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German Pages 994 Year 2002
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Geschichte der chinesischen Literatur Herausgegeben von Wolfgang Kubin Band 1
Wolfgang Kubin Die chinesische Dichtkunst Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit Band 2
Thomas Zimmer Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit Band 3
Monika Motsch Die chinesische Erzählung Vom Altertum bis zur Neuzeit Band 4
Marion Eggert, Wolfgang Kubin, Rolf Trauzettel Die klassische chinesische Prosa Essay, Reisebericht, Skizzen Band 5
Karl-Heinz Pohl Ästhetik und Literaturtheorie in China Von der Tradition bis zur Moderne Band 6
Wolfgang Kubin, Dietrich Tschanz Das traditionelle chinesische Theater Band 7
Wolfgang Kubin Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert Band 8
Lutz Bieg Bibliographie zur chinesischen Literatur in deutscher Sprache Band 9
Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller Leben und Werke Band 10
Register
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Geschichte der chinesischen Literatur Band 2
Thomas Zimmer
Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit Band 2 / 1
K · G · Saur München 2002
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Gedruckt mit Unterstützung der DFG
Für Peiqing
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zimmer, Thomas: Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit / Thomas Zimmer. - München : Saur (Geschichte der chinesischen Literatur ; Bd. 2) ISBN 3-598-24544-0 1 . - (2002) U Gedruckt auf säurefreiem Papier © 2002 by K . G . Saur Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig. Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck & Bindung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 3-598-24541-6
Inhalt Teilband 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I
1 3 3 7 9
1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 3. 4.
Teil II 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 2. 3. 4.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst . . . . . . . . Definitorische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umgang mit der frühen Erzählkunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen und Ausformulierung einer Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Versuch der Bestimmung des klassischen chinesischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Entwicklung des klassischen chinesischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der geistig-kulturelle Nährboden der xiaoshuo . . . . . . . . . . . . . . . . Die Protagonisten der Romanliteratur: Literatenwelt und »Subkultur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und Methode der Auseinandersetzung mit dem klassischen Roman Chinas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Problematik der Quellen klassischer chinesischer Romanliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Welt der Mächtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas . . . . Die geteilte Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kriegerische Clan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der betrogene General . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerungen an den Dynastiegründer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Blick zurück. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des letzten Herrschers als Tyrann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein mächtiger Eunuch am Ende der Ming-Dynastie. . . . . . . . . . . . . Die Auflösung der Geschichte – Der historische Roman Chinas zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden an der Geschichte – Der historische Roman zum Ende der Qing-Dynastie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Räuberpistolen« – Der Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und seine Folgewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Märchen für Erwachsene« – Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Annalen menschlicher Verirrungen« – Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
v
26 33 35 40 50 67 71 73 82 106 110 118 123 129 153 161 179 189 224 254
Inhalt
Teil III: Die Welten hinter der Welt – Imagination und Daseinserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Der Komplex des Mythisch-Religiös-Phantastischen im frühen Roman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane . . . . . . . . . Der Seeweg nach Westen und die Mythologisierung der Ferne . . . . . Die Welt der Herrscher in mythischer Zeit – Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Diskussion über die Glaubensrichtungen zur religiösen Missionierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wandel des Fuchsdämons – Romane zum Thema der religiösethischen Selbstvervollkommnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderlinge aus höheren und niederen Welten . . . . . . . . . . . . . . . . Die mythisch verbrämte Suche nach kultureller Identität . . . . . . . . .
283 285 290 338 354 373 379 387 394
Teilband 2 Teil IV: Die Welt der Gefühle – Das Band, das zehntausend Wesen zusammenhält . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erotik, Liebe, Familie und autobiographische Sensibilität im chinesischen Roman seit dem Ende der Ming-Dynastie . . . . . . . . . . 2. Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall – Erotik im historischen Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der verkommene Klerus – Handlungen wider das Keuschheitsgelübde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausgebrannt – Ximen Qing und seine sechs Frauen im Roman Jin Ping Mei sowie die Folgewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schwanzlos: Die perfekte (Er)Lösung – Li Yu und sein Werk Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vom Frauenhelden zum Pantoffelhelden – Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die vollkommene Liebe: Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Frau als Dichter – Kurze Bemerkungen zum tanci. . . . . . . . . . . 10. Bastionen – Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Ein Kordon von Frauen – Der Roman Lin Lan Xiang. . . . . . . . . . . . 10.2 Die multiple Persönlichkeit – Der Roman Traum der Roten Kammer und die Folgewerke . . . . . . .
405
1.
vi
407 415 431 443 455 473 482 508 533 543 547 561
Inhalt
10.3 Die Rückkehr des verlorenen Sohnes – Der Roman Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng). . . . . . . . . . . . 10.4 Ein Sohn aus merkantiler Welt – Der Roman Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi) . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Suche nach Vollkommenheit – Die beiden Romane Spuren von Unsterblichen in der Wildnis (Luye xianzong) und Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan) . . . . . . . . . . . . . . 12. Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema und Sexualität in Zeiten des Umbruchs – Das 19. und frühe 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Vollkommene Männerliebe – Der Roman Spiegel der Augenweide an Blumen (Pinhua baojian) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Von unglücklichen Freiern und Dirnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Shanghai – Sittenbild vom Bordellmilieu im »Paris des Ostens«. . . .
Teil V:
Schmerzvolle Begegnung mit der Welt – Infragestellungen der Traditionen und Suche . . . . . . . . . . . . . .
1.
Der kritische Roman Chinas vom 18. Jahrhundert bis zum frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Falsche Gelehrte und korrupte Beamte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satirische Bestandsaufnahme – Wu Jingzis Inoffizielle Geschichte des Gelehrtenwaldes (Rulin waishi) . . . . . . . Vom Beamten zum schonungslosen Kritiker seiner Zeit – Li Boyuan und sein Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Schlüsselroman über die Diplomatie und Nomenklatura – Zeng Pus Roman Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Romane zum Problemkomplex des chinesischen Beamtentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Panoramablick auf die Misere Chinas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der allegorische Abschied vom alten China – Liu Es Roman Die Reisen des Lao Can (Lao Can youji) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literat und Provokateur – Das gesellschaftliche Hauptwerk des Wu Woyao . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reform oder Revolution? Ein politischer Streit und seine Reflexion in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Spielern, Zockern und Tycoons – Die Geschäftswelt im Roman zum Ende der Qing-Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugvögel – Vom Schicksal der Auslandschinesen . . . . . . . . . . . . . . Die Romanliteratur zur Emanzipation der Frauen . . . . . . . . . . . . . .
2. 2.1 2.2 2.3
2.4 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 4.4
Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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603 621
628
671 671 691 704
733 735 745 745 757
777 787 798 798 808 825 825 834 847 857 903
Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monographien, Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographien, Hilfsmittel und Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Originalliteratur und Übersetzungen der untersuchten Romane . . . . . . . . .
911 911 939 941
Index der wichtigsten Namen, Titel, Begriffe und Zeichen. . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Der klassische chinesische Roman führt in seiner Wahrnehmung immer noch eine eigenartige Doppelexistenz. Auf dem deutschsprachigen Büchermarkt erfreuen sich einige herausragende Beispiele wie Der Traum der Roten Kammer oder Jin Ping Mei in der Übersetzung durch Franz Kuhn seit Jahrzehnten anhaltender Beliebtheit und dürften über mehrere Generationen von Lesern hinweg das Bild vom alten China mit beeinflußt haben. Kuhn blieb mit seinen Übertragungen eine Ausnahme und fand kaum Nachahmer. Seinem Engagement ist es weitgehend zu verdanken, dass der frühe chinesische Roman in Deutschland seine Leser fand. Die Sinologie im Westen hat dem bislang nur wenig Substantielles hinzuzufügen versucht. Als Standardwerk gilt immer noch die Arbeit von C. T. Hsia aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In den Chinawissenschaften rümpft man bis heute gerne die Nase, wenn jemand sich als Kenner oder gar Liebhaber der Romankunst des alten China zu erkennen gibt. Zu stark orientiert man sich weiterhin an den ästhetischen Grundsätzen der abendländischen Erzähltradition. Der Hintergrund, vor dem sich das Aufkommen der chinesischen Romankunst seit dem 16. Jahrhundert abspielte, bleibt meist unverstanden. Da die Romane des vormodernen China zudem oft sehr umfangreich sind, stellen sich bei dem Forscher schnell Bedenken dahingehend ein, ob die Lektüre denn am Ende auch lohnend sein werde. Besser, man geht dem allem durch Nichtbeachtung aus dem Weg. Der Blick über den Tellerrand, hin zu den vielen Werken, die außerhalb des festgefügten Kanons von vier oder sechs Romanen liegen, ist bislang lediglich in Einzelstudien gewagt worden, die Texte sind einem größeren Publikum mithin unbekannt. Keine geringe Herausforderung also, in einem Buch wie dem hier vorliegenden den bekannten Rahmen zu sprengen, textgeschichtlichen Bezügen nachzugehen und den über Jahrhunderte entwickelten Themen nachzuspüren. Diese Studie bemüht sich daher, die Reichhaltigkeit der chinesischen Romanentwicklung aufzuzeigen, weiterzuforschen und weiterzuübersetzen. Nicht jeder wird bei der Lektüre auf seine Kosten kommen, und dies hat seinen guten Grund. Literaturtheoretische Erörterungen und komparatistische Feststellungen mussten – so reizvoll sie sein mochten – zurücktreten angesichts des Wunsches, die Romane weitgehend für sich selbst sprechen zu lassen. Damit verbunden ist nicht zuletzt die Hoffnung, den Literaturwissenschaftlern für ihre künftige Arbeit Material an die Hand zu geben. Es dürfte wohl eine Mischung aus Naivität, Tatendurst, Eitelkeit, Selbstüberschätzung und mangelnder Kenntnis darüber, auf was ich mich einließ, gewesen sein, die mich der Einladung Wolfgang Kubins vor knapp zehn Jahren Folge leisten ließ, die Mitarbeit an dem Band über den chinesischen Roman im Rahmen der Geschichte der chinesischen Literatur zu übernehmen. Als der ursprünglich hin-
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VORWORT
zugebetene Mitverfasser nach einer Weile ankündigte, kein Interesse mehr an dem Thema zu besitzen, war das Projekt zwar nicht in seinem Bestand gefährdet, gewann aber eine ganz neue Dimension. Die Anfertigung einer so umfangreichen Studie wie der vorliegenden wäre ohne die Unterstützung, den Rat und die Hilfe einer Reihe von Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt Wolfgang Kubin, der mir die Arbeit anvertraute, Kontakte herstellte und durch die anregende Atmosphäre im Seminar die Fertigstellung erleichterte. Wertvolle Hinweise erhielt ich gerade zu Beginn der Studie bei der Konzeptentwicklung durch die Profesoren Wilt L. Idema (Harvard) und Andrew H. Plaks (Princeton). In China war es Professor Wang Jinmin (Universität Peking), der den Zugang zu Bibliotheken erleichterte und gezielt Hinweise darauf geben konnte, in welchem Buchladen der Stadt gerade welche wichtigen Werke günstig zu beschaffen waren. Zur Bewältigung des Lektürepensums trug ein einjähriges Forschungsstipendium der DFG in dem Zeitraum 1994/1995 bei. Nachdem der K. G. Saur Verlag sich zur Veröffentlichung bereit erklärt hatte und ein Termin für die Publikation in Aussicht stand, waren es Simone Anderhub und Marc Hermann, die sich die Durchsicht des Manuskripts teilten. Die satzfertige Aufbereitung des Manuskripts wäre ohne die flinke Arbeit von Silke Simons nicht pünktlich erfolgt. Ihnen allen sei an dieser Stelle für ihre Mühen gedankt. Widmen möchte ich dieses Buch meiner verstorbenen Frau Peiqing, die trotz ihrer schweren Krankheit meine Arbeit all die Jahre mit Interesse verfolgte und so manches Opfer dafür brachte.
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Teil I Einführung
1. Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst 1.1 Definitorische Probleme Eine Untersuchung zur Romankunst Chinas steht vor dem Problem, daß sich hinter dem dafür gängigen Begriff der xiaoshuo offenbar eine ganze Reihe definitorischer Konzepte unterschiedlichster Herkunft verbirgt, die es notwendig machen, die diesbezüglich zur Verfügung stehenden Quellen und Belegstellen einer ersten Prüfung zu unterziehen. Geht man die Schwierigkeit von der übersetzerischen Seite an, so fällt auf, daß mit dem »kleinen Gerede, der kleinen Erklärung, Darlegung bzw. Lehrmeinung« (d.h. eben der annäherungsweisen Übertragung des nominalen Syntagmas xiaoshuo) wertend etwas Marginales, nicht Beachtenswertes angesprochen wird, das sich jenseits des »Großen« und Angesehenen bewegt. In dieser Gegenüberstellung von »klein« und »groß« wird xiaoshuo jedenfalls in der frühesten überhaupt belegten Stelle benutzt, die sich im Werk des Philosophen Zhuangzi (3./4. Jhr. v. Chr.) findet, wo es heißt: »Wer kleine Erklärungen [xiaoshuo] aufputzt, um damit den Posten eines Kreisvorstehers anzustreben, ist vom großen Erfolg [dadao] weit entfernt.«1 Der Eindruck einer bewußten Abgrenzung verstärkt sich noch, wenn man entsprechende Belege aus anderen Schriften der klassischen chinesischen Philosophie wie etwa Xunzi und Han Feizi hinzuzieht, so daß der Schluß zu ziehen ist, daß es sich in dieser frühen Phase bei xiaoshuo um eine Synonymbildung zu xiaodao (d.h. dem »kleinen Weg« handelt, den man kennen kann, den aber der Gelehrte nicht schätzt. Damit ist bei Konfuzius »die Alltäglichkeit der gemeinen Menschen« gemeint, die somit in Gegenüberstellung zu dadao, bei Konfuzius das, »was den Staat, das Leben und Wirken der Gemeinschaft betrifft«, tritt)2 bzw. xiaoxue (d.h. der Lehre, die sich mit der Bildung von Zeichen und gramma1
2
Aus dem Kapitel »Vermischte Schriften (zapian), ›Die äußeren Gegenstände‹ (waiwu) des Zhuangzi«. Hier zitiert nach DAGMAR ZISSLER-GÜRTLER: Nicht erzählte Welt noch Welterklärung. Der Begriff »Hsiao-shuo« in der Han-Zeit, Bad Honnef: Bock und Herchen 1994, S. 9. Vgl. auch die chinesische Materialsammlung, hrsg. von HOU ZHONGYI Referenzmaterial zur chinesischen Erzählkunst in der »wenyan« (Zhongguo wenyan xiaoshuo cankao ziliao), Peking: Beijing daxue 1985, S. 3 sowie HU HUAICHEN: »Anmerkungen zur chinesischen Erzählkunst« (Zhongguo xiaoshuo gailun), in: LIU LINSHENG (Hrsg.): Acht Aufsätze zur chinesischen Literatur (Zhongguo wenxue ba lun), Peking: Zhongguo shudian 1985, S. 1–54 (Nachdruck der Ausgabe von 1936). Vgl. zu diesen Erläuterungen FANG ZHENGYAO: Geschichtlicher Abriß der chinesischen Erzählkritik (Zhongguo xiaoshuo piping shilüe), Verlag Zhongguo shehui kexue 1990, S. 9. Vgl. a. HOU ZHONGYI: Referenzmaterial, S. 4.
3
EINFÜHRUNG
tischen Fragen befaßt), letzteres im Gegensatz zu daxue (d.h. der Lehre von den wichtigen Philosophien). Die Feststellung der Kürze und die Geringschätzung gegenüber xiaoshuo als zur Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) wohl übliche Haltung gegenüber diesem Genre wird des weiteren ersichtlich in der folgenden Passage des Buches Neue Erörterungen (Xinlun) des Huan Tan (ca. 43 v. Chr. – 28 n. Chr.): »Was die Xiaoshuo-Schule angeht, [deren Vertreter nach Meinung der Konfuzianer] nur eine Menge wertloser, kleiner Worte zusammenfügen, so ist doch an die Goldene Regel der Gegenseitigkeit [zu erinnern]. Auch wenn sie nur unbedeutende Bücher schreiben, [muß man ihnen entsprechend auch] betrachtenswerte Worte für die Kultivierung der eigenen Person und das Ordnen der Familie [zugestehen].«3 Faßt man die Deutungsmöglichkeiten von xiaoshuo in einem ersten Zwischenschritt zusammen, so bieten sich also ganz verschiedene Erklärungen an. Hinter dem »Kleinen« deutet sich sowohl ein reiner Bezug zur Größe an sich an, wie sich im übertragenen Sinne eine Einschätzung der Qualität auftut: 1. Kleine, kurze, unbedeutende, dumme, wertlose, geringzuschätzende Darlegungen, Theorien und Erzählungen, die im Detail verhaftet bleiben bzw. nur einen Teilaspekt betreffen oder auf niedrigem Niveau angesiedelt sind; 2. Erläuterungen, Theorien etc. über kurze, unbedeutende Sachverhalte, Detailfragen und Banalitäten; 3. Lehrmeinungen und Auslegungen der unbedeutenden Philosophen bzw. der einfachen Leute und Schüler sowie 4. Erzählungen und Erläuterungen für die einfachen Leute und Schüler. Als mögliches Schrifttum, das sich hinter xiaoshuo verbirgt, kommen somit kleine Erzählungen (Belletristik) ebenso in Betracht wie kurze Erläuterungen zu gewissen Schriften (Kommentarliteratur) bzw. aus Sicht der vorherrschenden Geistesrichtung unbedeutende Theorien der philosophischen Literatur.4 Die Ursprünge für eine ausgefeiltere Kategorisierung von Texten unterschiedlicher Herkunft, bei der auch die xiaoshuo Berücksichtigung fanden, sind in der zur Han-Zeit aufkommenden Bibliothekswissenschaft zu finden, die an die Geschichtsschreibung und hier vor allem an die Abfassung der Dynastiegeschichten gekoppelt war. Erste Ausführungen zu einer xiaoshuo-Schule (xiaoshuojia) finden sich im Literaturkapitel (Yiwenzhi) der von Ban Gu (32–92 n. Chr.) verfaßten Annalen der Han (Hanshu). Ban selbst wiederum griff auf Arbeiten von Liu Xiang (77– 6 v. Chr.) und dessen Sohn Liu Xin (gest. 23. n. Chr.) zurück, die unter Zugrundelegung von sieben Rubriken (qilüe) Kataloge für das gesamte zu jener Zeit verfügbare Schrifttum erstellt hatten.5 Ban Gu übernahm abgesehen von der ersten Gruppe der »Sammeltexte« (jilüe) die Rubrizierungsmethoden seiner beiden Vor-
3 4 5
Zitiert nach DAGMAR ZISSLER-GÜRTLER: Nicht erzählte Welt noch Welterklärung, S. 24. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. dazu einleitend LAI XINXIA: Kleine Einführung in das klassische Katalogwesen (Gudian muluxue qianshuo), Peking: Zhonghua shuju 1981.
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Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst
gänger und führte sechs Kategorien von Schriftwerken an.6 Ob es seine eigene Leistung war, die xiaoshuo-Schule an die zehnte und letzte Stelle innerhalb der Rubrik über die einzelnen Richtungen unter den Philosophen (Zhuzilüe) zu setzen, ist nicht mehr festzustellen. Wichtig sind in unserem Falle jedenfalls die folgenden Bemerkungen, die er zu den xiaoshuojia macht: »Die Richtung der xiaoshuo-Schule [xiaoshuojia] hat wohl ihren Ursprung bei den niederen Beamten [baiguan], die sich zu dem allgemeinen Straßengerede, den Neuigkeiten von der Straße und dem Straßenklatsch hinbegaben. Konfuzius sagte: ›Selbst ein kleiner Weg hat gewiß etwas, das an ihm beachtenswert ist. Geht man jedoch [auf ihm] zu weit, so steht zu befürchten, daß man in Schlamm gerät und steckenbleibt. Deshalb geht ihn der Edle nicht.‹ Aber er löscht ihn auch nicht aus. Was die Menschen vom Dorf mit ihrem kleinen Wissen erreichen, soll man sich auch aneignen und nicht außer acht lassen. Wenn hier und da ein Wort [aus diesen »xiaoshuo«-Werken] aufgreifenswert ist, so ist dies gleichermaßen wie mit den Erörterungen von Gras- und Brennholzsammlern 7 und Verrückten [die auch ein Körnchen Wahrheit enthalten].«
Die in der Literaturwissenschaft unternommenen Anstrengungen, den Nachweis zu erbringen, daß die xiaoshuojia sich aus den Aufzeichnungen eines historischen »Bai-Amtes« entwickelt hätten, lassen sich nicht in vollem Maße belegen. ZißlerGürtler, die diesem Problem in ihrer hier bereits mehrfach bemühten Arbeit nachgegangen ist, vermutet daher wohl zu Recht, daß die betreffende Amtsbezeichnung bei Ban Gu lediglich eine Analogie zu den anderen Philosophenschulen bildet, von ihm selbst kreiert worden ist und dazu dient, die Erscheinung in ein übergeordnetes typologisches System einzugliedern. Jedenfalls wird mit der Wahl des Bai-Amtes (bai bedeutet, wie sich aus der Kommentarliteratur ergibt, »winziges Körnchen«) auf die Kleinheit und Bedeutungslosigkeit dieser Gruppe angespielt. Der Straßenklatsch und die kleinen Dorfweisheiten sind Metaphern, d.h. u.U. auch Euphemismen für dumme, einseitige und falsche Darstellungen.8 Wie nun eine nähere Überprüfung der fünfzehn bei Ban Gu unter dem aus dem Zitat ersichtlichen Diktum des »Straßenklatsches« aufgelisteten Titel ergibt,9 von denen als 6
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Die einzelnen Bezeichnungen der sechs Kategorien lauten »Kanonische Texte des Konfuzianismus und Kommentare dazu« (Liu yilüe), »Philosophen« (Zhuzilüe), »Poesie« (Shifulüe), »Militärtheoretiker« (Bingshulüe), »Rechnende und kalkulierende Methodiker« (Shushulüe) und »Medizinschriftsteller, Eugeniker und Alchimisten« (Fangjilüe). Zitiert nach ZISSLER-GÜRTLER: Nicht erzählte Welt noch Welterklärung, S. 15f. Vgl. a. HOU ZHONGYI: Referenzmaterial, S. 4f. Vgl. zu dieser Deutung ZISSLER-GÜRTLER: Nicht erzählte Welt noch Welterklärung, S. 33f. Auf die Frage, ob die bei Ban Gu angeführten Titel in ihrer Mehrzahl ursprünglich bereits als einheitliche xiaoshuo konzipiert waren und Originale darstellen, sei hier nur am Rande eingegangen. Die zur Han-Dynastie vorgenommene Bestandsaufnahme der verfügbaren Lite-
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EINFÜHRUNG
Werke nur noch Fragmente existieren,10 verbirgt sich hinter den xiaoshuo keineswegs eindeutig der von der Literaturgeschichtsschreibung im Laufe der Zeit dafür entwickelte Begriff einer »literarischen Erzählung«, der »belletristischen Literatur« oder sonst einer Gattung der erzählenden Prosa. Bans Kommentarangaben stecken voller Metaphern, hinter den »oberflächlichen und kleinlichen« Worten der xiaoshuo-Werke verbergen sich aus konfuzianischer Sicht unorthodoxe Darstellungen. Das Dorf, die Straße, der einfache Mann aus dem Volke etc. sind Sinnbilder für Unkultiviertheit und geistige Beschränktheit. »Bücher aus dem Volk« sind hier mitnichten einfach als »Volksliteratur« zu verstehen, eher schon als nicht anerkannte Fassungen kanonischer Texte bzw. Schriften mit politischem Hintergrund.11 Abgesehen von den vorstehend dargestellten Problemen definitorischer Art wirft auch die rein quantitative Erfassung von xiaoshuo-Titeln in Ban Gus Yiwenzhi im Vergleich mit der Zahl der unter der Rubrik xiaoshuojia angeführten Werke in entsprechenden Annalen-Kapiteln späterer Zeit insofern ein neues Licht auf die Entwicklung des xiaoshuo-Genres, als sich die bislang immer wieder angeführte Vermutung einer stetig anwachsenden Erzählliteratur, angefangen in der HanDynastie bis zur Blüte der Novellistik in der Tang-Zeit, nicht ohne weiteres aufrechterhalten läßt.12 Zur Sui-Zeit (581–618) auf jeden Fall war offenbar keines
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ratur und die damit verbundene Überarbeitung von Texten legt es nahe, daß auch xiaoshuoWerke von diesen redaktionellen Arbeiten erfaßt wurden und aus anderen Werken als »fehlerhaft« herausgelöstes Schrifttum enthalten. (Vgl. ebd., S. 135) Die Titel sind aufgelistet ebd., S. 35. Zu dieser Einschätzung gelangte auch HELMUT WILHELM in seinem Aufsatz »Notes on Chou Fiction«, in: Transition and Permanence: Chinese History and Culture. Festschrift zu Ehren von Dr. Hsiao Kung-ch'üan, hrsg. von DAVID C. BUXBAUM und FREDERICK W. MOTE, Hongkong: Cathay Press 1972, S. 251–263. Wilhelm geht in dem Beitrag den Quellen einiger Titel im Yiwenzhi nach und versucht, daraus Belege für eine mögliche literarische Bearbeitung zu gewinnen. Sein Ergebnis ist, daß die literarische Erzählkunst in der Zhou-Zeit nicht ausgeprägt war. Dennoch stellt er als bemerkenswert fest, daß der Inhalt der angeführten Titel in keinem Fall auf den Bereich der Mythologie bzw. der anderen Gebiete der Magie und Zauberei zurückgeht, welche ihm zufolge die Hauptquellen für das Genre der Erzählliteratur in der folgenden Zeit gebildet haben. Die Gruppierung der angeführten Werke unter den xiaoshuo könne vielmehr mit dem moralisierenden Charakter dieser Texte zu tun haben und ist weniger mit ihrem fiktionalen Erzählcharakter in Verbindung zu bringen. Wie aus Zißler-Gürtlers Untersuchung hervorgeht (vgl. Nicht erzählte Welt noch Welterklärung, S. 38), führt Ban Gu fünfzehn xiaoshuo-Titel in insgesamt nahezu eintausendvierhundert sog. »pian« an, die ca. 30% der unter den philosophischen Schriften genannten Werke ausmachen. Inwieweit dies dem tatsächlichen Umfang der xiaoshuo-Gruppe entspricht, ist schwer einzuschätzen, da »pian« als Sinneinheiten und nicht als Maßeinheiten zu verstehen sind. Im Extremfall können einzelne Anekdoten oder Sentenzen als »pian« markiert sein, während andererseits lange, mehrere Seiten umfassende Abhandlungen zu einem Thema ebenfalls unter einem »pian« angeführt werden können. Die große Zahl an »pian« kann u.U.
