik bezeichnen das gleiche. Vielleicht, um exakt zu sein, mit dem einen Unterschied, daß Kritische Theorie ja eben wirklich nur die subjektive Seite des Denkens, also eben die Theorie bezeichnet, während Negative Dialektik nicht nur dies Moment angibt sondern ebenso auch die Realität, die davon getroffen wird; also daß der Prozeß nicht nur ein Prozeß des Denkens sondern, und das ist guter Hegel, zugleich ein Prozeß in den Sachen selber sei.«2 In aller Deutlichkeit benennt Adorno hier für die Studenten seiner Vorlesung die Felder, die zueinander in einer dialektischen Konstellation sich befinden: Theorie als Denken in und von Begriffen, also Philosophie und Realität materieller Sachen und Sachverhalte. Diese Ausgangslage einer Negativen Dialektik zwischen theoretischer Idee und materialer Sache ist weder antipodisch gedacht − hier Theorie, dort Praxis − 1

 Adorno (1966: 393).  Adorno (2003: 36!f.).

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noch als bloße Vermittlung zweier Pole, sondern als ein epistemischer Komplex, in dem das, was per se begriffslos ist, an den Begriffen zerrt und sie kritisch prägt. Dies begründet Adorno mit den Aporien der Philosophie selbst, die das Begriffslose nicht in ihrem eigenen Medium, dem der Begriffe, fassen kann. Hier nun soll die Dialektik zu ihrem Zug kommen: »Man muß also fragen, ob Philosophie noch möglich ist. Wenn ich diese Frage gleichsetze der Frage nach der Möglichkeit von Dialektik, so habe ich Ihnen das auch nach der positiven Seite zu rechtfertigen. Die negative ist die, daß die antidialektischen Philosophien eben jener kritischen Selbstbesinnung, von der ich denken möchte, daß sie notwendig ist, nicht standzuhalten vermögen. Dabei möchte ich Sie noch einmal darum bitten, von Dialektik einen möglichst unpedantischen, also nicht an das schematisch-dialektische Philosophieren gebundenen Begriff zunächst einmal an die Sache heranzubringen, wenn Sie verstehen wollen, was ich mit der Frage nach der Möglichkeit von Dialektik meine. Sie stellt den Versuch dar, das was der Philosophie heterogen ist, ihr Anderes, man könnte vorgreifend sagen: das Nichtbegriffliche […] in seiner Nichtbegrifflichkeit zu begreifen.«3 Im Versuch, den Studenten begreiflich zu machen, dass die Philosophie selbst kritisch wird in einem doppelten Sinn, als Philosophie, muss sie ihr eigenes Negatives, das Unbegriffliche denken. Also erst wenn sie ihr eigenes System zu überschreiten vermöchte, käme sie in die Nähe des Begreifens des Unbegrifflichen. Erst wenn sie das Unbegriffliche denken könnte, würde sie sich aus dem, was an anderer Stelle als »Guckkasten-Metaphysik« markiert wird, lösen können und zu den Sachen als materielle und zugleich begrifflich gefasste gelangen. Die Philosophie selbst steht also an einer historischen Bruchstelle, von der aus sie nicht mehr einfach weiter als geschlossenes System von Begriffen, die sich auseinander hervorbringen, Erkenntnis bringen kann. »Wir befinden uns in einer Art geschichtlicher Atempause«4, sagt Adorno; und damit meint er die temporäre Abwesenheit von faschistischer Gewalt und Zwang in der Bundesrepublik der sechziger Jahre − nach der totalitären NS-Herrschaft, nach Auschwitz. In dieser Atempause der Gewaltgeschichte stellen sich der Philosophie andere Probleme als ihre systemische Selbstschließung. Damit aber schlösse sie sich auch gegen die »Gestalt der Realität«, ab: aus der nun aber geradezu »eine moralische Verpflichtung« »an Sie [gemeint sind die Studenten in der Vorlesung] genauso wie an mich ergeht«.5 Philosophie, der logische Reinheit wichtiger ist als die Welt, verfehlt die Aufgabe der Philosophie selbst. Das Kant’sche Postulat, dass ein jeder sich seines eigenen Verstandes bedienen müsse, die appellative Performanz der Vernunft, verschafft sich wieder Gehör im Hörsaal. Die Vorstellung einer »Atempause« zum Denken ist über das Metaphorische hinaus eine präzise Zeitform,  Adorno (2003: 86!f.).  Adorno (2003: 88). 5 Adorno (2003: 88).

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Eine Art geschichtlicher Atempause

die zwei zeitliche Zustände miteinander verbindet, denn die Atempause folgt auf das Anhalten des Atems, sie macht das Durchatmen wieder möglich. In der »Atempause«, die Adorno in der Zeit der sich demokratisierenden BRD Mitte der sechziger Jahre erfährt, überlagern sich beide assoziativen Bedeutungsräume. Das Anhalten der Luft ist eine somatische Reaktion auf eine Gefährdung, während die Pause zum Durchatmen eine Spannungslösung ermöglicht, einen pneumatischen Neuanfang. Zu den großen Paradoxien dieser Zeit gehört, dass in ihr die Konfrontation mit der Kontinuität der NS-Zeit und ihrer Protagonisten zwar im öffentlichen Raum stattfindet, gerade auch im Gerichtssaal in Frankfurt am Main, wo vom 20. Dezember 1963 bis zum 19. August 1965 die Auschwitz-Prozesse stattfinden, während das Alltagsbewusstsein im Dämmerzustand zwischen Leugnung und ritualisierter Abwehr gehalten wird. Fast zwanzig Jahre nach den Nürnberger Prozessen der Alliierten gegen die Kriegsverbrechen der Nazis rückt das Vernichtungslager Auschwitz ins Zentrum und wird zur gleichen Zeit ebenso vergegenwärtigt wie, im metaphorischen Sinne, zu den Akten gelegt. Auschwitz hat stattgefunden, von seinem Ende her wird nun seine Faktizität gerichtlich dokumentiert. Die mörderische Dystopie des Vernichtungsantisemitismus, dessen Akteure Millionen europäischer Juden brutal töteten in einem der grauenvollsten Genozide der Moderne, hatte als Drittes Reich sich verwirklicht  – und auch wenn die Alliierten durch den militärischen Sieg über Hitler einige, wenige Juden vor der Vernichtung bewahren konnten, und auch das mehr als ›Nebeneffekt‹ militärischer Intervention denn als politische Intention, so wurde doch die Bedeutung dessen, was in Auschwitz und an anderen Orten der Vernichtung passierte, nur schemenhaft kommunizier- und begreifbar. Geschichtsphilosophie kann hier nur als Versuch aufgefasst werden, das ›Unbegriffliche‹ historischer Vorkommnisse als Erfahrung eines Geschehenen zu denken und damit vielleicht aus jener »Atempause« heraus zu ermessen, was dies nun für das Leben der Menschen bedeutet. Von einem teleologischen Sinn der Geschichte lässt sich nicht ausgehen, so wenig wie von einem von außen gesetzten Sinn des Lebens. Teleologisch lässt sich Geschichte nicht mehr denken, weil damit der Zufall und das Unbestimmte geleugnet würden, das in den zu Strukturen systemisch sich verdichtenden historischen Entwicklungen eingeschlossen ist. Es gibt kein höheres Gesetz, das in Geschichte und Leben der Menschen wirkt und als absolute Finalität kausalen Narrationen der Ereignisse einen festen Sinn verliehe. Weder dystopische noch Erzählungen geradlinigen Fortschritts lassen sich daraus gewinnen. Weder Gott noch Weltgeist bestimmen den Verlauf der Dinge, allenfalls lässt sich retrospektiv diagnostisch der Zeitgeist als Verständnis einer vergangenen Aktualität an die Stelle der großen Wirkmächte setzen. Daraus folgt auch die Möglichkeit einer »Atempause«, denn warum »die Welt schlimmer ist als die Hölle und besser«6, liegt genau in der Offenheit des Zeithorizonts: »Schlimmer« ist sie, »weil nicht einmal die Nihilität jenes Absolute wäre, als welches sie schließlich noch im Schopenhauer6

 Adorno (1966: 393).

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schen Nirwana versöhnlich erscheint. […] Besser aber ist die Welt, weil die absolute Geschlossenheit, die Schopenhauer dem Weltlauf zuerkennt, ihrerseits erborgt ist vom idealistischen System, reines Identitätsprinzip und so trügend wie jegliches.«7 Adornos Antwort auf die idealistische Geschichtsphilosophie in ihrer positiven Form apotheotischer Aufhebung wie auch in ihrer negativen Form absoluter Verzweiflung, zwischen spätem Hegel und Schopenhauer, Marx und Kierkegaard stellt Geschichtsphilosophie zur Disposition − zur Disposition eines Denkens, das das Negative der Welt in einer dialektischen Spannung hält, die weder automatisch als doppelte Negation das Gute hervorbringt noch einfache bestimmte Negation ist. Im Exkurs zu Hegel. Weltgeist und Naturgeschichte in der Negativen Dialektik bringt Adorno en passant den Zusammenhang von Geschichte und Philosophie als Kernproblem einer Geschichtsphilosophie zur Sprache, die sich weder in der bloßen Faktizität positivistischer Geschichtsschreibung noch in der idealistischen Hypostasierung von Begriffssystemen erschöpfen kann: »Geschichtsphilosophische Konstruktion bedarf der Kenntnis alles dessen.«8 Gemeint ist hier die Einbettung in gesellschaftliche Konstellationen einer historischen Situation. »Nicht zuletzt darum nähert, wie bereits in Hegel und Marx, die Geschichtsphilosophie ebenso der Geschichtsschreibung sich an, wie diese, als Einsicht in das von der Faktizität verschleierte, aber diese bedingende Wesen, bloß noch als Philosophie möglich ist.«9 Bei Kierkegaard schlug bereits die Stunde der Ironie und des Humors in der Nichtung durch Kontingenz. Kafka dagegen biegt die Erfahrung des Absurden in der Kontingenz in den »Weltlauf« zurück: »Der verstörte und beschädigte Weltlauf ist, wie bei Kafka, inkommensurabel auch dem Sinn seiner reinen Sinnlosigkeit und Blindheit, nicht stringent zu konstruieren nach deren Prinzip. Er widerstreitet dem Versuch verzweifelten Bewußtseins, Verzweiflung als Absolutes zu setzen. Nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit. So hinfällig in ihm alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets wieder gebrochenen Versprechungen jenes Anderen. Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich versagen.«10 Glück gehabt hat der Überlebende, der eine Welt nach Auschwitz erfährt in einer »Atempause«. Aber wenn »jegliches Glück« »bloß Fragment des ganzen Glücks« ist, dann kann das nicht alles gewesen sein, was sich als geschichtliche Konstellation eines Lebens nach Auschwitz zeigt. Wäre Glück nicht mehr als reiner Zufall, Lotterie, wäre es nicht mehr als bloße Faktizität, ein positiver Unfall. Mit einer solchen  Adorno (1966: 393).  Adorno (1966: 295). 9 Ebd. 10 Adorno (1966: 393!f.). 7

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Eine Art geschichtlicher Atempause

Idee vom Glück lässt sich aber dieses nicht verallgemeinern, bliebe also blindes Faktum und keine Idee, die im Bewusstsein von ihrer geschichtlichen Möglichkeit als Zukunft liegt. Insoweit sich das Überleben der Vernichtung kaum als individueller Verdienst verstehen lassen kann, über den es eine eigene Verfügungsgewalt gegeben hätte, verbindet sich das Glück, von dem hier nur die Rede sein kann, mit einem Begriff des Lebens, der mehr als das bloße Überleben impliziert. Die Schuld, die der Überlebende spürt, richtet sich nicht auf das factum brutum des zufällig Überlebt-Habens, auf das Glück-gehabt-Haben, sondern auf die Möglichkeit eines Lebens, das der rohen Naturnotwendigkeit entronnen ist und in dem Glück als subjektive Erfahrung möglich sein soll. Glück kann man haben, ohne doch damit glücklich zu werden. Adorno spricht das an einer Stelle aus; und zwar in einer Abwandlung der schopenhauerschen Diskussion der alten Frage der Philosophie, ob es nicht besser sei, nicht geboren worden zu sein und so dem Leiden des Lebens in einer unzureichend eingerichteten Welt zu entgehen: »Fragen ließe sich, von solchen, denen Verzweiflung kein Terminus ist, ob es besser wäre, daß gar nichts sei als etwas. Noch das weigert sich der generellen Antwort. Für einen Menschen im Konzentrationslager wäre, wenn ein rechtzeitig Entkommener irgend darüber urteilen darf, besser, er wäre nicht geboren.«11 Aber die hypothetische Affirmation des substanzialisierten Nichts wird sogleich zurückgenommen in einem Verweis auf Zeichen der Lebendigkeit, die Momente der Intensivierung körperlicher Vermögen begleiten: »Trotzdem verflüchtigte sich vorm Aufleuchten eines Auges, ja vorm schwachen Schwanzklopfen eines Hundes, dem man einen guten Bissen gegeben hat, den er sogleich vergißt, das Ideal des Nichts.«12 »Das Aufleuchten eines Auges« ist der lebendige Ausdrucks eines auf einen anderen gerichteten affektiven Blicks, das Versprechen eines Kontakts, einer Form von Intimität mit einer anderen Person, sei es sprachlicher Anrede oder erotischer Anziehung. »Der gute Bissen«, den der Hund begrüßt, ist mehr als notwendiges Futter. Es sind also genau jene Bedürfnisse, die über das bloße Überleben hinausgehen, die das Glücksmoment des Lebendigen als erfahrene eigene Lebendigkeit ermöglichen. Es ist kein Zufall, dass die Lebendigkeit, ein Kernbegriff der Kant’schen Ästhetik, hier eingetragen ist, denn für Kant erfahren wir uns im Ästhetischen als lebendig. In Adornos ästhetischer Verdichtung der Kant’schen Idee fühlen wir uns aber nicht in der Welt zu Hause, in die wir geboren wurden, sondern in der von der Kunst negierten und erst kommenden. Adornos Versuch, eine negative Dialektik zu begründen, die weder in die Falle identifizierender Begriffe noch ins Diffuse positiver Fakten geht, greift folgerichtig immer wieder sowohl auf die Begriffe der Philosophiegeschichte, auf Dinge und Szenen des Alltags wie auf Kunstwerke zurück. Und so beendet er die Diskussion zum Nichts als philosophischem Begriff mit einem Vorgriff auf Becketts Poetik: 11

 Adorno (1966: 371).  Ebd.

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»Auf die Frage, ob er ein Nihilist sei, hätte ein Denkender mit Wahrheit wohl zu antworten: zu wenig, vielleicht aus Kälte, weil seine Sympathie mit dem, was leidet, zu gering ist. Im Nichts kulminiert die Abstraktion, und das Abstrakte ist das Verworfene. Beckett hat auf die Situation des Konzentrationslagers, die er nicht nennt, als läge über ihr Bilderverbot, so reagiert, wie es allein ansteht. Was ist, sei wie das Konzentrationslager. Einmal spricht er von lebenslanger Todesstrafe. Als einzige Hoffnung dämmert, daß nichts mehr sei. Auch die verwirft er. Aus dem Spalt der Inkonsequenz, der damit sich bildet, tritt die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor, die seine Dichtung festhält. Im Erbe von Handlung darin, dem scheinbar stoischen Weitermachen, wird aber lautlos geschrien, daß es anders sein soll.«13 Diese zitierten Passagen aus der Negativen Dialektik sind in mehrerer Hinsicht irritierend. Die zwar mit Vorsicht angezeigte, aber dennoch formulierte Annahme, dass ein Leben in Auschwitz ein Leben nach Auschwitz verunmöglicht und das Leben vor Auschwitz nichtet in einem Maße, dass die Arie des Orpheus »Wär, o wär ich nie geboren, weh, dass ich auf Erden bin!« ebenso wie Fausts »O wär ich nie geboren!« zur reinen Rhetorik gerinnen lässt, steht im Widerspruch zu dem mit Beckett geteilten Verdikt, das Bestehende »sei wie das Konzentrationslager«. Während das wirkliche Auschwitz den realen Tod bedeutet und die Idee von einem möglichen Leben zerstört, lässt das metaphorische Konzentrationslager eine doppelte Möglichkeit offen: Es enthält die Möglichkeit im Bestehenden für Auschwitz − aber auch die seiner Abschaffung. Geschichtsphilosophisch gewendet sagt dieser Gedanke, dass Auschwitz innerhalb der Dialektik der Aufklärung stattfindet. Ohne moderne Technologie von Industrieanlagen und einer Infrastruktur wie dem europäischen Eisenbahnnetz z.!B. hätte es so nicht stattfinden können. Es ist nicht das metaphysisch Andere, der Einbruch eines Bösen in eine vernünftig eingerichtete Welt, sondern eher, um es mit Hannah Arendt zu sagen, die immanente Banalität des Bösen, die mit dem konkreten historischen Ereignis nicht aufgezehrt ist. Auch wenn die Geschichte als konkrete sich nicht wiederholen mag, so bleibt die Disposition als Latenz erhalten. Lediglich eine »Atempause« macht den lautlosen Schrei, »daß es anders sein soll«, hörbar. Geschichtsphilosophisch lässt sich ein historisches Ereignis lediglich als einzigartig in seiner vergangenen Form beschreiben, ob es Varianten zukünftig geben wird, lässt sich weder prophezeien noch ausschließen. Geschichtsphilosophie nach Auschwitz hält daran fest, dass Auschwitz nicht bloß als von außen zustoßendes Verhängnis passiert ist, sondern die industrielle Vernichtung als planvollen Akt, als koordiniertes Handeln vollzogen hat. Insofern verweist Auschwitz, wie Tilo Wesche an der Negativen Dialektik aufgezeigt hat, auf Pathologien in der modernen Gesellschaft: »Das Zurückfallen der Moderne hinter ihre Möglichkeiten betrifft Rationalitätspotentiale, die nicht aufgrund äußerer Umstände, sondern aus sich selbst unverwirklicht bleiben. Solche kognitiven Entlastungen, die ohne Not und Zwang in Kauf genommen werden, bilden die Grundlage für Adornos 13

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 Adorno (1966: 371!f.).

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Diagnose der Gleichgültigkeit, die Auschwitz überhaupt erst möglich gemacht hat. […] Gleichgültigkeit ist dabei nicht fremdverursacht, sondern eine von ihnen [den betroffenen Subjekten] mitverschuldete Form ihrer Beziehungen.«14 Rund fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung der Negativen Dialektik scheint Adornos These noch immer plausibel – die Konstellation, die Auschwitz möglich gemacht hat, ist verschoben, aber keineswegs suspendiert. Manifest und am direktesten lässt sich das am Fortbestehen nazistischer Akteure festmachen, die nicht nur klammheimlich den Vernichtungsantisemitismus der Nazis akklamieren, sondern in neuen Formen, Farben und Parteien faschistische Ausgrenzungen ganzer Gruppen wie Migranten politisch propagieren. Aber auch die beachtliche Gleichgültigkeit, mit der die Internierungen Flüchtender an den Grenzen des Schengenraums vonstattengeht als offizielles Programm demokratischer westeuropäischer Staaten, weckt Zweifel daran, dass das Erschrecken vor dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), den Auschwitz darstellt, zu einer prinzipiell und nicht nur graduell zivileren Gesellschaft geführt hat, die nicht ausschließlich im begrenzten ökonomischen Eigeninteresse handelt. Die Frage also, ob es gelungen ist, menschliches Leben vom Leiden, von Folter und Todesschrecken, sozialer Ächtung und hierarchischer Ausgrenzung zu befreien, muss negativ beantwortet werden. Negative Dialektik als Kritik kann sich nicht damit begnügen zu hoffen, dass die Atempause anhält, weil sich bereits gezeigt hat, dass die Befreiung der Gesellschaft, die universalistisch gesehen, aber auch in konkreter materialer Bedingtheit nur als Weltgesellschaft denkbar ist, auf der Stelle tritt. Im Anhang zur Dialektik der Aufklärung findet sich unter den »Aufzeichnungen und Entwürfen« eine »Kritik der Geschichtsphilosophie«, die diesem Umstand Rechnung tragen möchte, dass die Spezies Mensch die Erde übernommen hat und sowohl die Natur wie sich gegenseitig vernichtet: »Nicht die Menschengattung ist, wie man gesagt hat, ein Seitensprung der Naturgeschichte, eine Neben- und Fehlbildung durch Hypertrophie des Gehirnorgans. Das gilt bloß für die Vernunft in gewissen Individuen und vielleicht in kurzen Perioden sogar für einige Länder, in denen die Ökonomie solchen Individuen Spielraum ließ. Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte − und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zweck dienen und nur besser funktionieren − ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpassung. Die Menschen haben ihre unmittelbaren Vorgänger nicht nur überholt, sondern schon so gründlich ausgerottet wie wohl kaum je eine modernere species die andere, die fleischfressenden Saurier nicht ausgeschlossen.«15

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 Wesche (2011: 382); vgl. Adorno (GS 6: 363).  Horkheimer, Adorno (1988: 234).

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Diese erstaunliche Passage nimmt in den Fokus, was gegenwärtig im wahrsten Sinn des Wortes zum Brennpunkt geworden ist: Naturgeschichte unter der Herrschaft der Spezies Mensch steht im Zeichen der Vernichtung ihrer eigenen Voraussetzung. Die negative Anthropologie, die quasi die Makrogeschichte der Materie konstelliert, schlägt zurück bis in die Mikrogeschichte menschlichen Handelns. Der Hass aufs Körperliche entsteht als blinde Reaktion auf die organische Fragilität – Krankheit und Tod werden zum Stigma und im Separieren der Kranken, im Totschlagen der Ausgegrenzten wird nur scheinhaft Herrschaft über den Tod errichtet. Die Rolle der Medizin im Dritten Reich, die eilfertige Beglaubigung des Rassismus als wissenschaftliche Lehre sind die eklatantesten Beispiele einer Dialektik der Aufklärung, die als utilitaristische Zweck-Mittel-Kalkulation ausgewiesen noch den höllischsten Vernichtungsimpulsen den Anschein von rationaler Planung verleiht. Die Makrorahmung in der Naturgeschichte ist nicht ohne Voraussetzung vorgenommen. Sie bildet einen Baustein zu einer materialistischen Geschichte, die weder das Naturverhältnis, in dem die Spezies zu sich selber steht, ausblendet noch die Interdependenz mit der von Menschen selbst in der Vergesellschaftung gemachten Geschichte verkleinert – also zwischen der Skylla der Naturalisierung der Gesellschaft und der Charybdis systemischer Schließung der menschlichen Gesellschaft im Konstruktivismus hindurchsteuert. So erinnert die zitierte Passage aus der Dialektik der Aufklärung an neuere Theorien zum Anthropozän als einer naturgeschichtlichen Epoche, in der die Spezies die Natur selbst negativ adaptiert hat. In Horkheimers und Adornos Worten: »Denn soviel ist in der Tat am Anthropomorphismus richtig, daß die Naturgeschichte gleichsam mit dem glücklichen Wurf, der ihr im Menschen gelungen ist, nicht gerechnet hat. Seine Vernichtungsfähigkeit verspricht so groß zu werden, daß − wenn diese Art sich einmal erschöpft hat – tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab.«16 Der Begriff von Naturgeschichte, der hier wirksam wird, ist alles andere als eindimensional, denn er geht immer von der Doppelstellung aus, in der Natur und Geschichte zueinander stehen, weil sie komplex verschränkt sind. Hat Natur ein geschichtliches Moment der Verzeitlichung eingeschrieben, weil Natur selbst nicht ewig, sondern vergänglich ist, der Tod ist Naturwerden der Geschichte und das Geschichtliche in der Natur selbst, so lässt sich eine Geschichtsphilosophie der Naturgeschichte auch nicht mehr als bloße Konstellation zufälliger Möglichkeiten aus einem nicht bestimmbaren Infinity Pool der Fakten denken: Zweite Natur, die der sozialen Tatsachen und Konventionen, ist erste Natur. Im Anschluss an Lukács und Benjamin beginnt Adorno seine geschichtsphilosophischen Überlegungen im Essay von 1932 über Die Idee der Naturgeschichte: »Unter dem radikalen naturgeschichtlichen Denken aber verwandelt sich alles Seiende in Trümmer und Bruchstücke, in eine solche Schädelstätte, in der die Bedeutung aufgefunden wird, in der sich Na16

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 Horkheimer, Adorno (1988: 233!f.).

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tur und Geschichte verschränken, und Geschichtsphilosophie gewinnt die Aufgabe ihrer intentionalen Auslegung.«17 Erst in der Auslegung werden die Konstellationen als historische Möglichkeiten gesehen und bekommen Bedeutung. Was aus den Trümmern gelesen werden soll, ist kein ›höherer Sinn‹, sondern die Sondierung dessen, was sich in ihnen als neu zeigt. Geschichtsphilosophie im Sinne einer negativen Dialektik wäre also die Reflektion auf das Neue im Alten, ein Umbruch, der sich nicht auf die versteinerte Wiederholung reduzieren lässt. An Auschwitz zu verstehen im naturgeschichtsphilosophischen Modus wäre also nicht die Wiederkehr des substanzialisierten ›Bösen‹ im Menschen, sondern es sind die neu gewonnenen Möglichkeiten fabrikmäßiger, massenhafter Erzeugung und Entsorgung toter Körper, zustande gebracht von einem technologisch und militärisch aufgerüsteten Staat, der sich zum aktiven Vollstrecker antisemitischer Ressentiments und Verschwörungstheorien gemacht hat, die nicht neu waren und sich in zahllosen Pogromen niederschlugen, mit aktiver Hilfe von zahllosen Fanatikern und gleichgültigen Befehlsempfängern, die sich die Taten, an denen sie mitwirkten, noch nicht einmal zurechnen wollten. Gegenstand der Geschichtsphilosophie wird Auschwitz, weil es auf einer Konstellation fußt, die universeller ist und genau deshalb geschichtlich ist, es weist über das unabänderlich Faktische des Geschehens hinaus auf eine Möglichkeit der Vernichtung als menschlich Vorstellbarem. Auch wenn Auschwitz sich nie wiederholen wird, weil es als eine konkrete Konstellation nicht wiederholbar ist, bleibt es als eine von menschlichen Händen und Hirnen geplante und ausgeführte Handlung immer auch ein Modell des akkumulierten Grauens, das sich durch rituelles, wiederholendes Gedenken nicht verdrängen lässt als Geschichte gewordenes.18 Das »absolut Böse« kommt in Auschwitz zum Zuge, wo die somatischen Reste, die der Herrschaft des Geistes sich entziehen, bloßgelegt werden als geschundenes Fleisch, das sinnlos gequält wird.19 Dass die Totgeschlagenen und Vergasten nicht beerdigt, sondern als organischer Abfall beseitigt werden, gehört zum Programm vollständiger Vernichtung, die jedoch nichts daran zu ändern vermag, dass das geistig-mentale Gebilde der Person, deren toter Körper im rite de passage vom Leben in den Tod nicht einfach Aas, sondern zum Leichnam wird, der immer noch zur Person gehört und insofern eben noch nicht zu Erde, zu Staub geworden ist. Den als »Untermenschen« Ausgegrenzten wurde noch dieses fadenscheinige Privileg nicht  Adorno (1973: 360).  Zur zentralen Bedeutung der Geschichtsphilosophie für die Kritische Theorie vgl. die Studie von Schmidt (1976). Vor allem an Horkheimers Arbeiten rekonstruiert Schmidt die Position gegenüber Hegel und Marx und die Zurückweisung jedweder teleologischen Ausrichtung der Geschichte. Schmidt zitiert Horkheimer: »Die sozialistische Gesellschaft ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den […] zum Besseren entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht« (99). 19 Adorno (1966: 358). 17

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mehr zuerkannt, auch als Tote noch Rechte zu besitzen am eigenen Körper. In dieser Reduktion aufs Fleisch ohne Geist setzt Auschwitz wie zum Hohn der Metaphysik ein Ende im ›Grauen des Diffusen« schierer Materialität. Genau aus diesem Stratum somatischer Natur des Lebens flackert der Wille zum Leben. Wegen ihm geht das Leben sogar für die Überlebenden weiter: Auschwitz ist präsent und ist vergangen. Geschichte ist immer auch gemachte, nicht vom idealistisch überhöhten Subjekt des Helden oder Schurken, sondern von der Gesellschaft als einem Subjekt, das alle Subjekte in ihrem Verhältnis zueinander und zur Natur voraussetzt. Es gibt also einen Spielraum des Handelns, der weder als überindividuelle Macht deterministisch noch als Handeln eines Einzigen individualistisch gedacht werden muss, vielmehr gibt es ein Handeln gesellschaftlicher Subjekte, die von Bedingungen abhängig sind, die sie als eigene Geschichte gemacht haben, aber nicht als über den Sachen schwebende Einzelne, sondern als historisch konkrete, raum-zeitlich und in Interaktionen miteinander und der Natur eingebundene Wesen. Der Spielraum historischen Handelns liegt aber nicht offen zutage, ihn denkbar zu machen, wäre ein möglicher Beitrag der Geschichtsphilosophie, die die unbegrifflichen Voraussetzungen ihrer Begriffe erkennen könnte. Der historischen Konstellation hängen keine geschichtsphilosophischen Qualia an, die per se zur begrifflichen Deutung drängen  – es geht nicht um eine theoretisch reflektierte Sozialgeschichte mit klaren Sachverhalten und chronologisch sortierbaren Ereignissen und Handlungen −, geschichtsphilosophisch gerichtete negative Dialektik will nicht bloß das bereits Gegebene und Vergangene neu sortieren, vielmehr geht es immer auch darum, die geschichtskritischen Fragen zu stellen. Diese überhaupt stellen zu können, setzt voraus, dass es anders als im Naturprozess deutbare Freiheitsspielräume des Handelns gibt, die nach ihren Tendenzen und Latenzen zu einem besseren, also einem glücklich gelingenden Leben hin denkbar sind. Als Ausgangspunkt lässt sich der Marx’sche Befund aus dem 18. Brumaire als Frage stellen: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.«20 Was also muss in den »Gehirnen der Lebenden« so Platz finden, dass sie eine ›freie‹ Perspektive auf das eigene Leben im Modus gesellschaftlichen Handelns gewinnen können? Adorno diskutiert im »Modell I« in der Negativen Dialektik »Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft« die Antinomien der Freiheit, die sich immer wieder zwischen dem Determinismus der Gesellschaft als Ganzer und dem »Impuls«, der als Spontaneität in der Erfahrung der Unfreiheit ein Moment der Freiheit als Negation herauslöst: »Das Böse wäre demnach ihre eigene Unfreiheit: was Böses geschieht, käme aus ihr, Gesellschaft bestimmt die Individuen, auch ihrer immanenten Genese nach, zu dem, was sie sind; ihre Freiheit oder Unfreiheit ist nicht 20

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 Marx (1985: 96!f.).

