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German Pages [520] Year 2007
Böhlau
Holm Sundhaussen
GESCHICHTE SERBIENS 19.-21. Jahrhundert
BÖHLAU VERLAG W I E N
· KÖLN
· WEIMAR
Gedruckt mit der Unterstützung durch: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-77660-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Umschlagabbildung: Das alte und neue Belgrad im Winter mit dem Restaurant „Albanija" (Postkarte um 1930). Aus: Vekovi Beograda „ X V I . - X X vek". Hg. Historisches Archiv Belgrad. Beograd 2003, S. 70. © 2007 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Gedruckt auf Munken Premium Druck: Druckmanagement s.r.o., 692 01 Mikulov Gedruckt in der Tschechischen Republik
Für Bogga
Inhalt
V O R W O R T : W A S IST E I N E G E S C H I C H T E
SERBIENS
UND WIE KANN MAN SIE S C H R E I B E N ?
II
1.
27
A R E N A DER „ E R I N N E R U N G E N "
„ Goldenes Zeitalter " und „ türkisches Joch " Altbalkanische Gesellschaftsordnung Wanderungen zwischen Räumen und Kulturen Outlaws: Freiheitskämpfer oder Räuber 2.
27 41 46 53
DAS „LANGE" 1 9 . JAHRHUNDERT: STAATLICHE UND NATIONALE „ W I E D E R G E B U R T "
2.1 Staatsbildung und Beginn der großen Transformation (1804-1858)
Erster und zweiter serbischer Aufstand (1804 und 1815) Autokratie und Rebellionen: Fürst Milos (1815-1839) Von der Macht zur Herrschaft: die „Verfassungsverteidiger" (1842—1858) 2.2 Nationsbildung
und nationales Projekt
Die Aufklärer entdecken das „Volk" „Serben alle und überall": Vuk Karadzics Sprachnationalismus Der 28. Juni und Kosovo: Geburt eines „Erinnerungsorts" Raumbilder und „ mental maps ": die „serbische Frage " (1. Teil) Die „ Vereinigte Serbische Jugend" 2.3 Serbien und die Balkanfrage (1858-1878)
Die Liberalen erobern den Staat Die „ Orientalische Frage " und der Konkurrenzkampfder „ Volksnationen " Von der „ Großen Orientalischen Krise " zum Berliner Kongress (1875—1878) 2.4 Gesellschaft zwischen Beharrung und Aufbruch
65
65
65 70 77 81
82 88 97 115 120 126
126 131 136 143
Anatomie in Zahlen: Bevölkerung und Siedlungsstruktur
143
Von der Zadruga zur Kernfamilie: Patriarchalismus und Stellung der Frau Vom Stadtbewohner zum Bürger Das „europäische" und das „wahre" Serbien
149 160 166
6
Inhalt
Analphabetismus und Humankapital
167
Die Entwicklungsblockade der ländlichen Gesellschaft
173
Umrisse einer Protoindustrialisierung
182
2.5 Nationaler Irredentismus und Triumph (1878-1918)
189
Von der Volkstumsforschungzum Biologismus
189
Die Politisierung des „ Volkes ": „Russophile " versus „Austrophile " (18/8—1903) . . . .
3.
199
Das „goldene Zeitalter" der serbischen Demokratie (1903—1914)
205
Vom „Schweinekrieg"zu den Balkankriegen (1906—1913)
210
Das Attentat von Sarajevo und der Erste Weltkrieg (1914—1918)
222
DAS
„KURZE"
STAATLICHE
20. UND
JAHRHUNDERT: NATIONALE
KRISEN
UND
KATASTROPHEN
3.1 Serbien/Serben im ersten Jugoslawien (1918-1941) Vom „Nationalstaat"zum Vielvölkerstaat Jugoslawismen oder was? 28. Juni 1921: Nationaler Unitarismus und staatlicher Zentralismus „Ein Volk — ein Staat— ein König": das Ende des Parlamentarismus Familie und Gesellschaft: Umbruch, Armut und Nostalgie
231
231 231 240 251 263 270
Die „ Große Depression ": von der strukturellen zur konjunkturellen Krise
282
Bastionen des Serbentums: die „serbische Frage" (2. Teil)
285
Von derfranzösischen Sicherheit zur deutschen Hegemonie 3.2 Serbien/Serben im Zweiten Weltkrieg (1941—1945) „Lieber Tod als Sklaverei": der 2j. März 1941 und Hitlers Balkanfeldzug Das „ neue Serbien " des Generals Milan Nedic Der Völkermord im „ Unabhängigen Staat Kroatien "
300 306 3 06 311 315
Widerstand und„Vergeltung" in Serbien
320
Die Entscheidung im Bürgerkrieg
328
3.3 Serbien/Serben im zweiten Jugoslawien (1945-1980) „Phönix aus der Asche": Das neue Jugoslawien und seine Gründungsmythen 28. Juni 1948: Vom Stalinismus zum „jugoslawischen Sonderweg"
339 339 349
Wirtschaftlich-sozialer und kultureller Wandel: von der Erfolgsgeschichte zur Krise. . 354 Abschied vom Jugoslawismus und das Ende der ,Ara Tito" (196$—1980) 3.4 Die Selbstzerstörung Serbiens (1980-2000) Die „serbische Frage" (3. Teil) Zwischen „Genozid"- und„Auferstehungs"-Rhetorik Das „ Volk ereignet sich ": Slobodan Milosevics „ neues Serbien " „Es ist wieder Kosovo-Zeit": die Kriege der 1990er Jahre
363 379 379 385 400 411
Inhalt
7
AUSBLICK: „Philosophie der Palanka" oder offene Gesellschaft?
451
LITERATURAUSWAHL
467
TABELLEN
491
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
499
PERSONENREGISTER
503
KARTEN
511
Vorwort: Was ist eine Geschichte Serbiens und wie kann man sie schreiben ?
Geschichten gab es immer. Die Geschichte als „Kollektivsingular" ist dagegen relativ jung, ein moderner Begriff, der erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts seinen heutigen Bedeutungsumfang und -gehalt angenommen hat.1 Auch Vergangenheit gab es immer. Doch seit Etablierung der modernen Geschichtswissenschaft stehen Geschichte und Vergangenheit in einem latenten Spannungsverhältnis. Sie sind nicht identisch. In der Literatur zu den postjugoslawischen Kriegen der 1990er Jahre wurde viel über die Bedeutung der Geschichte fur die Gegenwart und über die „Geschichtsbesessenheit" der „Balkanesen" spekuliert. Das war missverständlich. Denn gemeint war in der Regel die Vergangenheit, nicht die Geschichte. Der englische Historiker John Harald Plumb hielt 1968 am City College in New York eine Vorlesung, die später unter dem Titel „The Death of the Past" (dt.: „Die Zukunft der Geschichte") veröffentlicht wurde.2 Darin traf er eine scharfe Unterscheidung zwischen „Geschichte" und „Vergangenheit". Der Mensch stecke voller Neugierde und sei oft ein sehr genauer Beobachter. „Daher war die Vergangenheit, die er benutzte, entweder um sich selbst oder seine Gesellschaft zu erhalten, nie eine bloße Erfindung. Sie enthielt einen großen Teil dessen, was dem Stamm oder dem Volk, dem er angehörte, tatsächlich zugestoßen war ..." Doch sei Vergangenheit „niemals Geschichte, obwohl sie partiell historisch sein mag. Geschichte ist, wie die Naturwissenschaft,... ein intellektueller Prozess ... Geschichte ist... intellektuell aus Erkenntnis erwachsen .. ," 3 Plumb differenzierte zwischen Vergangenheit oder Vergangenheitsbildern bzw. Gedächtnis auf der einen und Geschichte als wissenschaftlich rekonstruierter Vergangenheit auf der anderen Seite. In ähnlicher Weise unterscheidet Pierre Nora in seinen „lieux de memoire" zwischen „kollektivem Gedächtnis" - d. h. Vergangenheitsbildern - auf der einen und „historischem Gedächtnis" als Resultat wissenschaftlicher
Ι
KOSELLECK, REINHART: Geschichte, - in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. Otto Brunner - Werner Conze - Reinhart Koselleck, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 647.
2
PLUMB, JOHN H.: The Death of the Past. New York 2003 (Erstauflage 1969); dt.: Die Zukunft der Geschichte. Vergangenheit ohne Mythos. München 1 9 7 1 .
3
PLUMB, J . Η.: Zukunft der Geschichte, S. 12.
10
Vorwort
Forschung auf der anderen Seite.4 Plumb fugte seiner Differenzierung von 1968 ebenso optimistisch wie euphorisch hinzu: „Die Vergangenheit ist immer eine aufgestellte Ideologie mit einer Absicht, die darauf hinzielt, das Individuum zu kontrollieren, Gesellschaften zu motivieren oder Klassen zu inspirieren. Nichts ist je in so korrupter Weise benutzt worden wie die Konzepte der Vergangenheit. Die Zukunft der Historie und der Historiker wird die Geschichte der Menschheit von diesen irreführenden Interpretationen einer zweckvollen Vergangenheit zu säubern haben. Der Tod der Vergangenheit kann nur sinnvoll sein, solange die Geschichte blüht. Außerdem ist zu hoffen, dass die Vergangenheit nicht phönixartig wieder aus ihrer eigenen Asche aufsteigt, um abermals, wie so oft geschehen, die Unterwerfung und Ausbeutung von Männern und Frauen zu rechtfertigen, sie mit Ängsten zu quälen oder sie in ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit zu ersticken." 5 Diese Erwartung hat sich im Fall des ehemaligen Jugoslawien nicht erfüllt. Und sie mag utopisch sein. Im Unterschied zu Plumb betont Aleida Assmann, dass „Geschichte und Gedächtnis keine Opposition bilden, sondern auf komplexe Weise miteinander verschränkt sind. Geschichte existiert, wie wir immer deutlicher erkennen, in einem doppelten Modus: es gibt ,Geschichte-als-Wissenschaft und es gibt ,Geschichte-als-Gedächtnis'." 6 Aber selbst wenn wir Geschichte und Gedächtnis als wechselseitig verwobene Modi des Zugangs zur Vergangenheit verstehen, sollte darauf bestanden werden, „dass sie weder verwechselbar noch austauschbar sind. Die Geschichte als Wissenschaft ist Sache der Experten. Sie tritt uns entgegen als kritisch-distanzierte Anwendung fester Regeln fur die Interpretation und Analyse von Quellen und Uberresten aus der Vergangenheit, mit dem Anspruch auf Uberprüfbarkeit und objektive Gültigkeit ihrer Ergebnisse. (...) Das Gedächtnis dagegen dient existenziellen Bedürfnissen von Gemeinschaften, für die die Gegenwärtigkeit des Vergangenen einen entscheidenden Teil ihres kollektiven Wesens darstellt." 7 Bilder von Vergangenheit, die zunächst vor allem in mündlicher Form als „Erinnerungen" tradiert, dann aber auch in schriftliche Texte und in Visualisierungen übersetzt wer-
4
Vgl. UNFRIED, BERTHOLD: Memory and History. Pierre Nora and the lieux de memoire, — in: Österreichische Zeitschrift fiir Geschichtswissenschaften 2 (1991), 4, S. 79-98.
5
Ebd., S. 16.
6
ASSMANN, ALEIDA: Erinnerung als Erregung. Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte, — in: Wissenschaftskolleg Jahrbuch 1988/89. Berlin 2000, S. 204.
7
FRAN90IS, ETIENNE - SCHULZE, HAGEN: Vorwort, - in: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. E. F r a n c i s - H. Schulze. Bd. 1. München 2001, S. 14. Das Zitat im Zitat von CHARTIER, ROGER: Le XX E siecle des historiens, - in: Le Monde vom 18.8.2000, S. 204. Zur Geschichte von Kollektivgedächtnissen vgl. KLEIN, KERWIN LEE: On the Emergence of Memory in Historical Discourse, - in: Representations 69 (2000), S. 1 2 7 - 1 5 0 ; KANSTEINER, WULF: Postmoderner Historismus: Das kollektive Gedächtnis als neues Paradigma der Kulturwissenschaften, - in: Handbuch der Kulturwissenschaften. Hg. Friedrich Jaeger - Jürgen Straub. Bd. 2. Stuttgart 2004, S. 1 1 9 - 1 3 9 .
Vorwort
II
den, gehen in mehr oder minder unreflektierter Form in die nationalen Großerzählungen, die deutenden „Meistererzählungen" oder „grand narratives" im Sinne Lyotards ein. 8 Sie lassen sich nur schwer durch Richtigstellungen und historische „Fakten" entkräften, obwohl „Erinnerungen zum Unzuverlässigsten gehören, das es gibt". 9 Ohne an dieser Stelle auf die während der letzten Jahrzehnte von der Gedächtnis- und Hirnforschung durch eindrucksvolle Beispiele und Experimente nachgewiesenen „Fehlleistungen des Gedächtnisses" und dessen „falsche Erinnerungen" eingehen zu können, 1 0 bleibt festzuhalten, dass kollektive „Erinnerungen" durch Reduktion von Komplexität und Repetition sozial ausgehandelt und durch Bilder (im engeren wie im weiteren Sinn) konkretisiert werden. „Richtig" sind sie nur im Sinne ihrer Kommunizierbarkeit und sozialen Akzeptanz. Mit dem Erinnerten selbst haben sie mitunter wenig zu tun. Die Macht der Bilder und „Erinnerungen" ist so überwältigend, dass man ihnen mit empirisch fundierten Gegendarstellungen schwer beikommt. Das gilt für alte wie neue Bilder. Während aktuelle Ereignisse im Zeitalter der Massenmedien unmittelbar in Bildern festgehalten werden können, mussten die „großen Ereignisse" aus der vormodernen Geschichte rückwirkend in Bilder „übersetzt" werden. Mit der Historienmalerei entstanden jene „Ikonen" nationalen Ruhmes und nationaler Katastrophen, von denen auf den folgenden Seiten häufig die Rede sein wird und deren Botschaften nahezu unangreifbar sind. Im März 2005 erschien in der Zeitschrift „Psychological Science" eine Studie des Psychologen Stephan Lewandowsky von der University of Western Australia. Darin ging es um das Verhältnis zwischen „Erinnerungen" und Informationen bzw. um die Frage, welchen Einfluss Dementis auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Vergangenheit haben. Es zeigte sich, dass die Dementis zwar im Bewusstsein vieler Probanden angekommen, dort aber völlig unterschiedlich „weiterverarbeitet" worden waren. Lewandowsky kam daher zu dem Schluss, dass es zu „Fehlern bei der Informationsverarbeitung" kommt, wenn eine Nachricht nicht genau zu dem passt, wovon Menschen ohnehin überzeugt sind. Was einmal als „wahr" abgespeichert wurde, blieb „wahr" - trotz Dementi. Nur diejenigen, die bereits vorher der „Wahrheit" skeptisch gegenübergestanden hatten, speicherten deren Korrektur als wahr ab. Die anderen ignorierten das Dementi. 1 1 Die mit wissenschaftlichen Methoden (zumindest partiell) rekonstruierbare Vergangenheit enthält viele Dementis zu dem, was von einer Gesellschaft als „wahr" im „kulturellen Gedächtnis" abgelagert wird. Diejenigen, die nicht der betreffenden Gesellschaft angehö8 Vgl. LYOTARD, JEAN-FRAN£OIS: Das postmoderne Wissen. Wien 1990. 9 ASSMANN, ALEIDA: Wie wahr sind Erinnerungen?, - in: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. Harald Welzer. Hamburg 2001, S. 103. 1 0 Zum „false memory syndrome" vgl. SHACTER, DANIEL L.: Searching for Memory - the brain, the mind, and the past. New York 1996. n Vgl. WEIDMANN, ANKE: Wahrheit ist Ansichtssache, in: Die ZEIT Nr. 10 vom 3.3.2005, S. 32.
12
Vorwort
ren und zu ihr eine gewisse Distanz bewahren, tun sich leichter mit der Verarbeitung von Dementis als die Angehörigen der Gesellschaft selbst. Das ist keine Frage der Intelligenz, sondern dessen, was wir an Information aufgrund von Involviertheit oder Distanz zuzulassen bereit sind. Schwierigkeiten gibt es nicht nur mit dem „kulturellen", dem Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft, sondern auch mit dem Kurzzeitgedächtnis, dem „kommunikativen Gedächtnis" bzw. mit den „Erinnerungen" von „Zeitzeugen". Die Hirnforschung (Neurobiologie) kann nachweisen, dass beim Prozess des Erinnerns die Gedächtnisengramme, also die neuronal gespeicherten Spuren der Erinnerung, labil werden. Und zwar so stark, als würde das, was jetzt gerade „erinnert" wird, zum ersten Mal erfahren. Dieser Labilisierung folgt ein erneuter Konsolidierungsprozess im Gehirn. Dabei wird der gerade „erinnerte" Inhalt in das Jetzt-Gehirn eingebettet und nicht in das Gehirn von früher. Jedes Erinnern fuhrt somit zu einem Umschreiben (Überschreiben) des „Erinnerten". In jeder historischen Arbeit fällt der Zeit eine konstitutive Ordnungsfunktion zu, selbst dann, wenn eine Darstellung die chronologische Folge durchbricht. Die Zeit ist immer da. Eine zeitlose Geschichte gibt es nicht. Zugleich ist die Zeit aber auch fragwürdig geworden. Der Gründungspräsident der International Society for the Study of Time, der Brite Gerald J. Whitrow, hat uns vor Augen geführt, dass die Zeit eine Erfindung des Menschen ist, eine Wahrnehmungsweise, die erlernt werden muss, weil sie nicht naturgegeben ist. 1 2 Wir alle kennen das: Wenn die Uhrzeit von Sommer- auf Winterzeit und vice versa umgestellt wird oder wenn bei Langstreckenflügen Zeitzonen überquert werden, machen viele Menschen einen Unterschied zwischen der „eigentlichen" Zeit, in der sie vor der Umstellung der Uhr oder vor Überquerung der Zeitzone gelebt haben, und der Zeit, in der sie gerade angekommen sind. Sie verstehen die augenblickliche Zeit als unwirklich oder künstlich, weil sie nicht mit ihrer „inneren Uhr" übereinstimmt. Dabei geht es nur um Stunden. In anderen Kontexten geht es um Jahrhunderte. Die „eigentliche" Zeit und die Kalenderzeit driften auseinander. Während das vorliegende Buch geschrieben wird, feiert die deutsche Öffentlichkeit das Einstein-Jahr. (Auf Einsteins Beziehungen zu Serbien wird an anderer Stelle noch zurückzukommen sein.) Physiker erklären uns, dass Newtons Vorstellung von einer gleichförmig fließenden Zeit, „ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihr Liegendem", also die „absolute" Zeit, seit Entwicklung der Relativitäts- und Quantentheorie nicht mehr aufrechterhalten werden kann. „Man sollte meinen, dass die Wissenschaft mittlerweile herausgefunden hat, warum die Zeit zu fließen scheint, warum sie sich immer in eine Richtung bewegt und warum wir gleichmäßig von einer Sekunde zur anderen gezogen werden. Tatsache ist 12 WHITROW, GERALD J.: Die Erfindung der Zeit. Wiesbaden 1 9 9 1 .
Vorwort
13
jedoch", schreibt Brian Greene, einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der theoretischen Physik, dass „die Erklärungen für diese grundsätzlichen Merkmale der Zeit umstritten bleiben. Und je mehr Physiker nach eindeutigen Antworten suchen, desto trügerischer erscheint unsere alltägliche Auffassung von Zeit." 13 Die Erkenntnisse der modernen Physik zerstören auf eine sehr subtile Weise „unsere gemütliche Vorstellung, dass die Vergangenheit vorbei ist, die Zukunft noch kommt und die Gegenwart das ist, was wirklich existiert. Einstein war sich dessen bewusst. Der Philosoph Rudolf Carnap erinnert sich: ,Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhige ihn ernsthaft. Er erklärte dazu, dass das Erlebnis des Jetzt etwas Besonderes für den Menschen bedeute, etwas wesentlich anderes als Vergangenheit und Zukunft; doch dieser so wichtige Unterschied zeige sich nicht in der Physik und könne dort auch nicht auftauchen.'" 14 Die Unschärferelation der Quantentheorie liefert den Beweis. „Bei extrem kurzen Zeitintervallen (etwa einem Zehntel eines Millionstels eines Billionstels eines Billionstels eines Billionstels einer Sekunde) und Entfernungsskalen (ungefähr einem Milliardstel eines Billionstels eines Billionstels eines Zentimeters) verstümmeln Quantenfluktuationen Raum und Zeit derartig, dass die konventionellen Vorstellungen von links und rechts, von rückwärts und vorwärts, auf und ab sowie vorher und nachher bedeutungslos werden." 15 Im Reich der Physik zeichnet sich somit ab, dass die Raum-Zeit-Matrix, d. h. das Koordinatensystem der Geschichtswissenschaft, aufgegeben werden muss, dass weder Zeit noch Raum existieren. Allerdings liegt die Unschärferelation der Quantentheorie weitab von dem, was Menschen, die alle im selben Gravitationsfeld, dem der Erde, leben, und sich nur extrem langsam fortbewegen, als Zeit erleben und erfahren. Was für sie zählt, ist die „erfundene" Zeit, mit der zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschieden wird. Die „erfundene", die „menschliche" Zeit tritt in zwei grundlegend unterschiedlichen Varianten auf: einer linearen (im Sinne Newtons) und einer zyklischen Zeit, die aus der Wahrnehmung des Wechsels in der Natur abgeleitet ist. In beiden Fällen handelt es sich um Erfindungen mit weit reichenden Konsequenzen für unsere Wahrnehmung. Eine Vorstellungswelt, in der die Linearität der Zeit aufgehoben ist, in der die Zeit stehen bleiben kann, in der Jahrhunderte zu einem Augenblick kontrahiert werden und in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Allzeit verschmelzen, unterscheidet sich fundamental von einer Vorstellungswelt, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als aufeinander folgende Zeitabschnitte wahrgenommen werden. Diese zwei konkurrierenden Zeitvorstel-
1 3 G R E E N E , BRIAN S . 2.
Ebd. 15 Ebd. 14
: Die Welt, ein Daumenkino, - in: Der Tagesspiegel v.
3.3.2005.
Beilage zum Einstein-Jahr,
Vorwort
14
lungen werden uns im Folgenden wiederholt beschäftigen. Und da wir gerade bei der Zeit und ihrer Einteilung sind, sei hinzugefügt, dass das Epochenschema der „allgemeinen", der „europäischen" Geschichte nicht widerspruchsfrei auf die Vergangenheit des Balkanraums appliziert werden kann. Das gilt in erster Linie fur die Jahrhunderte der osmanischen Herrschaft in ihren europäischen Provinzen, die mit dem Epochenbegriff „Frühe Neuzeit" nicht adäquat erfasst werden können. Der Periode vom Ende des 14. bis zum 19. Jahrhundert fehlen weitgehend jene Merkmale, die mit der Abgrenzung der Frühen Neuzeit in der „allgemeinen" Geschichte verknüpft sind. Sie bildet eine „Eigenzeit" 1 6 , die sich aus der Sicht der osmanischen Reichsgeschichte anders präsentiert als aus der Sicht der christlichen Bevölkerung im Balkanraum. Letztere begreift die osmanische Herrschaft als „Unzeit" oder „Nichtzeit" bzw. als „schwarzes Loch", das zwischen dem „goldenen Zeitalter" der vorosmanischen Zeit und der „nationalen Wiedergeburt" in postosmanischer Zeit klafft. Im Zentrum des vorliegenden Buches steht die Geschichte des serbischen Staates und der serbischen Nation. Beides mit Einschränkungen und Ausweitungen. Serbischer Staat und serbische Nation sind Ergebnisse des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Beide überschneiden sich, sind aber nicht deckungsgleich. Und in beiden Fällen gibt es neben Kontinuitäten auch Brüche, widersprüchliche Realisierungsformen und fließende Übergänge. Der serbische Staat hat im Untersuchungszeitraum wiederholt seinen Status und sein Territorium verändert. Z u Beginn des 19. Jahrhunderts gehörte ein Teil des serbischen Siedlungsgebiets südlich der Donau zum osmanischen „Paschaluk 17 Belgrad". Aus ihm entstand 1 8 3 0 das autonome Fürstentum, das bis 1878 unter osmanischer Oberhoheit verblieb. Zentrum dieses Staates war die Sumadija (abgeleitet aus suma = Wald), das zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch dicht bewaldete Hügelland südlich von Belgrad. Auf dem Berliner Kongress erlangte Serbien dann die völkerrechtliche Unabhängigkeit. Zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es Serbien aber weder als Staat noch als Verwaltungseinheit, sieht man von den vier Jahren unter nationalsozialistischer Besatzung ab. Und zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des zweiten Jugoslawien besaß Serbien den Status eines Bundeslands in einem Bundesstaat. Nach dem Zerfall des zweiten Jugoslawien bildete es 1992 zusammen mit Montenegro das „dritte" Jugoslawien, das Anfang 2003 durch den Staatenbund Serbien und Montenegro abgelöst wurde, dessen Zukunft im Jahr 2006 zur Disposition stand. Auch das Territorium unterlag starken Veränderungen. Die wichtigsten erfolgten im Anschluss an die Balkankriege von 1 9 1 2 / 1 3 , als Kosovo, Vardar-Makedonien und ein Teil des
16 Z u Begriff und Konzept vgl. NOWOTNY, HELGA: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt/M. 1989. 1 7 Pasaluk (serb.) bzw. pa$alik (türk.): Amtsbezirk eines Paschas (Provinzgouverneurs).
Vorwort
15
Sandzaks18 Novi Pazar an Serbien fielen, bevor alle vier Territorien im ersten jugoslawischen Staat aufgingen. Die Republik Serbien im zweiten Jugoslawien umfasste das Territorium in den Grenzen von 1 9 1 3 , ohne Makedonien, das in den Rang einer eigenen Republik erhoben wurde. Kosovo erhielt einen Sonderstatus, während das ehemalige Südungarn — die Wojwodina, die 1918 an Jugoslawien gefallen war - der serbischen Republik zugeschlagen wurde, ebenfalls mit einem Sonderstatus. Völkerrechtlich hat sich daran bis heute nichts geändert, obwohl Kosovo seit 1999 faktisch vom serbischen Staat getrennt ist und unter internationalem Protektorat steht. Der künftige Status des Gebiets steht ebenfalls zur Entscheidung an. Neben dem Staat Serbien gab und gibt es das mentale Serbien, das Serbien in den Köpfen. Die mentale Landkarte unterscheidet sich hinsichtlich ihrer Ausdehnung und Abgrenzung deutlich von der politischen Landkarte und war ihrerseits Schwankungen ausgesetzt. Diese Oszillationen und das Auseinanderfallen beider Landkarten bzw. die Diskrepanz zwischen Serbien als Imagination und Serbien als staatlicher Realität haben die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts tief geprägt. Das war auch, aber nicht allein, eine Folge der Prozesshaftigkeit und Veränderung des serbischen Nationsverständnisses. Die Frage, wer zur serbischen Nation gehört und wer nicht, ist immer wieder unterschiedlich beantwortet worden. Und entsprechend unterschiedlich fielen auch die Raumvorstellungen aus. Fluchtpunkt der vorliegenden Geschichte Serbiens ist der serbische Staat als politischer, sozioökonomischer und kultureller Rahmen. Er ist Teil der Balkanhalbinsel, d. h. des Raums südlich der Unterläufe von Save und Donau, Teil eines Raums, der durch zerklüftete Gebirge und Berglandschaften geprägt wird, aber an den Peripherien verkehrsoffen ist. Natürliche Barrieren im Inneren haben die Integration ebenso erschwert, wie die Offenheit an den Rändern die regionenüberschreitende Migration erleichtert hat. Unter den wenigen Hauptverkehrsadern der Halbinsel fällt der Vertikalen von Smederevo an der Donau nach Saloniki an der Ägäis, d. h. dem Morava-Vardar-Tal, eine herausragende Bedeutung zu. Diesen Weg hinunter und hinauf sind alle Bevölkerungsgruppen gezogen, die die Halbinsel durchqueren wollten. Und lange galt die Überzeugung, dass derjenige, der diese natürliche Verkehrsader, einschließlich der bei Nis nach Konstantinopel/Istanbul abzweigenden Verbindung durch das Maricatal, beherrscht, auch die Balkanhalbinsel beherrscht. Nicht zuletzt daraus erklären sich die Expansionsbestrebungen der konkurrierenden Nationalbewegungen auf dem Balkan. Im Mittelpunkt der vorliegenden Darstellung stehen die Serben in Serbien (die Srbijanci), während die Serben nördlich der Donau und westlich der
18 Sandzak (serb.) bzw. sancak (türk.): osmanische Verwaltungsprovinz. Der heute zwischen Serbien und M o n tenegro geteilte Sandzak Novi Pazar, mehrheitlich von Muslimen bewohnt, gehörte zum Zentralgebiet (Raszien) der mittelalterlichen serbischen Herrschaftsbildung.
ι6
Vorwort
Drina, die Serben „von drüben", die „Precani" 1 9 , ebensowie die Montenegriner, die sich teils als Serben, teils als Montenegriner definieren, nur von Fall zu Fall einbezogen werden können. „Die" Serben gibt es nicht. Und es gibt sie umso weniger, je weiter man in die Zeit vor der modernen Staatsbildung zurückgeht. Sie leb(t)en in unterschiedlichen geographischen Räumen unter unterschiedlichen politischen Regimen und ökologischen Rahmenbedingungen und glieder(te)n sich in eine Vielzahl von Teilpopulationen mit je eigener Geschichte und eigenen Geschichten, mit unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten, unterschiedlichen politischen und kulturellen Erfahrungen und Alltagspraktiken. Den serbischen Bauern im Balkanraum, südlich von Donau und Save: im Pasaluk Belgrad und in den angrenzenden Regionen (vor allem in Bosnien-Herzegowina und Kosovo), standen die stärker urbanisierten Serben auf habsburgischem Territorium: im südlichen Teil des Königreichs Ungarn, in verschiedenen Städten der österreichischen Reichshälfte (Wien, Triest und andere), die Wehrbauern in der kaiserlichen Militärgrenze auf kroatisch-slawonischem Boden sowie die Serben in Dalmatien gegenüber. Zwischen den städtischen Serben im Königreich Ungarn, den bäuerlichen Gesellschaften in der Sumadija oder den Stammesgesellschaften in Montenegro und der östlichen Herzegowina lagen „Welten". Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entdeckten kluge Köpfe, dass es außer den „richtigen" Serben, den Serben in der Sumadija oder in den montenegrinischen Bergen, auch noch die „deutschen Serben" nördlich der Save, die „islamisierten Serben" westlich der Drina und die vielen Katholiken gab, die „serbisch" sprachen, ohne zu wissen, dass sie „Serben" waren. Und weiß Gott, wer noch dazukommen würde: die „albanisierten Serben" in Kosovo oder die „bulgarisierten Serben" in Makedonien usw. 20 Für die Nationsbildner bestand der Fortschritt vor allem darin, zu erkennen, zu welcher Nation man gehört, wer und was man ist. Und früher oder später würden dies alle erkennen. Hatte es nicht bereits Vuk Karadzic 1839 auf die einprägsame Formel gebracht: „Serben alle und überall" (Srbi svi i svuda), oder wie Serben im 20. Jahrhundert zu sagen pflegten: „Sprich serbisch, damit dich die Welt versteht" ? Aber es war noch ein weiter Weg bis zu den kalten Wintertagen im Bosnienkrieg 1 9 9 2 - 9 5, als eine Nachrichtenagentur meldete: „Der erste serbische Schnee ist gefallen."