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Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst
der bei Ban Gu angeführten xiaoshuo-Werke mehr existent, zumindest werden sie im Kapitel der »Klassiker und Sammlungen« (Jingjizhi) der Sui-Annalen (Suishu) nicht mehr aufgezählt. Die dort wiederum unter der Rubrik der xiaoshuojia aufgelisteten Titel machen im Gegensatz zu Ban Gu nur etwas mehr als drei Prozent der zitierten Schriften aus. Selbst hohe Verluste in den dazwischenliegenden Jahrhunderten unterstellt, paßt diese Situation keinesfalls in das Bild einer ansteigenden Entwicklung der Erzählliteratur. Da ein vollständiger Verlust der bei Ban Gu genannten Werke nicht sehr naheliegend ist, darf man hinter der vorstehend knapp ausgeführten Entwicklung vielmehr einen Wandel des ursprünglich ohnehin recht vage formulierten xiaoshuo-Konzepts vermuten. Eingehende Analysen zu den xiaoshuo in den einschlägigen Kapiteln der Dynastiegeschichten stehen zwar bislang aus, doch lassen sich durchaus tendenzielle Entwicklungszüge im Umgang mit dem Genre feststellen. So zeichnete sich zur Tang-Zeit mit der Zusammenstellung der vorstehend angeführten Sui-Annalen das Bestreben ab, zu eindeutigeren Klassifikationen bei der Bibliographierung von Literatur zu gelangen. Man wird vermuten dürfen, daß es sich seither in den in Annalen geführten Abteilungen der xiaoshuo insgesamt um eine Art Sammelbecken für weniger wichtige und ansonsten nur schwer klassifizierbare Literatur handelt, wenngleich dabei auch schon deutlich die Bereitschaft zur Einordnung »echter« Erzählkunst erkennbar wird, wie die eben zitierten Fälle belegen. Daß dabei auch weiterhin große Unsicherheit und Willkür herrschte, zeigen die entsprechenden Kapitel der gesamten weiteren Annalen-Literatur. In den im 11. Jahrhundert von Ouyang Xiu (1017–1072) kompilierten Annalen der Späten Tang (Xin Tangshu, dort yiwenzhi) fand etwa mit dem Tee-Klassiker (Chajing) ein Werk Aufnahme, das über die rechte Zubereitung dieses Getränks Auskunft gibt. Nicht zu vergessen die in dieser Hinsicht besonders wirre Geschichte der Song (Songshi, dort ebenfalls yiwenzhi), wo unter den xiaoshuojia kartographisches Material ebenso eingeordnet wurde wie Material zur Botanik und Poesie.13
1.2 Der Umgang mit der frühen Erzählkunst Die vorstehenden Ausführungen zur Definition des xiaoshuo-Begriffs haben deutlich gemacht, daß es schwierig ist, dahinter mit Bezug auf die frühen Quellen eine literarische Gattung auszumachen, da zunächst eindeutig funktionale Aspekte bei der Verwendung des Terminus im Vordergrund standen.
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damit erklärt werden, daß hier sehr viele inhaltlich vergleichbare Stücke jeweils als eigene Kapitel angeführt und so voneinander abgesetzt werden. Die Werke als Ganzes könnten entsprechend kurz gewesen sein. Vgl. CHENG YIZHONG: Kleiner Katalog der klassischen Erzählungen (Gu xiaoshuo jianmu), Peking: Zhonghua shuju 1981, S. 5.
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EINFÜHRUNG
Für die Entwicklung des Umgangs mit dem xiaoshuo-Genre im modernen Sinne als einer literarischen Erzählung, für die ganz offensichtlich bereits seit der HanDynastie Werke existierten (als Beleg sei nur die Ling Xuan zugeschriebene »Inoffizielle Erzählung über Feiyan« [Feiyan waizhuan] genannt), ist auch hier wieder zunächst die Frage der Bibliographierung entscheidend. Wir wollen das etwas eingehender am Beispiel der sogenannten zhiguai-Erzählungen verdeutlichen, jener »Beschreibungen des Absonderlichen«, in deren Mittelpunkt phantastische Wesen, Orte und Ereignisse stehen und die in ihrer textlichen Ausformung kurze Bemerkungen von nur einer Zeile bis hin zu wohlstrukturierten narrativen Darstellungen umfassen. Die Wissenschaft ist sich zwar über die literarische Einstufung als zhiguai bislang nicht vollends einig,14 doch werden bestimmte Werke als zentrale Bestandteile des Genres angesehen, wobei an erster Stelle Gan Baos (gest. 317–322) Aufzeichnungen über Geister (Soushenji, ca. 340) stehen. Daneben erfüllen allerdings auch schon die Cao Pi (187–226) zugeschriebenen Geschichten über das Wunderbare (Lieyizhuan, ca. 220) bzw. Zhang Huas (232–300) Aufzeichnungen über seltsame Dinge (Bowuzhi, ca. 290) die Zuordnungskriterien zu dem Genre. Anerkanntermaßen handelt es sich bei den zhiguai um wichtige Vorläufer der fiktionalen Erzählkunst Chinas.15 Daß um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends nun gleichsam Tendenzen aufkamen, die ein Verständnis für xiaoshuo im modernen Sinne erkennen ließen, belegt ein Buch mit eben dem Titel Xiaoshuo, das der Bibliothekar Yin Yun zur Zeit der Liang-Dynastie (502–557) verfaßte und in dem sich neben viel vermischtem Material auch zahlreiche zhiguai finden. Die erste Anthologie, die sich ausdrücklich mit der Sammlung von xiaoshuo als Erzählungen befaßte, ist die im 10. Jahrhundert kompilierte Enzyklopädie der Erweiterten Aufzeichnungen aus der Taiping-Ära (Taiping guangji). Darüber hinaus gestand man den hier beispielhaft als Vertreter der xiaoshuo-Gattung ausgewählten zhiguai gerade innerhalb der offiziellen Geschichtsschreibung und Bücherkunde nur eine Randexistenz zu. Gan Baos Aufzeichnungen über Geister finden sich noch in den Annalen der Sui sowie in den Annalen der Frühen Tang innerhalb der Rubrik »Vermischte Biographien« (zazhuan) und tauchen erst in den Annalen der Späten Tang unter der Abteilung für xiaoshuo auf.16 Wie willkürlich und auf Ausnahmen bedacht man jedoch in bezug auf die xiaoshuo selbst zu diesem Zeitpunkt generell agierte, zeigt der Umstand, daß sich die Blüte der klassischen Erzählkunst zur Tang-Zeit in den offiziellen Bibliographien trotz des vorgenannten Beispiels von Gan Bao nicht im geringsten widerspiegelt. Von den Tang-zeitlichen chuanqi-Erzählungen etwa findet sich in den Annalen der Späten 14
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Vgl. KENNETH J. DEWOSKIN: »The Six Dynasties Chih-Kuai and the Birth of Fiction«, in: ANDREW H. PLAKS (Hg.): Chinese Narrative, Critical and Theoretical Essays, Princeton, N.J.: Princeton UP 1977, S. 23. Vgl. ebd. Vgl. die Aufstellung bei CHENG YIZHONG: Kleiner Katalog der klassischen Erzählungen, S. 4.
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Tang lediglich die »Erzählung vom weißen Affen, der den Fluß regulierte« (Bu jiang zong baiyuanzhuan).17
1.3 Grundlagen und Ausformulierung einer Poetik Die vorstehenden Untersuchungen zum frühen xiaoshuo-Begriff haben bereits vage Hinweise darauf geliefert, daß man sich diesbezüglich im Bereich zwischen der fiktionalen Erzählliteratur und der Geschichtsschreibung bewegte. Die Frage nach der offensichtlichen Unbestimmtheit des Genres der xiaoshuoErzählkunst in China wird gewöhnlich gerne aus dem Umstand heraus erklärt, daß die im Abendland maßgebliche klassische Dreiteilung von Lyrik, Epik und Dramatik im Falle der chinesischen Literatur der Grundlage entbehre, da dort das Epos »so gut wie gänzlich fehlte« und der sich andernorts daraus entwickelnde Roman vergleichsweise »jung« sei.18 Wichtig ist mit Blick auf die lange Zeit unbefriedigend bleibende Ausarbeitung einer eigenen Poetik der bei Helmut Martin genannte Umstand, daß »[...] ein Literaturzweig, den man als Nichtiges Gerede [xiaoshuo] bezeichnete, schlechterdings kaum in einem ernsthaften literaturtheoretischen Traktat behandelt werden« konnte.19 Anders als im Abendland, wo sich das Erzählgenre bewußt um den Begriff des »Nachahmens« entwickelte, ist festzustellen, daß in China offensichtlich andere Wahrnehmungsparameter existierten20. Von bleibendem Einfluß waren diesbezüglich schon Äußerungen des Konfuzius in den Gesprächen (Lunyu),21 wo es in Buch VII, 21 heißt: »Worüber der Meister nicht sprechen mochte, das waren Zauberei, Kraftstücke, Aufruhr und Geister.«22 17 18
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S. ebd., S. 5. Vgl. GÜNTHER DEBON: »Literaturtheorie und Literaturkritik Chinas«, in: DERS.: Ostasiatische Literaturen, Bd. 23, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. v. KLAUS V. SEE, Wiesbaden: Aula-Verlag 1984, S. 39. HELMUT MARTIN: Li Li-Weng über das Theater. Eine chinesische Dramaturgie des siebzehnten Jahrhunderts, Dissertation an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg 1966 (hier Druck Taipeh: Mei Ya 1968), S. 13. Zum Problem der Mimesis in der chinesischen Literatur vgl. LIU XIE: The Literary Mind and the Carving of Dragons. A Study of Thought and Pattern in Chinese Literature, übers. und mit einer Einleitung sowie Anmerkungen von VINCENT YU-CHUNG SHIH, New York: Columbia UP 1959; JAMES J.Y. LIU: Chinese Therories of Literature, Chicago u.a.: The University of Chicago Press 1975, S. 24f. Vgl. CRAIG FISK: »Literary Criticism«, in: WILLIAM H. NIENHAUSER JR. (Hg.): The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature, Bloomington: Indiana UP 1986, S. 50. KONFUZIUS: Gespräche (Lun-Yu), aus dem Chinesischen übersetzt und hrsg. v. RALF MORITZ, Frankfurt/M.: Röderberg 1983, S. 71. Vgl. zum chinesischen Literaturbegriff auch HELMUT MARTIN: »Chinesische Literaturkritik: Die heutige Bedeutung des traditionellen Literaturbegriffs sowie Forschungsstand und Quellensituation der Literaturkritikgeschichte«, in: Oriens Extremus 27.1 (1980), S. 115–29.
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EINFÜHRUNG
Wo sind nun, wenn schon nicht wie im Abendland hinter dem Konzept der Mimesis, in China Ansätze für eine Erzählpoetik auszumachen? Der Begriff des »Erzählens« war, um auch hier einige terminologische Anmerkungen vorauszuschicken, in China selbstverständlich bekannt und wurde etwa mit shu, xushu oder xushi (erzählen, sagen, vermitteln) wiedergegeben, doch diente die Erzählung als solche nicht zur Kennzeichnung einer literarischen Kategorie innerhalb der Genre-Studien und der Bibliographien. Vielmehr handelt es sich bei den vorstehend genannten Termini lediglich um eine Qualifizierung der anerkannten Prosaliteratur. Als Begriff, der den gesamten Rahmen der erzählerischen Schriften umfaßt, ist gerade mit Blick auf das Fehlen epischer Traditionen in China eine andere Textkategorie zu suchen. Wie aus den einleitenden Bemerkungen zum Umgang mit dem xiaoshuo-Begriff bereits deutlich geworden ist, existierte eine große Nähe zur Geschichtsschreibung allgemein und, was die Behandlung der Erzählmaterialien angeht, zur Abfassung der Dynastie-Annalen ganz besonders.23 Das Interesse an den xiaoshuo verstärkte sich seit der Tang-Dynastie ganz erheblich. Wir können die einzelnen Stationen dieser gerade mit Blick auf die Erzählpoetik wichtigen Entwicklung hier nicht in aller Ausführlichkeit nachzeichnen, wollen jedoch die einschlägigen Werke, an denen der Prozeß festzumachen ist, wenigstens in geraffter Form nennen. Auf die in diesem Zusammenhang bedeutsame Anthologie Aufzeichnungen aus der Taiping-Ära ist im vorstehenden Abschnitt bereits kurz hingewiesen worden. Mit seinen für das xiaoshuo-Material entworfenen zweiundneunzig Kategorien, die geschichtliche Aspekte ebenso umfassen wie solche aus den Bereichen Geographie, Kunst und Magie, Medizin, Geographie, Botanik etc. mutet das zugrundegelegte Konzept insofern zugegebenermaßen verwirrend an, als hier all das angeführt scheint, was nicht in den überlieferten Klassikerkanon paßt. Erkennbar wird jedoch der große Umfang dessen, womit sich xiaoshuo befassen können und wo offenbar keine Grenzen gesetzt sind. Im Mittelpunkt des xiaoshuo-Konzepts in 23
Vgl. ANDREW H. PLAKS: »Towards a Critical Theory of Chinese Narrative«, in: DERS.: Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton, N.J.: Princeton UP 1977, S. 312. (Eine theoretische Betrachtung in bezug auf das Wesen der chinesischen Erzählkunst muß bei einer Würdigung der Historiographie in China beginnen.) Zur Bedeutung und Form der Geschichtsschreibung in China vgl. CHARLES S. GARDENER: Chinese Historical Historiography, Cambridge, Mass., Cambridge UP 1966. (Auf die Bedeutung der Historiographie weisen nicht nur die Titel späterer Erzählwerke wie »biographische Erzählung« [zhuan], »historische Aufzeichnung« [zhi] oder »Aufzeichnung« [ji] hin, auch die gesamte zum Ende der Ming-Dynastie aufkommende Romanpoetik ist in weiten Teilen aus dem traditionellen historiographischen Schriftgut heraus definiert.) Zur Verwendung verschiedener Stilelemente vgl. WILIAM MCNAUGHTON: »The Chinese Novel and Modern Western Historismus«, in: WINSTON L.C. YANG / CURTIS P. ADKINS (Hg.): Critical Essays on Chinese Fiction, Hongkong: The Chinese UP 1980, S. 213–219.
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den Aufzeichnungen aus der Taiping-Ära stehen damit Bildung und Unterhaltung jenseits des Klassikerkanons. Daß die Auffassung von den xiaoshuo als Erzählliteratur um diese Zeit in ein neues Stadium getreten war, beweisen schließlich Meng Yuanlaos (Vorwort 1148) Hinweise in seinem Traum von der Pracht der Östlichen Hauptstadt (Dongjing menghualu), denenzufolge Themenkreise des Historischen, Phantastischen etc. abzugrenzen sind. Es war schließlich Nai Deweng (gest. 1235), der in seinen Aufzeichnungen der wohlhabenden Hauptstadt (Ducheng jisheng) mit Bemerkungen zu den Hauptgenres der Geschichtenerzähler (shuohua) und der Verbindung der xiaoshuo zur mündlichen Erzählliteratur jene neben der Historiographie bedeutsamen Bezüge andeutete, aus denen sich die Erzählpoetik der folgenden Jahrhunderte nicht mehr lösen sollte. Im Einzelnen unterschied Nai Deweng vier Gruppen von Erzählern bzw. mündlich vorgetragenen Erzählinhalten: »[fiktionale] Erzählungen« (xiaoshuo), »Erzählungen von buddhistischen Schriften« (tanjing), »historische Berichte« (jiangshi) und »Improvisationen« (hesheng).24 Allerdings gab es dabei noch eine Reihe von Unterformen, wie wir gleich sehen werden. Eine wichtige poetologische Unterscheidung machte Nai Deweng auf jeden Fall an gleicher Stelle, als er bemerkte, daß die Genres des Fiktionalen mehr dem Imaginären (xu) als dem Faktischen (shi) zugewandt seien. Hinter Nais darüber hinaus so lapidar dahergebrachter »Furcht vor den Geschichtenerzählern« deutet sich darüber hinaus bereits etwas von jener suggestiven Kraft der Erzählliteratur an, die man sich ganz bewußt dann Ende der Qing-Dynastie zunutze zu machen suchte: Die Erzähler historischer Ereignisse berichten unter Rückgriff auf die Geschichtsbücher, Annalen und Biographien aus alter Zeit über Aufstieg, Niedergang und Krieg. [Das macht] die Geschichtenerzähler so gefürchtet, denn in einem Atem25 zug erzählen sie über Aufstieg und Niedergang einer Dynastie.
Poetologisch ist dieser Hinweis insofern interessant, als hier die Einschätzung zum Ausdruck gebracht wird, die mit dem Historischen befaßte Erzählkunst sei in der Lage, etwas bewußt unter einem Thema zusammenzufassen (nämlich Aufstieg und Fall eines Herrschaftshauses) und zu ordnen. In seinen Aufzeichnungen über eine Traumreise durch das alte Hangzhou (Gu Hang mengyoulu) schließlich gelangte Nai Deweng zu weiteren Spezifizierungen und unterschied zwischen Erzählungen über Liebe, Geister und das Außergewöhnliche, von denen er wiederum die Kriminal- und Räubergeschichten abgrenzte. Bemerkenswert an dieser Einteilung ist, daß hier der Bereich des Historisch-Faktischen ausgegrenzt ist und nicht mehr auftaucht. 24
25
Vgl. die Angaben bei SHELDON HSIAO-PENG LU: From Historicity to Fictionality: The Chinese Poetics of Narrative, Stanford, Cal.: Stanford UP 1994, S. 133. Hier zit. nach FANG ZHENGYAO: Geschichtlicher Abriß der chinesischen Erzählkritik, S. 19.
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EINFÜHRUNG
Seine klarste und exakteste Fassung während dieser Frühphase der chinesischen Erzählpoetik gewann der xiaoshuo-Begriff endlich mit Luo Yes (vermutl. spätes 12., frühes 13. Jahrhundert) Bemerkungen eines Trunkenen (Zuiweng tanlu). In der Sammlung aus insgesamt neunundsiebzig Geschichten findet sich kein Hinweis mehr auf abseitige und zweifellos nicht der fiktionalen Erzählkunst zuzurechnende Materialien wie noch in den Aufzeichnungen aus der Taiping-Ära, vielmehr kommt es zu einer deutlichen anhand von Genrekategorien abgegrenzten Einteilung. Die entsprechenden Hinweise finden sich in dem Teil mit dem Thema »Der Beginn der Erzählkunst« (xiaoshuo kaipi) des ersten Buchkapitels. Vorangestellt sind einige allgemeine Bemerkungen zu den Geschichtenerzählern, die Luo zufolge zwar in dem Ruf stehen, mindere Gelehrte zu sein, von ihm jedoch ein gehöriges Maß an Bildung zugestanden bekommen. Als Quellen, aus denen die Erzähler ihr Wissen schöpfen, werden die Aufzeichnungen aus der Taiping-Ära ebenso genannt wie die Dynastiegeschichten. Die sodann angeführten einhundertundsieben Erzähltitel sind wiederum jenen neun Genres zugeteilt, auf die sich die Erzähler spezialisieren: »Phantastik« (lingguai), »Erotik und Liebe« (yanfen), »chuanqi«-Erzählungen, »Kriminalgeschichten« (gong'an), »Schwert- und MesserKämpfer« (jianpudao), »Knüppelkämpfer« (ganbang), »Hexerei« (yaoshu) sowie »Götter und Heilige« (shenxian).26 Welche Bedeutung man den xiaoshuo seit spätestens dieser Zeit zuzubemessen begann, zeigt der Umstand, daß Liu Chenweng (1231–1294) diese zum ersten Mal wie die Klassiker und Standardhistorien behandelte und in seinen Bemerkungen zu den achthundert Jahren zuvor verfaßten Neuen Berichten von Reden aus der Welt (Shishuo xinyu) eines Kommentars würdigte. Zu einer echten poetologischen Auseinandersetzung mit der Erzählkunst kam es allerdings erst in der Ming-Dynastie. Wichtiges Anliegen war es, die Literatur aufgrund der Imagination (huan) aufzuwerten. Yuan Yuling (1592– 1674) bemerkte dazu: Literatur ohne Imagination ist keine Literatur. Imagination, die nicht in die Extreme geht, ist keine Imagination. Die am stärksten imaginierten Dinge sind die, die am meisten Wahrheit in sich tragen, und das imaginativste Argument ist das wahrste. Das ist der Grund, warum die Erörterung der Realität weniger wertvoll ist als die Erörterung der Imagination. Ebenso taugt das Gespräch über Buddha weniger als das über einen Dämon. Der Dämon ist niemand anders als ich 27 selbst.
Verfeinert tauchte dieses Konzept dann bei Feng Menglong 1574–1646) im Vorwort zu seiner Erzählsammlung Ermahnungen an die Welt (Jingshi tongyan) auf, 26
27
Vgl. hierzu die Übersetzung LO YEH: The Tales of an Old Drunkard, übers. und hrsg. von GABRIELE FOCCARDI, Wiesbaden: Harrassowitz 1981, S. 16–37. Zit nach HENRY Y.H. ZHAO: The Uneasy Narrator. Chinese Fiction from the Traditional to the Modern, Oxford: Oxford UP 1995, S. 206.
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wo er hervorhob, daß eine Geschichte nicht auf realen Tatsachen gründen müsse, solange hinter ihr etwas wie allgemein gültige Prinzipien (li) sichtbar würden.28 Wir wollen in einem nächsten Schritt die Extreme in der Auffassung einer möglichen Verbindung von faktisch-realem mit dem imaginär-fiktiven Material im Roman andeuten, um somit den Spielraum zu erhellen, der sich konkret werkbezogen bei der Abfassung eröffnete, wobei die Grundlage für die entsprechenden Erörterungen naturgemäß das Genre des historischen Romans darstellte. Die entsprechenden Darlegungen, oftmals sehr technischer Art und Weise, sind auch insofern interessant, als sie neben terminologischen Einblicken in die Konzepte auch rudimentäre Ansätze einer frühen literarischen Komparatistik offenbaren. Wohl mit am extremsten bezüglich der Traditionsbewahrung und den Forderungen der überlieferten Geschichtsschreibung am stärksten verbunden sind die Ansichten in dem dufa-Essay, das der Romanausgabe der Geschichte der Staaten der Östlichen Zhou (Dongzhou lieguozhi) von Cai Yuanfang (ca. Mitte 18. Jhdt.) vorangestellt ist. Ausgangspunkt der dort vorgetragenen Forderungen ist die Wahrheitstreue im Sinne von historischer Verbindlichkeit, gegen die eine Reihe von Werken des Genres verstießen, eingeschlossen der Roman Drei Reiche, welcher sich der historischen Wirklichkeit zwar in starkem Maße annähere, dabei aber dennoch viel Erfundenes (zuozao) in sich berge. Ganz anders dagegen die Geschichte der Staaten, in der alles auf der Überlieferung beruhe und nichts hinzugefügt sei. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich hier der Essayverfasser allein auf den Aspekt der »Überlieferung« berief, existierten doch gerade für die Zeit der Östlichen Zhou noch keine verbindlichen Annalen-Werke und war das meiste, was man über diese Epoche wußte, entweder späteren Geschichtswerken oder dem Anekdotenhaften entnommen. Terminologisch aufschlußreich auch die offensichtliche Nähe zwischen den Begriffen zuozao (Erfundenes, »willkürlich Entworfenes«) und der lateinischen Wortwurzel der »Fiktion« (nämlich »fingere« für »machen«). Die Ausführungen gipfelten in dem Argument, daß der Roman wie eine offizielle Dynastiegeschichte und nicht wie ein Roman zu lesen sei. Zusammengefaßt liest sich die Erörterung dann folgendermaßen: Unter den Romanen sind die frei erfundenen (jiade) wie Investitur der Götter, Räuber und Reise in den Westen leichter anzufertigen. Da dort alles aus der Luft gegriffen ist (pikong niezao), lassen sich ganz willkürlich Ergänzungen und Berichte einbauen und zu einem Text zusammenfügen. Die Staaten dagegen beruhten vollkommen auf wahren Tatsachen (shishi), einzeln wird Abschnitt für
28
In den zur Verfügung stehenden modernen Nachdrucken der Erzählsammlung (z.B. Ermahnungen an die Welt [Jingshi tongyan], Peking: Renminwenxue 1987) fehlen die Abdrucke des Vorwortes häufig. Wir beziehen uns hier auf die entsprechenden Angaben in HUANG BAOZHEN u.a.: Geschichte der chinesischen Erzähltheorie (Zhongguo wenxue lilunshi), Peking: Beijing chubanshe 1991, Bd. 3, S. 359.
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EINFÜHRUNG Abschnitt vorgetragen, Platz für Hinzufügungen und Zusammenschlüsse gibt es nicht. Daher bietet der Text als ganzes keine so angenehme Lektüre wie die der frei erfundenen Romane. Die einzelnen Abschnitte im Werk dagegen ergeben 29 wunderbare Erzählungen.
Das Eingeständnis einer »nicht so angenehmen Lektüre« eines Werkes, das sich stark an die offizielle Geschichtsschreibung anlehnt, antizipiert auf der anderen Seite ein Argument, das im Zusammenhang mit der Popularisierung historischer Stoffe in der Erzählkunst immer wieder genannt wurde, nämlich die eine stärkere Verbreitung verhindernde Monotonie der Annalen sowie die Verwendung des klassischen Idioms. Im Vordergrund standen dabei die Aspekte der Unterhaltung und Verständlichkeit. Es war niemand anders als Yuan Hongdao (1568–1610), der im Vorwort zu der Volkstümlichen Erzählung über die Dynastien der Östlichen und Westlichen Han (Dong Xi Han tongsu yanyi) diesbezüglich folgendes feststellte: Die Lektüre von Werken wie den Dreizehn Klassikern (Shisan jing) und den Einundzwanzig Dynastiegeschichten (Ershiyi shi) ermüdet schnell, kaum daß man die Bände aufgeschlagen hat. Die Klarheit und Verständlichkeit der Räuber dagegen mit ihrer umgänglichen und familiären Sprache (yuyu jiachang) fasziniert mich immer wieder derart, daß ich das Buch kaum aus der Hand legen mag. [...] Alle Welt angefangen von den Beamten bis zu den Bauernlümmeln und den Weibern in den Gassen der Städte, alle von den siebzigjährigen Greisen bis hin zu den gerade meterhohen Knirpsen – sie alle sprechen heutzutage von nichts anderem als [den Erzählungen und Romanen, aus denen Yuan Szenen anführt]. Von früh bis spät ist von nichts anderem die Rede, daß man darüber sogar das Essen vergißt und während des Gespräches jede Müdigkeit vermißt. Greift man zu Büchern wie den Annalen der Han (Hanshu) oder der Geschichte der Han (Han shi), um den Menschen davon zu berichten, dann schütteln die Leute nur verständnislos mit dem Kopf, und selbst wer etwas daraus begreift, versteht es doch nur zu einem geringen Teil. [...] So ist nun die Erzählung von den beiden Dynastien der Han (Liang Han yanyi) in der Folge der Räuber in den Druck gegangen. Wo es der klassischen Schriftsprache (wen) an Verständlichkeit (tong) mangelt, wird diese durch die volkstümliche Variante (su) erreicht. Das ist der Grund, warum man diesem Genre der historischen Erzählungen den Namen 30 »Historische Romane in der Umgangssprache« (tongsu yanyi) gegeben hat.