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das Primäre, als das sie unterm Schleier des principium individuationis erscheint. […] Das principium individuationis ist aber keineswegs das metaphysisch Letzte und Unabänderliche, und darum auch nicht die Freiheit; diese vielmehr Moment im doppelten Sinn: nicht isolierbar sondern verflochten, und einstweilen stets nur ein Augenblick von Spontaneität, geschichtlicher Knotenpunkt, verstellt unter den gegenwärtigen Bedingungen.«21 Freiheit und Unfreiheit verschlingen sich, Freiheit wird am »geschichtlichen Knotenpunkt«, in einer Konstellation erfahren. Weder die idealistische Verklärung der ›inneren‹, der ›geistigen‹ Freiheit noch die skeptische Verweisung auf die herrschaftliche Aufhebung der Freiheit in der Gesellschaft als Rahmen, der nicht transzendiert werden kann, genügen. Es bedarf einer spontanen Einsicht, die Befreiung von Herrschaft und Gewalt als eigene Leiblichkeit zu erfahren, im Moment des Glücks wie in der Katastrophe. Die Trennung von Körper und Geist als hierarchische Unterscheidung führt zur Destruktion beider, und zwar sowohl als Selbstbeherrschung wie als Fremdherrschaft: »Nicht minder meldet die These von der Unfreiheit die geschichtliche Erfahrung der Unversöhntheit von Innen und Außen an: unfrei sind die Menschen als Hörige des Auswendigen, und dies ihnen Auswendige sind wiederum auch sie selbst.«22 Eine Schlüsselerzählung, an der der Umschlag von somatischer Affektion als blindwütige Projektion in Gewalt gegen Körper als Ausdruck von Herrschaft gegen ›bloße‹ Natur thematisch wird, ist folgende: »Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen erschaffen.«23 Die autobiographische Kurzerzählung, zugleich Ur-Erzählung faschistischer Rache an der Natur, die zugleich biologistisch vergötzt und vernichtet wird, steht an dieser Stelle nicht nur für frühe Erfahrung der Doppeldeutigkeiten der menschlichen Natur, der geliebte Adam wird zum Totschläger ohne jede Mitleidsregung gegen das schwächere Tier, sondern für einen Typus von Erfahrung, der ins Denken hineinführt an jener Randzone, wo sich Begriffsloses artikuliert, das dennoch durch und durch vergesellschafteter Reflex ist. Der alte Adam ist das jüngste Exemplar der Gattung. Erfahrung bedeutet hier nicht, die Subsumtion unter den Begriff ›Mensch‹ einer negativen Anthropologie vollziehen zu lernen, sondern in dem, was sich reflexhaft vollzieht, dessen Vieldeutigkeit und damit den jederzeit möglichen dialektischen Umschlag wahr-zunehmen, also nicht nur sensuell zu empfinden, sondern als eine Faser der Wirklichkeit lesbar zu machen, worauf sich diese Empfindungen über die psychologischen der einzelnen Person hinaus verallgemeinern lassen als gesellschaftliche Chiffren des Naturverhältnisses. Auch hier, so darf man vermuten, steht ein ›Impuls‹ am Anfang, die spontane Zuneigung des Kindes zum freundlichen Hotelier, der als diskrepant erfah Adorno (1966: 216).  Adorno (1966: 217). 23 Adorno (1966: 357). 21

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ren wird, als sich dessen ›Impuls‹ zum Totschlagen in einem grausamen Akt seiner eigenen Naturverfallenheit zu entledigen strebt. Erfahrung heißt hier, Perspektiven sehen lernen, die zueinander widersprüchlich sind und doch ein ›Bild‹ ergeben, das im Kern mehr als bloß zwei unterschiedliche Perspektiven aneinandergeraten lässt. Dieses ›Mehr‹, das Adorno auch in seiner widersprüchlichen Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie reklamiert, ist die Gesellschaft.24 In ihr liegt der Primat des Objekts gegenüber dem Subjekt begründet. Es ist konkret im erzählten Fall die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber einem Gewaltzusammenhang, der quasi von außen über die Menschen kommt und sich ihrer als naturalisierter Zwang, ›so machen wir das halt mit den Ratten‹, bemächtigt.25 Die Wahrheit, die sich in dieser Erfahrung des Umschlags in einer Person artikuliert, ist die über die Lüge von der Autonomie des Geistes, der sich frei dünkt von seinen materiellen, gesellschaftlichen und damit historischen Voraussetzungen. Das herrschaftlich erhobene Haupt, das sich in seinen Ressentiments über den niederen Sphären der Tiere, der Geschlechter, der Handarbeit und der Natur samt den somatischen Verfransungen mit dem Körper wähnt, zerstört seine eigene materielle Basis. Wenn dies in einem so desaströsen Umfang geschieht wie im 2. Weltkrieg und dem in ihm ermöglichten Genozid an den europäischen Juden, wird für einen Moment der idealistische Schleier, mit dem die begriffslose Wirklichkeit verhüllt wird, zerrissen und als Selbstzerstörung erfahrbar.

Liter atur T. W. Adorno, Negative Dialektik – »Die Idee der Naturgeschichte«, in: esammelte Schriften 1 – esammelte Schriften , – »Vorlesung über Negative Dialektik«, in: Nachgelassene Schriften. Abteilung IV, VorlesungenP. Gehring, »Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl«, in: R. Klein et al. (Hg.), Adorno-Handbuch, M. Horkheimer, T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung K. Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: K. Marx, F. Engels, esamtausgabe, A. Schmidt, Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie T. Wesche, »Negative Dialektik: Kritik an Hegel«, in: R. Klein et al. (Hg.), Adorno-Handbuch, Stutt-

 Diesen Punkt als der eigentlichen Differenz arbeitet Petra Gehring (2011) sehr klar heraus in ihrem Beitrag zu Adornos Studie Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl, in dem sie Überschneidungen, verleugnete Ähnlichkeiten und polemische Vereinseitigungen im Verhältnis von Adorno zur Phänomenologie aufzeigt. 25 Das Bild von den aus Löchern hervorquellenden Ratten, das Adorno aus seiner Kindheit zitiert, überblendet sich nicht zufällig mit der antisemitischen Ikonographie, dem Bild der Juden, die als Ratten die Pest, den Tod über die Menschheit bringen. 24

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G . AGAM B E N | W. B E NJAM I N Die Illegitimität der Neuzeit Giorgio Agamben liest Walter Benjamin Hae

a er […] müssen wir Kenntnis davon nehmen, dass wir bereits Lateinisch reden. Jacques Derrida

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Modern Times

Dass die Neuzeit aus Voraussetzungen entstanden ist, deren Überwindung sie zu ihrer vordringlichen Agenda machen sollte; dass sie auf Grundlagen beruht, deren sie sich schließlich ebenso zu entledigten versuchte wie jeglicher transzendenten Orientierung, die ihr Ansinnen einer originär immanenten, transzendentalen Selbstgesetzgebung der Vernunft in Misskredit bringen könnte; dass schließlich die politische Ökonomie der Moderne die Oikonomia der Res Christiana und die maßgeblichen Begriffe ihrer politischen Theologie zwar beerbt, dieses Erbes sich dann aber anverwandelt und so seiner theologischen Substanz entäußert habe, um die Welt als Welt hervorzubringen, sie zu begreifen, sich anzueignen und im fahlen Licht prosaischer Nüchternheit zu verrechnen, gehört zur Ursprungslegende dieser Epoche, deren mitreißende Dynamik alsbald kein Halten mehr kannte. Weshalb die Neue Zeit der Neuzeit auch eines Neuen Menschen bedurfte, des Homo Humanus, der alle Grenzen, die dem ›Alten Adam‹ noch sein Non plus ultra signalisierte, zu überschreiten bereit war. Grenzen aber überschritt er nicht nur, er übertrat sie auch. Wohin das führte, wissen wir nun; wohin das noch führen könnte, beginnen wir zu ahnen. Dabei sollte schon ihr Name, Neuzeit, jenes Schisma widerspiegeln, das das sogenannte Alte Testament vom Neuen Testament trennen und sie zugleich auf eine komplizierte, heikle, bisweilen aporetische Weise miteinander verketten sollte. Als Opposition zwischen Alter Zeit und Neuer Zeit, zwischen Alter Welt und Neuer Welt kehrt es wieder im Schlepptau des Versprechens, das von nun an alles anders werde unter der Sonne – und neu. Im Begriff der Säkularisation wurde dieses Versprechen aktenkundig. Dieser Begriff aber ist längst in die Alltagssprache eingesickert und wurde zur gern zitierten Floskel, die nur zu leicht vergessen macht, was sie dem, der sie nutzt, auch dann aufbürdet, wenn er nichts davon weiß und wissen will. Denn der Begriff schillert nicht nur, verknotet nicht nur thematische und operative, historische und

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systematische, rhetorische und metaphorische Bedeutungs- und Funktionsebenen, wirkt nicht nur gleichermaßen beschreibend wie wertsetzend und »meint mehr, als er zusagen vorgibt«.1 Vor allem ist er strittig; ja, er ist das Strittige. Und er bleibt es aus Gründen, die mit hermeneutischer Feinarbeit allein wohl nicht aus der Welt zu schaffen sind. Als wäre er der blinde Fleck, den er ausleuchten soll, scheinen sich mit jedem Klärungsversuch nurmehr die Unklarheiten zu vervielfältigen, die zu beseitigen ihm aufgetragen ist. Für Hans Blumenberg beispielsweise krankt das Konzept der Säkularisation unheilbar an der Erblast einer politischen Theologie, die die »Legitimität der Neuzeit«2 zu sabotieren drohe, indem deren Neuheit – ausgewiesen als theoretische Neugier,3 als rationaler Fortschritt4 oder als Selbstbehauptung des neuzeitlichen Subjekts schlechthin – eben auf das Althergebrachte theologischer Grundlegungsmythen verwiesen und so von ihnen konditioniert, ja kontaminiert bleibe. Womit er sich demonstrativ etwa von Karl Löwith5 oder – mutmaßlich war er der eigentliche Adressat seiner Philippika  – Carl Schmitt distanzierte, dessen berühmt-berüchtigte Formel, dass »alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre […] säkularisierte theologische Begriffe«6 seien, zum Initial einer in mehreren Konjunkturen bis heute anhaltenden Debatte geriet. Ohne auf diese Debatte hier näher eingehen zu wollen, drängt sich im Blick zurück ohne Zorn und Eifer doch der Eindruck auf, dass der polemische Zungenschlag von Blumenbergs Programmschrift nicht nur ihr erstes Kapitel,7 sondern das Buch als Ganzes prägt, belastet und die unterschwelligen Affinitäten verdeckt, die seine Kritik der Säkularisation mit ihrem Gegenstand teilen könnte.8 Denn die durch Blumenberg skandalisierte Kontinuität, die das Säkularisationstheorem zwischen der Neuzeit und der spätantik-mittelalterlichen Hinterlassenschaft präsupponiere, ist ohne ihr dialektisches Antonym, die Diskontinuität, nicht zu haben. Zum Neuen gerät das Neue nur durch seinen Bruch mit dem Alten, das dadurch erst zum Alten des Neuen wird et vice versa und so die beiden Momente, indem es sie trennt, zugleich miteinander verbindet. Was als neunmalkluges Argument daherzukommen scheint, aber hat weitreichende Konsequenzen: Denn das Gelingen oder Scheitern einer jeden möglichen Rechtfertigungslehre der Neuzeit könnte sich nicht allein daran entscheiden, ob man den Bruch vom historischen Kontinuum her liest oder dieses von jenem her. Er könnte sich daran entscheiden, welche Gestalt diese trennende Beziehung näherhin hat, welcher Mechanismus sie regiert oder welche Logik: die  Held (2018: 25); www.academia.edu/40364125/Die_Logik_der_Kontroverse._Hans_ Blumenberg_als_Akteur_der_S%C3%A4kularisierungsdebatte [20.12.22]. 2 Vgl. Blumenberg (21999; 2007). 3 Blumenberg (21999: 139−528). 4 Blumenberg (21999: 11−134). 5 Vgl. Löwith (1983). 6 Schmitt (1979: 49). 7 Vgl. Gadamer (1987: 52). 8 Vgl. Pippin (1996). 1

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der Assimilation, der Einverleibung, der »Aufhebung« oder einer anderen, bislang noch ungedachten Modalität. Dass es sich bei alledem nicht oder nicht nur um eine ideengeschichtliche Rekonstruktion des Hervorgangs modernen Denkens aus den theologischen Schlacken vormodernen Denkens handelt, sondern dass, so Schmitt, dieses Denken »systematisch«9 davon durchdrungen bleibe, scheint indes sein Anliegen von dem Blumenbergs zu distanzieren. Stellte für Letzteren doch die »gemeinte Legitimität der Neuzeit eine historische Kategorie«10 dar, deren Kritik auf ein alternatives historiographisches Modell der »funktionalen Umbesetzung«11 ideengeschichtlicher Schlüsselkategorien abzielte. Womöglich ließe sich der heftige, nach Veröffentlichung der Legitimität der Neuzeit einsetzende Streit um Blumenbergs Text und Thesen, wie er prominent etwa im Umkreis der Forschergruppe Poetik und Hermeneutik ausgefochten wurde, anhand besagter Differenz »historisch5–5systematisch« aufschlüsseln und neu verhandeln. Was ich hier nicht tun will. Nur eine Anmerkung sei erlaubt: Wenn nämlich unter der historischen noch eine systematische Ebene verschüttet liegen sollte, wenn zugleich aber noch weitgehend unklar ist, was mit »systematisch« hier überhaupt gemeint sein könnte, dann könnte sich eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Begriff Säkularisation und seinem Schicksal empfehlen. Dann kann es womöglich nicht mehr darum zu tun sein, ihn unbefragt als gegeben vorauszusetzen, platterdings zu nobilitieren oder schlicht zu verabschieden (was im Feld der Philosophie noch nie ein sinnvolles Unterfangen war), sondern seine Fragilität festzuhalten und damit die Fragilität einer Epoche, deren Legitimation mit ihm stehen oder fallen soll. Als ginge es um eine Art Epochè dieser Epoche, des Aussetzens oder der Einklammerung ihrer Epochalität selbst … Während aber Blumenberg ein Forschungsprogramm von beachtlichen Ausmaßen auflegt, um die Kritik der Säkularisation in eine schlüssige Apologie der Neuzeit münden zu lassen, erledigt ein anderer, Martin Heidegger, den gesamten Komplex gleichsam mit einem einzigen Federstrich, um seine Kritik der Säkularisation mit einer Kritik eben jener Neuzeit zu verknüpfen, die Blumenbergs Projekt zu verteidigen versucht. Doch trotz des scharfen strategischen Gegensatzes zwischen beiden, ist auch bei Heidegger eine gewisse Gereiztheit spürbar, eine fast säuerliche Entschlossenheit, der Idee der Säkularisation den Garaus zu machen. Ausgerechnet Heidegger, der die Begriffe der Tradition ansonsten minuziös zerlegte, um sie ihrem angestammten Sinngehalt zu entfremden und so neu lesbar zu machen; der mit langem Atem der Neuzeit als »Zeit des Weltbildes«12 den Prozess zu machen nicht müde wurde – womit er sich neben Schmitt als weiterer Gegner

 Vgl. Schmitt (1979: 49).  Blumenberg (2007: 61). 11 Blumenberg (21979: 71; 1983: 77). 12 Heidegger (1977: 75−113). 9

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Blumenbergs anempfahl13 –, macht dem Säkularisationsparadigma ratzfatz den Garaus: »Im Entscheidenden ist die Rede von der ›Säkularisierung‹ eine gedankenlose Irreführung.«14 Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass allein die demonstrative Apostrophierung des Ausdrucks »Säkularisierung« (und wir werden diesen Apostrophen gleich noch bei einem anderen Autor begegnen) die spitzen Finger fühlbar macht, mit denen Heidegger das Sujet anfasst, die sich rhetorisch in der pejorativen Wendung einer »Rede« von der Säkularisierung wiederspiegeln mögen. Ein Adjektiv allerdings übersetzt die Manier in Klartext: Denn die Apposition »gedankenlos« unterscheidet die inkriminierte »Irreführung« unter der Hand von jener berühmten »Irre«, die Heidegger für den, der »groß denkt«,15 zu reklamieren pflegte. Zu denken gibt es hier offensichtlich wenig, jedenfalls nichts ›Großes‹. Entsprechend schmallippig fällt die Begründung aus zum lapidaren Bescheid: »denn zur ›Säkularisierung‹, ›Verweltlichung‹ gehört schon eine Welt, auf die zu und in die hinein verweltlicht wird.«16 Mit der Verschiebung auf »Verweltlichung« als einen der semantischen Platzhalter von Säkularisation wiederum kann Heidegger den Streitfall auf ein ihm vertrautes Terrain verlagern und von da aus entscheiden: Die »Rede von der ›Säkularisierung‹« setze stillschweigend voraus, was als Welt und Weltlichkeit bereits auf dem Spiel steht, und übergeht damit den eigentlichen Problemzusammenhang. Heidegger kennzeichnet ihn als den »metaphysischen Grund«,17 auf dem die Zeit, die Welt und der Mensch der Neuzeit gründen und der sie mit dem spätantik-mittelalterlichen Zeitalter verbindet. »Die Geschichte des neuzeitlichen Menschentums […] ist mittelbar durch den auf die Heilsgewißheit abgestellten christlichen Menschen vorbereitet.«18 Die auffällige Kursivierung des »mittelbar« aber gibt den Blick frei auf den seinsgeschichtlichen Rahmen, in den Heidegger sein Urteil einhängt. Denn ›unmittelbar‹ wäre für ihn die Geschichte der Neuzeit und des neuzeitlichen Menschen eine Subgeschichte der Geschichte des Seins überhaupt, eine ihrer Epochen oder Prägungen und damit in einen entschieden weiteren Horizont eingelassen, der mit dem Begriffspaar Verweltlichung – Welt denn auch aufgerufen wird.  Vgl. Haverkamp (2003: 15−28). Dt. Original: www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/ lw/westeuropa/Emeritus/publikationen/rara/S__kularisation_als_Metapher_2002.pdf [20.12.22]. 14 Heidegger (1997: 146). 15 Vgl. Heidegger (1983: 81). Hier sei zumindest ein Hinweis auf die Datierung erlaubt: 1947 denkt Heidegger bei dem, der groß irrt, weil er groß denkt, natürlich zuallererst an sich selbst und sein Verhältnis zum NS. Auf die, gelinde gesagt, Geschmacklosigkeit dieser Verteidigung in eigener Sache wurde schon vielfach hingewiesen. Es wäre allerdings falsch zu glauben, dass mit dieser historischen Kontextualisierung der Begriff der Irre auch philosophisch schon erledigt wäre: vgl. Trawny (2014). 16 Heidegger (1997: 146). 17 Heidegger (1997: 147). 18 Heidegger (1997: 146). 13

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Bekanntlich verweist dieser »metaphysische Grund« auf den »ersten Anfang« metaphysischen Denkens, den Heidegger in der paganen griechischen Klassik ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. verortet, um ihm einen »anderen Anfang« abzutrotzen, der dem Denken des Seins und nicht dem Denken des Seins als Seiendes, als Seiendheit des Seienden als Substitut, Repräsentant oder als ›Deckbegriff‹ des Seins selbst geschuldet ist. Seine Lektüre der Geschichte der Metaphysik, deren »Destruktion« er bereits in Sein und Zeit19 ankündigt, deren »Überwindung«, schließlich »Verwindung«,20 endlich »Seinlassen«21 er unermüdlich durcharbeiten sollte, hat hierin ihren Fixpunkt. Von ihm aus entwickelt er in vielerlei Anläufen und Wiederaufnahmen seinen Begriff neuzeitlicher Technik als der äußersten Exposition metaphysischer Seinsvergessenheit, die dergestalt in die »Seinsverlassenheit«22 der Moderne kollabieren sollte. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Für die philosophische Verortung dieser Moderne ist der präzise, buchstabentreue Rekurs auf die Heidegger’sche Technikphilosophie unabdingbar; ist der Begriff des Gestells als des nicht-technischen Wesens der Technik,23 in dem sie mündet, unverzichtbar. Im Gegensatz zum überwiegenden Gros der techniktheoretischen Einsätze im 20. und auch 21. Jahrhundert gelang es Heidegger, Technik nicht technisch zu denken und somit nicht schon vorauszusetzen, was allererst erschlossen werden sollte. Nur so war es ihm möglich, zu einem nichtinstrumentellen, nicht-prothetischen, nichtanthropomorphen Verständnis von Technik durchzustoßen. Nur so war es (ihm) möglich, Technik zu denken. Medienphilosophie, ihr Begriff von Medium, von Medialität, nimmt daran Maß.

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Und doch bleibt auffällig, dass Heidegger für die Frage einer politischen Ökonomie kein Ohr zu haben schien, kein Ohr einerseits für die Frage des Politischen und politischer Öffentlichkeit überhaupt (worauf Hannah Arendt bekanntlich zu reagieren versuchte), kein Ohr andererseits für die Beziehung zwischen Ökonomie und Technik, die jene nicht vorab als bloßen Effekt technischer Weltverfügung deutet (oder aus marxistischer Perspektive umgekehrt: diese nurmehr als neutrale Produktivkraft von Produktionsverhältnissen, deren gesellschaftliche Modalität allein die endlose Zirkulation und Akkumulation von Kapital befeuert). Dass »Technik und Kapital« eine »Einheit« bilden, ist also so lange keine »gewöhnliche Bemerkung«,24 solange diese Einheit selbst, das und, ungedacht bleiben. So mag begrüßenswert  Vgl. Heidegger (151979: 19−27).  Vgl. Heidegger (41978: 67−97). 21 Heidegger (1976: 25). 22 Vgl. Heidegger (1989: 110−125, 141−143). 23 Vgl. Heidegger (1953: 9). 24 Trawny (2015: 172).

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sein, dass Termini wie der des »fernwissenschaftstechnischen Kapitalismus«25 oder der »Ökotechnie«26 längst in der Welt und auf ein gewisses Interesse gestoßen sind; dass den reflektierteren Verfechtern der Technosphäre, der Actor-Network Theory oder Mensch-Maschine-Operationsketten allmählich zu schwanen scheint, dass die Ökologie des Enviromentalismus27 vom ökonomischen Dispositiv planetarer Exploitation, das zu überwinden sie verheißt, ununterscheidbar geworden ist; und dass der Begriff des »Digitalen Kapitalismus« als dem Feld, auf dem gegenwärtig jenes Verhältnis neu justiert wird, in den politischen, den Kultur- und Sozialwissenschaften nun doch schärfere Konturen gewinnt.28 Doch bleibt bei alledem die Frage nach dem Verhältnis von Kapital und Technik systematisch wie genealogisch ungestellt, bleibt die Frage nach Kapital als Medium ungehört. Um ins Herz dieses noch dunklen Zusammenhangs vorstoßen zu können, möchten wir deshalb vorschlagen, den Begriff der Ökonomie – wider besseres Wissen, etymologischen Befund und landläufige Gelehrtenmeinung – versuchsweise einmal lateinisch zu lesen. Und damit auch den Begriff der Säkularisation einer im Frühchristentum keimenden politischen Theologie, deren Konzept der Oikonomia als innergöttliche Einheit des Einen Gottes in der Differenz der göttlichen Hypostasen als Regierung des göttlichen Personals einerseits und zugleich als innerweltliche Menschwerdung Gottes als Offenbarung des Heils in der Geschichte als Geschichte andererseits die kategorialen Kapazitäten der griechischen Substanzontologie und Identitätslogik peu-à-peu überfordern musste.29 Um die Dreieinigkeit des Einen Gottes, seine Inkarnation und die damit initiierte Geschichte des Heils als Heil der Geschichte selbst inmitten blanken Unheils ausbuchstabieren zu können, befleißigte man sich zwar des Vokabulariums der griechischen Metaphysik – und ein anderes hatte man im Streit mit innerkirchlichen Opponenten, mit paganem Neuplatonismus und jüdischer Orthodoxie ja nicht zur Hand. Doch strapazierte man es im Verlauf dieser waghalsigen, Jahrhunderte währenden Operation rückhaltlos und provozierte damit einen epistemischen Bruch mit einschneidenden Konsequenzen. Was wir Moderne nennen, entspringt der Zone zwischen den Bruchkanten dieses Bruchs. Der Begriff Oikonomia spiegelt ihn wider. Er ist das Schibboleth einer argumentativen Bredouille, die zu verbrämen ihm kaum gelingen sollte. Und die Frage lautet in der Tat: »Wie konnte ein Wort, das zunächst administrativen und juridischen Klang hatte und sich auf den richtigen Umgang mit der realen Welt bezog, bruchund widerspruchslos auf das Mysterium der Trinität, der Inkarnation und der Er-

 Derrida (2001: 25).  Vgl. Nancy (1991; 2002); muse.jhu.edu/article/38171 [20.12.22]; Nancy (2014: 87−96). Dazu auch: Kannewitz (2013). 27 Vgl. Hörl, Burton (2017); Hörl (2016; 2018); Sprenger (2019); Jochmaring (2016; 2018); Anonymus (2009). 28 Vgl. Betancourt (2018); Staab (2019). 29 Vgl. Agamben (2010: 32−71, Kap. 2: »Das Geheimnis der Ökonomie«). 25 26

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lösung angewandt werden?«30 Doch glauben wir eben nicht, dass diese Operation »bruch- und widerspruchslos« vonstattenging; nicht, dass das patristische und nachpatristische Denken die ungeheuren – logischen wie ontologischen – Probleme, die es sich durch die ›konstantinische Entscheidung‹ eingehandelt hatte, zu lösen, zu überwinden oder auch nur zu überspielen in der Lage war; und auch nicht, dass besagte Operation erst im oströmischen Byzanz des 7. und 8. Jahrhunderts ausgeführt worden sein soll, um jenen exzessiven Bilderstreit auf eine für die unterlegene Partei beispiellose wie für das Bilddenken der Moderne beispielhafte Weise zu befrieden. Wir gehen stattdessen von der Vermutung aus, dass jene geschichtlich, ideen- und geistesgeschichtlich, theologisch und religiös, staats- und machtpolitisch, theoretisch wie praktisch oder einfach nur nach menschlichem Ermessen hoch unwahrscheinliche, ja absurde, nachgerade irre Allianz zwischen jenem Reich, das »nicht von dieser Welt« (Joh 18,36), und dem Reich, das von dieser Welt ist, zum theo-politischen Zündfunken geriet, um das Imperium Romanum im Glanz einer Kraft und einer Herrlichkeit aufleuchten und kraft einer Oikonomia gedeihen zu lassen, ohne die dieses Imperium mitnichten zum mythomotorischen Urphänomen imperialer Macht, politischer Gewalt und Gewaltenteilung, sozialer Organisation und exekutiver Verwaltung im Abendland, sprich: zum Paradigma der politischen Ökonomie der Moderne hätte avancieren können. Dass also die Einheit des Einen Gottes ihre Binnendifferenz nicht aus-, sondern einschließen können soll; dass die Identität Gottes mit sich, die Homousie von Gott Vater und Sohn durch ein Tertium Datur (den biblisch kaum autorisierten Heiligen Geist) mediatisiert werden musste, um als mediales Dispositiv den innergöttlichen Frieden zwischen ihnen für immer und für ewig garantieren und die Regierung des göttlichen Personals ohne vorgesetztes monarchisches Prinzip (ohne einen ›Gott über Gott‹) prästabilisieren zu können; und dass schließlich die innerweltliche Geschichte des Heils als Heil der Geschichte oder als Heilsgeschichte selbst offenbar werden konnte, ließ griechisch sich zwar sagen, aber kaum noch denken. Geschichte, Regierung und Medium, diese drei Grundworte, die die Moderne heimzusuchen nicht aufgehört haben, sind die Abkömmlinge eines spätantiken Dilemmas, das rasch zur Aporie sich auszuwachsen drohte. Und zu einer möglicherweise fatalen Bedrohung: Mag auch Neuplatonikern vom Schlage eines Plotin oder Porphyrios Heraklits Rätselwort von der »gegenstrebigen Vereinigung«31 eine der Inspirationsquellen ihrer Henologie gewesen sein; den Kirchenvätern geriet’s ebenso zur Blaupause ihrer Bini- und schließlich Trinitätslehre wie zum Menetekel des äußersten politischen Ernstfalls aller christlichen Theologie überhaupt: der gnostischen Eskalation jener ›Gegenstrebigkeit‹ im innergöttlichen Bürgerkrieg. Spätantike und mittelalterliche Theologie und – unter veränderten Vorzeichen, als deren Summe die Vokabel der »Säkularisation« schließlich einstehen sollte – neuzeitliche und moderne Philoso Mondzain (2011: 15); vgl. Alloa (2013: 274−325).  Heraklit, Fragment B51, in: Diehls (1960: 74).