1 9 Abgeleitet vom Adverb „preko" = drüben, gegenüber, jenseits. 20 1 9 8 9 erklärte der Historiker Radovan Samardzic: „Fremde N a m e n — albanische, bulgarische und andere — machten sich in den serbischen Ländern breit, sogar in jenen, die seit Menschengedenken serbisch waren. So wurden serbische Viehzüchter und Soldaten Wlachen genannt, serbische Grenzer nannte man Kroaten. Serben, die verschiedene Berufe ausübten, etwa Fuhrleute, machte man zu Bulgaren ; serbischen Leibwächtern aber, Panduren und Wanderarbeitern, die aus dem Herzstück ihres Vaterlandes herkamen, gab man den Namen Arbanasi." SAMARDZIC, RADOVAN : Ideje za srpsku istoriju [Ideen zur serbischen Geschichte], Beograd 1989, zit. nach: Colovic, Ivan: Symbolfiguren des Krieges. Z u r politischen Folklore des Krieges, - in: Jugoslawien-Krieg, S. 309.
Vorwort
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Die Differenzen zwischen den „serbischen" Teilgruppen und erst recht die Unterschiede zu denen, die partout keine Serben sein wollten, waren noch das ganze 20. Jahrhundert über präsent. Alle Serben zu berücksichtigen, hätte den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt. Insofern handelt es sich nur mit Einschränkungen um eine Geschichte der serbischen Nation. Zwar kann die wichtige Rolle der serbischen Diaspora in der ersten Phase der Nationsbildung nicht ausgeklammert werden (denn ähnlich wie bei Griechen, Bulgaren und Albanern fiel der Diaspora auch bei den Serben eine nationsbildende Initialrolle zu), doch die Geschichte der serbisch-orthodoxen Kolonisten auf habsburgischem Territorium wäre ein Thema für sich. Auf der anderen Seite müssen auch die Nicht-Serben im serbischen Staat Berücksichtigung finden, da ihre Präsenz die serbische Politik und das Selbstverständnis der Serben mitgeprägt hat. Ahnliches gilt für die anderen Nationen und Nationalitäten im ersten und zweiten Jugoslawien. Dennoch geht es im Folgenden nicht bzw. nicht nur um eine Staatsgeschichte Serbiens, sondern auch und vor allem um eine Sozialund Kulturgeschichte der Serben, einschließlich der nicht-serbischen Staatsbürger - um die unterschiedlichen Serbien (im Plural und in Anlehnung an Pierre Noras „les Frances") bzw. um eine Geschichte Serbiens transterritorial und transnational. Schwierig bleibt die Darstellung jener Jahrzehnte, in denen Serbien in Jugoslawien aufging - nicht als mentale Landkarte, wohl aber als Staat. Für diesen Zeitraum galt es in der vorliegenden Darstellung, einen Kompromiss zu finden. Einerseits konnte Jugoslawien als Aktions- und Wahrnehmungsraum nicht ausgeklammert werden. Andererseits konnte es nicht darum gehen, eine Geschichte Jugoslawiens zu schreiben. Und insofern ist die vorliegende Geschichte auch nur mit Einschränkungen eine Geschichte des serbischen Staates. Gesamtdarstellungen zur Geschichte Serbiens im 19. und 20. Jahrhundert liegen bisher nur in sehr begrenzter Zahl vor. Hervorzuheben sind Stevan Pavlowitchs „Serbia. The History behind the Name" (2002) und Yves Tomics „La Serbie du prince Milos ä Milosevic" (2003). 21 Im Unterschied zu diesen beiden Werken halten die Arbeiten von John K. Cox „The History of Serbia" (2002) und von Alex N. Dragnich „Serbia Through the Ages" (2004) den Anforderungen an eine kritische Synthese nicht stand. 22 Anlässlich des 200. Jahrestags des ersten serbischen Aufstands erschienen 2003/2004 u. a. eine Chronologie
21 Bibliographische Angaben im Literaturverzeichnis. 22 C o x , JOHN K.: The History of Serbia. Westport/Connecticut, London 2002; DRAGNICH, ALEX N.: Serbia Through the Ages. Boulder/Co 2004. Die erste Arbeit ist im Wesentlichen eine in zahllose kurze Unterkapitel gegliederte Aneinanderreihung von mehr oder minder sorgfältig recherchierten Informationen, während Dragnich seine aus früheren Veröffentlichungen bekannten proserbischen Betrachtungen fortsetzt. Seine Ausfuhrungen über die Cetniks, die serbischen Opfer im Zweiten Weltkrieg, über die serbische Politik in Kosovo und über den Zerfall Jugoslawiens sind in ihrer Einseitigkeit schwer zu überbieten.
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Serbiens fur die letzten zweihundert Jahre 23 , ein prachtvoll ausgestatteter Bildband über die serbischen Aufstände, 24 ein Sammelband über Europa und die serbische Revolution, 25 eine Gesamtdarstellung der serbischen Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart aus der Feder des Mediävisten Sima Cirkovic 26 und ein Buch mit drei Interpretationen der serbischen Geschichte seit 1804. 2 7 In dem zuletzt genannten Werk leitet Ljubodrag Dimic seine Sichtweise mit folgender Schreckensbilanz ein: -
zwölf Kriege, mehrere Genozide (beginnend mit 1804 und sich fortsetzend in allen nachfolgenden Kriegen),
-
eine Vielzahl von Rebellionen und Aufständen,
-
mehrere Bürgerkriege,
-
mehrere Besatzungsregime,
-
mehrere Befreiungs-Epopöen,
-
vier Wirtschaftsblockaden,
-
fünfzehn große diplomatische Krisen,
-
mehrere Revolutionen und Diktaturen,
-
eine Vielzahl von Wanderungen und Ausdünnungen des „nationalen Gewebes",
-
zahlreiche Exodusse und „Verdichtungen im Kernland". 28
Dimic liebt Aufzählungen, denn von Aufzählungen geht eine starke suggestive Kraft aus. Aufzählungen ersetzen die Analyse. Indem der Autor alles zusammenwirft, egal ob es zusammengehört oder nicht, reproduziert er jene Leidens- und Opferbilder, die den nüchternen Blick auf die Geschichte Serbiens verstellen und der Mythenbildung, an der der 23 Moderna srpska drzava 1804—2004. Hronologija [Der moderne serbische Staat 1804—2004. Eine Chronologie]. Hg. Istorijski arhiv Beograda. Beograd 2004. 24 STOJANCEVIC, VLADIMIR: Poceci moderne srpske drzave. The Beginnings of the Modern Serbian State. Beograd 2003. 25 Evropa i Srpska revolucija 1 8 0 4 - 1 8 1 5 . Hg. von Cedomir Popov. Novi Sad 2004. 26 CIRKOVIC, S.: The Serbs. Oxford 2004. Erwähnt sei an dieser Stelle auch die Arbeit von CEDOMIR ANTIC: Kratka istorija Srbije 1804-2004. [Kurze Geschichte Serbiens 1804-2004]. Beograd 2004. Der Titel ist irreführend, denn es handelt sich nicht um eine Gesamtdarstellung, sondern um eine Sammlung kleinerer Essays. 2 7 D I M I C , L J U B O D R A G - STOJANOVIC, D U B R A V K A - JOVANOVIC, M I R O S L A V : Srbija 1 8 0 4 - 2 0 0 4 . Tri v i d -
jenja ili poziv na dijalog [Serbien 1804—2004. Drei Ansichten oder eine Aufforderung zum Dialog]. Beograd 2004.
28 DIMIC, LJ.: Srbija 1804-2004 (suocavanje sa prosloscu) [Serbien 1804-2004 (Begegnung mit der Vergangenheit)], - in: ebd., S. 15.
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Autor Ende der 1990er Jahre noch eifrig mitgewirkt hatte 29 und die er nun an verschiedenen Stellen scharf kritisiert, weiteren Vorschub leisten. Dimic spricht mit Vorliebe von der „Macht des Raums", von Strukturen der Gesellschaft, von „Strudeln der Politik" und vor allem von Kollektiven, mit denen etwas geschieht. Aber wer was geschehen lässt, bleibt fast immer im Dunkeln. Unpersönliche Formulierungen („es" passiert) und passive Verbformen dominieren die Darstellung. Serben tauchen fast nie als Akteure, sondern immer nur als Leidende und Betroffene auf. Die wenigen Akteure, die benannt werden, sind die Großmächte, die fremden Besatzungsregime, der kroatisch-katholische Klerofaschismus, die kroatischen Ustasche und - für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts - die Kommunisten und die ihnen nachfolgenden Politiker im auseinandergebrochenen Jugoslawien. Kommunisten und Nachfolger tragen keinen Namen und gehören keiner Nation an. Aber alle sind gleichermaßen schuld. In der einen oder anderen Weise. Weder der serbische Nationsbegriff noch die nationale Raumkonzeption werden von Dimic präzisiert. Wer sind die „Serben-Muslime" und die „Serben-Katholiken" ? Bewusst oder unbewusst spricht der Autor mal vom „serbischen und jugoslawischen" Raum, dann nur vom „serbischen" Raum, dessen Territorium sich allerdings mit dem jugoslawischen weitgehend deckt. Viele der von Dimic verwendeten Begriffe bleiben in ihrer Konkretisierung völlig unklar, ζ. B. „nationales Gewebe" (nacionalno tkivo), 30 Klerofaschismus, Genozid (war jeder der zwölf Kriege mit einem Genozid verbunden ?) oder Wirtschaftsblockade (war ζ. B. der österreichisch-serbische Zollkrieg von 1 9 0 6 - 1 9 1 1 eine Wirtschaftsblockade, obwohl die serbischen Aus- und Einfuhren ab 1907 sehr dynamisch wuchsen und auch der Warenaustausch mit Osterreich bedeutend blieb? Ist jeder Handelskrieg Blockade?). Die Abgrenzung der Begriffe ist unscharf (Aufstand/Revolution, Wanderung/Exodus). Bei den Kriegen, deren Zählung unklar bleibt, wird nicht differenziert zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen, und bei den Besatzungsregimen sind offenbar nur die fremden Besatzungen gemeint. Zweifellos nehmen Kriege in den individuellen Biografien und „Erinnerungen" derjenigen Generationen, die seit den 18 60er Jahren geboren wurden, einen prominenten Platz ein. 31 Und zweifellos hat Dimics Reihung von Extremsituationen bzw.
29 Vgl. DIMIC, L J . : Serbian Demographic Casualties in the 20th Century, veröffentlicht auf der Homepage der Association for Social History: www.udi.org.yu/Founders/Dimic/Casualties.htm (Juni 1999). Mittlerweile ist dieser Beitrag aus dem Internet entfernt worden. Vgl. ferner seine Monographie: Srbi i J u g o s l a v i a [Die Serben und Jugoslawien]. Beograd 1998, die ein Musterbeispiel fiir den konservativen serbischen Neo-Nationalismus ist. 30 A n anderer Stelle (ζ. B. in: Srbi i Jugoslavia) gebraucht der Autor mit Vorliebe den Begriff „ethnisches Wesen" (etnicko bice), ohne jemals zu erklären, was er darunter versteht. 3 1 Vgl. ζ. B. die von Joel Halpern in den 1 9 5 0 e r Jahren aufgezeichneten lebensgeschichtlichen Interviews mit Bewohnern des Dorfes Orasac in der Sumadija. „I was born in 1866. (...) I took part in three wars - first, in 1 8 8 5 , against the Bulgarians; second, the Austro-Hungarian War [Erster Weltkrieg], with my two sons, one
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sein traumatisches Narrativ viel mit Vergangenheit im Sinne Plumbs, aber nur wenig mit Geschichte zu tun. Für viele andere Nationen ließe sich eine ähnliche Schreckensbilanz erstellen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der serbischen Vergangenheit und den serbischen „Meistererzählungen" oder eine (wie immer geartete) „Vergangenheitsbewältigung" stellt dieser Beitrag nicht dar. Die beiden anderen Essays des Bandes - von Dubravka Stojanovic und Miroslav Jovanovic — eröffnen einen völlig anderen Blick auf die serbische Geschichte. Dubravka Stojanovic setzt sich kritisch mit Politik und Gesellschaft im modernen Serbien auseinander und dekonstruiert den populären Topos vom „goldenen Zeitalter" des serbischen Parlamentarismus ( 1 9 0 3 - 1 9 1 4 ) . 3 2 Darüber wird an entsprechender Stelle noch zu reden sein. Jovanovic offeriert sieben Thesen zu den Diskontinuitäten in der Entwicklung Serbiens. Ausgehend von den fünf großen Peripetien in der neueren serbischen Geschichte (beginnend mit dem österreichisch-türkischen Krieg 1 6 8 3 - 1 6 9 9 , über den ersten serbischen Aufstand 1 8 0 4 - 1 8 1 3 , die Gründung Jugoslawiens 1 9 1 8 , die Einführung des Sozialismus 1944/45 bis zum Zerfall des zweiten Jugoslawien 1991/92) skizziert er die Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche anhand der Themenfelder Staat und Politik, Außenpolitik, Kultur, Wirtschaft, Gesellschaftsbewusstsein und Mentalität, bevor er abschließend ein überaus düsteres Szenario vom Erbe der Vergangenheit für das 2 1 . Jahrhundert entwirft. Alles was geschehen ist, was Serbien und die serbische Gesellschaft durchgemacht haben und wo sie angelangt sind, „ist in vollem Umfang das Resultat der Macht, der Qualität, des Wissens und der Fähigkeiten der serbischen Gesellschaftseliten. Vor allem der politischen und intellektuellen, aber auch der wirtschaftlichen, militärischen und geistigen Eliten." 3 3 Dubravka Stojanovics und Miroslav Jovanovics Zugriffe auf die serbische Geschichte unterscheiden sich diametral von den nach wie vor beliebten Opfer- und Freiheits-Epopöen
of whom fell; and third, the terrible war in 1 9 4 1 , when the Serbs killed each other, one brother burning the home of the other. M y youngest son became an invalid." Oder: „I was born in 1 8 8 1 in Orasac. ( . . . ) In 1 9 1 2 when the war against the Turks [Erster Balkankrieg] broke out I was mobilized. After this war and a short interval of peace, the war against Bulgaria [Zweiter Balkankrieg] started, and after that there was constant drilling. In the month of May, while I was returning home from military service from Prilep, I stopped in the county of Veles. There I was a clerk, and because I had no rank in the army I wasn't mobilized during the Serbo-Austrian War. I remained at my work there until October, 1 9 1 5 , when I fled to Greece before the enemy. In Salonika I joined the army again and continued fighting on the Salonika Front until the liberation in 1 9 1 8 . W h e n I was demobilized and ordered to my previous duty I returned home because in the meantime all the members of my family had died except an unmarried sister. A t home everything was ruined . . . " Usw. HALPERN, J . M . : Serbian Village (Auflage von 1967), S. 205, 2 2 1 f. 3 2 STOJANOVIC, D . : Ulje na vodi: Politika i drustvo u modernoj istoriji Srbije [Ol aufs Wasser: Politik und Gesellschaft in der modernen Geschichte Serbiens], - in: ebd., S. n 5 - 1 4 8 . 33 JOVANOVIC, M . : Srbija 1804—2004: razvoj opterecen diskontinuitetima (sedam teza) [Serbien 1804—2004: Eine von Diskontinuitäten belastete Entwicklung (sieben Thesen)], — in: ebda. S. 205.
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sowie den Heroisierungen in der serbischen Historiographie oder von den „geschichtsphilosophischen", schicksalsträchtigen und religiös inspirierten Deutungen der serbischen Geschichte (etwa bei Radovan Samardzic oder beim neuen Geschichtspriester der Nation, Dusan Batakovic). 34 Auch Sima Cirkovic beschreitet in seiner 2004 in englischer und serbischer Sprache publizierten Gesamtschau der serbischen Geschichte neue Wege. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wird darin jedoch nur relativ knapp — auf etwas mehr als hundert Seiten - behandelt. Seit Mitte der 1980er Jahre befindet sich die Geschichtsschreibung in Serbien in einem stürmischen Prozess der Umdeutung, des Revisionismus und der Neuinterpretation, dessen Ende nicht abzusehen ist. 35 Im Zentrum der Umdeutung stehen der Zweite Weltkrieg und die Repressionen in der Frühphase der Tito-Ära. Alte Tabus wurden aufgebrochen und durch neue ersetzt, aus vormaligen „Verrätern" wurden „Helden", aus „Kriegsverbrechern" „Märtyrer", Vergessenes wurde in die „Erinnerung" zurückgeholt und begann, die einst dominanten „Erinnerungen" zu überlagern und schließlich zu verdrängen. Was lange Zeit verschwiegen worden war, wurde nun gesagt, und was lange gesagt worden war, fiel dem Schweigen anheim. Die wechselhafte Geschichte des Vergessens und Verschweigens ist noch nicht geschrieben; sie wäre ebenso aufregend wie die Geschichte der „Erinnerungen" oder die „reale" Geschichte selbst. 36 Z u Serbien und Jugoslawien existiert eine umfangreiche Literatur, in der man sich über die Details der Ereignisgeschichte, zumal der politischen, informieren kann. 3 7 Über die
34 Z . B . SARMARDZIC, RADOVAN: Istorijski karakter Srba. Starije doba [Der historische Charakter der Serben. Ältere Zeit], - in: Serbia i komentari 1 9 8 8 / 1 9 8 9 . Beograd 1 9 8 9 , S. 3 4 5 - 3 6 4 ; DERS.: Ο istorijskoj sudbini Srba [Uber das historische Schicksal der Serben], — in: Serbia i komentari 1 9 0 0 / 1 9 9 1 . Beograd 1 9 9 1 , S. 1 6 5 - 1 8 4 . Batakovic hat eine Vielzahl von Büchern und Aufsätzen publiziert, in denen v. a. Kosovo und die serbische Orthodoxie im Mittelpunkt stehen. 35 Vgl. u. a. TRGOVCEVIC, LJUBINKA: Historiographie in der B R Jugoslawien 1 9 9 1 - 2 0 0 1 , - in: K l i o ohne Fesseln. Historiographie im östlichen Europa nach dem Z u s a m m e n b r u c h des K o m m u n i s m u s . H g . Alojz Ivanisevic - Andreas Kappeler — Arnold Suppan. Wien [u. a.] 2 0 0 2 , 3 9 7 - 4 0 9 ; SUNDHAUSSEN, HOLM: Serbische Historiographie zwischen nationaler Legitimationswissenschaft und postnationalem Paradigmenwechsel, - in: ebd., S. 4 1 1 - 4 1 9 ; DJORDJEVICH, D . J . : Clio amidst the Ruins. Yugoslavia and Its Predecessors in Recent Historiography, - in: Yugoslavia and Its Historians. Understanding the Balkan Wars of the 1990s. Hg. N o r m a n M . Naimark. Stanford 2003, S. 3 - 2 1 ; MARKOVIC, PREDRAG - K o v i c , MILOS - MILICEVIC, NATASA: Developments in Serbian Historiography since 1 9 8 9 , - in: (Re)Writing History. Historiography in Southeast Europe. H g . U l f Brunnbauer. Münster 2004, S. 277—317. 36 Dazu allgemein IRWIN-ZARECKA, IWONA: Frames of Remembrance: The Dynamics o f Collective Memory. N e w Brunswick/N.J. 1994. 37 Vgl. u. a. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Gesamtdarstellungen zur Geschichte Serbiens und Jugoslawiens: COROVIC, V.: Istorija Srba; Istorija srpskog naroda; PAVLOWITCH, ST. K.: Serbia; PETROVICH, Μ . B.: History o f M o d e r n Serbia; CIRKOVIC, S. M . : The Serbs. Z u Jugoslawien: SUNDHAUSSEN, H.: Geschichte Jugoslawiens; DERS.: Experiment Jugoslawien; MBNNESLAND, S.: Land ohne Wiederkehr;
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„großen Männer", die „großen Ereignisse" und das „Volk" (als Kollektivperson) ist viel geschrieben worden. Wesentlich weniger wissen wir über die Gesellschafts-, die Alltagsund die Kulturgeschichte oder über Aberglauben, Syphilis und Frauenmisshandlungen in Serbien. Zwar gibt es seit einigen Jahren eine sehr lebendige kulturwissenschaftlich orientierte Geschichtsschreibung, doch in den großen „Narrativen" dominiert die politische Ereignisgeschichte nach wie vor. Sie steht deshalb nicht im Zentrum dieses Buches. Hier geht es um den Versuch, die politische Geschichte mit der Gesellschafts- und Kulturgeschichte zu einer Symbiose zu verbinden, die sich von früheren Gesamtdarstellungen in vielen Punkten unterscheidet. Das beginnt bei den Benennungen und endet bei den Kontextualisierungen. Eines der großen Probleme sind die Gruppen- und topographischen Namen sowie die aus der Gegenwart übernommenen und auf die Vergangenheit applizierten Begriffe samt den damit verbundenen Wahrnehmungen, Emotionen und Urteilen. Gemeint sind insbesondere Schlüsselbegriffe wie „Serben", „Nation", „Volk", „Staat", „Fremdherrschaft", „Unterdrückung", „Genozid", „Freiheitskampf', „Befreiung", „Opfer", „Verrat" und viele andere mehr - von den religiös aufgeladenen Begriffen (Abendmahl, Golgatha, Märtyrer, Auferstehung usw.) ganz zu schweigen. Schon die bloße Verwendung dieser Worte weckt Assoziationen, die allzu oft im Widerspruch zur rekonstruierbaren Vergangenheit stehen oder die auf ein subjektiv gesetztes Referenzsystem bezogen sind. Der „unschuldige" Umgang mit Begriffen wie „Volk", „Unterdrückung", „Genozid" erzeugt eine Vorstellung von Vergangenheit, die in einem Spannungsverhältnis zur intersubjektiv und methodisch/empirisch überprüfbaren Geschichtskonstruktion steht. Dass am Anfang das Wort war, ist nicht nur die Erkenntnis des Evangelisten Johannes, - es ist auch die Grundlage aller Geistes- und Sozialwissenschaften (und dies nicht erst seit dem „linguistic turn"). Noch gibt es kein Wörterbuch der begrifflichen und semantischen Geschichtsmanipulation, obwohl ein derartiges Werk fur den Umgang mit Vergangenheit und Geschichte höchst willkommen wäre. Historische Begriffe stehen stets in einem zeitlichen Kontext. Dessen ungeachtet werden sie in der Nationalhistoriographie oft aus diesem Kontext herausgelöst oder zeitneutral verwendet. So als seien Volk und Nation schon immer da gewesen, seien Träger ewiger, unveräußerlicher Rechte und hätten eine - wie immer definierte — „Fremdherrschaft" seit Anbeginn abgelehnt und bekämpft. 3 8 Wer Kosovo als „Altserbien" und Makedonien als „Südserbien" bezeichnet, verbindet mit diesen Benennungen auch einen Besitzanspruch (ähnlich wie diejenigen, die von den „deutschen Ostgebieten" oder von den polnischen B E N S O N , L.: Y u g o s l a v i a ; LAMPE, J . : Yugoslavia as H i s t o r y ; PAVLOWITCH, S T . Κ . : I m p l o r a b l e S u r v i v o r ; PETRANOVIC, B.: Istorija Jugoslavije; L A N E , Α . : Yugoslavia. 38 Z u r Genese, Geschichte u n d F u n k t i o n des relativ jungen Begriffs „ F r e m d h e r r s c h a f t " vgl. K O L L E R , C H R I S TIAN : Fremdherrschaft. E i n politischer K a m p f b e g r i f f im Zeitalter des Nationalismus. F r a n k f u r t , N e w York
2005.
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„kresy wschodnie" sprechen). Und ob eine Aktion als „Freiheitskampf, „Verrat" oder „Terrorismus" klassifiziert wird, hängt häufig nur von der Betrachtungsweise oder von rechtlichen Definitionen ab. Macht es Sinn, von „Befreiung" zu sprechen, wenn der „Befreier" dem „Befreiten" seine Freiheit nimmt oder ihm seine Version von „Freiheit" aufzwingt? Unter normativen Gesichtspunkten mag dies begründbar sein, zumal Freiheit immer auch und vor allem ein Prozess ist, an dessen Beginn sich „Freiheit" für die Betroffenen anders darstellt als im weiteren Verlauf. Eine normative Betrachtungsweise setzt allerdings voraus, dass die Normativität expliziert wird. Dies ist aber in der Regel nicht der Fall. Und da sie unausgesprochen bleibt, entzieht sie sich der Kritik. Das normative Referenzsystem in der älteren, teleologisch ausgerichteten Nationalhistoriographie war - explizit oder implizit - stets die Nation bzw. die „Wiedergeburt" der Nation als Endziel einer zyklisch und chiliastisch begriffenen Geschichte. Alles, was der Nation und der Erreichung des Endziels diente, war positiv; alles, was ihr schadete, fiel der Verdammnis anheim. Dementsprechend wurden auch die Begriffe eingesetzt (Unterdrückung, Befreiung, Verrat usw.). Aber in dem Augenblick, wo die Zielgerichtetheit der Geschichte - in einem zyklisch-teleologischen Sinn (als „Rückkehr und Endziel") - aufgegeben wird, fällt das Referenzsystem „Nation" in sich zusammen und die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe verlieren ihren Sinn. Dass Mythen und Legenden in einem exorbitanten Umfang auch in die Historiographie über Serbien und die Serben Eingang gefunden haben, wird im Folgenden auf Schritt und Tritt deutlich. Selbst kritische Autorinnen und Autoren sind davor nicht gefeit, denn die mythengesättigte Semantik ist so tief verwurzelt, dass ihr Abbau zu erheblichen Formulierungsschwierigkeiten fuhrt. Über Nutzen und Nachteil von Mythen für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft kann man streiten; problematisch werden sie dort, wo sie als Filter gegen „Realia" fungieren und undurchlässig werden für Dementis. In vielen Diskussionen, die während der jüngsten Krisen und Kriege im ehemaligen Jugoslawien geführt wurden, war von Teilnehmern aus der Region häufig zu hören: Ein „Fremder" kann uns nicht verstehen. Die „Fremden" haben ein „falsches Bild" von uns. Meistens hatten sie Recht. Und es stellt sich die Frage: Warum? Vereinfacht gesprochen gibt es darauf zwei Antworten. Erstens: dem Außenstehenden fehlen die zum „Verstehen" erforderlichen Informationen. Das lässt sich mit etwas Mühe und gutem Willen lösen. Die zweite Möglichkeit ist eine echte Crux: Das „Verstehen" scheitert daran, dass die innere Realität (das Bild in den Köpfen der Nationsangehörigen) und die äußere Realität, die ein Ergebnis wissenschaftlicher Rekonstruktion ist, miteinander im Widerstreit stehen, dass die vorgetragenen Argumente gesellschaftsübergreifend, transnational nicht nachvollziehbar und anschlussfähig sind, weil sie auf spezifischen nationalen Wahrnehmungscodes von Vergangenheit und deren Deutung beruhen, auf einem „kulturellen Gedächtnis", das resistent ist gegenüber Geschichte (obwohl die „Erinnerungen" - um es noch einmal zu wiederholen
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- partiell durchaus historisch sind, aber eben nur partiell). Bereits Ernest Renan hatte beobachtet, dass das Vergessen „und ich würde sogar sagen, der historische Irrtum, ein essentieller Faktor bei der Schaffung einer Nation ist und dass der Fortschritt der historischen Wissenschaften oft eine Gefahr für die Nation darstellt". 39 Dieses Buch will einerseits Informationen bieten über Ereignisse, handelnde Personen und historische Konstellationen. Es will andererseits die Entstehung von Wahrnehmungsund Deutungsmustern rekonstruieren, die vielen Menschen soziale Orientierung bieten und handlungsleitend sind. In dem hier untersuchten Zeitraum steht die diskursive Rekonstruktion nationaler Identität bzw. die Formierung national konnotierter raumzeitlicher Symbolkomplexe und Deutungsmuster im Vordergrund. Sie sind das Resultat komplizierter Aushandlungsprozesse, die von Akteuren vorangetrieben wurden und diese zugleich in Fesseln legten. In den Grundzügen orientiert sich die Darstellung an der Chronologie, durchbricht diese aber, wo es um die Rekonstruktion von Strukturen und „Bildern" geht, die nicht an einzelnen konkreten Daten festzumachen sind. Die Geschichte eines Staates und einer Gesellschaft über einen Zeitraum von zweihundert Jahren kommt ohne Rekurs auf sozial- und strukturgeschichtliche Zugriffe nicht aus. So berechtigt die Kritik der Kulturwissenschaftler an die Adresse der Sozialgeschichtler mitunter sein mag: bei ihnen kämen die Menschen gar nicht mehr vor, sondern gingen hinter den Strukturen verloren, - mit einer ausschließlich akteursorientierten Darstellung lässt sich die Geschichte einer Gesellschaft nicht schreiben. Wer im Folgenden ein Plädoyer für oder gegen „die Serben" erwartet, kann das Buch getrost beiseite legen. Die Lektüre wäre Zeitverschwendung. Ich sehe mich weder in der Rolle eines Verteidigers noch eines Anklägers, geschweige denn eines Richters. Um im Bild zu bleiben, verstehe ich mich eher als Gutachter oder Ermittler, als jemand, der Spuren sichert, Befunde zusammenträgt, prüft und abwägt und mit dem Mut zur Lücke leben muss. Konzediert sei, dass sich der Mut zur Lücke auch als Falle erweisen kann, denn bereits die Auswahl der dargestellten Sachverhalte (und nicht erst deren Interpretation) sowie das Streben nach inhaltlicher Kohärenz suggerieren eine Folgerichtigkeit, die mitunter nicht existiert. Auch vor diesem Hintergrund ist eine Geschichte Serbiens stets ein Konstrukt. Z u m Schluss möchte ich zwei persönliche Bemerkungen hinzufügen, i . Bis Mitte der 1980er Jahre war Serbien für mich eine Art zweiter Heimat. Es gab kaum ein anderes Land, das ich so gern besucht habe und in dem ich mich so wohl gefühlt habe. Aber wie weit lassen sich meine persönlichen Erinnerungen mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit in Einklang bringen? 2. Für die Entstehung dieses Buches bin ich vielen Menschen zu Dank verpflichtet, die davon in
39 RENAN, ERNEST: Qu'est ce qu'une nation? N a c h d r u c k Paris 1934,
S. 25.
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der Regel nichts wissen (und mitunter peinlich berührt sein werden). Gleichwohl gebührt ihnen mein Dank, auch wenn ich sie hier nicht aufzähle. Erwähnen möchte ich Frau Cindy Daase, die mir bei der Literaturbeschaffung, beim Korrekturlesen und beim Einscannen des Bildmaterials viel Zeit erspart hat.
HINWEIS
ZU DEN A N M E R K U N G E N , NACHWEISEN
UND DEN
DEN
BIBLIOGRAPHISCHEN
INTERNETQUELLEN:
Um das Buch in einem überschaubaren Umfang zu halten, habe ich die Zahl der Anmerkungen stark reduziert. Die Auswahlbibliographie am Ende des Werkes enthält nur Titel zur Geschichte Serbiens und der Serben (mit dem Schwerpunkt in der Neuzeit). Diese Titel werden in den Anmerkungen in Kurzform zitiert. Arbeiten, die nicht ins Literaturverzeichnis aufgenommen wurden, werden in den Anmerkungen bibliographisch vollständig nachgewiesen. Dabei handelt es sich v. a. um kleinere Aufsätze, um Arbeiten allgemeinen Charakters oder um solche, die zu Vergleichszwecken herangezogen wurden. Alle zitierten Internetseiten wurden während der Niederschrift des Buches - von Anfang 2005 bis Mitte 2006 - eingesehen, sofern nicht anders angegeben.