Geschickt umging Yuan hier die Frage der Verbindlichkeit und Exaktheit historischer Annalen, indem er sich in seinen Ausführungen auf Aspekte der breiteren 29
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Zit nach SUN XUN/SUN JU (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik (Zhongguo gudian xiaoshuo meixue ziliao huicui), Shanghai: Shanghai guji 1991, S. 27. Ebd., S. 89f.
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Zugänglichkeit zu historischen Stoffen beschränkte. Daß dies allein nicht genügen mochte bei der literarischen Umsetzung von Themen geschichtlicher Vorgänge, da schließlich der Anspruch einer Korrektheit von historischer Literatur gleich welcher Form der Gattung per Definition mitgegeben war, wurde in den Bemühungen der Verfasser und Kritiker populärer Historien sichtbar einmal in der äußeren Kennzeichnung der Werke mit spezifischen Titelbezeichnungen wie »Inoffizielle Geschichte« (waishi), »Verlorene Geschichte« (yishi) o.ä. und fand darüber hinaus Ausdruck in entsprechenden Rechtfertigungen einer »Ergänzung« der offiziellen Geschichtsschreibung (bushi), welche durch ihre naturgemäße Kargheit der Phantasie und Ausgestaltung breiten Raum bot, so daß, wie wir im Kapitel über den historischen Roman noch näher sehen werden, hier umfangreiches anekdotisches Material Aufnahme fand, um die Statur historischer Persönlichkeiten abzurunden. Dies wird zum Beispiel sichtbar in der Argumentation Li Yutangs (eines Gelehrten aus der Qing-Dynastie), der im Vorwort (1808) des die »Regeln« der historischen Annalen-Literatur schon weit hinter sich lassenden Romans Historische Erzählung über den Turm der Zehntausend Blumen, Yang Zongbao, Bao Zheng und Di Qing (Wanhualou Yang Bao Di yanyi) davon sprach, daß die offiziellen Dynastiegeschichten von ihrem Wesen her unvollständig bleiben müßten, wenig ausführlich seien (nanxiang) und den kleinen Dingen angesichts der großen Themen kaum Beachtung schenken könnten (da ti xiao zuo), womit sich jene Lückenhaftigkeit offenbare, die sich die Erzählkunst zunutze mache.31 Erstaunlich hier übrigens auch die Berufung auf eine bereits Jahrhunderte zuvor gepredigte Marginalisierung des xiaoshuo-Materials im Verhältnis zu dem übrigen Schrifttum, diesmal jedoch schon in dem bewußten Anspruch auf eine Ergänzung desselben, dessen Wert damit nicht vollkommen hinterfragt wird, jedoch gewisse »Mängel« offenbart – was somit einen erheblichen Schritt bei der Emanzipation der Erzählkunst andeutet. All die vorstehend praktizierten erzählerischen Umsetzungen historischer Stoffe waren zumindest aus ihrem eigenen Verständnis heraus keine »Geschichtsklitterung«, sondern erfolgten wohlgemerkt immer in dem bewußten Bemühen, die überlieferten Wertvorstellungen nicht in Frage zu stellen und damit im Rahmen des historisch Verbindlichen zu bleiben, wie etwa Liu Tingji (Lebensdaten unbekannt, Dichter und Literaturkritiker, der zur Zeit der Kangxi-Ära Ende des 17. und zu Beginn 18. Jhr. wirkte) in dem Vorwort zur Inoffiziellen Geschichte der Unsterblichen (Nüxian waishi) darlegte: Die Lektüre von Werken der offiziellen Geschichtsschreibung bleibt allein den Literaten und Gebildeten (dushuzhe) vorbehalten. Selbst wenn man den Analphabeten und dem gemeinen Volk daraus berichtet, stößt man doch nur auf Unglauben. Die Verfasser von Inoffiziellen Geschichten (waishi) haben daher ihr Talent dafür hergegeben (bian qi cai), sich des Erzählgenres bedient und ihre 31
Vgl. d. Ausgabe Wanhualou Yang Bao Di yanyi, Peking: Xiju-Verlag 1991, Anhang S. 567.
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EINFÜHRUNG historischen Werke als »inoffiziell« bezeichnet, um ihre Zwecke zu verschleiern [und den Büchern die Anrüchigkeit des Unverständlichen, wie sie in den Werken der offiziellen Geschichtsschreibung zum Ausdruck kommt, zu nehmen]. Selbst die gewöhnliche Bevölkerung findet nun Zugang zu Stil und Inhalt der Bücher. [...] Da die Werke die Grundregeln und Maßstäbe für den Umgang unter den Menschen aufrechterhalten (fuzhi gangchang) und den Glauben an die überlieferten Werte und Lehren nicht infragestellen, kommt den »Inoffiziellen 32 Geschichten« ein großes Verdienst zu.
Doch nicht nur aufgrund des Transports einer historischen »Botschaft« hatte die »Inoffizielle Geschichte« Liu zufolge ihre Berechtigung, wie er in dem Vorwort weiter ausführte. Vielmehr erfuhr sie ihre Anerkennung durch die Erfordernisse der Fiktion, »erfundene« Helden und Ereignisse (yandan, d.h. wörtlich »wortgeboren«) nach dem Prinzip der Wahrhaftigkeit darzustellen (lizhen) und damit Rechtmäßigkeit (zheng) zu erlangen.33 Was Korrektheit im historischen Sinne konkret ausmachte und wie sich die geschichtliche Romanliteratur dazu verhielt, hatte zuvor bereits der auch wieder nur unter seinem Pseudonym bekannte »Meister des Glückskleids« (Jiyi zhuren) erklärt. In seinem Vorwort zu der Vergessenen Geschichte der Sui (Suishi yiwen) hatte er den Gedanken der Ergänzung offizieller Geschichtsschreibung aufgegriffen. Diese, so seine Abgrenzung, halte Tatsachen und Ereignisse fest und stehe damit für Glaubwürdigkeit schlechthin (chuanxin, wörtl. »Wahrheit transportieren bzw. weitergeben«). Die historische Faktizität (zhen) wurde hier definiert als die »pietätvolle Würdigung der toten Meister und die Hervorhebung der Treue und Loyalität von verstorbenen Ministern«, d.h. es handelte sich um eine begrifflich sehr eng aufgefaßte posthume Herausstreichung der Leistungen historischer Persönlichkeiten. Eine »vergessene Geschichte« wie der pseudo-historische Roman um Qin Shubao dagegen, so die Argumentation, sammle Abseitiges und Verlorengegangenes und übertrage das Außergewöhnliche (chuanqi), wobei Elemente der Imagination (huan) zum Mittel würden, gerade die nirgendwo sonst in der Literatur erfaßte emotionale Verfassung der Helden (genannt wurden Zorn und Freude) zum Ausdruck zu bringen und damit letzthin ihr »ursprüngliches Wesen« (bense) zu erfassen. Der lapidare Hinweis, daß sich angesichts derartiger Gewichtungen eine »vergessene Geschichte« nicht im Widerspruch zu der offiziellen Historiographie befinde, ist schon nahezu überflüssig.34 Gerade die Epigonenliteratur, welche schließlich noch weit »abseitiger« und damit kaum noch irgendwelchen verbindlichen Vorlagen verpflichtet war, bediente 32
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SUN XUN/SUN JUYUAN (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik, S. 90f. Vgl. zu diesem Teil des Vorworts den Anhang zur Ausgabe Nüxian waishi, Shanghai: Shanghai guji 1991, Bd. 1, S. 1079. SUN XUN/SUN JUYUAN (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik, S. 68.
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sich der freien Ergänzung. Entsprechend argumentierte denn auch der Verfasser des dufa-Essays zu der von Cai Yuanfang kommentierten Ausgabe der Späteren Erzählung vom Flußufer (Shuihu houzhuan), daß sich in dem auf Song-zeitliche Ereignisse zurückgehenden Roman sowohl Dinge fänden, »die der offiziellen Geschichtsschreibung vollkommen« entsprächen, wie solche, »die ihr in keinster Weise« entsprächen, und wiederum andere, »die ihr zur Hälfte« entsprächen. Dem Roman den Zwang strenger Verbürgtheit enthebend, gipfelte das Argument in der Feststellung, daß der Roman die Ereignisse um die Männer vom LiangshanMoor thematisiere und sich nicht mit einer Chronik des Song-Hofes befasse, so daß die geschilderten Vorgänge »auch nicht am Maßstab der offiziellen Geschichtsschreibung zu messen« seien.35 Damit sind wir bei dem Versuch der Kritiker und Literaten angelangt, die Wertigkeit und den Anteil von Wahrheit und Imagination innerhalb der Erzählwerke zu bestimmen. Xie Zhaozhe (1567–1624) sprach diesbezüglich als einer der ersten von der »Verbindung von Fiktionalität und Authentizität« (xushi xiangban). Xie hob dabei noch stark auf das Argument der »Lesbarkeit« von Werken der historischen Romanliteratur ab. Die Drei Reiche bezeichnete er in diesem Zusammenhang aufgrund der zu starken Anlehnung an die Geschichtsschreibung als »verfault« (fu) und forderte: »Alle Erzählungen bzw. Romane (xiaoshuo), ›zaju‹-Dramen und Schauspiel-Textbücher (xiwen) müssen Authentisches und Fiktionales miteinander vermischen (xushi xiangban), erst dann wird daraus ein unterhaltsames Werk (youxi sanweizhi bi).«36 Dahinter stand die Auffassung, daß Erzählwerke und Dramen, die zu stark an die Historie angelehnt seien, überflüssig würden, könne man doch im Falle des historischen Interesses sogleich die Geschichtswerke konsultieren und müsse nicht auf die Fiktionalwerke zurückgreifen. Lediglich wo die Form des historischen Romans noch als Mittel betrachtet wurde, in »volkstümlichen Kreisen« das Bewußtsein für geschichtliche Prozesse zu fördern, kam gelegentlich noch die Forderung auf, bei entsprechenden Darlegungen auf Authentizität zu achten und das Imaginäre klar in das Gebiet der Fabel zu verweisen, auf keinen Fall jedoch beides miteinander zu verbinden. Das klassische Negativbeispiel war hierbei kein anderer Roman als die Drei Reiche, den Zhang Xuecheng (1738–1801, seines Zeichens Historiker und Literat) als eine Mischung von »sieben Zehnteln Tatsächlichem und drei Zehnteln Erfundenem« abtat (als Beleg nannte er etwa den historisch nicht verbürgten Schwur im Pfirsichblütengarten), nicht ohne zuvor einer Reihe von weiteren historischen Romanen Tatsachentreue zu attestieren und auch die Schadlosigkeit von »frei erfundenen«
35 36
Ebd., S. 69f. Xie Zhaozhe in seinem Traktat »Wuzazu«, juan 13, Kap. »Shibu«, hier zit. nach HUANG BAOZHEN u.a.: Geschichte der chinesischen Erzähltheorie (Zhongguo wenxue lilunshi), Peking: Beijing chubanshe 1991, Bd. 4, S. 675.
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EINFÜHRUNG
Romanhandlungen wie in Reise in den Westen und Jin Ping Mei festzustellen.37 Derartige Einschränkungen hatten in der Folge zumeist nur noch in dem direkten Vergleich zwischen den Erzählwerken ein Gewicht und tauchten dort, wie wir weiter unten noch näher sehen werden, in weit weniger kategorischen Ton auf. Die Mehrzahl der Kritiker und Kommentatoren jedoch, die Auskunft zum Wesen des Romans gaben, schlossen sich der von Xie Zhaozhe formulierten Rechtfertigung der Vermischung von xu und shi in einem Werk an, wobei dessen Darlegungen aufgrund der Hervorhebung leserbezogener Ästhetik (mit dem Ziel, das Romangenre insgesamt aufzuwerten) zunächst etwas vordergründig anmuten. Philosophisch fundiert wurde das Konzept jedoch spätestens im 18. Jahrhundert, als man sich auf das Credo bezog, daß der Himmel zwar die historisch vorgegebenen Geschicke steuere, diese sich aber dennoch in Übereinstimmung mit den grundlegenden Gesetzen der Gesellschaft von Menschen abspielten. »Himmel und Mensch« seien eins (tian ren heyi), Faktisches wie Imaginäres hätten gleichermaßen ihre Berechtigung. Jin Feng, der Verfasser des auf 1744 datierten Vorworts zur Vollständigen Erzählung über Yue Fei (Shuo Yue quanzhuan), brachte das Problem folgendermaßen auf den Punkt: Erzähler (chuangshuozhe) beziehen sich seit jeher nicht ausschließlich auf Fiktionales (xu) oder Authentisches (shi). Wenn alles nur frei erfunden ist in einer Erzählung, dann entstehen daraus lediglich Hirngespinste, doch auch wenn man sich allein an den Tatsachen orientiert, erwächst daraus nur Mittelmäßiges, von dem niemand hören möchte. [...] Es ist am Ende doch so, daß alles von Beginn bis Ende auf die Verfügung durch den Himmel zurückgeht (jie guiyu tian). In den Tatsachenberichten über Loyalität, Verrat und Bösartigkeit ist alles belegbar (kekao). Das frei Erfundene deutet zur Genüge die Ursprünge (qi), Wiederholungen (fu) und Veränderungen (bian) an. Wer über das Tatsächliche berichtet, erfindet auch (shizhe xuzhi), und wer von frei Erfundenem berichtet, bedient sich auch des Tatsächlichen (xuzhe shizhi). Das alles ist sehr unterhaltsam und vertreibt 38 einem die Sorgen.
Von hier aus deutet sich schließlich die Befreiung von der Verbindlichkeit des Historischen an, dessen Nüchternheit und Phantasielosigkeit mehr und mehr als Mangel denn als Maßstab für Wahrheit empfunden wurde. Hatten die Kommentatoren der Romane sich in der Vergangenheit noch sichtbar darum bemüht, die von ihnen gewürdigten Werke durch Zusammenstellung mit in Fragen des Stils, der Komposition etc. als Vorbilder betrachteten Klassikern wie Frühling und Herbst (Chunqiu), Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) etc. aufzuwerten, 37
38
Vgl. SUN XUN/SUN JU (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik, S. 70. Vgl. das von JIN FENG abgefaßte Vorwort zu Shuo Yue quanzhuan in der Ausgabe Peking: Huaxia 1995.
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so gerieten diese unter Berufung auf den Wert der Fiktion plötzlich in eine ganz andere Perspektive. Kategorisch erklärte daher Tao Jiahe gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Vorwort zu Li Baichuans Spuren von Unsterblichen in der Wildnis (Lüye xianzong) zum Vorwurf des »Falschen« (jia) und »Verlogenen« (huang) im Roman: Die ganze Welt ruft bei der Lektüre von Werken der Erzählkunst »Alles gelogen!« Sei es drum, aber ist denn das »Wahre« deshalb viel lesbarer? So gesehen war Zuo Qiuming [d.h. der Verfasser der Überlieferung des Zuo (Zuozhuan), angefertigt zwischen 468 und 300 v. Chr.] der Urvater aller Lügner, und doch lernt alle Welt von früher Jugend bis ins hohe Alter daraus. Dabei ist alles erstunken und erlogen (huang dao jia). Aber was macht das schon! Selbst wenn alles erfunden und erlogen ist, kommt man nicht um die Lektüre herum (bu ke bu du). Wer also die Romanlektüre nicht verschmäht, der möge zu Werken wie Räuber, Jin Ping Mei und Spuren von Unsterblichen in der Wildnis greifen, die 39 allesamt »erstunken und erlogen« sind.
Blieben diese Formulierungen noch apodiktisch an die Infragestellung der überlieferten literarischen Traditionen gebunden, so faßte der »Einsiedler vom LuofuBerg« (Luofo jushi) das Wesen des Romans im Vorwort des zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfaßten Romans Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi) unter Bezug auf dessen Anschaulichkeit und Klarheit zusammen und erläuterte damit nicht zuletzt das ganze erzählerische Potential des zu dieser Zeit bereits im Schwunge befindlichen Genres der xiaoshuo: Die genauen Schilderungen im Roman von alltäglichen Lebensereignissen wie Nahrung, Reisen etc. der Protagonisten in allen Details sind das, was hier »klein« (xiao) genannt wird. Die heiteren Gespräche bei der Begegnung von Freunden oder das heimliche Geflüster der Liebespaare, diese Worte sind es, die hier das »Gerede« (shuo) bezeichnen. Vollkommen schlicht, einfach und klar zu 40 sein, das ist die Devise des Romans.
Detailfreude, Anschaulichkeit und phantasievolle Ausgestaltung rückten damit bei der Feststellung des »Wahrheitscharakters« eines Romans in den Vordergrund gegenüber der schon bei Zhang Zhupo im dufa-Essay zum Jin Ping Mei aufgeworfenen Frage, ob es denn notwendig sei, daß die geschilderten Personen wirklich gelebt, und ob sich die geschilderten Ereignisse in der Tat so abgespielt haben. Gute Erzählliteratur war demnach nicht mehr durch geschichtliche Genauig39
40
Vgl. das von TAO JIAHE abgefaßte Vorwort zu Lüye xianzong in der Ausgabe Peking: Renmin Zhongguo 1993, Bd. 1, S. 2. Vgl. das von »Luofu jushi« abgefaßte Vorwort zum Shenlouzhi in der Ausgabe Shijiazhuang: Huashan wenyi 1994, S. 1.
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EINFÜHRUNG
keit als sine qua non gekennzeichnet, sondern mußte emotionale ebenso wie geistige Prozesse in Mensch und Gesellschaft vermitteln und damit das Bild des Faktisch-Tatsächlichen abrunden. Entscheidend war demnach nicht mehr die »Historie«, vielmehr wurde der Autor aufgrund seiner genauen Kenntnisse und Biographie zur letzten Instanz, die für »wahre Fiktion« bürgte – eine Anschauung, die uns niemand anders als der »Zhiyanzhai«-Kommentator vom Traum der Roten Kammer in einer eindrucksvollen kleinen Anekdote vermittelt: Ich habe kürzlich eine zotige Anekdote vernommen, die folgendermaßen lautet: Ein Bauer, der sich in der Hauptstadt aufgehalten hatte, wurde bei seiner Heimkehr gefragt: »Nun, was hast du Großes von der Welt gesehen in Peking?« Der Bauer antwortete: »Ich habe sogar seine Majestät den Kaiser zu Gesicht bekommen.« Erstaunt wollten alle wissen: »Nun, und wie ist er, der Kaiser?« Der Bauer antwortete daraufhin: »Der Kaiser hielt ein Stück Gold in der linken und ein Stück Silber in der rechten Hand. Am Sattel hatte er einen Beutel mit Ginseng befestigt und naschte ständig daraus. Selbst bei der Verrichtung seines großen Geschäftes griff er nur zum Feinsten, um sich zu reinigen, und wischte seinen Hintern mit einem hellgelben Tuch aus Atlasgewebe. Ihr seht, wie fein und edel es selbst beim Besuch von Toiletten in der Hauptstadt vor sich geht.« Mir scheint, daß alle Erzähler, die über die Häuser der Reichen und Adligen berichten, ähnlich schreiben wie der Bauer in seinem Bericht. Was wiederum zeigt, daß jeder, der über etwas schreibt, das er nicht selbst erlebt oder gesehen hat, 41 zwangsläufig außerhalb des Glaubhaften und Nachvollziehbaren bleibt.
Unter der Berufung auf die Übereinstimmung mit den »gefühlsmäßigen Erwartungen« (qing) bzw. mit den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Dinge oder vielleicht besser einfach dem »gesunden Menschenverstand« (li) hatte sich der Roman ein weites Betätigungsfeld erschlossen und damit Konzepte entworfen, die bei ihrer literarischen Umsetzung in abgewandelter Form immer wieder im Zusammenhang mit der lebensechten Beschreibung von Szenen aus dem Umfeld der Autoren der großen Familienromane auftauchen, womit der Anspruch historischer Authentizität zugunsten eines literarischen Realismus aufgegeben wurde. Feststellungen solcher Art finden sich in den Kommentaren häufig, so etwa schon bei Zhang Zhupo in dem dufa-Essay zum Jin Ping Mei, wo er bemerkt: Alles im Werk entspricht den menschlichen Empfindungen und Beziehungen (renqing). Bei der Lektüre hat man den Eindruck, daß jemand vor dem Hause Ximen Qings im Kreise Qinghe gesessen habe und alles aus eigener Beobachtung angefangen vom Kleinsten bis zum Größten zu Papier gebracht habe. Es
41
»Erneuter Kommentar von ›Zhiyanzhai‹« (Zhiyanzhai chong ping Shitouji), Bemerkungen zu Kap. 3 der »Jiaxu«-Ausgabe (1754) des Hongloumeng, hier zit. nach SUN XUN/SUN JUYUAN (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik, S. 76.
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Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst ist, als wären die Dinge dort wirklich passiert und nicht einfach der Phantasie 42 des Verfassers entsprungen.
Ähnlich läßt Zhiyanzhai seinen Kommentar zu Kapitel 22 des Traums der Roten Kammer, dem er eine Szene über den Konflikt zwischen Jia Baoxu und seinem Vater vorausschickt, in folgenden Satz münden: »Wer selbst nicht am eigenen Leibe einmal die Züchtigung durch einen strengen Vater erfahren hätte, könnte Baoyu unmöglich so darstellen.«43 Damit wurde dem individuellen Erfahrungshintergrund des Verfassers von Erzählliteratur eine ganz neue Dimension eröffnet, nämlich ein Sichhineinversetzen-Können in die geschilderten Vorgänge (eben das, was gemeinhin mit »Eindringen in die Welt« [rushi] bezeichnet wurde bzw., was Jin Shengtan [1608–1661] in dem Zitat weiter unten mit dem Begriff dongxin andeutet), um eine »bezwingende Realität« (bizhen, so gebraucht etwa schon bei Li Zhi (1527–1602) im Kommentar zu den Räubern) zu entwerfen, was schließlich den Autoren des dufa-Essays der von Dong Yueyan kommentierten Ausgabe des Romans Xue Yue Mei zu dem für gute Literatur wohl allezeit gültigen Diktum veranlaßte, daß »wer die Angelegenheiten der Welt nicht kennt, nicht imstande ist, ein Buch zu schreiben«.44 Damit war nicht nur die Verdichtung der Welt im Dichter gemeint, sondern auch und gerade die Wahrnehmung des Dichters von der Welt. Welches Maß an Subjektivität die Literarisierung dieser Wahrnehmungen erforderte und inwieweit eine Identität zwischen dem Verfasser und den von ihm entworfenen Figuren anzunehmen ist, hatte als wohl einer der ersten Jin Shengtan am Beispiel einer Szene in den Räubern verdeutlicht, wobei er Bezug nahm auf den vermeintlichen Romanautoren Shi Nai'an und die Romangestalten der »verführerischen Frau« (yinfu) und des »Schürzenjägers« (touhan). Bei Nai'an selbst handelt es sich doch keineswegs um eine verführerische Frau oder einen Schürzenjäger. Dennoch wirken sowohl die verführerischen Frauen wie die Schürzenhelden in seinem Roman vollkommen lebensecht. Was hat es damit auf sich? Nun, ich meine, es leuchtet zwar ein, wenn man sagt, jemand, der keine verführerische Frau ist, könne nichts über verführerische Frauen wissen, und wer kein Schürzenjäger sei, mache sich kein Bild von einem solchen. Doch Nai'an war nun einmal weder verführerische Frau noch Schürzenjäger, beide Figurentypen entspringen allein der literarischen Fertigkeit Nai'ans. [...] Ausgestattet nur mit einem Pinsel und einem Bogen Papier, entwirft Nai'an verführerische Frauen und Schürzenjäger, weil er sich tatsächlich in diese Figuren hineinzuversetzen (shi qin dongxin) versteht. [...] Wer wie Nai'an die Beziehungen von Ursache und Wirkung in den Angelegenheiten der Welt durchschaut hat, 42 43 44
Zit. nach ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 76. Zit. nach dem Abdruck des Essays in der Ausgabe Xue Yue Mei zhuan, Ji'nan: Qilu shushe 1986, S. 3.
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EINFÜHRUNG der vermag nicht nur ein anschauliches Bild von verführerischen Frauen und Schürzenjägern zu entwerfen, sondern der kann auch glaubwürdige Auskunft 45 geben über Verräter und Helden.