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phie haben sich an diesem Komplex zwar bis zur Erschöpfung abgearbeitet. Doch blieb sein Grund im Dunkeln. Vielleicht hat das christliche Abendland ihn ja vergessen gemacht. Vielleicht gründete das Imperium Romanum Christianum auf einer Damnatio Memoriae ganz eigener Art. Vielleicht war die Vulgata, die lateinische Übersetzung der Bibel Ende des vierten Jahrhunderts n. Chr., die Annonce dieses Vergessens, seine Demonstration und Monstration, seine Monstrosität. Es wird also zu zeigen sein, dass und wie die frühchristliche Oikonomia nach einer erstaunlich langen Latenzzeit und einer Reihe komplexer und komplizierter Umcodierungen zur Hohlform der politischen Ökonomie der Gegenwart geriet, zur Hohlform einer bürgerlichen Gesellschaft mithin, deren Regierung ohne übergeordnetes Herrschaftsprinzip der Macht im Abendland ein völlig neues, genuin ökonomisches Gepräge verlieh;32 zur Hohlform einer nachbürgerlichen Weltmarktgesellschaft und endlich einer posthumanen Techno-Ökonomie, deren Steuerung ohne vorgeschaltete Steuerungsinstanz funktionieren können soll, um den Furor toxischer Destruktivität, der ihr eigen ist und das Leben zu ersticken sich anschickt, einmal mehr in die Legende ›schöpferischer Zerstörung‹ umzudeuten:33 in die »Oikodizee«34 als prästabilisierte Harmonie einer kapitalistischen Ökonomie, deren kompetitives Chaos – der Wirtschaftsweltbürgerkrieg aller gegen alle gegen alles – sich spontan zum Wohlstand der Nationen, des gesamten Planeten, zum Wohlstand aller verwandeln können soll. Die Spezifität dieser Oikonomia und ihrer Filiationen in der Ökonomie der Moderne aber entgeht dem, der die dramatischen, rund ein halbes Jahrtausend nach der Blüte der Attischen Polis einsetzenden theologisch-politischen Konflikte und die sie flankierenden realgeschichtlichen Ereignisketten – die schließlich im abendländischen Initiationsdrama der Konversion des Imperium Romanum zum Imperium Romanum Christianum (393 n.5Chr.), im abendländischen Initiationstrauma der Reichsteilung (395 n.5Chr.) und in der abendländischen Initiationskatastrophe des Untergangs Roms (476 n.5Chr.) kulminieren sollten – allenfalls als Epiphänome in der umfassenden Geschichte der Metaphysik deutet. Oder wahlweise einer von paganen Mythen, odysseischem Epos und antiker Rationalität ausgehenden Dialektik der Aufklärung: So scharfsinnig, treffend und berechtigt die Analysen von Metaphysik-, Aufklärungs-, Humanismus- und Vernunftkritik auch immer gewesen sein mochten, bleiben sie doch zumeist noch in der Geste bestimmter Negation oder des Negativismus dem Register der griechischen Ontologie verpflichtet. Das Christentum wie der Monotheismus im Ganzen wären damit auf Gedeih und Verderb dem Regime der logischen Formen des Denkens oder dem Geschick eines Seins unterworfen, dessen »Kehre« Heidegger zwar zeitlebens mit großer und bewunderungswürdiger Inständigkeit zu denken versuchte. Doch war er augenscheinlich nicht in  Vgl. Foucault (2004); Agamben (2010: 311−342).  Vgl. Mayer (2023; i.5E.). 34 Vgl. Vogl (2015: 42−46). 32

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der Lage, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass auch der Gott der Bibel einer ›Kehre‹ bedürftig sein könnte; einer Kehre sui generis, die sein nicht ganz freiwilliges Engagement als Institution der Res publica Christiana aufzukündigen in der Lage wäre; einer Kehre des Denkens Gottes und nicht oder nicht nur des Denkens des Seins, dem sich dieser Gott (der Gott Abrahams, Isaaks und Ismaels!) weder metaphysisch noch postmetaphysisch – wenn es so etwas überhaupt gegeben haben wird – jemals wird beugen können. Und man müsste gründlich darüber nachdenken, ob wir mit dieser Kehre des Denkens Gottes einmal mehr an jene »Grenze«35 rühren, von der Jean-Luc Nancy anlässlich des seinsgeschichtlichen Antisemitismus Heideggers sprach; währenddessen Nancys eigenes Projekt einer »Dekonstruktion des Christentums« mit einer überaus provokanten These die Frage der Säkularisation – die Heidegger, wir erinnern uns, als »eine gedankenlose Irreführung« abtun zu können glaubte – reaktiviert: »Die Philosophie […] hat sich gewissermaßen selbst eingeschüchtert durch den verdikthaft formulierten Ausschluss einer Religion, von der sie sich stillschweigend unablässig nährte. Dabei hat sie sich über jene ›Säkularisierung‹ nie wirklich Gedanken gemacht […].«36 Machen wir uns also Gedanken über »jene ›Säkularisierung‹«, machen wir uns Gedanken über ihre Apo- und vielleicht auch ihre Katastrophen: Wenn unsere geschichtliche Gegenwart noch oder mehr denn je im Zeichen der Translatio Imperii37 steht, die im Inkognito ökonomischer Vokabularien prolongiert und schließlich globalisiert werden sollte (oder mundialatinisiert, wie Derrida gesagt hätte38); und wenn maßgebliche Begriffe der modernen Welt – wie der der Regierung, der Verwaltung, der Institution und Macht, der Person, des Rechts, der Souveränität und Geschichte, des Eigentums und last, but not least der Ökonomie selbst oder des Kapitalismus als der »schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens«39 – sich dieser Transformation verdanken, dieser Translation, dann bricht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Theologie und Politik, zwischen Theologie und Ökonomie und endlich auch die zwischen Kapital und Technik wie eine nie verheilte Wunde wieder auf.

 Vgl. Nancy (2015). Diese »Grenze«, die wir hier vornehmlich von der frühchristlichen Komplikation des Griechisch-Lateinischen her perspektivieren, verweist natürlich noch auf jene andere des Jüdisch-Griechischen und Jüdisch-Christlichen als des gewiss folgenreichsten, abgründigsten, auf jeden Fall aber am schwierigsten zu denkenden Komplexes der abendländischen Denkens, über dessen Abwehr es zu sich zu kommen versucht. Wir haben uns dem an anderer Stelle gewidmet: Mayer (2018: 58−69). Dazu Lyotard, Gruber (1995); Lyotard (1988); Nancy (2008); Derrida (2001). 36 Nancy (2008: 13). Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass Nancy gleich eingangs dieses Textes anmerkt, dass Blumenberg das Problem der Säkularisierung gut dargelegt, aber nicht gelöst habe: (ebd.: 7). 37 Vgl. Agamben (2020: 237). 38 Derrida (2001: 51). 39 Weber (2006: 13). 35

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Die Versuche, die Akten über den Begriff der Säkularisation politischer Theologie zu schließen, sind gescheitert.

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Kapitalismus als Religion als Kapitalismus

Eine merkwürdige Undurchlässigkeit scheint diese Formel zu umgeben. Doch ist der Widerstand, den sie der Analyse entgegensetzt, womöglich nicht allein intellektueller Natur. Er könnte mit der Situation zu tun haben, in der wir uns je schon vorfinden, mit dem Ort unseres Denkens. Das jedenfalls ist das Ausgangsargument, das Roberto Esposito in seiner beeindruckenden Studie Zwei. Die Maschine der politischen Theologie und der Ort des Denkens entwickelt: »Das grundsätzliche Hindernis für uns, in den Horizont der politischen Theologie einzudringen, liegt also in der Tatsache, dass wir schon in ihm sind.«40 Aber wenn wir dem »Phänomen, das wir interpretieren wollen«, bereits inhärent sind,41 wenn es uns impliziert als das, was wir sind und zu sein haben – Mensch der Renaissance, der Neuzeit und Moderne, des Humanismus oder Aktant des Posthumanismus der Netzwerke und techno-ökonomischen Environments –, heißt das dann nicht, dass wir die ›Säkularisation‹ einer jeden politischen Theologie mitnichten mehr als deren Demission, Aufhebung oder Überwindung werden lesen können? Dass jedwede ›Säkularisation‹, gesetzt, wir möchten an diesem Begriff festhalten, mitnichten mehr in den Großbuchstaben der einen Großen Erzählung von der Emanzipation aus selbstverschuldeter Unmündigkeit plakatiert werden kann? Dass vielleicht besagter ›Säkularisation‹ selbst das gespenstische Nachleben politischer Theologie geschuldet sein könnte? Und dass diese nie etwas anderes gewesen sein wird als ihr eigenes Nachleben? Lassen wir diese Fragen vorerst auf sich beruhen. Ich möchte die Aufmerksamkeit vorab auf einen anderen Punkt lenken. Denn Espositos Argument scheint über alle angezeigten Distanzen und Differenzen hinweg mit einer Figur zu kommunizieren, die Walter Benjamin in einem Fragment mit dem programmatischen Titel Kapitalismus als Religion einmal benutzen sollte. Er notiert dort: »Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn.«42 Das »Netz«, von dem Benjamin hier spricht, ist aber nichts anderes als der Kapitalismus als Religion selbst; eine kapitalistische Religion,43 zu deren Besonderheit gehört, dass sie sich ihres religiösen Charakter nicht inne zu sein scheint. Der Kapitalismus als Religion erscheint als Kapitalismus, und nur, weil er als Kapitalismus erscheint, ist er. Die Verkennung des Wesens ist dem Wesen wesentlich: Deshalb der »Horizont«, den wir erst überschreiten müssten, um zu bemerken, dass wir schon oder immer noch in ihm stehen; deshalb das »Netz«, das wir nicht zuziehen können, weil wir bereits in ihm gefangen oder verfangen  Esposito (2018: 7).  Esposito (2018: ebd., sowie 37−44). 42 Benjamin (1991a: 100). 43 Ebd., Ende des zweiten Abschnitts. 40 41

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sind – in einem Netz, das uns umfängt oder umschließt, ohne dass wir es sehen oder überhaupt nur bemerken könnten. Wir sind »im Geäder des Christentums«,44 sagt Nancy einmal, der dabei die Präposition demonstrativ kursivierte, um darauf hinzuweisen, dass die »Entchristianisierung des Okzidents« (noch ein Substitut für Säkularisierung) eben nicht bedeute, dieses Christentum hinter sich gelassen oder außer sich gesetzt zu haben. Sie bedeutet im Gegenteil, dass »unser ganzes Denken durch und durch christlich ist«.45 Aber es ist und es kann nur »durch und durch christlich« sein, weil es sein »ganzes Denken« nicht ganz denken kann. Natürlich kommen all diese Figuren – Geäder, Netz, Horizont – hier weder plan zur Deckung noch sollen sie mit ein paar hastig hingeworfenen Federstrichen miteinander synchronisiert werden; natürlich richten ihre metaphorische Eigenlogik wie die thematischen und operativen Kontexte sie in je unterschiedlicher Weise aus. Und doch scheinen sie allesamt ein epistemisches Dilemma zu umkreisen, das wir nur auflösen könnten, wenn wir es schon aufgelöst hätten. Als hätten wir es mit einer Art Verstrickung zu tun oder mit einem Verstrickungszusammenhang, von dem wir nichts wissen und wissen können, weil er unser Wissen, seine Möglichkeit, bedingt. Als wäre er das Dispositiv dieses Wissens … Benjamin schrieb an seinem Text 1921, vor gut einhundert Jahren und nur ein Jahr vor Erscheinen von Schmitts Politischer Theologie. Warum Benjamin die Arbeit abbrach, ist unklar. Tatsächlich ist sie ein bloßes Bruchstück geblieben, vielleicht das Dokument seines Scheiterns. Sie ist keineswegs ein »Fragment« im Sinne jener literarischen Kunstform, wie sie etwa die Romantik kultivieren sollte. Sie ist kein Torso, keine Ruine, die umrisshaft die Totalität noch erahnen lassen, die ihnen mangelt. Benjamins Text besteht lediglich aus zwei zusammenhängenden Abschnitten einer Druckseite, um danach in einzelne Absätze, Notizen, Anmerkungen und Literaturangaben zu zerfleddern. Entstanden im Umfeld früh prominent gewordener Stücke wie Zur Kritik der Gewalt, Schicksal und Charakter oder Theologisch-politisches Fragment (das als originäres Fragment nicht nur formal in eine intensive Spannung zu Kapitalismus als Religion tritt), zeichnet sich darin die vage Silhouette einer anderen, kontraintuitiven Lesart von Säkularisation ab, um von hier aus zur Kernfrage der religiösen Konfiguration kapitalistischer Ökonomie vorzudringen. Es bleibt bemerkenswert, dass dieser Text, der rezeptionsgeschichtlich lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt worden war, erst nach einer Inkubationszeit von vielen Jahrzehnten zu zünden begann. Die beiden ausgearbeiteten Absätze, aus dessen einem ich gerade zitiert habe, lauten: »Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur  Nancy (2008: 242).  Ebd.

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des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.« »Drei Züge jedoch sind schon der Gegenwart an dieser religiösen Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen »Wochentag«〈,〉 keinen Tag der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes〈,〉 der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre. Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewußtsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen〈,〉 um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müßte halten können, noch in der Absage an sie. Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist〈,〉 das Aushalten bis ans Ende〈,〉 bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand aus dem die Heilung zu erwarten sei. Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos das Nietzsche bestimmt. Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt. Ihr vierter Zug ist, daß ihr Gott verheimlicht werden muß, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird von einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife.«46 Ich will weder das Stück als Ganzes noch auch nur den ersten Abschnitt ausführlich kommentieren, sondern stattdessen anhand dreier Glossen mit und ab einem bestimmten Punkt vielleicht auch gegen Benjamin den darin subthematisch 46

 Benjamin (1991a: 1005f.).

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verschütteten Begriff der Säkularisation zu bergen und zumindest eine der daraus resultierenden Konsequenzen zu skizzieren versuchen: Erste Glosse: Was der Titel insinuiert, dass nämlich Kapitalismus eine Religion ist, wird im ersten Passus durch die wiederholte Verwendung des Adjektivs »essentiell« untermauert. Mit der Setzung des Kapitalismus als essentiell religiös aber verabschiedet sich Benjamin nicht nur explizit von Max Weber und implizit von Webers Säkularisationsthese, die Blumenberg einmal als »Musterthese für das Theorem der Säkularisierung«47 überhaupt bezeichnete. Darüber hinaus kassiert er en passant die landläufige Vorstellung von Säkularisation als Prozess der Emanzipation von überlieferten religiösen Gehalten und Autoritäten.48 Weder also schließt Benjamin an Weber an noch radikalisiert er dessen Konzept.49 Er bricht rückhaltlos mit der Axiomatik des Begriffs und schickt ihn stante pede in Revision. Zweite Glosse: Aber auch wenn der erste Satz die im Titel annoncierte These quittiert, übergeht er zugleich deren Pointe: denn der Kapitalismus als Religion antwortet zwar auf dieselben »Sorgen, Qualen, Unruhen« wie die »so genannten Religionen« auch. Doch ist die Antwort eine entschieden andere. Sie steht denen der »Religionen«50 diametral, nicht konträr, sondern kontradiktorisch entgegen. Was in der ersten Hälfte des zweiten Abschnitts deutlich wird, wo Benjamin drei Züge der »religiösen Struktur« des Kapitalismus benennt: Neben erstens seine Bestimmung als »reine Kultreligion«; neben zweitens die Permanenz des Kults tritt drittens dessen Explikation als Kult universeller Verschuldung. Die Inversion von Sühne in Schuld aber ist paradigmatisch für den Kapitalismus als Religion: religiöse Essentialien wie Hoffnung, Vergebung, Heil, Erlösung verkehren sich in ihr Antonym: die Hoffnung in den »Weltzustand der Verzweiflung«; die »Reform des Seins« in dessen Zertrümmerung; das Heil in Unheil und die Erlösung und Vergebung aller Schuld in untilgbare Schulden. Kurzum: Der religiöse Kapitalismus ist sich nicht nur seiner eigenen Religiosität nicht bewusst. Er manifest sich als deren Perversion. Beide Momente sind konstitutiv miteinander verklammert. An einem »vierten Zug«, der womöglich aufgrund seiner Randstellung am Ende dieses Passus gegenüber den ersten drei Zügen hermeneutisch oft unterbelichtet blieb, mag das deutlicher werden. Formuliert er doch einen eschatologischen Vorbehalt, der das gesamte Fragment organisiert und seine Lektüre orientiert. In nuce: Nur weil der Kapitalismus als  Blumenberg (21999: 18).  Vgl. Esposito (2018: 297); Agamben (2010: 16−18). 49 Vgl. Stimili (2017: 55−70). 50 Hier sei ein Hinweis erlaubt: Der Plural wie die unbestimmte Formel von den »so genannten Religionen« haben schon dazu verleitet, das Motiv des Religiösen hier aus einem religionssoziologischen oder kulturwissenschaftlichen Blickwinkel zu betrachten und dem Fragment etwas nebulös eine mythisch-heidnische Motivlage zu unterstellen. Doch bewegt sich Benjamins gesamtes Denken, wie oft schon vermerkt, im Niemandsland eines jüdischen und christlichen Messianismus: die Religion des Kapitalismus als Religion ist die des Einen Gottes, der im Inkognito eines Kultes ohne Begriff in den Schuldzusammenhang dieser Welt verwickelt wurde. 47

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Religion sein religiöses Wesen noch verkennt, kann er noch als das Unwesen dieses Wesens in Erscheinung treten. Dritte Glosse: Benjamins Metapher des Netzes fußt auf einem Argument, das er im Satz zuvor entwirft: »Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus […] würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen.« Kursivieren wir das noch und formulieren einen Verdacht: Wenn nämlich, hegelisch gesprochen, der religiöse Kapitalismus eine Religion an sich, nicht aber für sich ist, und wenn er, freudianisch gesprochen, eine Perversion von Religion darstellt, dann ist der Widerstand gegen jenen »Nachweis« nicht allein intellektueller Natur. Der Vorstellungsinhalt ist affektiv geladen. Die eigenartige Formel einer »maßlosen Universalpolemik« mag darauf hinweisen. Die Polemik, die die Enthüllung des Kapitalismus als Religion provozieren würde, wäre »maßlos«, weil sie nicht nur theoretisch provozierte, sondern pathisch affizierte; und wäre »universal«, weil sie das unausgesprochene, unaussprechliche Selbstverständnis eines ganzen Zeitalters attackierte. Sie wäre nicht nur gesellschaftliches Phänomen, sondern psychohistorisches Symptom. Damit also der Kapitalismus als Religion als Kapitalismus erscheinen kann, muss dessen religiöse Natur verdeckt, verstellt oder unterdrückt werden. Anders gesagt: Sie wird verdrängt. Obwohl also Benjamin Freud, wie auch Marx und Nietzsche, trockenen Auges der »Priesterherrschaft« der kapitalistischen Kultreligion zurechnet,51 möchten wir vorschlagen, Freuds Begriff der Verdrängung52 anstelle der Emanzipation als operativen Terminus technicus zur funktionalen Beschreibung des Säkularisationsprozesses zu erproben. Erst unter Voraussetzung dieser Korrektur beginnt sich das »Geheimnis der Ökonomie«, dessen Ausbildung Agamben schon bei Paulus analysiert,53 als Geheimnis der Ökonomie der Moderne zu enthüllen, wird sie entzifferbar als Rezidiv einer frühchristlichen Oikonomia, deren paradoxe, vielleicht aporetische Problemlagen sie in säkularer Gestalt wiederholt: als die einer den Satz der Identität destabilisierenden Konstellation von Identität und Differenz durch die Außerkraftsetzung eines logisch vorrangigen, Einheit synthetisierenden Prinzips oder Princeps; als die einer Geschichte als Heilsgeschichte, die die realgeschichtlichen Kontingenzen in eine sich selbst ratifizierende Ordnungsfigur und deren Unheilszusammenhang  – der »Trümmerhaufen« Benjamins54  – in das providentielle Narrativ vom Sinn der Geschichte verwandeln können soll; und schließlich als die eines Mediums als mediales Dispositiv, das als Tertium Datur den Satz vom ausgeschlossenen Dritten annullieren muss, um das Verhältnis von Einem und einem Anderen durch einen Anderen prädiktiv zu regulieren und seine Reliabilität zu garantieren. Die Neuzeit wäre also nicht deshalb illegitim, weil ihr Begriff der Säkularisation die unterirdischen Filiationen zur spätantik-mittelalterlichen Theologie und Religiosität ver Vgl. Benjamin (1991a: 1015f.).  Vgl. Freud (2000a: 103−118; 2000b: 139−144). 53 Vgl. Agamben (2010: 37−39). 54 Benjamin (1991b: 697) 51

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heimlicht oder heimlich aufrechterhält. Sie wäre illegitim, weil sie die religiösen Vorstellungsinhalte verdrängte und im Inkognito säkularer Begriffe, Figuren und Metaphern aktualisiert. Denn das Verdrängte drängt. Und es kehrt verkehrt wieder. Die entscheidende Frage aber, um die es ab einem gewissen Zeitpunkt, der noch nicht gekommen zu sein scheint, zu tun sein wird, lautet, ob diese Wiederkehr nur das »Fortbestehen der Verdrängung« aufrechterhält; ob sie es relativieren kann; oder ob sie es gar aufzuheben vermag.55 Anders gesagt: Die Frage wird sein, ob wir diese ewige Wiederkehr des Verkehrten in ihrem Vollzug werden zurechtrücken können. Wenn also Agamben anmerkt, dass es »auf Erden keine legitime Gewalt« gebe; und wenn er die »totale Verrechtlichung und Ökonomisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die Verwechslung dessen, was wir glauben, hoffen und lieben können, mit dem, was wir gezwungen sind, zu tun oder nicht zu tun, zu sagen oder nicht zu sagen«, als »Ausdruck einer Krise nicht nur des Rechts und des Staats, sondern auch und gerade der Kirche« wertet, dann hat er recht über die Gründe hinaus, die er anführt. Warum nämlich »die Mächtigen dieser Welt […] sich ihrer Illegitimität bewusst [Kursivierung MM]«56 sein sollen, bleibt unklar. Vielleicht ist ihnen ja nichts weniger bewusst als genau das. Vielleicht ist diese Unbewusstheit nur das spröde Fundament ihrer und aller Macht auf Erden. Vielleicht ist ihnen das alles so wenig bewusst wie all den anderen verwirrten, verstörten und verlorenen Seelen auf dieser Welt, uns allen auf dieser Welt, die im Argen liegt, in Agonie, und wir sehen es und sehen es nicht. Und wenn Agamben Michel Foucaults Genealogie der Ökonomie weit über den von Foucault abgesteckten Horizont des bürgerlichen Zeitalters hinaus zurückverfolgt bis in die Subtilitäten patristischer und nachpatristischer Debatten über den Sinn und den Status des Gottes-, des Menschensohnes, tut er das allemal mit klugen Argumenten und Resultaten, deren Konsequenzen noch lange nicht zu überschauen sind. Zumindest eine dieser Konsequenzen sei hier abschließend angedeutet: Zu den medienphilosophisch noch längst nicht hinreichend durchdachten Ereignissen unserer Gegenwart mag gehören, dass das Kapital als Geldkapital, als »Geld heckendes Geld«, wie Marx sagen wird,57 mit dem Begriff des Kredits vollumfänglich zur Deckung gekommen ist. Kredit aber ist Schuld, ist Schulden58 und die Glaubwürdigkeit des Schuldners, seine Kredibilität, die Bedingungsmöglichkeit seiner Verschuldung, ihr Grund und vielleicht auch ihr Abgrund. Die kredibilistische  Vgl. Heinrich (2021: 17).  Agamben (2012: 29). 57 Marx (1962: 63) 58 Benjamin spricht im Fragment von der »dämonischen Zweideutigkeit dieses Begriffs« (1991a; 102), der nicht nur einer etymologischen Fügung folgend, sondern systematisch zwischen ökonomischen Schulden und moralischer Schuld oszilliert, was bereits Nietzsche in seiner Genealogie der Moral diagnostizierte und David Graeber (2012) in seiner großen Genealogie der Schulden kulturtheoretisch durcharbeitete: Vgl. Nietzsche (1988: 245–412). 55

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Konfiguration des modernen Geldsystems, die wir an anderer Stelle ausführlicher diskutiert haben,59 aber scheint uns stehenden Fußes zu jenem »verschuldenden Kultus« zurückführen zu wollen, den Benjamin als Merkmal des religiösen Kapitalismus erkannte. Agamben jedenfalls trifft den wunden Punkt, wenn er seine Relektüre von Benjamins Fragment, die er fast 100 Jahre später unter gleichnamigem Titel aufsetzen sollte, explizit geldtheoretisch einleitet.60 Tatsächlich dekretierte rund fünfzig Jahre, nachdem Benjamin die Arbeit an seinem Fragment aufgenommen hatte, der damalige US-amerikanische Präsident Richard Nixon die Aufhebung des Goldstandards für den amerikanischen Dollar, an dessen Funktion als Ankerwährung alle anderen Währungen durch ein fixes Wechselverhältnis gekoppelt waren, und besiegelte damit bekanntlich das Ende von »Bretton Woods«, um es durch ein System freier Wechselkurse zu ersetzen. Mit dieser ökonomischen Dematerialisierung des Geldes aber (die alsbald in einer medientechnischen, schließlich digitalen Dematerialisierung eskalieren sollte61) hatten sich – entgegen einem im Mainstream von Nationalökonomie, Geldsoziologie und politischer Wissenschaft sich hartnäckig haltenden Vorurteil – das Wesen, die Natur oder das »ontologische[] Spezifikum des Geldes« fundamental zu verändern begonnen.62 Was seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. als »Geldsache« galt, hatte sein sachliches Substrat verloren, seine Geldware, seine metallische Substanz, die Masse und Trägheit. Geld wurde schwerelos, lichtschnell und unsichtbar wie ein Gas, das wir beständig ein-, aber nicht mehr ausatmen. Marx’ visionäre, in seinem nur bruchstückhaft ausgeführten Dritten Kapitalband formulierte Intuition, dass der »Kredit […] das Geld« verdränge und »seine Stelle« usurpiere,63 bedeutet im Klartext, dass der Kredit selbst zur Geldform wird und das Geld im Moment der Kreditierung ex nihilo schöpft. Genau das ist seit 1971 der Fall. Weshalb die in Geldtheorie und -politik derzeit als Modern Money verhandelte Geldsache jenen ökonomischen Ausnahmezustand markiert, bei dem der Kredit das Geld als die Schuld schöpft, die mit ihm getilgt werden soll. Geld wurde dergestalt ein unknappes Gut, sein Mengenwachstum nahezu exponentiell,64 die globale Ungleichverteilung zwischen renditebasiertem Vermögen und durch Arbeitsleistung erwirtschaftetem Einkommen aber exzessiv.65 Das soziale Band aber, das es knüpft, ist das von Gläubiger und Schuldner,66 dessen Gläubiger letzter Instanz insgeheim zum Schuldner letzter Instanz mutierte, zu jenem heimlichen, verheimlichten, unheimlichen Deus abscondidus der Marktwirtschaft, der Marktgesellschaft, der in die Menschenschuld ›einbegriffen‹ ist. Der »verschuldende Kultus« erscheint nun als  Vgl. Mayer (2020: 163−194).  Agamben (2017: 113−132). 61 Vgl. Mayer (2010: 1685f.). 62 Ingham (2007: 271); vgl. Duncan (2012); Sahr (2017). 63 Marx (1963: 588). 64 Staab (2019). 65 Vgl. Piketty (2014). 66 Vgl. Sahr (2017; 2022). 59

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Die Illegitimität der Neuzeit

restlose, universelle und perpetuelle Durchschuldung von Staat, Gesellschaft und Individuum. Das ist die geschichtsphilosophische Signatur unserer Gegenwart. »Ich frage mich manchmal,« so Agamben, »wie es überhaupt möglich ist, dass die Menschen so hartnäckig an ihrem Glauben an die kapitalistische Religion festhalten. Denn es ist klar, dass der Kapitalismus in dem Moment zusammenbrechen würde, in dem die Menschen aufhörten, an den Kredit zu glauben und auf Kredit zu leben. Doch mir scheint, dass es Hinweise auf einen beginnenden Atheismus in Bezug auf Gottes Kredit und Glauben gibt.«67 Aber was, wenn die Menschen nur deshalb an den Kredit, das Geld glauben, weil sie nicht zu glauben glauben, weil sie, anders gesagt, noch glauben, nicht zu glauben?

Liter atur G. Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung omo Sacer .2 – Kirche und Reich – »Il capitalismo comme religione«, in: ders. Creazione e anarchia. L‹opere nell‹età della religione capitalista – Der Gebrauch der Körper Bildökonomie. Haushalten mit Sichtbarkeiten Introduction to the Apocalypse Gesammelte Schriften

Kritik des Digitalen Kapitalismus H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit – Die Genesis der kopernikanischen Welt. Die Zweideutigkeit des Himmels. Eröffnung der Möglichkeit eines Kopernikus; Typologie der frühen Wirkungen. Der Stillstand des Himmels und der Fortgang der Zeit Der kopernikanische Imperativ. Die kopernikanische Optik , Briefwechsel 1971–197 und weitere Materialien Ökologische Gouvernementalität. Zur Geschichte einer Regierungsform Die Religion The New Depression. The Breakdown of the Paper Money Economy Zwei. Die Maschine der politischen Theologie und der Ort des Denkens

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 Agamben (2017: 124). Übers. MM.