ι. Arena der „Erinnerungen"
Mit dem ersten und zweiten serbischen Aufstand von 1804 und 1 8 1 5 gegen die Missstände der osmanischen Herrschaft beginnt die Geschichte der serbischen Staats- und Nationsbildung. Beide Prozesse gingen Hand in Hand, wobei die Staatsbildung zunächst der Nationsbildung davoneilte. Den Aufständen vorausgegangen waren dreieinhalb Jahrhunderte osmanischer Herrschaft, die den rund zweieinhalb Jahrhunderten serbischer Staatlichkeit im Mittelalter ein Ende bereitet hatten. In der romantisch gefärbten Vorstellung des 19. Jahrhunderts erschienen die Staats- und Nationsbildung als „Wiedergeburt" (preporod) oder .Auferstehung" (vaskrs) dessen, was im Mittelalter existiert hatte — als Wiederaufnahme der „goldenen Zeit" vor Beginn der osmanischen Herrschaft, als „Erwachen" der Nation aus ihrem „Tiefschlaf'. 4 0 Die in vielen Teilen Mittel- und Osteuropas verbreiteten Metaphern von der „Wiedergeburt", der „Wiedererhebung" (Risorgimento) bzw. vom „Erwachen" der Nation suggerieren die Kontinuität einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Nation, die durch widrige Umstände (im Fall der Serben: durch das „türkische Joch") unterdrückt worden war und im Lauf des 19. Jahrhunderts aus dem erzwungenen „Tiefschlaf' zu neuem Leben erwachte. Diese vermeintliche Kontinuität oder Zeitlosigkeit ging in die Gründungsmythen der modernen Nation ein.
„ Goldenes Zeitalter " und „ türkisches Joch " Von einer serbischen Nation im Mittelalter kann freilich keine Rede sein. Nach Benedict Anderson ist die Nation „eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän". Vorgestellt sei sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf jedes Einzelnen die Vorstellung ihrer Gemeinschaft vorhanden ist. Die Nation sei zum anderen begrenzt, weil selbst die größte von ihnen in genau bestimmten, 40 Vgl. SMITH, ANTHONY: The „Golden Age" and National Renewal, - in: Myths and Nationhood. Hg. Geoffrey Hosking - George Schöpflin. London 1997, S. 36-59; DIMOU, AUGUSTA: „ . . . and then the Prince kissed Sleeping Beauty". Some Thoughts on Popular Narratives of the Wars of Liberation in the Balkans. A Metaphoric Reading of a Metaphor, - in: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 6 (2004), S. 1 8 7 - 1 9 6 .
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wenn auch variablen Grenzen lebt. Ohne Abgrenzung gegenüber anderen gibt es keine Nation. Die Nation wird drittens als souverän vorgestellt, weil ihr originäres Konzept in einer Zeit entwickelt wurde, als Aufklärung und Revolution die Legitimität der vom Gottesgnadentum abgeleiteten dynastischen Reiche zerstörten. An die Stelle des Gottesgnadentums trat das Freiheitsideal. Und der souveräne Staat wurde zum Maßstab und Symbol dieses Ideals. Schließlich wird die Nation als Gemeinschaft vorgestellt, weil sie unabhängig von real existierender Ungleichheit und Ausbeutung als „kameradschaftlicher" Verbund von Gleichen verstanden wird. Und es war diese fiktive, höchst abstrakte und realitätsferne „Brüderlichkeit", die es in den letzten zweihundert Jahren ermöglichte, dass Millionen von Menschen nicht nur für die Nation töteten, sondern auch bereitwillig für sie gestorben sind. 41 Die Vorfahren der Serben waren zwar in Sprache und sozialer Organisation sowie durch Abstammungsmythen eng miteinander verbunden und standen seit dem letzten Drittel des 1 2 . Jahrhunderts unter ein und demselben Herrscher, aber das hatte sie nicht zur Nation gemacht. Adlige und Bauern, Herrscher und Beherrschte empfanden sich nicht als Gemeinschaft, und ein serbisches Wir-Bewusstsein existierte allenfalls in rudimentärer Form (begrenzt auf einen Teil der höheren Gesellschaftsschicht). Mit Stefan Nemanja, dem Begründer der Nemanjiden-Dynastie, hatte die mittelalterliche serbische Staatsbildung - ausgehend von Raszien (Raska), der Region zwischen den Flüssen Toplica und Ibar - um 1 1 7 0 ihren Anfang genommen. 4 2 Etwa zwanzig Jahre später war die autonome Stellung Serbiens von Byzanz anerkannt worden. Z u Beginn des 1 3 . Jahrhunderts kam das zuvor zum Oströmischen Reich gehörige Kosovo mit einer ethnisch heterogenen Bevölkerung unter serbische Herrschaft. Stefan Nemanjas Söhne, Stefan Nemanjic, der „Erstgekrönte", und Sava, verliehen dem jungen „Staat" durch Erhebung in den Rang eines Königreichs ( 1 2 1 7 ) und Begründung einer selbstständigen (autokephalen) serbisch-orthodoxen Kirche ( 1 2 1 9 ) Stabilität. Religiös und kulturell orientierte sich das Reich der Nemanjiden am byzantinisch-orthodoxen „Modell" und grenzte sich - nach anfänglichem Schwanken - gegen den westlichrömischen Teil Europas ab. Symbolisch fand dies in der Übernahme des byzantinischen doppelköpfigen Adlers als serbisches Herrschaftswappen (in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts) oder in den Fresken des um 1 3 1 5 errichteten Klosters Gracanica bei Pristina
4 1 ANDERSON, BENEDICT: D i e E r f i n d u n g der Nation. Z u r Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt, N e w York 1 9 8 8 , S. 1 6 f. 4 2 G r u n d l e g e n d für die Geschichte bis 1 5 3 7 ist nach wie vor J I R E C E K , CONSTANTIN: Geschichte der Serben. Bd. 1 - 2 . J e n a 1 9 1 1 - 1 9 1 8 ; jetzt auch CIRKOVIC, S.: The Serbs. Z u r Literatur vgl. die kommentierte Bibliographie von SUNDHAUSSEN, HOLM : Serbien, - in: Historische Bücherkunde Südosteuropa. H g . Matthias Bernath. B d . I : Mittelalter. Teil 1 . M ü n c h e n 1 9 7 8 , S. 5 1 7 - 6 3 3 .
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Abb. 1: Der hl. Sava (links) mit Bischöfen, Fresko aus der Apostelkirche in Pec (Kosovo), um 1260.
(Kosovo) seinen Ausdruck. Dort wird der serbische Herrscher Milutin mit allen Insignien der byzantinischen Kaisermacht dargestellt! Sein Nachfolger, Stefan Dusan, der sich zu Ostern 1 3 4 6 in Skopje ohne byzantinische Einwilligung zum Kaiser krönen ließ und den Titel „Stephanus in Christus G o t t frommer Kaiser und Autokrator von Serbien und Romanien" annahm, verstand sich als Selbstherrscher, als „ Z a r aller Serben, Griechen (Rhomäer), Albaner und der Küstenländer". Er erhob den serbischen Erzbischof in den Rang eines Patriarchen (worauf ihn der Patriarch von Konstantinopel mit dem Bann belegte) und strebte die Nachfolge des Oströmischen Reiches (Byzanz'/Romaniens) an. Während seiner 24-jährigen Regierung ( 1 3 3 1 — 1 3 5 5 ) erlangte das Nemanjiden-Reich seine territorial größte Ausdehnung und umfasste nicht nur das heutige Serbien (ohne die Wojwodina), Montenegro und die südliche Adriaküste, sondern auch das heutige Albanien, Makedonien und Nordgriechenland.
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Gleich anderen „Staaten" der damaligen Zeit war das Reich der Nemanjiden ein dynastisches Herrschaftsgebilde mit häufig wechselnden Grenzen, ohne feste Hauptstadt und mit einer ethnisch heterogenen (serbischen, walachischen, griechischen und albanischen) Bevölkerung. Die „Legitimität" ihrer Herrschaft leitete die Dynastie aus der göttlichen Designation ab. Die „von Gott gegebene Herrschaft" und der „von Gott verliehene T h r o n " gehören zu den stehenden Formeln der altserbischen Herrscherbiographien. 43 Wie es in der europäischen mittelalterlichen Historiographie üblich war - im byzantinischen Südosten ebensowie im römischen Westen - erhielten auch die serbischen Herrscher ihre Macht Abb. 2: Fresko des Zaren Stefan Dusan aus der Kirche des Klosters Lesnovo bei Kratovo (Makedonien),
unmittelbar von Gott, gemäß göttlichem A u f
44
ca. 1347/8.
D e r Vergrö
ß e r u n g ihres R e i c h e s ,
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„meines Israel" (wie es bei Stefan Nemanja heißt), dienten dynastische Erbverträge und das „Recht des Eroberers". Doch schon unmittelbar nach Dusans Tod (1355) löste sich das kurzlebige serbische Kaiserreich unter Zar Uros in eine Vielzahl rivalisierender Teilfürstentümer auf. Die Dynastie der Nemanjiden, die 1 3 7 1 mit Dusans Sohn, Uros dem Kind (nejaki Uros), in der männlichen Hauptlinie ausstarb, lässt sich ebensowenig wie ihr „Staat" als „serbisch" im ethnischen Sinn bezeichnen. Wie das langlebige „Heilige Römische Reich Deutscher Nation" kein Nationalstaat war, war auch das Nemanjiden-Reich kein serbischer Nationalstaat. Die Dynastie war stark gemischt, denn die Herrscher aus dem Hause Nemanja wählten ihre Ehefrauen vornehmlich aus nicht-serbischen Herrscherfamilien. Die Mutter und Großmutter von Zar Uros kamen beispielsweise aus einem bulgarischen, die Urgroßmutter aus einem thessalischen Geschlecht. Der Vater, Stefan Dusan, stammte aus einer serbischbulgarischen, der Großvater aus einer serbisch-thessalischen und der Urgroßvater aus einer serbisch-angevinischen Eheverbindung. Die Nemanjiden können nur dann als „serbisches" Geschlecht gelten, wenn man eine rein agnatische Abstammungslinie zugrunde legt, in der 43 Vgl. HAFNER, STANISLAUS: Studien zur altserbischen dynastischen Historiographie. München 1964, S. 64. 4 4 Ebd., S. 7 9 .
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Abb. }: Das zwischen Pec undPrizren (Kosovo) gelegene Kloster (Visoki) Decani wurde zwischen i}2y
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aufBestellung des Königs Stefan Uros III. (Decanski) gebaut. Die prachtvolle königliche Stiftung mit einer monumentalen fünfschifßgen Basilika ist berühmt wegen ihrer Fresken und ihrer Schatzkammer (mit wertvollen Ikonen und Handschriften) und beherbergt auch das Grab des Stifters. 2004 wurde das Kloster von der
UNESCO
in das Weltkulturerbe aufgenommen (ebensowie zwei Jahre später das Kloster Gracanica, 10 km südöstlich von Pristina, eine Stiftung des Königs Stefan Uros II. Milutin).
nur der väterliche Anteil zählt (Patrilinearität). Die ethnische Zugehörigkeit der Mutter spielt dabei keine Rolle. Geht man dagegen von einer kognatischen Abstammungslinie aus, bei der beide Elternteile Berücksichtigung finden, lässt sich die Ethnizität der „serbischen" Herrscher nicht bestimmen. Kurzum: Weder die Herrscher noch ihr „Staat" waren serbischnational im heutigen Sinn, ebensowenig wie die ethnisch-gemischte Kriegeradelsschicht - von den Söldnern u n d den Untertanen ganz zu schweigen. So setzte sich zum Beispiel Stefan Dusans Leibwache aus deutschen Söldnern unter dem K o m m a n d a n t e n Palmann zusammen. Auch die großartigen Kultur- u n d Rechtsdenkmäler aus der Nemanjiden-Zeit - die Klöster, Fresken, Heiligen- u n d Herrscherviten oder das Gesetzbuch (zakonik) Stefan Dusans - lassen sich ebensowie das serbische Kloster Hilandar auf dem heiligen Berg Athos nur bedingt als „serbisch" bezeichnen. Sie sind regionale Ausformungen einer grenzüberschreitenden mittelalterlichen, vornehmlich byzantinisch-orthodox geprägten Kultur u n d
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Zivilisation. Das Nemanjiden-Reich war auch ein Ort der Künstler aus nah und fern, die vom Mäzenatentum der Herrscher angezogen wurden und unvergessliche Meisterwerke hinterließen. Die serbisch-orthodoxe Kirche nahm insofern eine Sonderstellung ein, als sie zwar nicht als „Nationalkirche", sondern als Territorialkirche konzipiert worden war, aber aufgrund ihrer engen Verbindung zu den serbischen Herrschern auf der einen und zur einfachen Bevölkerung auf der anderen Seite eine sprachliche (auf dem Kirchenslawischen basierende) und kulturelle Prägung annahm, die sie nicht nur vom römisch-lateinischen „Abendland", sondern auch von der byzantinisch- bzw. griechisch-orthodoxen Kirche unterschied. Das oströmische Ideal der „Symphonie" bzw. „Harmonie" von Kirche und Staat wirkte sich in der Weise aus, dass die Kirche den Staat und der Staat die Kirche stützte, aber die Kirche dem Staat untergeordnet blieb. Exemplarisch dafür steht das Wirken der beiden Söhne Stefan Nemanjas: des ersten serbischen Königs Stefan Nemanjic und des ersten serbischen Metropoliten Sava. Mehrere Herrscher aus der „heiliggeborenen" (svetorodna) Dynastie der Nemanjiden - der Begründer Stefan Nemanja, sein Sohn Stefan Nemanjic, König Stefan Uros II. Milutin, König Stefan Uros III. Decanski und Zar Uros - wurden von der serbischen Kirche heiliggesprochen, obwohl ihr Lebensstil mitunter alles andere als heilig war. Aber sie waren großzügige Mäzene der Kirche. Und Kriege führten sie allemal. Unter den 69 Heiligen der serbisch-orthodoxen Kirche befinden sich 22 weltliche Herrscher, die vor allem Krieger waren. Kirchenmänner betonen, dass diese „heiligen Krieger" nicht wegen ihrer Kriege und Eroberungen, sondern wegen ihrer Frömmigkeit, ihrer guten Werke und ihres Stiftertums kanonisiert worden seien. Nur gelegentlich wird eingeräumt, dass die sakralen Herrscher und Krieger eher nach den Geboten des Alten als des Neuen Testaments lebten. Doch solange der Mensch gezwungen sei, „Böses zu tun, um sich vor Bösem zu schützen, gibt es keinerlei Sünde".45 Die Vielzahl der Herrscher-Heiligen stellt eine Besonderheit des mittelalterlichen Serbien dar.46 Mit ihren Viten und ihrer Kommemoration wurde auch die Erinnerung an die zwei Jahrhunderte des Nemanjiden-Staates weitergegeben.47
45 Vgl. GROZDIC, BORISLAV D . : Pravoslavlje i rat. Prilog proucavanju shvatanja Srba Ο ratu [Orthodoxie und Krieg. Ein Beitrag zur Erforschung des Kriegsverständnisses bei den Serben]. Beograd 2 0 0 1 , S. 1 0 6 . Das Zitat stammt von dem montenegrinischen Bischof Petar I. Petrovic Njegos, nach: RADOVIC, AMFILOHIJE: Sveti Petar Cetinjski i rat [Der heilige Peter von Cetinje und der Krieg], - in: Jagnje Bozije i zvijer iz bezdana. Filosofija rata [Das Gotteslamm und die Bestie aus dem Abgrund. Eine Philosophie des Krieges]. H g . P. Mladenovic - J . Culibrk. Cetinje 1 9 9 6 , S. 1 9 . 46 Vgl. M I L O S E V I C , D E S A N K A : D i e Heiligen Serbiens. Recklinghausen 1 9 6 8 ; KAMPFER, FRANK: Herrscher,
Stifter, Heiliger. Politische Heiligenkulte bei den orthodoxen Südslaven, — in: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter. Hg. Jürgen Petersohn. Sigmaringen 1994, S. 429 ff. 47 KÄMPFER, FRANK: Nationalheilige in der Geschichte der Serben, — in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 20 ( 1 9 7 3 ) , S. 7 - 2 2 .
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„Den serbischen Staat haben Heilige gegründet", erklärte 1940 der „bedeutendste" serbische Theologe des 20. Jahrhunderts, Nikolaj Velimirovic. Er kenne kein anderes derartiges Beispiel auf der Welt. Die älteste nationale Kirche in Europa (!) sei die Kirche des heiligen Sava, die sich ohne Religionskriege und ohne Machtkämpfe zwischen Kirche und Königen entwickelt habe. Das wichtigste Datum dieser Zeit sei das Jahr 1 2 1 9 , als der heilige Sava beim Patriarchen von Konstantinopel, Manuel I. Sarantenos, und bei Kaiser Theodor I. Laskaris in Nicäa erreichte, dass eine autokephale serbische Kirche gegründet werden konnte. Das sei der Moment gewesen, da nationale Kirche und nationaler Staat geschaffen worden seien, die gemeinsam wie ein Organismus, wie Leib und Seele, durch die Zeit gingen. 48 Savas „edles Ziel war es, aus den Serben eine heilige Nation zu machen, gemäß dem Wort des Herrn: ,Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig'." 49 Dieser Deutung steht entgegen, dass die nationale Ausrichtung der Orthodoxie ein modernes Phänomen ist (wie die Nation selbst). Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren panorthodoxe Vorstellungen weit verbreitet. 50 Noch auf der Großen Synode der griechischorthodoxen Kirchen 1 8 7 2 in Konstantinopel/Istanbul wurde die Regelung religiöser Angelegenheiten unter ethnischen (nationalen) Kriterien als „Fyletismus" scharf verurteilt. Die Autokephalie der einzelnen Kirchen (in vieler Hinsicht vergleichbar den protestantischen Landeskirchen) leitete sich ursprünglich nicht aus der ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit der Gläubigen ab, sondern aus dem Territorialprinzip und der gleichberechtigten, selbstständigen (autokephalen) Stellung der Kirchenoberhäupter. In der Regel handelte und handelt es sich dabei um einen Patriarchen, der nicht von einem übergeordneten Hierarchen ernannt, sondern durch eine Synode der jeweiligen Landesbischöfe gewählt und inthronisiert wird. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wird man die serbische orthodoxe Kirche - allen anders lautenden Bekundungen zum Trotz — nicht als „Nationalkirche" bezeichnen können. Doch unbestreitbar ist, dass sie ein vornationales Wir-Bewusstsein tradierte und mit der Verehrung der Heiligen-Herrscher auch das Andenken an das mittelalterliche „Serbien" (als Territorialherrschaft, nicht als Nationalstaat) wach hielt. Mitte des 14. Jahrhunderts hatte die osmanische Expansion im Balkanraum begonnen. Im kollektiven Gedächtnis der Serben fällt der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) am 28. Juni 1389 eine Schlüsselrolle zu. Sowohl der osmanische Sultan Murad I. als auch der serbische Fürst Lazar Hrebeljanovic, Führer der christlichen Allianz, die sich aus serbischen, bosnischen, albanischen und bulgarischen Kontingenten zusammensetzte, ließen
48 Z i t . nach G R I L L , R . C . : Serbischer Messianismus, S. 1 2 1 f. 49 Zit. nach ebd., S. 1 2 3 . 50 Vgl. K I T R O M 1 LI DES, P A S C H A L I S M . : " I m a g i n e d C o m m u n i t i e s " and the Origins o f the National Question in the Balkans, - in: European History Quarterly 1 9 ( 1 9 8 9 ) , 2, S. 1 4 9 - 1 9 2 .
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auf dem Amselfeld ihr Leben. Lazar (i 3 2 9 - 1 3 8 9 ) hatte am H o f des Zaren Stefan Dusan gedient und eine entfernte Verwandte des Zaren aus einer Nebenlinie der NemanjidenDynastie geheiratet. Im Zuge der Auflösungskämpfe um das Reich hatte er ein beträchtliches Territorium (mit der Hauptstadt Krusevac) erobert und sich den Titel „In Christus Gott frommer und autokratischer Herrscher Serbiens und der Donauländer" angeeignet. 1 3 7 5 war es ihm gelungen, den Streit zwischen der serbischen Kirche und dem Patriarchen von Konstantinopel beizulegen sowie die Anerkennung des serbischen Patriarchats durchzusetzen. Die serbische Kirche stand daher tief in des Fürsten Schuld und sprach ihn kurz nach seinem Tod auf dem Amselfeld heilig. Die spärlichen schriftlichen Quellen über die Schlacht ergeben ein äußerst lückenhaftes und widersprüchliches Bild. Nicht einmal der Ausgang des Kampfes ist zweifelsfrei geklärt: Wer war Sieger, wer Verlierer? A m 20. Oktober 1 3 8 9 schickte der Senat von Florenz, vertreten durch den Humanisten Coluccio Salutati, ein Glückwunschschreiben an den bosnischen Herrscher Tvrtko I., der den serbischen Königstitel trug und formal der Lehnsherr des Fürsten Lazar war. Darin hieß es dankbar und erleichtert: „ . . . denn obwohl unsere Ergebenheit schon seit langem, teils aus Gerüchten, teils aus vielen schriftlichen Nachrichten von diesem Triumph, der Eurer Herrlichkeit vom Himmel beschieden ward, erfahren hatte, und uns auch schon bekannt geworden war, dass am 1 5 . des vergangenen Juni [28. Juni neuen Stils] die hochmütige Tollheit und die tolle Hochmut des Mohammed-Verehrers Murad ... auf dem Felde, das man , Drosselfeld' [sie!] nennt, mit unzähligen Tausenden seiner Leute und mit seinen beiden Söhnen im großen Blutvergießen den Tod gefunden habe . . . Glücklich, drei- bis vierfach glücklich die verschworene Gemeinschaft jener zwölf [!] Edlen, die, nachdem sie die feindlichen Reihen und die ringsum aufgestellten zusammengeketteten Kamele durchbrochen, mit größter Kraft, sich mit den Waffen den Weg bahnend, bis zum Zelte des Murad vordrangen. Glücklich vor allem auch derjenige, der diesem so mächtigen Herrscher das Schwert in die Kehle und in die Leiste stieß und ihn tapfer tötete. Selig alle diejenigen, die in ruhmvollem Martyrium ... über dem Leichnam dieses Ungeheuers ihr Leben und Blut dahingaben." 5 1 Dieses Schreiben mit den ersten mythenbildenden Mosaiksteinen (Gemeinschaft der zwölf Edlen und Martyrium) gibt - ungeachtet seiner zeitlichen Nähe zum Geschehen - mehr Fragen auf, als es beantwortet. Sicher ist, dass die beiden Herrscher im Gefolge der militärischen Auseinandersetzung ums Leben kamen (ermordet bzw. hingerichtet wurden). Das ist fast schon alles. Lazars Nachfolger mussten die Hoheit des Sultans anerkennen; Serbien wurde ein Vasallenfürstentum. Aber erst die Niederlage des ungarischen Reichsverwesers Jänos Hunyadi gegen Sultan Murad II. in der zweiten Schlacht auf dem Amselfeld
51 Zit. nach Braun, M.: „Kosovo", S. 14 f. Vgl. auch die Anweisungen des Rats von Venedig vom 23.7.1389 an ihren Botschafter, Andrea Bembo, ebda. S. 9 ff.
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am 18./19. Oktober 1448 besiegelte die osmanische Hegemonie in Südosteuropa für Jahrhunderte. 1455 wurde Kosovo mit dem Sitz des Patriarchen und zahlreichen Klöstern - das „serbische Jerusalem" - und 1459 der nordserbische Reststaat durch Mehmed den Eroberer in das Osmanische Reich inkorporiert. Das war das definitive Ende des mittelalterlichen serbischen Reiches bzw. dessen, was davon nach dem Tod Stefan Dusans und der Aufsplitterung seines Imperiums übriggeblieben war. Die „Weiße Burg", die Festung Belgrad, die mit zwei kurzen Ausnahmen nicht unter serbischer Herrschaft gestanden, sondern zum Königreich Ungarn gehört hatte, fiel erst 1 5 2 1 in die Hände der Osmanen. Obwohl die Amselfeld-Schlacht von 1448 in ihren Folgen weitaus bedeutender war als die erste Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, ist sie aus dem „historischen Gedächtnis" der Serben verschwunden bzw. mit dem Ereignis von 1389 zu einer einzigen Schlacht zeitlich kontrahiert worden. Wer vom mittelalterlichen Kosovo-Krieg spricht, meint die Schlacht von 1389, die im „Gedächtnis" der Serben präsent ist, als wäre sie gestern geschlagen worden. Die dreieinhalb Jahrhunderte osmanischer Herrschaft in Serbien werden in der Regel als „Fremdherrschaft", „türkisches Joch" oder „asiatisch-islamische Despotie" erinnert (von Begriffen wie „Okkupation" ganz zu schweigen). 52 Mit den historischen „Realia" haben diese Etikettierungen wenig zu tun. Was bedeutet „Fremdherrschaft" in einer Zeit, da die Bevölkerungsmehrheit von jeder Teilhabe an der politischen Macht ausgeschlossen war, ganz egal, wer sich gerade an der Macht befand? Meint „Fremdherrschaft" die ethnische Differenz zwischen Herrschenden und Beherrschten, obwohl diese Differenz fur die Untertanen keine oder allenfalls eine geringe Bedeutung hatte (und umgekehrt) ? Was für die Bauern zählte, war das Ausmaß ihrer Bedrückung oder Unterdrückung - nicht die Ethnizität des Herrn. Oder zielt „Fremdherrschaft" auf die religiöse Differenz zwischen Herrschenden und Beherrschten? War eine islamische Herrschaft für christliche Untertanen „fremder" als eine christliche? Die orthodoxe Geistlichkeit in Konstantinopel, die die Herrschaft der Osmanen einer Kirchenunion mit Rom vorzog, wie sie 1439/42 in Florenz-Ferrara vereinbart worden war, war offenbar anderer Auffassung. Und die „Lateinerherrschaft" im Gefolge des vierten „Kreuzzuges" war für die orthodoxen Führungsschichten des aufgeteilten Byzantinischen Reiches mindestens ebenso „fremd" wie die spätere osmanische Herrschaft. Oder noch sehr viel „fremder". Die Gegensätze zwischen West- und Ostchristentum und Christentum und Islam waren zwar für die Ausformung religiöser/konfessioneller Bindungen und Loyalitäten von großer Bedeutung, stellten aber keine unüberwindbaren Barrieren dar (weder für die Führungsschichten noch fur die Bevölkerungsmehrheit). Wer, wann, aus welchen Gründen etwas als „fremd" oder „besonders fremd" empfunden hat, lässt sich nicht pauschal beant-
5 2 Vgl. HERING, GUNNAR : Die Osmanenzeit im Selbstverständnis der Völker Südosteuropas, - in: Die Staaten Südosteuropas und die Osmanen. Hg. Hans Georg Majer. München 1989, S. 3 5 5-380.
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Worten. Allgemein wird man festhalten dürfen, dass „Fremdherrschaft" in großen Teilen des vormodernen (ostchristlichen, westchristlichen und islamischen) Europa über weite Zeiträume hinweg eher die Regel als die Ausnahme war. Der kometenhafte Aufstieg des Osmanischen Reiches von einem kleinen Stammesfurstentum im Nordwesten Anatoliens zum mächtigsten Staat im Mittelmeerraum (vom Anfang des 14. bis Mitte des 16. Jahrhunderts) ist mit „Willkürherrschaft" und islamischen „Gotteskriegertum" nicht zu erklären. 5 3 Gewiss spielten die Ideologie des „Heiligen Krieges" (dschihad) und der Zustrom von islamischen Glaubenskriegern (ghazi) eine wichtige Rolle in der Anfangsphase der osmanischen Expansion. Ein weiterer Faktor zur Erklärung der osmanischen Erfolgsgeschichte waren die Schwäche und innere Zerrissenheit der damaligen christlichen Staaten (im Balkanraum und darüber hinaus). Die gesamte Balkanhalbinsel war am Vorabend der osmanischen Invasion nicht nur politisch, sondern auch sozial reif für die Eroberung. Die Unterdrückung der Bauern durch die christlichen Feudalherren hatte ein solches Ausmaß erreicht, dass der französische Historiker Fernand Braudel den osmanischen Vorstoß als „Befreiung der Dorfarmut" bezeichnet hat. 5 4 Der religiöse Faktor, die geographische Lage des osmanischen Kernlands in unmittelbarer Nachbarschaft christlicher Staaten sowie die politische und soziale Schwäche dieser Staaten vermögen zwar die kurzfristigen Erfolge der Osmanen zu erklären, aber sie erklären noch nicht, warum ihre Herrschaft nicht ebenso schnell zerfiel wie etwa das Riesenreich von Timur oder die gewaltigen Herrschaftsgebiete anderer Reiternomadenfuhrer. Dass der osmanische Staat über mehr als ein halbes Jahrtausend (vom Anfang des 14. Jahrhunderts bis 1 9 2 3 ) Bestand hatte und sich als Weltreich etablierte, lässt sich mit religiösem Eiferertum und den anderen eben genannten Faktoren allein nicht begründen. Entscheidend waren die inneren (organisatorischen und sozioökonomischen) Faktoren: der Auf- und Ausbau des Staatsapparates (Militär und Verwaltung), die Formierung des osmanischen Pfründen-(nicht Lehens)systems, die Respektierung des Ackerbaus und die Einführung eines wohl geordneten Rechtswesens. Von größter Bedeutung war, dass das osmanische Herrschaftsgebilde schnell alle Attribute vormoderner Staatlichkeit entwickelte und sich unter den Nachfolgern Osmans mehr und mehr eine pragmatische Politik durchsetzte, die sich nüchtern an den Erfordernissen der jeweiligen Situation orientierte und auch zeitweilige Bündnisse mit christlichen Staaten nicht ausschloss. Der Pragmatismus machte sich für die Osmanen gut bezahlt. Mehr als einmal haben militärische Kontingente der christlichen
53 Zur Geschichte der Osmanen und ihrer Herrschaft im Balkanraum vgl. u. a. MATUZ, JOSEF: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. 2. Aufl. Darmstadt 1990; SUGAR, PETER F.: Southeastern Europe under Ottoman Rule, 13 54-1804. Seattle, London 1977. 54 BRAUDEL, FERNAND : Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Bd. 2. Frankfurt 1994, S. 432.
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Vasallen auf dem Balkan (darunter auch Lazars Nachfolger) loyal an der Seite osmanischer Truppen gegen ihre christlichen Glaubensbrüder gekämpft. Vasall zu sein bedeutete nicht nur Unterwerfung, sondern auch Schutz und konnte für beide Seiten von Vorteil sein. Zwar benutzten die Sultane den Dschihad auch weiterhin zur ideologischen Untermauerung ihrer Expansionspolitik, aber sie erkannten, dass mit religiösem Fanatismus allein kein Staat zu machen war. Spätestens seit Anfang des 1 5 . Jahrhunderts (wahrscheinlich schon früher) hatte das Ghasitum als Herrschaftsprinzip ausgedient. Die religiösen Eiferer und Mystiker waren in die Defensive gedrängt ebenso wie die Verfechter eines locker gefügten Herrschaftsverbunds, der die bevorzugte Organisationsform lokaler Nomadenfuhrer in Anatolien darstellte. Der osmanische Staat war — bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein - ein wohl organisierter Machtapparat (wenngleich mit stark zentrifugalen Elementen), der eine Reihe von Institutionen aus dem Byzantinischen Reich in modifizierter Form weiter führte. Und die bedeutenden Herrscher aus dem Hause Osman betrieben selbst dann eine pragmatische Politik, wenn diese im Widerspruch zu den Vorstellungen der religiösen Fanatiker stand. Das Osmanische Reich war ein auf die Person des Sultans ausgerichteter patrimonialer Uberschichtungsstaat. Das Imperium galt als Domäne (patrimonium) des „Hauses Osman". Solange ein herrschendes Mitglied dieses Hauses nicht physisch oder mental behindert war (was nach dem Tod Süleymans I. wiederholt vorkam) und solange er sich als „guter Muslim" präsentierte und die Tradition achtete, war seine Macht theoretisch unbegrenzt. Ihm gehörte jeder Flecken des Patrimoniums, und er war der absolute Herr über alle, die in seinem Patrimonium lebten. In dieser Hinsicht hatte der Sultan dieselbe Macht wie die alten türkischen Stammesoberhäupter oder die Führer der Glaubenskrieger. Der Sultan konnte nach eigenem Gutdünken (nach „freier Willkür", wie Max Weber sagt) ernennen und entlassen, wen er wollte, konnte selbst die höchsten Würdenträger ohne jedes Aufheben hinrichten lassen und ihr Eigentum konfiszieren, und gegen seinen Willen durfte nichts im Reich geschehen. Weber bezeichnet diese Form patrimonialer Herrschaft als „Sultanismus". 55 Es war ein Glück für das Haus Osman, dass seine ersten zehn Herrscher (von Osman bis Süleyman dem Prächtigen, also von den Anfängen des Reiches bis Mitte des 16. Jahrhunderts) fähige Persönlichkeiten waren, die die Elite des Staates nach dem Leistungsprinzip rekrutierten und darauf achteten, dass der innere Frieden im Reich - die Pax Ottomanica - nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Ein anonymer Franzose berichtete 1528 über das Osmanische Reich: „Das Land ist sicher, und es gibt dort keine Nachrichten von Räubern oder Wegelagerern an den großen Straßen ... Der Kaiser [Sultan] duldet keinen Straßenräuber und
5 5 WEBER, MAX : Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. rev. Aufl. Tübingen 1 9 7 6 , S. 1 3 3 f.