Das gleiche meinte Wang Guowei (1877–1927), als er den Erzählinhalt von der Notwendigkeit einer Anbindung an die Autorenbiographie im Sinne der Produktion von Zuverlässigkeit befreite und feststellte, daß »etwas selbst gehört und gesehen zu haben« auch heißen könne, »davon als Außenstehender Kenntnis erlangt zu haben und darüber zu berichten. Es heißt nicht, daß man selber in die Vorgänge verwickelt ist. [...] Genauso unangemessen wäre es, hinter dem Verfasser der Räuber einen Räuber oder hinter dem Autoren der Drei Reiche einen Militärfachmann zu vermuten.«46 Es ist schwierig, die hier einzeln aufgeführten Konzepte zum Problem des Verhältnisses von Faktizität und Fiktion sowie des Anspruchs auf Realität in irgendeiner Weise zu quantifizieren. Aus der Zahl der immer auch wieder divergierenden Ansichten ergibt sich zumindest der Eindruck, daß die Kommentatoren hinter Begriffen wie xu und shi bzw. zhen und jia etc. Paare relativer Bezeichnungen sahen, die einander bedingten und ohne Bezug zum jeweils anderen wirkungslos waren. Immerhin gewährleistete die allegorische Lesart selbst solcher Werke, die großen Wert auf die Darstellung »übernatürlicher« Ereignisse legten, daß ein Höchstmaß an Wirklichkeit erfaßbar wurde und die phantastisch angelegte Welt quasi zum Spiegel der realen Welt avancierte. Nicht anders ist Li Zhis Lob der Reise in den Westen aufzufassen, in der er ein hervorragendes Erzählwerk ausmachte, da »etwas Wahres wie das Unwahre« dargestellt würde.47 Daß die erzählerische Ausschmückung von Begebenheiten um »Götter, Unsterbliche, Geister und Dämonen« keinen uneingeschränkten Anspruch auf »Wahrheit« erhob, war vielen Literaten wohl schon vor der Ming-Zeit klar, doch daß man damit imstande war, in alltäglichen Szenen und Ereignissen das Seltsame und Wunderliche zu suchen, um eine andere Bedeutungsebene (yi) aufzuzeigen bzw. zu einem umfassenderen Wirklichkeitsverständnis (li) zu gelangen, gehörte erst seit Han Bangqings (1856– 1894) Darlegungen zum Gemeingut innerhalb der Erzählkunst.48 Damit verbunden war auch eine literarische Aufwertung des Genres der phantastischen Romane. War in der Vergangenheit die Darstellung von Geistern, Gespenstern »oder anderen 45
46
47
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Vgl. Jins Bemerkungen vor Kap. 55 der von ihm kommentierten Ausgabe der Räuber, zit. nach SUN XUN/SUN JUYUAN (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik, S. 75. WANG GUOWEI in seinem Werk Aufsätze zum Traum der Roten Kammer (Hongloumeng pinglun), hier zit. nach ebd., S. 79. LI ZHI am Schluß von Kap. 94 der von ihm kommentierten Ausgabe der Reise in den Westen, vgl. ebd., S. 71. Vgl. die Vorbemerkungen HANs' zu seiner Erzählsammlung Taixian mangao, s. ebd., S. 73.
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seltsamen Angelegenheiten«, wie uns Jin Shengtan unter Bezug auf die Vorzüge der Räuber gegenüber der Reise in den Westen wissen läßt, als »einfach« empfunden worden, da die mangelnde Verbindlichkeit der willkürlichen Ausgestaltung von Szenen breiten Raum bot,49 so bezog Feng Zhenlan zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem Kommentar zu der klassischen von Pu Songling (1640–1715) angefertigten Erzählsammlung Wundersame Geschichten aus dem Studio eines Müßiggängers (Liaozhai zhiyi) unter Würdigung des Phantastisch-Phantasievollen eine vollkommen konträre Position: In der Vergangenheit wurde oft behauptet, es sei einfacher, ein Gespenst als einen Tiger darzustellen. Das Gespenst sei ohne konkretes Wesen und Anschauung, d.h. ohne Dinge, über die ein Tiger sehr wohl verfüge. Wer bei der Beschreibung eines Gespenstes nicht weiterkomme, so die Auffassung, der würde sich mit willkürlichen Ausmalungen behelfen. Anders bei einem Tiger, auf dessen Beschreibung man höchste Anstrengung verwenden müsse. Ich bin da anderer Auffassung. Wer ein Gespenst darstellt, muß ihm sehr wohl ein konkretes Wesen und Anschaulichkeit verleihen. In einer Spruchweisheit heißt es sehr richtig: »Wenn man schon lügt, dann so, daß es auch überzeugend wirkt«. Damit ist 50 nichts anderes als Konkretheit und echte Wesenhaftigkeit gemeint.
Wir haben auf den vorstehenden Seiten versucht, die wesentlichen Ansichten zur Fiktionalisierung im Roman vor allem im Verhältnis zu den poetologisch lange Zeit beherrschenden Erfordernissen durch die Geschichtsschreibung in einigermaßen ausführlicher Form darzulegen, womit wichtige Vorstellungen von der Fiktion deutlich geworden sein worden dürften. Konkret literarisch schlugen sich diese Konzepte bei einer Reihe von Kritikern der Romanliteratur in dem Entwurf bestimmter romantheoretischer Auffassungen nieder, auf die wir im folgenden kurz eingehen wollen. In Erweiterung der oben angedeuteten Argumentation zur Würdigung der Leistungsfähigkeit des Romans handelt es sich hierbei sozusagen um das theoretische Handwerkszeug, mit dem man sich an die Bearbeitung der Erzählliteratur machte. Auch hier standen zunächst wieder Aspekte der Abgrenzung von der Historiographie bzw. des Vergleichs zwischen historischem Roman und überlieferter Geschichtsliteratur im Vordergrund. Recht schlicht mutet da etwa noch der Hinweis des lediglich unter seinem Pseudonym »Betrachtender Taoist« (Keguan daoren) bekannten Vorwortverfassers zur Neuen Erzählung von den 49
50
JIN SHENGTAN in seinem dufa-Essay zu den Räubern vom Liangshan-Moor, vgl. DAVID L. ROLSTON (Hg.): How to Read the Chinese Novel, Princeton, N.J.: Princeton UP 1990, S. 134. FENG ZHENLUAN, dessen nähere Lebensumstände nicht bekannt sind, in seinem 1818 begonnenen Kommentar »Vermischte Bemerkungen zu den Wundersamen Geschichten aus dem Studio eines Müßiggängers« (Du Liaozhai zhiyi zashuo), hier zit. nach XUN/SUN JUYUAN (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik, S. 98.
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EINFÜHRUNG
Staaten (Xin Lieguozhi) an, der unter Hinweis auf »Hinzufügungen« (zengtian), »Ausmalungen« (runse) und »Plastizität« (xingrong) die Fiktionalität dieses Werkes hervorhob, nicht ohne den Umstand zu vergessen, daß »die Tatsachen selbst nicht verdreht worden seien«.51 Auch Ye Zhous (gest. ca. 1624/25) Formulierungen blieben zwar noch recht allgemein, doch da es sich bei ihm um eine zumindest in der westlichen Literaturwissenschaft zum chinesischen Roman bislang wenig beachtete Gestalt handelt und er mit seinen Ausführungen zur Ästhetik auch auf die spätere Entwicklung in diesem Bereich nicht ohne Einfluß blieb, wollen wir einige seiner Konzepte näher untersuchen.52 Aus Ye Zhous romanbezogenen Kommentaren ragen sicherlich jene Passagen zu den Räubern heraus, mit denen er sich an den Beginn der ästhetischen Forderung nach personaler Erzählsituation stellte. Eingebettet sind diese Vorstellungen in das für die Fiktion wichtige Konzept der »Schlüssigkeit innerhalb der Illusion«, welche dem Leser geboten wird. Mit dem Terminus qu für Illusion brachte Ye ein zentrales Anliegen innerhalb der Erzählliteratur zum Ausdruck: Die anschauliche und nachvollziehbare Illusion ist bei der Abfassung eines [literarischen] Textes das Wichtigste. Was zählt es noch, ob die dargestellten Dinge sich in Wirklichkeit so abgespielt haben oder ob die Protagonisten tatsächlich 53 existiert haben, solange nur die Illusion gegeben ist?
In der Differenzierung des vorstehend genannten Konzeptes vom »Ausmalen« folgerte Ye Zhou weiter, daß Romangestalten erst durch Entwürfe einer konkreten Situation (guangjing) jenes Maß an Plastizität erlangen, welches sie für den Leser klar unterscheidbar macht. Autor, Sprache, Bilder, alles tritt zurück, um der überzeugenden Illusion Platz zu machen, und deutet eben die Aufgabe der »äußeren Form« an, die sich im philosophischen Sinne schon bei Zhuangzis waiwu andeutet und später zu einem tragenden Prinzip der Literaturästhetik wurde. Der Sinn des Fischers richtet sich nach Fisch, hat er einmal den Fisch gefangen, so vergißt er die Reuse; der Sinn des Jägers richtet sich nach dem Hasen, hat er den Hasen gefangen, so vergißt er die Falle; die Worte richten sich nach der Bedeutung [yi], ist die Bedeutung klar und vorhanden, dann vergißt man die 54 Worte.
51 52
53 54
Vgl. ebd., S. 66. Die vollständigste Übersicht zu Ye Zhous Leben und Werk findet sich bislang bei YE LANG: Ästhetik des chinesischen Romans (Zhongguo xiaoshuo meixue), Peking: Beijing daxue 1982. Vgl. dort im Anhang den Aufsatz »Belege zum Kommentar von Ye Zhou zu den Räubern« (Ye Zhou pingdian »Shuihuzhuan« kaozheng), S. 280–302. Vgl. YE LANG: Ästhetik des chinesischen Romans, S. 31. ZHUANGZI »waiwu«, hier zit. nach ebd., S. 37.
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Wesentlich ausgereifter im Sinne der Konzeptionalisierung der Vorstellung von der Fiktionalität ist das, was Jin Shengtan als positives Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Roman Räuber und dem Geschichtswerk Sima Qians, den Aufzeichnungen des Großhistorikers, feststellte. In letzteren würden, so Jin, »Worte benutzt, um Ereignisse zu transportieren«, wohingegen der Roman »Ereignisse aus den Worten heraus« produziere: Wenn man Worte benutzt, um Ereignisse zu transportieren, dann liegen die Ereignisse zunächst in einer bestimmten Form vor, und man muß eine Erzählung daraus formen. Wenn man dagegen Worte benutzt, um Ereignisse zu produzieren, dann [...] läßt man sich von seinem Pinsel treiben. Großes zu verkleinern und 55 Kleines zu vergrößern hängt ganz von einem selbst ab.
Jin führte diesen Gedanken an einer anderen Stelle in seinem Essay weiter aus, als er bemerkte, daß die sechsunddreißig Haupthelden des Romans bereits in den Überkommenen Ereignissen der Xuanhe-Ära (Xuanhe yishi), einer literarischhistorischen Vorform der Räuber, genannt worden waren und somit als reale historische Persönlichkeiten existent seien. Ihre Biographien im Roman dagegen seien frei erfunden. Was Jin damit meinte, war, daß die Gestalten im historischen Werk an die von der Geschichte überlieferten Tatsachen und Ereignisse gebunden blieben, während der Romanautor bei der Ausgestaltung seiner Figuren einem freien und eigenständigen Entwurf folgte. Eng verknüpft damit ist das literarische Prinzip der Individualisierung von Romangestalten (d.h. eben der Entwurf eines differenzierten »Charakters« [xingge]), ein Merkmal, das laut Jin bei allen einhundertundacht Räubergestalten in dem von ihm bedachten Werk anzutreffen sei, zum Ausdruck kommend durch Erscheinung, Wesen und Sprachduktus etc. Hier deutet sich eine Nähe zu den Individualismusvorstellungen Li Zhis an, die sich mit seiner Forderung decken, daß »jeder Mensch auf der Welt einen ihm Wert und eine ihm gemäße Rolle« besitze.56 Doch auf welches literarische Konzept berief sich ein Verfasser bei der anschaulichen Individualisierung? Jin hob hierbei auf den Terminus gewu ab, der ursprünglich aus dem Großen Lernen (Daxue), d.h. einem der »Vier Bücher« des Konfuzianismus, stammte und von Zhu Xi im Sinne von »umfassend und tiefgründig schöpfen« erläutert worden war. Umgemünzt auf die Literatur, verbirgt sich dahinter die Fähigkeit, Figuren die Eigenschaften zu verleihen, die man durch eigene Beobachtung in seiner Umgebung wahrgenommen hat. Doch gewu wurde bei Jin Shengtan noch weiter spezifiziert. Im dritten Vorwort zu den Räubern führte er aus, daß zu gewu ebenso Treue (zhong) wie Duldsamkeit (shu) gehörten, was soviel 55
56
JIN SHENGTAN in seinem dufa-Essay zu den Räubern vom Liangshan-Moor, vgl. ROLSTON: How to Read the Chinese Novel, S. 133. Vgl. YE LANG: Ästhetik des chinesischen Romans, S. 35.
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hieß, wie daß die Echtheit und Verbindlichkeit der entworfenen Gestalten stets mit dem eigenen Bild und Empfinden des Autoren übereinstimmen müsse. Darüber hinaus griff Jin zufolge in der literarischen Romangestaltung das Prinzip yin yuan shengfa, d.h. »die Herleitung (sheng) von Dingen und Lebewesen (fa) aus ihren Ursprüngen und logischen Bedingungen (yuan)« – ein Prinzip, das wohl auf buddhistische Konzepte zurückgeht und eben dort Anwendung findet, wo ein Autor in seinen Entwürfen nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann, in der phantasievollen Ausmalung aber schlüssig bleiben muß, um glaubhaft zu wirken. Auf die damit wiederum zusammenhängende Fähigkeit des »SichhineinversetzenKönnens« (dongxin) in die Figuren durch den Verfasser sind wir weiter oben bereits zu sprechen gekommen.57 Wie sehr solche Vorstellungen auch über die Romankunst hinaus zu wirken begannen, zeigen u.a. die Formulierungen Li Yus, der sich in seinen für das Drama formulierten Grundsätzen Beiläufige Aufzeichnungen in müßiger Stimmung unter der Überschrift »In der Wortwahl nach Ähnlichkeit streben« ausdrücklich auf die Räuber berief: »Worte sind der Ausdruck des Inneren, will man also für eine bestimmte Rolle die Worte wählen, so muß man zunächst für sie ihr inneres Wesen festlegen. [...] Nicht nur wenn ich das innere Wesen einer aufrechten, edlen Figur darlege, muß ich mich in die Rolle hineinversetzen, auch wenn ich das innere Wesen eines üblen Burschen darzustellen habe, ist es notwendig, die Klassiker beiseite zu lassen und mich seiner Schlechtigkeit anzupassen, um mir eine Zeitlang die Denkart dieses üblen Burschen zu eigen zu machen. Man muß unbedingt dafür sorgen, daß die geheimsten Regungen des Inneren ungeschminkt geäußert werden, und soll seine Worte so wählen, daß die [sprechende] Figur einer bestimmten Person ähnlich ist. [...] Als Beispiel sei die Erzählweise im Flußufer [...] an58 geführt.
1.4 Zum Versuch der Bestimmung des klassischen chinesischen Romans Wie ist nun der frühe chinesische Roman zu betrachten bzw. betrachtet worden? Wir wollen auch hier vorab einige begriffliche Fragen erörtern. Es fällt zunächst auf, daß der Terminus xiaoshuo lediglich eine pejorative Zuordnung innerhalb des Literatursystems darstellt und zuvorderst keine Hinweise auf Einheitlichkeit, Totalität o.ä. gibt. Er konnte sowohl für die erzählerischen Kurz- wie für die Langformen gebraucht werden und wird heute zum Teil auch noch verwendet. Noch der erst in der Qing-Zeit aufkommende Begriff des »Kapitelromans« (zhanghui xiaoshuo) 57
58
Vgl. zu diesen Konzepten die Ausführungen bei HUANG BAOZHEN u.a.: Geschichte der chinesischen Erzähltheorie, Bd. 4, S. 660–663. Zit. nach MARTIN: Li Liweng über das Theater, S. 137f.
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weist nur indirekt auf die Werklänge eben durch Verknüpfung der mit Überschriften versehenen Kapitel hin; es sollte bis zum 20. Jahrhundert dauern, ehe, zumindest was den Umfang angeht, der Roman (changpian xiaoshuo) abgegrenzt wurde von den kürzeren Erzählformen der Novelle (zhongpian xiaoshuo, wörtlich »mittellange Erzählung«) und der Kurzgeschichte (duanpian xiaoshuo). Das Konzept der Kapitelreihung war dabei – ohne ausdrücklich genannt zu werden – freilich schon viel älter, das erste in der Literaturwissenschaft hierzu genannte Beispiel ist das Song-zeitliche Textbuch (huaben) Mit Versen versehene Erzählung über Sanzang aus der Großen Tang-Dynastie, der die Sutren beschaffte (Da Tang Sanzang qujing shihua) über den Tang-Mönch Tripitika, der uns noch in der Reise in den Westen begegnen wird. Die siebenundzwanzig Abschnitte (duan) des Buches sind mit Überschriften versehen. Das Problem, womit wir es hier in bezug auf die Einschätzung der Struktur als »episodenhaft« zu tun haben, hängt damit zusammen, daß der Begriff xiaoshuo, wie gesehen, sowohl Erzählungen geringeren Umfangs wie eben auch Romane bezeichnen kann und daß bestimmte für die Kapitelbegriffe verwendete Begriffe wie hui (wörtlich etwa »Sitzung«, hier als »Erzählsitzung« verstanden) in Zusammenhang gebracht worden sind mit den frühen chinesischen Geschichtenerzählern, man also schlichtweg die Erzählkunst als Form des schriftlichen Ausdrucks lange Zeit in Abrede stellte. Anders als im Abendland, wo die Erzählungen, Novellen etc. auf verschiedene Traditionen zurückgehen, erscheint die chinesische Überlieferung von Erzähltexten aufgrund ihrer stilistischen Besonderheiten weit homogener. Das ging ursprünglich so weit, hinter der Erzählgattung der Textbücher (huaben) eine Art von »Soufflierbüchlein« auszumachen, das dem Geschichtenerzähler als Gedächtnisstütze diente.59 Da die rhetorischen Mittel zur Schaffung der Illusion des »mündlichen Erzählvortrags« (Anrede des Lesers, Kommentareinschübe u.ä.) sowohl in den kürzeren Formen wie den huaben als auch in den späteren Romanen vielfach übereinstimmen, wurde hier schnell eine genetische Beziehung angenommen, die die erzählerischen Langfassungen aus der Tradition eines zur Lektüre verfaßten Materials zu lösen drohten. Es war der niederländische Sinologe Idema, der zu Beginn der siebziger Jahre den Nachweis erbrachte, daß die Volksbücher (pinghua), die wie die huaben lange Zeit für Textbücher der Geschichtenerzähler gehalten wurden und von denen fünf aus der Yuan-Zeit (1264–1368) überliefert sind, nicht mit den Geschichtenerzählern in Verbindung zu bringen sind. Damit wurde klar, daß die Erzählungen und Romane durchaus auf schriftliche und nicht auf mündliche Quellen zurückgingen, 59
Vgl. JAROSLAV P5â(.: »Researches into the Beginnings of the Chinese Popular novel. Story-telling in the Sung-Period«, Teil I, in: Archiv Orientální, Bd. 11 (1939), S. 110; s.a. JOHN L. BISHOP: The Colloquial Short Story in China. A Study of the San-Yen Collections, Cambridge, Mass: Harvard UP 1956, S. 11; als Überblick zum Problem des Begriffs und der Datierung von huaben vgl. ebenfalls THOMAS ZIMMER: »Das Huaben über Han Qinhu«, in: minima sinica 2/1992, S. 55–72.
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EINFÜHRUNG
so daß man gezwungen war, die Erzählwerke der Ming als »zwar unorthodoxen, so doch immerhin Teil der aristokratischen Literaturtradition« zu betrachten, wie Hegel hervorhob.60 Auf diese Weise wurde aber nicht nur die direkte Herleitung des Romans aus der mündlichen Erzähltradition durchbrochen, sondern es ergaben sich noch dazu Hinweise auf schriftliche Vorläufer des frühen Romans.61 Eine Prüfung der Quellen von Werken wie Drei Reiche, Räuber vom Liangshan-Moor, Reise in den Westen etc. belegt diese These.62 Unabhängig davon haben zahlreiche Funde während der vergangenen Jahrzehnte eine Reihe von neuen Quellen für das Ming-zeitliche Erzählmaterial zutage gefördert, die nach ihrer wissenschaftlichen Auswertung stärkeren Aufschluß über die Verbindung der Roman- und Erzählliteratur mit der mündlichen Erzähltradition geben. Eine spektakuläre Entdeckung waren in diesem Zusammenhang die sechzehn »Balladen« (cihua) aus der Chenghua-Periode (1465–1487), die man 1967 in einer Grabanlage nicht weit von Shanghai entdeckte. Der Fund belegte, daß im 15. Jahrhundert bereits ein reicher Markt für derartiges Erzählmaterial vorhanden war, und deckt sich insofern mit Aussagen zeitgenössischer Bibliophiler wie denen Zhao Qimeis (1563–1624), der hundert Jahre später den Büchermarkt Suzhous mit folgenden Worten beschrieb: Überall finden sich Bücherstände mit einem reichen Angebot. Die Ware besteht ausschließlich aus Erzählliteratur (xiaoshuo), Geschichten, die hinter den Türen erzählt werden (menshi), Büchern mit Gesängen etc. Mit Geschichten, die hinter den Türen erzählt werden, sind solche gemeint, die man Kindern in den inneren 63 Gemächern erzählt und vorsingt.
Die Chenghua-Balladen ähneln den Yuan-zeitlichen Volksbüchern zwar in ihrem groben Sprachstil und dem Druckformat, weisen aber in anderer Hinsicht bedeutende Unterschiede auf, wie zum Beispiel die stereotypen Wendungen zum Ausdruck der Haltung des Geschichtenerzählers zeigen. Damit erweisen sich die Balladen als ein wichtiger »missing link«, wird doch klar, daß die späteren Romanverfasser und Herausgeber von Textbuchsammlungen diese Erzählhaltung nicht einfach erfanden, sondern auf Merkmale zurückgreifen konnten, die sich schon in Formen der Erzählliteratur wie den Balladen finden.
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Vgl. ROBERT HEGEL: »Studies of Ming Literature: Observations on the State of Art«, in: Ming Studies 2 (Spring 1976), S. 28. Vgl. W. L. IDEMA: Chinese Vernacular Fiction – the Formative Period, Leiden: Brill 1974, S. 70–134. Den Nachweis führte z.B. DE-AN WU SWIHART: The Evolution of Chinese Novel Form, Ph.D. an der Princeton University 1990, S. 19–38. Zit. nach ANNE ELIZABETH MCLAREN: Ming Chantefable and the Early Chinese Novel. A Study in the Chenghua Period Cihua, Ph.D. Dissertation an der Australian National University 1994, S. 7.
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Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst
Zur Struktur des frühen chinesischen Romans Betrachten wir nach diesem Exkurs zur Feststellung der Ursprünge des Romans dessen Einteilung in hui-Kapitel näher, so fällt auf, daß die äußerliche Strukturierung der Werke auf die Erzählstruktur selbst keine Auswirkungen hat, was sich durch zwei Tatsachen belegen läßt: Zum einen konnte derselbe Text früher Romane in verschiedenen Editionen in unterschiedliche Erzähleinheiten aufgeteilt werden, ohne daß damit der innere Rhythmus der Erzählung unterbrochen wurde. Zum zweiten, und das ist ebenso wichtig, wurden die Kapiteleinteilungen in der Regel erst nach Fertigstellung des Werkes während der Edition vorgenommen. Davor, d.h. im »Manuskriptstadium«, war die Einteilung in umfangsmäßig größere juanBände die Regel. Die frühesten Texte der Drei Reiche (d.h. der Sanguozhi tongsu yanyi) etwa waren nicht in hui eingeteilt, sondern in Abschnitte mit der Bezeichnung ze o.ä., endeten aber trotzdem mit der gebräuchlichen Erzähltextformel und Hinweisen auf die weitere Lektüre im folgenden Kapitel (hui). Auch der erst spät auftauchende Terminus der zhanghui bildet somit keinen Beleg für eine innere »episodische« Strukturierung der Romane.64 Die Argumente zur Verteidigung der lockeren Struktur langer Erzählwerke sind sicher nicht von der Hand zu weisen, vermitteln allerdings den Eindruck, daß in der chinesischen Romantheorie ein Konzept für die Einheitlichkeit nicht existierte. Eine eingehendere Prüfung von Aussagen einzelner Gelehrter vor allem aus dem Ende der Ming-Dynastie, die sich konzeptionell mit den Problemen des Romans und der Erzählkunst auseinandersetzten, ergibt hingegen ein anderes Bild. Daß die untersuchten Werke nicht nur als Aneinanderreihung von lockeren Episoden betrachtet wurden, sondern als in sich geschlossene und integrale Werke, belegen häufig auftauchende Begriffe wie etwa yiguan bzw. liangguan, die auf eine innere Kohärenz hinzielen, oder auch ein Terminus wie zhangfa, der die Strukturierung der Kapitelfolge meint. Wie sehr solche Vorstellungen schon bei der ursprünglichen Textanfertigung eine Rolle spielten, die u.U. zeitlich schon weit vor der kommentarlichen Behandlung liegen konnte, ist hier nicht klar zu ermitteln, den Kritikern des 16. und 17. Jahrhunderts jedoch war das Problem einer den Text als ganzes übergreifenden Struktur durchaus im Ansatz geläufig. Am deutlichsten wird dies wohl bei den aus der Feder Mao Zonggangs (ca. 2. Hälfte des 17. Jhdt.) und seines Vaters Mao Lun stammenden »Leseanweisungen zum Roman der Drei Reiche« (Du Sanguo zhi fa). Der dufa-Essay der beiden Mao, 64
Vgl. DE-AN WU SWIHART: The Evolution of Chinese Novel Form, S. 4ff. Zum Problem des »Plot-Konzeptes« für den frühen chinesischen Roman vgl. PATRICK HANAN: The Chinese Vernacular Story, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1981. Über die Bedeutung des oft genannten Zusammenspiels der Kräfte Yin und Yang bezüglich der Romanstruktur vgl. SHUEN-FU LIN: »Ritual and Narrative Structure in Ju-Lin Wai-Shih«, in: ANDREW H. PLAKS (Hg.): Chinese Narrative, Critical and Theoretical Essays, Princeton, N.J.: Princeton UP 1977, S. 244–265.
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EINFÜHRUNG
Vertreter einer spezifisch in China herausgebildeten Kommentarliteratur zu den Romanwerken,65 dürfte um die Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden sein und weist an einer Stelle darauf hin, daß es bestimmte kompositorische Klammern (hier angedeutet in dem Terminus zhaoying, was soviel wie »Korrelationen« bedeutet) sind, die den Text zusammenhalten. Als Beispiele werden Textdarstellungen wie das schädliche Wirken der Eunuchen und Magier zu Beginn (Kap. 1) und Ende (Kap. 115 bzw. 120) genannt, womit das Werk »Struktur« (jiegou) erziele.66 Abhebend auf die Makrostruktur der Drei Reiche, hinter der dessen Strukturprinzipien (zhangfa) sichtbar werden, stellten Mao Lun und Mao Zonggang im Roman sechs Anfänge (qi) und Abschlüsse (jie) fest, wobei diese Episodenblöcke einander überlappen bzw. einander direkt ablösen können.67 Die Bemerkungen von Vater und Sohn Mao zur Gesamtstruktur der Drei Reiche kulminierten in der Feststellung, daß sich »das gesamte Werk wie ein einziger Satz« lese (yi pian ru yi ju). Daß diese Wahrnehmung keinen Einzelfall darstellte, belegen ähnliche Äußerungen bei Jin Shengtan (1608–1661) und Li Yu (1611–1679/80), die beide unabhängig voneinander den konzeptionellen Entwurf eines Erzählwerks mit der Tätigkeit eines Schneiders verglichen. In seinem ersten Vorwort zu den Räubern vom LiangshanMoor bemerkte Jin: Das [literarische] Talent zeigt sich in der Schneiderarbeit mit Worten. [...] Man hat die Brokatstickerei nicht vollständig und konkret vor Augen, aber ihr fertiges Bild besteht bereits im Herzen. Der Kragen ist fertig und kann betrachtet werden, da weiß man schon, wie der Ärmel aussehen muß. [...] Alle Teile von Anfang bis Ende entsprechen einander und ergeben am Ende ein einheitliches 68 Ganzes.