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Michael Mayer Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège des France 197 −1979 Psychologie des Unbewussten Psychologie des Unbewussten Gesammelte Werke Bd. Neuere Philosophie , Probleme, estalten D. Graeber, Schulden – Die ersten 5000 Jahre übers

Transversalités

Zur Sache des Denkens, Holzwege Vorträge und Aufsätze Vorträge und Aufsätze – Sein und Zeit Aus der Erfahrung des Denkens 1910−197 – Beiträge ur Philosophie Vom Ereignis Nietzsche, Arbeiten mit Ödipus. Der Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft Die Logik der Kontroverse. Hans Blumenberg als Akteur der Säkularisierungsdebatte Die Fragmente der Vorsokratiker eitschrift für

edienwissenschaft 1

ultural Politics 2 – J. Burton (Hg.), General Ecology. The New Ecological Paradigm European Journal of Sociology nternationales Jahrbuch für edienphilosophie 2 Techne/Mechane, Ort der Technik Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie Sämtliche Schriften Bd. 2, eidegger und die Juden Ein Bindestrich wischen Jüdischem und hristlichem , übers v. E. Gruber, Düssel Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie,

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Der Zirkulationsprozess des Kapitals

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Die Illegitimität der Neuzeit – Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie Produktion

Der Gesamtprozess der kapitalistischen

Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben nternationales Jahrbuch für Digital/Rational

philosophie

edien-

Lévinas und die Künste (i. E.). Bild, Ikone, Ökonomie. Die byzantinischen Quellen des zeitgenössischen Imaginären Lettre International 3 übers

CR: The New Centennial

Review – Corpus

– Dekonstruktion des Christentums Kritische Studienausgabe Die Kunst des Überlebens Das Versprechen des Geldes. Eine Praxistheorie des Geldes – Die monetäre aschine. Eine Kritik der nan iellen Vernunft Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität Epistemologie des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher Enviroments P. Staab, Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin Der Kult des Kapitals. Kapitalismus als Religion bei Walter Benjamin Technik. Kapital. Medium. Das Universale und die Freiheit – Irrnisfuge. Heideggers An-archie J. Vogl, Das Gespenst des Kapitals, – Der Souveränitätseffekt Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie

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SWETLANA ALEXIJ EWITSCH Chroniken einer Philosophie der Auslöschung: Swetlana Alexijewitsch r an r a

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n ihrem dritten Buch machte Swetlana Alexijewitsch deutlich, dass sie genug hatte. »Ich will nicht mehr über den Krieg schreiben […]«, erklärte sie in einem Notizbuch, kurz nachdem sie die ersten Teile des Buchzyklus veröffentlicht hatte, der ihr schließlich den Literaturnobelpreis einbringen sollte (Alexijewitsch 1992: 9). Diese frühen Bücher, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (1985) und Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg (1985), beschäftigten sich mit den Erfahrungen von Frauen und Kindern im Zweiten Weltkrieg  – aber in jenem Sommer 1986 tobte gerade ein weiterer Krieg, diesmal zwischen der Sowjetunion, der Demokratischen Republik Afghanistan und lokalen Aufständischen, und Alexijewitsch konnte einfach keine Geschichten von Unmenschlichkeit und Erniedrigung mehr ertragen. Das Alltägliche war für sie längst unerträglich geworden: Der Anblick eines Kindes mit Nasenbluten oder eines dem Meer entrissenen Fisches, einer überfahrenen Katze oder eines am Straßenrand zurückgelassenen Frosches – jeder noch so unscheinbare Vorfall war für sie zu einem untragbaren Ereignis geworden. »Wahrscheinlich hat jeder seine Schmerzschutzgrenze«, erklärt Alexijewitsch, »meine war erreicht« (ebd.: 7). Wie für Millionen anderer Menschen waren auch Alexijewitschs frühe Jahre von den Geschichten und Folgen des Krieges geprägt.1 In den ukrainischen und weißrussischen Dörfern ihrer Kindheit war tatsächlich von kaum etwas anderem die Rede: die Besetzung, die Massaker und der Widerstand bedeuteten, dass nur wenige Männer übrigblieben, dass fast alle hinterbliebenen Frauen und Kinder davon betroffen waren und dass sich die Heimatfronten schnell in Frontlinien verwandelten. Später, als sie über diese Jahre schrieb, kehrte Alexijewitsch wieder zu diesen Szenen, den Bildern und Gerüchen der Zerstörung zurück. Und schließlich, mehrere Jahrzehnte später, nach Hunderten Interviews, Zehntausenden Seiten an Transkripten, unzähligen Stunden des Schreibens und Umschreibens, war Alexijewitsch plötzlich nicht mehr in der Lage, auch nur einen Moment lang den Konsequenzen und Rechtfertigungen nachzugehen, die diesem mörderischen Trieb innewoh-

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 Für eine Einführung in Alexijewitschs Werk, vgl. Hielscher 2018.

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nen.2 Seit Jahren kannte sie diese »Philosophie der Auslöschung«, wie sie sie damals nannte, nur zu gut und erkannte, dass dieses Wissen sie nur noch weiter von dem trennen würde, was sie am meisten wollte und was sie im Gegensatz dazu eine »Philosophie des Lebens« nannte (Alexievich 2017a: 9).3 Doch schon mit dem nächsten Eintrag in ihrem Notizbuch wird dem Leser klar, dass sich Alexijewitschs Wunsch nicht erfüllen wird. Bald darauf kommt sie nach Taschkent, dann nach Kabul und findet dort exakt das vor, dem sie entkommen wollte: »Krieg auf allen Seiten«, stellt sie fest, »Kriegs-Dinge. Kriegs-Zeit« (ebd.: 13).4 Es ist genau der Stoff, aus dem sich ein Denken der Auslöschung zusammensetzt, anders gesagt, aus denen bald Zinkjungen (1991) entstehen würde, ihr Bericht über den sowjetisch-afghanischen Krieg – dem sie aber wieder und wieder nachspüren wird, wenn sie über Selbstmord in Seht mal, wie ihr lebt. Russische Schicksale nach dem Umbruch (1993), die nukleare Katastrophe in Tschernobyl (1997) und die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion in Secondhand Zeit (2013) schreibt. In jüngerer Zeit hat Alexijewitsch jedoch von dem Wunsch gesprochen, Bücher über die Liebe und das Altern zu schreiben, die wesentlich näher an jenem »Denken des Lebens« liegen, das sich ihr bisher entzogen hat. Aber in ihrem Werk einer Chronistin des sowjetischen, postsowjetischen und des überall gefährdeten natürlichen und historischen Lebens des 20. Jahrhunderts findet diese weit mehr verstörende Welt eines Denkens der Auslöschung ihren Ausdruck, deren zeitgenössische Betrachtung dazu beitragen könnte, die Ideen der Nachkriegszeit in ein Feld erweiterter sozialer und historischer Erfahrung zu stellen, das den Problemen der Gegenwart viel näher ist. Während kanonische Darstellungen des zwanzigsten Jahrhunderts typischerweise dem diesem Denken eigenen Hang zur Ausrottung in den Archiven des Zweiten Weltkriegs nachforschen, um dann die Geschichte eines Jahrhunderts der Kriege und Revolutionen zu erzählen, das längst zu Ende gegangen ist, zeigt Alexijewitschs Werk, dass Auslöschung aus einem nach wie vor virulenten Denken hervorgeht, dessen Auswirkungen in den vielen Kriegen zu finden sind, die nach 1945 weitergeführt wurden, in den Natur- und Technologiekatastrophen, die mit ihnen einhergingen, und in der fortwährenden Obsoleszenz von Dingen, Orten, Völkern und Generationen, die durch Vorherrschafts-Ideologien und ökonomische Rationalisierungen entbehrlich gemacht wurden, welche integraler Bestandteil dessen sind, was man den Fortschritt der Gegenwart nennt. Im Gegensatz zur vermeintlichen Dauerhaftigkeit dieser Gegenwart widmet sich Alexijewitschs Werk der Rückgewinnung dessen, was sonst als verschwunden gilt, dessen Schmerzen  Für Alexijewitschs Praxis des regelmäßigen Revidierens und Neuschreibens ihrer Bücher vgl. Myers 2017 und Lindbladh 2018. 3 In der deutschen Ausgabe ist der Satz über die »Philosophie des Lebens« nicht mit übersetzt worden. Die englische Übersetzung hat diesen aber übernommen und wird deswegen hier zitiert. Die unterschiedlichen Schreibweisen des Namens der Autorin werden hier so übernommen, wie sie sich in ihren Veröffentlichungen finden. 4 Passage zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden. 2

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unversöhnt und dessen Wünsche offen bleiben, dessen Ideen vergessen sind, auch wenn möglicherweise noch das Versprechen eines Lebens in ihnen steckt, das von den Barrikaden, Bürgerkriegen und Katastrophen befreit ist, die Alexijewitsch verabscheut, die ihr Werk aber überall in seiner Suche nach Formen einfängt, welche in der Lage sind, eine Realität zu artikulieren, die den traditionelleren Formen des Schreibens und des Denkens fehlt. Und obwohl Alexijewitsch in jenem Sommer 1986 nicht mehr über den Krieg schreiben wollte, fand sie sich bald darauf auf einer Beerdigung für vier sowjetische Soldaten wieder, die kürzlich in Afghanistan gefallen waren. Hunderte von Menschen waren dort versammelt, Militärs hielten Reden, weinende Frauen waren in das Schwarz der Trauer gekleidet und ein Militärgeneral wollte gerade das Wort ergreifen. Soweit eine feierliche, wenig überraschende Szene, in der jeder seine Rolle spielte. Doch dann begann plötzlich ein kleines Mädchen, die Tochter eines der Toten, zu weinen und rief durch ihr Schluchzen hindurch: »Papa! Pa-a-pa! Wo bist du?« und schrie, »Du hast versprochen mir eine Puppe mitzubringen. Eine Schöne Puppe! Ich habe schon ein ganzes Skizzenbuch mit Häusern und Blumen für dich gefüllt. Ich warte auf dich […]« (ebd.: 11).5 Nach diesen Worten wurde das Mädchen weggebracht, außer Hörweite isoliert und in eine in der Nähe stehende Limousine gesetzt. Danach fuhr der General mit seiner Rede fort, die Frauen weinten weiter, und obwohl jeder das Schluchzen des kleinen Mädchens hören konnte, sagte niemand etwas. »Ich will nicht länger still bleiben«, schrieb Alexijewitsch daraufhin, »und doch kann ich nicht mehr über den Krieg schreiben« (ebd.).6 Aber natürlich schrieb sie über den Krieg, und natürlich würde sie es auch weiterhin tun. Zum Teil, so kann man vermuten, weil die Geschichte des Krieges zu lange in einem viel zu begrenzten Sinne geschrieben und erinnert wurde – als Geschichte von Siegen und von Kriegen von Männern …44; aber wahrscheinlich auch, weil sonst niemand hören würde, wie der Krieg klingt, wenn er aus den Mündern schreiender Kinder, ungewöhnlich tapferer, aber letztlich gebrochener Frauen sowie derjenigen kommt, die zurückkehrten, aber nie wirklich nach Hause kamen. Ihre Angelegenheit war tatsächlich eine Form der Trauer und der Verbitterung, die die Wahrheit jener anderen Welt in sich trägt, von der diese Welt abhängt  – und die denen geradezu abstoßend vorkommen muss, die nur das sehen wollen, was gewonnen wurde, und nur das hören wollen, was ihnen angenehm ist und sich so unschuldig ausnimmt, wie sie selbst zu sein glauben. In der letzten Episode von Alexijewitschs Zinkjungen spricht ein Feldwebel der Spezialkräfte über den Krieg in Afghanistan, über die Illusionen, mit denen sie in den Kampf gingen, und darüber, wie sich alles, sogar die Hunde, im Krieg zu verwandeln begannen. Denn im Krieg, sagt der Feldwebel, ist der beste Freund des Menschen hungrig, ja ausgehungert. Als der Feldwebel sich eines Tages verwundet und allein wiederfindet, wird ihm in diesem Moment klar,  Gesamte Episode zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden.  Passage zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden.

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dass Hunde hier nicht dieselbe Art von Tieren sind: Hier gehört kein einziger von ihnen dir, hier sind sie alle hungrig, und jetzt, so erkennt er, »sehen [sie] dich als Essen« (ebd.: 227).7 Unter normalen Umständen würde das nicht viel ändern. Aber wenn man verwundet und allein ist, stellt man fest, dass sich nicht nur die Hunde verändert haben. Stattdessen erkennt der Feldwebel in diesem Moment, was er sonst nie erkannt hätte, weil es vorher nie wahr war: Hier, allein und verwundet, hier ist er selbst zur Nahrung geworden. Und diese Erkenntnis hat ihren Preis. Darunter die Ächtung, der sich der Feldwebel und seine Kameraden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion ausgesetzt fanden: Sie wurden als Barbaren gefürchtet, als Bestien und Mörder gehasst. Denn natürlich blieb der Krieg auch in den scheinbar nebensächlichsten Dingen an ihnen haften. Im Fall dieses Soldaten wird Alexijewitsch erzählt, dass er dort so viel Chlor geschluckt hatte, dass ihm die Zähne nach seiner Rückkehr gezogen werden mussten. So zog die Zahnärztin einen Zahn nach dem anderen, bis der Schock des Schmerzes so groß wurde, dass der Feldwebel zu sprechen begann. Er blutet alles voll, aber er hört nicht auf zu erzählen. Der angewiderten Zahnärztin steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. »Sein Mund ist voller Blut und doch spricht er weiter«, scheint ihr Gesicht zu sagen. Zumindest erscheint es dem Feldwebel so, bevor er erkennt, dass dies wohl das ist, was viele seiner Landsleute von den Kriegsheimkehrern denken (ebd.: 228).8 Jeder sagt es, wortlos und voller Abscheu vor denen, denen sie nicht mehr ins Gesicht sehen können: »Ihre Münder sind voller Blut und doch sprechen sie weiter.« In der Zahnarztpraxis und zu Hause – darüber, was sie im Krieg wussten und darüber, was sie zuhause wussten, in Worten, in Taten und jetzt in der geschichteten Struktur einer Gesellschaft, deren Bücher, Denkmäler und Rhetorik darauf ausgerichtet sind, überall und jederzeit die Geschichte zu unterdrücken; eine Geschichte, die durch die Körper fließt, die benutzt und weggeworfen, deformiert und zerstört, verwundet und zum Weinen gebracht wurden durch das, was man den Fortschritt der Geschichte nennt. Für Alexijewitsch hingegen dienen diese Körper als »Bindeglied zwischen Natur und Geschichte, zwischen dem Tier und der Sprache«, wie sie es nennt, als eine Art biologisches Sieb, durch das die Geschichte strömt und in dem vielleicht allein der Schmerz der Geschichte bewahrt wird (ebd.: 19).9 In traditionelleren Formen der Geschichtsschreibung und der Philosophie gehen solche Körper des Schmerzes und der Erfahrung natürlich verloren und werden normalerweise nicht als Organe der Geschichte einerseits und als Sedimente der Zeit andererseits behandelt, die mehr Wissen in sich bergen als Dokumente, als Anwärter auf eine Art von Rückgewinnung, deren fortwährende Abwesenheit diejenigen verarmen lässt, die nicht alles wissen wollen, was sie bereits verloren haben. Und doch sind es genau diese Begriffe, mit denen Alexijewitsch ihre eigenen »Gefährten der Erinnerung«,  Gesamte Episode zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden.  Gesamte Episode zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden. 9 Gesamte Episode zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden.

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wie sie sie nennt, begreift – als Organe der Geschichte oder als Sedimente der Zeit und als Anwärter auf Rückgewinnung (Alexijewitsch 2013: 11). »Erinnern«, sagt sie, »ist keine leidenschaftliche oder leidenschaftslose Wiedererzählung einer nicht mehr bestehenden Realität, sondern eine neue Geburt der Vergangenheit, wenn die Zeit sich rückwärts bewegt« (Alexievich 2017b: xv).10 Eine Vergangenheit, die tot und verschwunden erschiene, wenn eben solche Menschen nicht sprechen würden, begraben unter dem Gewicht von Idealen und anderen Grabsteinen, wenn Alexijewitsch und andere nicht wüssten, dass es die Aufgabe zeitgenössischer Schriftsteller ist, die Toten auferstehen zu lassen und all das zu bergen, was sonst verloren ist. In diesem Sinne versteht auch Alexijewitsch ihre Auseinandersetzung mit diesen verschwundenen Körpern und Erfahrungen. »Ich bin eine Historikerin der Dinge, die keine Spuren hinterlassen«, schreibt sie, eine Historikerin all dessen, was, auch wenn es nicht mehr in Erscheinung tritt, auch wenn es nicht mehr, wie man sagt, faktisch ist, dennoch immer noch aktuell, extrahierbar und gewissermaßen lebendig bleibt, in Erwartung des Augenblicks, in dem es endlich zurückgefordert wird (Alexievich 2018: 11). »Ich baue Tempel […] aus dem, was nicht verschwinden darf«, schreibt Alexijewitsch (ebd.: 9). Und sie tut es, weil sie versteht, dass die Dinge, Orte und Jahre, die Sehnsüchte, der Kummer und die Befürchtungen, die der wahre Inhalt dessen sind, was sie »das Leben meiner Zeit« nennt, sonst von der Geschichte übergangen und missachtet werden (Alexijewitsch 2015). Deshalb studiert sie das, was sie »fehlende Geschichte« nennt, »die Dinge, die die Geschichte normalerweise übersieht« (Alexievich 2018: 2). Denn Alexijewitsch geht es stets um das, was sonst verschwinden würde, um das, was die Gegenwart und die von ihr bevorzugte Geschichte sonst für ausgelöscht erklären würde. Dazu erschließt sie aus dem Leben von Frauen und Kindern, aus den Handlungen derer, die verraten wurden und flehend zurückbleiben, »das, was war, aber verloren gehen könnte« (Alexievich 2017b: xix)10, wie sie sagt, »tausend Einzelheiten des verschwundenen Lebens« (Alexijewitsch 2013: 13), all jene »kleine[n] Ereignisse, die spurlos verschwinden« (Alexievich 2017a: 18).11 Und sie kann dies tun, weil ihre Auslöschung noch nicht vollständig ist, weil der Akt der Auslöschung noch nicht ganz gelungen ist, weil ihr Überleben nach alldem noch spürbar ist. »Die Vergangenheit hat uns nicht losgelassen«, schreibt sie über die sonst als obsolet angesehenen Roten Jahre. »Unsere Köpfe sind damit vollgestopft« (Alexievich 2018: 12). Und diese Vergangenheit überlebt, sagt sie, weil »das Imperium fiel, aber wir blieben« (ebd.: 11). So kann sie immer noch zu denen sprechen, die wie sie »darstellen wollen, was verloren ist« (Alexijewitsch, zitiert in Lindbladh 2017: 284), und dabei »das Verschwinden dieser Utopie [,] wie es den einfachen Menschen betrifft« (Alexievich, Lucic), beschreiben. In diesem Sinne kann Alexijewitsch mit ihrer Idee der Wiederherstellung eines Lebens im Moment seines Verschwindens als entschiedenste Gegnerin einer Philosophie der Auslöschung gelten. Aber es gibt  Einleitung zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden.  Passage zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden.

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noch einen weiteren Gesichtspunkt, unter dem man heute von Alexijewitsch auch als Philosophin der Auslöschung sprechen könnte. Denn es ist nicht nur die Vergangenheit, die sie zu retten sucht, sondern auch eine Gegenwart, die noch anderen Bedrohungen des Aussterbens ausgesetzt ist. In jener Episode, in der der Feldwebel dem nach Nahrung gierenden Hund begegnet, sieht man, wie sich ein Körper der inhärenten Umkehrbarkeit der Beziehungen bewusstwerden kann, die sonst das Leben von Menschen und anderen Tieren bestimmen. Denn sobald der Sergeant sich selbst als Hundefutter erkennt, beginnt der Vorrang zusammenzubrechen, der früher dem Menschen als sprechendem Tier (zoon logon echon), wie er seit Aristoteles bis heute charakterisiert wird, eingeräumt und dem nicht sprechenden Tier verweigert wurde. Der Mensch, von dem man einst glaubte, er sei der Vertreter und Erbe des Geistes, der Sitz seiner Würde, das ehrwürdigste aller moralischen Tiere  – dieser Mensch verschwindet womöglich schnell und fast vollständig. Und diese Art der Aushöhlung des Menschen kann natürlich nie ganz vergessen werden, weder auf dem Kriegsschauplatz Afghanistan noch anderswo. Denn wo immer Alexijewitsch hingeht, um zu sehen, zu hören und zu dokumentieren, was verlorengegangen ist, ist es jedes Mal der Fakt der Auslöschung, der sich ihren Aufzeichnungen aufdrängt. »Am häufigsten sprechen die Frauen über das Verschwinden, darüber«, sagt sie über ihre Schilderungen des zweiten Weltkrieges, »wie schnell im Krieg alles zum Nichts wird. Der Mensch wie die menschliche Zeit« (Alexijewitsch 2015). »So haben es die Frauen in Erinnerung. Eben noch hat der Mensch gelächelt, geraucht  – und nun ist er nicht mehr da« (ebd.). Der Körper verschwindet im Krieg, ganze Arten drohen unter der Bedrohung durch Strahlung zu verschwinden, die Vergangenheit wird mit dem Fall des Kommunismus zum Verschwinden gebracht. Überall verschwindet alles. Bis schließlich die menschliche Spezies selbst am Rande des Verschwindens zu stehen scheint. »In der Zone«, schreibt Alexijewitsch über das Gebiet um die Kernschmelze von Tschernobyl, »fühlte ich mich nicht als Weißrussin, nicht als Russin und nicht als Ukrainerin, sondern als Vertreterin einer biologischen Art, der womöglich die Vernichtung droht« (ebd.: 17). Diese drohende Auslöschung, die für Alexijewitsch in Tschernobyl greifbar wurde, beschrieb ihr Mentor Ales Adamovich bereits zu dem Zeitpunkt, als sie gerade ein Schreibprojekt ankündigte, welches bald ihren eigenen Einstieg in die Philosophie der Auslöschung bedeuten würde. »In früheren Kriegen«, hatte Adamovich gesagt, »ging es um das historische Schicksal von Völkern und Regierungen. Aber nie zuvor wurde die Frage aufgeworfen, wurde die Frage gestellt: Soll der Mensch, soll die Menschheit auf dem Planeten weiter existieren? Im einfachsten physikalischen Sinn des Wortes« (Alexijewitsch, zit. bei Brintlinger 2017: 199). Aber natürlich stellt das zwanzigste Jahrhundert diese Frage, seine Kriege stellen diese Frage, seine Katastrophen und vielleicht vor allem sein Ende stellen genau diese Frage  – denn wir wissen jetzt, dass 1989 auch das Jahr eines Massenaussterbens war. »In jenem Jahr«, so schreibt der Historiker István Rév, »zerfiel die Vergangenheit in Stücke und starb aus. Millionen, Hunderte von Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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Millionen Menschen in der ehemals kommunistischen Welt gingen verloren; sie verloren ihre Zukunft, weil sie ihre Vergangenheit verloren« (Rév 2005: 8). Und während es genau diese Art von Verlust ist, die in Alexijewitschs Secondhand-Zeit allerorts dokumentiert wird, kann man diesen Verlust nicht verstehen, wenn man nicht auch bei der Eliminierung dessen, was andere böswillig homo sovieticus oder sovoks nannten, Alexijewitsch aber stattdessen den Roten Menschen nennt, sowie bei jedem anderen Massenaussterben feststellt, wie völlig unvorbereitet die Menschen jeweils auf das waren, was zerstörte, was sie einst für ihr Leben hielten.12 Im deutschsprachigen Raum ist das Bewusstsein des völligen Unvorbereitetseins der Menschheit auf naturgeschichtliche Katastrophen vielleicht am ausführlichsten in den Anti-Atomkraft-Schriften von Günther Anders dokumentiert worden. Bei Alexijewitsch wird die historische Zäsur, die mit dem Beginn des Atomzeitalters eingeleitet wurde, jedoch nicht wie bei Anders mit den Kriegswaffen und den Ruinen von 1945 identifiziert, sondern mit der scheinbar weniger bedrohlichen und doch tödlichen, vollkommen beispiellosen Erfahrung von Tschernobyl, durch die es, wie Alexijewitsch schreibt, »schwer [ist] zu begreifen, daß wir uns in einer neuen Geschichte befinden« (Alexijewitsch 2006: 27). Denn in Tschernobyl war nicht nur menschliches Leben von der Vernichtung bedroht, sondern die gesamte natürliche Welt. »In diesem Sinne«, schreibt Alexijewitsch, »geht Tschernobyl weiter als Auschwitz und Kolyma. Weiter als der Holocaust« (ebd: 47). Mit Tschernobyl begann eine Ära, in der die Ausrottung nicht geplant zu sein braucht, weil sie zufällig erscheint; in der nicht ein anderes menschliches Wesen den Tod verursacht, sondern die unsichtbare Macht einer ansonsten nicht fassbaren Kraft; eine Ära, in der der Akt des Tötens nicht wie sonst durch Raum und Zeit begrenzt wird, sondern sich wie durch Ansteckung strahlenförmig kilometerweit ausbreitet und immer weiter in die Jahrhunderte hineinreicht, so als sei die kosmische Zeit selbst verflucht worden. Denn auch wenn Tschernobyl und seine Umgebung für Hunderte, wenn nicht Zehntausende von Jahren unbewohnbar geworden sind, sieht dieser Ort doch kaum anders aus als jeder andere. Das war es zumindest, was Alexijewitsch bei ihrer ersten Reise in die Zone sofort auffiel. »Die Gärten blühten, freudig leuchtete das junge Gras. Vögel sangen. Eine so vertraute, vertraute Welt«, erinnert sie sich (ebd.: 43). »Doch schon am ersten Tag erklärte man mir: Man sollte keine Blumen pflücken, sich lieber nicht auf die Erde setzen, kein Quellwasser trinken. Am Abend«, fährt sie fort, »beobachtete ich wie Hirten eine erschöpfte Herde zum Fluß trieben – die Kühe liefen zum Wasser und machten sofort kehrt. Irgendwie witterten sie die Gefahr. Die Katzen, erzählte man mir, fraßen keine toten Mäuse mehr, die überall herumlagen, auf dem Feld und auf den Höfen« (ebd.: 44).