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keinen Dieb." 5 6 Diese Feststellung kann für große Teile des abendländischen Europa zu dieser Zeit nicht gelten. Der Bericht mag übertrieben sein, doch einen Ausschnitt der Realität muss er enthalten haben, da das Osmanische Reich wegen seiner Ordnung in den Augen der Christen lange Zeit ebenso bewundernswert wie unverständlich, verwirrend und bedrohlich erschien. 57 Zwischen den Individuen der osmanischen Bevölkerung existierten zwei grundsätzliche Differenzierungen: einmal die Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen und zum anderen die Unterscheidung zwischen „Staatsdienern" (richtiger müsste man sagen: Dienern des Sultans) und dem Rest der Bevölkerung. Im Osmanischen Reich, das von den abendländischen Zeitgenossen zu Unrecht als „türkisches Reich" bezeichnet wurde, war die Ethnizität der Herrschenden und der Beherrschten nebensächlich. Diejenigen, die unmittelbar dem Sultan dienten, waren hauptsächlich, aber nicht ausschließlich Muslime, unter denen die Türken lange Zeit eine (numerische) Minderheit bildeten. Auch die Oberhäupter der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften galten als Mitglieder des Verwaltungsstabs und waren für die Bevölkerung unter ihrer Jurisdiktion verantwortlich. Peter Sugar hat die osmanische Gesellschaftsstruktur mit einer spitz zulaufenden Pyramide verglichen. 58 Die Spitze der Pyramide, die sich aus dem Sultan und seinem Verwaltungs- und Militärstab zusammensetzte, war scharf separiert von der Basis. Die Basis setzte sich aus horizontalen, übereinander liegenden Schichten zusammen, die nach Profession definiert waren. Die Träger des Verwaltungs- und Militärapparats, die „professionellen Osmanen" (askeri), waren gegenüber der übrigen, wirtschaftlich aktiven Bevölkerung - der Reaya (wörtl. der Herde) - abgegrenzt. Zur „Herde" gehörten nicht nur Christen, sondern auch Muslime. Die gesamte Gesellschaft war entsprechend den islamisch-arabischen und türkischen Traditionen von der Spitze bis zur Basis durchgegliedert. Die gesellschaftliche Stellung, die Rechte und die Verpflichtungen jedes Einzelnen waren streng fixiert. Jedes Individuum hatte seinen festen Platz in der Gesellschaft und durfte die Grenze (hadd) seiner persönlichen Position nicht eigenmächtig überschreiten. Die politisch fähigen Sultane vergaben die Amter nach dem Leistungsprinzip. Der langjährige habsburgische Gesandte bei der Hohen Pforte, Ogier Busbecq, stellte in den 50er Jahren des 16. Jahrhunderts erstaunt fest: „Geburt unterscheidet hier keinen von dem andern, Ehre wird jedem nach dem Maße seines Standes und Amtes erwiesen; da gibt es keinen Rangstreit, die Stelle, die man versieht, gibt jedem seinen Rang. Amter aber und Stellen verteilt der Sultan selbst. Dabei
56 Zit. nach BRAUDEL, F.: Mittelmeer, Bd. 2, S. 434. 57 Vgl. KISSLING, HANS JOACHIM: Türkenfurcht und Türkenhoffnung im 15./16. Jahrhundert. Zur Geschichte eines „Komplexes", - in: Südost-Forschungen 23 (1964), S. 1 - 1 8 . 58 SUGAR, PETER. F.: Southeastern Europe (siehe Anm. 53), S. 31 ff.
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achtet er nicht auf Reichtum, nicht auf den Adel, nicht auf jemandes Ansehen oder auf das Urteil der Menge: sondern die Verdienste zieht er in Betracht, Sitten, Begabung und Eignung sieht er an; nach seiner Tugend wird jeder ausgezeichnet. " 5 9 Zum Pragmatismus der Osmanen gehörte auch, dass die christliche Bevölkerung in den eroberten Gebieten keiner systematischen Zwangsislamisierung unterworfen wurde. Denn die nur von nicht-muslimischen Untertanen zu entrichtende Personalsteuer (hara$) war eine wichtige Einnahmequelle, auf die der osmanische Fiskus weder verzichten konnte noch verzichten wollte. Eine Ausnahme stellte die „Knabenlese" (devjirme) dar, die häufig als Beleg für die Praxis des erzwungenen Glaubenswechsels angeführt wird. Ein Großteil der osmanischen Elite in Militär und Verwaltung stammte aus der „Knabenlese", die unter den Jugendlichen der christlichen Balkanbevölkerung in regelmäßigen Abständen durchgeführt wurde und mit einer Zwangsislamisierung und -turkifizierung/-osmanisierung der Betroffenen verbunden war. 60 Primärziel der „Knabenlese" war aber nicht die Islamisierung der Betroffenen, sondern die Rekrutierung einer Elite, die dem Oberherrn im Istanbuler Serail bedingungslos ergeben war. Zur Bindung des Dieners („Sklaven") an seinen Herrn gehörte auch die Übereinstimmung in der Religion. Die Zwangskonversion zum Islam war somit eine Folgeerscheinung des Rekrutierungssystems - nicht ihr ursprüngliches Ziel. Oder anders formuliert: Ausschlaggebend war die Herrschaftsräson - nicht der religiöse Eifer. Die große Mehrheit der christlichen Bevölkerung konnte dagegen ihren Glauben (in der Regel: eher ihren Halbglauben) weiter praktizieren. Die Freiheit der Kultausübung beruhte auf einem Gnadenakt des Sultans und war nicht das Ergebnis von Aushandlungsprozessen wie in West- und Ostmitteleuropa im Zeitalter der Konfessionalisierung. Doch die Kultfreiheit war auch durch das islamische Recht gesichert: Christentum (und Judentum) wurden als monotheistische Buch-Religionen geduldet, ihre Angehörigen standen unter dem Schutz des Großherrn (dhimma-Konzept). Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang von „religiöser Toleranz" gesprochen. Das ist irreführend, sofern unter „Toleranz" die Gleichberechtigung von Islam, Christentum und Judentum verstanden wird. 61 Christen und Juden waren vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt — von Gleichberechtigung konnte keine Rede sein - , aber sie wurden nicht verfolgt (wie die spanischen Juden unter Isabella der Katholischen oder später die Protestanten in verschiedenen europäischen Staaten). Die aus Spanien Ende des ι 5. Jahrhunderts vertriebenen Juden wurden vom Osmanischen Reich
59 Zit. nach MATUZ, J.: Osmanisches Reich, S. 86. 60 Grundlegend PAPOULIA, BASILIKE: Ursprung und Wesen der „Knabenlese" im Osmanischen Reich. München 1 9 6 3 . 61 So auch BINSWANGER, KARL: Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts. M i t einer Neudefinition des Begriffs „ D i m m a " . München 1 9 7 7 . Indem Binswanger vor allem die Unterdrückung betont, fällt er allerdings in das andere Extrem.
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mit offenen Armen aufgenommen. Gleich den Christen gehörten auch sie zu den „Schutzbefohlenen" (dhimmis) des Sultans, solange sie loyal waren und ihre Abgaben entrichteten. Daraus ergab sich eine einfache Aufgabenteilung, ein Geben und Nehmen: Die Reaya (die wirtschaftlich aktive Mehrheit der Bevölkerung) finanzierte den Unterhalt der „professionellen Osmanen", und diese waren für den Schutz des Lebens und des Eigentums der Reaya verantwortlich. In gewissem Sinn zu Recht schrieb daher Voltaire: „Das große türkische Volk regiert friedlich zwanzig Nationen mit verschiedenen Religionen; von ihm können die Christen lernen, wie man Zurückhaltung im Frieden und Edelmut im Sieg übt." 62 In der Glanzzeit des Osmanischen Reiches waren die Abgaben durchaus moderat und deutlich geringer als in vorosmanischer Zeit. Für die Masse der balkanischen Hirten und Bauern stellte die osmanische Eroberung eine soziale Verbesserung dar. Und im Unterschied zu den Bauern in den frühneuzeitlichen Staaten Ostmitteleuropas und Russlands blieben die Bauern unter osmanischer Herrschaft persönlich frei und besaßen ein erbliches Nutzrecht am Boden. Hinzu kam, dass die Christen ihre internen Angelegenheiten weitgehend selbst regeln konnten. Denn der „Ökumenische Patriarch" in Konstantinopel als geistliches Oberhaupt der Orthodoxen unter osmanischer Herrschaft verfügte über Selbstverwaltungsbefügnisse, die weit über die kirchlichen Angelegenheiten hinausreichten.63 Das Osmanische Reich fungierte nicht nur als Schutzwall vor Unionsbestrebungen der römischen Kirche, sondern gewährte dem höheren Klerus auch Aktionsspielräume, von denen ihre Amtsgenossen in den ostchristlichen Staaten nur träumen konnten. Die orthodoxen Christen unter osmanischer Herrschaft bildeten eine Parallelgesellschaft zu Muslimen (und Juden), die jeweils ihr eigenes Leben führten. Ausschlaggebend für die unterschiedlichen Autonomierechte war die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft (unabhängig vom Wohnort der betreffenden Person). Das heißt: Es galt das Personal-, nicht das Territorialprinzip (von einigen Ausnahmen abgesehen). Die Machtfülle des Konstantinopler Patriarchats war allerdings mit einer zunehmenden Gräzisierung der höheren Geistlichkeit verbunden, zumal die serbische orthodoxe Kirche ihren autokephalen Status verloren hatte. 1 5 5 7 wurde jedoch auf Anordnung des Sultans bzw. auf Betreiben des Großwesirs Mehmed Sokolovic (eines aus Bosnien gebürtigen „Renegaten") das serbische Patriarchat mit Sitz in Ipek/Pec (Kosovo) wiedererrichtet und bestand dort bis 1766. Die Rolle der orthodoxen Geistlichkeit unter osmanischer Herrschaft wog umso schwerer, als die vorosmanische weltliche Führungsschicht (Fürsten und Adel) im Zuge der osmanischen Expansion gefallen, geflohen oder zum Islam konver-
62 Zit. nach SCHMIDT-HÄUER, CHRISTIAN : „Wer am Leben blieb, wurde nackt gelassen", in: Die ZEIT Nr. 1 3 v. 2 3 . 3 . 2 0 0 5 , S . 1 6 .
63 Vgl. u. a. RUNCIMAN, STEVEN: Das Patriarchat von Konstantinopel vom Vorabend der türkischen Eroberung bis zum griechischen Unabhängigkeitskrieg. München 1970.
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tiert war. Den Priestern und Mönchen wuchs daher mit der Bewahrung des christlich-kulturellen Erbes eine besondere Verantwortung als Deutungselite zu. Die osmanische „Gesellschafts- und Religionspolitik" war nicht auf Integration der heterogenen Bevölkerungsteile des Reiches, sondern auf Segregation der Glaubensgemeinschaften (millet) bei gleichzeitiger Gewährung von Selbstverwaltungsrechten und unterschiedlicher Privilegien ausgerichtet. Von einem jahrhundertelangen „Kampf der Kulturen" konnte keine Rede sein. 64 Dieser „ K a m p f ' war vielmehr eine Erfindung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Die Realität im Osmanischen Reich sah gänzlich anders aus. Die geistlichen und wirtschaftlichen Führungsschichten der nicht-muslimischen Bevölkerung wurden in die Trägerschichten des Reiches kooptiert. Das hatte für die Unterschichten Vor- und Nachteile. So konnte die christliche Landbevölkerung unter Führung der Kirche ihre inneren Angelegenheiten entsprechend Tradition und Gewohnheitsrecht weitgehend selbstständig regeln, zumal der osmanische Verwaltungsapparat nicht über die Städte hinaus reichte. Zugleich wurden damit aber auch altertümlich anmutende soziale Organisationsformen konserviert, die schließlich die Modernisierungsanstrengungen in den postosmanischen Staaten des 19. Jahrhunderts erheblich erschweren sollten.
Altbalkanische Gesellschaftsordnung Das stereotype Bild von der „türkischen Despotie" verdrängt die Tatsache, dass nicht nur große Teile der Eliten im Osmanischen Reich nicht-türkischer Herkunft und nicht-islamischen Glaubens waren, sondern dass es im Reich auch vielfältige Formen von Autonomie auf unterschiedlichen Ebenen gab. Für die Nicht-Eliten zählte neben der erwähnten Selbstverwaltung der Glaubensgemeinschaft vor allem die Autonomie auf lokaler Ebene. Die überwältigende Mehrheit der altbalkanischen Bevölkerung waren Ackerbauern und Hirten, die ein bescheidenes, einfaches Leben führten - fernab der großen wirtschaftlichen, geistigen und technischen Umwälzungen in West- und Mitteleuropa. Zwischen Stadt und Land bestand eine tiefe, fast unüberbrückbare Kluft. Die Städte waren Sitz der osmanischen Bürokratie und Armee, der islamischen Geistlichkeit, der in Zünften (esnaf) organisierten Gewerbetreibenden sowie der überregionalen Händler und Kaufleute, die sich v. a. aus „Griechen", Ragusanern (Angehörigen der Stadtrepublik Dubrovnik), Armeniern, Juden,
64 Anders z. B. BATAKOVIC, DUSAN T.: KOSOVO and Metohija - a Clash of Civilizations, wo es heißt: „ . . . the defeat at Kosovo marked the beginning of the five centuries long clash between Christianity and the Islamic World. This struggle continues to this day, and its most visible manifestation is the struggle between the Serbs, mainly Orthodox Christians, and the ethnic Albanians, mainly Muslims": www.kosovo.com/batak6.html.
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Zinzaren (Aromunen) u. a. zusammensetzten. 65 Neben den jüdischen nahmen insbesondere die orthodoxen Fernhändler bald eine führende Position im Wirtschaftsleben des Reiches ein. 6 6 Die ethnische Zuordnung der Stadtbewohner bleibt häufig unklar. Nicht jeder Muslim war ein ethnischer Türke. Und nicht jeder, der sich des Griechischen als „lingua franca" des Fernhandels bediente oder sich als orthodoxer Christ zum (griechischen) Patriarchat in Konstantinopel bekannte, war ein ethnischer Grieche. Für viele spielte die Ethnizität (im Unterschied zu Religion und Profession) keinerlei Rolle. Kurzum: Die Städte besaßen eine multikonfessionelle, multilinguale und multiethnische Bevölkerung, die sich in der Regel scharf von der Bevölkerung des Umlandes unterschied. Auf dem Lande dominierte eine Form sozialer Organisation, die in Anlehnung an Emile Dürkheim als „segmentate Gesellschaft" bezeichnet werden kann. 6 7 Segmentäre (im Unterschied zu komplexen) Gesellschaften sind wenig ausdifferenzierte, zahlenmäßig und territorial überschaubare Gemeinschaften, ζ. B. in Form von Dorfgemeinschaften, Stämmen oder kleineren Abstammungsgemeinschaften, in denen jeder (oder fast jeder) jeden kennt. Gemeinsame Abstammung und Verwandtschaft (in agnatisch-patrilinearer Linie mit entsprechendem Ahnenkult) bilden die Basis der sozialen Organisation. Segmentäre Gesellschaften sind nicht frei von Macht, kennen aber keine institutionalisierte Herrschaft in ihrer Mitte d. h. sie sind herrschaftsfrei (akephal) - und sozial weitgehend egalitär (was eventuelle „gottgegebene" Ungleichheiten innerhalb der Gruppe nicht ausschließt). Wichtige Beschlüsse werden gemeinsam von allen erwachsenen Männern getroffen („Face-to-face-Demokratie"). Die sozialen Beziehungen orientieren sich am Gewohnheitsrecht bzw. an dem, was durch Sitte und Brauch legitimiert ist. Das Gemeinschaftsleben ist für alle Mitglieder unmittelbar überschaubar und einsichtig. Das Individuum spielt keine Rolle (von „Helden" abgesehen), da der Zwang zur Gemeinschaft - schon aus Überlebensgründen — stark ausgeprägt ist. Dies gilt vor allem dort, wo die segmentäre Gesellschaft gegenüber einem übergeordneten Staat kollektiv für Steuerabgaben und für Straftaten, die in ihrer Mitte begangen werden, haften und wo sie für die Sicherheit ihrer Mitglieder in Zeiten um sich greifender Rechtlosigkeit
65 Vgl. u. a. The Balkan City, 1 4 0 0 - 1 9 0 0 . Hg. Nikolai Todorov. Seattle 1 9 8 3 ; KISSLING, HANS-JOACHIM: Die türkische Stadt auf dem Balkan, - in: Die Stadt in Südosteuropa. Struktur und Geschichte. Red.: KlausDetlev Grothusen. München 1 9 6 8 , S. 7 2 - 8 3 ; PAPOULIA, BASILIKE: Soziale Struktur und kulturelle Entwicklung der Städte in Südosteuropa während der Türkenherrschaft, - in: Structure sociale et developpement culturel der villes sud-est europeennes et adriatiques aux X V I I ' - X V I I I 1 ss. Bukarest 1 9 7 5 , S. 2 6 7 - 2 7 8 ; Gradska kultura na Baikanu ( X V - X I X vek) [Die städtische Kultur auf dem Balkan ( 1 5 . - 1 9 . Jh.)]. Hg. Radovan Samardzic. Beograd 1 9 8 4 ; VINAVER, VUK: Dubrovacka trgovina u Srbiji k r a j e m X V I I veka [Der Ragusaner Handel in Serbien Ende des 17. Jh.s], - in: Istorijski casopis 1 2 - 1 3 ( 1 9 6 3 ) , S. 1 8 9 - 2 3 7 . 66 Vgl. STOIANOVICH, TRAIAN : The Conquering Balkan Orthodox Merchant, - in: Journal o f Economic History 2 0 ( I 9 6 0 ) , S.
234-313.
67 DÜRKHEIM, EMILE: D e la division du travail social. Paris 1 8 9 3 .
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und Unsicherheit sorgen muss. Das Gemeinschaftseigentum an Weiden und Wäldern oder der Flurzwang schmieden die Mitglieder der Dorfgemeinschaft bzw. des Stammes zu einer ökonomischen - nach Autarkie strebenden (und damit v o m Markt so weit wie möglich unabhängigen) - Einheit zusammen, die nach einem sozial normierten Bedarfsdeckungsprinzip wirtschaftet (Subsistenzwirtschaft). Die segmentäre Gesellschaft stellt sich somit als multifunktionale, aber wenig ausdifferenzierte und wenig arbeitsteilige soziale Organisation mit einem dichtmaschigen Netz wechselseitiger Verpflichtungen der Mitglieder dar. W i e die Zivilgesellschaft, so füllt auch die segmentäre Gesellschaft im Rahmen eines Überschichtungsstaats den öffentlichen R a u m zwischen staatlicher und privater Sphäre aus. Aber im Unterschied zur Zivilgesellschaft akzeptiert die segmentäre Gesellschaft keine individuellen Abweichungen von der N o r m und keinen Pluralismus. Gemäß dem rigiden Normensystem ist die Gemeinschaft alles, der Einzelne (von Helden und Honoratioren abgesehen) nichts. U n d auch der Held in seiner Einsamkeit ist nur insoweit und so lange Held, wie er die gemeinschaftlichen Ideale verkörpert. Die segmentäre Gesellschaft ist ebenso Solidar- wie Zwangsgemeinschaft; sie sorgt und haftet fur ihre Mitglieder, duldet jedoch keine Innovationen, da Innovationen schon per se gegen die Tradition verstoßen. D a die irdischen Güter als gott- oder naturgegeben verstanden werden und als nicht vermehrbar gelten, stellt sich ihre Umverteilung als Null-Summen-Spiel dar: was einer gewinnt, muss zwangsläufig ein anderer verlieren. 68 Solche Gemeinschaften lassen keine wirtschaftliche Eigeninitiative des Individuums zu und schließen den, der es dennoch versucht, aus der Gemeinschaft aus. Der Neuerer wird zu einem asozialen Element (im eigentlichen Sinne des Wortes). (Während es in der komplexen, modernen Gesellschaft die untersten, an den sozialen Rand gedrängten Schichten sind, die als asozial stigmatisiert werden, ist es in der segmentären Gesellschaft umgekehrt: D o r t sind es die Neuerer, die Innovatoren und Erfolgreichen, die als asozial — weil gemeinschaftsgefährdend und gemeinschaftssprengend - gelten.) Die Ablehnung der Umverteilung von Gütern gilt allerdings nur im Inneren der Gemeinschaft. Sie gilt nicht für den Handel mit Fremden, auch nicht für den R a u b fremden Eigentums. Gleichwohl sind vormoderne segmentäre Gesellschaften keine „gesetzlosen" Gemeinschaften. Sie besitzen einen strengen Regelkodex, der auf Überleben und Reproduktion angelegt ist und eine strikte Kooperation der Gemeinschaftsmitglieder voraussetzt. 6 9 D o c h das G e w o h n -
68 Dazu allgemein FOSTER, GEORGE M.: Peasant Society and the Image of Limited G o o d , - in: American A n thropologist 67 (1965), S. 2 9 3 - 3 1 5 . 69 Vgl. dazu allgemein WESEL, UWE: Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften: Umrisse einer Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen Ackerbauern und Hirten. Frankfurt/ M . 1 9 8 5 . Z u m Gewohnheitsrecht auf dem Balkan vgl. die Beiträge im Sammelband Obicajno pravo i samouprave na Baikanu i u susednim zemljama. (Le droit coutumier et les autonomies sur les Balkans et dans les pays voisins). Hg. Vasa Cubrilovic. Beograd 1 9 7 4 .
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heitsrecht dient nur der Konfliktregelung innerhalb der geschlossenen und weitgehend homogenen Gruppe, die keine „Minderheiten" kennt. Wer nicht dazugehört und damit nicht in den Geltungsbereich des jeweiligen Gewohnheitsrechts fällt, steht außerhalb des Rechts. Konflikte zwischen den Gemeinschaften werden durch Blutrache und/oder Vereinbarungen geregelt.70 Wo keine Vereinbarung zustande kommt, gilt das „Recht des Stärkeren" in Gestalt von Fehden, Überfallen, Viehdiebstahl und Kriegen. Im Osmanischen Reich genossen die lokalen Gemeinschaften lange Zeit ein hohes Maß an Autonomie. Am deutlichsten ausgeprägt war die segmentate Gesellschaft in den schwer zugänglichen Gebirgsregionen Montenegros und Nordalbaniens, wo jeweils rund 30 Stämme lebten. 71 In den historischen Quellen werden sie erstmals im 14. Jahrhundert erwähnt. Ob sie weiter in die Vergangenheit zurückreichen oder erst nach der osmanischen Eroberung entstanden sind, ist bis heute umstritten. Die montenegrinischen (und albanischen) Stämme entwickelten sich in Gebieten, in denen eine transhumante Schaf- und Ziegenzucht betrieben wurde. Sie verstanden sich als Abstammungsgemeinschaften und leiteten ihre Herkunft von einem (in der Regel fiktiven) männlichen Urahnen ab. Die einzelnen Stämme waren in sich geschlossene Verbände, die in einem lockeren Abhängigkeitsverhältnis zum Osmanischen Reich standen und von diesem toleriert wurden, sofern sie ihre Abgaben entrichteten. 72 Die unterste Einheit des Stammes bildete die Hausgemeinschaft mit kollektivem Grundbesitz und Gütergemeinschaft. Die nächstgrößere Einheit war die Sippe oder Bruderschaft (bratstvo), die sich aus mehreren miteinander verwandten Hausgemeinschaften zusammensetzte. Mehrere Bruderschaften bildeten einen Stamm, an dessen Spitze ein gewählter Anführer (vojvoda, knez oder glavar) und ein Ältestenrat standen. Wichtigstes Entscheidungsorgan war die Stammesversammlung (zbor), die zumeist einmal pro Jahr einberufen wurde. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert hatte sich in Gestalt des orthodoxen Bischofs von Cetinje eine stammesübergreifende Autorität im montenegrinischen Raum herausgebildet. Das Amt des (Fürst-) Bischofs (vladika) bzw. ab 1 8 5 2 des weltlichen Fürsten wurde seit dieser Zeit bis 1 9 1 8 unter den Mitgliedern der Familie Petrovic Njegos (aus der Bruderschaft: Herakovic des Stammes Njegusi) vererbt. Beginnend mit Vladika Danilo ( 1 6 9 7 - 1 7 3 5) versuchten die Fürstbischöfe gegen erheblichen Widerstand der Stämme, die tribalistischen Kämpfe zu beenden und stammesübergreifende (d. h. montenegrinische) Institutionen aufzubauen. Damit bahnten sie den Weg zu einem
70 Vgl. BOEHM, CHRISTOPHER: Blood Revenge. The Enactment and Management of Conflict in Montenegro and Other Tribal Societies. Kansas 1984. 71 Vgl. VUKOSAVLJEVIC, SRETEN: Organizacija dinarskih plemena [Die Organisation der dinarischen Stämme]. Beograd 1957.
7z Dazu ausführlich
DJURDJEV, BRANISLAV:
Turska vlast u Crnoj Gori u
Macht in Montenegro im 16. und 17. Jh.], Sarajevo 1953.
XVI i XVII veku [Die türkische
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montenegrinischen Staat, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich konkrete Gestalt annahm. 73 Für die Bauern in der Sumadija waren die erweiterte Familie (wie bei den Montenegrinern) und die Dorfgemeinschaft (anstelle des Stamms) die mit Abstand wichtigsten sozialen Organisationsformen unter osmanischer Herrschaft. 74 Von der erweiterten Familie, die bei den Serben ebenso wie in anderen Teilen des vormodernen Europa als „Haus" (kuca) bezeichnet wurde, wird im Kontext der Wandlungsprozesse des 19. Jahrhunderts noch zu sprechen sein. Hier genügt ein Blick auf das Dorf (selo), das nicht nur ein Siedlungstyp, sondern in erster Linie eine Primärgruppe war. Wie in anderen Teilen der vormodernen Welt, so war auch in Serbien „der entwicklungsgeschichtlich geprägte Normalzustand des Menschen seine Einbindung in eine Kleingruppe. Entwicklungsgeschichtliche Prägung will heißen", so Wolfgang Reinhard in seiner historischen Kulturanthropologie Europas, „dass grundlegende menschliche Verhaltensmuster weder an der Einzelexistenz noch an der Großgruppe orientiert sind, sondern an der Kleingruppe. Kulturell wird der Mensch weder als autonomes Individuum geboren und primär sozialisiert, noch als Staatsbürger, sondern als Sippenmitglied oder Dorfbewohner." 75 Das (serbische) Dorf mit seiner Selbstverwaltung galt als „heilige" Institution (wie andernorts der Stamm). 7 6 Hauptgegner war der Staat, sobald er sich in die Angelegenheiten des Dorfes einmischte, wobei es ziemlich belanglos war, ob es sich um einen „National"- oder einen „fremden" Staat handelte. Als wichtigstes Organ der Kleingruppe fungierte die Dorfversammlung (seoski zbor), das Beratungs- und Beschlussgremium aller erwachsenen Männer. Diese wählten aus ihrer Mitte einen Dorfvorsteher (seoski kmet oder seoski knez), der als „primus inter pares" an die Beschlüsse des „Dorfes" gebunden war und es nach außen, gegenüber anderen Dorfgemeinschaften und gegenüber den Repräsentanten der osmanischen Macht, vertrat. Das „ D o r f ' war so-
73 Vgl. GLÖTZNER, VICTOR: Vom Stammesverband zum Staat. Montenegro von 1796 bis 1 8 5 1 , - in: Südosteuropa unter dem Halbmond. Untersuchungen über Geschichte und Kultur der Südosteuropäischen Völker während der Türkenzeit. Hg. Peter Bartl - Horst Glassl. München 1 9 7 5 , S. 7 3 - 8 6 ; HEER, CASPAR: Territorialentwicklung und Grenzfragen von Montenegro in der Zeit seiner Staatswerdung ( 1 8 3 0 - 1 8 8 7 ) . Bern 1981. 74 Dazu allg. STAHL, PAUL Η.: Houesehold, Village and Village Confederation in Southeastern Europe. New York 1 9 8 6 ; MARCU, L. P.: Quelques aspects de l'ancienne organisation des communautes villageoises dans le Sud-Est de ['Europe (jusqu'a la fin du XIX C siecle), - in: Recueils de la Societe Jean Bodin 45 (1986), S- 37-47· 75 REINHARD, WOLFGANG: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004, S. 266. 76 Z u m Dorf als gesellschaftliche Institution vgl. u. a. NOVAKOVIC, STOJAN : Selo [Das Dorf]. 2. Aufl. Beograd 1 9 4 3 ; DJORDJEVIC, T.: Selo kao drustvena zajednica, S. 129— 1 3 8 ; DERS.: Selo kao sud, S. 2 6 7 - 2 8 7 ; PAVKOVIC, NIKOLA Ε : Le village en tant que communaute rituelle et religieuse. (Slaves der Balkans, X V I I P XX e s.), — in: Recueils de la Societe Jean Bodin 45 (1986), S. 57—75.
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wohl Verwaltungs- und Gerichtseinheit wie Verteidigungsgemeinschaft. Es entschied nach Herkommen und Brauch und besaß weitreichende jurisdiktioneile und polizeiliche Funktionen. Es durfte Frauen steinigen, die beim Ehebruch ertappt wurden, konnte die Prügelstrafe gegen Gesetzesbrecher verhängen und sie öffentlich an den Pranger stellen, konnte selbst bis ins 19. Jahrhundert hinein noch Todesstrafen aussprechen, die von „angesehenen Leuten" der Gemeinschaft vollstreckt wurden. Die Abgaben an den osmanischen Staat und seine Repräsentanten vor Ort (in der nächstgelegenen Stadt) wurden gemeinschaftlich entrichtet. Für Straftaten, die auf dem Territorium des Dorfes begangen wurden, haftete die Dorfgemeinschaft insgesamt. Zwischen den Dörfern bestanden auf regionaler Ebene (in den osmanischen Verwaltungsbezirken: Nahije) mehr oder minder lockere Verbindungen, die vornehmlich in Zeiten gemeinsamer Bedrohung festere Gestalt annahmen. Auch diese Distriktgemeinschaften (knezine) basierten auf dem Prinzip von Egalität und Wahl. An ihrer Spitze stand der „nahijski knez". 77 Einen serbischen Adel gab es unter osmanischer Herrschaft nicht. Aber die „Knezen" und „Ältesten" mit ihren „Familien" bildeten eine inoffizielle Honoratiorenschicht, eine Art Adelssubstitut. Der Einfluss dieser „Familien" bemaß sich weniger an ihrem Besitz als am patriarchalen Wertesystem: an Autorität, Klugheit, Beredsamkeit des Haushaltsvorstands sowie an Tapferkeit, Ehrenhaftigkeit und Sittenstrenge der „Familien"-Mitglieder. Wie erwähnt, hat sich der osmanische Verwaltungs- und Militärapparat lange Zeit aus den inneren Angelegenheiten des „Dorfes" herausgehalten. Erst in der Verfallszeit des Reiches kam es zu einer dramatischen Veränderung, die weitreichende Konsequenzen zeitigte.