Li Yu konkretisierte dies in seiner um 1670 verfaßten Dramaturgie Beiläufige Aufzeichnungen in müßiger Stimmung (Xianqing ouji) noch mit Hinweisen auf »feine Nadelarbeit«, die sich in bezug auf die Literatur u.a. durch Zurück- und Vorausschau bei der Anfertigung eines Werkes, Gründlichkeit und die Beachtung der Verknüpfung der Dinge auszeichne.69 Trotz dieses hier erkennbaren Konzepts für die Einheitlichkeit und Ganzheit eines Erzähltextes, das der Wahrnehmung als reine Episodik widerspricht, wird man dennoch graduelle Unterschiede im Ver65
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Zu Herkunft und Entwicklung der chinesischen Erzählkritik vgl. die einleitenden Kapitel in ROLSTON (Hg.): How to Read the Chinese Novel, S. 3–123. Vgl. Punkt 20 in der Übersetzung des dufa-Essays in ebd., S. 189f. Vgl. Punkt 6 in ebd., S. 164f. Hier zit. nach HUANG BAOZHEN u.a.: Geschichte der chinesischen Erzähltheorie (Zhongguo wenxue lilunshi), Peking: Beijing chubanshe 1991, Bd. 4, S. 664. Vgl. dazu die Übersetzung der Dramaturgie bei HELMUT MARTIN: Li Liweng über das Theater. Eine chinesische Dramaturgie des siebzehnten Jahrhunderts, Dissertation an der RuprechtKarls-Universität in Heidelberg 1966 (Druck Taipeh: Mei Ya 1968), S. 112–115.
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Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst
gleich zu der Auffassung in der abendländischen Erzähltheorie annehmen müssen. In beiden Fällen dürfte wohl zutreffen, daß die Verfasser bzw. die Herausgeber und Kritiker eine übergreifende Struktur bereits vor der eigentlichen Komposition der Werke im Blick hatten, wobei sich die chinesischen Erzählwerke von denen im Abendland weitgehend nur durch eine abweichende strukturelle Organisation unterschieden. Was auffällt, ist jedoch, daß die Literaturkritiker in China offenbar nicht die eigentliche Handlung (plot) als Form der Analyse von Romanen benutzten. Der Begriff »Geschichte« (gushi, d.h. wörtlich »zurückliegende Ereignisse«) wurde nur im Sinne von »Erzählung« (story) verwandt und eben nicht im Sinne der Handlung. Wenn Mao Zonggang und sein Vater daher in ihrem Essay von »Struktur« reden, meinen sie im wesentlichen den Beginn, die Mitte und das Ende der erzählerischen Struktur. Dies ist verschieden von den im Abendland von Aristoteles begründeten Vorstellungen der »vereinheitlichten Handlung«, die einen Anfang (d.h. etwas, das selbst nicht unbedingt einen Ursprung hat, jedoch selbst weitere Ereignisse hervorbringt), eine Mitte (d.h. etwas, das auf etwas anderes zurückgeht und wiederum etwas anderes hervorbringt) und einen Schluß hat (d.h. etwas, das von etwas anderem davor abhängig ist, dem aber nichts weiteres mehr folgt). Die Maos gingen weniger auf die Ursachen der Handlung ein, sie betonten vielmehr die Beziehungen zwischen den einzelnen Erzähleinheiten. Struktur (jiegou) besitzt demnach die Bedeutung eines dynamischen Arrangements von Erzähleinheiten im Roman, die wiederum Geschichteneinheiten von Charakteren und Ereignissen beinhalten.70 In diesem Sinne ist auch die Feststellung wichtig, daß, gerade wie an den Essays der frühen Romankritiker deutlich wird, weniger die umfassende Struktur der Werke als vielmehr die kleineren Einheiten der Erzählung Beachtung fanden, anders ausgedrückt, das Interesse der Theoretiker galt weitgehend der Feintextur kleinerer Szenen. Dennoch gibt es hier Ausnahmen, d.h. es wurden mitunter sehr wohl größere Zusammenhänge im Text aufgezeigt. Gerade den vier großen Romanwerken der späten Ming-Zeit kommt hier bei der Entwicklung des Genres in den folgenden Jahrhunderten eine Vorbildfunktion zu. Wir wollen die in diesem Zusammenhang wichtigsten Konzepte der Romanstruktur noch einmal kurz herausstellen, wobei wohlgemerkt nicht alle genannten Merkmale durchgängig anzutreffen sind. Da ist zunächst eine Art Prolog, durch den dem Roman ein symbolischer bzw. thematischer Rahmen geboten wird. Als Beispiel sei hier zunächst die Geschichte von den einhundertundacht Sternen in den Räubern genannt, die auf die Erde niederfahren, um dort unter einem Stein verschlossen zu werden, durch Zufall ihre Freiheit wiedererlangen und die Gestalt von Banditen annehmen, zerstreut werden, um erst am Ende im Lager des Song Jiang wieder zueinanderzufinden. Ähnlich der Paradiesmythos zu Beginn der Reise in den Westen, wo Affenkönig Sun Wukong aufgrund seiner Unbotmäßigkeit Unglück über den Ort bringt, in Gefangenschaft 70
Vgl. dazu auch SWIHART: The Evolution of Chinese Novel Form, S. 48.
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EINFÜHRUNG
gerät, sich auf einer gefahrvollen Reise bewähren muß und erst zum Schluß nach innerer Läuterung mit Gewinnung der Buddhanatur die Möglichkeit erhält, zurückzukehren in überweltliche Gefilde. Nicht zu vergessen schließlich der Weltschöpfungsmythos im Traum der Roten Kammer und die Geschichte des zurückgelassenen Steins, der als wesenhaftes Element mit Baoyu in die Welt gelangt, um den jungen Protagonisten für ein Leben in höheren Regionen vorzubereiten. Unzählig schließlich die vielen Beispiele in anderen Romanen, wo mit Hilfe des Topos vom »Sündenfall« Wesen aus dem Himmel eine irdische Existenz durchmachen müssen und wo mit Rückgriff auf populär-religiöse Vorstellungen der Wiedergeburt ein mythisch-phantastischer Rahmen als Klammer der Werke dient. Daneben fungierten auch Feststellungen am unmittelbaren Romanbeginn und -ende zur Veranschaulichung konkret geschichtsbezogener Entwicklungsgesetze durch die gesamte dazwischenstehende Romanhandlung als Bindungselemente, so etwa in den Drei Reichen die Formeln »Das lange Zeit geteilte Reich muß wieder eins werden; was lange geeint war, fällt auch wieder auseinander« (Kap. 1) bzw. »Was lange geeint war, fällt auch wieder auseinander; das lange Zeit geteilte Reich wird wieder eins« (Kap. 120). Auffällig ist sodann in vielen Erzählwerken die Verwendung einer großen Anzahl von Protagonisten bzw. der »kollektiven Biographie« als Strukturmittel. Damit war eine Form der Darstellung gemeint, die auf Sima Qians Aufzeichnungen des Großhistorikers zurückgeht und deren wesentliches Merkmal es ist, das Wesen eines Helden durch eine gebrochene Charakterdarstellung, verteilt auf mehrere Textstellen, zu vermitteln bzw. psychologische Züge einer Person kontrastiv anhand mehrerer Gestalten im Buch (oft paarweise zur Betonung von Gleichheit, Gegensätzlichkeit und Komplementarität) zu erhellen und dabei auf Verwendung einer Basisstruktur mit nur einem Plot und einem einzigen Protagonisten zu verzichten. Die wiederholte Verwendung von symbolischen Ereignissen und Motiven ist hier ein weiterer Beleg für die mitunter sorgfältig geplante Textstruktur.
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2. Entstehung und Entwicklung des klassischen chinesischen Romans Außerliterarische Faktoren, die das Aufkommen der Romanliteratur im 16. Jahrhundert begleiteten Die in der Überschrift dieses Abschnitts gemachte Feststellung, derzufolge die Entstehung der Romanliteratur Chinas nicht vor dem 16. Jahrhundert anzunehmen ist, wird gerade für die chinesische Literaturwissenschaft provokativ wirken und bedarf daher einiger Erläuterungen. Vor dem Hintergrund des schwammigen xiaoshuo-Begriffs, unter dem sich Erzählliteratur nahezu jeder Form und Länge zusammenfassen ließ,71 nicht zuletzt aber auch in dem Bemühen, durch Rückgriff auf kaum mehr belegbare Aussagen von Zeitgenossen ein möglichst frühes Datum zu liefern, wird in der gängigen chinesischen Literaturgeschichtsschreibung der Beginn der Romankunst in das 14. Jahrhundert verlegt. Die in diesem Zusammenhang immer wieder genannten Paradebeispiele sind Luo Guanzhong und Shi Nai'an sowie die ihnen zugeschriebenen Romane Die Drei Reiche bzw. Die Räuber vom Liangshan-Moor. Wir werden auf die Probleme in bezug auf die angenommene Verfasserschaft der beiden im Kapitel über den historischen Roman noch näher zu sprechen kommen. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle jedenfalls, daß die Autorenschaft sowohl von Luo Guanzhong als auch von Shi Nai'an keinesfalls als gesichert betrachtet werden darf. Vielmehr scheint es, als sei es der Literaturwissenschaft vor allem darum gegangen, unabhängig von dem Maße, in welchem Luo und Shi an der Entstehung der Romane beteiligt waren, die frühe Entstehung des Romans in China zu rechtfertigen. Ungeklärt ist bei diesem Ansatz auch, um beim Beispiel der Drei Reiche und der Räuber zu bleiben, warum die Werke Unikate geblieben sind und ihnen in den mehr als zwei Jahrhunderten danach kein Buch wenigstens ähnlichen Inhalts oder Umfangs gefolgt ist. Die in dieser Hinsicht vorgetragenen Argumente, die diese Phase der Stagnation erklären sollen, sind dabei nicht ganz von der Hand zu weisen und durchaus einer näheren Betrachtung wert. Sie beziehen sich vornehmlich auf die verschärfte Zensur während der frühen Phase der Ming-Herrschaft, wobei offensichtlich die in den einleitenden Abschnitten verdeutlichte Ablehnung des xiaoshuo-Materials durch offizielle staatliche Instanzen die Hauptrolle spielte, so daß die Furcht vor möglichen Repressionen Romanverfasser zur Vorsicht veranlaßte. Ein beliebtes Beispiel ist hier die von Qu You (1341–1427) geübte Selbstzensur im auf das Jahr 1378 datierbaren Vorwort seiner Novellensammlung Neue Gespräche beim Putzen der Lampe (Jiandeng xinhua), wo es u.a. heißt: 71
Vgl. dazu etwa als Standardwerk LU XUNs Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung (Zhongguo xiaoshuo shilüe), Peking: Verlag für Fremdsprachige Literatur 1981.
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EINFÜHRUNG Das Buch ist fertiggestellt, doch finden sich darin nach meinem Dafürhalten eigenartige Sprüche und verführerische, pornographische Inhalte. Das Werk ist 72 in den Regalen aufzubewahren und nicht zur Verbreitung geeignet.
Wenige Jahre nach Qus Tod kam das Buch entsprechend auf den Index und wurde mit Hinweis auf einen »volkstümlichen Konfuzianismus« (suru) sowie die »fälschlichen, seltsamen« Inhalte, die die Leser verführten, verboten. Vorschub hatte diesen Maßnahmen der Zensurbehörden ein kaiserliches Edikt aus dem Jahre 1412 geleistet, nach dem zwar Gesänge und Theateraufführungen über die Würdigung der Taten von Göttern und Unsterblichen sowie die künstlerische Mahnung zum Guten und hier zuvorderst die Ehrung keuscher Frauen bzw. pietätvoller Söhne gelitten wurden. Doch Besitz und Abfassung von Erzählliteratur, Dramenwerken etc., in denen der Kaiser, die Ahnen und die Heiligen verunglimpft wurden, stellte man ausdrücklich unter Todesstrafe.73 Man muß es dahingestellt lassen, inwiefern ausgerechnet die Zensur bzw. die Selbstzensur mögliche Verfasser von Erzählungen und Romanen beeinflußte und eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Genre verhinderte. Zumindest ist über eine Indizierung entsprechender Werke bis zum Ende der Ming-Dynastie nichts weiter bekannt. Dafür, daß man bei der Publikation von im Umkreis der xiaoshuo angesiedelten Büchern und Texten vorsichtig vorging und über den privaten Rahmen hinaus keine größere Öffentlichkeit suchte, spricht zumindest das 1967 in einem Grab bei Shanghai gefundene Erzähl- und Balladenmaterial aus der Chenghua-Periode (1465–1487), unter dem sich eine Reihe von Werken findet, die zu Beginn der Ming-Dynastie verboten wurden. Damit zusammen hängt schließlich auch das zweite hier zu nennende Argument für das Fehlen von Romanliteratur seit den Zeiten Luo Guanzhongs und Shi Nai'ans, konkret die Frage ihres physischen Bestands. Tatsache ist, daß zur Ära der frühen Ming-Herrschaft anders als zweihundert Jahre später kaum potente Verlage und Druckereien in privater Hand vorhanden waren. Die größte Druckanstalt (samt einer Anzahl kleinerer Werkstätten, die diversen Ministerien zugeordnet waren) gehörte dem Hofe und verfügte zu Zeiten des Dynastiegründers Hongwu (1368–1398) über ca. fünfhundert Arbeiter, wobei der jährliche Ausstoß von etwa zehn Millionen geschnitzten Zeichen kaum die Nachfrage deckte. Für die Herstellung von abseitiger Literatur wie den xiaoshuo blieb demgemäß, sofern diese Werke überhaupt existierten, kaum Kapazität. Ohne Druck und Wiederauflage jedoch war das Schriftgut gleich welcher Form weder einer größeren Öffent72
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Zit. nach der Ausgabe Jiandeng xinhua, Zhongguo xueshu mingzhu (HSMC), Taipeh: Shijie shuju 1962, 1. Reihe, »Ergänzung von notizenhaften Erzählwerken« (Zengbu biji xiaoshuo), Bd. 1, Ausg. 8, S. 1. Vgl. CHEN DAKANG: Die historische Entwicklungslinie der volkstümlichen Romane (Tongsu xiaoshuode lishi guiji), durchgesehen von GUO YISHI, Changsha: Hu'nan chubanshe 1993, S. 48.
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Entstehung und Entwicklung des klassischen chinesischen Romans
lichkeit zugänglich zu machen, noch durfte es auf dauernden Bestand hoffen. Lediglich in der Alternative des Manuskriptes existierende Bücher kursierten zumeist nur in geringer Zahl, durften bei Verschleiß nicht auf zügige Neuauflage rechnen und waren im schlimmsten Falle vom vollständigen Verlust bedroht, wie das Beispiel eines aus der Qing-Zeit stammenden Romans unter dem Titel Der große Mythenkaiser Yu bändigt das Wasser (Da Yu zhishui) belegt, von dem man nur noch aus den Quellen zeitgenössischer Leser weiß. Etwas gnädiger erwies sich das Schicksal gegenüber einem umfangreichen Roman aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, den wir in einem der folgenden Kapitel noch eingehender betrachten werden: Laterne an der Straßenkreuzung (Qiludeng) lag ursprünglich nur in Form von drei bis fünf Manuskripten vor, geriet dann lange in Vergessenheit und wurde erst mehr als zweihundert Jahre nach seiner Fertigstellung als Druck neu aufgelegt. Fassen wir die vorstehenden Argumente für die Erklärung des Nichtvorhandenseins von chinesischer Romanliteratur vor dem 16. Jahrhundert zusammen, so steht zumindest fest, daß die Bedingungen für ihre Existenz in dem Zeitraum zwischen ca. 1360/1400 und dem Jahr 1522, mit dem das erstmals im Druck vorliegende Werk Drei Reiche und somit der früheste der großen Romane (das dort im Vorwort angegebene Entstehungsjahr 1494 liegt nur wenig früher) konkret faßbar ist, äußerst ungünstig gewesen sind. Die Ausführungen haben zudem gezeigt, daß die Seinsfrage der Romankunst unabhängig von dem Faktum ihrer Abfassung an eine Reihe von mehr oder weniger objektiven Faktoren angefangen vom Druckgewerbe über die Gewogenheit durch die Zensur bis hin zur Frage der Leserschaft, die ja durch ihr Interesse erst einen breiteren Markt schafft, geknüpft ist. Als unverzichtbar erweist sich gerade auch im Falle Chinas und der traditionellen Zurückhaltung gegenüber den xiaoshuo die Inbetrachtziehung gewisser geistig-philosophischer Tendenzen, die ganz wesentlich den Nährboden für diese Literaturgattung bereiteten und denen wir hier zunächst unsere Aufmerksamkeit widmen wollen.
2.1 Der geistig-kulturelle Nährboden der xiaoshuo Es geht hier nicht an, die geistig, künstlerisch, kulturell und politisch überaus komplexe Verfassung Chinas im 16. Jahrhundert in aller Ausführlichkeit zu würdigen, doch wollen wir in dem für uns wichtigen Problembereich wenigstens einige der herausragenden Aspekte nennen und diese zunächst an den Begriffen der »geistigen Einwärtswendung« bzw., wie Plaks das bezeichnet, der »Mobilität des Bewußtseins« sowie der »künstlerischen Exzentrik« festmachen, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit den orthodoxen Glaubensformen und Kunstauffassungen steht.74 Als literarische Form ist der Roman während des 16. Jahr74
Vgl. ANDREW H. PLAKS: The Four Masterworks of the Ming-Novel, Princeton, N.J.: Princeton UP 1987, S. 17.
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EINFÜHRUNG
hunderts fraglos aus der Komplexität dieser Epoche entstanden und bildet insofern eine Antwort auf die historische und kulturelle Last innerhalb des betreffenden Entwicklungsabschnitts der chinesischen Zivilisation. Mit Bezug auf die intellektuelle Geschichte macht es demnach durchaus Sinn, in dem Roman die Manifestation des Bedürfnisses nach einer Form der Synthese zu sehen, d.h. eine umfassende Neubewertung der Summe kultureller Erfahrungen aus der Vergangenheit, um eine Anpassung in der Wahrnehmung der neuen Entwicklungstendenzen vorzunehmen. China mit seiner organischen Weltsicht und der andauernden Betonung des problematischen Wesens vom individuellen Charakter war in der Folge der neokonfuzianischen Synthese seit der Song-Zeit sozusagen reif für den Roman.75 Für das Aufkommen der Romankunst waren geistige Tendenzen in der MingDynastie entscheidend. Die sich seit Wang Yangming (1472–1529), dem Begründer der »Herz-Schule« (xinxue), abzeichnende Betonung der »Individualität«,76 um hier einen modernen Begriff in die Diskussion zu bringen, litt freilich von Beginn an daran, daß die überlieferte konfuzianische Moral- und Gesellschaftslehre, aus der heraus gleichsam der Widerstand gegen sie produziert wurde, zwar in Frage gestellt wurde, ohne daß man sich jedoch vollkommen von ihren Anliegen befreit hätte. Dies wurde bereits bei Wang Yangming erkennbar, der den Kontext der konfuzianischen Ethik vor allem mit Bezug auf die menschlichen Beziehungen übernahm. Neben dieser unvollkommenen Abkehr von den Traditionen dürften jedoch wesentliche Probleme des aufkommenden Individualismus auch darin bestanden haben, daß man nicht auf Institutionen zurückgreifen konnte, die seine Ziele verteidigten, daß die aufkeimende vor allem kaufmännisch orientierte Mittelschicht weiterhin nur ein Übergangsstadium auf dem Weg zum Beamten darstellte und breitere Unterstützung durch die Gelehrtenwelt ausblieb.77 Die in der Folge von Wang Yangming entworfenen Lehren führten mit der Würdigung bis dahin von der orthodoxen Denktradition wenig beachteter Bereiche wie dem »gewöhnlichen Leben« bzw. »fleischlicher Freuden« etc. zu einer neuen Akzeptanz des Lebens in all seiner Komplexität, und es waren die xiaoshuo, die sich der dadurch vermittelten Themen in besonderer Weise annahmen. Bei niemand anderem wird dies faßbarer als bei Li Zhi (1527–1602), der nicht nur die Mingzeitliche Diskussion um das Problem des Selbst mit provokativen Thesen wie 75
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Vgl. dazu ebenfalls die Ausführungen von ANDREW H. PLAKS in: »Full Length Hsiao-shuo and the Western Novel: A Generic Reappraisal«, in: New Asia Bulletin I (1978), S. 176. Vgl. dazu die Hinweise bei WOLFGANG KUBIN: »Der unstete Affe. Zum Problem des Selbst im Konfuzianismus«, in: SILKE KRIEGER / ROLF TRAUZETTEL (Hg.): Konfuzianismus und die Modernisierung Chinas, Mainz: Hase & Koehler 1990, S. 99. Vgl. zu diesen Argumenten WM. THEODORE DE BARY: »Individualism and Humanitarism in Late Ming Thought«, in: DERS. (Hg.): Self and Society in Ming Thought, New York u.a.: Columbia UP 1970, S. 220–224.
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Entstehung und Entwicklung des klassischen chinesischen Romans
»der Mensch muß egoistisch sein« bzw. »durch Leidenschaften zur Erleuchtung gelangen« auf einen Höhepunkt trieb, sondern als Kommentator und Herausgeber einiger der großen Ming-Romane wie der Räuber vom Liangshan-Moor dem Genre ganz wesentlich zu seiner stärkeren Anerkennung verhalf und ihm nicht zuletzt mit seiner »Lehre vom kindlichen Herzen« (tongxinshuo) neue poetologische Grundlagen vermittelte, als er diese Literatur auch in einen bewußten Gegensatz zur Klassikertradition setzte und ihr damit Möglichkeiten eröffnete, die ganz verschieden von den Überlieferungen waren. In den zentralen Passagen von Lis Lehre klingt das folgendermaßen: Ein kindliches Herz zu haben heißt, das wahre Herz (zhenxin) zu besitzen. Wer annimmt, es gebe kein kindliches Herz, der stellt die Existenz eines echten Herzens in Abrede. Ein kindliches Herz zu besitzen heißt, vollkommen ohne Falsch, absolut aufrichtig und unverbildet zu sein. Damit ist der eigentliche Ursprung des Herzens (benxin) gemeint. Wer das kindliche Herz verliert, der verliert das echte Herz; wer das echte Herz verliert, der ist kein aufrichtiger Mensch (zhenren) mehr. Wer Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit aufgegeben hat und verbildet ist, der stellt damit sein ursprüngliches Wesen als Mensch in Frage. Jeder Mensch nimmt als Kind seinen Ursprung, das kindliche Herz ist die Ursprungssituation des menschlichen Herzens. Wie könnte man die Ursprungsverfassung des Herzens in Frage stellen! Was sind die Gründe dafür, daß das menschliche Herz verloren geht? Zu Beginn eines Lebens nimmt man über die Sinne auf [Gehör und Sehorgane], da diese Dinge beherrschend werden, verliert man das kindliche Herz. Während man heranwächst, gewinnt das, was man gesehen und gehört hat, nach und nach Macht über den sich heranbildenden Verstand. So geht das kindliche Herz verloren. Mit der Zeit spielen Verstand, Gesehenes und Gehörtes eine derart übermächtige Rolle, werden die Dinge, die man weiß und empfindet, von Tag zu Tag mehr, daß man zu ahnen beginnt, wie gut ein schöner Ruf und wie ungünstig ein schlechter Ruf ist. Indem sich das Streben nun darauf richtet, den eigenen schönen Ruf zu verbreiten und die schlechten Aspekte des eigenen Rufes zu unterdrücken, geht das kindliche Herz verloren. Verstand, Gesehenes und Gehörtes bilden sich vor allem durch die Lektüre von Schriften, in denen Ehre (yi) und [konfuzianische] Sittenauffassung (li) im Mittelpunkt stehen. [...] Wo das kindliche Herz unterdrückt wurde, verlor man mit Wort und Sprache die Ursprünge, entbehrten die Taten der Basis und Grundlage. Bei der Abfassung von Schriften in Gedicht und Prosa (wenci) ging somit die Fähigkeit verloren, die Dinge objektiv auszudrücken. Schönheit, die nicht von dem innersten Herzen her ausgedrückt wird, kann nicht wahr und leuchtend sein, ein wahrhaft moralischer Inhalt kann damit nicht vermittelt werden. [...] Wer allein das als sein Innerstes ausgibt, was er gesehen und gehört [d.h. sich durch Lektüre verschafft hat] hat, dessen Verstand wird auch nur das, was er gesehen und gehört hat, erneut zum Ausdruck bringen. Diese Worte jedoch mögen zwar schön gewählt sein und nett klingen, doch sie stammen nicht von einem
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EINFÜHRUNG kindlichen Herzen und haben mit mir folglich nichts zu schaffen. Mit »falschen Menschen« (jiaren) werden »falsche Worte« gesprochen, man tut »falsche Sachen« und verfaßt »falsche Schriften«. Wo der Mensch jedoch falsch ist, wird alles falsch. [...] Unzählige der schönsten Schriften unter dem Himmel (zhiwen) werden so von den falschen und verbildeten Menschen vernichtet und unterdrückt und der Nachwelt vorenthalten. Warum das so ist? Weil die schönsten Schriften allesamt aus der Haltung des kindlichen Herzens heraus verfaßt worden sind. Denn wenn das Kindliche ständig zum Ausdruck kommt, dann finden die überlieferten [und beengenden »Verstandes« [daoli]-] Lehren nicht mehr Anwendung, dann verlieren Gesehenes und Gehörtes ihr Gewicht, dann werden die Schriften aus aller Zeit zugänglich, dann wird alles ganz gleich aus wessen Feder zur angesehenen Schrift, und keine noch so neue Form der Literatur bleibt davon ausgeschlossen. Warum sollen Gedichte nur nach dem Stil der Alten, ProsaTexte nur in dem Stil der Schriften vor der Ming-Zeit abgefaßt werden? Aus den Gedichten der Sechs Dynastien gingen die »Gedichte im neueren Stil« [jintishi, d.h. die »Regelgedichte« (lüshi) und »Kurzgedichte« (jueju) der Tang] hervor, daraus wieder entstanden chuanqi-Erzählungen der Tang und Song, die DramenBücher der Jin und Yuan, das Drama, Werke wie Westzimmer und Räuber vom Liangshan-Moor schließlich entwickelten sich daraus. [...] Die schönsten und besten Schriften gingen immer aus der Feder jener hervor, die im Sinn und Stil der alten Heiligen schrieben. Wie ginge es an, die Interpretationen der späteren Zeit zum Maßstab zu machen? Daher werde ich von den Schriften derer bewegt, die aus der Verfassung eines kindlichen Herzens heraus schreiben, was zählen da noch die Sechs Klassiker, die Gespräche oder der Menzius? Die Sechs Klassiker, Gespräche und Menzius treten uns heute nur in den Lobpreisungen der Historiker und Beamten aus späterer Zeit entgegen ebenso wie in den Erinnerungen und Lehrsprüchen der verwirrten Anhänger dieser Lehren. [...] Aus dem Unverständnis späterer Generationen, das auf den unvollständigen Überlieferungen basiert, nahm man an, es handele sich um die Worte von Heiligen, und so faßte man sie in einem Kanon zusammen. Doch der größere 78 Teil davon geht nicht auf authentische Sprüche der Heiligen zurück.