 Für neuere Wiederaufnahmen des homo-sovieticus-Beiwortes und damit zusammenhängende Probleme der Volks-(Non-)Konformität mit der späten Sovietideologie vgl. Sharafutdinova (2019) und Yurchak (2003, 2005). 12

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»Der Tod lauerte überall«, erkannte Alexijewitsch, »aber dieser Tod war irgendwie anders. Er trug neue Masken. Kam in einem neuen Gewand« (ebd.). Dass einige in den Ruinen von Tschernobyl zurückblieben, letztlich unbegreiflich, erklärt Alexijewitsch damit, dass sie sich überrumpelt sahen und auf dergleichen nicht vorbereitet waren. »Nicht vorbereitet« aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur »biologische[n] Art«, deren »gesamtes natürliches Arsenal, ausgebildet zum Sehen, Hören und Tasten versagte. Nichts davon war brauchbar; Augen, Ohren und Hände taugten nicht, waren keine Hilfe, denn Radioaktivität ist unsichtbar, lautlos und ohne Geschmack. Körperlos. Wir haben unser Leben lang Krieg geführt oder uns auf einen Krieg vorbereitet, wissen so viel darüber – und dann! Das Feindbild hatte sich verändert. Wir hatten plötzlich einen neuen Feind. Töten konnte das abgemähte Heu. Der geangelte Fisch, das gefangene Wild. Ein Apfel […], die Welt um uns herum, uns früher so gefügig und freundlich gesinnt, flößte nun Angst ein« (ebd.) Die Tradition war von da an keine Hilfe mehr. »Das Wissen um unseren Mangel an Wissen hindert uns«, schreibt Alexijewitsch, und genau diese Erkenntnis der Unzulänglichkeit allen ererbten und erworbenen Wissens entnimmt Alexijewitsch den Worten derer, die die Vernichtung ihrer individuellen und kollektiven Vergangenheit sowie auch die durch das Nuklearzeitalter eingeführte größere anthropologische Kluft überlebt haben (Alexievich 2018: 14). Beim Versuch, den Zweiten Weltkrieg, Tschernobyl und das Ende der Utopie des Sowjetkommunismus zu verstehen, stellt Alexijewitsch fest, dass weder die Geschichte noch die Tradition eine angemessene Anleitung bieten. Am Beispiel von Tschernobyl zeigt Alexijewitsch, wie sich die verschiedenen Denk- und Handlungsweisen, die auf die Katastrophe folgten, gerade deshalb als so eklatant unzureichend erwiesen, weil deren Grauen noch in Begriffen gedacht wurde, die durch den Krieg geläufig waren, die durch die jüngste Nuklearkatastrophe aber übertroffen wurden. »In Tschernobyl«, schreibt sie, »waren fast alle Attribute des Krieges präsent: viele Soldaten, Evakuierungen, verlassene Behausungen. Die Zerstörung des normalen Lebens« (Alexijewitsch 2006: 43). Die Sprache des Krieges ist dort immer noch am Werk, denn die Denkmäler für die Helden von Tschernobyl ähneln immer noch Kriegsdenkmälern, und überall sind Soldaten in voller Kampfausrüstung zu sehen. Aber »[a]uf wen sollte er dort schießen, gegen wen sich verteidigen?«, fragt Alexijewitsch. »Gegen die Physik? Gegen unsichtbare Teilchen? Die verseuchte Erde erschießen oder einen Baum?« (ebd.: 45) Unter dem Gewicht der immer noch herrschenden Geschichtsvorstellungen und ihrer entsprechenden kriegerischen Paradigmen ist es der Krieg und nur der Krieg, der als vorherrschendes »Maß des Schreckens« gedient hat, wie Alexijewitsch sagt, und weil dieses Maß angesichts von Tschernobyl und anderen solchen Katastrophen nicht mehr anwendbar ist, muss diese ältere Form der Geschichte heute ihre völlige Unzulänglichkeit eingestehen (ebd.: 43). Denn während das Zeitalter des Krieges mancherorts noch fortdauert, ist es andernorts abgelöst worden, meint Alexijewitsch, und »[d]ie Geschichte der Katastrophen ist angebrochen […]« (ebd.) Mit jeder neuen Katastrophe wird eine Welt betreten, die nur mit den Begriffen einer Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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terra incognita beschrieben werden kann, mit einer Formulierung, die früher für unbekannte Länder verwendet wurde und dann metaphorisch zu werden begann, als kein Ort mehr unbekannt war – die aber inzwischen wieder wörtlich zu nehmen ist, so Alexijewitsch, da die Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts so deutlich zeigen, wie die Geschwindigkeit und die Art des historischen Wandels jede neue Generation in einen neuen Typus von Menschen verwandelt hat, unkenntlich gegenüber seinem Vorgänger (Alexievich 2006). Wenn Alexijewitsch zum Beispiel darüber schreibt, dass es weder gemeinsame Erfahrungen noch eine gemeinsame Sprache gibt, die die letzten sowjetischen Generationen zusammenhielten, beschreibt sie damit nicht einen einzigartigen sowjetischen Zustand, sondern einen, der seit langem auf der ganzen Welt verbreitet ist. Es ist, so sagt sie, als kämen Alt und Jung jetzt von vollkommen unterschiedlichen Planeten (vgl. Alexijewitsch 2013: 13). Für die ältere Generation beispielsweise markiert der Oktober 1917 häufig den Beginn der Emanzipation, eine Ära der Revolutionen, die für sie auch die Schaffung einer neuen »Heimat« bedeutet – während der Oktober für die junge Generation nichts anderes als ein verfluchter Putsch ist (ebd.: 195). Und während die Träume der Alten einst um Ideen wie Fairness, Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit kreisten, jenen großen Traum von der Schaffung eines neuen Himmels auf Erden (vgl. ebd.: 196), träumen die Jungen von heute nur noch davon, »ein Haus bauen, ein schönes Auto kaufen, Stachelbeeren pflanzen«, mit anderen Worten, die »Rehabilitierung des Kleinbürgertums« (ebd.: 14). Zwischen den Generationen gibt es also selbst bei den elementarsten Wörtern keinen gemeinsamen Sinn mehr: Die »Freiheit« selbst ist zu etwas Individuellem geworden, zu einer zu erwartenden inneren Freiheit, die früher noch als etwas Seltenes galt, als das Zeichen einer immer nur zeitweiligen Errungenschaft, die einem zuteilwird, während man für ein Leben kämpft, welches eines Tages in der »Abwesenheit von Angst« gelebt werden kann (ebd.). Und so wird das Alte heute zu Artefakten, Überbleibseln aus einer Welt der Kämpfe, und »[a]uf die Zeit der Hoffnung«, wie Alexijewitsch schreibt, »folgte eine Zeit der Angst« (Alexijewitsch 2015). Über den Krieg zu schreiben, wie Alexijewitsch es tut, lange nachdem man ihn nicht mehr ertragen kann, und dann innerhalb dieser Philosophie der Auslöschung zu bleiben, auch wenn man es gar nicht will, wird unumgänglich, wenn man erkennt, dass »alles Kriegszeit ist«, wie Alexijewitsch feststellt, und dass jeder heute das durchmachen muss, was keiner mehr ertragen kann (ebd.: 8). »Man sollte nicht solche Versuche am Menschen machen«, schreibt sie über diejenigen, die den Afghanistankrieg miterleben mussten, »[d]er Mensch hält das nicht durch. In der Medizin heißt sowas ›Versuch am lebenden Objekt‹« (Alexijewitsch 1992: 13). Und so geht es bis heute weiter. Für sie, für jene, und für uns. Vivisektion. Das heißt: Versuch am lebenden Objekt. So wundert man sich zu Recht, wie jemand nur all das hören kann, und fragt dann nach der Schreib- und Konstruktionsweise, die heute dem Wissen entspricht, dass ein solcher »Inhalt die Form sprengt«, wie Alexijewitsch schreibt (Alexijewitsch 2015). Um diesen Fragen nachzugehen, sucht Alexijewitsch seit langem nach Ad rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  aLe i e it

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Ausdrucksformen für das, was der Lauf der Dinge zunehmend unverständlich macht. Denn auch wenn es niemand mehr verstehen mag, ist das für Alexijewitsch keine Entschuldigung. Angesichts der Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts hat Adamovich einen Imperativ aufgestellt, der ebenso in Alexijewitschs Werk gefunden werden kann. Und dieser Imperativ, sagt Adamovich, lautet wie folgt: »Schließe nicht deine Augen« (zit. bei Isakava 2017: 268). Und weil Alexijewitsch diesem Imperativ überall folgt, sollte ihr Werk als Fortsetzung jener radikalsten Tradition dessen gesehen werden, was von einer ansonsten in Stücke gesprengten Aufklärung noch übrig ist. Im Schatten von Auschwitz war es Adorno, der alle Poesie als barbarisch bezeichnete; danach war es Adamovich der sagte, dass jeder, der Prosa über die Alpträume des 20. Jahrhunderts schreibt, damit ein Sakrileg begeht; und nun ist es Alexijewitsch, die diese Einsichten als eine Herausforderung für das zeitgenössische Schreiben übersetzt (vgl. Alexijewitsch 2015). In diesem Fall nimmt die Herausforderung die Form eines weiteren Imperativs an: »Nichts darf erfunden werden« (ebd.). Und so wird von nun an eine neue Art der Konstruktion erforderlich sein. Was Alexijewitschs Arbeit betrifft, hat diese Art der Konstruktion viele Namen erhalten: Manche sprechen von »Anti-Fiktion« oder einer »Literatur der Fakten«. Alexijewitschs Mentor sprach von »Hyperliteratur«, andere von »mündlicher Geschichte« oder »dokumentarischer Prosa«, während Alexijewitsch selbst von einem »Roman in Stimmen« spricht.13 Der jeweils bevorzugte Name ist natürlich wesentlich weniger wichtig als die Erkenntnis darüber, was diese Form eigentlich zu verkörpern versucht. Denn sie weiß, dass die Vergangenheit, die sie zum Leben erwecken will, nur in einer Gegenwart wiederbelebt werden kann, in der alle bisherigen Formen unzureichend geworden sind. »Die Kunst hat versagt«, stellt Alexijewitsch fest, ebenso wie die Geschichte und die Alltagssprache.14 »Das Problem ist«, schreibt sie, »dass wir über die Vergangenheit in der Sprache der Gegenwart sprechen« (Alexievich 2017b: xx)10 und damit diese Vergangenheit zu einer Obsoleszenz verurteilen, die sie nach dem Urteil der Geschichte bereits verdient hat. Wenn Alexijewitsch sich also auf die Suche nach einem anderen Genre begibt (vgl. ebd.: xxiii)10, stellt sie fest, dass das einzige Material, das ihr bleibt, der Schmerz ist, ein Schmerz, der, wie sie schreibt, der einzig wahre »Beweis für vergangenes Leben« ist (ebd.).10 In diesem Sinne könnte jedes von Alexijewitschs Büchern heute als eine Art endloses Kompendium der Schmerzen gesehen werden, das gesamte Werk als eine fast skrupellose Sammlung der verschiedenen Arten, wie diese Schmerzen einst gelebt wurden, eine Rekonstruktion, durch die derartige Leben wieder erkennbar werden, die andernfalls nichts anderes wären als »[e]ine ganze Zivilisation auf den Müll ge Für einen Versuch, Alexijewitschs Werk in die folgenden Genrekonventionen einzuordnen, vgl. Karpusheva (2017) zur Slavischen Totenklage; Bush (2017) zur Sovietischen Kriegsliteratur; Lenart-Cheng (2020) zum kollektiven Erinnern; und Günther (2018) zur dokumentarischen Prosa. 14 Vgl. Alexijewitsch, »A Search for Eternal Man: In Lieu of Biography«, im Folg. zit. mit der Sigle SEM. 13

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worfen« (Alexijewitsch 2013: 45). Alexijewitsch hat also zweifellos recht, wenn sie ihre Bücher als »Geschichte der Gefühle« charakterisiert. Noch pointierter könnte man sagen, als Geschichte von Schmerzen, die nicht vernarbt sind, auch wenn der Lauf der Zeit dafür sorgen wird, dass fast alle von ihnen bald verschwinden werden (Alexievich 2017b: xix).10 Denn in Alexijewitschs Werk überwiegt in der Tat das Grauen – während des Krieges, so sagt sie, wurden elf ihrer Verwandten von den Deutschen bei lebendigem Leib verbrannt, zusammen mit ihren eigenen Kindern (vgl. ebd.: xii)10; eine andere Frau kam mit einundzwanzig Jahren mit vor Angst weiß gewordenen Haaren aus dem Krieg zurück (vgl. ebd.: 10)10; währenddessen konnte man eine Gruppe junger Kinder dabei beobachten, wie sie sich in einem Erdloch versteckten, sich selbst Schlingen bastelten und diese um den Hals legten, um sich zu erhängen, sollten die Deutschen sie plötzlich entdecken (vgl. Alexijewitsch 2019: 85). Noch später sah man auf der Straße nach Dschalalabad ein junges Mädchen, dem ein verletzter Arm wie eine Stoffpuppe von der Seite herabhing, und als ein besorgter Soldat zu helfen versuchte, rannte sie schreiend davon, biss und kratzte ihn, denn in ihren Augen konnte ihr vermeintlicher Retter in Wirklichkeit nur ihr Mörder sein (vgl. Alexijewitsch 1992: 102). In jüngerer Zeit hat sich ein Rentner in seinem Gemüsegarten selbst angezündet, neben seinen Gurken, nachdem er eines Lebens überdrüssig geworden war, in dem Jahrzehnte Aufbauarbeit für den Kommunismus in der Demütigung endeten, dass er Care-Pakete mit Keksen und Süßigkeiten von einem deutschen Volk überreicht bekam, das vor nicht allzu langer Zeit in sein Dorf eingedrungen war, es besetzt und auf brutalste Weise zerstört hatte (vgl. Alexijewitsch 2013: 91). Doch nichts in dieser Litanei des Schreckens, die allzu oft als zu negativ, um wahr zu sein, oder als zu zermürbend, um konstruktiv zu sein, verspottet wird, könnte Alexijewitschs Schaffen dazu zwingen, mit jenem philosophischen Pessimismus übereinzustimmen, zu dem sie sich hingerissen gefühlt haben mag. Stattdessen wird ein einst ausgedrückter Schmerz aufgezeichnet und neben so viele andere in einer Collage von bestimmten, aber in keiner Weise vergleichbaren Schmerzen gestellt, dass weder der eine noch der andere, noch ihre Summe jemals unter eine Philosophie subsumiert werden können, deren Rationalisierungen des Leidens längst an Alexijewitschs tauben Ohren abgeprallt sind. In ihrem Werk existiert keine Rechtfertigung für das Leiden, keine Versöhnung für die Unversöhnten und keine Geschichtsphilosophie, die auf Auslöschung hinausläuft. Stattdessen zeigt Alexijewitsch, wie jedes Massensterben eine bestimmte Lebensform ihrem Ende zuführt, und zwar in einem Prozess, der ebenso grund- und rechtfertigungslos ist wie die fast gleichzeitige Verdrängung des darauffolgenden Lebens. Denn durch solche irrationalen Ersetzungen finden die Wünsche der Kinder, der Mut der Frauen, die Ideale der jungen Männer, die enttäuschten Hoffnungen der Selbstmörder und der Kämpfer für eine bessere Welt ihr vorzeitiges und keineswegs gerechtfertigtes Ende  – denn mit ihnen vergehen Formen des Wissens, deren Verlust bald als natürlich erscheinen wird. Denn durch solche irrationalen Ersetzungen finden die Wünsche der Kinder, der Mut der Frauen, die Ideale der Ad rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  aLe i e it

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jungen Männer, die enttäuschten Hoffnungen der Selbstmörder und der Kämpfer für eine bessere Welt ihr vorzeitiges und keineswegs gerechtfertigtes Ende – denn mit ihnen vergehen Formen des Wissens, deren Verlust bald natürlich erscheinen wird, als ob es sich lediglich um das automatische Ergebnis eines Auslöschungsprozesses handeln würde, der sich in Alexijewitschs Werk stattdessen als Ergebnis vieler individueller und kollektiver Vernichtungsakte erweist, in denen diejenigen, die ausgelöscht werden, begreifen, dass es keine kosmische Regel oder ein Naturgesetz gibt, das ihr Ende bestimmt, sondern nur historische Ereignisse, die in keiner Weise schicksalhaft sind. Bei Alexijewitsch wird das, was sonst als unzeitgemäß gilt, gebührend gewürdigt, indem das Bewusstsein für den unverdienten Verlust mit dem Leben derjenigen identifiziert wird, die eines Tages als Vorreiter einer Form des Wissens gelten werden, deren Zeit endlich gekommen ist. Für Sofya Adamovna Kuntsevich zum Beispiel, eine junge Frau, von der es heißt, sie habe während des Zweiten Weltkriegs zweihundert Verwundete in Sicherheit gebracht, die sich aber nichts sehnlicher wünschte, als ihren achtzehnten Geburtstag zu erleben und eines Tages nicht mehr auf dem Bauch über den Boden kriechen zu müssen, und die bald ihren Namen auf dem Berliner Reichstagsgebäude mit den Worten unterschreiben würde: »Ich, Sofya Kuntsevich, bin gekommen, um den Krieg zu töten« (Alexievich 2017b: 196).15 Arkadij Filin, ein Arbeiter bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl, erinnerte sich, dass sein stärkster Eindruck jener Tage war, wie ihre Bemühungen, den verstrahlten Wald zu roden, Erde in Erde zu begraben, ihn zu der Erkenntnis führten, dass das, was er tat, auch eine ganze Welt von Käfern, Spinnen und Maden lebendig begrub, eine Welt von Würmern und Ameisen, klein und groß, vielfarbig, ihre Häuser zertrümmert, ihre Geheimnisse verloren, während sie zu Tausenden getötet wurden – und all das geschah, ohne dass er überhaupt ihre Namen kannte (vgl. Alexijewitsch 2006a: 96). Für die Millionen, die teilnahmen an »der großen verlorenen Schlacht für eine wahre Erneuerung des Lebens«, wie Warlam Schalamow sie einmal nannte (Alexijewitsch 2013: 12), jene Roten Frauen und Männer aus Alexijewitschs SecondhandZeit, die noch lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Kommunisten blieben und deren Glaube »an die Möglichkeit, das Leben gerecht einzurichten«, wie Elena Jurjewna S. sagte, bedeutete dies, dass sie für Ideale und nicht für Dollars arbeiteten (ebd.: 62), dass sie schworen, die Wahrheit zu sagen, nicht im Namen des Gottes irgendeines Priesters, sondern mit dem »Pionierehrenwort«, ein »Leninehrenwort« schworen (ebd.: 54). Sie glaubten, dass das Glück immer mehr wiegt als Salami (ebd.: 59) und dass eine politische Doktrin, nach der alles geteilt werden sollte, die Schwachen bemitleidet werden sollten und Mitgefühl herrschen müsste, der Freiheit, sich alles zu nehmen, was man will, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, für immer überlegen sei (ebd.: 63). Es waren Anhänger einer Welt, deren Straßen die Allee der Metallurgen, die Allee der Enthusiasten, die Fabrikstraße 15

 Gesamte Episode zitiert nach englischer Ausgabe, da nicht in der deutschen vorhanden.

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und die Straße des Proletariats hießen (vgl. ebd.), deren U-Bahnhöfe Milchmädchen, Drehern und Lokführern gewidmet waren, während heute Geschäftsleute, Models und Manager zu den neuen Helden der Zeit geworden sind (ebd.: 66). Diese Anhänger blieben lebenslange Kommunisten wie Alexijewitschs Vater, aber auch wie all jene, die wie Alexijewitsch selbst die schärfsten Gegner dieser Kommunisten waren – die Dissidenten und Demokraten aus der Zeit des Tauwetters unter Chruschtschow, der Glasnost unter Gorbatschow, der Auflösung unter Jelzin und, in jüngerer Zeit, die Anhänger jener farbigen Revolutionen, die durch die Länder der ehemaligen Sowjetunion fegten – im Namen einer Würde, die verraten wurde, bevor sie überhaupt verwirklicht werden konnte. Sie arbeiteten auch für diejenigen, die nun im hohen Alter und kurz vor ihrer eigenen individuellen Auslöschung mit großer Sicherheit eines Tages auf den Boden starren und sich des Verdachts nicht erwehren können, dass dort unten tatsächlich etwas Lebendiges zu sein scheint (vgl. ebd.: 231); für die Pferde, die weinen, wenn sie zur Schlachtbank geführt werden (vgl. Alexijewitsch 2006: 133), und für die Hunde, die neben erschossenen Familien gleichsam gestrandet sind und deren hündisches Wimmern sich nicht von dem jedes anderen menschlichen Tieres unterscheiden lässt (vgl. Alexijewitsch 1987: 196). Angesichts von so viel unverdientem Leid und Enttäuschung kann es sein, dass die Leserinnen und Leser von Alexijewitsch die Augen nicht mehr länger verschließen können. Gezwungen, sich mit den unzähligen Leben zu konfrontieren, deren Ende er nicht mehr rechtfertigen kann, könnte ein solcher Leser zu der Erkenntnis gelangen, dass auch er Teil dieser allzu häufigen Rationalisierung des Leidens ist, die so mühelos und unterschiedslos angewandt wird, dass sie längst auch gegen ihn selbst gerichtet ist. Denn die eigenen Schmerzen und enttäuschten Hoffnungen wurden ebenso oft wegerklärt, geopfert im Namen eines Ichs oder einer Gesellschaft, deren fortwährende Brutalität der Preis ist, der für eine Geschichte gezahlt wird, in der wenig bis gar nichts vom Leben derer übrig bleibt, denen Alexijewitsch ihr Leben widmet, um ihnen zuzuhören. Wider ihr eigenes besseres Wissen gibt sie diesen Ängsten eine Stimme, welchen man traditionell aus dem Weg ging, weil man fürchtete, sie seien intensiver, als das Selbst, die Gesellschaft oder die Geschichte es ertragen könnte. Wenn all der Verlust, die Trauer, die Sehnsucht, der Groll und die unbegründete Zuversicht, die einst auf das Schwarz-Weiß von Alexijewitschs Seiten beschränkt waren, in das ungeschriebene Leben, in dem man heute lebt, einzudringen beginnen, wird man vielleicht endlich verstehen, dass man selbst ebenso dem Verschwinden ausgeliefert ist wie sie. In diesem Sinne könnte Alexijewitschs Behauptung, dass, wie sie schreibt, »Angst heute eine Form des Wissens sein kann und vielleicht auch sein sollte« (Alexievich 2006), möglicherweise eines Tages nicht nur auf die Angst vor dem, was in Zukunft passieren wird, wenn so etwas wie ein Afghanistankrieg, eine Kernschmelze in Tschernobyl oder ein zivilisatorischer Zusammenbruch global wird, zutreffen, sondern auch und vielleicht besonders auf die Angst, die sich einstellt, wenn man sich in Hörweite der Schrecken und Hoffnungen befindet, die, wie Alexijewitsch zeigt, bisher schon die alltägliche ErfahAd rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  aLe i e it

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rung der Geschichte ausgemacht haben. Alexijewitsch ist das Beispiel einer immer noch lebendigen Philosophie, die sich im Hören auf jene Stimmen, die durch ihre Schriften zu vernehmen sind, endlich das Recht nimmt, sich auch für die Gegenwart zu fürchten. Die entsprechende Angst erscheint heute in der Tat notwendig, auch wenn alle Unwissenheit darüber beteuern, wie es überhaupt noch möglich sein soll, jene Schrecken zu ertragen. Aus dem Englischen von Ella-Mae Paul und Eckardt Lindner 

Liter atur Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus.

PEN America Blog Boys in Zinc The Unwomanly Face of War In Search of the Free Individual. The History of the Russian-Soviet Soul

Dalkey Archive Press

Canadian Slavonic Papers 59 Canadian Slavonic Papers 59, Osteuropa steuropa

Canadian Slavonic Papers 59, Canadian Slavonic Papers 59 History and Memory Canadian Slavonic Papers 59 Osteuropa

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Canadian Slavonic Papers Retroactive Justice: Prehistory of Postcommunism Slavic Review 7 Comparative Studies in Society and History 5 Everything was Forever, Until It Was No More: The Last Soviet Generation

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J E A N A M É RY Die ausgebliebene Revolution: Jean Améry r an r a

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eute sei er bekannt als einer der widerständigsten unter den »professionellen Auschwitzhäftlingen«, die einmal dem breiten öffentlichen Konsum zur Verfügung gestellt wurden, scherzte der in Österreich geborene Schriftsteller Jean Améry einmal scharf darüber, wie er sich seine Rolle in der Wahrnehmung Anderer in den damaligen Diskussionen vorstellte. Der ehemalige Widerstandskämpfer, Lagerhäftling und spätere belgische Exilant hatte in der Tat allen Grund, die Rolle, die ihm in der europäischen Nachkriegsgeschichte zugedacht wurde, abzulehnen (Heidelberger-Leonard 2010: 65). Denn während sich viele noch immer dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen in der Hoffnung zuwenden, dort eine Art kalte Klarheit, ein ausgleichendes Verständnis oder ein zweckmäßigeres Mittel zur Bewältigung einer Vergangenheit zu finden, die fast jeder hinter sich lassen möchte - wenn auch, so muss man anmerken, aus sehr verschiedenen Gründen -, wollte Améry selbst nichts dergleichen. »Ich war nicht abgeklärt, als ich dieses Büchlein auf Papier brachte«, sagte er über Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, seinen während der Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963–1965 erstmals im Radio vorgetragenen Essayband, »ich bin es heute nicht und hoffe, daß ich es niemals sein werde« - denn Améry war sich bewusst, dass das Streben nach einem solchen ungetrübten Verständnis häufig Phänomene verdeckt, deren Konflikte bis heute ungelöst bleiben und immer noch aktuell sind (Améry 1977: 13). »Abklärung« in Bezug auf jene Kriegsgräuel, deren Opfer Améry selbst war, »das wäre ja auch Erledigung«, so fährt er fort, »Abmachung von Tatbeständen, die man zu den geschichtlichen Akten legen kann«, und genau das wolle sein Buch verhindern (ebd.): »Nichts ist ja aufgelöst, kein Konflikt ist beigelegt, kein Er-innern zur bloßen Erinnerung geworden« (ebd.: 14). Die Wunden, die mit der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze 1935, der anschließenden Diskriminierungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspraxis sowie Amérys eigenen Erfahrungen mit Verfolgung, Exil, Haft und Folter entstanden waren, waren in der Tat in den dazwischen liegenden Jahrzehnten kaum verheilt, vielmehr sie waren weitergewachsen und hatten sich verschlimmert. Und während die deutsche Öffentlichkeit, die internationale Meinung und sogar seine eigenen ›Mitopfer‹ es vorzogen, sich der Überwindung all dieser Verletzungen zu widmen und damit die gesellschaftlich sanktionierte Aufgabe zu

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bevorzugen schienen, ruhig und entschlossen über ihr Massenschicksal hinwegzugehen, konnte und wollte Améry selbst nicht so denken, schreiben oder handeln, wie es von ihm erwartet wurde. »Was geschah, geschah«, das wusste er, »[a]ber daß es geschah, ist nicht einfach hinzunehmen« (ebd.). Und natürlich sind die Gründe für Amérys Widerstände nicht schwer aufzufinden - wie er später erklären sollte, »[w]er gefoltert wurde, bleibt gefoltert« (ebd.: 64), verurteilt, jahrzehntelang in einem gemarterten Körper zu leben: »Ich baumle immer noch […] an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche« (ebd.: 38). So blieb er hilflos zurück, auch nachdem man ihn heruntergelassen hatte. Jeglicher Glaube an die Macht des Geistes und die Unversehrtheit des Körpers wurde zunichte gemacht, als die Herrschaft der Unvernunft realer wurde als die Vernunft selbst. Vielleicht am wichtigsten für seinen lebenslangen Groll war, dass das Land seiner Peiniger so schnell wieder in die Staatengemeinschaft aufgenommen und wieder zur europäischen und globalen Macht erhoben wurde, während seine Opfer zu Objekten der Verachtung wurden, wenn sie ihre überwältigende Niederlage nicht akzeptierten. Und so betrachtete Améry die Wut, die der Krieg in ihm auslöste, und das Gefühl der Verbitterung, das sich danach verfestigte, als ein weitaus getreueres Abbild der Wirklichkeit als jenes »Vergebungs- und Versöhnungspathos« (ebd.: 106), das man bei Tätern und Opfern so häufig findet und das einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen will, der das Verbrechen nur verschlimmern kann, solange die Nachkriegsorthodoxie unangefochten und unverändert bleibt.1 Zur gleichen Zeit verstand Améry auch, wie unwahrscheinlich eine Neubewertung dieser Vergangenheit war, über die sich bereits ein Konsens zum Narrativ von Schuld und Sühne gebildet hatte, dessen Rollen von vornherein festgelegt worden waren: Auf der einen Seite standen die Individuen, deren Verbrechen allgemein entschuldigt wurden, die Menschen, die entlastet wurden, während die Gräueltaten mit anderen vermengt und wegdiskutiert wurden, so dass sich niemals so etwas wie eine Kollektivschuld oder Verantwortung ergab; und auf der anderen Seite standen die Opfer, denen Hass und Rache verwehrt wurden, deren Vergebung aber erwartet und als Voraussetzung für die Gewährleistung der größeren Stabilität des Ganzen betrachtet wurde. Im Interesse dieses zukunftsorientierten Paktes einer monströsen Versöhnung konnte man einfordern, dass sich die beiden einstmals verfeindeten Seiten mit Hilfe von allerlei Gemeinplätzen auf halbem Wege begegnen würden: dass die Zeit des Nationalsozialismus lediglich ein historischer Irrweg war oder dass die Opfer Deutschlands aufgrund ihres »KZ-Syndroms«, wie man ihr Gebrechen nannte, selbst nie ganz vertrauenswürdig waren; dass das Ende des Dritten Reiches in Wirklichkeit nur der Beginn eines »deutschen Wunders« war, dessen Volk wei Zu Amérys Begriff des »Ressentiments« über die unten genannten hinaus vgl. Assmann (2003), Alford (2012; 2019), Fareld (2016a), Ben-Shai (2007), Vetlesen (2006), Engel (2020), van Tuinen (2021), Fassin (2013). Für eine zeitgenössische Verteidigung des Ressentiments und der Kritik am Vergebungsdiskurs der Nachkriegszeit, die der Amérys ähnelt, vgl. Jankélévitch (1996; 2005). 1

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terhin voranschreiten würde, wenn alle lernten, die Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen - und um diese Bemühungen zu erleichtern, konnte man immer auf jene inzwischen zu nationalen Imperativen gewordenen Binsenweisheiten zurückgreifen: denn die Zeit heilt alle Wunden, wie man sagt, und so ist es oft besser, einfach zu vergeben und zu vergessen. Doch Améry selbst konnte nicht vergessen und wollte nicht vergeben, und so ließ er sich später zu einer äußerst taktlosen, dem Zeitgeist in jeder Hinsicht widersprechenden kritischen Zuspitzung hinreißen, indem er seine Leser zum Beispiel daran erinnerte, dass die ganze Welt nicht, wie die Nachkriegsrhetorik so oft zu suggerieren suchte, für die Juden und andere Unerwünschte eingetreten sei, sondern das Tun der Nazis rundweg gebilligt habe (vgl. ebd.: 1363f.) und dass der Begriff der Kollektivschuld, der im Nachhinein vermieden wurde, weil man fürchtete, die Schlächter und ihre kürzlich wieder zu Machthabern gewordenen Verwandten vor den Kopf zu stoßen (vgl. ebd.: 116), für die Opfer eine historische Realität war, die sie nicht mehr leugnen konnten, sobald sie sich ohne Hilfe dem Tod geweiht sahen (vgl. ebd.: 117). Doch so kritisch Améry gegenüber dem Nachkriegsdeutschland und der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen auch war, er beschränkte sich nicht nur auf die offensichtlichsten Schuldigen, sondern zeigte sich ebenso schonungslos gegenüber seinen Leidensgenossen; jenen gegenüber beispielsweise, die sich von den Platitüden des Wunschdenkens verführen ließen, welche profitabel wurden, als man die Opfer dazu anhielt, ihre Entmenschlichung als käufliche Ware anzubieten – dem sie häufig zustimmten, wie er selbst auch (vgl. ebd.: 128). Améry setzte diesem Diskurs erbaulicher Superlative entgegen, dass niemand, wie er alle erinnerte, aus den Lagern weiser, tiefer, besser, menschlicher oder moralischer zurückkam (ebd.: 45), wie sie so oft behaupteten; dass eine unmoralische Bereitschaft zu vergeben und zu vergessen (ebd.: 116) in Wirklichkeit nur als Ergebnis von Wahnsinn, Gleichgültigkeit oder Masochismus zu erklären sei (ebd.: 115), und, wie Améry sagte, die Beleidigung fortsetzend, dass es so etwas wie eine Rückkehr aus dem Exil nicht gibt (ebd.: 75), keine »neue Heimat«, wenn die erste verloren ist (ebd.: 83). Derjenige, der glaubt, seine Heimat verloren zu haben, betrüge sich nur selbst, da dieses Land nie zu ihm gehört habe (ebd.: 86). In den Jahrzehnten nach dem Krieg waren jedoch viele bereitwilliger als er, über diese Zeit zu theoretisieren, zu extemporieren und zu pontifizieren, und so musste Améry auch gegen sie schreiben, indem er diejenigen, die über die Jahre des Nationalsozialismus sprachen, ohne solche Erfahrungen wie er gemacht zu haben, mit vielen Blinden verglich, die über Farben schwätzten, die sie nie gesehen hatten (ebd.: 1543f.). Andere ermahnte er, dass sie ihre Zunge hüten sollten, wenn sie versucht seien, von der »Banalität des Bösen« zu sprechen, wenn sie diesem Bösen nur in den ruhigen Räumlichkeiten eines Gerichtssaals gegenübergestanden hätten (ebd.: 52), dass die populäre Verquickung von Kommunismus und Faschismus, die als Totalitarismus bezeichnet wird, keine Grundlage in den Tatsachen hatte und nur der Propagandaeffekt dessen war, was er »die politische Haupt- und Staatsmystifikation der Nachkriegszeit« nannte (ebd.: 60), und dass die Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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ständige Aufforderung, etwas von dem Schmerz von Folterungen wie den seinen mitzuteilen, nur akzeptiert werden konnte, wenn man anschließend einem anderen denselben Schmerz zufügte und so selbst zum Folterer wurde (vgl. ebd.: 63). Neben dieser kompromisslosen Kritik an jedem Versuch, einer Vergangenheit ein Denkmal zu setzen, die für ihn immer noch lebendig und anschaulich war, deren Konflikte ungelöst waren und immer noch nach einer gerechteren Antwort riefen, vertrat Améry später die ebenso unpopuläre Position, dass der einzige Weg, die eigene Würde wiederzuerlangen, oft darin bestehe, einfach zurückzuschlagen (ebd.: 1503f.) und sich unaufhörlich gegen eine Realität aufzulehnen (ebd.: 117), die auf bösartigste Weise gegen einen selbst gerichtet wurde. So wird Améry für den Rest seines Lebens revoltieren, wie er sagte, »gegen meine Vergangenheit, gegen meine Geschichte, gegen meine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren lässt und es damit auf empörende Weise verfälscht« (ebd.: 14). Weil eine Vergangenheit, die die Gegenwart bestimmt, eigentlich gar nicht vergangen ist und weil die Wirkungen der Vergangenheit immer noch widerrufbar sind, wo immer Menschen sie zurückweisen wollen, um die Gegenwart zu korrigieren und damit auch die Vergangenheit umzuschreiben, verwandeln sich Forderungen nach Wiedergutmachung, die jetzt nicht, ja niemals, so unbeantwortet bleiben müssen, wie sie es sonst in der Geschichte des zwanzigsten und nun auch des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts waren. Hier bietet Amérys Aufruf zur beständigen Revolte, zu Revolution und Ressentiment ein alternatives Modell zur Bewältigung der immer noch aktuellen Fragen im Zusammenhang mit der so genannten »Übergangsjustiz« in Deutschland und anderswo sowie der entsprechend großen Dringlichkeit und Notwendigkeit, die ererbten Schemata der historischen Zeit zu überdenken.2 Und doch werfen solche Ideen wie die von Améry unweigerlich die Frage auf: Auf welcher Grundlage könnte die Gegenwart so umgestaltet werden, dass sie ihrerseits Vergangenheit und Zukunft verwandelt? Für Améry war klar, dass die nach dem Krieg gemachten Versprechungen nur dann erfüllt werden könnten, wenn an die Stelle leerer Versöhnungsbemühungen die Forderung nach Entschädigung träte, wenn die Versöhnung durch ein gerechtes Gefühl des Ressentiments ersetzt und die Wiedergutmachung, die sich einst auf Worte beschränkte, in die konkreteste aller Revolutionen in die Tat umgesetzt würde. Um dies zu erreichen, so Améry, müssten Diskussionen um diese Fragen weg von den moralisierenden und medizinischen Diskursen einer im Wesentlichen entpolitisierten Vergangenheitsbewältigung und auf das Feld der historischen Praxis verlagert werden, um dort die unmöglichste aller Aufgaben zu verfolgen: das Unumkehrbare rückgängig zu machen, das Geschehene ungeschehen zu machen, das ungeschehen zu machen, was immer wieder und weiterhin geschehen wird, solange solche unmöglichen Ziele nur als Alibi vor Für einen besonders klaren Ansatz über Amérys Bedeutung für die gegenwärtige Geschichtsschreibung vgl. Fareld (2016b). Für eine Auswahl an Problemen in Bezug auf Übergangsjustiz und historischer Zeit vgl. Bevernage (2008; 2012); Brudholm (2006; 2008), Żółkoś (2010), Minkkinen (2007). 2