Wanderungen zwischen Räumen und Kulturen Nach dem Tod Sultan Süleymans des Prächtigen (1566) zeigten sich erste Anzeichen einer inneren Krise im Osmanischen Reich. Verantwortlich dafür waren mehrere unfähige Sultane und eine dauerhafte Finanzkrise, die zur Erhöhung der Steuer- und Abgabenlast, zu Münzverschlechterung und Inflation führte, sowie das Bestreben der Leistungseliten, ihre Ämter und Würden erblich zu machen und damit das meritokratische Prinzip zu unterlaufen. Dem auf die Person des Sultans zugeschnittenen Herrschaftssystem fehlten die formalisierten, versachlichten Instanzenwege, mit denen die Schwäche von Herrscherpersönlichkeiten hätte ausbalanciert werden können. Die Funktionsfähigkeit des Staatsapparats stand und fiel mit den Fähigkeiten des Sultans. Auch begabte Großwesire (zum Beispiel die aus
77 Vgl.
ausführlich GUZINA, R.: Knezina; ferner PAVLOWITCH, STEVAN : Society in Serbia,
1791-1830, -
Balkan Society in the Age of Greek Independence. Hg. Richard Clogg. London 1 9 8 1 , S. 1 3 7 - 1 5 6 .
in:
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der albanisch-stämmigen Familie Köprülü im 1 7 . / 1 8 . Jahrhundert) konnten dieses systemimmanente Defizit nicht dauerhaft überwinden. Die schleichende Erosion des Reiches nahm ihren Anfang im Serail des Sultans und ergriff immer größere Teile des Militär- und Verwaltungsapparats. Die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erkennbaren Verfallssymptome wurden durch den für Istanbul ungünstigen Verlauf der „Türkenkriege" verschärft. Nicht nur dass die Expansion des Reiches weitgehend zum Stillstand kam - bald folgten auch territoriale Verluste und damit der Verlust von Pfründen, wodurch es immer schwieriger wurde, die „professionellen Osmanen" angemessen zu besolden. Ämterkauf, Verpachtung von Staatseinnahmen, weitere Münzverschlechterungen und die Erhöhung der Abgabenlast leiteten einen sozioökonomischen Teufelskreis ein. Ende des 16. Jahrhunderts erhöhte sich die Belastung der osmanischen Bauernschaft um das Sechsfache. In Anatolien brachen wiederholt Revolten aus, und auf dem Balkan mehrten sich die Unruhen unter der christlichen (und muslimischen) Bevölkerung. Ungeachtet einiger erfolgreicher Gegensteuerungsversuche gelang es nicht, die strukturelle Krise des osmanischen Herrschaftssystems in den Griff zu bekommen. Insbesondere an den Peripherien des Reiches verstärkten sich zentrifugale Tendenzen, die von der Zentrale nicht dauerhaft eingedämmt werden konnten. Während mit Absolutismus und aufgeklärtem Absolutismus in vielen europäischen Staaten die Fundamente für den modernen Territorialstaat gelegt wurden, setzte sich die Erosion des „sultanistischen" Systems fort. Namentlich die Janitscharen, die einst aus der „Knabenlese" hervorgegangene Infanterie der osmanischen Armee und zugleich ihre Elite, wurden zu einem Faktor innerer Unsicherheit. Besoldungsprobleme und die Aushöhlung des ursprünglichen Rekrutierungsverfahrens unterminierten die Disziplin der Truppe. Auch die mit Pfründen (in Form bäuerlicher Abgaben von einem Landgut: timar) versorgten Reiter (spahis) aus dem Provinzialaufgebot konnten nicht mehr materiell zufriedengestellt werden, so dass sich ihr Aufgebot zunehmend schwieriger gestaltete. Die Mitglieder des Militär- und Verwaltungsapparats griffen immer häufiger zur Selbsthilfe oder versuchten, sich ungeniert zu bereichern. Die „Hohe Pforte" sah sich außerstande, die Eigenmächtigkeiten osmanischer Provinznotabein (ayane) und Truppenteile unter Kontrolle zu bringen. Die Erosion der „pax ottomanica" sowie die „Türkenkriege" (zunächst unter habsburgischer, dann unter russischer Führung) verstärkten die Migrationen, durch die die ohnehin komplizierten ethnischen Siedlungsverhältnisse im Balkanraum und in den angrenzenden Gebieten weiter nachhaltig durcheinandergewirbelt wurden. Die Geschichte dieses Raums war schon seit der Völkerwanderungszeit zu wesentlichen Teilen eine Migrationsgeschichte, die erst seit dem 19. Jahrhundert in das Zwangskorsett der „Nationalgeschichte" gepresst wurde. Die Balkangeschichte aus der Perspektive der Wanderungen zu schreiben erbrächte ein sehr viel wirklichkeitsnäheres Bild, als es die verzerrende und extrem konstruierte Nationalgeschichte offeriert. Auch die „serbische Geschichte" ist bis in die späte Neuzeit hinein
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in erster Linie Migrationsgeschichte. 78 Zwei Formen der Wanderung standen während der osmanischen Herrschaft im Vordergrund: der Wohnortwechsel innerhalb des entgrenzten Balkanraums (binnenimperiale Wanderungen) auf der einen und die transimperialen Wanderungen aus dem Osmanischen Reich in die Gebiete des habsburgischen, venezianischen oder russischen Imperiums auf der anderen Seite. Die Binnenwanderungen nahmen während der osmanischen Verfallszeit deutlich an Intensität zu. Teile der ländlichen Bevölkerung in den verkehrsoffenen Ebenen wichen vor dem wachsenden Steuerdruck, den Willkürmaßnahmen der Provinznotabein oder den Auswirkungen der Kriege in die besser geschützten, verkehrsfeindlichen Gebirgsregionen (ζ. B. Montenegros und der Herzegowina) aus. Bauern wurden zu Viehzüchtern und Halbnomaden. Doch sobald die natürlichen Ressourcen in den Gebirgskammern infolge von Bevölkerungsvermehrung oder natürlicher Katastrophen erschöpft waren, setzte eine Rückwanderung ein. 79 Diese Pendelbewegungen zwischen Ebenen und Gebirgen trugen zur Konservierung oder Regenerierung archaischer Lebensformen bei, die sich bei den halbnomadischen Stammesgesellschaften im dinarischen Gebirge besser erhalten konnten als bei der Ackerbau treibenden Bevölkerung im Flachland. Ohne einem geographischen Determinismus zu verfallen, spricht vieles fur die - freilich oft ins Mythische überdehnte - These, dass das dinarische Gebirge, das sich entlang der Adriaküste von den slowenischen bis zu den albanischen Alpen erstreckt, stellenweise als ökologische Nische fungierte, die ihren Bewohnern einen Lebensstil aufewang, der sich von dem in den Ebenen deutlich unterschied. Dieser Umstand lieferte die Folie für die Konstruktion eines „dinarischen Menschentyps", von dem an anderer Stelle noch zu sprechen sein wird. Dass die Gebirge im nationalen Narrativ zu einem „lieu de memoire" wurden, 80 sei bereits vorweggenommen. Doch zurück zu den Migrationen und ihren Folgen. „Mouvements metanastiques" nennt Cvijic die Wohnortwechsel im Inneren des balkanischen Raums. „Diese Siedlungsbewegungen dauerten während der ganzen Türkenzeit an, also ein halbes Jahrtausend lang, unterschiedlich nach Masse, Stärke und Reichweite. Kolonisationsboden ist hauptsächlich das Stromgebiet von Save, Drau, Donau und Theiß, wo die Kolonisten mehr als die Hälfte aller Bewohner ausmachen, sowie das Königreich Serbien in seiner Größe vor 1 9 1 2 . (...) 78 Uberblicke bei KATSIARDI-HERING, OLGA: Migrationen von Bevölkerungsgruppen in Südosteuropa v o m 1 5 . Jahrhundert bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, - in: Südost-Forschungen 59/60 (2000/01), S. 1 2 5 - 1 4 8 ; SUNDHAUSSEN, HOLM: Südosteuropa, - in: Migration - Integration - Minderheiten seit dem 1 7 . Jahrhundert. Eine Europäische Enzyklopädie. H g . Klaus J. Bade [u. a.] [in Vorbereitung]. 79 Dazu noch immer grundlegend C V I J I C , JOVAN: Metanastazicka kretanja. Njihovi uzroci i posledice [Metanastasische Wanderungen. Ihre Ursachen und Folgen]. Beograd 1 9 2 2 ; ferner ANTONIJEVIC, DRAGOSLAV: Cattlebreeders' Migrations in the Balkans through Centuries, - in: Migrations in Balkan History, S. 1 4 7 156. 80 Vgl. dazu kritisch BRUNNBAUER, ULF - PICHLER, ROBERT: Mountains as „lieux de memoire". Highland values and nation-building in the Balkans, - in: Balkanologie 6 (2002), 1—2, S. 77—100.
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Die Umwanderer zogen auf den naturgegebenen Wegen der Flusstäler aus dem Inneren des dinarischen und des Zentralgebietes nach Norden zu, kolonisierten dabei strichweise, spalteten sich und vereinigten sich mit anderen Zügen, zogen weiter, bis sie im Ganzen oder in Teilen sesshaft wurden." 81 Ein Großteil der Einwohner Serbiens im 19. Jahrhundert war daher nicht altansässig. Im Morava-Becken sowie in den Kreisen Valjevo und Podrinje waren es nicht mehr als 20 %. Und in extremen Fällen machten die Altansässigen nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtbevölkerung aus, so ζ. B. in der Region Takovo in der Sumadija (Hauptort: Gornji Milanovac), wo ihr Anteil weniger als 1 % betrug. 82 Eine Zusammenstellung vorliegender ethnographischer Daten für zehn Teilregionen des heutigen Serbien ergibt, dass nur 4,3 % der ermittelten Familien alteingesessen waren. 34,2% waren bis zum Ende des 18. und 61,5 % erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugewandert. 83 Auch die grenzüberschreitenden Migrationen nahmen an Intensität zu. Zielgebiete waren die Habsburgermonarchie, insbesondere das damalige Südungarn sowie die habsburgische „Militärgrenze" auf kroatisch-slawonischem Boden, darüber hinaus venezianisches und russisches Territorium. Als Gegenleistung fur ihre militärischen Dienste erhielten die als Wehrbauern angesiedelten „Grenzer" (die Walachen/Vlachen, wie sie in den Quellen zumeist genannt werden) in der kroatischen und slawonischen „krajina" (Grenze) eine Reihe von Privilegien. 84 Unter der Vielfalt transimperialer Migrationen heben sich hinsichtlich ihrer Bedeutung im „kollektiven Gedächtnis" die Nordwanderungen der Serben während des 17. und 18. Jahrhunderts hervor. Sie gehören bis heute zu den wichtigsten serbischen „Erinnerungsorten". 85 In mehreren Wellen flüchtete damals ein Großteil der Bewohner des Morava-Vardar-Beckens, Kosovos, der Ibar-Region und der ostserbischen Gebiete aus ihrer Heimat, zog über die Save und Donau nach Norden und Nordwesten und ließ sich
81 GESEMANN, GERHARD: Volkscharaktertypologie der Serbokroaten, - in: Jahrbuch der Charaktertypologie 5 (1928), S. 186. 82 Einzelheiten bei FILIPOVIC, MILENKO: Takovo. Beograd i960. 83 KONSTANDINOVIC, N.: Beogradski pasaluk, S. 46. 84 Ausführlich dazu KÄSER, KARL: Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze ( 1 5 3 5 - 1 8 8 1 ) . Köln, Wien, Weimar 1997. 85 „Da das Wort .Erinnerungsort' zu Missverständnissen führen kann, sei hier ... daran erinnert, dass es sich nicht um einen Begriff im philosophisch-analytischen Sinne handelt, sondern um eine Metapher. Dieses Bild, das von der klassischen römischen Mnemotechnik, also von der räumlichen, nicht narrativen Anordnung von Gedächtnisinhalten nach loci memoriae übernommen wurde, geht nach Jan Assmann von der Beobachtung aus, dass ,das kulturelle Gedächtnis sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit' richtet, die zu .symbolischen Figuren' gerinnen, an die sich die Erinnerung haftet'. (...) Dergleichen Erinnerungsorte können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke ... Wir verstehen also ,Ort' als Metapher, als Topos im buchstäblichen Wortsinn." FRANCOIS, ETIENNE-SCHULZE, HAGEN: Vorwort, - in: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. Diess. Bd. 1. München 2001, S. 17 f.
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auf kaiserlichem Territorium nieder. 86 In die von ihnen verlassenen Gebiete rückten allmählich andere Bevölkerungsgruppen - vor allem aus den Gebirgsräumen im Westen und Südwesten (also aus dem heutigen Montenegro und Nordalbanien) - nach, darunter auch christliche Albaner und albanischsprachige Muslime. Anlass für die große Nordwanderung (Velika seoba) von 1690 war die Eroberung Serbiens durch habsburgische Truppen, denen sich mehrere tausend serbische (und albanische) Freischärler in Erwartung eines kaiserlichen Sieges angeschlossen hatten. Nach der erfolgreichen osmanischen Gegenoffensive flohen Teile der Bevölkerung unter Führung des serbischen Patriarchen Arsenije III. Crnojevic aus Furcht vor Vergeltung in das Habsburgerreich und nahmen auch die Reliquien des Fürsten Lazar mit. Kaiser Leopold I. garantierte den Flüchtlingen Glaubensfreiheit und eine eigene Kirchenorganisation (Leopoldinisches Diplom vom 2 1 . 8 . 1690). Die Stadt Karlowitz in Syrmien (Sremski Karlovci) wurde 1 7 1 6 zum Sitz der serbischen Metropoliten in der k.u.k. Monarchie erkoren. Die Verbindung zum „Ökumenischen Patriarchen" in Konstantinopel blieb bis zur Aufhebung des serbischen Patriarchats von Ipek/Pec 1766 formal noch bestehen, spielte aber in der kirchenpolitischen Praxis kaum noch eine Rolle. Es waren vor allem die vom Kaiser gewährten Glaubensprivilegien, die den Erhalt der kollektiven Identität sicherten und deshalb vom orthodoxen Klerus gegen wiederholte Unionsbestrebungen der katholischen Kirche mit Vehemenz verteidigt wurden. 87 Zahl und Ethnizität der Migranten (aus und nach Kosovo) lassen sich nicht zweifelsfrei bestimmen. Der serbische Patriarch spricht in einem 1 7 0 6 verfassten Brief an den Nachfolger Kaiser Leopolds von „40.000 Seelen", die Kosovo unter seiner Führung verlassen hätten. 88 In der populären Uberlieferung ist dagegen von bis zu 37.000 Familien (!) die Rede. Dass es sich bei den Flüchtlingen mehrheitlich um Angehörige der orthodoxen Glaubensgemeinschaft gehandelt hat, ist sehr wahrscheinlich (obwohl auch einige katholische Christen unter ihnen gewesen sein dürften). Ob es ethnische Serben waren, muss offen bleiben. Ahnliches gilt für die Zuwanderen Dass die überwältigende Mehrheit der heutigen Kosovo-Albaner Muslime sind und ein Teil ihrer Vorfahren erst nach 1690 zugewandert ist, bedeutet nicht, dass alle damaligen Zuwanderer Muslime, noch bedeutet es, dass sie alle ethnische Albaner waren. Der Nordwanderung von 1690 folgten dann 1739 - nach der zwanzigjährigen habsburgischen Herrschaft in Nordserbien (zwischen den Friedensschlüssen von Passarowitz und Belgrad) - neue Flüchtlingsströme der christlichen Bevölkerung in das Habsburger- und das Russische Reich.
86 Vgl. u. a. Velika Seoba. 1690-1990 [Die Große Wanderung. 1690-1990]. Hg. Ljubisav Andric. Beograd 1990; CAKIC, STEFAN: Velika seoba Srba 1689/90 i patrijarh Arsenije III Crnojevic [Die Große Wanderung der Serben 1689/90 und Patriarch Arsenije III. Crnojevic]. Novi Sad 1982. 87 Dazu ausführlich TURCZYNSKI, E.: Konfession und Nation; POPOVIC, DUSAN J.: Srbi u Vojvodini [Die Serben in der Wojwodina]. Bd. 1—3. Novi Sad 1957—1963, und viele andere. 88 Vgl. MALCOLM, N.: Kosovo, S. 161.
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Abb. 4: Paja Jovanovic: Entwurf für sein Gemälde „Seobe Srba" (1. Variante, 189s)·' Links Patriarch Arsenije zu Pferd; in der Mitte ein bewaffneter Krieger. Das Bild wurde vom serbisch-orthodoxen Patriarchen in Sremski Karlovci (Südungarn, heute: Wojwodina) anlässlich der bevorstehenden ungarischen Millenniumsfeiern von i8p6 in Auftrag gegeben.
Die „Erinnerung" an den „großen Serben-Exodus" von 1690 aus Kosovo nach Südungarn und die nachfolgende Zuwanderung von Albanern nach Kosovo gingen als Bild und Text in den serbischen Nationalmythos ein und vergifteten die serbisch-albanischen Beziehungen seit Beginn der Nationsbildung. Erinnert sei stellvertretend an das vielfach reproduzierte Gemälde des bedeutendsten serbischen Historienmalers Paja Jovanovic „Seobe Srba" (Wanderungen der Serben) von 1896, an den Kurzroman „Dnevnik ο Carnojevicu" (Tagebuch über Camojevic) von Milos Crnjanski aus dem Jahr 1 9 2 1 , 8 9 an dessen zweibändigen Roman „Seobe" von 1929 und 1963, 9 0 in dem die Wanderung von 1690 zeitlich und räumlich fortgeschrieben wird, sowie an die erregten Debatten der 1990er Jahre, in denen
89 Die dt. Übersetzung erschien 1993 in Frankfurt/M. 90 Der Roman „Seobe" erschien in dt. Übersetzung unter dem Titel „Panduren" (München 1963). Der erste und der zweite Teil des zweiten Bandes („Druga knjiga Seoba") liegt in dt. Übersetzung unter dem Titel „Bora" (Frankfurt/M. 1988) vor.
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sich Wanderung, Flucht und Vertreibung zu einem zentralen Topos vereinigten (in mancher Hinsicht vergleichbar der jüdischen Vertreibung aus Ägypten in Sigmund Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion"). Eine dritte Reaktion auf den wachsenden Druck im Osmanischen Reich (neben der Binnen- und der grenzüberschreitenden Migration) war die „Wanderung" über kulturelle Grenzen hinweg („boundary-crossing"). Gemeint ist der Wechsel des Glaubens, der Sprache und der Alltagspraktiken. Viele Vorfahren der heute im Balkanraum lebenden acht Millionen Muslime (ohne die Einwohner der europäischen Türkei bzw. Ost-Thrakiens) sind erst während der Verfallszeit des Osmanischen Reiches — und aus eigenem Entschluss - zum Islam konvertiert. Oft dürfte es sich dabei weniger um eine Glaubens- als um eine Uberlebensfrage oder um Karriereplanung gehandelt haben. Die Bedeutung des Glaubens für die Gestaltung des Alltags der christlichen Bevölkerung unter osmanischer Herrschaft ist in der Balkanhistoriographie maßlos übertrieben worden. Der Glaube an das Kreuz oder den Halbmond waren austauschbar, der Glaube an Feen nicht. Der Umstand, dass die muslimische Reaya weniger Steuern entrichten musste als die christliche und dass die Zugehörigkeit zum Islam neue Aufstiegschancen eröffnete, wirkte in einer Zeit zunehmender Bedrückung als starker Anreiz zum Glaubenswechsel. 91 Dies umso mehr, als der christliche Glaube in Teilen der Bevölkerung ziemlich oberflächlich war, die seelsorgerische Betreuung weitgehend fehlte (nicht nur als Folge der osmanischen Herrschaft, sondern auch als Konsequenz des weltabgeschiedenen Mönchstums der Orthodoxie) und volksislamische Strömungen (Sufismus) ihrerseits den Ubertritt erleichterten. Die Differenz zwischen einem von heidnischen Elementen durchsetzten Christentum und dem heterodoxen Islam (vor allem in Gestalt des Bektaji-Ordens) war nicht allzu groß. Das zeitweilig weit verbreitete Phänomen des Krypto-Christentums, die Klagen islamischer Geistlicher über die religiöse Indifferenz der „Vertürkten" sowie die vielen christlich-islamischen Synkretismen und „Verwandtschaftsbildungen" (interkonfessionelle Patenschaften und Beziehungsnetzwerke) deuten in diese Richtung. 9 2 Und von einem mus-
91 Vgl. u. a. KISSLING, HANS JOACHIM: Das Renegatentum in der Glanzzeit des osmanischen Reiches, — in: Scientia (Rivista di Scienza) 96 Bd. /55. Jg. ( 1 9 6 1 ) , 6. Serie, S. 1 8 - 2 6 ; ZHELJASKOVA, ANTONINA: Social Aspects of the Process of Islamization in the Balkan Possessions of the Ottoman Empire, - in: Etudes Balkaniques 1 9 8 5 , Nr. 3, S. 1 0 7 - 1 2 2 ; Osmanski izvori za isljamizacionnite procesi na Balkanite. X V I - X I X v. (Sources ottomanes sur les processus d'islamisation aux Balkans. X V I C - X I X E s.). H g . M . Kalicin - A . Velkov - Evg. Radusev. Sofija 1 9 9 0 ; MINKOV, A N T O N : Conversion to Islam in the Balkans. Kisve bahasi petitions and Ottoman social life, 1 6 7 0 - 1 7 3 0 . Leiden 2004. 92 DZAJA, SRECKO M . : Konfessionalität und Nationalität Bosniens und der Herzegowina. Voremanzipatorische Phase 1 4 6 3 - 1 8 0 4 . München 1 9 8 4 ; S. 83 ff.; vgl. auch ALTER, P. T.: Serbian Popular Religion, S. I4FF.; FILIPOVIC, MILENKO S.: Baptized Moslems, - in: Collected Works of the Ethnographie Institute of the Serbian Academy of Sciences i 9 5 i , S . 1 2 .
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limisch-christlichen Glaubenskrieg im Alltag konnte bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Rede sein. Die Unterschiede zwischen dem westlichen und östlichen Christentum wogen zumeist schwerer als die Unterschiede zwischen Christentum und Islam. Doch für religiöse Eiferer damals wie heute war und ist der Glaubenswechsel eine Gotteslästerung sowie Verrat an der eigenen Gemeinschaft. „Renegatentum" und „Opportunismus" waren schlimmer als Aberglauben oder Heidentum. Mit dem Paganismus, der in Serbien bis weit ins 19. Jahrhundert stark verwurzelt war, konnte man leben. Mit den zum Islam übergewechselten „Renegaten" nicht. Kulturelle „Grenzgänger" verstießen gegen die gängigen Ordnungsprinzipien, die sich in der späten Neuzeit herausbildeten, und zogen sich Misstrauen und Hass ihrer Umgebung zu. Oder genauer formuliert: die „Renegaten" wurden von geistlichen und weltlichen Führern zur Zielscheibe eines nach innen integrierend wirkenden „Fremdenhasses" erkoren. Die räumlichen und kulturellen Migrationen aus politischen und/oder ökonomischen Gründen gehörten zum Alltag im Balkanraum, insbesondere während der Verfallsphase des Osmanischen Reiches. Die Flucht auf habsburgisches oder venezianisches Territorium oder der Rückzug in die Gebirgskammern waren eine der Möglichkeiten, wirtschaftlich-sozialen Notlagen zu entkommen. Der Glaubenswechsel war eine andere Möglichkeit. Mit einer dritten Alternative wollen wir uns im Folgenden beschäftigen.
Outlaws: Freiheitskämpfer oder Rauber Z u den interessantesten und umstrittensten Erscheinungen in den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches in der Verfallsphase gehören jene Gesetzesbrecher, denen die südslawische und griechische Volksüberlieferung unter den Bezeichnungen „Haiducken", „Uskoken" und „Klephten" in zahllosen Liedern ein poetisch eindrucksvolles Denkmal gesetzt hat. 93 In der Balkanhistoriographie werden sie vorzugsweise als Vertreter einer antifeudalen Bewegung sowie als Vorkämpfer der nationalen Befreiung verehrt und gefeiert. In populärwissenschaftlichen Darstellungen und im „historischen Gedächtnis" großer Teile der Bevölkerung gelten sie bis zum heutigen Tag als Helden und Freiheitskämpfer, als Vertreter einer „elementaren Volksbewegung", als Verkörperung von Männlichkeit, Ehre, Aufopferungsbereitschaft und Heroismus. Als Leopold (von) Ranke, der Nestor der kritischen Geschichtswissenschaft in Deutschland, 1829 „seine" berühmte „Geschichte der serbischen Revolution" (gemeint sind die Aufstände von 1804 und 1 8 1 5 )
93 Vgl. STOJANOVIC, MIODRAG: Hajduci i klefti u narodnom pesnistvu [Haiduken und Klephten in der Volkslieddichtung]. Beograd 1984.
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veröffentlichte — ein Werk, das maßgeblich die nachfolgende Historiographie der Serben prägte 94 - stützte er sich unter anderem auf die Aussagen von Volksliedern, die ihm sein serbischer Gewährsmann Vuk Stefanovic Karadzic während eines Archivaufenthalts im metternichsehen Wien mitgeteilt hatte. 95 Jahrzehnte später erinnerte sich Ranke: „Es ist eben fünfzig Jahre (her), dass ich täglich den unvergesslichen Freund Wuk in Wien meine Treppe heraufsteigen hörte — er hatte einen Stelzfuss —, um mir serbische Geschichten zu erzählen." Und an anderer Stelle: „An Vuk Stefanovitsch, dem gelehrtesten aller Serben, die damals lebten, fand ich einen Freund, der mir seine Sammlungen zur serbischen Geschichte mitteilte. Sie ergriff mich durch die lebendige Information über ein Ereignis von allgemeinster historischer und politischer Bedeutung in der Tiefe des Geistes und Herzens." 96 Ranke charakterisiert die Haiducken als religiös motivierte Freiheitskämpfer, „weil sie ihren Krieg wider (den) Oberherrn einer anderen Religion führten". In der zweiten Auflage seines Werkes von 1844 schreibt Ranke weiter: „Erhebt sich alsdann das Gedicht, das Helden thum zu preisen, so kann dieß allerdings kein andres seyn - denn man kennt kein andres — als ein räuberisches. Es ist dadurch gerechtfertigt, dass es sich gegen die Türken richtet, welche nicht nur irrgläubig sind, sondern unzuverlässig, voll Trug und unrechtmäßiger Weise in Besitz gelangt: Raub sagt man, brachte ihr Gut zusammen, Raub nimmt es wieder. (...) Diese Gesänge sind voll einer rohen Anschaulichkeit. Jedoch sie enthalten auch noch etwas Anderes. Dort, wo die Liebe geschildert wird, geschieht dies nicht, ohne dass neben tiefer Zärtlichkeit für den Getreuen auch die heftigsten Verwünschungen des Ungetreuen, unerschöpflich in Fluch, hervorträte; wie dort der Hass zur Liebe, eben so gesellt sich hier, aber in umgekehrtem Verhältniß, zu der Rohheit die Milde. (...) So ist der Mensch auf dieser Stufe der Entwicklung, so ist der Mensch dieses Stammes; wie der Held, so sein Sänger." 97 Schon Vuk Karadzic hatte in seinem 1 8 1 8 in Wien veröffentlichten Wörterbuch auf die Ambivalenz des Haiduckentums hingewiesen. „Wirklich gehen viele Männer nicht zu den Haiduken, um Böses zu tun, doch wenn ein Mensch (besonders ein einfacher) einmal von der menschlichen Gesellschaft abfällt,
94 Vgl. u. a. MITROVIC, ANDREJ : Leopold Ranke pisac „Srpske revolucije". Povodom 20o-godisnjice rodjenja [Leopold Ranke, der Autor der „Serbischen Revolution". Anlässlich seines 200. Geburtstages], - in: Letopis Matice srpske 1 7 2 (1996), 4, S. 5 0 2 - 5 1 5 . 95 Das geistige Eigentum an der „Serbischen Revolution" ist bis heute umstritten. Hat Ranke lediglich eine Vorlage von Vuk Karadzic überarbeitet oder hat er das Buch - gestützt auf die Papiere und Erzählungen seines serbischen Freundes - selber konzipiert ? 96 Zitate nach KÄMPFER, FRANK: Z u r Rezeption Vuk Karadzics in Deutschland: Leopold Rankes „ D i e Serbische Revolution", - in: Südosteuropa in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit v o m Wiener Kongress ( 1 8 1 5 ) bis zum Pariser Frieden ( 1 8 5 6 ) . H g . Josip Matesic und Klaus Heitmann, München 1 9 9 0 , S. 1 5 6 . 97 RANKE, L.: Serbische Revolution (1844), S. 6 9 - 7 1
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( . . . ) so beginnt er ... auch Böses zu tun. So begehen die Haiduken Böses auch an ihrem eigenen Volk, das sie . . . liebt und bedauert, aber dem Haiduken erscheint es noch heute als größter Schimpf und Schande, wenn man ihm sagt, er sei ein Strauchdieb und niederträchtiger Räuber. In alten Zeiten passten die Haiduken . . . am liebsten die Türken ab, wenn sie Steuergelder transportierten, doch kommt das in unserer Zeit selten vor, vielmehr passen sie Händler und andere Reisende ab .. ," 9 8 Damit sind wir mitten in einer bis heute ungelösten Streitfrage: Waren Haiducken und Klephten Rächer der Unterdrückten oder Vorkämpfer der nationalen Befreiung? Oder waren es gewöhnliche Kriminelle bzw. „Räuber", als die sie in den osmanischen Quellen bezeichnet werden? Ahnelten sie eher Robin Hood oder Mackie Messer? Waren sie - wie das Zitat von Karadzic andeutet - sowohl das eine wie das andere (zunächst also - in osmanischer Zeit — Rächer der Unterdrückten, dann — nach Formierung der ersten „Nationalstaaten" - Bösewichte) oder waren sie weder das eine noch das andere? Zweifellos gehört das Phänomen der Haiducken zu den beliebtesten und einprägsamsten Geschichtsmythen auf dem Balkan, die nicht nur das Selbstbild der christlichen Balkanvölker, sondern auch das Bild von der osmanischen Herrschaft nachhaltig geformt haben. „Es bedarf keiner Frage . . . " , schreibt der Slawist Reinhard Lauer, „dass in den Mythen eines Stammes oder eines Volkes wichtige archetypische Vorstellungen gebunden sind, die die Volks- oder Nationswerdung wesentlich mit befördern. Insofern sind die nationalen Mythen notwendige Bestandteile des vielschichtigen Identitätsgebäudes, das jeder Mensch in der Welt, in der er lebt, um sich aufbaut. Es kann wohl auch ... kaum bestritten werden, dass die mythische Zweideutigkeit, die außer zu Edelmut, Hilfs- und Opferbereitschaft stets auch zu Tötung, Rache, Grausamkeit aufruft und sie nicht selten verherrlicht, unserer anthropologischen Conditio humana eher entspricht als der ethische Codex der positiven Religionen oder der kategorische Imperativ Kants." 99 Fikret Adanir hat in einem ausführlichen Aufsatz über das Haiduckentum im Osmanischen Reich zu Recht gefordert, dass „das gängige Bild vom Heiducken als Vorkämpfer der nationalen Befreiung auf dem Balkan" überprüft werden müsse. „Offensichtlich wurden hier vielfach folkloristische Vorstellungen kritiklos übernommen." 1 0 0 Uber den historischen Quellenwert mündlicher Überlieferungen wird immer wieder gestritten. Viele
98 KARADZIC, VUK ST.: Srpski recnik [Serbisches Wörterbuch], 4 Aufl. Beograd 1 9 3 5 , zit. nach LAUER, REINHARD : Das Wüten der Mythen. Kritische Anmerkungen zur serbischen heroischen Dichtung, - in: Das jugoslawische Desaster. Historische, sprachliche und ideologische Hintergründe. Hg. R. L a u e r - W e r n e r Lehfeld. Wiesbaden 1 9 9 5 , S. 1 2 0 . 99 Ebd. S. 1 1 0 . 1 0 0 ADANIR, FIKRET: Heiduckentum und osmanische Herrschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte der Diskussion um das frühneuzeitliche Räuberwesen in Südosteuropa, - in: Südost-Forschungen 4 1 (1982), S. 4 3 - 1 1 6 .