Es ist höchst aufschlußreich, wie stark Li Zhi wohl in dem deutlichen Bewußtsein der überlieferten Halbrespektabilität der Erzählkunst darum bemüht war, dieser neue Traditionslinien zu entwerfen, und dabei in die weiteste Vergangenheit zurückgriff, indem er als Bezugspunkt eben das »kindliche«, unverfälschte Herz ausmachte, das den Schöpfungen der alten Heiligen ebenso zugrundeliegt wie den Erzählwerken seiner eigenen Zeit. Das angeführte »wahre Herz« wurde zur Basis für künstlerisches Schaffen überhaupt. Nach Li hatte jeder Mensch seinen eigenen 78
Li Zhis »Lehre vom kindlichen Herzen« findet sich in seinem Werk Fenshu. Hier zit. nach XIA CHUANCAI: Moderne Übertragungen von wichtigen Schriften des alten China zur Literaturtheorie (Zhongguo gudai wenxue lilun mingpian jinyi), Bd. 3 (Schriften aus der Songbis zur Qing-Dynastie), Tianjin: Nankai daxue 1987, S. 228f.
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Entstehung und Entwicklung des klassischen chinesischen Romans
Wert, seine eigene achtenswerte Wahrheit. Niemand mußte sich auf die seiner Ansicht nach falsch überlieferten Klassiker der Vergangenheit beziehen, das unverbildete, »ursprüngliche« Herz wurde zur obersten Instanz. Damit im Zusammenhang stehen – ebenfalls zur Erklärung für die Entstehung des Romans und seiner literarischen Ausgestaltung – psychologische Faktoren, in deren Mittelpunkt der Begriff des »Gefühls« (qing) auftaucht. Auch hier sind die entsprechenden Ansätze bei Verfassern von Erzählliteratur bzw. prominenten Herausgebern derselben zu nennen. Feng Menglong etwa brachte in dem Anliegen, »eine Lehre des Gefühls [zu] schaffen und alle darin zu unterweisen«, eine umfangreiche Anekdotensammlung unter dem Titel Geschichte des Gefühls (Qingshi) heraus, deren Motive alle in eine Beziehung zu bestimmten emotionalen Ausdrucksformen wie z.B. Eifersucht, Haß, bedingungslose Liebe etc. gesetzt sind. Wie stark man sich auch hier wiederum von zentralen Inhalten der konfuzianischen Lehre abzusetzen bemüht war, belegt eine kurze Passage aus dem Kapitel »Gefühle und Ritterlichkeit« (qingxia), wo Feng schreibt: In der Welt ermahnt und bestraft man die Menschen gewöhnlich nur mit Strafen, der Warnung vor den günstigen und bösen Zeichen des Himmels sowie mit Verweisen auf die konfuzianischen Moralbegriffe und die Ehre. Man greift dabei allein auf die bestehenden Prinzipien und Grundsätze zurück. Der gekonnte 79 Mahner jedoch bedient sich des Gefühls.
Doch die Argumentation ging weiter. Nicht nur, daß man wie Feng Menglong in der Erzählliteratur den Ausdrucksformen des Gefühls nachspürte, die Literatur selbst wurde damit in einen unmittelbaren Zusammenhang gesetzt und gipfelte in dem Diktum Tang Binyis, eines Gelehrten aus der Mitte der Wanli-Ära um 1600, »alle Literatur hat ihren Ursprung im Gefühl«.80 Von da aus war es nicht mehr weit bis zu dem Bemühen Zhang Chaos (1650–1709), die Entstehung der großen Romanwerke der ausklingenden Ming-Dynastie allein aus den emotional-psychischen Belangen ihrer Verfasser heraus zu erklären: Die Räuber vom Liangshan-Moor sind ein Werk der Wut und des Zorns; die Reise in den Westen ist ein Werk der Erleuchtung; Jin Ping Mei eines der Trauer 81 und des Schmerzes.
Wir haben uns bislang vornehmlich mit der konfuzianischen Tradition bzw. mit diese widerlegenden Geistestraditionen des 16. Jahrhunderts auseinandergesetzt. 79
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Vgl. den Kapitelkommentar des Verfassers in FENG MENGLONG: Die Geschichte des Gefühls in der baihua-Version (Baihua qingshi), Hu'nan: Sanhuan 1991, S. 166. Zit. nach XIA XIANTING: Gelehrtentum und Literatur zum Ende der Ming-Dynastie (Wan Ming shifeng yu wenxue), Peking: Zhongguo shehui kexue 1994, S. 186. ZHANG CHAO: »Schatten in düsterem Traum« (Youmengying), hier zit. nach ebd., S. 190.
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EINFÜHRUNG
Erweitert man hier den Blickwinkel auf die beiden anderen Denk- und Glaubensansichten Chinas – die Rede ist vom Taoismus und dem Buddhismus – so wird deutlich, daß gerade im Umfeld der Erzählliteratur ein offensichtliches Bemühen dahingehend bestand, aus diesen drei Lehren eine Einheit zu schaffen. Dieser Umstand täuscht freilich nicht darüber hinweg, daß den Gelehrten der Unterschied zwischen Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus sehr wohl geläufig war. Der Taoismus der späten Ming-Zeit stellte eine lockere Verknüpfung der überlieferten Traditionen dar, vornehmlich bestehend aus den klassischen Texten von Laotse und Zhuangzi zusammen mit den vielen dazugehörigen Kommentaren, alchemistischen und meditativen Praktiken mit dem Ziel der Erlangung ewigen Lebens sowie diversen Riten der taoistischen Glaubensgemeinde. Die Richtung innerhalb des Buddhismus wiederum, die sich im 16. Jahrhundert durchsetzte, war nicht der Chan-Buddhismus. Vielmehr gaben die Auffassungen verschiedener Sekten den Ton an.82 Das Grundanliegen der Verbindung der »Drei Lehren« bestand darin, Wege zu finden, mit deren Hilfe Buddhismus und Taoismus den Konfuzianismus ergänzen konnten. Wesentliche Elemente desselben wurden vor allem mit Bezug auf die Regierung als unerläßlich betrachtet. Viele Ming-Denker waren gerade deshalb angezogen von Taoismus und Buddhismus, weil sie darin Mittel zu erkennen glaubten, das innere Erleben zu vertiefen und Illusionen zu beseitigen. Dabei wurde durchaus sehr selektiv vorgegangen. Das Streben nach Unsterblichkeit ohne aufrichtige Selbstkultivierung wurde ebenso als Scharlatanerie abgelehnt wie die eskapistischen Tendenzen innerhalb der beiden Glaubensrichtungen. Man irrt wohl nicht, wenn man den denkerischen Strömungen der Zeit ein allgemeines Mißtrauen gegen jedwede überlieferte Glaubensrichtung attestiert, wie es denn in gebündelter Form gerade in Werken wie Reise in den Westen oder Jin Ping Mei zum Ausdruck kam, wo sowohl der Konfuzianismus als auch Buddhismus und Taoismus gleichermaßen auf den Prüfstand gerieten. Am ehesten ist noch hinter dem Streben nach Tugend und Verantwortung, »Selbst-Bewußtsein« und Kultivierung ein einheitliches Anliegen auszumachen.
2.2 Die Protagonisten der Romankultur: Literatenwelt und »Subkultur« Wie die vorstehenden Ausführungen deutlich gemacht haben, scheint das geistigkünstlerische Umfeld für das Aufkommen der Romanliteratur im China des 16. Jahrhunderts überaus günstig gewesen zu sein, wobei man nicht vergessen darf, daß die gesamte Situation vermutlich noch wesentlich komplexer war, als wir das in dieser knappen Skizze darzustellen vermögen. Fest steht jedenfalls, daß, ganz gleich in welchem Maße Exzentrik und Expressivität auch betont wurden, diese 82
Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel »The Literary World of Chin p'ing mei«, in: KATHERINE CARLITZ: The Rhetoric of »Chin p'ing mei«, Bloomington: Indiana UP 1986, S. 13f.
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jedoch stets mehr oder weniger kleine Strömungen an der Seite des sich weiterhin an den orthodoxen Traditionslinien orientierenden allgemeinen Kulturbetriebs waren, der der offiziellen Sanktionierung unterlag.83 Hier kommt nun unmittelbar die Frage ins Spiel, wie es um die Verbreitung der Romane generell bestellt war, unter was für Bedingungen die Werke entstanden und wer seine Leser sein mochten. Unbestritten ist hierbei die Rolle, die Gelehrte und Beamte bei der Verbreitung der Romankunst spielten.84 Der Zirkel von Rezipienten der Erzählkunst läßt sich hier sogar zumindest während des letzten Jahrhunderts der MingDynastie bis auf das Kaiserhaus erweitern. So ist für den Herrscher der ZhengdePeriode (1506–1522) belegt, daß er sich an der Lektüre von Erzählungen erfreute und besonderes Interesse für Material aus dem Stoffkomplex der Drei Reiche sowie der Räuber vom Liangshan-Moor zeigte. Als Verehrer des letzteren Romans galt auch der Wanli-Kaiser (1573–1620), wohingegen der Tianqi-Herrscher (1622– 1648) eine Vorliebe für die volkstümliche Dramenkunst besessen haben soll.85 Bleibt man in der Hierarchie etwas darunter, so lassen sich eine ganze Reihe herausragender Gelehrter, Dichter und Beamter anführen, die auf die eine oder andere Weise mit der Romankunst in Verbindung standen. Von Li Kaixian (1502–1568, Inhaber des jinshi-[Doktor-]Grades und Angehöriger der Hanlin-Akademie) ist ähnlich wie von Tang Shunzhi (1507–1560, seines Zeichens ebenfalls jinshi, Zensor und gleich Li eines der »Acht Talente aus der Jiajing-Periode«) bekannt, daß er Die Räuber vom Liangshan-Moor lobend erwähnte. Huang Xun (ebenfalls jinshi und Zensor), ein Zeitgenosse der beiden vorstehenden Herren, hinterließ Notizen zu dem erotischen Werk Kavalier nach Wunsch (Ruyijun zhuan). Ein etwas stärkeres Engagement in bezug auf die Romane seiner Zeit zeigte Wang Daokun (1525–1593, jinshi und Beamter im Kriegsministerium), der den Räubern 83
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Zur künstlerischen Exzentrik, wie sie vor allem in der »Gong'an-Schule betrieben wurde, vgl. u.a. RICHARD JOHN LYNN: »Alternate Routes of Self-Realization in Ming Theories of Poetry«, in: Theories of the Art in China, S. 317-340. Vgl. zur Problematik in der Dichtkunst auch SIU-KIT WONG: »Ch'ing and Jing in the Critical Writings of Wang Fu-chi«, in: Chinese Approaches to Literature from Confucius to Liang Ch'i-ch'ao, hrsg. von ADELE AUSTIN RICKETT, Princeton, N.J.: Princeton UP 1978, S. 121–150. Auch in der bildenden Kunst jener Epoche spielte Exzentrik eine wichtige Rolle. Vgl. RICHARD BARNHART: »The ›Wild and Heterodox School‹ of Ming Painting«, in: Theories of the Art in China, hrsg. von SUSAN BUSH und CHRISTIAN MURCK, Princeton, N.J.: Princeton UP. Auch zu den übrigen Angaben der zeitgenössischen Malerei vgl. vor allem diesen Beitrag. Vgl. daneben SUSAN BUSH: The Chinese Literari Painting: Su Shih (1037–1101) to Tung Ch'i-ch'ang (1555–1636), Cambridge, Mass.: Harvard UP 1971. Vgl. STEPHEN J. RODDY: Literati Identity and it's Fictional Representations in Late Imperial China, Stanford: Stanford UP 1998. Vgl. CHEN DAKANG: Die historische Entwicklungslinie der volkstümlichen Romane (Tongsu xiaoshuo de lishi guji), durchgesehen von Guo Yushi, Changsha: Hu'nan chubanshe 1993, S. 64f.
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EINFÜHRUNG
ein Vorwort widmete. Nicht zu vergessen eine ganze Reihe von Personen, in deren Besitz sich vollständige bzw. partielle Abschriften von Romanwerken wie z.B. dem Jin Ping Mei befanden. Hier sind an prominenter Stelle u.a. Wang Shizhen (1526–1590, jinshi und Minister im Justizministerium) und Wang Kendang (jinshi sowie Regierungsrat in der Provinz zur Zeit der Wanli-Ära) zu nennen. Auf Persönlichkeiten wie Xie Zhaozhe (jinshi und hoher Regierungsbeamter in der Provinz Guangxi) sowie Hu Yinglin (1551–1602) wurde teilweise bereits hingewiesen. In bezug auf die für unser Dafürhalten wichtige Frage, wie es in dem breiten gesellschaftlichen Spektrum unterhalb der genannten hauchdünnen Schicht von höchsten Würdenträgern und Gelehrten um eine zumindest potentielle Leserschaft der Romane bestellt war, ist naturgemäß wegen des hierzu fehlenden Materials kaum etwas Konkretes auszusagen. Euphorische Feststellungen wie die von dem oben bereits erwähnten Yuan Hongdao (1568–1610) in seinem Vorwort zu dem historischen Roman Volkstümliche Erzählung über die Dynastien der Östlichen und Westlichen Han (Dong Xi Han tongsu yanyi) sind jedenfalls mit höchster Vorsicht zu betrachten: Alle Welt, angefangen von den Beamten bis zu den Bauernlümmeln und den Weibern in den Gassen der Städte, alle, von den siebzigjährigen Greisen bis hin zu den gerade meterhohen Knirpsen – sie alle sprechen heutzutage von nichts anderem als [den Erzählungen und Romanen; angeführt werden Szenen aus den Werken]. Von früh bis spät ist von nichts anderem die Rede, so daß man darüber 86 sogar das Essen vergißt und während des Gesprächs jede Müdigkeit vermißt.
Zugegebenermaßen ist hier vom »Gespräch« die Rede, und daß Stoffe zumindest aus den großen Romanen Verbreitung durch Geschichtenerzähler fanden bzw. durch Dramenwerke einem größeren Publikum zugänglich wurden, ist bekannt. Doch erstens können wir an dieser Stelle nicht zweifelsfrei eine mündliche Bearbeitung des genannten Romans annehmen, und zweitens legt der Rest des Zitats klar den Bezug zum in schriftlicher Form als Manuskript oder Buch existierenden Werk nahe. Dann aber stellt sich die Frage, wie ausgerechnet »Bauernlümmel«, »Weiber« und »meterhohe Knirpse« die Lektüre bewältigt haben sollen. Konkret auf das Lesen der Romane hob Ye Sheng, ein Zeitgenosse Yuan Hongdaos, in einem überlieferten Tagebucheintrag ab, durch den Yuans Eindruck eine Bestätigung zu erfahren scheint. Von den Lesehungrigen werden heutzutage vor allem Erzählliteratur und vermischte Werke (zashu) rezipiert. [...] Bauern und Händler kopieren Bücher und malen. [...] Selbst einfache Frauen sind unter den Lesern. [...] Beamte untersagen
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Zit. nach SUN XUN / SUN JU (Hg.): Auszüge aus Materialien zur traditionellen chinesischen Romanpoetik, S. 89f.
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Entstehung und Entwicklung des klassischen chinesischen Romans die Lektüre nicht, Gelehrte sehen darin keinen Mangel. Das Lesen ist zu einer 87 Ermahnung der Welt (jingshi) geworden.
Es bleibt die Frage, wie glaubwürdig derartige Äußerungen sind. Zumindest sprechen sie für eine gewisse Verbreitung der volkstümlichen Literatur und Kunst. Schließlich läßt, wie wir weiter unten noch sehen werden, auch die unterschiedliche Aufmachung der Romanwerke eine erhebliche Variationsbreite erkennen.88 Das Problem, um das es hier geht, hat in einem allgemeineren Sinne mit der Bildung und in einem spezielleren mit der Verbreitung von Schriftkundigkeit zu tun. Generell dürfte wohl die Feststellung zutreffend sein, daß es Schulen mit dem Ziel der Verbreitung einer allgemeinen Bildung innerhalb der Bevölkerung zumindest in der hier fraglichen Zeit nicht gegeben hat. Zwar waren in China seit der SongDynastie vermehrt öffentliche Schulen in allen Provinzen bis hinab auf die Präfekturebene eingerichtet worden, doch erstens waren diese Einrichtungen allein mengenmäßig noch außerordentlich gering (für das Jahr 1398 etwa sind gerade einmal zwölfhundert solcher Schulen belegt), und zweitens beschränkte sich die Zahl der aufgenommenen Schüler von vornherein auf den engen Zirkel der Inhaber des ersten Gelehrtentitels der sogenannten shengyuan, die für eine weitere Beamtenlaufbahn in Frage kamen bzw. ansonsten in irgendeiner Form innerhalb der Verwaltung bzw. als Unterrichtende an Schulen eingesetzt wurden.89 Die vorstehenden Erläuterungen beziehen sich wohlgemerkt ausschließlich auf den staatlicherseits organisierten Ausbildungsbetrieb, innerhalb dessen eine Befassung mit derart abseitigen Literaturgattungen wie den xiaoshuo undenkbar war. Verläßt man diesen Bereich der staatlich organisierten Bildungseinrichtungen, um Hinweise auf das mögliche intellektuelle Betätigungsfeld für die zahlreichen shengyuan zu gewinnen, deren Zahl in der Qing-Dynastie auf ca. dreihunderttausend gestiegen sein dürfte,90 so bleibt darüber hinaus wenig Spielraum für die Vermutung, daß Umfang und Lehrinhalte der privat oder auf kommunaler Ebene betriebenen Schulen dazu geeignet waren, jene Fähigkeiten zu vermitteln, die die Romanlektüre erforderte. Wenigstens, in den Clan- und Familienschulen scheint es durchaus üblich gewesen zu sein, vereinfachte Versionen der Klassiker bzw. Auszüge daraus in Form der baihua als Lehrstoff zu benutzen.91 (Eine interessante Variante werden wir freilich im Roman Laterne an der Straßenkreuzung 87
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XIA XIANTING: Gelehrtentum und Literatur zum Ende der Ming-Dynastie (Wan Ming shifeng yu wenxue), Peking: Zhongguo shehui kexue 1994, S. 87f. Vgl. zu dem Problem ROBERT E. HEGEL: Reading Illustrated Fiction in Late Imperial China, Stanford: Stanford UP 1998. Vgl. zu den Angaben PING-TI HO: The Ladder of Success in Imperial China. Aspects of Social Mobility, 1368–1911, New York: Da Capo Press 1976, S. 171. Vgl. die Angaben bei EVELYN SAKAKIDA RAWSKI: Education and Popular Literacy in Ch'ing China, Ann Arbor: The University of Michigan Press 1979, S. 9. Vgl. ebd., S. 90.
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EINFÜHRUNG
[Qiludeng] finden, wo sich ein Hauslehrer ausgerechnet der Erzählliteratur als Basis für seinen Unterricht bedient.) Einen gewissen Anteil der potentiellen Romanleser wird man dagegen unter den Damen zumindest in den wohlhabenderen Häusern vermuten dürfen, da die entsprechenden Bildungsbemühungen dort durchaus keine Seltenheit gewesen sind. Zwar unterwies man die Mädchen und Frauen nicht in der für sie irrelevanten Klassiker-Literatur, doch erforderte die Lektüre der speziell für die Weiblichkeit zusammengestellten Werke wie Gespräche für Frauen (Nü lunyu), Der Klassiker der Kindespietät für Frauen (Nü xiaojing) bzw. der Vier-Zeichen-Klassiker für Frauen (Nü sizijing) durchaus ein gehöriges Maß an Schriftkenntnis. Unterhalb dieser immer noch zumindest der Peripherie der Gelehrtenwelt zuzurechnenden sozialen Schichten darf man wohl nur bei den Angehörigen verschiedener Berufe eine gewisse rudimentäre Vertrautheit mit dem schriftlichen Medium vermuten, die im Zusammenhang mit den Erfordernissen ihrer Arbeit zu sehen ist – wie etwa der Abfassung schriftlicher Verträge, der Lektüre von amtlichen Verlautbarungen o.ä. Daß hierfür durchaus eine gewisse Palette von Sparten in Frage kommt, belegt die Tatsache, daß selbst in Branchen bis hinab zum Bootsbesitzer die schriftliche Fixierung von Kontrakten bekannt war.92 Die Grundlagen hierzu vermittelte man gewöhnlich in einfachen Dorf- und Gemeindeschulen, doch blieb deren Zahl insgesamt sehr gering (für die Zeit zwischen 1700 und 1750 sind aus neun chinesischen Provinzen nur etwa dreihundert solcher Einrichtungen feststellbar), und zudem stellte das dort herangezogene Lehrmaterial wie der Tausend-Zeichen-Klassiker (Qianzijing) und die Hundert Namen (Baijiaxing) mit eben tausend bzw. vierhundert Zeichen gerade einmal einen bescheidenen Grundstock bereit, den zu erweitern es den Söhnen aus besseren Kreisen durch Studium bei Privatlehrern vorbehalten war.93 Die vorstehenden Darlegungen ergeben unserer Einschätzung nach also ein durchaus ambivalentes Bild in bezug auf die Kreise, in denen die Romanliteratur Verbreitung gefunden haben mag. Zwar sprechen die meisten der einschlägigen Quellen für die fragliche Zeit von einer Blüte des Handwerks und des Handels, der Entstehung eines städtischen Kleinbürgertums sowie dem Aufstieg einer Klasse von Großkaufleuten, doch wird man bezweifeln müssen, daß größere Teile dieser Bevölkerungsschichten direkt mit der Romanliteratur in Verbindung traten.94 Es ist daher überaus fraglich, ob man den Roman als eindeutig »volkstümliche« Literatur auffassen darf. Das Vorhandensein didaktisch aufbereiteter Werkausgaben in der Form, wie wir sie soeben beschrieben haben, widerspricht dem nicht. Wo gerade im Zuge des Wohlstandszuwachses einer kaufmännischen Schicht vermehrt 92 93 94
Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 90 (Tabelle) bzw. S. 47. Zu den sozioökonomischen Verhältnissen am Ende des 16. Jahrhunderts vgl. JACQUES GERNET: Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit, aus dem Französischen von REGINE KAPPELER, Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 361ff.
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die Möglichkeit in Anspruch genommen wurde, Beamtenposten auf käufliche Art und Weise zu erwerben, erweiterte sich zwangsläufig der Kreis jener, die dem klassischen Bildungsgut keine große Aufmerksamkeit widmeten. Hinzu kam, daß im Zuge der zeitgenössischen Strömungen, wie sie in der Folge von Wang Yangming und Li Zhi aufkamen, die einseitige Konzentration auf das traditionelle Schrifttum ohnehin auf den Prüfstand geriet und der Roman eine Lücke zu füllen schien. Nun waren es klassisch durchgebildete Gelehrte, denen sich in dem neuen Genre bessere Perspektiven zu eröffnen schienen, wie das Zhou Qingyuan (ca. Mitte 17. Jhdt.) im Vorwort zu Xihu erji formulierte: Man weiß nicht, ob man als Gelehrter heutzutage lachen oder weinen soll. Immer wieder ist man gehalten, sich an die alten Schmöker zu setzen und Dinge zu lesen wie »In einem Gedicht heißt es« oder »Der Meister sagte«. Ist das nicht bemitleidenswert? Was bleibt einem da anderes übrig, als ein Schauspiel zu verfassen oder aus einer Laune heraus einen Roman anzufertigen, um der Nachwelt wenigstens etwas zu hinterlassen. [...] Die Gründe, aus denen heraus man solch ein Werk anfertigt, sind in folgendem zu suchen: Einmal will man die Menschen zum Guten anleiten, denn niemand mag sich schließlich Vorwürfe von der Nachwelt gefallen lassen. Zum anderen liegt einem daran, seinen Kummer zum Ausdruck zu bringen über die vielen Ungerechtigkeiten, alles bringt man dann hervor, was man so in seiner Brust fühlt: daß man singen will, daß man lachen oder springen will. Das Schreiben von Romanen und Erzählungen ist eine Freizeitbeschäftigung, mit der man seine Wut über Ungerechtigkeiten und die Lange95 weile zu besiegen gedenkt.«
In der orthodoxen konfuzianischen Überlieferung war die Buchlektüre immer mit einem konkreten Nutzen verbunden gewesen, das Lesen zu reinen Unterhaltenszwecken dagegen verpönt. Wenn man so will, kam mit den Romanen im 16. Jahrhundert eine Art neuer Leseerfahrung auf, die nur vordergründig soziologisch zu erklären ist, schien doch die Romanlektüre von Mühelosigkeit geprägt, genügte eine starke Phantasie und wurde das Gedächtnis dagegen kaum beansprucht. Die ausführlichen Beschreibungen im Roman schienen dem Verstehensvermögen weniger gebildeter Leser entgegenzukommen. Daß derartige Vermutungen, wie sie Ian Watt in bezug auf den bürgerlichen Roman Europas festgestellt hat,96 im Falle Chinas nur in begrenztem Maße zutreffen, zeigen entsprechende Konzepte innerhalb der Gelehrtenschaft, auch wenn es sich hierbei zugegebenermaßen nur um sehr exzentrische Zirkel gehandelt haben mag. Jedenfalls war dort die Klassikerlektüre zu einer betont ermüdenden und langweiligen Tätigkeit herabgesunken, bot das Romanschmökern dagegen die Möglichkeit zu einem »Herzenstreff« 95 96
Zit. nach XIA XIANTING: Gelehrtentum und Literatur zum Ende der Ming-Dynastie, S. 282. S. IAN WATT: Der bürgerliche Roman, aus dem Englischen von KURT WÖLFEL, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 53f.