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geschoben werden, anstatt sie als Aufgaben zu begreifen, die jeder selbst auf sich nehmen muss. Auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen, die er später auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen und in ihr wiederholen zu können hoffte, stellte sich Améry die Möglichkeit einer »deutschen Revolution« vor, die sich endlich gegen die zwölf Jahre des Nationalsozialismus erheben und die durch Gewohnheit und Bequemlichkeit verdrängte Vergangenheit in sich aufnehmen würde, welche jedoch eines Tages vom deutschen Volk selbst übernommen werden müsste, um diese Jahre in ihrer Gesamtheit zu negieren – im Zeichen einer zunächst nur auf den Opfern lastenden, dann auch von den Tätern zu empfindenden Schande (ebd.: 88). Zur Veranschaulichung erzählte Améry die Geschichte eines seiner Peiniger, des flämischen SS-Mannes Wajs aus Antwerpen. In den Lagern hatte Wajs Améry regelmäßig geschlagen, wenn er der Meinung war, dass er nicht schnell genug arbeitete, und obwohl Améry sich des Unrechts dieser Schläge bewusst war, waren sie für Wajs wahrscheinlich von geringer Bedeutung. In dieser durch die Situation normalisierten Demütigung, die so lange andauerte, da Wajs ungestraft blieb, lag die Quelle von Amérys Einsamkeit, seines Gefühls der Ungerechtigkeit und seiner berechtigten Ressentiments. Das Unrecht hielt jedoch in diesem Fall nicht lange an, denn Wajs fand sich bald vor dem Erschießungskommando wieder - und »[e];r war in diesem Augenblick«, wie Améry schreibt, »mit mir - und ich war nicht mehr mit dem Schaufelstiel allein«. So »war er aus dem Gegen-Menschen wieder zum Mitmenschen geworden«, sobald Améry sich vorstellen konnte: »Er [der SSMann Wajs] hat, so möchte ich glauben, im Augenblick seiner Hinrichtung die Zeit genau so umgedreht, das Geschehen genau so ungeschehen machen wollen wie ich« (ebd.: 114). In diesem geteilten Moment des Erkennens, in dieser Gemeinschaft der Sehnsucht nach der Umkehr des gemeinhin Unumkehrbaren, entdeckte Améry, dass seine Gefühle der Wut, der Ungerechtigkeit und des Grolls eine Zeit lang besänftigt wurden - aber natürlich nicht vollständig und nicht für lange, denn es war nicht nur Wajs, der für die Gräueltaten verantwortlich war. Tatsächlich würde die deutsche Revolution, für die sich Améry stark machte, einen ähnlich geteilten Sinn und eine daraus folgende Reaktion erfordern, der »eine ganze umgekehrte Pyramide von SS-Leuten, SS-Helfern, Amtswaltern, Kapos, ordensgeschmückten Generälen« ergreifen würde (ebd.). Das heißt, dass sich die Gesamtheit dieses verbrecherischen Staates und dieser verbrecherischen Gesellschaft schließlich dazu verpflichten würde, ihre früheren Taten in ihre eigene Gegenwart zu integrieren, um sie schließlich ihrerseits zu negieren. Améry war jedoch nie so naiv, diese Möglichkeit für etwas anderes zu halten als für eine besonders »ausschweifende moralische Träumerei«, wie er damals schrieb, zumal unter den damals herrschenden, überaus reaktionären Umständen. Und doch sollte Améry noch jahrzehntelang danach versuchen, all diese Träumereien als die vielleicht unmöglichen, aber dennoch zwingenden Bedingungen für eine bessere, gerechtere und menschlichere Revolution gegen eine Realität zu rechtfertigen, die er zunächst wegen ihrer Missachtung der Kriegsopfer und später im Namen derer, die überall verunglimpft werden, wenn sie Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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älter werden oder sich das Leben nehmen, anprangern wird (ebd.: 125). Um solche Nöte, Wut und Ressentiments zu beschreiben, musste Améry jedoch zunächst eine Reihe von Annahmen in Frage stellen, an die er sich früher in seinem Leben gewöhnt hatte – und die den Vorrang des Geistes vor der Materie, der Objektivität vor der Subjektivität und der Geschichte vor der Erfahrung betrafen -, um das, was früher zu Unrecht abgewertet worden war, neu zu bewerten. Das Ergebnis sollte eine völlig neue Praxis des experimentellen Schreibens sein, zugleich meditativ und spannungsgeladen, logisch bis zum Äußersten, sich der Grenzen der Logik bewusst und doch sicher, in der Auseinandersetzung mit den Wechselfällen der eigenen Erfahrung und der sedimentierten Geschichte, die sein eigener Körper geworden war, ein neues Medium für die soziale Analyse gefunden zu haben, das endlich das auszudrücken vermochte, was für ihn einst unmöglich zu erfassen war. Diese Entdeckungen erforderten von Améry jahrelange Anstrengungen, kosteten ihn zahllose Misserfolge und sollten sich erst in seinen Schriften aus der Zeit der Frankfurter Auschwitz-Prozesse wirklich herauskristallisieren. Denn dort war er auf eine Methode gestoßen, die der gelebten Realität individueller und kollektiver Erfahrung so nahekam, dass sie danach die Reihe der experimentellen Essays hervorbrachte, für die er später berühmt werden sollte - Jenseits von Schuld und Sühne (1966) sowie Über das Altern. Revolte und Resignation (1968) und Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod (1976) - mit vollkommen konträr zu all seinen bisherigen Arbeiten und Ausbildungen stehenden Orientierungspunkten, die jedoch absolut unerlässlich sind für jeden Versuch, in dem »ungewissen Dämmer« von Erfahrungen zu verweilen, die sich sonst einer wissenschaftlichen Untersuchung entziehen (Améry 1977: 13). Diese Meditationen über Auschwitz, das Altern und den Freitod sollten jeweils genau dort ansetzen, wo die Wissenschaft traditionell aufhört (vgl. Améry 1976: 10), und auf Begriffe (vgl. ebd.), logische Stringenz (Améry 1994: xxi), verfeinerte Objektivität (vgl. Améry 1977: 13) und jene distanzierte Freude an der Umsicht, die ihm einst so teuer war, verzichten, um stattdessen vom »konkreten Ereignis« (ebd.) in all seinen Widersprüchen auszugehen. Es sollte sich um eine im Wesentlichen introspektive Untersuchungsweise handeln, gekennzeichnet »durch ein ständig sich selbst anfechtendes und korrigierendes Nachdenken« (Améry 1968: 10). Daher bittet er den Leser darum, ihn auf »den ungewissen Boden meines Fragens« zu begleiten (ebd.: 11). In diesen Schriften wurde der Unterschied zwischen dem, was Améry zuvor geschrieben hatte, und dem, was er nun auszudrücken vermochte, so groß, dass es den Anschein hatte, als sei der spätere Schriftsteller ein völlig anderer Mensch als der, der er zuvor gewesen war. In gewissem Sinne ist das richtig: Er war in der Tat in der Zwischenzeit ein anderer Mensch geworden - aber es ist auch offensichtlich falsch, und man mag hoffen, dass der Versuch, die von Améry durchlaufene Veränderung zu erklären, nicht nur den Ursprung, die Entwicklung und die Ziele von Amérys eigenen reifen Schriften verstehbar macht, sondern auch den Kurs begreiflich macht, den die eigenen vorherrschenden Ideen und Praktiken der Gegenwart nehmen müssten, um Amérys Ziele mit einer GegenAd rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  Alexijewitsch  ·  a

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wart zu verwirklichen, die heute wie immer nur eine bestimmte Art der Anordnung der ungelösten Konflikte der Vergangenheit ist (vgl. Hullot-Kentor, Zwarg, Durão 2018: 314). Von seiner Herkunft, Ausbildung und Erfahrung her betrachtet, scheint es wenig gegeben zu haben, was Améry auf die Art von erschütternd subjektiven Reflexionen hätte vorbereiten können, die er Mitte der 1960er Jahre begann und bis zu seinem Tod 19783fortsetzte. Heute ist Améry fast nur noch in den Begriffen bekannt, die er nachdrücklich ablehnte, nämlich als »zur Schau zu stellendes Opfer, als Beispiel jüdischen Leidens« (Heidelberger-Leonard 2010: 209), als »Berufsjude oder BerufsKZ-Häftling« (ebd.: 168). Améry hatte seine frühen Jahre noch als Hans Mayer, ein Junge aus der ländlichen Idylle Österreichs in bäuerlicher Tracht, verbracht, Sohn eines Reichswehrsoldaten und so weit entfernt von den Sitten und Gebräuchen jüdischen Lebens, dass er erst mit neunzehn Jahren von der Existenz der jiddischen Sprache erfuhr (Améry 1977: 131).3 Améry sah sich damals als ein typisches, wenn auch vielleicht besonders romantisches Produkt der österreichischen Landschaft und strebte seit seiner frühesten Jugend danach, ein anerkannter Dichter der dortigen Kultur zu werden. Im Laufe der Jahre wich Amérys stolzer Provinzialismus jedoch einer größeren Urbanität, nachdem er mehr Zeit in der Hauptstadt verbracht hatte und seine anhaltenden literarischen Leidenschaften durch die sozialen und intellektuellen Experimente des sozialistisch geführten Roten Wiens ergänzt wurden. In seinen späten Jugend- und frühen Zwanzigerjahren, inmitten großer sozialer und intellektueller Turbulenzen, sollte Améry selbst einen ähnlich bedeutsamen politischen und philosophischen Wandel durchmachen. In diesen Jahren zählte der einst stolze Provinzler zu den militanten Sozialisten, die sich dem klerikalen Faschismus der Zwischenkriegszeit entgegenstellten, schloss sich in den Tagen des österreichischen Bürgerkriegs 1934 den Roten gegen die Schwarzen an und wurde ein ebenso engagierter Anhänger der besonderen Form der sozial engagierten, antimetaphysischen und anti-irrationalistischen Bildungsprojekte des Wiener Kreises. Als überzeugter Rationalist, angehender Intellektueller und optimistischer Verfechter sozialer Reformen wird Améry diese Einflüsse später dafür kritisieren, dass sie ihn so wenig auf die Realität der Lager vorbereitet hatten. Aber solche rückblickenden Einschätzungen sollten nicht so verstanden werden, dass der Bruch mit diesen früheren Affinitäten den Erfahrungen des Lagers geschuldet war, da einige von diesen Affinitäten den Krieg tatsächlich überlebten und viele Jahrzehnte danach fortbestanden. Auch wenn die Kriegserfahrungen zweifellos ausschlaggebend für seine späteren Schriften waren, so reichten sie doch nicht aus, um die Wut und die Ressentiments hervorzurufen, die erst fast zwei Jahrzehnte später zum Ausdruck kommen sollten. Tatsächlich sollte sich Amérys anfängliche Darstellung des Krie Zu Amérys daraus folgenden, aber keinesfalls unkomplizierten Annahmen über jüdische Identität vgl. Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein (1977) und Mein Judentum (2005). 3

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ges und der daraus gezogenen und propagierten Lehren gegenüber dem, was er in seinen frühesten Nachkriegsschriften zum Ausdruck brachte, erheblich verändern. Nach der Annexion Österreichs durch die Nazis floh Améry nach Belgien, wurde Journalist, wurde nach der Kriegserklärung der Nazis an sein Gastland interniert, floh, schloss sich dem Widerstand an, wurde erneut verhaftet, gefoltert und schließlich in das Vernichtungslager Auschwitz-Monowitz, dann nach Dora-Mittelbau und Bergen-Belsen deportiert. Insgesamt verbrachte Améry etwa 642 Tage in deutschen Konzentrationslagern - Erfahrungen, so scheint es, die die Grundlage für die späteren, ebenso oft für ihre Schärfe gefeierten wie für ihre Gehässigkeit angeprangerten Schriften über das Nachkriegsdeutschland bilden. Und in der Tat spiegelt sich diese populäre Ambivalenz genauso in Amérys eigener Entwicklung wider. Nur drei Monate nach seiner Befreiung verfasste Améry einen Essay über Deutschland und die Deutschen, der sich so sehr von seinen späteren Schriften unterscheidet, dass die durchlaufenen Veränderungen zu augenfällig sind, um sie zu ignorieren. Zum Zeitpunkt dieses unveröffentlichten Aufsatzes von 1945, Zur Psychologie des deutschen Volkes (1945), erscheint Améry fast unerklärlich optimistisch und zeigt alle Merkmale seiner früheren Ausbildung, seines Verständnisses und seines guten Willens in seiner Hingabe, wenn er sagt: »[w]ir müssen es [das deutsche Volk] erziehen« (Améry 2002: 529). Im Rahmen einer, wie er es dort nennt, »rein wissenschaftlichen« Untersuchung kommt Améry zu dem Schluss, dass »der begangenen infernali[schen] Greul in Konzentrationslagern und Gefängnissen sich das deutsche Volk in seiner Gesamtheit nicht schuldig gemacht hat« (ebd.: 525), dass es sich bei ihnen nur um »Unterlassungssünden« (ebd.) handelte und dass man pauschale Urteile über ihre Schuld vermeiden sollte, denn, wie er schreibt, »[w]er 19323für Hitler wählte, stimmte noch nicht für Auschwitz und Birkenau« (ebd.). Somit seien sie alle noch fähig zur Besserung. Der Kontrast zu Amérys späteren Positionen ist so stark, dass es unmöglich erscheint, dass die beiden Aufsätze von ein und derselben Person verfasst worden sein könnten. Und obwohl zweifellos etwas dran ist an der Vorstellung, dass Amérys versöhnlichere und optimistischere Darstellung des Jahres 1945 von der unmittelbaren Nachkriegssituation geprägt war, in der das deutsche Volk für einen Moment noch als Feind der Welt angesehen und er selbst zu ihren Helden gezählt wurde - eine Situation, die sich nur wenige Jahre später radikal ändern sollte -, können solche Erklärungen auch dazu führen, die von Améry in diesen Jahren vollzogene Kehrtwende herunterzuspielen, die in einem Fragment aus dem Jahr 1945, in dem er zum ersten Mal seine Folterungen während des Krieges beschrieb, besonders deutlich wird. Es war als Teil eines größeren Werks mit dem Titel Dornenkrone der Liebe gedacht, das seinerseits eine »radikale Autobiografie« ist, wie er einem Freund schrieb, ist dieser »fiktionalisierte« Folterbericht doch eigentlich eine fast exakte Aufzeichnung von Amérys eigener Folter (zit. n. Heidelberger-Leonard 2012: 56): dieselben Daten, dieselbe Umgebung, dieselben Details der Folter. Doch hier, 1945, ist Amérys Bericht stattdessen eine Geschichte des Triumphs, seines Erfolgs, der Barbarei letztlich zu widerstehen, indem er sich weigerte, die NaAd rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  Alexijewitsch  ·  a

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men der anderen zu verraten. »Es war«, wie er damals schrieb, »der vollkommene Triumph des Geistes über die Materie« (ebd.: 59), also in Übereinstimmung mit den damals zeitgenössischen Lehren von Jean-Paul Sartre, denen Améry zuschrieb, dass sie Opfern wie ihm in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein dringend benötigtes Gefühl der Freiheit verliehen, und denen zufolge selbst der Schrecken der Folter den Menschen nicht seiner essenziellen Freiheit berauben kann (vgl. ebd.: 150). Zwanzig Jahre später wird Améry die Naivität dieser Ideen ebenso anprangern wie die »wissenschaftlichen« und »fiktionalisierten« Formen, die er als Ausdrucksmittel für diese Ereignisse herangezogen hatte. Um diesen Wandel zu verstehen, ist es jedoch lehrreich, zunächst zu betrachten, was in der Zwischenzeit geschah. Nach seiner Rückkehr nach Belgien in der Nachkriegszeit weigerte sich Améry, in deutschen und österreichischen Zeitungen zu veröffentlichen, und arbeitete stattdessen für die deutschsprachige Presse der Schweiz. Im Laufe von zwei Jahrzehnten verfasste er etwa fünftausend Zeitungsartikel, von denen einige gesammelt und in Buchform veröffentlicht wurden, und offenbarte damit ein enzyklopädisches Wissen über das kulturelle und politische Zeitgeschehen in Schriften, die im Vergleich zu seinem späteren Werk dennoch kaum nennenswert waren (vgl. Améry 1979: 215). Der entschiedene Objektivismus, den er sich in der Vorkriegszeit angeeignet hatte, scheint noch zwei Jahrzehnte später fortzubestehen und findet sich sogar in seinem wichtigsten Buch aus dieser Zeit, Geburt der Gegenwart: Gestalten und Gestaltungen der westlichen Zivilisation seit Kriegsende von 1961. Die Spannung zwischen dem Gegenstand von Amérys Untersuchung und seiner Herangehensweise wird hier jedoch unausweichlich. Denn während das Buch einen ehrgeizigen Überblick über die politischen und kulturellen Entwicklungen der Nachkriegszeit in Frankreich, Amerika, Deutschland und England sowie innerhalb der gesamten so genannten westlichen Zivilisation gibt, macht Améry seinen Lesern die Grenzen deutlich, die er sich hier selbst auferlegt hat. »Es ist keine Kulturgeschichte und keine Kulturphilosophie«, so beschreibt er zurückhaltend sein Werk, welches weder eine »Wesensdeutung der Zeit« ist noch »Hypothesen über den ›Sinn der Epoche‹« aufstellt oder den Anschein erwecken will, »Spekulation und Tiefenlotung« zu leisten (Améry 1961: 7). Stattdessen stellt sich Améry eine weitaus bescheidenere Aufgabe: »einen Kulturbericht oder genau: eine Kulturreportage« zu liefern, um, wie er schreibt, einfach »Informationen zu bieten« (ebd.) und sich mit »konkreten Fragen« zu beschäftigen, nicht mit »Seinsprobleme[n]«, mit Fragen, wie ein Berichterstatter sie abhandeln darf, ohne die Grenzen seines Berufs zu überschreiten« (ebd.: 8). In Anbetracht des von den Deutschen verursachten »Weltunheils«, dem sich Améry in jüngster Zeit unterworfen sah (ebd.: 11), des Verrats durch jene jetzt »im Zustande politischer Bewusstseinsspaltung« lebenden Österreicher (ebd.: 14) und die spätere Teilnahme an jenem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, dessen Bedeutung in Frankreich er hier nicht nur »politisch« und »psychologisch«, sondern sogar »metaphysisch« nennt, erscheint Amérys selbst auferlegtes Schweigen zu solch »existenziellen« oder »Seinsfragen« Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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wie diesen und die beharrliche Beschränkung auf bloße Reportage umso bemerkenswerter (ebd.: 273f.). Schwieriger wird es, wenn Améry über die jüngsten kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Westdeutschland zu schreiben beginnt, die, wie er sagt, »im Schatten des Dritten Reichs« verlaufen sind, wie es im gleichnamigen Essay heißt (ebd.: 159). Denn hier zeigt sich eine grundlegende Ambivalenz in Amérys Positionen und Darstellungsweise. So soll Deutschland gleichzeitig eine militärische und industrielle Macht ersten Ranges sowie eine »atlantische Musterfarm« geworden sein (ebd.: 213, 200). Seine Bevölkerung und sein Staat gelten als Bollwerk gegen den Kommunismus, während Améry behauptet, dieser Antikommunismus sei kaum mehr als eine Fortsetzung der Linie von Josef Goebbels (ebd.: 175). Es ist ein Land der Qualitätsprodukte, der weltberühmten Autos, der Chemie, der optischen Geräte und neuerdings auch der literarischen Qualitätsprodukte, deren Autoren sich des Verdachts nicht erwehren können, dass ihr Erfolg mit der Vermarktung eines Selbstbildes zusammenhängen könnte, von dem der deutsche Staat hofft, dass es nicht mehr im Schatten des Dritten Reiches stehen möge (vgl. ebd.: 159). Obwohl Améry diese Widersprüche scharfsinnig aufzeigt, werden seine kritischen Bemerkungen oft durch Zitate bedeutenderer Autoren untermauert, und seine Entscheidung, nicht unter seinem eigenen Namen zu schreiben, erscheint aus der Perspektive seiner späteren Schriften besonders merkwürdig. Denn wenn Améry beispielsweise 1961 eine Anekdote erzählt, in der ein Frankfurter Kellner ihn als Landsmann auf Französisch anspricht, weil er seine belgischen Nummernschilder erkannt hat, ist Améry in dieser verschriftlichten Erzählung gleichzeitig anwesend und abwesend. Der Kellner ist ein Wallone, erzählt Améry, freut sich über die Begegnung mit einem Mann, den er für einen französisch sprechenden Belgier wie ihn hält, und beklagt, dass er leider nicht in die vermeintliche gemeinsame Heimat zurückkehren kann, weil er sonst sofort ins Gefängnis käme. Sein Vergehen? Er war Mitglied einer wallonischen SS-Division, ein Verräter am eigenen Land, der die Uniform des Feindes trug und sich nun unter den mitleidigen Blicken seiner deutschen Gönner rühmt, damals einen ersten Schlag gegen den Kommunismus geführt zu haben, der inzwischen zum einigenden Feind der gesamten sogenannten westlichen Welt geworden ist. Améry fragt sich dabei, ob ein solcher Mann »vielleicht belgische Widerstandskämpfer ausgeliefert hatte« (ebd.: 176). Aber nirgends vermerkt Améry, dass der belgische Widerstandskämpfer, der dem Feind ausgeliefert wurde, genauso gut Améry selbst hätte sein können. Die Verbindung zwischen Amérys eigenen Kriegserfahrungen und den geschilderten Ereignissen fehlt 19613fast gänzlich, verdeckt, so vermutet man, hinter der Absicht, die Art von nüchterner Reportage zu liefern, die er später ablehnen wird. Die Entwicklung von Amérys Denken, vom optimistischen, erbaulichen Programm des Jahres 1945 bis hin zu der deutlich skeptischeren Position der frühen 1960er Jahre, dessen Höhepunkt in den von Ressentiments geprägten Aufsätzen Mitte der 1960er Jahre erreicht wird, erscheint als umso überraschender, wenn man sich das spätere Bild Deutschlands als einer einzigartig moralischen Nation vor Ad rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  Alexijewitsch  ·  a

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Augen führt. Und doch sollte man sich daran erinnern, dass die Schaffung dieses Bildes und seine Verteidigung gegen einen Sturm von Gegenbeweisen das Ergebnis einer jahrzehntelangen, heute oft vergessenen, Anstrengung war. Diese zu rekapitulieren, ist aber vielleicht notwendig, um Amérys eigene Wut, seinen Groll und seine Enttäuschung über die Nachkriegswelt zu verstehen. Denn wenn die heutige globale Erinnerungskultur weiterhin die typisierten Rollen einer reumütigen deutschen Nation nebst der der letztendlich versöhnlichen Opfer auf die Vergangenheit projiziert, verzerren solche Phantasien nicht nur die Umstände, aus denen Amérys Essays nach 1964 entstanden sind. Vielmehr entpolitisieren sie auch Ereignisse, deren immer noch aktuelle Bedingungen und Folgen innerhalb einer Gedenkkultur nicht registriert, geschweige denn rückgängig gemacht werden können, die sich der Domestizierung der Vergangenheit verschrieben hat, um sie dann in die unzugänglichen Archive der Geschichte zu verbannen. Entgegen allen Predigten, verpfuschten Rehabilitationsbemühungen und beschwichtigenden Versuchen der Sühne und Absolution forderte Améry stattdessen eine eminent politische Antwort auf die ebenso politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts, lehnte die vorherrschenden moralistischen und theologischen, metaphysischen und entlastenden Antworten ab und bestand auf der Notwendigkeit einer deutschen Revolution, die alles umstoßen sollte, was Hitler und der Faschismus eingeführt und was zu Amérys eigener Lebenszeit niemals effektiv abgelehnt wurde. In der Tat blieb die Notwendigkeit einer solchen umfassenden Ablehnung für Améry der Kern seiner konsequentesten und dennoch stets enttäuschten Forderung: »Die für den kulturellen Bestand der Nation in der Nachkriegszeit unerläßliche totale Negation des Dritten Reiches«, schrieb Améry bereits 1961, »wäre unter einer einzigen Voraussetzung möglich gewesen: daß ein erheblicher Teil des deutschen Volkes sich gegen Hitler erhoben, daß eine deutsche Revolution stattgefunden hätte« (ebd.: 173). »Jene Revolution«, fährt er fort, »die ausblieb (nicht weil man sie dem deutschen Volke nicht erlaubte, sondern weil es sich zu ihr nicht aufraffte), wäre die einzige Möglichkeit gewesen, das Dritte Reich zu überwinden und gleichzeitig dialektisch ins Geschichtsbewußtsein einzugliedern. Ein Volk, das Hitler gewaltsam aus dem Weg geschafft hätte, wäre nicht in der quälenden Lage gewesen, sich Hitler und seiner selbst schämen zu müssen« (ebd.: 174). Aber natürlich fand die Revolution nicht statt, weder zur Zeit Hitlers noch danach. Doch Améry beharrte weiterhin auf ihrer Notwendigkeit und sah in der Art und Weise, wie seine Ressentiments an dem noch nicht aufgearbeiteten Unrecht des Nationalsozialismus festhielten und wie sie die »moralische Kluft«, die Opfer und Täter noch immer trennte, offenhielten, eine notwendige Bedingung, um sich eines Tages dem Unrecht zu stellen, das sonst durch den Glauben einer versöhnlicheren Haltung an die so genannte heilende Wirkung der Zeit verdeckt wurde (Améry 1977: 11). In diesem Sinne waren seine Ressentiments keineswegs privater Natur, sondern dienten vielmehr einer »geschichtlichen Funktion« (ebd.: 123). »Würde es die Aufgabe erfüllen«, so fährt er fort, könnte solch ein Ressentiment eines Tages Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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»historisch […] für die ausgebliebene deutsche Revolution stehen« (ebd.). In einer solchen Situation, so stellt sich Améry vor, würden die Opfer nicht aufhören, sich zu melden, ihre Ressentiments pflegen, während die Deutschen, wie Améry schreibt, »die zwölf Jahre, die für uns andere wirklich tausend waren, nicht mehr verdrängen, vertuschen, sondern als seine verwirklichte Welt- und Selbstvernichtung, als ein negatives Eigentum in Anspruch nehmen würden« (ebd.: 124). Dazu müsste es aber geschehen, dass die deutsche »Nationalgemeinschaft […] alles, aber auch schon alles verwürfe, was sie in den Tagen der eigenen tiefsten Erniedrigung vollbracht hat«, und er fährt fort: »und was da und dort sich so harmlos ausnehmen kann wie die Autobahnen« (ebd.: 125). »Auf geschichtlichem Felde«, schreibt Améry, »zwei Menschengruppen, Überwältigter und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung und damit nach Moralisierung der Geschichte. Die Forderung, erhoben vom deutschen, dem eigentlich siegreichen und von der Zeit schon wieder rehabilitierten Volke, hätte ein ungeheures Gewicht, schwer genug, daß sie damit auch schon erfüllt wäre. Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen. Und am Ende wäre wirklich für Deutschland das erreicht, wozu das Volk einst nicht die Kraft oder nicht den Willen hatte und was später im politischen Mächtespiel als nicht mehr bestandsnötig hat erscheinen müssen: die Auslöschung der Schande« (Améry 1977: 1243f.). 1964 (ebd.: 79) war Améry, ebenso wenig wie 1961 (Améry 1961: 11), jedoch nicht so naiv, eine solche Revolution für möglich zu halten: Der erhobene Zeigefinger, mit dem das Nachkriegsdeutschland einst begrüßt wurde, war längst Bündnissen gewichen, die die spätere Vorherrschaft der Nation sicherten. Und während Améry zuvor die Genugtuung genossen hatte, mit seiner Empörung für einen Moment im Einklang mit der Weltmeinung zu stehen, ja sogar eine Zeit lang als eine Art Musterbeispiel eines der rechtschaffensten und moralischsten Opfer der Nachkriegswelt zu gelten, sollte er bald erkennen, dass es die Deutschen waren, die triumphiert hatten, und dass es Leute wie er waren, die an das »Kreuz einer zerstörten Vergangenheit« genagelt waren, wie er schreiben würde, deren nun unbequemer Zorn bedeuten würde, dass sie und nicht die Deutschen zu den Schuldigen gehören würden (Améry 1977: 111). Solche Umkehrungen sollten Amérys Ressentiments anspornen und ihn von der optimistischen, nüchternen und entpersonalisierten Perspektive abbringen, die er früher kultiviert hatte, die sich aber seither als unwirksam gegenüber der Kodifizierung einer Geschichte erwiesen hatte, in der seine eigene Erfahrung zunehmend delegitimiert wurde. Gleichzeitig bedeutete Amérys Ablehnung der in der Nachkriegszeit vorherrschenden Fetischisierung sentimentaler Lösungen der in seinen Augen politischen Probleme und seine Verachtung des typisierten Bildes vom edlen Opfer, dessen Autorität auf der Abwesenheit jeglichen Grolls gegenüber seinen ehemaligen Feinden beruhen sollte, dass er sich auch nicht mit der aufkommenden Opfer-als-Held-Ideologie anfreunden konnte.4 4