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Autoren betrachten die Heldenlieder als „Archiv des Volkes" und messen ihnen einen hohen Quellenwert zu. Andere sehen darin lediglich eine Variante historischer Legendenbildung. Die epische Dichtung in den Balkanländern kann auf eine lange und reichhaltige Tradition zurückblicken. Die überwiegende Mehrheit der heute bekannten Lieder wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert verschriftlicht, insbesondere von Vuk Karadzic. Aus dieser Situation ergeben sich zwei quellenkritische Fragen: Die erste betrifft die Authentizität der Texte: Inwieweit stimmen die im 19. Jahrhundert aufgezeichneten Lieder mit früheren Fassungen überein? Oder anders gewendet: Inwieweit wurden die Texte bei der mündlichen Weitergabe von Generation zu Generation inhaltlich modifiziert? Da aus früheren Jahrhunderten nur sehr vereinzelt Aufzeichnungen von Liedern vorliegen (erwähnt sei stellvertretend die von einem unbekannten deutschen Sammler um 1720 geschriebene „Erlanger Handschrift"), lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Grundsätzlich ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Lieder, um die es hier geht, nicht auswendig gelernte und tradierte Texte darstellen, deren Originale verloren gegangen sind, sondern dass sie schöpferische Ausdrucksformen einer schriftlosen Kultur sind. Der zum einsaitigen Streichinstrument (Gusla) vorgetragene monotone Singsang, der die Zuhörer in einen tranceähnlichen Zustand versetzte, beruhte auf einem Inventar feststehender Formeln, stilistischer und syntaktischer Regeln sowie ständiger Wiederholungen, die inhaltlich beliebig variiert werden konnten. Sie erzeugten im Gehirn der Zuhörer Bilder, die mit einer irgendwie gearteten Realität nichts zu tun haben mussten. Damit sind wir bereits beim zweiten Problem: dem Wahrheitsgehalt der Texte. Selbst wenn die heute bekannten Fassungen der Lieder mit den früheren Texten weitgehend übereinstimmen sollten, bleibt unklar, inwieweit sie mit den Ereignissen übereinstimmen, die sie schildern. Der Wahrheits- oder Realitätsgehalt der Haiducken- und Klephtenlieder lässt sich nur mittels anderer Quellen überprüfen. Aber auch diese werfen viele Fragen auf. Das reichhaltige osmanische Quellenmaterial zur Haiduckenfrage (vor allem die Gerichtsakten der Kadi-Ämter) gibt zwar Aufschlüsse über Verbreitung und Intensität des Brigantentums sowie über Herkunft und soziale Stellung einzelner Gesetzesbrecher, doch sagt es fast nichts über die Motive der Täter aus. Dass die osmanischen Behörden resp. die Kadi-Amter die Gesetzesbrecher als „Banditen", „Räuber", „Schurken" etc. bezeichneten, ist weder überraschend noch hilft es weiter. Das zeitgenössische abendländische Schrifttum, die Reisebeschreibungen, die Relationen (Berichte) katholischer Missionare, die Aufzeichnungen von Agenten europäischer Mächte sowie die Petitionen verschiedener Personen und Gruppierungen aus den osmanischen Provinzen an die christlichen Höfe Europas sind ebenfalls überwiegend „parteilich". Peter Bartl hat nachgewiesen, dass es in der Frühen Neuzeit sehr beliebt war, Pläne zur Befreiung des Balkans zu schmieden und diese dem Kaiser, dem Papst
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oder verschiedenen Fürsten zu unterbreiten. 1 0 1 Geistliche Würdenträger, balkanische Stammesführer sowie zahllose Abenteurer, Scharlatane und Hochstapler gaben vor, im N a m e n der Balkanchristen zu sprechen und von diesen zu Unterhändlern bestimmt worden zu sein. In ihren Befreiungsprojekten schildern sie klischeehaft das Elend der Christen unter „türkischem J o c h " , berichten von der Bereitschaft der christlichen Reaya zum
flächendeckenden
Aufstand und erbitten Geld, Waffen und Hilfskontingente. Stets halten sie eine Streitmacht von wenigen tausend Söldnern für ausreichend, u m den ganzen Balkan bis zu den Toren Konstantinopels von den „Türken" zu befreien. W i e sich im Verlauf der „Türkenkriege" zeigte, gehörten derartige Einschätzungen in das Reich der Fantasie. Unstrittig dagegen bleibt, dass das B a n d i t e n t u m im Osmanischen Reich seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunahm. D i e osmanischen Quellen lassen keinen Zweifel daran, dass Haiducken und Klephten bald zu einem Massenphänomen wurden. So heißt es ζ. B . in den Protokollen des Scheriatsgerichts von Manastir/Bitola (Makedonien) aus der ersten Hälfte des 17. J a h r h u n d e r t s : „Die Haiduken sind die Ursache großer Revolten." U n d an anderer Stelle: „Die ganze Welt ist erfüllt von verschiedenen Aufständen und Raubüberfällen." In den erhaltenen osmanischen Quellen finden sich zahlreiche , A n o r d nungen zur Unterdrückung der Haiduken von Temeschwar im Norden bis zur Peloponnes im Süden, von Skutari im Westen bis Adrianopel im O s t e n . " 1 0 2 „ U m einseitige Schlussfolgerungen zu vermeiden", schreibt dazu Adanir, „sei als erstes a u f den quasi-universellen Charakter dieses Phänomens - (die) ,ubiquite du banditisme' - hingewiesen. Besonders in Spanien, Frankreich, Italien und in den Balkanländern wurden die Straßen s e i t . . . Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend von Banditen unsicher gemacht, die von schwer erreichbaren Gebirgsgegenden oder Grenzzonen aus operierten." 1 0 3 Adanir beruft sich hier a u f eine Formulierung Fernand Braudels, der von der „ubiquite du banditisme" gesprochen hat. In seinem dreibändigen Werk über „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II." schreibt Braudel: „Keine Gegend des M i t telmeerraums bleibt von diesem Übel [dem B a n d i t e n t u m ] verschont. Weder Katalonien noch Kalabrien noch Albanien, die dafür berühmt sind, (haben ein) M o n o p o l auf das Brigantenwesen. Es ist überall mit seinen vielen Gesichtern, politisch, sozial, ökonomisch, terroristisch . . . Vor den Toren des ägyptischen Alexandria wie vor denen von Damaskus oder Aleppo, a u f dem flachen Land um Neapel, wo Wachttürme gegen Räuber errichtet werden, in der römischen Campagna, wo bisweilen beschlossen werden muss, das Unterholz abzu101 BARTL, P E T E R : Der Westbalkan zwischen spanischer Monarchie und osmanischem Reich. Z u r T ü r k e n kriegsproblematik an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Wiesbaden 1 9 7 4 , 8 . 194 ff. 102 MATKOVSKI, ALEKSANDAR: Haiduckenaktionen in Mazedonien in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, - in: Südost-Forschungen 21 (1962), S. 395. 103 ADANIR, F.: Heiduckentum, S. 101.
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brennen, um die allzu gut geschützten Banden auszuräuchern, selbst in einem scheinbar so perfekt verwalteten Staat wie Venedig. Und als sich die Armee des Sultans 1 5 66 von Istanbul nach Adrianopel, Nis, Belgrad und dann nach Ungarn aufmacht, hängt sie unaufhörlich eine Unzahl von Räubern (auf), die durch den Durchzug der türkischen Armee aus ihren Schlupflöchern gejagt werden." 1 0 4 Adanir sieht in diesen Ausführungen Braudels eine Bestätigung für seine These, dass Haiducken und Klephten nur einen Teil jenes Banditentums repräsentierten, das im gesamten Mittelmeerraum zu Hause war. Mit dem Hinweis auf das Räuberunwesen in anderen Ländern lassen sich aber die inneren Verfallserscheinungen im Osmanischen Reich nicht aus der Welt schaffen. Die auch von Adanir nicht bestrittene Zunahme von Haiducken und Klephten in den europäischen Provinzen des Sultans seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war keine vorübergehende Erscheinung und lässt sich auch nicht mit einer gesamteuropäischen „Krise des 17. Jahrhunderts" erklären. Die „outlaws" waren eine weit verbreitete Erscheinung, die das Sultansreich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Verlust seiner europäischen Provinzen im 19./20. Jahrhundert - in zunehmendem Maße - begleitete. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Zunächst ist davon auszugehen, dass jede Gesellschaft spezifische Formen des Protests entwickelt. Gemeint sind hier nicht individuelle Gesetzesübertretungen, sondern Rechtsbrüche mit Massencharakter. Wenn „Räuber" (um in der Terminologie der osmanischen Quellen zu bleiben) zu einer endemischen Erscheinung werden, ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass es in der betreffenden Gesellschaft ein gewaltiges Unsicherheits- und Unzufriedenheitspotenzial gibt. Wie sich dieses Unzufriedenheitspotenzial artikuliert, hängt von den konkreten Umständen und vom Typ der Gesellschaft ab. Segmentäre Gesellschaften bringen andere Protestformen hervor als komplexe Gesellschaften. Die Kleinheit der segmentären Gruppe, ihr geringer Organisationsgrad und ihr Hang zur Isolierung gegenüber Nachbargesellschaften bestimmen die Art und Weise, in der ein Protest gegen die Außenwelt bzw. gegen andere oder Fremde artikuliert wird. Es ist nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass sich die Unzufriedenheit gegen Außenstehende richtet, denn Probleme innerhalb der segmentären Gesellschaft werden gemäß den Regeln der Tradition bzw. des Gewohnheitsrechts gelöst. Mögliche Anlässe für Unzufriedenheit und Konflikte segmentärer Gesellschaften mit ihrer Außenwelt resultieren vor allem aus drei Quellen: 1. aus sozioökonomischen Verwerfungen, 2. aus Verletzungen dessen, was von den Mitgliedern der Gesellschaft als gerecht empfunden wird, und 3. aus Eingriffen in die Selbstregulierungsmechanismen der segmentären Gesellschaft. 1 0 4 BRAUDEL, F.: Mittelmeer (siehe A n m . 54), Bd. 2, S. 534 f.
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Zu Punkt ι : Wie erwähnt, sind segmentäre Gesellschaften weitgehend egalitär und betrachten die auf der Welt verfügbaren Güter als begrenzt und nicht vermehrbar. Solange die Ungleichverteilung von Gütern und eine damit verbundene Funktions- und Arbeitsteilung als ausgewogen empfunden werden (wie in der Zeit der „pax ottomanica"), ergeben sich keine grundsätzlichen Probleme. Die Unzufriedenheit beginnt, wenn Leistung und Gegenleistung auseinanderdriften (konkret: wenn die wachsende Abgabenlast der christlichen Reaya in ein Missverhältnis zu den Schutzfunktionen der „professionellen Osmanen" gerät, wie dies seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Fall war). Der wachsende Reichtum verschiedener Gruppen im Osmanischen Reich - der Steuerpächter, der neuen Landbesitzerschicht (Ciftluk-Sahibis) und Provinznotabein (Ayanen), der Kaufleute etc., die oft keine erkennbare Gegenleistung für die Mitglieder der Gesellschaft erbrachten, erschien letzteren als bloßer Raub (der es in vielen Fällen auch tatsächlich war). Die von den osmanischen Quellen als „Räuber" bezeichneten Personen wehrten sich aus ihrer Sicht nur gegen den Raub, deren Opfer sie bzw. ihre Gemeinschaft geworden waren. Ranke hatte dies völlig richtig gesehen. Zu Punkt 2: In allen größeren Gesellschaften und Staaten (und so auch im Reich der „Hohen Pforte") gibt es ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen Gesetz auf der einen und dem, was von der Mehrheit der Gesellschaft als Recht oder Unrecht empfunden wird, auf der anderen Seite. Solange dieses Spannungsverhältnis auf Einzelfälle beschränkt bleibt, besteht i. d. R. keine Gefahr für die Akzeptanz des Systems. Wird dagegen das Spannungsverhältnis zu einer Alltagserfahrung, treten Recht und Gerechtigkeit immer weiter und immer öfter auseinander und wird obendrein das gesetzte Recht von den Repräsentanten der Staatsgewalt selbst zunehmend missachtet, bricht der innere Frieden des Staates zusammen. Die Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem (und damit auch die Grenze zwischen Helden und Kriminellen) wird fließend. Klare Unterscheidungskriterien sind nicht mehr gegeben, die rechtliche Orientierungslosigkeit nimmt zu. Zu Punkt 3: Jede segmentäre Gesellschaft wacht eifersüchtig über den Erhalt ihrer Selbstregulierungsrechte. Letztere bilden ihre Existenzgrundlage. Werden diese Rechte durch Eingriffe von außen in Frage gestellt, ist auch der Fortbestand der segmentären Gemeinschaft bedroht. Die Sultane waren gut beraten, als sie den Balkanvölkern zugestanden hatten, sich gemäß dem Gewohnheitsrecht selbst zu organisieren und zu verwalten. Solange sich die osmanische Administration nicht in die Angelegenheiten der Dorfgemeinschaften und Stämme einmischte (vorausgesetzt, dass diese sich loyal verhielten und ihre Steuern zahlten), hatte die „pax ottomanica" mehr oder minder reibungslos funktioniert. Dies änderte sich grundlegend im Verlauf vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Die „geheiligte" Dorfautonomie wurde immer öfter durch Eingriffe der Provinznotablen, der neuen (illegalen) Grundbesitzer und marodierender Truppenteile ausgehöhlt.
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Je mehr die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und die innere Ordnung des Osmanischen Reiches verfielen, desto mehr sah sich die unterworfene Bevölkerung zum gemeinsamen Selbstschutz und zum Kampf für das „gute alte Recht" aufgerufen und gezwungen. Der Sozialrebell war die typische Erscheinungsform dieses primitiven, urwüchsigen Protests. „Sozialrebellen-" oder „Sozialbanditentum" ist nach Eric Hobsbawm ein lokaler, endemischer Protest der Bauern oder Hirten gegen Unterdrückung und Armut, ein „Racheschrei gegen die Reichen und die Unterdrücker, ein vager Traum, ihnen Schranken zu setzen, eine Wiedergutmachung persönlichen Unrechts. Seine Ziele sind bescheiden: die Bewahrung einer traditionellen Welt, in der die Menschen gerecht behandelt werden, nicht etwa eine neue und vollkommenere. (...) Sozialbanditentum hat so gut wie keine Organisation oder Ideologie und ist völlig außerstande, sich einer modernen sozialen Bewegung anzupassen. Seine am höchsten entwickelten Formen, die an nationalen Guerillakrieg grenzen, sind selten..."105 Wichtig an dieser Definition Hobsbawms sind ι . die rückwärtsgewandte Zielsetzung der Sozialbanditen (Bewahrung oder Wiederherstellung der traditionellen Sozialordnung, - nicht die Schaffung einer neuen Ordnung), 2. der geringe Organisationsgrad der Sozialrebellen, 3. der Mangel an Ideologie und 4. die Unfähigkeit der Sozialbanditen, sich einer modernen sozialen Bewegung anzupassen. Sozialbanditentum ist die typische Form des Protests in archaisch strukturierten Gesellschaften. Von gewöhnlichen Kriminellen (die es zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften gibt) unterscheidet sich der Sozialbandit dadurch, dass er in Übereinstimmung mit den Wertvorstellungen der Gemeinschaft handelt, der er entstammt, und von dieser nicht als Verbrecher betrachtet wird. Damit komme ich noch einmal auf die Volksüberlieferung bzw. auf die Haiducken- und Klephtenlieder zurück. Als ereignisgeschichtliche Quellen sind sie weitgehend unbrauchbar. Anders verhält es sich mit ihrem mentalitätsgeschichtlichen Quellenwert. Die Lieder spiegeln die Normen- und Wertvorstellungen des gesellschaftlichen Milieus wider, dem sie entstammen. Sie sagen viel über die Denkweise und das Selbstverständnis der Menschen aus, die diese Lieder schufen und ihre Wünsche auf die Helden projizierten. Der „typische" Haiduk der Volksüberlieferung war ein tapferer, freiheitsliebender Mann, der sich während der Sommermonate - vom St.-Georgs-Tag im Frühjahr bis zum St.-Demetrius-Tag im Herbst - in die Wälder oder Berge zurückzog und von dort Uberfälle auf Vertreter der Staatsmacht und der herrschenden Schicht (auf wohlhabende Muslime und Christen sowie auf deren Gefolgsleute gleichermaßen) ausführte. Die Haiducken operierten gewöhnlich in Gruppen von 10-30 Personen, die untereinander durch Treueschwur und Wahlbrüderschaft (pobratimstvo) verbunden waren.
105 HOBSBAWM, ERIC J.: Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Neuwied a. Rhein 1 9 6 2 , S. 1 8 .
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Sie wählten sich ihren Führer (harambasa) nach den gleichen Gesichtspunkten und mit den gleichen Vollmachten wie die Dorfgemeinschaften oder die Stämme ihren „Altesten". Die Form der selbstständig operierenden Kleingruppe (ceta) war vorherrschend, da größere Z u sammenschlüsse zumeist schon an der Wahl eines gemeinsamen Führers scheiterten oder - falls die Bündnisse dennoch zustande kamen - nach kurzer Zeit wieder auseinanderfielen. Sozialbanditen sind ihrem Selbstverständnis nach Einzelakteure. Sie wählen einen Führer aus ihrer Mitte und folgen ihm, solange er ihren Erwartungen gerecht wird und ihre gemeinsamen Beschlüsse durchfuhrt. Sie sind dagegen nicht bereit, sich in größere Zusammenhänge einzuordnen oder sich einem unbekannten Führer zu unterwerfen. Sie sind auch nicht bereit, Befehlen zu gehorchen, die sich an übergeordneten, strategischen Zielen orientieren, die nicht unmittelbar einsichtig sind und die persönliche Aktionsfreiheit einengen. Äußerst wichtig für den Sozialrebellen ist der Rückhalt in der eigenen Gruppe. Die Tatsache, dass es den osmanischen Behörden trotz einer breiten Skala von Gegenmaßnahmen weder im 1 7 . noch im 1 8 . Jahrhundert gelang, Haiducken und Klephten dauerhaft zu pazifizieren, lässt sich ohne Unterstützung der Bevölkerung für die Sozialrebellen nicht erklären. Das serbische Sprichwort, das sich noch im Zweiten Weltkrieg großer Verbreitung erfreute, „bez jataka nema hajduka" (ohne Helfershelfer gibt es keinen Haiducken) bringt diesen Umstand auf eine ebenso knappe wie einprägsame Formel. Schließlich verbrachten die Haiducken den Winter in ihrer Dorfgemeinschaft und hätten von dieser ohne weiteres ausgeliefert werden können, wenn ihre Handlungen den Wertvorstellungen der Gemeinschaft nicht entsprochen hätten. Dass die Sozialrebellen auf die Unterstützung der ansässigen Bevölkerung rechnen konnten, belegt die positive Wertung, die ihren Helfershelfern in den Haiducken- und Klephtenliedern zugewiesen wird. Auch die osmanischen Quellen bestätigen diesen Befund: Die Versuche lokaler Machthaber, die ansässige Bevölkerung mithilfe von Steuererleichterungen für die Verfolgung der Haiducken zu gewinnen, führte nur in seltenen Fällen zum Erfolg. Sofern wir das Sozialrebellentum als Wurzel des Räuberunwesens in den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches akzeptieren und Hobsbawms Definition des Sozialrebellen im Gedächtnis behalten, können Haiduken und Klephten schlechterdings keine Vorkämpfer der nationalen Befreiung (und auch keine Glaubenskrieger) gewesen sein. Sie waren Repräsentanten eines urwüchsigen, wilden Protestes, der durch die inneren Zersetzungserscheinungen und die soziale G ä r u n g im Sultansreich ausgelöst wurde, - eines Protestes, der bald eine Eigendynamik annahm und zunehmend auch gewöhnliche Verbrecher in seinen Bann zog. Das Besondere im Osmanischen Reich war der langwährende Verfall der öffentlichen Rechtspraxis und der öffentlichen Institutionen, die fortschreitende Pervertierung der Sozialordnung, auf der das Reich aufgebaut war, die Z u n a h m e von Ungerechtigkeit, Willkür
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und Korruption. Haiducken und Klephten waren die idealtypische Reaktion auf diese Missstände. Und je länger die Missstände währten, desto häufiger waren auch die Abweichungen v o m Idealtypus des Sozialrebellen. Unter der Bezeichnung „Haiducken und Klephten" konnten sich schließlich sowohl marodierende Söldner- oder Polizeieinheiten wie Blutrache-Geächtete, „gewöhnliche" Wegelagerer oder „klassische" Sozialbanditen verbergen. Das Spektrum reichte vom „edlen" Rächer der Unterdrückten bis zum kriminellen Sadisten. Die osmanischen Provinznotabein trugen selbst dazu bei, die Grenze zwischen „Räuber und Gendarm", zwischen Haiducken und den zu Polizeidiensten eingesetzten Martolosen zu verwischen, indem sie Haiduckenführer amnestierten und zu Anführern von Martolosenverbänden ernannten. Dieser Brauch trieb mitunter groteske Blüten. Aus den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts ist uns der Fall eines gewissen Losan aus Makedonien überliefert, der sich mit seiner ganzen Bande den Behörden ergab und als Martolosenführer eingestellt wurde. Danach war er tagsüber in Naousa bei den türkischen Machthabern als Ordnungshüter, des Nachts im Bezirk Bitola als Räuberhauptmann tätig. 106 Ein Einzelfall war dies sicher nicht. In diesem Zusammenhang sei noch einmal Eric Hobsbawm zitiert: „Der mutige und zähe Mann, der nicht bereit ist, die traditionelle Bürde der Unterschichten einer Klassengesellschaft, Armut und Unterwürfigkeit, zu tragen, kann ihr entrinnen, indem er entweder sich den Unterdrückern anschließt und ihnen dient oder auch, indem er gegen sie revoltiert. In jeder Bauerngesellschaft gibt es sowohl Banditen im Dienst der Gutsherren wie Bauernbanditen, ganz abgesehen von den Banditen, die v o m Staat beschäftigt werden, obgleich in Anekdoten und Balladen nur den bäuerlichen Banditen gehuldigt wird. Gefolgsleute, Abhängige, Polizisten und Söldner waren oft aus dem gleichen Stoff wie die Sozialbanditen." 1 0 7 Die Verwischung der Grenzen zwischen Recht und Unrecht und die fortgesetzte Pervertierung von Brauch und Sitte führten zu einer Verrohung und Brutalisierung der „outlaws" und ihrer Gegner. Viele der in der Volksüberlieferung geschilderten Handlungen von Haiducken haben mit „Heldentum" (Fairness im Kampf, Respekt vor dem Gegner, Schutz Unbeteiligter etc.) nichts zu tun. In seiner Monographie über die Volkslieder der Kroaten und Serben hat Leopold Karl von Goetz auf die grausamen Handlungen hingewiesen, die dem Leser in der Volksepik begegnen. „Es ist dem südslawischen Volkslied in besonders hohem Maße eigen, dass die Tötung, die Ermordung eines Menschen, sich vollzieht unter Ausübung der größten Brutalitäten an dem wehrlosen Feind. M i t vollendetem Naturalismus werden die dem Schlachtopfer auferlegten Martern beschrieben. M i t sichtlicher Lust
106 MATKOVSKI, ALEKSANDAR: Biographische Beiträge zur Geschichte des mazedonischen Haiduckenwesens von 1622 bis 1650, - in: Südost-Forschungen 27 (1968), S. 329fr. 107 HOBSBAWM, E.J.: Sozialrebellen, S. 28.
A r e n a der „ E r i n n e r u n g e n "
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bekundet der Mörder unmenschliche Wildheit; der Sänger berichtet sie ohne ein Zeichen der Missbilligung, es scheint ihm geradezu als etwas Selbstverständliches, dass der Mörder seiner blinden Rachsucht, seiner ungezügelten Rohheit in der Ausführung entsetzlicher Qualen Ausdruck gibt." 1 0 8 Einen umfassenden Uberblick über die Handlungen bietet das Motivinventar der Haiduckenlieder, das Branislav Krstic zusammengestellt hat. 1 0 9 In diesem Katalog des Sadismus, der Vergewaltigung, der Anthropophagie, der Gewalt gegen Frauen, Kinder und was das Herz sonst begehrt kommt die totale Umkehrung oder Verkehrung des „heroischen Prinzips" zum Ausdruck. Die Motive haben weder mit Sozialbanditen noch mit Helden etwas zu tun; sie sind Ausdruck einer aus dem Lot geratenen Gesellschaft, die neben Rächern für erlittenes Unrecht auch primitivste Gewaltverbrecher hervorbringt. Der osmanische Staat trug an dieser Entwicklung ein gerüttelt Maß an Verantwortung, indem er nicht verhinderte, dass sich Staatsbedienstete wie Ganoven verhielten, und Ganoven zu Staatsbediensteten ernannte, indem er die Zivilbevölkerung mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Privilegien und Drohungen fur Aufgaben in Anspruch nahm, die einzig und allein in die Kompetenz der Staatsorgane fielen. Das Ergebnis waren fortschreitende Rechtsunsicherheit und Willkür, Misstrauen und Hass. Adanir weist abschließend auf das Ausbleiben flächendeckender Bauernaufstände im Balkanraum hin und schließt daraus auf die Stabilität der Sozialbeziehungen im Osmanischen Reich. 1 1 0 Dieses Argument überzeugt nicht. Ein großer Bauernaufstand lag außerhalb der Grenzen des Realisierbaren. Die adäquate Form des Protests der frühneuzeitlichen Bevölkerung in Rumelien war das Sozialbanditentum, zu dessen wesentlichen Merkmalen der Mangel an Organisation, das Fehlen einer Ideologie und die Unfähigkeit der Rebellen gehörte, sich einer flächendeckenden Sozialbewegung anzupassen. Für einen Bauernaufstand (etwa nach deutschem Muster im 16. Jahrhundert) fehlten nicht nur alle organisatorischen Voraussetzungen vom Typ des „Bundschuhs" oder des .Armen Konrad", sondern auch Programme nach Art der „Zwölf Artikel" (um beim Beispiel des deutschen Bauernkrieges zu bleiben). Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts reiften die Voraussetzungen für den Ausbruch flächendeckender Aufstände heran. Wesentlichen Anteil daran hatte die Willkürherrschaft der Janitscharen, der Nachfahren des einstigen Elitenkorps der Osmanen.
1 0 8 G O E T Z , LEOPOLD KARL VON: Volkslied u n d Volksleben der Kroaten und Serben. Heidelberg 1 9 3 6 / 3 7 , zit. nach LAUER, R . : Wüten der M y t h e n , S. 1 2 8 . 1 0 9 K R S T I C , BRANISLAV : Indeks motiva narodnih pesama balkanskih Slovena [Motivindex der Volkslieder der Balkanslawen]. Beograd 1 9 8 4 , S. 3 1 7 f r . 1 1 0 ADANIR, F.: H e i d u c k e n t u m , S. 1 1 5 f.
2. Das „lange" 19. Jahrhundert: staatliche und nationale „Wiedergeburt" 2.1 S T A A T S B I L D U N G
UND
BEGINN
DER GROSSEN
TRANSFORMATION
(1804-1858) Erster und zweiter serbischer Aufstand (1804 und 181$) „Unter allen Janitscharen im Reiche konnte es keine dem Sultan widerwärtigeren geben als die in Belgrad." So beginnt Ranke sein Kapitel über den Ursprung der Unruhen in Serbien. 111 Als Sultan Selim III. nach dem österreichisch-türkischen Frieden von 1791 Nordserbien, das kurzfristig unter habsburgischer Herrschaft gestanden hatte, wieder in Besitz nahm, verbot er den Janitscharen die Rückkehr in den Pasaluk Belgrad. Selim III. (ähnlich wie vor ihm der russische Zar Peter der Große oder wie Zar Alexander II. nach dem Krimkrieg) strebte eine Reorganisation des Militärwesens nach europäischen Vorbildern an, ein Projekt, das nur nach Ausschaltung der Janitscharen realisierbar war. Entsprechend den Weisungen der „Hohen Pforte" versuchte der Wesir in Belgrad, Hadzi Mustafa-Pasa (Mitglied einer Freimaurer-Loge, der auch Serben angehörten), die Janitscharen aus seiner Provinz fernzuhalten und ließ zu diesem Zweck sogar Waffen an die serbische Bevölkerung verteilen. Bei den Serben stand er als „serbische Mutter" und „guter Vater" in hohem Ansehen. Zwischen 1793 und 1796 erfreuten sich die christlichen Untertanen im Pasaluk Belgrad auf Anordnung des Sultans bedeutender Zugeständnisse, die einer faktischen Autonomie für die Dorfgemeinschaften gleichkamen und eine Periode der wirtschaftlichen und sozialen Prosperität einleiteten. Besonders vorteilhaft war, dass die Verantwortung für das Steueraufkommen von den osmanischen Pächtern (mültezim) auf die christlichen Dorfältesten überging (Maktu-System). Damit formierte sich ein merkwürdig anmutendes Bündnis zwischen der „Hohen Pforte", dem Pasa von Belgrad und der serbischen Reaya gegen das vormalige Elitenkorps des Osmanischen Reiches, die Janitscharen. Angesichts des Krieges i n RANKE, L: Serbische Revolution ( 1 8 4 4 ) , S. 90. Z u den beiden Aufständen und ihren Führern vgl. u. a. ARSENIJEVIC-BATALAKA, L.: Istorija srpskog ustanka; NOVAKOVIC, S.: Vaskrs drzave srpske; PRODANOVIC, J.: Vuk Karadzic i Milos Obrenovic; PAXTON, R . V.: Nationalism and Revolution; The First Serbian Uprising. Hg. W.S. Vucinich; STOJANCEVIC, V.: Prvi srpski ustanak; LJUSIC, R.: Vozd Karadjordje; GAVRILOVIC, S.: Licnosti i dogadjaji.