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EINFÜHRUNG
(xinhui) des Lesers mit dem Autoren und seinen Protagonisten, wie Li Zhi das in seinen Auffassungen zum Glück des Lesens beschreibt: Das Bücherlesen ist ein Herzenstreff: Man lacht und singt, ruft erschrocken, bedauert und weint. [...] Sie gefallen mir, die Menschen in den Büchern, denn sie ergreifen mein Herz. [...] Zwar bleibt ihr Antlitz im Verborgenen, doch sie er97 greifen mein Herz.
Es war im Rahmen derartiger Forderungen nach Ergriffenheit und Betroffenheit, daß sich unter dem Einfluß neuer literarischer Konzepte der Expressivität wie qu (d.h. »Interessantheit«, »Freude« bzw. in einem weiteren Sinne die »Essenz der Erfahrung eines literarischen Werks«)98 und zhen (d.h. »treu«, »wahr« bzw. »authentisch«) der Romankunst ganz neue Bereiche erschlossen. Gegenstand der Romane und Erzählungen waren nicht nur historisch überlieferte Persönlichkeiten wie Kaiser, Minister und Generäle, vielmehr öffnete man sich thematisch auch dem Leben der bis dahin literarisch kaum beachteten Gestalten und Schichten wie der »gefallenen Frau« (z.B. im Kavalier nach Wunsch) oder der Kaufmannschaft (z.B. im Jin Ping Mei). Nur mit zhen im Gegensatz zu wei, d.h. dem »Falschen« und »Leeren«, war dieser Auffassung zufolge auch das qu zu erreichen, gab man die Imitation klassischer Literaturformen der Vergangenheit zugunsten der Darstellung einer konkreten Realität des Ortes auf, womit ganz neue ästhetische Auffassungen in den Mittelpunkt rückten und der Sinn für die künstlerische Form, wie sie noch bei den traditionellen Literaturformen der Gedichte, der Lieder und Rhapsodien betont worden war, hinter den Genuß »lebensnaher Inhalte« zurücktrat, der »kultivierte Geschmack« einer »prosaischen Realität« wich.99 Damit verbunden war das Streben nach Verständlichkeit, belegt z.B. durch Feng Menglong im Vorwort seiner Erzählungen aus alter und neuer Zeit (Gujin xiaoshuo): »Wie kann Literatur etwas erreichen, ohne verständlich zu sein?«100, ebenso wie die Betonung eines reinen Unterhaltungsanliegens: »Die Erzählliteratur ist anders als die offizielle Geschichtsschreibung. Sie vertreibt einem die langen Nächte, erlöst einen von den Sorgen und regt die Phantasie an.«101 Um dies zu erreichen, mußte 97
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Li Zhi in seinem Fenshu, hier zit. nach XIA XIANTING: Gelehrtentum und Literatur zum Ende der Ming-Dynastie, S. 85. Vgl. zu dem Begriff ausführlich CHAVES: »The Panoply of Images: A Reconsideration of the Literary Theory of the Kung-an School«, in: Theories of the Arts in China, S. 345f. Vgl. zu diesem Urteil LI ZEHOU: Der Weg des Schönen. Wesen und Geschichte der chinesischen Kultur und Ästhetik, hrsg. v. KARL-HEINZ POHL und GUDRUN WACKER, Freiburg u.a.: Herder 1992, S. 349. FENG MENGLONG: Erzählungen aus alter und neuer Zeit (Gujin xiaoshuo), Peking: Renmin wenxue 1984, Bd. 1, Vorwort S. 2. Bemerkung des nur unter seinem Pseudonym »Wilder von Xiyang« (Xiyang yeshi) bekannten Verfassers vom Neudruck eines Folgewerks der Drei Reiche (Xin ke xupian San-
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Literatur eben interessant sein, sie mußte »wahre Inhalte«, »wahre Sprache« und »wahre Gefühle« aufweisen, wobei das »Außergewöhnliche« (qi), ein weiterer zentraler Begriff der neuen Erzählauffassung, nicht nur in mythisch-phantastischen Themenkomplexen zu suchen war, sondern im Alltäglichen überhaupt, wie es Ling Mengchu (1580–1644) im Vorwort zu seiner Erzählsammlung Auf den Tisch schlagen vor Staunen über das Außergewöhnliche (Paian jingqi) verstand: Die Menschen heutzutage bevorzugen an Themen das, was außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung angesiedelt ist, Ochsendämonen und Schlangengeister werden als außergewöhnlich betrachtet. Das, was mittels der Sinne wahrnehmbar ist, findet kaum Anklang bei ihnen, doch trifft man gerade dort auf viel, was der Imagination Raum bietet, denn das Alltägliche bleibt in vieler Hinsicht unergründ102 lich.
Die Darstellung von Geistern und Dämonen beruht demnach auf reiner Imagination und ist unwahr, das echte Außergewöhnliche liegt dagegen im Alltäglichen, das zudem immer wieder auch »Neues« (xin) bot. Die hier in den exzentrischen Gelehrtenkreisen bewußt betriebene »Vulgarisierung« (suhua) erschöpfte sich freilich nicht in dem Entwurf literarischer Konzepte, sondern kam allenthalben auch in einer stärkeren Weltzugewandtheit und größerer Lebensfreude zum Ausdruck. Gelage und Feiern im Kreise von Freunden und Singmädchen galten in den einschlägigen Zirkeln als ebenso en vogue wie der Besuch von Schauspiel- und Musikaufführungen, das Sammeln von Büchern und Antiquitäten, Reisen zu Sehenswürdigkeiten etc., womit die Grenzen der in der Bildungstradition überlieferten Unterscheidung zwischen dem »Edlen« (yaren) und dem »Gemeinen« (suren) zu verwischen begannen.103 Daß sich dahinter ein ganz neues Lebenskonzept verbarg, ließ Yuan Hongdao in seiner Auffassung von den »Fünf Lebensfreuden« erkennen, die er folgendermaßen umschrieb: 1. Die Welt mit Augen und Ohren wahrnehmen, das Neue der Welt selbst erfahren sowie das Gespräch über etliche Dinge; 2. Versammlungen im Kreise von Freunden und Frauen in lauschiger Umgebung; 3. Büchersammlungen anlegen (genannt werden Autoren wie Sima Qian und Luo Guanzhong); 4. gemächliche Reisen zu Schiff; 5. in den Tag hinein leben, Speisen mit Freunden, Besuche bei Verwandten.104 Es zeichnet einige der mit der klassischen Literatur vertrauten und das Erzählgenre eher wohlwollend betrachtenden Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts aus, daß sie in deutlicher Analogie zu dem konfuzianischen Kanon der Vier Klassiker
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guozhi), hier zit. nach XIA XIANTING: Gelehrtentum und Literatur zum Ende der MingDynastie, S. 298. LING MENGCHU: Auf den Tisch schlagen vor Staunen über das Außergewöhnliche (Paian jingqi), Shanghai: Shanghai guji 1985, Bd. 1, Vorwort S. 1. Vgl. dazu XIA XIANTING: Gelehrtentum und Literatur zum Ende der Ming-Dynastie, S. 36. YUAN HONGDAO in seiner Schrift Xu Han Ming, vgl. ebd., S. 37f.
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EINFÜHRUNG
(Sishu) innerhalb der ausufernden Erzählliteratur einen ähnlichen Kanon von Werken zu schaffen bemüht waren, um das Genre damit insgesamt aufzuwerten. Doch dieses Vorgehen zielte noch auf einen anderen Zweck. Die geläufige Praxis innerhalb der Literaturkritik der Ming und Qing, Listen mit bevorzugtem Lektürematerial in Form von »Meisterwerken« (caizishu) bzw. »wunderbaren Büchern« (qishu) zu entwerfen, ist als Hinweis darauf zu verstehen, zu einem Genrebegriff insgesamt zu gelangen. Mit der Anführung des caizi-Begriffes in mehr und mehr Titeln von Werken ist das Bestreben zu erkennen, die Erzählwerke innerhalb eines gesicherten Genres zusammenzufassen und in eine entsprechende Tradition zu stellen. Der Liste von Jin Shengtans caizishu ging eine mit »fünf großen Werken« voraus, die Li Zhi zugeschrieben wird. Dazu zählte Li die Räuber vom LiangshanMoor ebenso wie die Dichtungen des Du Fu, des Su Shi, die Schriften des Li Mengyang und Sima Qians Aufzeichnungen des Großhistorikers. In dem 1679 durch Li Yu gezeichneten Vorwort zur von Mao Zonggang kommentierten Ausgabe der Drei Reiche nun tauchten zwei Listen mit »Vier großen Meisterwerken« auf, wobei die frühere der beiden (die auf Wang Shizhen zurückzugehen scheint), neben Sima Qians Aufzeichnungen des Großhistorikers auch den philosophischen Klassiker Zhuangzi, den Roman Räuber vom Liangshan-Moor sowie das Drama Westzimmer umfaßte. War hier wie zuvor bei Li Zhi noch die Anstrengung zu erkennen, die Erzählwerke durch gleichzeitige Nennung mit angesehenen Werken der Literatur aus dem Altertum in eine gemeinsame Tradition zu stellen und ihnen dadurch zu größerer Anerkennung zu verhelfen, so fanden in der späteren der beiden Listen (die man wiederum Feng Menglong zuschrieb) mit den vier großen Romanwerken Drei Reiche, Räuber vom Liangshan-Moor, Reise in den Westen und Jin Ping Mei ausschließlich Vertreter der xiaoshuo Aufnahme. Im 18. Jahrhundert dann wurden diesen vier Werken noch der Traum der Roten Kammer sowie die Gelehrten zugeordnet, womit die »Sechs klassischen Romane« Chinas komplett waren und eben jene exklusive Klasse von unter dem Terminus gudian xiaoshuo zusammengefaßten Bücher bezeichneten, die C.T. Hsia dann im 20. Jahrhundert zum Gegenstand seiner Arbeiten machte. Auf das frühe Bestreben des Entwurfs eines Kanons und der genremäßigen Zuordnung ging daneben auch der Anspruch vieler Verfasser von Erzählwerken seit dem 18. Jahrhundert zurück, ihre Bücher als »Meisterwerke« zu veröffentlichen, nicht ohne dabei auf eine Reihenfolge hinzuweisen. Yu Jiao Li etwa beanspruchte für sich, das »Dritte Meisterwerk« (San caizishu Yu Jiao Li) zu sein, Ping Shan Leng Yan gab sich mit der Stellung als das »Vierte Meisterwerk« (Si caizishu Ping Shan Leng Yan) zufrieden. Anknüpfend an diese Tradition gingen einige Autoren dazu über, sich an die erste Stelle der Meisterwerke zu setzen, um sich von den Vorgängern abzuheben. Den Status eines derartigen »Wunderbaren Buches« beanspruchten u.a. die Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan) und Xue Yue Mei. Aus dem 19. Jahrhundert schließlich liegt ein zehn Werke umfassender Kanon der populären Erzähl- und Dramenkunst vor, der neben den Hauptvertretern des historischen Romans (Drei Reiche) und des Abenteuer-
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romans (Räuber vom Liangshan-Moor) vor allem die herausragendsten Werke des caizi-jiaren-Genres umfaßte (Gattenwahl [Haoqiuzhuan], Yu Jiao Li, Ping Shan Leng Yan, Frühlingspark [Zhuchunyuan] und Weißer Jadestab [Baiguizhi], nicht ohne jedoch mit Teufelsbezwinger (Zhuoguizhuan) auch einen der mythischphantastischen Werke sowie zwei der berühmtesten Dramen (Laute [Pipaji] und Westzimmer) zu nennen.
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3. Forschungsstand und Methode der Auseinandersetzung mit dem klassischen Roman Chinas Wir können in dieser Arbeit einem wichtigen Aspekt nicht näher nachgehen, nämlich dem, inwieweit es sich bei dem frühen chinesischen Roman um »Weltliteratur« handelt. Nur in ganz wenigen ausgewählten Einzelfällen war es möglich, auf die in diesem Zusammenhang wichtige Frage von Rezeption und Wirkung der Erzählkunst speziell im asiatischen Kontext stärker einzugehen, wobei hierzu bereits eine wichtige Beitragssammlung zu eben diesem Problemkomplex in der Herausgeberschaft von Salmon vorliegt.105 Uns soll gegen Ende dieser Einleitung gerade vor dem Hintergrund der eigenen Methode und Herangehensweise an das Material des chinesischen Romans vielmehr die Frage interessieren, inwieweit wir uns von den bislang in diesem Rahmen vorliegenden Arbeiten zu unterscheiden suchen, wobei es unabdingbar ist, zunächst einen knappen Überblick über die aus der Vergangenheit vorliegenden Ergebnisse zu liefern. Hier wird keine Vollständigkeit angestrebt, vielmehr sollen die wichtigsten Stationen bei der Auseinandersetzung mit der Romankunst vor allem innerhalb der Wissenschaft Chinas und Europas bzw. Amerikas das Ziel sein. In bezug auf China interessieren uns hier weniger Einzelstudien, auf die wir an gegebener Stelle im Hauptteil zu sprechen kommen, als vielmehr die literaturgeschichtlichen Untersuchungen. Die erste historisch angelegte Übersicht zur chinesischen Erzähldichtung, die in den einschlägigen Nachschlagewerken genannt wird, ist um die Zeit der 4.-MaiBewegung durch Zhang Jinglu entstanden unter dem Titel Abriß der Geschichte der chinesischen Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuoshi dagang, 1920). Ursprünglich auf fünf Bände angelegt mit Abhandlungen zu Begriff, Herkunft, Entwicklung und Wandel der xiaoshuo bis in die Gegenwart, blieb die Veröffentlichung von nur einem Band jedoch letztlich unvollständig. Mit für die Untersuchungen zum Thema in den folgenden Jahrzehnten am einflußreichsten war dagegen die von Lu Xun (1881–1936) angefertigte Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung (Zhongguo xiaoshuo shilüe), die auf der Grundlage von seit Anfang der zwanziger Jahre an der Universität Peking gehaltenen Vorlesungen entstand, 1923 von der Universität Peking veröffentlicht wurde und bis 1930 in mehreren neuen, verbesserten Auflagen erschien.106 Aus dieser Zeit zu nennen ist auch Fan Yanqiaos 1927 publizierte Geschichte der chinesischen Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuoshi), in 105
106
Vgl. CLAUDINE SALMON: Literary Migrations. Traditional Chinese Fiction in Asia (17–20th Centuries), Peking: International Culture Publishing Corp. 1987. Liegt in einer deutschen Fassung vor als LU XUN: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung (Zhongguo xiaoshuo shilüe), Peking: Verlag für Fremdsprachige Literatur 1981.
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Forschungsstand und Methode
der der Verfasser neben Begriff und Quellen auch auf den Status der Erzähldichtung innerhalb der Literatur eingegangen ist, wobei er in Anlehnung an Lu Xuns Herleitung der xiaoshuo aus den frühen chinesischen Mythologien eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Stoffen betrieb. All den vorgenannten Abhandlungen sowie einer Reihe weiterer hier unerwähnt bleibender ist gemein, daß sie den xiaoshuo-Begriff überaus weit faßten und das kürzere Erzählgut darin ebenso würdigten wie den eigentlichen Roman. Auf diese und andere Probleme insbesondere bei Lu Xun werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen. Unverzichtbar und lange Zeit die Hauptquelle einer Übersicht zur Romankunst war der 1932 von Sun Kaidi (1898–1989) in recht systematischer Form vorgelegte Katalog von Werken der populären Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo shumu), wobei sich hier, wie wir noch sehen werden, eine Reihe von Schwierigkeiten mit der Ordnung des gesammelten Materials ergaben. Daß die Erzählkunst der Zeit um die Jahrhundertwende erinnerungswürdig war und einen wichtigen Teil der Erzähltradition darstellte, bewies A Ying (1900–1977) mit seiner erstmals 1937 erschienenen Geschichte des chinesischen Romans zum Ende der Qing-Dynastie (Wan Qing xiaoshuoshi), die weit ausführlicher als noch Hu Shis (1891–1962) gut eineinhalb Jahrzehnte zuvor (1923) veröffentlichter Aufsatz »Die Literatur Chinas während der vergangenen fünfzig Jahre« (Wushi nian lai Zhongguo zhi wenxue) auf die entsprechenden Tendenzen innerhalb des Romans einging und eine der bislang immer noch zuverlässigsten Übersichten zu diesem Bereich überhaupt gibt. Weit eingehender befaßte sich Hu Shi dagegen mit der traditionellen Romanliteratur in seinen 1942 herausgegebenen Untersuchungen zum chinesischen Kapitelroman (Zhongguo zhanghui xiaoshuo kaozheng), die vor allem systematisch insofern ein Novum darstellten, als darin die Problematik der »kollektiven Verfasserschaft« vieler früher Werke zum Ausdruck gebracht wurde, was Hu im Kapitel des historischen Romans verdeutlichte, in dessen Mittelpunkt er die Räuber vom Liangshan-Moor stellte; dieses Werk hob er von der späteren, bei ihm zweiten Kategorie der »Verfasserromane« (chuangzuo xiaoshuo) ab, deren Eigenheiten er am Beispiel des Traum der Roten Kammer näher behandelte – ein Meilenstein übrigens in der seinerzeit bereits im Schwunge befindlichen HongloumengForschung. Aus den vielen über die Jahrzehnte entstandenen Studien und Übersichten wollen wir als innovativ hier noch Ye Langs (geb. 1938) 1982 angefertigte Abhandlung Ästhetik des chinesischen Romans (Zhongguo xiaoshuo meixue) hervorheben, in der zum ersten Mal dem Problem der chinesischen Erzählkritik eingehender nachgegangen wurde, gefolgt von Chen Pingyuans (geb. 1954) 1988 im Druck erschienener Dissertation Wandel in der Erzählform der chinesischen Erzählliteratur (Zhongguo xiaoshuo xushu moshide zhuanbian), die wohl die erste umfassende Studie in China zu diesem Thema überhaupt darstellt und der Geschichtsschreibung als Poetik der Erzählkunst den ihr zukommenden Stellenwert gab. Daß der chinesische Roman eine Reihe von Parallelen zu den kürzeren Erzählwerken aufweist und dennoch eine eigene Betrachtung verdient, ließ schließ-
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EINFÜHRUNG
lich in neuerer Zeit Xu Zhengui (geb. 1942) mit seiner 1990 herausgegebenen Geschichte des klassischen chinesischen Romans (Zhongguo gudai changpian xiaoshuoshi) erkennen, wobei die traditionelle Einteilung in Gattungen wie historischer Roman, Heldenroman, mythologischer Roman, Sittenroman, caizi-jiarenRoman etc. auch hier noch voll zum Ausdruck kam. Um wiederum einen Meilenstein im Bereich der Bücherkunde handelt es sich bei dem im gleichen Jahr von der Akademie für Sozialwissenschaften in Jiangsu herausgegebenen Annotierten Gesamtkatalog zu der volkstümlichen Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo zongmu tiyao), auf den wir im letzten Abschnitt dieser Einleitung noch näher eingehen werden. Im Abendland, um nunmehr auf den zweiten Teil dieser Übersicht zu sprechen zu kommen, setzte die Wahrnehmung der Erzählkunst Chinas bereits recht früh ein. Es war der 1700 im Rahmen seiner Missionstätigkeit nach China gelangte Franziskanermönch Carlo Orazi da Castorano (1673–1755), der wohl als erster Europäer überhaupt Bemerkungen zu den chinesischen xiaoshuo machte und diese als »profan« bezeichnete, was neben »weltlich« auch so viel wie »abartig« bzw. sakrilegisch heißen konnte. Orazis Augenmerk galt dabei vor allem drei Werken, und zwar neben Feng Menglongs Erzählsammlung Eindringliche Worte zur Ernüchterung der Welt (Xingshi hengyan) mit der Reise in den Westen und dem Yu Jiao Li (einem Vertreter der seinerzeit beliebten caizi-jiaren-Gattung) auch zwei Romanen. Es ist bemerkenswert, wie stark sich Orazi dem von Verachtung gegenüber den xiaoshuo geprägten Geschmack der chinesischen Gelehrten bei der Bewertung dieser Bücher angepaßt zu haben scheint, wenn er ihnen unter Hinweis auf die von der orthodoxen Klassikerliteratur bevorzugten wenyan-Variante einen sprachlichen »Vulgärstil« unterstellte, der ohne »Feierlichkeit« (aut sermone) sei, was auch nicht durch den Inhalt aufgewogen werde, eine Mischung aus »Erfindungen« und »Fakten« (facta et inventiones). Dieser Umstand ist um so bemerkenswerter, als zur Zeit von Orazis Aufenthalt auch der europäische Roman seine besten Zeiten noch vor sich hatte und das Urteil des Mönchs u.U. nicht zuletzt geprägt ist von der damals weit verbreiteten Ablehnung gegenüber dieser Literaturgattung im Abendland. Gerade der Reise sprach Orazi mit ihrer von »Aberglauben« und abwegigen Begebenheiten geprägten Handlung jeden Wert ab und gelangte zu dem Urteil, daß das Werk lediglich der Erbauung und Unterhaltung diene, die Lektüre also reine Zeitverschwendung sei. Aus literaturhistorischer Sicht interessant ist die Bemerkung Orazis, daß die Reise nicht nur gelesen, sondern auch von Geschichtenerzählern öffentlich vorgetragen werde. Anders als der Roman um Sun Wukong erging sich Orazi gegenüber den Yu Jiao Li in keinerlei Werturteilen, sondern faßte das Werk nur zusammen.107 107
Zu Orazi vgl. den kurzen Aufsatz von LIONELLO LANCIOTTI: »A Franciscan Missionary and the Xiaoshuo«, in: Ming Qing Yanjiu, Napoli/Roma 1996, S. 109–113.
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Forschungsstand und Methode
Wir wollen Orazis Bemerkungen hier paradigmatisch für die Form der frühen Rezeption und Wahrnehmung chinesischer Romankunst im Westen stehen lassen, die insgesamt noch wenig erforscht ist und unter Umständen noch einiges interessantes Material zutage fördern könnte. Auffällig daran ist, wie sehr auch das Urteil des Mönchs selbst als einem vor Ort befindlichen Gelehrten offenbar noch stark im Banne eigener Beobachtungen der zeitgenössischen Literaturszene Chinas sowie der »Fütterung« durch seine chinesischen Informanten zu stehen schien. Daß er von den »Vier Meisterwerken« lediglich auf die von der Qing-Zensur verschont gebliebene Reise aufmerksam wurde, darf angesichts der offiziellen Dünkel gegen die beiden anderen Vertreter, gemeint sind das Jin Ping Mei und die Räuber, nicht weiter verwundern. Weshalb aber entgingen ihm die Drei Reiche, die bereits früh das Interesse der Mandschu-Herrscher erweckte und nach 1644 zu einer Art »Staatsroman« avancierten? Von den vielen anderen Werken, die um die Zeit von Orazis Aufenthalt bereits vorlagen, wollen wir hier gar nicht reden, für deren Nicht-Wahrnehmung könnten Argumente wie ihre geringe Verbreitung ins Feld geführt werden. Weniger erstaunlich mutet dagegen die Aufnahme eines Vertreters der um die Wende des 17./18. Jahrhunderts im Schwunge befindlichen Romane über Talente und Schönheiten an, die um diese Zeit ganz offensichtlich den auch von offizieller Seite abgesegneten Literaturbetrieb beherrschten und geraume Zeit auch im Ausland im Mittelpunkt der Wahrnehmung des chinesischen Romans standen, nachdem sich englische und französische Übersetzer bis in 19. Jahrhundert hinein an ihre Übertragung gemacht hatten. Wir werden darauf noch ausführlicher in dem entsprechenden Abschnitt des Hauptteils eingehen. Geringe Materialbasis und Beschränkung auf einzelne, inhaltlich wenig verfängliche und womöglich wegen ihrer Liebesthematik durchaus einen gewissen Reiz auf westliche Leser ausübende Romane sind daher die Merkmale dieses frühen Stadiums der Auseinandersetzung mit der chinesischen Erzählkunst im Abendland. Wir können die zunehmende Erweiterung des Spektrums von Romanen hier nicht im einzelnen beschreiben, die im wesentlichen zumindest in Auszügen durch Übersetzungen und diverse kleinere Untersuchungen geprägt ist. Es war jedenfalls Wilhelm Grube (1855–1908), der als einer der ersten die diesbezügliche Entwicklung in seiner 1902 erschienenen Geschichte der chinesischen Literatur zusammenfaßte und dem Roman im Abschnitt »Erzählende Literatur« eine eigene Rubrik zugestand, die allerdings nur vierzig Seiten umfaßte.108 Da sich Grube offensichtlich weitgehend auf die in den zurückliegenden Jahrzehnten angefertigten Übersetzungen stützte, ohne sich näher durch eigene Lektüre ein Bild von dem Reichtum der chinesischen Romankunst gemacht zu haben, blieben seine Ausführungen insgesamt unausgewogen, wobei wir ihm durchaus einige Schwierigkeiten zur Erlangung einer breiteren Textgrundlage zugestehen wollen, die sich aus der Verfügbarkeit 108
Vgl. WILHELM GRUBE: Geschichte der chinesischen Literatur, Leipzig: C.F. Amelangs Verlag 1902, S. 406– 446.