 Für die »Opfer-als-Held-Ideologie« in der Kultur der globalen Erinnerungskultur, die

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Stattdessen artikulieren seine Schriften ab Mitte der 1960er Jahre eine Ablehnung der Nachkriegsgeschichte, die so leidenschaftlich und unorthodox ist, dass sie aus der Perspektive unserer eigenen Gegenwart kaum verstanden werden kann. Solange wir an eine Erzählung der Nachkriegsgeschichte gewöhnt sind, die sich um die beiden Säulen des jüdischen Leidens und der deutschen Reue gruppiert, gibt es heute nur wenige Mittel, um Amérys wiederholte Behauptung zu verstehen, dass die Nachkriegswelt in Wirklichkeit von einem weit verbreiteten Gefühl geprägt war, nicht so sehr von deutscher, sondern von jüdischer Kollektivschuld, und nicht so sehr von der kollektiven Unschuld der Juden, sondern von der kollektiven Unschuld der Deutschen (ebd.: 75). Und aus diesem Grund ist es vielleicht aufschlussreich, heute etwas vom westdeutschen Nachkriegsdiskurs über Schuld und Sühne zu rekonstruieren, da dieser Diskurs genau die Bedingungen lieferte, aus denen Amérys ansonsten schwer verständliches Bild der Zeit tatsächlich entstand. Als unmittelbare Anlässe für Amérys Überlegungen kommen einem sofort mehrere öffentliche Kontroversen in den Sinn - man denke etwa an die Münchner Krawalle gegen Antisemitismus in Zeitungen von 1949, antisemitischen Vandalismus aus den Jahren 1959–60, 1960 bis 1965 Debatten über die Verjährung deutscher Verbrechen, den Eichmann-Prozess von 1961 und den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965. Doch abgesehen von diesen bekannteren Skandalen sollte man sich auch daran erinnern, wie das konsequente Leugnen von Verantwortung, der Anspruch auf eine eigene Opferrolle und das selbstgerechte Gefühl der Gerechtigkeit der eigenen Ressentiments im Nachkriegsdeutschland lange Zeit eine zentrale Rolle im Alltag der Deutschen in diesen ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten spielte, auf die Améry zu reagieren versuchte. Wie die Arbeit von Jeffrey K. Olick zu zeigen versucht hat, waren die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg in der Tat von einem weit verbreiteten deutschen Gefühl durchdrungen, dass sie die wahren Opfer der jüngsten Geschichte waren - und aus diesem Grund wird Olicks Arbeit hier herangezogen, um einen umfassenderen historischen Hintergrund für Amérys Behauptungen zu liefern.5 Die deutsche Nachkriegsöffentlichkeit stützte sich bei ihren Alibi-Behauptungen häufig auf eine selektive Erzählung von den Exzessen der Eliten, die in das vom ihm unverschuldete Unglück des Volkes umschlugen: Niederlage und Besatzung, Teilung und Vertreibung, Umerziehungsmaßnahmen und Entnazifizierung sowie die immer noch anhaltende internationale Besorgnis über die deutsche Kriegsschuld schufen im deutschen Volk ein überwältigendes Gefühl der eigenen Opferrolle und führten aus der Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis durch die Amerikaner hervorging, vgl. Orr (2001); eine komparative Studie zur japanischen und Post-Auschwitz-Entwicklung dieser Ideologie hat Zwigenberg (2014) verfasst. 5 In der folgenden Rekonstruktion des öffentlichen Diskurses im Nachkriegsdeutschland beziehe ich mich vor allem auf Olick (2005 und 2016). Für historische Studien, die seine Behauptungen zur deutschen Zurückweisung der Kollektivschuld stützen, vgl. Fri (2002), Moeller (2001), Wiesen (2001), Herf (1997) und Merrit (1995).

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zu einer höchst eigenartigen Strategie der Verleugnung, der Verheimlichung, der offenen Lügen und des unangebrachten Stolzes bezüglich der eigenen Vergangenheit und Gegenwart. Das daraus resultierende Gefühl der Empörung über das Unrecht, das man erlitten habe, führte später dazu, dass man eine Vielzahl von Personen aus dem In- und Ausland als die wahren Schuldigen für die Kriegsniederlage identifizierte und die Nachkriegsexistenz mit dem Gefühl des eigenen Märtyrertums als vermeintlicher Paria der so genannten zivilisierten Welt verwechselte. Viele Jahre lang waren die prominentesten unter diesen vermeintlichen Schuldigen Henry Morgenthau und Robert Vansittart, Männer, deren Widerstand gegen die Beschwichtigung Deutschlands während des Krieges, ihre Nachkriegspläne für einen »sanften Frieden« und ihre Unterstützung der Entmilitarisierung und Pastoralisierung des besiegten Deutschlands während des Krieges mobilisiert worden war, um Angst zu schüren, um Solidarität unter der deutschen Bevölkerung zu befördern und ihr ein Gefühl für die Rachsucht der alliierten Mächte zu vermitteln, auch wenn eine solche Politik nie umgesetzt und bald von der Überzeugung der Alliierten verdrängt wurde, dass eine Strafpolitik gegenüber Deutschland vermieden werden sollte, um nicht den Unmut der Deutschen zu wecken (vgl. Olick 2005: 84). Nichtsdestotrotz sollten beide Männer noch jahrzehntelang als bequeme Sündenböcke dienen: Von den Nazis wurden Morgenthaus Pläne benutzt, um die deutsche Aggression gegen den Mann zu rechtfertigen, den Goebbels den »Jüdischen Racheengel« (ebd.: 29) nannte, während der amerikanische Kriegsminister Henry L. Stimson Morgenthaus Pläne als »vor Rache wild gewordene[n] Semitismus« (ebd.: 32) bezeichnete, um die von ihm bevorzugten Lösungen zu rechtfertigen, die bald zur Politik der Alliierten werden sollten. In jedem Fall wurde das uralte christliche Vorurteil gegen die so genannte »jüdische Rachsucht« genutzt und verfestigt, um die nationalsozialistische Aggression, die westdeutsche Empörung und die amerikanische Vernunft gleichermaßen zu legitimieren. Gleichzeitig hatte jedoch die Verbreitung solcher Mythen immer schändlichere Auswirkungen, als die zuvor zu zweifelhaften strategischen und propagandistischen Zwecken angewandten Strategien die tatsächliche Lage so sehr zu verfälschen begannen, dass die Nachkriegsdeutschen sich selbst als Opfer eben jener Politik bezeichneten, die sie kurz zuvor in die Tat umgesetzt hatten. So beklagte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer im Juli 1948 die seiner Meinung nach unzulässige und unangemessene Fokussierung auf deutsche Verbrechen in der Nachkriegszeit und behauptete, der Morgenthau-Plan stellte »ein Vergehen gegen die Menschheit dar, das sich dem nationalsozialistischen Verbrechen mindestens würdig an die Seite stellt« (Adenauer in Schwarz 1971: 119). Daraufhin hörte man die versammelte Menge zustimmend »sehr richtig!« rufen (ebd.). Da aber der Wohlstand und ein geeintes Europa mit Deutschland im Zentrum schnell als wichtiger für die Nachkriegsanstrengungen unter amerikanischer Führung angesehen wurden, kamen solche Pläne nie zustande. Und so musste das Vergessen zur Bedingung und zum Ziel werden, um diese Nachkriegsordnung zu Ad rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  Alexijewitsch  ·  a

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legitimieren, in Deutschland und anderswo. Und so wurden die Rollen von Täter und Opfer, Aggressor und Verteidiger mit wenig bis gar keiner Treue zu den grundlegendsten historischen Fakten der Vergangenheit und Gegenwart vertauscht. Aus deutscher Sicht würde die Geschichte der eigenen Opferrolle die Identifizierung von Aggressoren, die für das deutsche Leid verantwortlich gemacht werden, sowie eine Reihe von Klagen erfordern, die sich durch die gesamte Nachkriegszeit ziehen, in der Améry schreibt. Demnach sollen die Besatzungsbehörden besonders rachsüchtig gewesen sein, eine internationale Gemeinschaft, die auf Rache sann und sich irrte, wann immer sie auch nur den Hauch von Misstrauen hinsichtlich der vergangenen Verbrechen und der fortdauernden Verantwortung Deutschlands zu wecken schien. In dieser Perspektive waren die Sowjets die wahre Quelle der Verbrechen des 20. Jahrhunderts, während Hitler und eine begrenzte Schar von Verführern um ihn herum, wie sie jahrzehntelang genannt wurden, oft als die alleinigen Täter von Verbrechen bezeichnet wurden, an denen Deutschland und das deutsche Volk wenig oder gar nicht beteiligt gewesen sein sollten. In der Tat erscheinen die Nachkriegsjahrzehnte in diesem Sinne als eine wahre Litanei von Irreführungen, die von Deutschlands politischen Führern propagiert wurden. Wilhelm Röpke etwa, einer der zentralen Architekten des so genannten »Deutschen Wirtschaftswunders«, behauptete 1945: »Die Deutschen sind die ersten Opfer der Barbareninvasion [des Nationalsozialismus]« gewesen (Röpke 1945: 30). Auch mehr als drei Jahrzehnte später sollte sich an der Geschichte leider nichts ändern. 1977 sah sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bei einem Besuch in Auschwitz veranlasst, seine polnischen Zuhörer daran zu erinnern, dass, wie er sagte, »die ersten Opfer Hitlers Deutsche waren und daß bis zum Ende Hitlers in immer größerer Zahl auch Deutsche die Opfer seiner Diktatur geworden sind« (Schmidt 1978: 33). Diese »Grammatik der Entschuldigung«, wie Olick sie nennt (ebd.: 128), war lange Zeit die Lingua franca des deutschen Nachkriegsdiskurses und diente jeweils dazu, die tatsächliche Bilanz deutscher Verantwortung zu minimieren, zu verschleiern oder zu leugnen. Und obwohl es vielleicht einfache, eigennützige und sogar heilsame Erklärungen dafür gibt, warum Deutschlands Nachkriegsführer eine solche Sprache verwendet haben könnten, verrät ihre Beständigkeit einen größeren Konsens zwischen Deutschlands öffentlichen Persönlichkeiten und seinem Volk, deren Ziel der universellen Entlastung sich als dermaßen erfolgreich erwies, dass Amérys spätere Bemerkungen dazu aus heutiger Sicht kaum zu glauben sind.6 Und doch bestätigen die stenografischen Aufzeichnungen Amérys Darstellung der langjährigen Praxis der Selbsterneuerung durch Selbstentlastung im Nachkriegsdeutschland mehr als deutlich. Nehmen wir zum Beispiel Adenauers Rede vom September 1951  Gemäß Herbert Blankenhorn, dem langzeitigen Berater Adenauers, zum Beispiel: »Dr. Adenauer hat nichts über das Thema der Juden gesagt, weil er die Deutschen in ihrer Gesamtheit für die Sache der Demokratie gewinnen wollte. Wenn Adenauer 1949 gesagt hätte, was er in der Vergangenheit getan hätte, hätten sich die Deutschen gegen ihn gestellt« (Stern 1991: 309). 6

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über seinen Plan, Reparationszahlungen an Israel zu leisten. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag erkannte Adenauer die nationalsozialistischen Gräueltaten an und behauptete gleichzeitig, dass diese Gräueltaten nicht vom deutschen Volk, nicht im Namen des deutschen Volkes, wie es tatsächlich der Fall war, sondern, wie er sagte, im »Missbrauch des deutschen Namens« (Adenauer 1951: 6698) begangen worden seien  – und weiter, dass »[d]as deutsche Volk in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und sich an ihnen nicht beteiligt hat« (ebd.). Mehr als ein Jahrzehnt später, und diesmal im Gefolge eines erneuten Aufflammens von antisemitischem Vandalismus in ganz Deutschland, setzte Adenauer in einer Rede vom Januar 1960 diese Linie der Verheimlichung und Verleugnung fort, gegenüber »[u]nseren Gegnern« und »Zweiflern im Ausland«, wie er die internationale Gemeinschaft bezeichnete, behauptete er trotz aller gegenteiligen Beweise in der Vergangenheit und Gegenwart, dass der Antisemitismus »ohne politische Grundlagen« im deutschen Volk sei, dass »diese Gedanken und Tendenzen bei ihm keinen Boden haben«, und dem Nationalsozialismus habe »der größere Teil des deutschen Volkes in den Zeiten des Nationalsozialismus nur unter dem harten Zwang der Diktatur gedient« (Adenauer 1960: 89). Dass solche Behauptungen von den Tatsachen eindeutig widerlegt wurden, war kein Hindernis für ihre Wiederholung bei jedem nachfolgenden Regierungswechsel in Deutschland, überhaupt kein Hindernis für die rasche Heiligsprechung der von Deutschland bevorzugten Version der europäischen Geschichte. Denn egal, wer als zeitweiliges Sprachrohr dieser Orthodoxie herhalten musste, die Worte waren immer dieselben: »Nein, das deutsche Volk hat sich nicht zum Krieg entschlossen«, sagte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier 1959, sondern »[e]s wurde übertölpelt, verführt und mit der blanken Gewalt in den Krieg getrieben« (Gerstenmaier 1959: 4). Die Gräueltaten des Nationalsozialismus seien nur »Hitler und seinen Getreuen« zuzuschreiben, sagte Bundespräsident Heinrich Lübke 1965 anlässlich des 20. Jahrestages der Befreiung von Bergen-Belsen, Gräueltaten, die »weder im Namen noch mit der Zustimmung der Deutschen« begangen worden seien (Lübke 1965: 4). Und, wie Lübke weiter argumentierte, waren die Soldaten des Nationalsozialismus selbst »betrogen« worden, weil sie nichts anderes taten, als »was sie als ihre Pflicht betrachteten«, und »nichts gemein mit den Verbrechen« des Regimes hatten (ebd.: 7). In dieser Umschreibung der Geschichte könnte man sogar sagen, dass, wie Lübke sagte, »die Zahl der Deutschen, die inhaftiert oder hingerichtet wurden, bei weitem die ihrer Henker übersteigt« (ebd.: 8). Angesichts einer solchen Rhetorik ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Strategien des Vergessens auch in der übrigen deutschen Gesellschaft wiederfinden ließen. Sehr schnell wurde die Aufgabe, Verantwortung für begangene Verbrechen zu übernehmen, weniger wichtig, als sich als kooperativ mit dem neuen Regime zu erweisen (vgl. Olick 2005: 132). Entnazifizierungsbemühungen verwandelten sich schnell in Gelegenheiten für ihr Gegenteil - das heißt, in Gelegenheiten zur »Entfernung des Nazi-Stigmas vom Betroffenen« (ebd.: 126) - und Nachkriegs-MeiAd rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  Alexijewitsch  ·  a

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nungsumfragen spiegelten regelmäßig die Anziehungskraft solcher gesellschaftlich sanktionierten Rhetorik und Politik des Vergessens wider, die sie über die Deutschen ausübten. So hielten 1946 noch 40 % der zeitgenössischen Deutschen den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die leider nur schlecht ausgeführt worden war; zwei Jahre später waren immer mehr Menschen (55 %) derselben Meinung (ebd.: 130). Mehr als ein Jahrzehnt später, während des Prozesses gegen Adolf Eichmann im Jahr 1961, behaupteten immer noch die meisten Deutschen (58 %), keine Schuld an der versuchten Vernichtung des jüdischen Volkes zu empfinden (vgl. Olick 2016: 199). Auch wenn solche Zahlen heute alarmierend erscheinen mögen, waren sie in einer Zeit, in der die Deutschen glaubten, dass jede Schuld, die sie einmal auf sich geladen hatten, durch die Niederlage, die Besatzung und die nachfolgenden Prozesse bereits gesühnt worden war, kaum überraschend (vgl. Olick 2005: 114). In der Tat hatten ihre eigenen politischen Führungsfiguren immer wieder selbstgefällig ihre eigene hart erarbeitete Katharsis verkündet, indem sie darauf beharrten, dass die viel gepriesene Sprache der Stunde Null, des Schlussstrichs, des Wirtschaftswunders und des Modells Deutschland nicht nur äußerst ernst zu nehmen sei, sondern dass der Fortschritt der Nation in der Nachkriegszeit, wie sie es nannten, sie tatsächlich von jeder nachhaltigen oder bedeutenden Verantwortung für ihre Verbrechen befreit habe. »Wir Deutschen«, sagte Adenauer im Juli 1948 mit charakteristischem Trotz, »dürfen nicht für immer im Bußgewand wandeln, weil es in Deutschland begonnen hat« (zit. n. ebd.: 261). Aber da internationale Zweifel immer dann wiederaufkamen, wenn die Vergangenheit sich inmitten eines ansonsten rehabilitierten Deutschlands zu behaupten schien, mussten die nationalen Politiker Strategien entwickeln, diesem Misstrauen zu begegnen, die Befreiung von jedem weiteren Verdacht einfordern und darauf bestehen, dass die deutsche Bevölkerung nicht in das verwickelt werden dürfe, was seine Nation und sein Volk vor kurzem getan hätten. So betonte Adenauer in seiner Regierungserklärung nach den Wahlen von 1953, dass das jüngste Wahlergebnis endgültig »die in gewissen Kreisen vertretene Auffassung«, wie er sagte, »widerlegt« habe, »Deutschland neige zu extremen politischen Anschauungen« (Adenauer 1973a: 303f.), und gab seiner sehnlichen Hoffnung Ausdruck, dass, wie er sagte, »das Bild eines Wiederentstehens des Nationalsozialismus, eines aggressiven Deutschlands nun nicht mehr in der öffentlichen Meinung der anderen Staaten erscheint« (ebd.: 34). In ähnlicher Weise bemerkte Adenauer während des Eichmann-Prozesses 1961, dass er sich nicht so sehr um den Ablauf des Prozesses und auch nicht um das Urteil gegen Eichmann selbst sorge, sondern, wie er sagte, um »die Auswirkungen, die es haben wird, und das Urteil über die Deutschen im Allgemeinen« (Deutschkron 1983: 170). In solchen Fällen ging es in erster Linie darum, klarzustellen, dass Deutschland und die Deutschen nicht für den Nationalsozialismus verantwortlich waren und dass das Projekt des deutschen Wohlstands und der Normalisierung gefährdet war, wenn die internationale Meinung von dieser entlastenden Lüge abzuweichen Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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schien. Daraus folgte, dass die deutsche Führungsriege ein konkurrierendes Gefühl der eigenen Opferrolle zu entwickeln begann und sie die vermeintliche Opferrolle Deutschlands immer wieder mit der der Juden selbst gleichsetzte. Am selben Tag, an dem Adenauer den Eichmann-Prozess kommentierte, belehrte er seine Zuhörer beispielsweise mit folgenden Worten: »Man darf nicht vergessen, dass hier in Deutschland nationalsozialistische Deutsche die gleichen Verbrechen an den Deutschen begangen haben wie Eichmann an den Juden« (ebd.). Unzutreffend, böswillig und für viele heute unerhört - aber in der Nachkriegszeit keineswegs ungewöhnlich. Vielmehr war diese Weise der »Projektion von Deutschen in den Status der Juden […] weit verbreitet«, schreibt Olick, »sogar die Norm« (Olick 2005: 176). Denn zusätzlich zu der ständigen Gleichsetzung jeder Rede von der deutsche Kollektivschuld und den einst von den Nazis selbst eingesetzten Mitteln (vgl. Olick 2016: 154) sowie der Art und Weise, in der das Leiden der deutschen Vertriebenen vielen Durchschnittsdeutschen dem Leiden, »das die Deutschen anderen zugefügt hatten«, wie Olick sagt, »gleichwertig erschien und damit ausgelöscht wurde«, identifizierten sich die Deutschen auch immer wieder selbst als die neuen Juden, da sie in neuster Zeit zu einem Paria-Volk geworden waren (ebd.: 120). In der Tat trugen viele der berühmtesten politischen und kulturellen Führungsfiguren Deutschlands, darunter Thomas Mann, Karl Jaspers, Carl Zuckmayer und Wilhelm Röpke, selbst zu einem solchen Missverständnis bei. Und während in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und danach häufig die vagen rituellen Verbeugungen vor der Erinnerung beschworen wurden, war es für das deutsche Volk weitaus wichtiger, eine Vergangenheit hinter sich zu lassen, an die es sich nicht mehr erinnern wollte, geschweige denn, sie als seine eigene anzunehmen und in sich zu integrieren, um sie schließlich ihrerseits zu negieren - so, wie es Amérys eigene Überlegungen erforderten. Stattdessen war es an der Zeit, wie Adenauer selbst 1949 sagte, »Vergangenes vergangen sein zu lassen« (Adenauer 1973b: 21). Diese Linie wurde später von den nachfolgenden deutschen Bundeskanzlern weiterverfolgt, wobei seine zunehmende Dringlichkeit und Unverfrorenheit durch eine angeblich größere internationale Abkehr vom Krieg und seinen Folgen gerechtfertigt war. »Nicht nur die Bundesrepublik, sondern die ganze Welt ist im Begriff, aus der Nachkriegszeit herauszutreten«, sagte Bundeskanzler Ludwig Erhard in seiner ersten Regierungserklärung von 1963 (Erhard 1973a: 118). Drei Jahre später behauptete Erhard weiter von den zentralen Bezugspunkten der Bundesregierung: »Sie liegen nicht hinter uns, sondern vor uns« – und verkündete triumphierend: »Die Nachkriegszeit ist zu Ende!« (Erhard 1973b: 161.) Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, bedeutete jedoch nicht die Verordnung totaler Amnesie. Neben den ungewöhnlich eindringlichen Äußerungen anderer deutscher Politiker und Kulturschaffender wurde parallel dazu eine Erinnerungskultur mit einem reichen Vorrat an quasi-religiöser, metaphysischer und ritueller Sprache eingeführt. In der Tat wurde das Bewusstsein für solche inkonsequenten Formen von Schuld noch lange danach für seine rettende Kraft gepriesen und von vielen als Ad rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  Alexijewitsch  ·  a

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die eigentliche Bedingung für die deutsche Erlösung, Erneuerung und Läuterung angesehen. Da aber niemals eine tatsächliche Schuld oder konkrete Verantwortung impliziert wurde, konnte diese Reue-Rhetorik sogar in eine Quelle des Stolzes verwandelt werden, indem die so genannten positiven Elemente des Paria-Daseins für das deutsche Volk zu einer Chance wurden, die »Aufgabe der Erneuerung des menschlichen Daseins von seinem Ursprung her« zu übernehmen, eine Aufgabe, die nach Karl Jaspers allen Menschen zu allen Zeiten gegeben sei, die aber für die Deutschen, die nun »dem Nichts gegenüberstehen«, umso entscheidender werden könne (Olick 2016: 288). Diese so genannte »Verantwortung vor der Geschichte« würde sich als Trope durch den deutschen Diskurs der Nachkriegszeit ziehen und für die Bevölkerung umso verträglicher werden, schreibt Olick, als sie »nichts anderes als die rituelle Anerkennung« verlange (ebd.: 366). Die Vorteile, die sich aus der Verwendung einer solchen Sprache ergeben, würden es den deutschen Führern ermöglichen, die Vergangenheit als ein Problem darzustellen, das längst befriedet sei und keine weiteren Hassgefühle oder Racheaufrufe mehr verdiene (vgl. ebd.: 121) - ein Verbot, das sich natürlich nicht nur an die Deutschen richtete, sondern vor allem an die Opfer, die wie Améry nach einer »neuen Geschichtsphilosophie« riefen, die Begriffe wie »Unversöhnlichkeit« und »Rache« neu bewerten und letztlich legitimieren würde (Améry 1971: 232). Darüber hinaus wurde der Gebrauch dieser Art von Versöhnungssprache und der damit einhergehenden rituellen Erinnerungsakte auch deshalb gefördert, weil man hoffte, dass ihr Anschein von Reue es Deutschland erleichtern würde, sein verlorenes Ansehen wiederzugewinnen (Olick 2016: 144) und wieder ein Gefühl nationalen Vertrauens zu genießen, ohne die unerwünschte Angst vor Vorwürfen (ebd.: 335). In solchen Fällen vertraute man ganz auf die so sprichwörtliche Heilkraft der Zeit - und machte es unmöglich, in die Zeit einzugreifen oder jene Umkehrung der Geschichte herbeizuführen, die Améry selbst zu bewirken hoffte. Was geschehen ist, ist geschehen, sagt derjenige, der die endgültige Unumkehrbarkeit der Zeit sicherstellen und jeden Eingriff in ihren natürlichen Verlauf unvernünftig machen will; so, wie es auch die deutschen Führungsfiguren der Nachkriegszeit wiederholen würden. »Wir können nicht ungeschehen machen, was geschehen ist«, waren die ersten Worte von Willy Brandt bei seiner Ankunft in Israel im Juni 1973 (zitiert nach ebd.: 272). Ebenso hartnäckig wie die Kanzler jahrzehntelang vor ihm würde Brandt darauf bestehen, dass die »Nazis den Namen Deutschlands missbraucht haben«, und er versuchte nun, wie er sagte, »die Forderungen der Gegenwart gegen die Macht der Vergangenheit zu stellen« (ebd.: 272). Auf diese Weise - und in einer Sprache, die sein Nachfolger Helmut Schmidt vier Jahre später wiederholen sollte (vgl. ebd.: 395) - solle es nun möglich werden, sagte er seinen jüdischen Zuhörern, »die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen«, aber nur so lange, wie man sich nicht »zu Gefangenen des Gestern und des Vorgestern« mache (ebd.: 272). Die Folgerung war damals so klar wie in jeder einzelnen deutschen Regierung seit der Niederlage der Nazis: Im Streben nach Gerechtigkeit tut man besser daran, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lasArendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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sen und stattdessen auf die Gewissheit zu vertrauen, dass die Zeit kommen wird, alle Wunden zu heilen. Mit anderen Worten, gemäß Améry, der vollkommenste Ausdruck der Unmoral. Denn mit welchem Recht sollte die indifferente Abfolge des natürlichen Laufs der Zeit zur Quelle der Gerechtigkeit werden? Und auf der Grundlage welcher schändlichen Lizenz sollten die Täter zu den Schiedsrichtern der Wahrheit der Geschichte werden? Die Ergebnisse dieser Unmoral sind im öffentlichen Diskurs der deutschen Nachkriegszeit allgegenwärtig, und ihr wirkungsvolles Urteil ist inzwischen zur Orthodoxie der Nachkriegsgeschichte geworden, die sich stolz über das nicht versöhnte Leid ihrer Opfer hinwegsetzt. »Nur ganz verstockter, moralisch verdammenswerter und geschichtlich schon abgeurteilter Haß klammerte sich an eine Vergangenheit, die offensichtlich nichts anderes war als ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte«, schreibt Améry, das Urteil seiner Zeit nachahmend, »und an der das deutsche Volk in seiner Breite und Tiefe keinen Anteil hatte« (Améry 1977: 109). Und so wurde Améry gleich zweimal verurteilt, zunächst von einer Welt, der er sich einst fälschlicherweise zugehörig gefühlt hatte, und dann von einer Welt, der er seine eigene Erfahrung als Bedingung dafür opfern sollte, mitspielen zu dürfen. Durch Amérys Analyse seiner eigenen Ressentiments war er jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass diese Ressentiments eine gerechte Ablehnung der Realität beinhalteten, sowie die Fähigkeit, an der Möglichkeit der noch ausstehenden deutschen Revolution festzuhalten. Und das bedeutete, dass er den üblichen Katechismus des Vergebens und Vergessens, entstanden unter dem Druck der in seinem eigenen Körper sedimentierten Geschichte, nicht als Notwendigkeit für die endgültige Wiederherstellung der Gerechtigkeit akzeptieren würde. Denn wenn es stimmt, dass sich das Opfer jener Jahre noch jahrzehntelang an das Kreuz seiner ruinierten Vergangenheit genagelt finden kann, dann wäre die einzig legitime Form der Gerechtigkeit eine, die eine »Aufhebung der Zeit« fordert, durch die eines Tages das »Festnageln des Untäters auf seine Tat« denkbar wird (ebd.: 116). »Mit ihr«, schreibt Améry, »mag er bei vollzogener moralischer Zeitumkehrung als Mitmensch dem Opfer zugesellt sein« (ebd.). In einem Akt gegen die Geschichte, gegen die Wirklichkeit, ja sogar gegen die Zeit selbst - aber vielleicht zum ersten Mal als angemessene Antwort auf die zahllosen »Bücher des Schmerzes«, die Améry und andere so lange zu schreiben gezwungen waren (Heidelberger-Leonard 2010: 168). Aus dem Englischen von Ella-Mae Paul und Eckardt Lindner 