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D a s „lange" 19. Jahrhundert: staatliche und nationale „Wiedergeburt"
mit Frankreich (1798/99), der Bedrohung durch Russland und wechselnder Fronten in den europäischen Allianzen standen der „Hohen Pforte" allerdings nur begrenzte Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Befriedungspolitik in Serbien zur Verfügung. Mit militärischer Unterstützung des von der Zentralregierung abgefallenen Pasas von Vidin (im Nordwesten des heutigen Bulgarien), Pazvanoglu Osman Aga, gelang es den in ihrer Existenz bedrohten Janitscharen, die Macht im Pasaluk Belgrad wieder an sich zu reißen. Ende 1 8 0 1 ermordeten sie Mustafa-Pasa und errichteten das Schreckensregime der Dahije. 1 1 2 Diese rissen die Steuereintreibung an sich, erhöhten die Abgaben der Bevölkerung, vertrieben die Spahls, zogen bäuerliches Land mit dem Ziel der Gutsbildung (Cifluk-Bildung) ein und platzierten ihre Gefolgsleute (subase) sogar auf dem Lande - ein Vorgang, der einmalig war und die gerade erst zurückgewonnene Dorfautonomie vernichtete. Um einem drohenden Aufstand der Serben zuvorzukommen, verübten die Dahije Anfang 1804 zur Abschreckung der Bevölkerung ein Massaker an etwa siebzig angesehenen Knezen. Diese Mordtat schürte die Empörung in der Bevölkerung; immer mehr Männer flohen zu den Haiducken in die Wälder und warteten auf eine Gelegenheit zur Rache. Im weiteren Verlauf des Jahres formierte sich eine serbische Aufstandsbewegung unter Führung von Djordje Petrovic, genannt „Karadjordje" (Schwarzer Georg). Karadjordje ( 1 7 6 8 - 1 8 1 7 ) , der aus ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen in der Sumadija stammte, hatte in einem serbischen Freikorps unter österreichischem Kommando militärische Erfahrungen gesammelt, sich 1788 am Krieg gegen die Osmanen beteiligt und in den 1790er Jahren - als inzwischen wohlhabender Viehhändler - die Reformen Selims III. und des Belgrader Pasas gegen die Janitscharen unterstützt. Am 14. Februar 1804 sollen Karadjordje und seine Anhänger im Dorf Orasac bei Topola in der Sumadija den Beginn des Aufstands beschlossen haben. Orasac war ein kleines Dorf mit etwa 20 Häusern, das erst zwei, drei Jahrzehnte zuvor von Flüchtlingen aus Montenegro gegründet worden war. Innerhalb kurzer Zeit nach Aufstandsbeginn wurde der Pasaluk Belgrad von der Willkürherrschaft der Janitscharen befreit. Ziel der Erhebung war aber nicht die Abschüttelung der osmanischen Herrschaft, sondern die Beseitigung der Missstände. Von einem „nationalen Befreiungskrieg" konnte noch keine Rede sein. Die bäuerlichen Aufständischen verfolgten rückwärtsgewandte Ziele - die Wiederherstellung der „guten alten Ordnung" — und wussten mit den Konzepten Nation und Nationalstaat nichts anzufangen. Ihre Anführer beriefen sich zwar auf die mittelalterlichen Herrscher und Helden, aber von einer modernen Nation hatten auch sie keine konkrete Vorstellung. Sultan Selim III. ging zunächst auf die Forderungen der Rebellen
1 1 2 „ D a h l " oder „Dahije" - eine Verballhornung des türkischen Worts „dayi" (Onkel mütterlicherseits) - war der Titel der lokalen Janitscharenführer in Serbien und in den Barbareskenstaaten.
Staatsbildung und Beginn der großen Transformation ( 1 8 0 4 - 1 8 5 8 )
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nach A u t o n o m i e ein, lehnte jedoch die v o n der serbischen Delegation verlangte G a r a n tie durch eine auswärtige M a c h t (Osterreich oder Russland) ab, so dass sich der Aufstand ü b e r d i e G r e n z e n des Pasaluks
Belgrad
weiter ausbreitete und auch durch Einsatz o s m a n i s c h e r T r u p p e n nicht m e h r niedergeschlagen werden konnte. I m Bukarester Frieden v o n 1 8 1 2 zwischen Russland u n d d e m O s m a n i s c h e n R e i c h w u r d e in A r t . 8 eine b e s c h r ä n k t e A u t o n o m i e f ü r Serbien unter o s m a n i s c h e r O b e r h o h e i t , die W i e derherstellung der türkischen G a r n i s o n e n in den Städten u n d eine A m n e s t i e f ü r die Aufständischen vereinbart. D a Karadjordje, dessen Z i e l e sich mittlerweile radikalisiert hatten, diese V e r e i n b a r u n g e n f ü r unzureic h e n d hielt, setzte er den K r i e g fort, o h n e
Abb. 5: Der Führer des ersten serbischen Aufstands:
sich jedoch gegen die an der äußeren Front
Karadjordje
entlasteten O s m a n e n a u f D a u e r durchsetzen zu können. Im S o m m e r 1 8 1 3 besetzten osmanische Truppen die befreiten Gebiete und beendeten d a m i t den ersten serbischen A u f s t a n d . D e r enttäuschte Karadjordje floh M i t t e O k t o b e r nach Österreich, w o er zunächst interniert wurde, später aber nach Russland ausreisen durfte. Seine Flucht aus Serbien w u r d e ihm v o n vielen seiner M i t k ä m p f e r verübelt. In diesem Sinne schreibt auch R a n k e : „Wir sind nicht im Stande, sein Betragen zu erklären . . . Irren wir nicht, so dachte Kara G e o r g in d e m allgemeinen R u i n sich selbst in sichere Grenzen . . . zu retten. E i n Entschluss seiner u n w ü r d i g . " 1 1 3 In Serbien schwelte die Unzufriedenheit weiter. Sie wurde durch die Forderung der neuen osmanischen Verwaltung nach Abgabe der Waffen sowie durch Steuererhöhungen und Übergriffe marodierender Soldaten geschürt. N a c h Ausbruch lokaler Revolten stellte sich Milos Obrenovic, der zunächst eine Politik des Ausgleichs mit den O s m a n e n verfolgt hatte und v o m Belgrader Wesir als Oberknez dreier Verwaltungsdistrikte (Nahije) eingesetzt worden war, im April 1 8 1 5 an die Spitze einer zweiten serbischen Erhebung. Milos ( 1 7 8 0 - 1 8 6 0 ) , Sohn eines Bauern, hatte sich im ersten Aufstand als militärischer Führer (Wojwode) und als Mitstreiter Karadjordjes Ansehen erworben, sich später aber den G e g n e r n des z u n e h m e n d
1 1 3 RANKE, L.: Serbische Revolution (1844), S. 1 7 3 .
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kompromisslos und autoritär-zentralistisch agierenden Karadjordje angeschlossen. Als einer der wenigen renommierten Aufstandsfuhrer, die im Herbst 1 8 1 3 im Land geblieben waren, wurde er auf einer Altestenversammlung zum Führer des zweiten Aufstands bestimmt. Wiederum gelang es den Rebellen, große Teile des Pasaluks (allerdings unter Ausnahme der Städte) in kurzer Zeit zu befreien. Doch angesichts der aus verschiedenen Richtungen zusammengezogenen osmanischen Truppen verhielt sich Milos als „Realpolitiker" und strebte nach einem Kompromiss mit der Pforte. Auch der Sultan zeigte sich mit Rücksicht auf die internationale Lage (Ende der napoleonischen Kriege) und Russlands Drängen auf Einlösung der Vereinbarungen von 1 8 1 2 kompromissbereit. Der Wesir in Belgrad musste seinen Posten räumen. Zwischen seinem Nachfolger, Marasli Ali Pasa, und Milos Obrenovic kam es im November 1 8 1 5 zu einer mündlichen Ubereinkunft: Milos wurde darin als oberster Knez (vrhovni knez) der Serben (in den Grenzen des Pasaluks Belgrad) inoffiziell anerkannt und das Land erhielt weitgehende - vom Sultan nachträglich bestätigte - Autonomierechte (etwa bei der Steuereintreibung, der Gerichtsbarkeit und der Einrichtung einer „Volkskanzlei"). Damit waren die serbischen Aufstände gegen die Osmanen beendet. Kardjordje, Milos, Matija Nenadovic, der Haiduck Veljko Petrovic und viele andere hatten einen mutigen Kampf gegen ihre Bedrücker geführt, inspiriert von den Heldenliedern und den KosovoLegenden. Ob man die Aufstände - mit Ranke - als „Revolution" oder als „Rebellion" bezeichnet, hängt von der Abgrenzung beider Begriffe ab. Sofern man unter „Revolution" eine angestrebte grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft (vergleichbar den Zielsetzungen der Französischen Revolution) versteht, waren die serbischen Aufstände mit ihren restaurativen gesellschaftlichen Idealen keine Revolution. Und sie waren erst recht keine „bürgerliche Revolution", da weder die Anführer noch ihre Gefolgsleute Bürger waren. Der sozialen Zusammensetzung der Akteure und ihrer Zielsetzung nach hatten die serbischen Aufstände den Charakter bäuerlicher Rebellionen. 1 1 4 Seine Stellung als Führer der Serben konnte Milos nach der von ihm betriebenen Ermordung Karadjordjes, seines potenziellen Rivalen, der 1 8 1 7 aus dem Exil zurückgekehrt war,
1 1 4 Der Montenegriner Milovan Djilas, zunächst enger Weggefährte Titos und dann der erste prominente Dissident des sozialistischen Jugoslawien, mokierte sich über die „Einstufung" der serbischen Aufstände durch die marxistischen Historiker: „Wäre der serbische Aufstand gescheitert, so hätten sie ihn zweifelsohne unter die .Bauernkriege' eingereiht, da deren marxistisches Hauptmerkmal der Misserfolg ist. D a jedoch der Aufstand von Erfolg gekrönt war, musste er unausbleiblich als R e v o l u t i o n ' eingestuft werden. U n d was geschah ? Er wurde zu einer .bürgerlichen Revolution' erklärt. D a es aber damals in Serbien gar kein Bürgertum gab, das diesen Aufstand hätte führen können, wurde eine Schönheitsoperation durchgeführt: .Bauernkrieg mit dem Charakter einer bürgerlichen Revolution'." DJILAS, MILOVAN: Idee und System. Politische Essays. Wien [u. a.] 1 9 8 2 , S. 245.
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und mit der gewaltsamen Ausschaltung anderer innenpolitischer G e g n e r weiter festigen. Eine Volksversammlung wählte ihn am 6. N o v e m b e r 1 8 1 7 zum erblichen Fürsten. D a n k tatkräftiger russischer Unterstützung w u r d e in der K o n v e n t i o n v o n A k e r m a n ( 1 8 2 6 ) u n d i m russisch-türkischen Friedensvertrag v o n A d r i a n o p e l / E d i r n e ( 1 8 2 9 ) der A u t o n o m i e s t a t u s f ü r Serbien vertraglich f e s t g e s c h r i e b e n u n d die P f o r t e zur Z u r ü c k g a b e v o n sechs w ä h r e n d des ersten serbischen A u f s t a n d s b e f r e i t e n G e b i e t e n außerhalb des Pasaluks B e l g r a d verpflichtet. In einer i m A u g u s t 1 8 3 0 ausgefertigten U r k u n d e ( H a t i s e r i f ) erkannte S u l t a n M a h m u d II. Milos O b r e n o v i c als Fürst mit d y n a s t i s c h e r E r b f o l g e an u n d präzisierte die A u t o n o m i e r e c h t e des Vasallenfürstentums. O b e r s t e O r g a n e der Serben w a r e n f o r t a n der F ü r s t , die V o l k s v e r s a m m l u n g (skupstina) u n d der Staatsrat (drzavni sovjet). A u s Protest gegen die osmanische Verzög e r u n g s t a k t i k b e i m A n s c h l u s s der sechs D i s t r i k t e k a m es zu einer E r h e b u n g der dortigen B e v ö l k e r u n g , w o d u r c h die P f o r t e vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. M i t
Abb. 6: Grabstein aus dem frühen ip. Jahrhundert auf dem Friedhof von Orasac, wo 1804 der erste serbische Aufstand ausgerufen wurde. Dargestellt ist ein serbischer Soldat in einer Uniform nach türkischem Stil.
e i n e m weiteren H a t i s e r i f v o m N o v e m b e r 1 8 3 3 bestätigte der Sultan die Grenzen Serbiens (unter Einschluss der sechs Distrikte) und legte die H ö h e des jährlich an die Pforte zu entrichtenden Tributs (2,3 Millionen Groschen) fest, mit d e m alle bisherigen A b g a b e n an den osmanischen Staat u n d die früheren P f r ü n deninhaber (Spahis) abgelöst wurden. Ferner legte er die Modalitäten f ü r die Aussiedlung der „ T ü r k e n " aus Serbien binnen eines Jahres fest. V o n n u n an w a r die Anwesenheit v o n „ T ü r k e n " bzw. osmanischen Truppenteilen auf sechs Garnisonsorte (Belgrad, Smederevo, Sabac, Uzice, K l a d o v o und Soko) beschränkt.
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Das „lange" 19. Jahrhundert: staatliche und nationale „Wiedergeburt'
Autokratie und Rebellionen: Fürst Milos (1815—1839) Das autonome Fürstentum Serbien und das 1830/32 ins Leben gerufene (souveräne) Königreich Griechenland waren die ersten postosmanischen Staaten auf dem Balkan. Die europäische - serbophil und philhellenisch orientierte - Öffentlichkeit verfolgte beide Staatsgründungen mit großer Anteilnahme. 1829 schrieb Leopold Ranke an Friedrich Christoph Perthes, den Verleger seiner „Serbischen Revolution" - „unseres serbischen Memoires", wie Ranke sein Werk nannte: „Der Gegenstand ist neu und in diesem Augenblick einer der interessantesten für die Welt." 1 1 5 Die beiden neuen Staaten waren hinsichtlich Territorium und Bevölkerungszahl leicht überschaubar. Im Königreich Griechenland lebten in den 1830er Jahren auf rund 48.000 km 2 etwas mehr als 700.000 Einwohner. Das Fürstentum Serbien umfasste knapp 38.000 km 2 , auf denen anlässlich der ersten serbischen Volkszählung (1834) 678.000 Personen registriert wurden. Mit durchschnittlich 1 6 resp. 18 Einwohnern pro Quadratkilometer waren beide Kleinstaaten sehr dünn besiedelt. In beiden Fällen ging es nach Abschluss der Befreiungskriege darum, die erlangte Eigenstaatlichkeit auszugestalten. Dabei standen grundsätzlich zwei entgegengesetzte Modelle zur Auswahl: ein Staat entsprechend den Grundsätzen der traditionellen Bauerndemokratie oder ein Staat nach „europäischem" Muster (in unterschiedlichen Varianten). Die erste Option ist nie ernsthaft versucht worden, obwohl sie zahlreiche Befürworter hatte. Ob (und unter welchen Bedingungen) sie praktikabel gewesen wäre, fällt in den Bereich der virtuellen Geschichte: Lässt sich auf komplexe Gesellschaften übertragen, was in segmentären Gesellschaften funktioniert ? Wir wissen es nicht. Aber die Zweifel überwiegen. In der Praxis ist jedenfalls nur das zweite Modell zur Anwendung gekommen, wenn auch mit großen Widersprüchen und erheblichen Widerständen. Mit der Schaffung eines Staates nach „europäischem Muster" begann eine neue Ära der Geschichte im Balkanraum und eine neue Runde im Kampf der Führungsschichten um Machtressourcen. Während Griechenland auf Beschluss der europäischen Schutzmächte in Otto von Wittelsbach einen fremden Herrscher erhielt, bestieg in Serbien der einheimische Bauernsohn Milos Obrenovic den Fürstenthron. In beiden Ländern gab es keinen Adel, wohl aber eine Schicht von Honoratioren (mit ihren Gefolgschaften), die sich vor allem aus angesehenen Führern der vorangegangenen Befreiungskriege oder Rückkehrern aus der Diaspora rekrutierten. Otto von Bayern brachte darüber hinaus einen geschulten Verwaltungsstab nach Griechenland mit, der sich mit seinen Modernisierungsmaßnahmen schnell die Feindschaft großer Teile der Bevölkerung zuzog. In dieser Hinsicht gab es jedoch keine
1 1 5 Nach ONCKEN, HERMANN : Leopold v. Ranke und die deutsch-serbischen Kulturbeziehungen, - in: Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung des Deutschtums. München 1928, S. 9 5 1 ; vgl. auch KÄMPFER, F.: Zur Rezeption Vuk Karadzics in Deutschland (siehe Anm. 96), S. 158.
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grundlegenden Unterschiede zwischen einheimischen und „importierten" Dynastien. Das Konfliktpotenzial war in Serbien, wo nie ein fremder Fürst den Thron bestieg, nicht geringer als in Griechenland oder später in Rumänien und Bulgarien. Der in der Balkanhistoriographie stark strapazierte Topos des „fremden Herrschers" verdeckt nur das Grundproblem, das in allen Balkanländern zur Lösung anstand: die Überbrückung der tiefen Kluft zwischen der traditionsorientierten Bevölkerungsmehrheit und den alten Honoratioren auf der einen und den modernisierungswilligen neuen Eliten auf der anderen Seite. Ob es sich um die „Bayernherrschaft" in Griechenland, um die oligarchische Herrschaft der „Verfassungsverteidiger" in Serbien ( 1 8 3 9 - 1 8 5 8 ) oder um die Herrschaft Carols I. in Rumänien ( 1 8 6 6 - 1 8 8 1 ) handelte - überall existierte dasselbe Kernproblem (wenn auch mit landesspezifischen Modifizierungen): Die Formierung von Staat und Nation sowie die Implementierung dessen, was dem „Nationalstaat" Stärke und Prestige zu geben versprach, erfolgte von oben mit Hilfe des neu eingerichteten Staatsapparats und gegen die leidenschaftliche Abneigung der Bevölkerungsmehrheit, die den Staat seit jeher als Gegner empfunden hatte, mit dem Konstrukt Nation nichts anfangen konnte, die kapitalistische Wirtschaft als Angriff auf die traditionelle Egalität und Solidarität in der Gemeinschaft sowie das römische Recht als Karikatur ihrer eigenen Vorstellung von Gerechtigkeit erlebte. Der Konflikt zwischen angestrebter ,Allzuständigkeit" des Staates und Subsidiaritätsprinzip, zwischen Zentralismus und Partikularismus zog sich in allen Balkanländern über mehrere Jahrzehnte mit wechselnden Ergebnissen für die eine oder andere Seite hin. Besonders heftig gestalteten sich die Auseinandersetzungen in Griechenland und Serbien, wo sie bereits während der Befreiungskriege begonnen hatten und nach deren Beendigung (bzw. nach Wegfall des gemeinsamen Gegners) mit vermehrter Heftigkeit fortgesetzt wurden. In Serbien erstreckte sich die Auseinandersetzung zwischen Zentralgewalt und segmentärer Gesellschaft über das ganze 19. Jahrhundert und erreichte mit der Jacquerie im ostserbischen Timok-Gebiet 1883 einen letzten spektakulären Höhepunkt. Der zentralisierte „Nationalstaat" als Leitidee der Modernisierungselite und Demiurg der Entwicklung geriet überall in einen scharfen Gegensatz zum tradierten Normen- und Wertesystem des widerspenstigen Bauernvolks und seiner Honoratioren, das auf Dezentralisierung, Basisdemokratie, Gewohnheitsrecht und lokaler/regionaler Autonomie beruhte. Der Gegensatz hatte viele Gesichter und spielte sich auf vielen Ebenen ab: Regionalismus versus Zentralismus, traditionelle versus moderne Führungsschichten, Eliten versus Nicht-Eliten, Stadt versus Land, personifizierte versus anonymisierte Sozialbeziehungen usw. Überall stellte die Uberwindung der segmentären Gesellschaft die Vorbedingung für die Konsolidierung des „modernen" Staates dar. So nimmt es nicht wunder, dass sich innerhalb weniger Jahrzehnte nach der Staatsgründung die Zahl der neuen Institutionen um ein Vielfaches multiplizierte und zu einer Hy-
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pertrophie des öffentlichen Sektors führte. Ende des 19. Jahrhunderts unterschied sich der serbische Staatsapparat äußerlich kaum noch von dem in anderen europäischen Ländern. Sobald man sich die Armut an Institutionen in den christlichen Gesellschaften unter osmanischer Herrschaft vergegenwärtigt, wird die Radikalität des Wandels erkennbar, der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog. Die wichtigste Gewohnheitsinstitution der Balkanvölker, die Kommune als patriarchalisch verfasster Verband mit weitgehender rechtlicher und wirtschaftlicher Selbstständigkeit, verlor im Verlauf dieses Prozesses jede gesellschaftsprägende Bedeutung und wurde vollständig transformiert - ein Prozess, der in Westeuropa über Jahrhunderte hinweg vorbereitet worden war und während des Absolutismus seinen Kulminationspunkt erreicht hatte, in den Balkanländern dagegen innerhalb weniger Jahrzehnte in Form einer „Schocktherapie" durchgesetzt wurde. Der Aufbau des serbischen Staatsapparats diente zunächst dem Bestreben von Milos Obrenovic, seine Autorität als „oberster Fürst" gegenüber dem Partizipationsbegehren anderer serbischer Aufstandsfuhrer und Honoratioren sowie dem Selbstverwaltungsanspruch der Dorfgemeinschaften zu festigen. 116 Die fürstliche Autorität stand dabei in Konkurrenz zur Autorität der „Knezen", die nicht auf der vom Staat bzw. vom Fürsten verliehenen Exekutivgewalt, sondern auf dem persönlichen Ansehen in der lokalen Bevölkerung beruhte: auf Führungsqualitäten, Charisma und verwandtschaftlichen Netzwerken. Aus diesem Konkurrenzkampf ging Milos zunächst als Sieger hervor. Die 1 8 1 5 auf Druck „angesehener" Serben in Ubereinstimmung mit dem Belgrader Wesir eingerichtete Volkskanzlei (narodna kancelarija) musste schon bald dem dominierenden Einfluss des Fürsten und seiner persönlichen Kanzlei weichen. Bis zu den Verfassungen von 1835 und 1838 vollzog sich der weitere Aufbau der staatlichen Organe - mangels gesatzter Norm - nach den patrimonialen Vorstellungen des lese- und schreibunkundigen, aber gut informierten Fürsten und zeichnete sich durch fehlende Gewaltenteilung, wiederholte Umverteilung der Kompetenzen, Kooptation potenzieller Rivalen und Zwang aus. Wer das Glück hatte, in die Gefolgschaft des Fürsten - in die „fürstliche Suite" - kooptiert zu werden, konnte sich schnell bereichern, blieb aber der Gnade des Herrn ausgeliefert. Er hatte Zugang zum Fürstenhof (konak), wo man „alla turca" - bei Wasserpfeife (cibuk) und türkischem Kaffee - über das „Weltgeschehen" plauderte und Milos sich von sprachkundigen Mitarbeitern die neuesten Nachrichten aus der „Augsburger Allgemeinen Zeitung", dem österreichischen „Beobachter", dem englischen „Constitutional" oder den „Peterburgskie vedomosti" (Petersburger Zeitung) vorlesen ließ. Die fürstliche „Residenz" in Kragujevac war „orientalisch mit Ottomanen, Pfeifenschränken, Teppichen und Bildern ausgestattet". 117 „Europäische" Möbel (Stühle, Tische, Betten)
1 1 6 Zum Folgenden vgl. u. a. LJUSIC, R.: Knezevina Srbija. 1 1 7 K A N I T Z , F.: K ö n i g r e i c h d e r S e r b e n . B d . 1 , S . 2 9 7 . Z u m F ü r s t e n h o f v g l . M I E D L I G , H . - M I C H A E L : D i e
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gab es entweder gar nicht oder sie w u r d e n nur zu E h r e n auswärtiger G ä s t e herbeigeschafft. G l e i c h seinen Landsleuten schlief auch der Fürst auf d e m Fußboden. Milos war nicht nur besessen von jungen Frauen, sondern verwöhnte auch die M ä n ner, die ihm Gefolgschaft leisteten. Wer sich mit i h m anlegte, musste dagegen u m sein Leben fürchten. „ M i l o s had no pity either f o r his enemies or for those w h o disagreed w i t h him. H e once cut out a man's tongue, and he wrote to his brother that he had entirely ' w i p e d out' the o p p o s i t i o n . " 1 1 8 M i t der E r m o r d u n g Karadjordjes ( 1 8 1 7 ) hatte M i l o s seinen gefährlichsten Rivalen ausgeschaltet und damit zugleich den Grundstein f ü r die jahrzehntelangen blutigen A u s e i n andersetzungen zwischen den Mitgliedern und Anhängern seines eigenen Geschlechts, .
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Abb. 7 : Fürst Milos Obrenovic mit türkischem Fez.
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A n h ä n g e r n des „Hauses K a r a d j o r d j e " , den Karadjordjevici, gelegt. Erst mit dem M o r d an K ö n i g Alexander O b r e n o v i c im Jahre 1 9 0 3 w u r d e der K o n f l i k t schließlich zugunsten der Karadjordjevics entschieden. A u f den ersten Blick handelte es sich dabei u m eine dynastische Fehde, tatsächlich verbarg sich dahinter aber auch die Gespaltenheit der serbischen Führungsschichten, die den M a c h t k a m p f zwischen den Obrenovics u n d Karadjordjevics f ü r ihre Z w e c k e zu instrumentalisieren wussDer schon bald nach d e m Ende des zweiten Aufstands wie ein Sultan oder Pascha amtierende Milos Obrenovic sah sich mit einer wachsenden Z a h l unterschiedlicher G e g n e r konfrontiert, so dass der Prozess der Staatsbildung von endemischen U n r u h e n und zahlreichen Rebellionen (bune) begleitet wurde. D i e Haiducken breiteten sich immer weiter aus. Ganze Dorfgemeinschaften liefen zu ihnen über. N a c h Aussage des Historikers Mihailo Gavrilovic von A n f a n g des 20. Jahrhunderts soll die Haiduckenbewegung nie größere Ausmaße erreicht
Kultur am Hofe Milos Obrenovics von Serbien ( 1 8 1 5 - 1 8 3 9 ) , - in: Höfische Kultur in Südosteuropa. Hg. Reinhard Lauer - Hans Georg Majer. Göttingen 1 9 9 4 , 8 . 2 8 2 - 3 0 4 . 1 1 8 C v i j i c , J o v a n : Studies in Jugoslav Psychology (Part II), - in: The Slavonic Review 9 ( 1 9 3 0 / 3 1 ) , S. 6 7 1 .
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haben als unter der Regierung des Fürsten Milos. Auch die Honoratioren wurden durch das selbstherrliche Gebaren des Fürsten, seine schamlose Bereicherung mittels Monopolisierung des Außenhandels und seine entschiedenen Maßnahmen gegen eine Feudalisierung zunehmend verprellt. Schon Ende März 1 8 2 1 brach im Distrikt Pozarevac unter Führung des Knezen Marko Todorovic Abdula, einem Teilnehmer am ersten und zweiten serbischen Aufstand, eine Rebellion gegen die Allgewalt des Fürsten aus (Abdulina buna). Anfang 1825 stellte sich der Kaufmann Milivoje Popovic-Djak an die Spitze einer Rebellion in der Umgebung von Topola (Djakova buna). Die Aufständischen forderten die Abschaffung der fürstlichen „Tyrannei", die Verringerung von Steuern und sonstigen Abgaben, das Verbot von Frondiensten zugunsten des Fürsten und der Knezen, die Abschaffung des fürstlichen Außenhandelsmonopols sowie die Wiederherstellung der Selbstverwaltung und die Rückgabe der politischen Rechte an das Volk. Gut ein Jahr später, im Frühjahr 1826, bereiteten die Söhne eines angesehenen Wojwoden aus dem ersten serbischen Aufstand, Djordje i Marko Carapic, eine neue Erhebung gegen Milos „Willkürherrschaft" vor (Carapiceva buna). Doch ungeachtet der allgegenwärtigen Unzufriedenheit zögerte Milos auch nach Erlass der beiden Sultansurkunden von 1 8 3 0 und 1 8 3 3 die Ausarbeitung einer Verfassung und die Regelung der Gewaltenteilung zwischen Fürst, Volksversammlung und Staatsrat hinaus. Der bereits erwähnte Vuk Karadzic, der uns im Zusammenhang mit der Nationsbildung noch eingehender beschäftigen wird, wandte sich 1 8 3 2 mit einem Brief an Milos. Darin beklagte er, dass es in Serbien keine Regierung im wahren Sinne des Wortes gebe, sondern Milos die ganze Regierung sei. Wo er sei, sei auch die Regierung. Es gebe kein Gesetz, obwohl Milos auf Versammlungen wiederholt die Ausarbeitung von Gesetzen versprochen habe. Alle Macht habe er in seine Hände genommen; er mische sich in alle Geschäfte ein, selbst in die privaten und häuslichen Angelegenheiten aller Leute. Allen Handel halte er in seinen Händen; das Volk habe er mit Frondiensten belastet. Deshalb seien alle unzufrieden mit seiner Herrschaft. Karadzic forderte Milos auf, dem Volk seine Rechte (pravica) oder - wie man heute in Europa gewöhnlich sage - eine Konstitution zu geben. 1 1 9 Da nichts in dieser Richtung geschah, brachen neue Unruhen aus. Die bekannteste davon ist unter der Bezeichnung „Miletina buna" in die Geschichte eingegangen. Benannt ist sie nach Mileta Radojkovic, einem Teilnehmer am ersten und zweiten serbischen Aufstand, der sich in der Bewegung zum Anschluss der sechs Distrikte an Serbien weiteren Ruhm erworben hatte und von Milos mit verschiedenen Amtern betraut worden war. Im Januar 1835 führte er zusammen mit anderen angesehenen (und wohlhabenden),Ältesten" eine aus mehreren Distrikten zusammengezogene Truppe an und nahm ungehindert Kragujevac, die damalige Hauptstadt des Fürstentums, ein. Anders als bei den vorangegangenen Rebellionen wich Milos diesmal
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D J O R D J E V I C , M I R O S L A V : S r p s k a n a c i j a , S . 4 7 f.