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Liter atur Deutscher Bundestag – 1 5. Sit ung. Bonn, Donnerstag, den 27. September 1951, ( ) Bulletin des Presse- und nformationsamts der Bundesregierung 11 , Regierungserklärungen 19 9–1973, Regierungserklärungen 19 9–1973. Topoi 31 Jean Am ry. Beyond the ind s Limits eburt der egenwart estalten und estaltungen der westlichen Kriegsende, ber das Altern. Revolte und Resignation idersprüche and an sich legen. Diskurs über den Freitod, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines berwältigten, ie ich an ng, Jean Am ry. erke. Band 2. Jean Am ry. erke. Band 7,

ivilisation seit

New erman riti ue The European Legacy 12, istory,

istory and Theory 7 emory, and State-Sponsored Violence Time and Justice Dokumente

der So ialistischen Einheitspartei. Band Journal of uman Rights 5 Resentment s Virtue. Jean Am ry and the Refusal to Forgive srael und die Deutschen Das schwierige Verhältnis, Regierungserklärungen 19 9–1973, Regierungserklärungen 19 9–1973, New erman riti ue 1 0 Re-thinking Ressentiment

n the Limits of riticism

and the Limits of its ritics –

istory ompass – Current Anthropology



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Ryan Crawford Adenauer s ermany and the Na i Past The Politics of Amnesty and ntegration nion in Deutschland. nformationsdienst der hristlich-Demokratischen nion. The Philosopher of Auschwit . Jean Am ry and Living with the olocaust Divided

emories The Na i Past in the Two ermanies Jean Am ry. Beyond the

ind s Limits

– Res

Anthropology and aesthetics



– ritical n uiry

– Forgiveness

– Die Schatten beschw ren uns. Bergen-Belsen 19 5. Rede an die Deutschen

Democracy mposed

-

.S. ccupation Policy and the erman Public, 19 5−19 9 -

Law Literature – ar Stories The Search for a sable Past in the Federal Republic of ermany

-

n the ouse of the angman The Agonies of erman Defeat, 19 3–19 9, The Sins of the Fathers ermany, emory, ethod The Victim as ero deologies of Peace and National dentity in Postwar Japan Die Deutsche Frage Europa Archiv Dokumente 33 Adenauer, Der Staatsmann 1952–19 7. m Anfang war Auschwit . Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg. Philosophy Today Journal of

uman

Rights Re ections on Jean Am ry. Torture, Resentment and omelessness as the ind s Limits

the

est erman ndustry and the hallenge of the Na i Past Reconciling ommunity and Subjective Life. Trauma Testimony as Political Theori ing in ork of Jean Am ry and mre K rtes

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GÜ NTH ER AN DERS Die Absolutheit der Atombombe Folgerungen aus der Diagnose von Günther Anders ernHard H

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Anders und Samuel Becketts En attendant Godot

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Hatte laut Adorno Becketts Fin de partie die französische Existenzphilosophie ad absurdum geführt, so läuft Anders’ Deutung von En attendant Godot darauf hinaus, dass die beiden Landstreicher nihilismusunfähig sind: »Vielmehr sind sie, da sie letztlich ihre Haltung nicht verlieren, sie zu verlieren nicht imstande sind, naive und hoffnungslos optimistische Ideologen. Was Beckett vorführt, ist also nicht Nihilismus, sondern die Unfähigkeit des Menschen, selbst in der unüberbietbar hoffnungslosen Situation Nihilist zu sein.«1 Nihilismus bildet einen Ausweichbegriff, ähnlich wie in der Antike Skeptizismus. Skeptizismus verzichtete auf Wahrheit als Übereinstimmung von Satzstrukturen mit Wirklichkeitsstrukturen und führte auf diese Weise zur Seelenruhe, wie bei jenem berühmten Maler Apelles. Diesem gelang es nicht, den Schaum eines Pferdes zu malen. Am Ende schleuderte er wütend den Schwamm auf das Gemälde: Und siehe, dieser Abdruck des Schwammes bildete den Pferdeschaum (Sextus Empiricus, Pyrroneion Hypotyposeon: 1. 12). Doch dem Nihilisten fehlt dieses Bild. Er geht davon aus, dass moralische Regeln nicht begründet werden können. Daraus folgt: Es fehlt jede moralische Bindung. Das aber wird von Kallikles gegen Sokrates ins Feld geführt. Die eigene Macht bestimmt, was zu gelten habe, sofern sie anderen aufgenötigt werden könne (Vgl. Platon: Gorgias 452 d-e.). Im 20. Jahrhundert hat der Nihilismus zwei Ausprägungen, eine parodistische bei Ernest Hemingway und eine heroische bei Albert Camus. Bei Hemingway lesen wir: »he knew it all was nada y pues nada y pues nada. Our nada who art in nada, nada be thy name thy kingdom nada thy will be nada at it is in nada. Give us this nada our daily nada and nada us our nada as we nada our nadas und nada us not into nada but deliver us from nada. Pues nada. Hail nothing full of nothing« (Hemingway o. J.: 123). Becketts späterer Clownsstatus der Landstreicher wird hier bereits antizipiert. Im Unterschied zu Hemingway findet Albert Camus’ Roman L’étranger mit der 1

 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956/1980, 216 [=0AM].

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Bernhard H. F. Taureck

Metapher »la tendre indifférence du monde« (die zärtliche Indifferenz der Welt der anderen) ihren Abschluss. Die Welt der moralischen Urteile der anderen wird stets unentscheidbar sein. Das aber belastet den Einzelakteur nicht, sondern bestätigt ihn in seinem Widerstand. War Skeptizismus diskursauslösend, weil er Wahrheit als Unfassbares voraussetzte, so erweist sich Nihilismus als Starkschwächung moralischer Urteile, die ebenso eine Schwachstärkung voraussetzt. Günther Anders will mit seiner Bemerkung über die beiden Landstreicher in Becketts En attendant Godot darauf hinaus, dass (1) beide noch nicht nihilismusfähig sind, sondern noch auf eine Parusie warten. Eine Parusie, die verstanden wird als Auftreten eines Heiligen in der Wirrnis der Raumzeit. (2) Dass die Menschen trotz der Atombombe noch apokalypseblind sind und daher das Unheil nicht im Inneren abbilden. Anders zeigt hier, dass er das akademische Philosophieren an dem misst, was alle angeht und kaum jemanden interessiert. Doch es fragt sich, ob Becketts Drama noch weiter reicht als seine Deutung durch Anders. Das Stück setzt bekanntlich mit einer Anspielung auf die Eschatologie ein. Es wird Bezug genommen auf den Kreuzestod und die Erlösung eines anderen ebenfalls Verurteilten. Die Landstreicher warten, bis Godot erscheinen wird.2 Könnte es daher nicht eine Nihilismusart geben jenseits des parodistischen Hemingway- und des heroischen Individualnihilismus von Camus? Ohne diese Frage erscheint En attendant Godot nicht verständlich, und mit ihr weist er über sie hinaus. Beckett könnte Angaben des Apostolischen Glaubensbekenntnisses mit der Parusieerwartung der Landstreicher verbinden: Jesus war gekreuzigt worden, fuhr zur Hölle hinab und stieg zum Himmel auf. Danach weicht der Text in etwas aus, was noch aussteht: »Inde venturus est iudicare vivos et mortuos.« Von dorther wird er kommen, die Lebenden und die Toten zu richten. Hier erscheint jene Form des Rückblicks auf die Zukunft als jenes Futur II, das uns laut Anders die Existenz der Atombombe geraubt hat (AM: 254). Ginge es lediglich um das Futur II, so würde Beckett apologetische Apologetik bieten. In Wirklichkeit schließt Beckett sie aus. Ein kurzer Vergleich mit Fin de partie zeigt dies: Fin de partie erfolgt als Fortsetzung von En attendant Godot. Alles wird zum postkatastrophischen Geschehen. Die Prämissen von En attendant Godot ergeben – wie noch zu zeigen sein wird – einen circulus nihilisticus aus der Me-phynai-Bestätigung und dem Plusquamperfekt eines Voranschreitens in ein Weltgericht. In Fin de partie entfällt das Überleben als Voranschreiten zum Gericht mit der Folge, dass alles vom Me-phynai-Prozess bestimmt wird. Das Geschehen war zu Beginn gescheitert. Es gibt keine Natur mehr, in die hinaus Hamm und Clov fliehen und aus der sie Kraft schöpfen könnten wie einst Faust. Das Ende ist das Schweigen als tacere, als Aufhören des Redens. »Time was never and time is over« (116), präzisiert Beckett auf

 S. Beckett, Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot, Frankfurt/M. 1971, 34–39 [=0EaG]. 2

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Englisch.3 Die Zeit gibt ihr Sein an den Raum ab. Clov werde, so Hamm, in der Unendlichkeit sein, den alle Toten aller Zeit nicht auszufüllen vermöchten (54). Auch der wahnsinnige Maler vermochte die natürliche Schönheit nicht zu sehen, sondern lediglich Asche (64). Daher ist Hamm das Universum auch scheißegal (66). Das Wort »Hölle« erscheint nur einmal, aber als Vervielfältigung: Jenseits der Wand befindet sich eine andere Hölle (40). Man ist noch nicht in der Hölle der gegenseitigen Schmerzufügung wie in Huis clos von Sartre, man geht aber dorthin. Vielleicht würden rationale, andere Wesen urteilen, man bedeute etwas (48). Der Lebenssinn ist jedoch radikal dahin. Besagte Luckys Denken noch ein »unfinished«, so betont Hamm: »we are finished«, mit uns ist es aus (72). Statt Rettung gilt: Das Ende sei der Anfang (96). Hamm benutzt ausdrücklich das Futur II als Rückblick auf ihr Ende (98). Hamm betont zweimal: Ich bin niemals dagewesen (»Je n’ai jamais été là.«/»I was never there.«). Die sozialen Bezüge laufen auf Gewalt hinaus: Der Quasi-Sohn Hamms wird zu dessen Quasi-Sklaven, der Hamm töten möchte. Die beinamputierten Eltern sollen in ihren Mülltonnen sterben. Und Clov berichtet, dass Hamm einst Mutter Pegg, die um etwas Öl für ihre Kerze bat, keins erhielt und an der Dunkelheit starb (104). Es entfällt der Sklavenhalter Pozzo. Hamm wird Sklavenhalter Clovs und seiner Eltern und verantwortet den Tod der Mutter Pegg. Beckett stellt die Katastrophe als solche nicht dar, sondern ihre Auswirkungen auf den kommunikativen Binnenraum der Betroffenen. Anders 2006 Cormac McCarthys The Road: Ein lungenkranker Arzt fährt mit seinem Motorrad nach einer namenlosen Katastrophe Richtung Küste. Der Himmel ist und bleibt grau. Der Mann will seinen Sohn retten. Auf der Suche nach Nahrung stoßen sie immer wieder auf Kannibalen als Folgen einer post-republikanischen gewalttätigen Anarchie. Der bald sterbende Vater verkündigt, ohne dass er relativiert wird, mit seiner Rettungsmission seines Sohnes eine religiöse Sendung des Heiligen. Der Vater bemerkt zu seinem Sohn: »My job is to take care of you. I was appointed to do that by God.« Als beide ein Lager mit reichlicher Nahrung fanden, richtet er sich an die verstorbenen Güterbesitzer in Form eines Gebetes: »Dear people, thank you for all the food and stuff. We know that you saved it for yourself and if you were here we wouldn’t eat it no matter how hungry we were and we we’re sorry that you didn’t get to eat it and we hope that you’re safe in heaven with God« (McCarthy 2006: 77, 146; von mir hervorgehoben. B.T.). Beckett dagegen misst einen Deutungsraum aus, der sich als nihilismuskompatibel erweisen kann. Dazu benötigt er vor allem zwei Elemente: das von dem Sklavenhalter Pozzo erzwungene Denken des intellektuellen Sklaven Lucky und später jene andere Option, nicht geboren worden zu sein, wie sie in der Antike

 Alle Zitate beziehen sich auf: S. Beckett, Endspiel. Fin de partie. End game, Frankfurt/M. 1974. 3

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Theognis und später Sophokles oder Euripides vertraten.4 Auf diese Weise steht der Parusie-Erwartung eines Futur II eine Vorvergangenheit des Plusquamperfekts entgegen: Rückwärts weist das Streben, rückwärts in einen Zustand vor dem Eintritt in diese Welt. Pozzo, der Eigner des Bodens, auf dem sich die beiden Landstreicher bewegen, verlangt irgendwann als Steigerung seines Auftritts, dass der Sklave Lucky denkt. Doch erzwungenes Denken setzt nicht, wie in Frankreich in der Folge der KojèveAuslegung von Hegels Herr-Knecht-Beziehung vermutet werden könnte, in dieser Richtung ein. Denn der Sklave bei Hegel arbeitet aus der Furcht vor dem Herrn für dessen Bedürfnisse. Doch er reflektiert nicht wie jener philosophische Sklave Epiktet. Gibt es nun ein anderes Paradigma erzwungenen Denkens, unabhängig von Hegel? Es findet sich in der verknechteten Stellung der Philosophie im Mittelalter. Die Theologie beanspruchte eine Herrscherinnenstellung mit der Folge, dass die Philosophie die Funktion einer Magd (ancilla) erhielt, was die Stellung einer Sklavin euphemistisch umschreibt. Die Aufgabe der verknechteten Philosophie bestand vor allem darin, die Existenz einer singulären selbstbezüglichen Gottheit zu beweisen, die welterschaffend tätig ist. In der Antike fehlte jede Form einer funktionalen Versklavung der Philosophie. Beckett war Protestant, er wird aber den dogmatischen irischen Katholizismus in Dublin gekannt haben und sich der Lähmung des Denkens erinnern, die mit der Philosophie als Sklavenarbeit seit dem 11. Jahrhundert verbunden war. Es waren Christen, die in jener Zeit, als Anders die Herrschaft der Bombe über uns diagnostizierte, die Ansicht vertraten, man befürworte als Christ einen Atomkrieg, weil er es sei, der uns der Gottheit endgültig nahebringe. Becketts Denksklave Lucky setzt die alten Fragen metaphysischer Theologie wie folgt fort: Wer oder was ist Gott? Wie sehr ist er zu fürchten? Wie geht die Geschichte der theologisch versklavten Philosophie weiter? Auf alle drei Fragen hat Lucky eine Antwort. Erste Frage: die Existenz der Gottheit: »Auf Grund der sich aus den letzten veröffentlichten Arbeiten von Picon und Wattmann ergebenden Existenz eines persönliches Gottes kwakawakawakwa mit weißem Bart außerhalb von Zeit und Raum, der aus der Höhe seiner göttlichen Athambie göttlichen Aphasie uns gern hat« (EaG: 111). Lucky bestätigt also das Dasein eines persönlichen Gottes (»existence d’un Dieu personnel / existence of a personal God«). Dabei lässt er das Dasein von historischer Forschung abhängen, die von sich aus mit dem Dasein nichts zu tun hat. Außerdem handelt es sich um einen christlichen Gott der Menschenliebe, der aber mit dem weltabgewandten Selbstbezug der metaphysischen Gottheit des Aristoteles nichts zu hat. Die Existenz eines persönlichen Gottes wird also behauptet, obwohl die  Bereits bald nach dem Beginn spielt Estragon auf das »être né«, auf »our being born« an (EaG: 32). Theognis: »Nicht geboren zu sein ist den Erdbewohnern das Beste« (Panton men me phynai epichthonioisin ariston). Zitiert nach: Wirth (1963: 112). Sophokles: »Nie geboren zu sein: / Höheres denkt kein Geist!« (4. Stasimon von Ödipus auf Kolonos, Vers 12750f.). Vgl. Euripides im Fragment von Bellorophontes, in: Euripides (1981: 118−119). 4

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Bezugnahme auf ihn widersprüchlich ausfällt. Mit Brecht oder Sartre lässt sich anmerken: Auch wenn Gott existiert, würde dies an unseren Entscheidungen nichts ändern. Mit Anders ist hinzuzufügen: Auch ein existierender Gott stirbt nicht. Wir Menschen sterben an der Bombe. Zweite Frage: Inwiefern ist die Gottheit zu fürchten? Lucky: Es gibt »ein Feuer, dessen Flammen wenn es auch noch ein wenig dauert und wer kann daran zweifeln endlich alles in die Luft sprengen nämlich die Hölle an den Himmel drängen« (EaG: 111). Das erinnert an den Aufstand des Satans in Miltons Paradise Lost. Mit Anders kann geurteilt werden, dass Gott so furchtbar war, dass er seine eigene Niederlage vorbereitet. Oder mit Jean Calvin: Er beruft, wählt aber nur wenige aus und lässt den Rest verderben. Dritte Frage: Wie geht die Geschichte der theologisch versklavten Philosophie weiter? Lucky: Sie endet »inachevé/unfinished«. Was bedeutet das? Offenbar entsteht hier eine Unentschiedenheit zwischen Abbruch und Fortsetzbarkeit. Die Geschichte unseres Fragens und Denkens ist abgeschlossen, die moralische Schaffenskraft ist erloschen. Oder: Sie wird künftig jenseits ihrer Irrtümer weitergehen? Lucky lehrt uns: Das Weitergehen wird vom Scheitern überholt, und das Scheitern vom Weitergehen. Wenn dies zutrifft, so gibt es einen circulus nihilisticus jenseits des erwähnten parodistischen Nihilismus Hemingways und jenseits des heroischen Nihilismus von Camus. Er mag an den Verfassungskreislauf des Polybios erinnern, der von Alleinherrschaft über Monarchie, Tyrannis, Aristokratie, Oligarchie, Demokratie, Ochlokratie zur Alleinherrschaft zurückläuft. Doch Anders’ Deutung von EaG lässt sich zugleich bestätigen. Die beiden Landstreicher gelangen nicht zu einem Bewusstsein der Unausweichlichkeit als selbstverschuldeter Bombenbedrohung. Ihre Einstellung und ihr Verhalten weist darauf hin, dass sie eine extreme Flucht aus dem circulus nihilisticus suchen, die weder parodistisch noch heroisch ausfällt, sondern clownesk. Beide nämlich versuchen, Luckys Denken mit Gewalt zu beenden. Beide bekennen sich ebenso dazu, dass sie nicht denken wollen (EaG: 155). Die von Anders diagnostizierte Apokalypseblindheit wird von beiden Landstreichern nicht blind, sondern clownesk im Sinn der Marx Brothers praktiziert (vgl. Bair 1994: 493). Die von Anders diagnostizierte Apokalypse-Blindheit der Landstreicher wird nicht blind praktiziert, sondern in komischer Clownerie inszeniert. Was uns über gelernte Desinformation zur Selbstverständlichkeit wurde, das inszenierten die beiden Landstreicher im Bewusstsein der menschlichen Verlorenheit als Clowns. Dass beide keine Clowns sind, sondern sich als solche beständig neu erfinden, wird auch dadurch bewiesen, dass beide neben dem Futur II eines aus dem Himmel zurückgekehrten ermordeten Jesus als Richter über Tote und Lebende über eine ältere Weisheit verfügen, nämlich über die Weisheit einer Vorvergangenheit, eines Plusquamperfekts. Es enthält die Weisheit, dass es nur ein Nutzbringendes für alle Menschen gibt: dass man niemals geboren wurde. Es wurde von Pozzo vorgeschlaArendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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gen und wirkt weiter bei Wladimir (Wladimir ist russisch und bedeutet »Weltherrscher«: Es drückt aus, dass die beiden trotz ihrer Not dem Allgemeinen ausgesetzt sind.) Pozzo findet: »Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht« (EaG: 221). Wladimir setzt dieses Bild produktiv fort: »Rittlings über dem Grabe und eine schwierige Geburt. Aus der Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die Zangen an« (EaG: 225). Mit dem Motiv der Nacht spricht Pozzo das Me phybai, das Nicht-Geborenwordensein, an, einen Zustand, den die Alten (Theognis und Sophokles) als zu Erstrebendes priesen. Das Motiv des Futur II, das sich ausdrückt als Erwartung jener Parusie des Jüngsten Gerichts, auf das die beiden zugehen, stellt sich als Voranschreiten dar. Bei Beckett ergibt sich ein vom Scheitern überholtes Vorangehen und ein vom Vorangehen überholtes Scheitern. Die beiden Protagonisten verkörpern beides, Scheitern und Vorangehen. Als Scheiternde sind sie nihilistischer als sonst die Nihilisten. Als Erwartende gewinnen sie ein Futur II, das sie jedoch unter keinen Umständen tröstet. Dies verhindert das Plusquamperfekt. Hat Anders die Akteure von En attendant Godot als Apokalypseblinde und Nihilismusunfähige passend charakterisiert, oder hat er sie verfehlt? Ich vertrete die Ansicht, er hat sie mit der Mehrheit der Apokalypseblinden verwechselt. Denn die beiden Marx-Brother-Clowns verhalten sich radikaler als die nihilismusunfähige Mehrheit. Beckett zeigt zwei Verzweifelte, deren Futur II dazu dient, vom Plusquamperfekt neutralisiert zu werden. Beide leben ein verzweifeltes Leben der Wechselneutralisierung. Zwar wird kein Bezug auf die Bombe genommen. Doch der Bezug ist latent, als Beckett fünf Jahre später in Fin de partie die Natur als ausgelöscht voraussetzte. Die Bezüge weiten sich. Im Überblick: Anders

Beckett

Folgerungen

Nihilismusunfähigkeit

Umfassender circulus

Kann es ein Denken menschlichen

der Clowns

nihilisticus der Clowns

Unglücks geben, das die Ausweglosigkeit des circulus nihilisticus beschreibt und Bezüge dazu erwägt und durchspielt?

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Die grundlegende Einsicht von Günther Anders

Diese Überlegungen vorausgesetzt, wird der Weg frei zur Würdigung von Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen. Diese Schrift weist zugleich in seinem eigenen Sinne über ihn hinaus, indem sie sich sättigt mit dem dialogisch exponierten circulus nihilisticus von Becketts En attendant Godot. Begonnen sei mit der Anders-Bemerkung, dass das Wissen um die Atombombe »systematisch im Inkognito gehalten wird«: »Wenn es so schwierig ist, über unseren Gegenstand zu sprechen, so also nicht nur deshalb, weil er systematisch im Inkognito gehalten wird: weil die Ohren, Ad rn   ·  AgAmben +  benjAmin  ·  Alexijewitsch  ·  Améry  ·  a

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für die man zu sprechen versucht, im Augenblicke taub werden, in dem man den Gegenstand auch nur erwähnt« (AM: 230). Dies war nach dem Atombombenabwurf über Japan 1945 so und blieb es in der Folgezeit. Daran fällt zweierlei auf, die Erfahrung der atomaren Bedrohungen und zweitens die exklusive Diskussion in Expertenkreisen, die strategische Laien ausschlossen. Obwohl allen die atomaren Gefahren näher liegen als der bedrohliche Klimawandel, wird eine Priorisierung der atomaren Bedrohung auf jeden Fall vermieden. Die Klimabedrohung steht an erster Stelle. Denn die atomare Bedrohung ist konkret, die Klimaänderung noch abstrakt. Sie könnte erst ab 2050 mit Überflutungen, 50°-Bränden, Wüstenausbreitung und der Veränderung der thermohalynen Meerespumpen eintreten. Man spielt auf Zeit, um sich vor den Folgen von climate change abzusichern. Dafür wissen alle, was Atomwaffen bewirken und was die zivile Nutzung explodierender Atomkraftwerke besagt. Tschernobyl, Fukushima, die irreparablen französischen und belgischen Atomkraftwerke und die in der Asse gelagerten Behälter, die nicht gegen Korrosion geschützt sind, sprechen eine eigene Sprache. Doch eine Medieneffizienz lässt diese verschwinden. Wenn alle von einer Klimaänderung reden, dann ist diese auch relevant. Wenn niemand von einer militärischen und zivilen Atomgefahr redet, dann sind diese nicht relevant. Demnach ist nur das riskant, was medial sichtbar ist. Treffend bemerkte der US-amerikanische Pragmatizist Peirce (1976: 160) einmal, dass man sich nicht vor der Gefahr, sondern die Gefahr selbst verberge. Die Gesellschaft hat also beschlossen, das Riskante zu verbergen. Lateinisch ausgedrückt, geht es um ein silere, um ein Verstummen. Es ist von einem tacere unterschieden, von einem Noch-nicht-Sprechen. Das silere soll auch das tacere einschließen. Wer nicht mehr spricht, soll auch kein Sprechen vorbereiten. Als Anders das systemrelevante Beschweigen der zivil-militärischen Radiotoxizität publizierte, war öffentlicher Protest gegen das Atomare soziologisch funktionslos geworden. Anders geht weiter und beschreibt die Voraussetzungen kollektiven Elends, die wir selbst uns schufen: Wir seien die Herren der Apokalypse. Wir seien das Unendliche. Wir seien die Bedrohenden und die Bedrohten. Aus »Alle Menschen sind sterblich.« werde, dass alle tötbar sind. Und es würde niemanden geben, der des Gewesenen gedächte. Niemand würde etwas registrieren (AM: 230–238). Hierher gehört auch die Beobachtung aus Italo Svevos Roman La coscienza di Zeno 1923: Jemand würde die Erde von ihrem Mittelpunkt sprengen. Ohne dass es jemand bemerkte, würde sie in ihren anfänglichen Gaszustand zurückversetzt, ohne Parasiten und ohne Krankheiten (Svevo 1985: 413). Anders war eine einsame Stimme eines Protestes aller gegen die atomare Bedrohung. Zu jener Zeit begann zweierlei, eine nukleare Expertokratie und eine christliche Apokalypsebejahung, die sich heute in fundamentalistischen US-Kreisen fortsetzt. Das Christentum setzt damit seine gnostische Motivation fort: Jesus sei nicht von dieser Welt, die Finsternis nahm das Licht nicht an und eine jenseitige Lichtgottheit machte die Weisheit dieser Welt zu Schrott. Ade also, Erde! Mit dem Atomkrieg Arendt  ·  bl menberg  ·  ci rAn  · 

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auf in das göttliche Lichtreich! Anders kritisiert vor allem die Etablierung einer atomaren Expertokratie. Um es mit dem atomkriegskritischen Film Dr. Strangelove or How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb von Stanley Kubrick zu sagen: Das Militär löst einen Atomkrieg aus, der die Menschen vernichtet. Die Politik ist überfordert. Das Militär betreibt das Geschäft der Human Extinction. Zugleich hat die Expertokratie ihren Diskurs so weit normalisiert, dass andere Stimmen, die sich gegen das Dogma einer mutually assured destruction (MAD) wenden, nicht mehr zugelassen werden. Alle Menschen kennen die radiotoxische Strahlung von Tschernobyl und Fukushima. Nicht obwohl dies bekannt ist, sondern weil es bekannt ist, deshalb erklärt sich die verstärkte Hinwendung zum Klima als einzigem Objekt der Bedrohung. Es geht darum, dass die Regierungen auf eine noch scheinbar abstrakte Gefahr reagieren können. Die abstrakte Gefahr eines überall gegenwärtigen und dennoch nirgendwo fixierbaren Klimas soll den Primat der Politik hervorheben. Nicht zufällig übernehmen die Regierungen die Ziele Greta Thunbergs. Sie selbst wollte, dass sofort gehandelt wird. Die Regierungen wollen handeln, um keineswegs sofort zu agieren. Die Regierungen erscheinen lernfähig, aber nicht lernbereit. Dieses Spiel der Heuchelei – und laut Molière ist Heuchelei das nirgendwo zensierte Laster, das seine souveräne Straflosigkeit etabliert – ist im atomaren Bereich nicht erforderlich, denn trotz absurder Kosten werden Atomkraftwerke überall gebaut, und ein atomares Wettrüsten setzt sich mit einer Vergrößerung der Explosivkraft fort. Ebenso beschließt man seitens der USA eine Doktrin des atomaren Ersteinsatzes, ohne dass eine demokratieorientierte Gesellschaft dagegen protestiert.

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Ergänzung durch einen Begriff technischer Gefährdung

Anders wird stets das unschätzbare Verdienst besitzen, die Atombombe als Beginn einer Zäsur gesehen zu haben. Es nützt nichts, sie als Fortsetzung bisheriger Waffentechnik zu werten, denn ihr Einsatz würde die Erde unbewohnbar machen. Aus der Argumentation von Anders wird nicht deutlich, dass Atomwaffen das destruktive Antlitz jener Technik darstellen, auf die wir fälschlich so stolz sind. Denn alle Kraftmaschinentechnik gilt als Mittel zur Erleichterung der Befriedigung unserer Individualbedürfnisse. Technik entstand, als zwei Energien miteinander verschmolzen, Energie der Wärme und Energie der Arbeit. Eisenbahn und Dampfschifffahrt wurden möglich. Eine Energie e1 summiert sich mit einer Energie e2 zu einer Gesamtenergie, die größer ist als die Teilenergien: e1+0e20