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einer militärischen Konfrontation aus, da er die Breite des Widerstands und die drohende Gefahr fur den Fortbestand seiner Herrschaft erkannte. Stattdessen beauftragte er den Sekretär seiner Kanzlei mit der Ausarbeitung einer Konstitution, die auf einer großen Volksversammlung (mit rund 2400 Dorfvertretern und etwa 10.000 Neugierigen) am 14. Februar 1835 verabschiedet wurde (Sretenjski ustav). Darin wurden die Rechte und Pflichten des „Staatsrats" (einer aus sechs „Ministern" und einer unbestimmten Zahl von Staatsräten bestehenden Regierung) und der Volksversammlung (narodna skupstina mit dem Recht der Steuergesetzgebung) geregelt sowie den Bürgern eine Reihe von Grundrechten garantiert. Die orthodoxe Kirche mit einem Metropoliten an der Spitze wurde als eigenständige Organisation anerkannt. Ansonsten galt Religionsfreiheit. „Merkwürdig", schreibt Ranke, „welche Ideen aus der constitutionellen Bewegung Europas in dieses noch halb orientalische Wesen einzudringen suchen: - Menschenrechte, die hier hauptsächlich Sicherheit der Person und des Eigenthums begreifen, - Verantwortlichkeit der Minister - endlich daß der Fürst unter dem Gesetz stehe ... Damit sollte aber zugleich ein selbständiger Antheil der bisher Untergeordneten an der Ausübung der öffentlichen Gewalt verbunden seyn. Alle die Knesen, Gerichtsräthe und übrigen Beamten, die als Diener, ja als Knechte behandelt worden, sollten dem bisher unumschränkten Herrn als Theilhaber der Macht zur Seite treten." 120 Doch die im Februar erlassene serbische Verfassung wurde von Milos einen Monat später wieder suspendiert! Der Fürst begründete seinen Schritt mit dem Protest der Großmächte (Osterreich, Russland und Osmanisches Reich), die die serbische Verfassung als „republikanisch", „revolutionär" und „ansteckend" verworfen und kritisiert hatten, dass sie nicht vorher um Genehmigung gefragt worden waren. Dem Fürsten kam der Einspruch der Mächte sehr gelegen. Er kehrte zur autokratischen Herrschaft zurück und vermehrte seinen Reichtum. Doch die Verfassungsfrage konnte er nicht mehr aus der Welt schaffen; und der Druck auf den Fürsten hielt an. In Verhandlungen mit den Vertretern der Großmächte wurde ein neuer Text ausgearbeitet, den der Sultan in Form eines Hatiserifs am 22. Dezember 1838 fur die „Provinz Serbien" in Kraft setzte („türkische Verfassung"). Die wichtigste Veränderung betraf die Gewaltenteilung. Der Staatsrat (eine Art Senat), der sich aus 17 Mitgliedern der Distrikte zusammensetzte, teilte sich fortan die gesetzgebende Gewalt mit dem Fürsten. Dagegen wurde die Volksversammlung auf Drängen Russlands und der Pforte sowie zum Wohlgefallen vieler mächtiger Honoratioren in Serbien nicht einmal erwähnt. Die Ratsmitglieder mussten mindestens 3 5 Jahre alt sein, über ein gewisses Quantum an Landbesitz verfügen, moralisch integer und im Volk allgemein bekannt sein sowie Verdienste um das Vaterland nachweisen. Unter diesen Voraussetzungen konnte der Fürst sie zu Ratsmitgliedern auf Lebenszeit bestellen. Und da sie nicht mehr absetzbar waren, wuchs
120 RANKE, L.: Serbische Revolution (1844), S. 349.
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ihnen eine Machtfülle zu, die mit der fürstlichen Gewalt erfolgreich konkurrieren konnte. Darüber hinaus erfüllte die „türkische Verfassung" viele Forderungen von Milos Gegnern (Freiheit des Handels, Aufhebung der Fronarbeit, uneingeschränktes Verfügungsrecht über individuelles Eigentum, Verbot zur Wiederherstellung der Feudalbeziehungen sowie Vorschriften zur Stellung der Staatsbeamten und zur Ausgestaltung des Gerichtswesens). Milos musste sich nun die Macht mit den Oligarchen im Senat teilen. Gegenüber seinem Sekretär erklärte er, er könne auf der Grundlage dieser Verfassung nicht regieren. Es sei ihm unmöglich, in Absprache mit 1 7 Leuten und ohne das Gegengewicht einer Volksversammlung die Staatsgeschäfte zu fuhren. Da die Senatsmitglieder, die sich zur „Partei" der „Verfassungsverteidiger" (ustavobranitelji) zusammengeschlossen hatten, ihre Kompetenzen durch Erlass einer Staatsratsordnung, Umgestaltung der fürstlichen Kanzlei und eine neue Verwaltungsordnung weiter ausbauten, startete Milos mit Unterstützung eines Teils der Truppen einen Putschversuch. Nach dessen Scheitern dankte er am 1 3 . Juni 1839 zugunsten seines ältesten Sohnes, Milan, ab und begab sich ins Exil nach Osterreich. Die erste Regierung von Milos Obrenovic (er wurde Ende 1858 im Alter von 79 Jahren auf den serbischen Thron zurückberufen und regierte das Land ein zweites Mal bis zu seinem Tod am 14. September 1860) hatte Serbien grundlegend verändert. Aus einer verkommenen Provinz des Osmanischen Reiches, dem Pasaluk Belgrad, war das autonome Erbfürstentum Serbien geworden. Die Janitscharen waren vernichtet. Die ehemaligen Pfründner (Spahls) hatten das Land verlassen, ihr Boden war in das Eigentum der serbischen Bauern übergegangen. Serbien hatte das Recht erhalten, seine inneren Angelegenheiten selbstständig zu regeln und die dafür erforderlichen Institutionen zu schaffen. Die damit aufgeworfene Machtfrage blieb jedoch unentschieden. Z u groß waren die Interessenunterschiede zwischen alten und neuen Führungsschichten, zwischen Knezen und Wojwoden auf der einen, dem Fürsten und seinen Gefolgsleuten im Staatsdienst auf der anderen Seite, sowie auch innerhalb beider Lager, zwischen denen, die sich am Ideal einer selbstverwalteten, herrschaftsfreien Gesellschaft orientierten und sich auf das Gewohnheitsrecht beriefen, und denen, die einen zentralistisch aufgebauten Staat (nach französischem Vorbild) anstrebten und dabei entweder auf Absolutismus oder auf Konstitutionalismus setzten. Mit Milos' Abdankung 1839 neigte sich die Waagschale zugunsten der Konstitutionalisten, die sich vor allem aus den Reihen der wohlhabenden Kaufleute, der höheren Beamten und der Offiziere rekrutierten. Unter ihrer Herrschaft nahm der serbische Nationalismus, der während der ersten Regierung des Fürsten Milos noch keine Rolle gespielt hatte, 1 2 1 erstmals konkrete Konturen an.
I2I Vgl. STOKES, GALE: The Absence of Nationalism in Serbian Politics before 1840, - in: Nations and Nationalisms in East-Central Europe, 1806-1948. Hg. S. R. R a m e t - J . R. F e l a k - H . J . Ellison. Bloomington /Ind. 2002, S. 1 4 5 - r 57.
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Von der Macht zur Herrschaft: die „Verfassungsverteidiger" (1842—1858) Mit Beginn der 1840er Jahre setzte jener Prozess ein, der von Zeitgenossen als „Rückkehr nach Europa" verstanden wurde. Doch die Interpretation blieb vieldeutig. Für die einen beschränkte sich die „Europäisierung" im Wesentlichen auf die Eliminierung des osmanischen, „nicht-europäischen", „asiatischen", „islamischen" Erbes (bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber dem „Westen"). Für andere beinhaltete sie darüber hinaus die Annäherung an die politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Standards West- und Mitteleuropas (unter Bewahrung der eigenen Identität). Nach Milos' Abdankung gewannen die Vertreter der zweiten Strömung zunächst die Oberhand. Da der neue Fürst, Milan Obrenovic, bereits kurze Zeit nach der Thronbesteigung starb und das Land bis zur Ankunft seines jüngeren Bruders Mihailo von einem aus den Reihen der „Verfassungsverteidiger" zusammengesetzten Regentschaftsrat regiert wurde, nahm deren Macht weiter zu. Mihailo versuchte zwar als Fürst, den Einfluss der Oligarchen wieder zurückzudrängen, löste damit aber im August 1842 eine von Torna Perisic Vucic (ca. 1790—1859) und anderen Konstitutionalisten inszenierte Rebellion aus (Vuciceva buna), durch die Mihailo zum Verlassen des Landes genötigt wurde. Damit endete erstmalig auch die Herrschaft des ObrenovicClans. Eine Volksversammlung, zu der aus jedem Dorf 6 - 7 Vertreter eingeladen wurden, rief den Sohn des bereits zur Legende gewordenen Karadjordje, Alexander Karadjordjevic, zum neuen Fürsten aus, unter dessen Herrschaft (1842-1858) das Regime der „Verfassungsverteidiger" seinen Höhepunkt erreichte. 122 Ungeachtet mehrerer Verschwörungen und Rebellionen der Obrenovic-Anhänger in den Jahren 1 8 4 2 - 1 8 4 4 trat Serbien nun in die Phase eines politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels ein, der alle vorangegangenen Veränderungen in den Schatten stellte. Während der fast zwanzigjährigen Herrschaft der „Verfassungsverteidiger" setzte erstmals eine an „europäischen" Vorbildern orientierte Reorganisation der noch rudimentären staatlichen Organisationsstrukturen und damit der Ubergang zu einer modernen bürokratischen Herrschaft ein. Während dieser Zeit erlebte das Land den systematischen Aufbau stabiler, gesetzlich normierter Staatsbehörden mit verbindlich kodifizierten Aufgaben. An die Stelle der streng persönlichen, durch Gnade und Willkür bestimmten Gefolgschaftsbeziehungen trat nun ein dem Anspruch nach versachlichtes, nach normierten Prinzipien geregeltes System von Über- und Unterordnungen, das zur Grundlage der neuen bürokratischen Herrschaft wurde. Wenn das Serbien dieser Jahre von Zeitgenossen als „Beamtenland" (cinovnicka zemlja) beschimpft wurde, so lag dies weniger an der großen Zahl von Staatsdienern (sie belief sich 1840 auf insgesamt 891 Personen) als vielmehr an der 1 2 2 Dazu noch immer grundlegend JOVANOVIC, S.: Ustavobranitelji i njihova vlada.
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Das „lange" 19. J a h r h u n d e r t : staatliche u n d nationale „Wiedergeburt"
Fremdartigkeit des ganzen Systems in einem traditionsverhafteten bäuerlichen Milieu und den daraus resultierenden Konflikten. Vor diesem Hintergrund sind auch die vehementen Angriffe des Frühsozialisten Svetozar Markovic gegen die serbische Bürokratie in den 1860er Jahren und die seinen Schriften folgende Ausbreitung populistischen Gedankenguts zu verstehen. Die Schmerzhaftigkeit des Transformationsprozesses wurde dadurch verschärft, dass zwischen Anspruch und Realität des modernen Verwaltungsstaats jahrzehntelang eine tiefe Kluft bestand, da der zu versachlichter Herrschaft rechtlich und technisch geschulte Beamtenstab fehlte. Einem Herrn zu dienen konnte gut oder schlecht sein. Einem Staat oder dem Allgemeinwohl zu dienen war dagegen sehr abstrakt. Denn wer war der Staat? Und was bedeutete Allgemeinwohl ? Dennoch wucherte die funktionale Ausdifferenzierung unvermindert fort und ließ eine mehr und mehr verzweigte Amterhierarchie entstehen. Im Zuge dieser wundersamen Ämtervermehrung nahm nicht nur die Zahl der Staatsdiener zu, sondern es veränderten sich auch deren Rechte und Pflichten. Während Milos erster Regierungszeit waren die Exekutoren der öffentlichen Gewalt gänzlich der Gnade und Willkür ihres obersten Herrn ausgeliefert, der sie nach Belieben einsetzen, bestrafen und entlassen konnte. Erst die Konstitution von 1838, die im Anschluss daran von den „Verfassungsverteidigern" erlassenen Beamtenverordnungen und die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1844 schufen die Voraussetzungen zur Entstehung eines unabhängigen serbischen Beamtentums. Bis zur Rückkehr des Fürsten Milos 1858 erlangten die Staatsdiener nicht nur eine sozial privilegierte, sondern auch eine rechtlich fast unangreifbare Position, die zum Missbrauch geradezu ermutigte. Aber selbst grobe Verletzungen der Amtspflicht, wie Unterschlagung, Korruption oder die Anwendung der ehrenrührigen Prügelstrafe (batina) ohne Gerichtsurteil, zogen keine oder nur verhältnismäßig milde Konsequenzen nach sich. Die Abneigung der Bevölkerung gegen die Omnipräsenz der Zentralgewalt und die Entpersonifizierung der Sozialbeziehungen sowie die Vorbehalte gegen eine unverständliche - häufig in Konflikt zu Brauch und Sitte stehende - Rechtsordnung wurde durch den Einsatz unqualifizierter und ortsfremder Beamter zusätzlich geschürt. Die Konflikte eskalierten, wenn die Beamten ihrerseits - sei es aus Unverständnis oder Willkür - zur Verletzung der Rechtsordnung neigten (oder die Bevölkerung ihnen dies unterstellte), ohne dass die Zentralgewalt in der Lage gewesen wäre, die beschuldigten Beamten durch fähigere Amtsdiener zu ersetzen oder entsprechende Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung zu leisten. 123 Auch die Modernisierung des serbischen Rechtssystems entsprechend römischrechtlichen Normen begann unter dem Regime der „Verfassungsverteidiger". Hauptakteur war der aus der serbischen Diaspora in Südungarn stammende Jovan Hadzic (1799-1869), ein typischer Repräsentant der „verdeutschten" Serben „von drüben". Der an der Universität Pest als Jurist 1 2 3 Einzelheiten bei BOESTFLEISCH, H . - M . : Modernisierungsprobleme und Entwicklungskrisen.
S t a a t s b i l d u n g u n d B e g i n n der großen T r a n s f o r m a t i o n
(1804-1858)
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promovierte Hadzic bekannte sich zu einem auf klassischer Bildung beruhenden, im Gedankengut von Antike und Aufklärung wurzelnden, Rationalismus. Er machte sich nicht nur als Jurist, sondern auch als Übersetzer von Homer, Horaz, Vergil, Cicero, Herder und Lessing sowie als Historiker einen Namen. Das von ihm verfasste Zivilgesetzbuch Serbiens, das am 25. März 1844 in Kraft trat (und mit vielen seiner Bestimmungen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Gültigkeit behielt), stellte zu wesentlichen Teilen eine stark, um etwa ein Drittel gekürzte Übersetzung des Osterreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1 8 1 1 dar. 124 Mit vielen seiner Regelungen, insbesondere zur Stärkung der Individualrechte und des Privateigentums, eilte es allerdings den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in Serbien voraus, so dass Hadzic im Familien- und Erbrecht Veränderungen im Sinne des serbischen Gewohnheitsrechts vornahm. Er ging dabei aber nicht konsequent vor (was wohl auch unmöglich gewesen wäre), so dass die Systematik des Gesetzbuches Schaden nahm. Der traditionelle Kollektivismus, die Vormachtstellung der Gemeinschaft, auf der einen und die juristische Entdeckung des Ichs, das Konzept der menschlichen Persönlichkeit, auf der anderen Seite ließen sich schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. 125 Am 2 1 . Oktober 1853 wurde - wiederum unter Mitwirkung von Jovan Hadzic — die erste einheitliche Zivilprozessordnung erlassen, die eine Vielzahl vorangegangener Einzelbestimmungen ersetzte, aber infolge ihrer Mängel 1865 durch eine neue Prozessordnung ersetzt werden musste. Fürst Alexander Karadjordjevic schlug 1855 dem Staatsrat auch eine Systematisierung der zahlreichen strafrechtlichen Detailgesetze und Verordnungen vor. Doch der Hohe Rat lehnte das Ansinnen mit den Worten ab: „Unser Volk lebt noch in einem patriarchalen Zustand ... Ein guter Mensch braucht keine Gesetze. Das Gesetz ist ein Produkt des Zwangs zur Verhinderung des Bösen und es wird fur diejenigen geschrieben, die böse sind. (...) Unser Volk ist in seinen Auffassungen so gut und so gesund wie vielleicht kein anderes in Europa. Also benötigt es auch keine Heilmittel ..., vielmehr sollte man es vor allzu vielen Gesetzen schützen, aus denen es erst eine Vielzahl von Verbrechen erlernen könnte." 126 Diese Argumentation stand freilich so offensichtlich im Widerspruch zur Realität, dass der Staatsrat von sich aus — während der zweiten Herrschaft des Fürsten Milos - die Verabschiedung eines Strafgesetzbuches (in Anlehnung an das Preußische Strafgesetzbuch von 1 8 5 1 ) 1 2 7 auf den Weg brachte, das am 29. März i860 Geltung erlangte und dessen Bestimmungen infolge steigender Kriminalität schon bald verschärft wurden.
1 2 4 Z u Hadzic vgl. JOVANOVIC, SLOBODAN : Politicke i pravne rasprave. Sabrana dela [Politische und rechtliche A b h a n d l u n g e n . G e s a m m e l t e Werke]. B d .
2.
Beograd
1990,
S.
277-301.
125 Vgl. die A u s f ü h r u n g e n im Abschnitt „Von der Z a d r u g a zur K e r n f a m i l i e " . 126
Zit. nach JANKOVIC, D . : Istorija drzave, S. 7 8 u n d 112 f.
1 2 7 Einzelheiten im Artikel „Serbien", - in: D i e Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung. Bd. 1 : Das Strafrecht der Staaten Europas. Hg. Franz von Liszt. Berlin
1894, S. 353 ff. (Nachdruck 1997).
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Das „lange" 19. Jahrhundert: staatliche und nationale „Wiedergeburt"
Milos selbst gelangte während seines langen Exils zu der Erkenntnis, „dass sich ein Volk nicht gut ohne geschriebene Gesetze regieren lasse; und solche in Menge herauszugeben, wurde später bei ihm zur Manier", berichtet Felix Kanitz: „Er konnte an manchen Tagen an zehn Stunden ausharren, sich Gesetzesentwürfe vorlesen lassen [er selber war nach wie vor Analphabet], Paragraph an Paragraph reihen, nach seinen Ansichten abändern und sich so in der Rolle des Gesetzgebers gefallen. In der kurzen Periode seines letzten Regiments erschienen außer vielen kleineren Verordnungen ein Criminalcodex, eine Civilprozessordnung und ein Wechselrecht. Eine Criminalprozessordnung und die Organisation der geistlichen Behörden harrten der Publizierung." 128 Ohne an dieser Stelle auf weitere Details einzugehen, bleibt festzuhalten, dass die „Europäisierung" Serbiens unter dem Regime der „Verfassungsverteidiger" eine ungeahnte Beschleunigung und Dramatik erfuhr. Der Aufbau eines Behördenstaates, die Umkrempelung des Rechtssystems, die Freiheit des Handels für alle, die Entstehung eines proto-industriellen Gewerbes, die Grundlegung eines neuen Schulsystems, die Gründung kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen sowie die Arbeit an der Nation leiteten eine Revolution von oben ein. Der Demokratisierungsprozess blieb dabei auf der Strecke. Da die Verfassung von 1838 alles andere als demokratisch war, waren auch die „Verfassungsverteidiger" alles andere als Demokraten. Ihr Regime ähnelte einer Modernisierungsdiktatur. Die Volksversammlungen, die nach der Verfassung von 1838 nicht vorgesehen (aber auch nicht verboten) waren, wurden zwar als beratende Organe in unregelmäßigen Abständen nach dem Gewohnheitsrecht einberufen (wobei sich die Delegierten in zunehmendem Maße aus Staatsdienern zusammensetzten), besaßen aber keinerlei legislative Gewalt. Die „Verfassungsverteidiger" spalteten sich bald in verschiedene Fraktionen auf. Sie zerstritten sich in der Außenpolitik (Russophile versus Turkophile versus Austrophile), in der Innenpolitik (Befürworter versus Gegner einer Stärkung der Volksversammlung) und in der dynastischen Frage (Karadjordjevic-Anhänger versus Obrenovic-Anhänger). Diese Fraktionskämpfe sowie die immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen zwischen Staatsrat und Fürst, eine sich abzeichnende wirtschaftlich-soziale Stagnationskrise und erneute Unzufriedenheit im Lande führten zur Einberufung einer Volksversammlung am Hl.-Andreas-Tag (12. Dezember) 1858 (Svetoandrejska skupstina). Diese Versammlung war aufgrund eines kurz zuvor erlassenen Wahlgesetzes anders zusammengesetzt als ihre Vorgängerinnen (weniger Staatsbeamte, mehr Volksvertreter). Dank des Bündnisses zwischen der jungen Gruppe der Liberalen und den Obrenovic-Anhängern gegen die konservative Bürokratenoligarchie gelang es ihr, Fürst Alexander abzusetzen und den greisen Milos Obrenovic auf den Thron zurückzuberufen. Mit dessen Rückkehr endete auch das Regime der „Verfassungsverteidiger".
128 KANITZ, F.: Reisestudien, S. 2.36.
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Nationsbildung und nationales Projekt
2.2
NATIONSBILDUNG
UND
NATIONALES
PROJEKT
Wenn die serbische Nation - gleich anderen modernen Nationen - keine „Urkategorie" im primordialen, essentialistischen Sinn ist, was ist sie dann ? Ist sie eine bloße „Erfindung" ? Und wenn ja: was heißt das? Bevor darauf eine Antwort gegeben werden kann, soll der Prozess der Nationsbildung in Grundrissen rekonstruiert werden. Obwohl das Fürstentum Serbien für den serbischen Nationsbildungsprozess von größter Bedeutung war, griff das „nation-building" über den Rahmen des jungen Staates hinaus und umfasste auch die außerhalb des Fürstentums lebenden „Serben". Wenn diese hier in Anfuhrungsstriche gesetzt sind, soll damit angedeutet werden, dass die Frage, wer ein Serbe ist und was ihn von einem Nicht-Serben unterscheidet, erst im Zuge des Nationsbildungsprozesses beantwortet werden musste und dass es darauf nicht eine, sondern mehrere Antworten gab. Nationsbildung ist Definition und Abgrenzung, da es ohne Abgrenzung keine Nation gibt. Um abgrenzen zu können, bedarf es bestimmter Kriterien, die von Nation zu Nation unterschiedlich sind. Sie basieren auf bereits vorhandenen Ähnlichkeiten und Interaktionen, die verändert und vereinheitlicht werden. Oder sie werden neu komponiert, allerdings nicht beliebig, denn sie müssen plausibel erscheinen, distinktiv sein und der Zielgruppe eine Möglichkeit zur Identifikation bieten. Wie bereits erwähnt, lebten diejenigen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein serbisches Nationalbewusstsein annahmen, zu Beginn dieses Prozesses verteilt auf mehrere Staaten und Regionen: im Fürstentum Serbien und den angrenzenden Gebieten des Osmanischen Reiches (in verschiedenen Teilen Bosniens, in der Ost-Herzegowina sowie in den Nachbarregionen südlich und östlich des Fürstentums), in Südungarn (der heutigen Wojwodina) und in der kroatisch-slawonischen Militärgrenze des Habsburger-Reiches. Hinzu kamen mehr oder minder große Gruppen in Zivilkroatien, Dalmatien, in Wien, Triest oder Ofen/ Pest (heute Budapest). Die Bewohner des faktisch autonomen Fürstentums Montenegro, das aufgrund seiner geophysikalischen Abgeschiedenheit eine Sonderstellung im osmanisch beherrschten Balkanraum eingenommen hatte, aber erst 1878 formell seine Unabhängigkeit erlangte, wurden von den Serben als Teil ihres Volkes verstanden, was bei den Montenegrinern auf unterschiedliche Resonanz stieß, von einigen bejaht, von anderen abgelehnt wurde. Im Unterschied zu den osmanischen Serben waren die habsburgischen Serben stärker in Städten konzentriert und hatten Zugang zu den geistigen Strömungen Mittel- und Westeuropas. Die Söhne wohlhabender Serben studierten vornehmlich an den Universitäten in Wien und Ofen/Buda, mitunter auch in Halle, Leipzig und Göttingen oder ließen sich an den theologischen, militärischen und weltlichen Schulen in Russland ausbilden. Sowohl für die Serben unter osmanischer wie unter habsburgischer Herrschaft hatte die Zugehö-
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rigkeit zur Orthodoxie lange Zeit eine herausragende gemeinschaftsstiftende Rolle gespielt, namentlich fur die religiös gut organisierten Serben im Habsburgerreich, so dass von einem „Konfessionsnationalismus" als Vorform des modernen Nationalismus gesprochen werden kann. 1 2 9 (Wie wir noch sehen werden, ist das nicht unproblematisch.) Die „Erinnerung" an eine gemeinsame Abstammung und Vergangenheit, insbesondere an den mittelalterlichen serbischen Staat, wurde durch Herrscher- und Heiligenviten sowie erste historiographische und heraldische Werke wach gehalten oder geweckt. Auch das Schulwesen in den serbischen Siedlungsgebieten des Habsburgerreiches - sowohl das kirchliche wie das rudimentäre weltliche Schulwesen - , die ersten „serbischen" Druckerzeugnisse, die in Venedig, Wien, Ofen oder Leipzig verlegt wurden, sowie das Wirken der serbischen Aufklärer im Gefolge der theresianischen und josephinischen Reformen stellten wichtige Bausteine für den späteren Nationsbildungsprozess dar. Unter den wohlhabenden und säkularisierten „Precani"-Serben gab es leidenschaftliche Anhänger Josephs II. (,„Vivat Joseph II.' - sollen sie rufen / ,Des lieben Serbiens lieber Herrscher'"), 1 3 0 die das aufklärerische Gedankengut aufgrifFen und gegen den Widerstand des orthodoxen Klerus verteidigten. Ihnen fiel bei der Nationsbildung eine Vorreiterrolle zu. Im Gefolge von Aufklärung und Französischer Revolution verbreitete sich der Nationsgedanke über ganz Europa, sei es in Gestalt der Staatsbürgernation (wie in Frankreich) oder in Gestalt der Volksnation (wie im deutschsprachigen Raum). Für diejenigen Nationen oder potenziellen Nationen, die (noch) keinen gefestigten eigenen Staat besaßen oder deren Mitglieder sich auf mehrere Staaten verteilten, kam realistischerweise nur das zweite Konzept in Frage. Darin bildete das „Volk" als eine nicht auf den Staat und das Staatsbürgerkonzept bezogene, sondern als „natürliche, organische Einheit" verstandene Gemeinschaft: den Ausgangspunkt der Nationsbildung. Im Folgenden sollen zunächst drei Ebenen der Nationsbildung vorgestellt werden: 1. das Konzept von Volk und Nation, 2. die kollektive Erinnerung und 3. die mentale Landkarte der serbischen Nationsbildner.
Die Aufelärer entdecken das „ Volk " Während die französischen Aufklärer und Revolutionäre unter „Volk" in erster Linie eine gesellschaftliche Kategorie, das „Staatsvolk", verstanden und namentlich auf die Emanzipation des „tiers etat" zielten, galt das „Volk" bei den Vorkämpfern der „Nationalbewegungen
129 TURCZYNSKI, E.: Konfession und Nation. 130 Aus einer Ode Dositej Obradovics, zit. nach FRIESEL-KOPECKI, S.: Serbische Nationalbewegung, S. 218.
N a t i o n s b i l d u n g u n d nationales Projekt
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ohne Staat" als „natürliche", „organische" Kategorie und wurde zum Ausgangspunkt einer Volksstaatsidee bzw. eines Programms zur „Loslösung der Volkstümer aus jahrhundertelanger staatlicher Umklammerung", wie es in den Gelehrtenkreisen Mitteleuropas entworfen und vervollkommnet wurde. 1 3 1 Für Johann Gottfried Herder ( 1 7 4 4 - 1 8 0 3 ) war der Mensch ein soziales und politisches Geschöpf, das erst im Rahmen eines größeren organischen Ganzen, im Rahmen der jeweiligen Sprachgemeinschaft, seine Vollendung finden könne. Und es ist im Wesentlichen diese auf Sprache und Kultur gegründete Qualität, in welcher Herder die „natürliche" und „organische" Grundlage des Staates sieht. 1 3 2 Wie die Völker natürliche Teile im Ganzen des Menschengeschlechts sind, sollen auch die Staaten natürlich gewachsene Organismen sein. „Der natürlichste Staat ist also . . . " , schreibt Herder, „Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter." Daraus ergibt sich, dass die „wilde Vergrößerung der Staaten" (Habsburgerreich, Osmanisches Reich usw.) und die Vermischung mehrerer Nationalitäten unter einem Zepter dem Zweck der Regierungskunst ganz und gar entgegen ist. Denn „jedes Volk hat sein Maß der Glückseligkeit in sich". Eine allgemeine beste Regierungsform taugt nicht für alle Völker auf einmal, ist ein utopischer Plan, und eine Geschichtsschreibung, die alle Völker nach einem solchen Plan berechnet, wäre eine „Truggeschichte". Ferner stehen Staatseinrichtung und Volk in einem gegenseitigen Wechselverhältnis, aus dem sich ihrer beider Wohlstand herleitet. Dabei erscheint das Volk insofern als der höhere Wert, als Staaten überwältigt werden können, während das Volk fortdauert. Andererseits kann „kein Volk untergehen, dessen Staat wohl bestellt ist". Volk bedeutet nun nicht mehr das Staatsvolk, das unter einer gemeinsamen politischen Herrschaft vereinigt ist; vielmehr wird dieser Begriff im Sinne einer geschlossenen, „natürlichen" Ganzheit verstanden, deren Anspruch auf politische Anerkennung sich auf den Besitz einer gemeinsamen Sprache gründet. Die Volkssprache sei das wichtigste Merkmal eines Volkes: „Nur durch Sprache wird ein Volk . . . " Oder: „Wer in derselben Sprache erzogen ward ... gehört zum Volk dieser Sprache." Die Sprache sei die Verkörperung der „Volksseele", des „Volkscharakters". Sprache und das durch sie hervorgerufene Gemeinschaftsbewusstsein seien nicht voneinander zu trennen. Wenn ein Volk seine Sprache missachtet, zerstöre es sich selbst. „Hat wohl ein Volk, zumal ein uncultiviertes Volk etwas Lieberes, als die Sprache seiner Väter? In ihr wohnet sein ganzer Gedankenreichthum an Tradition, Geschichte, Religion und Grundsätzen des Lebens, all sein Herz und Seele." Namentlich das Volkslied sei wegen seiner Ursprünglichkeit ein getreuer Spiegel des Charakters, der Empfindungen und
1 3 1 D i e F o r m u l i e r u n g von der „ L o s l ö s u n g der V o l k s t ü m e r " s t a m m t v o m „Vordenker der E t h n o p o l i t i k " in Deutschland, M A X HILDEBERT BOEHM : Europa Irredenta. Eine E i n f u h r u n g in das Nationalitätenproblem der Gegenwart. Berlin 1 9 2 3 , S. 320. 1 3 2 Einzelheiten und Nachweise der Zitate bei SUNDHAUSSEN, HOLM: D e r Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie. M ü n c h e n 1 9 7 3 , S. 2 4 ff.
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D a s „lange" 19. Jahrhundert: staatliche und nationale „Wiedergeburt"
der Geschichte einer Gemeinschaft. Gesänge sind nach Herder „das Archiv des Volkes". In ihnen „schilderten sich die Völker selbst"; Volkslieder sind Ausdruck der nationalen Sitten, Gebräuche und Gefühle sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart. Die Vorstellungen Herders und verwandter Denker vom „Volk" als natürlichem Organismus sowie von der Bedeutung der Volkssprache und der Volkskultur fanden rasch bei den Gelehrten jener ethnischen Gruppen Verbreitung, die bei Beginn der Nationsbildungsprozesse nach Fixpunkten für die kollektive Identität suchten. Das vom tschechischen Nationalismusforscher Miroslav Hroch entwickelte 3-Phasen-Modell für das „Erwachen" „kleiner" (d. h. in der Ausgangssituation politisch und sozial entrechteter) Völker - vom Gelehrtenpatriotismus einer zahlenmäßig schwachen, im Wesentlichen unpolitischen Intellektuellengruppe (Phase A) über die zielbewusste politische Agitation einer nationalbewussten Minorität (Phase B) bis zum integralen Massennationalismus (Phase C ) 1 3 3 - lässt sich allerdings nur mit Einschränkungen auf den serbischen Nationsbildungsprozess übertragen. Die Phase Α beginnt an der Schwelle zum 19. Jahrhundert und dauert etwa bis zur Jahrhundertmitte. Das heißt nicht, dass es keine Vorläufer gegeben habe, namentlich unter den habsburgischen Serben. Und es heißt auch nicht, dass die Aktivitäten in dieser Phase später nicht fortgesetzt und weiterentwickelt worden wären. Das Charakteristische der Phase Α ist eine neue Haltung zu Volkssprache und Volkskultur, wie sie im Ubergang von der Aufklärung zur Romantik in Mitteleuropa vorbereitet worden war. Die Diffusion dieser Ideen erfolgt durch eine kleine Gruppe von Gelehrten, die mit Hingabe die Sprache, Kultur und Geschichte ihres Volkes studieren, Grammatiken und Wörterbücher schreiben, Volkslieder sammeln und historische Abhandlungen verfassen. Mit der Formulierung eines nationalpolitischen Programms durch Ilija Garasanin nimmt dann 1844 die Phase Β in Serbien konkretere Gestalt an. Im Unterschied zu den von Hroch untersuchten Völkern besaßen die Serben zu diesem Zeitpunkt aber bereits einen eigenen Staat. Dieser umfasste freilich nur einen Teil der serbischen oder als „serbisch" beanspruchten Siedlungsgebiete, so dass die „Erlösung" der unter Fremdherrschaft lebenden Konnationalen, der Irredentismus, zum Langzeitprogramm nationalpolitischer Akteure geriet. In einem erweiterten Sinn fällt die gesamte Phase der Staatsbildung mit der zweiten Phase der Nationsbildung zusammen. Denn dem serbischen Staat und seinen Institutionen wuchsen mehr und mehr nationsbildende Funktionen zu. Doch erst die Kriegs- und Krisenerfahrungen vom Beginn der „Großen Orientalischen Krise" 1875 bis zum Ende der Balkankriege 1 9 1 2 / 1 3 oder bis zum Ende des Ersten Weltkrieges lösten schließlich jene emotionalen Mobilisierungs- und
1 3 3 HROCH, MIROSLAV: D i e Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen. Prag 1968.
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Solidarisierungsschübe in der Bevölkerung Serbiens und bei den Konnationalen jenseits der Grenzen aus, die f ü r die Formierung eines integralen Massennationalismus offenbar unverzichtbar sind (Phase C ) . Erst in dieser Phase wurden auch die zum Teil disparaten Elemente der Phasen Α und Β
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