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EINFÜHRUNG
brauchbarer Manuskripte oder verläßlicher Editionen ergeben haben mochten. Angesichts der zu Grubes Zeiten selbst in China theoretisch noch kaum fundierten Arbeiten zu den xiaoshuo und einzelnen Gattungen ist es darüber hinaus nicht verwunderlich, daß er zu ganz eigenen Zuordnungen bzw. Bewertungen gelangte. So erkannte Grube etwa die Drei Reiche als den ersten der großen Romane Chinas, doch sah er darin weniger einen historischen Roman als vielmehr eine »romantische Geschichte«. Für die spätere Literaturwissenschaft im Westen fatal war auch die unter Rückgriff auf den abendländischen Romanbegriff gemachte Feststellung, daß die Drei Reiche keine geschlossene Erzählung der Lebensschicksale eines Helden seien, sondern ein »Zyklus von Abenteuern und Mären«.109 In einigen Zeilen werden sodann die Räuber abgehandelt, welche durch ihre »humoristischen Episoden vielfach an unsere alten Schelmenromane« erinnert.110 Eine inhaltlich größere Nähe zu den Drei Reichen sah Grube dagegen in den Staaten (Lieguozhi), die ebenfalls kurze Erwähnung fanden. Unter Bezug auf die Übersetzungen von Davis, D'Arcy und Julien kam der Verfasser sodann auf die drei caizi jiarenRomane Gattenwahl (Haoqiuzhuan), Yu Jiao Li und Ping Shan Leng Yan zu sprechen, die er u.a. als »wahre Prachtstücke der Sittenschilderungen dieses merkwürdigen Volkes« und als »Literaturromane par excellence« mit überschwenglichem Lob bedachte.111 Im Zentrum der sittenschildernden Romane Chinas standen Grube zufolge das Jin Ping Mei und der Traum der Roten Kammer (Cao Xueqin wird als Autor genannt), letzteres die »unstreitig vornehmste Schöpfung der chinesischen Romanliteratur«; jedoch erfährt man bis auf die Titelnennung nichts weiter zu den beiden Werken. Als Vertreter der phantastisch-mythologischen Erzählungen tauchen die ausführlicher auf mehreren Seiten beschriebene Investitur der Götter (Fengshen yanyi) und die nur kurze Erwähnung findende Reise zwar auf, doch standen Grube zufolge beide an Bekanntheit gegenüber der Wunderbaren Geschichte von der weißen Schlange (Baishe qizhuan) zurück, für die er wenigstens die 1834 von Julien angefertigte Übersetzung nannte. Grubes Beschreibungen lassen vor allem zwei Merkmale erkennen, die für literaturhistorisch angelegte Arbeiten zur chinesischen Erzählkunst von Bedeutung waren. Zum einen die Neigung, den frühen chinesischen Roman vor dem Hintergrund der Romanentwicklung im Westen speziell wohl des 18. und 19. Jahrhunderts zu erklären, und zum anderen der Versuch, dabei zu festen Kategorien wie »Sittenroman« o.ä. zu gelangen. Wilhelm Grubes Geschichte der chinesischen Literatur war ein Anfang und ließ bezüglich des chinesischen Romans in diesem zeitigen Stadium mit Sicherheit mehr Fragen offen, als dadurch beantwortet worden wären. Dies trifft im übrigen auch auf einige frühe Arbeiten zur Erzählkunst aus der Feder asiatischer Autoren 109 110 111
Ebd., S. 406. Ebd., S. 418. Ebd., S. 423–430.
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Forschungsstand und Methode
zu, die wie Wu Yitai (i.d. Umschrift Ou Itaï) entweder selber in europäischen Sprachen publizierten (hier etwa Le Roman Chinois) oder aber wie Nagasawa Kikuya mit seiner Geschichte der chinesischen Literatur einen europäischen Übersetzer bzw. Bearbeiter (hier Feifel) fanden.112 Bleiben die Ausführungen zum Roman bei Kikuya/Feifel aufgrund der gesamtliterarischen Übersicht von Natur aus gering, so beschränkte sich auch zuvor schon Ou Itaï aus unerfindlichen Gründen auf die allernotwendigsten Angaben zu Autor und Werk in seiner Übersicht zu nicht mehr als vierzehn Romanen. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, daß es in den Jahrzehnten zwischen den zwanziger und sechziger Jahren einigen übersetzerischen Pionieren wie Franz Kuhn, den Brüdern Kibat, Pearl Buck, van Gulik und einer Reihe weiterer Damen und Herren am Herzen lag, ausgewählte Werke einer breiteren Öffentlichkeit in westlichen Übertragungen zugänglich zu machen, wobei wir hier nicht über die Qualität der vorgelegten Arbeiten befinden wollen. Eine wohl nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Sicht unbefriedigende Lösung stellte dabei der Versuch dar, die zugegebenermaßen oftmals sehr umfangreichen Romanwerke nur in verkürzten Versionen wiederzugeben, was jedoch bei strenger Einhaltung des Werkaufbaus und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß auch in China selbst die Romane vielfach in abweichenden Kapitelzahlen kursierten (Johanna Herzfeldt etwa bezog sich bei ihrer vollständigen Übertragung der Räuber auf eine Siebzig-Kapitel-Fassung), immer noch dem Verfahren Kuhns vorzuziehen ist, der mitunter durch willkürliche Streichungen und eigene Zusammenfassungen den Anschein einer kompletten Übersetzung lieferte. Hinzu kam mit der im Rahmen dieser Übersetzeraktivitäten zum ersten Mal fühlbaren Ausgrenzung des breiten Spektrums von Erzählwerken die Konzentration auf wohl kaum mehr als zwei Dutzend »repräsentative Vertreter«, was zur Folge hatte, daß einzelne Titel bis heute vielfach in mehreren Übertragungen vorliegen. Die beiden amerikanischen Sinologen Anthony C. Yu und W.J.F. Jenner, die während der 70er und 80er Jahre zeitgleich an vollständigen Übertragungen der Reise arbeiteten und diese später in verschiedenen Verlagen publizierten, seien hier nur als eines von vielen Beispielen genannt. Was die Verfügbarkeit einer breiteren Palette von brauchbaren Übersetzungen der chinesischen Romanwerke in westlichen Sprachen angeht, die auch dem Anspruch als Ersatz für mitunter nur schwer zugängliche »Primärliteratur« gerecht würden, so ergibt sich folgerichtig ein sehr inkohärentes Bild. Als bedauerlich ist in diesem Zusammenhang festzustellen, daß ideologische ebenso wie sprachliche Gründe eine stärkere Würdigung von Tätigkeiten der sowjetischen Sinologen in diesem Bereich in der Vergangenheit weitgehend verhindert haben. Unabhängig von den 112
Vgl. OU ITAÏ: Le Roman Chinois, Einleitung von Prof. Fortunat Strowski, Paris: Les Éditions Véga 1933; Geschichte der chinesischen Literatur, dargestellt nach NAGASAWA KIKUYA: Shina Gakujutsu Bungeishi von EUGEN FEIFEL, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21959.
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EINFÜHRUNG
gemeinhin dem Sozialismus und seiner praktischen Umsetzung zur Last gelegten Mängeln dürfte nicht zuletzt die zentrale Koordination auch im Wissenschaftsund Kulturbereich ein Grund dafür gewesen sein, daß sich in der sowjetrussischen Sinologie, zumindest was die Auseinandersetzung mit dem engen Bereich des chinesischen Romans angeht, eine beträchtliche Dichte und Kohärenz feststellen läßt. Bemerkenswert sind nicht nur die bereits in den fünfziger Jahren vorgelegten Übersetzungen von Werken wie den Drei Reichen (V.A. Panasjuk, 1954), der Reise in den Westen (Rogacev/Kolokov, 1959), den Gelehrten (D. Voskresenskij, 1959) oder den Traum der Roten Kammer (Panasjuk, 1958), die weitgehend dem in westliche Sprachen übertragenen Romankanon entsprechen, sondern auch die gleichzeitige Erfassung von »kleineren« Romanen abseits des sinologischen Mainstreams zumindest im Westen. Genannt seien hier nur die Übersetzungen von Werken wie den Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua, übers. v. V. Semanov, 1960), der Erzählung über Yue Fei (Shuo Yue quan zhuan, übers. v. Panasjuk, 1974) und den Drei Rittern und fünf Edlen (San xia wu yi, übers. v. Panasjuk, 1974). Abgesehen von A.P. Rogacevs 1955 angefertigter Übersetzung der Räuber war jedoch keinem dieser frühen Übertragungen eine Neuauflage beschieden. Schlecht um die wissenschaftliche Wahrnehmung ist es auch mit entsprechenden Monographien sowjetischer Gelehrter zum chinesischen Roman bestellt. Die 1970 von Semanov vorgelegte Evolution des chinesischen Romans blieb zumindest im Westen ebenso einflußlos wie Boris Riftins Historisches Epos und Erzähltradition in China und sein Buch Vom Mythos zum Roman, die beide bereits 1979 vorlagen. Bisweilen mag die Nichtbeachtung der Arbeiten sowjetischer Sinologen anderswo auch in dem Umstand zu suchen sein, daß man sich methodisch verrannte, wie etwa der Versuch Olga Fismans aus dem Jahre 1966 zeigt, die in Der chinesische satirische Roman darum bemüht war, den der europäischen Denktradition entnommenen Begriff der »Aufklärung« auf das China des 16./17. Jahrhunderts zu übertragen.113 Die in der westlichen Sinologie früh erkennbare Tendenz einer Ausgrenzung weiter Bereiche der chinesischen Romankunst erfuhr ihre Rechtfertigung in einem theoretisch zwar wenig fundierten, jedoch vor dem Hintergrund rezeptionsästhetischer Grundsätze formulierten Aufsatz John Bishops aus den fünfziger Jahren mit dem Titel »Some Limitations of Chinese Fiction«.114 Zwar gestand Bishop die Unzulänglichkeit seiner Methode selbst ein, wenn er kurz anmerkte, daß es im Grunde nicht angehe, die chinesische Erzählkunst am Standard der westlichen Er113
114
Vgl. zu diesen Ausführungen HELMUT MARTIN: »Russische Studien über Ming- und QingLiteratur. V.M. Alekseev zum 100. Geburtstag am 2. Januar 1981 gewidmet«, in: DERS.: Traditionelle Literatur Chinas und der Aufbruch in die Moderne, Dortmund: projekt-Verlag 1996, S. 91–144. Erstmals erschienen in Far Eastern Quarterly 15 (1956), S. 239–247, als Nachdruck in JOHN BISHOP (Hg.): Studies in Chinese Literature, Boston: Harvard UP 1966, S. 237–245.
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Forschungsstand und Methode
zählwerke zu messen, doch gelangte er am Ende auch wieder nur zu einer negativen Evaluierung, indem er feststellte, daß für den westlichen Leser eines der auffälligsten Merkmale der entsprechenden Literaturform Chinas die Heterogenität bzw. Episodik sei, womit vom Grundsatz her bereits der Romancharakter in Frage gestellt wurde. Zwei weitere Beschränkungen fand Bishop in der erzählerischen Konvention und in ihrer Zweckhaftigkeit. Die Vorwürfe gipfelten zusammengefaßt darin, daß die chinesische Erzählkunst keine Originalität besitze, sondern auf Imitationen beruhe und darüber hinaus des persönlichen Tons des Verfassers ermangele, welcher sich darauf beschränke, seine Geschichte in monotoner Weise vorzutragen, anstatt sie in individuellem Ton enthüllend zu vermitteln. Es hätte weder der Widerlegung von Bishops abschätzigen Ansichten durch Eugene Eoyangs Aufsatz »A Taste for Apricots« mit der Betonung eben der Einheit und Originalität der chinesischen Romanwerke mehr als zwanzig Jahre später noch der in dieselbe Richtung zielenden Hinweise Lutz Biegs in seinem Beitrag zu dem Handbuch Ostasiatische Literaturen bedurft,115 hatten doch einige namhafte Wissenschaftler noch in den sechziger Jahren die fragwürdige Literaturgattung offensichtlich für würdig genug befunden, um darüber in Abhandlungen und Monographien Auskunft zu geben. Dennoch hat es den Anschein, daß bewußt oder unbewußt etwas von Bishops Absage an den Wert der frühen chinesischen Romane hängengeblieben war, denn es fällt auf, daß – ganz gleich ob in einem kurzen Aufsatz wie dem von Liu Wu-chi (»Great Novels by Obscure Writers«) oder in einer umfangreichen Monographie wie C.T. Hsias Der klassische Roman – eine Art Rechtfertigungszwang bestand, der sich in einer Reduzierung auf in ihrer Wertigkeit kaum anzweifelbare Vertreter der Klassiker unter den Romanen ausdrückte.116 So beschränkte sich Liu nach eigenen Angaben auf die »wichtigsten« und »größten« unter den Romanen, was bedeutete, daß die Reise in den Westen ebenso abgehandelt wurde wie das Jin Ping Mei, der Traum der Roten Kammer und Die Gelehrten, wohingegen die historischen Romane, die Ritterromane und die caizijiaren-Werke nur kurze Erwähnung fanden. Hsia wiederum erweiterte den Klassikerkanon um die beiden zweifellos dazugehörigen Vertreter Drei Reiche und Räuber vom Liangshan-Moor, sah sich aber aus offenbar ähnlichen Erwägungen 115
116
Vgl. EUGENE EOYANG: »A Taste for Apricots: Approaches to Chinese Fiction«, in: ANDREW H. PLAKS: Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton, N.J.: Princeton UP 1977, S. 53–69. LUTZ BIEG: »Die Entstehung der großen Romane des Alten China«, in: GÜNTHER DEBON (Hg.): Ostasiatische Literaturen, Wiesbaden: Aula 1984, S. 127–142 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 23). Vgl. LIU WU-CHI: »Great Novels by Obscure Writers«, in: DERS.: An Introduction to Chinese Literature, Bloomington u.a.: Indiana UP 1966, S. 228–246. C.T. HSIA: Der klassische chinesische Roman. Eine Einführung, aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Mit einem Nachwort versehen von HELMUT MARTIN, Frankfurt/M.: Insel 1989 (erstmals erschienen 1968).
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EINFÜHRUNG
wie zuvor Bishop mit Blick auf den »romanverwöhnten« abendländischen Liebhaber dieses Genres zu der Feststellung gezwungen, daß »auch in Europa die bewußte Ausübung der Romanschriftstellerei als Kunst erst eine spätere Entwicklung« darstelle und man »vom umgangssprachlichen chinesischen Roman mit seinen bescheidenen Anfängen der mündlichen Überlieferung nicht erwarten« könne, »für den kultivierten modernen Geschmack entworfen worden zu sein«.117 Die implizierte Frage, die sich einem Leser hier unmittelbar aufdrängen mußte, war doch, wie schlecht es wohl erst um die übrigen hier nicht genannten Werke bestellt sein mußte, wenn schon die »großen« Romane zumindest nach Hsias Einschätzung nicht in der Lage waren, die Ansprüche des westlichen Lesers in bezug auf eine »einheitliche Perspektive des Lebens«, einen »individuellen Stil, der ganz mit der emotionalen Haltung des Autors gegenüber der Thematik im Einklang stand«, etc. zu befriedigen. Man wird weder Bishop und noch weniger Hsia bezüglich ihrer abwertenden Äußerungen ernsthaft die Unkenntnis der kulturellen Vielfalt unterstellen dürfen, welche für die literarische Diversifizierung von entscheidender Bedeutung ist. Methodisch ist an der Vorgehensweise jedoch vor allem zweierlei unbefriedigend. Zum einen ist die Tatsache zu nennen, daß die im Grunde gerade aus wissenschaftlichen Zwecken heraus vorgenommene Evaluierung vollkommen überflüssig ist, zumal sie in der Verabsolutierung von bestimmten Formen und ästhetischen Werten nur auf der Grundlage einer sehr begrenzten Auswahl von Werken vorgenommen wird. Dieser Mangel trifft auf C.T. Hsia ebenso zu wie auf Plaks’ noch weit fundiertere Studie der Four Masterworks. Konkret bedeutet das, daß die Beschränkung auf vier (wie Plaks) bzw. sechs (wie bei Hsia) Romane nur dann zu rechtfertigen ist, wenn diese Werke als eine Art komplexer Kanon behandelt werden, was sich schließlich auch in frühen chinesischen Einschätzungen wie der der »Vier herausragenden Romane« (si da qishu) zu erkennen gibt. Keinesfalls jedoch ist es zulässig, die getroffenen Feststellungen zur Grundlage eines Urteils über »den« chinesischen Roman zu machen. Die Unzulässigkeit eines solchen Verfahrens kann sich gerade in bezug auf den chinesischen Roman als verhängnisvoll herausstellen, war es doch diesem Genre anders als zahlreichen anderen Literaturgattungen nicht vorbehalten, als kompaktes Gut in Kanons zusammengefaßt zu werden, so daß es zu einer großen Streuung und einer schweren Zugänglichkeit kam. Li Lüyuans Laterne an der Straßenkreuzung, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde nach ihrer frühen Wahrnehmung in den zwanziger Jahren erst zu Beginn der achtziger Jahre mit einer modernen Neuausgabe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Weder bei Lu Xun noch bei Ou Itaï finden sich Hinweise darauf. Schwerwiegend, um auf den zweiten Mißstand in der Beurteilung zu sprechen zu kommen, wirkt sich auch das nur aus unvollständiger komparatistischer Analyse heraus abgegebene 117
Vgl. ebd., S. 13.
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Forschungsstand und Methode
Votum aus. »Kultureller Chauvinismus«, um den Terminus zu nennen, den Yuan in seinem Aufsatz zu Leitsätzen der Komparatistik unter Hinweis auf Bishop gebrauchte, dürfte wohl eine Spur zu hoch gegriffen sein, wird damit doch etwas wie ein grundlegendes Überlegenheitsgefühl angedeutet, für das umfangreichere Belege anzuführen wären als eine kurze Abhandlung von wenigen Seiten.118 Dennoch zielt der Begriff insofern in die richtige Richtung, als er die mögliche Schlußfolgerung einer unzureichenden komparatistischen Methode ist. Konkret bedeutet das, daß man den frühen chinesischen Roman (wie ja auch Hsia dieses zeitige Entwicklungsstadium hervorhebt) nicht einfach mit solchen Europas und dort schon gar nicht mit Werken aus einer Epoche wie z.B. dem 19. Jahrhundert vergleichen darf, als diese Literaturgattung sich bereits in voller Blüte befand, was sich zu dieser Zeit nicht zuletzt auch an den zahlreichen theoretischen und ästhetischen Reflexionen darüber feststellen läßt. D.h., wenn man schon glaubt, vergleichen zu müssen, und dabei ein Werturteil anstrebt, dann sollte dies mit entsprechend frühen Exemplaren innerhalb des für »überlegen« befundenen Kulturraums erfolgen. Wenn man dabei nicht, um im europäischen Rahmen zu bleiben, bis zu der frühen griechischen Romanliteratur zurückgehen möchte, so ergäben sich doch u.U. aus der Gegenüberstellung des umfangreichen, in seinen Ursprüngen weit vor das frühe 16. Jahrhundert zurückgehenden Amadis-Zyklus mit den Räubern interessante Bezüge. Was jedenfalls not tut und hier erweisen sich auch chinesische Wissenschaftler mit ihren Arbeiten selbst neueren Datums einem Bishop keinesfalls überlegen ist, bei komparatistischen Versuchen nicht ein vermeintlich »passendes« Element der eigenen willkürlich mit einem der fremden Kultur zu vergleichen, sondern bestrebt zu sein, in beiden Bereichen nach möglichst frühen und daher vergleichbaren Formen zu suchen. Daß dies eben nicht stets geschieht, zeigt etwa Xu Zhenguis Bemerkung in seiner Geschichte des klassischen chinesischen Romans (Zhongguo gudai changpian xiaoshuoshi), wo das späte Erscheinen des Romans in China (ausgehend von Luo Guanzhongs Verfasserschaft an diversen chinesischen Frühwerken) mit dem Hinweis gerechtfertigt wird, auch Boccaccios Decamerone sei erst für das 14. Jahrhundert belegt.119 Ärgerlich daran ist, daß das Decamerone erstens kein Roman ist und zweitens die Anfänge der abendländischen Romankunst in Griechenland überhaupt keine Beachtung finden. Ganz gleich, von welcher Seite derartige Vergleiche vorgenommen werden und in was für ein Urteil sie münden: Erklärt wird dadurch wenig. Eine verläßliche komparatistische Methode macht es dagegen notwendig, Ursachen und daraus resultierende Effekte aufzuzeigen und die Verbindungen 118
119
Vgl. HE-HSIANG YUAN: »East-West Comparative Literature: An inquiry into Possibilities«, in: JOHN J. DEENY (Hg.): Chinese-Western Comparative Literature Theory and Strategy, Hongkong: The Chinese UP 1980, S. 1–24, zu dem Hinweis s. S. 1. Vgl. XU ZHENGUI: Geschichte des klassischen chinesischen Romans (Zhongguo gudai changpian xiaoshuoshi), Zhengzhou: Zhongzhou guji 1990, S. 2.
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EINFÜHRUNG
zwischen den Vorgängern in jeweils beiden Literaturen zu verdeutlichen, wobei kulturelle ebenso wie eine Reihe anderer Elemente (Künste allgemein, Religion, Philosophie, Politik u.ä.) herangezogen werden müssen, um am Ende die offensichtlichen Parallelen bzw. Unterschiede einem Vergleich zu unterziehen.120 Wir haben es daher aufgrund der Schwierigkeiten, die ein solches Vorgehen mit sich bringt, in dieser Untersuchung vorgezogen, auf eine eingehende komparatistische Vorgehensweise zu verzichten und lediglich dort, wo sich thematische oder konzeptionelle Ähnlichkeiten anzudeuten scheinen, Hinweise zu geben, ohne dabei zu werten. Tatsache ist dennoch, daß sich die moderne Literaturwissenschaft bei den traditionellen chinesischen Romanen auf eine kleine Auswahl repräsentativer Werke konzentriert hat, wobei der Löwenanteil Cao Xueqins Traum zukam. Y.W. Ma etwa spricht diesbezüglich von einem spärlichen halben Dutzend an Romanen, die untersucht worden seien, was zur Folge gehabt habe, die Charakteristika in diesen wenigen Werken als Maßstäbe für die gesamte frühe chinesische Romankunst zu machen und somit ein verzerrtes Bild zu schaffen.121 Es nimmt angesichts dieses offensichtlichen Mißstandes nicht wunder, daß selbst in neueren Arbeiten zur chinesischen Literaturgeschichte der Romankunst kein gebührender Platz eingeräumt wird. Erkennbar wird das schon bei der vorgenommenen Gewichtung. In den 1979 von Knechtges und Owen formulierten Entwürfen für die Anfertigung einer chinesischen Literaturgeschichte in elf Bänden wird allein die klassische Dichtkunst, unterteilt nach Epochen und Stilrichtungen, mit fünf Bänden bedacht, wohingegen die Gattung des rein vom physischen Volumen viel umfangreicheren Romans in einem Band über »umgangssprachliche Erzählkunst« abgehandelt werden sollte, was sich angesichts der reichen Produktion an unterschiedlichen Formen der Erzählungen und Kurzgeschichten, die ebenfalls unter dieser Kategorie der »umgangssprachlichen Erzählkunst« anzuführen sind, äußerst bescheiden ausnimmt.122 Trotz dieser räumlichen Beschränkung, die bei der Realisierung des ursprünglich auf zehn Jahre veranschlagten Projektes (die Ergebnisse sind unserem Kenntnisstand nach bislang nicht veröffentlicht worden) vermutlich ohnehin nur wieder auf die Auseinandersetzung mit den »großen« Romanen hinausgelaufen worden wäre, scheint den Planern die Schwierigkeit eines verläßlichen Zugriffs auf die umfangreiche Textmenge in diesem Bereich durchaus bewußt gewesen zu sein. Es fällt nämlich auf, daß Knechtges und Owen anders als bei den übrigen Bänden ihrer in Angriff genommenen Literaturgeschichte zumindest für den frühen Zeitpunkt des Projektes noch keinen konkreten Mitarbeiter für den 120 121
122
Vgl. zu diesem Forderungskatalog auch YUAN: »East-West Comparative Literature«, S. 6–10. Vgl. Y.W. MA: »Fiction«, in: WILLIAM H. NIENHAUSER JR. (Hg.): The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature, Bloomington: Indiana UP 1986, S. 35. Vgl. DAVID R. KNECHTGES / STEPHEN OWEN: »General Principles for a History of Chinese Literature«, in: CLEAR 1 (1979), S. 49–53.
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Forschungsstand und Methode
Komplex der Erzählkunst benennen konnten. Sollte es sich bei Owens rezenter Veröffentlichung An Anthology of Chinese Literature tatsächlich um ein Desiderat des 1979 initiierten Projekts handeln, kämen die Romane auch dort nicht gut weg, findet doch nur ein Auszug aus der Investitur der Götter Berücksichtigung.123 Welche Wirkung vor allem Bishops einstiges Diktum selbst Jahrzehnte später noch zeitigt, zeigen auch die Darstellungen in zwar weniger breit als bei Knechtges und Owen angelegten, dafür aber zu einem Abschluß gebrachten Literaturgeschichten. Hier würde sich naturgemäß wie im Falle etwa der einbändigen von SchmidtGlintzer 1990 publizierten Geschichte der chinesischen Literatur das »Raum«Argument für eine Unterlassung eingehenderer Untersuchungen des Romans durchaus nachvollziehen lassen.124 Doch anstatt sich auf diese bequeme und aus den Sach- und Raumzwängen heraus verständliche Argumentationslinie zurückzuziehen, verwickelt sich Schmidt-Glintzer in einigermaßen widersprüchliche Äußerungen, indem er im Anklang an Bishops Bemerkungen behauptet, daß es während der hundertfünfzig Jahre zwischen der Anfertigung der »Vier Meisterwerke« und des Traums bzw. der Gelehrten keine nennenswerten weiteren Romane gegeben habe (womit impliziert wird, daß er die gesamte Entwicklung im Griff hat),125 andererseits aber muß er eingestehen, daß etwa der erotische Roman Chinas bis heute noch nicht wirklich erforscht sei.126 Wir wollen uns der Vollständigkeit halber nicht auf die vorgenannten problematischen Fälle beschränken und hier statt dessen noch eine Reihe von Beispielen aus der jüngeren Zeit anführen, in denen die literaturhistorische Analyse unserer Einschätzung nach unter Berücksichtigung des zeitlich freilich eng gefaßten Zeitraums erfolgreich praktiziert worden ist. Sowohl Hegel in The Novel in Seventeenth Century China als auch McMahons Causality and Containment in Seventeenth-Century Chinese Fiction bieten im Rahmen der jeweiligen Themenstellung einen repräsentativen Überblick über die literarische Entwicklung des 17. Jahrhunderts, wobei der Roman bei Hegel mit eingehenderer Würdigung von sieben bis dahin in der westlichen Sinologie weitgehend unbeachteten Werken noch stärker Eingang findet als bei McMahon, der seine Ausführungen auch auf eine Anzahl von Geschichtensammlungen stützt.127 Das letztgenannte Verfahren hat McMahon auch in einer weiteren Untersuchung vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts angewendet 123
124
125 126 127
STEPHEN OWEN (Hg. & Übers.): An Anthology of Chinese Literature. Beginnings to 1911, New York: Columbia UP 1996. Vgl. HELWIG SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, Bern u.a.: Scherz 1990. Vgl. den Hinweis ebd., S. 427. Vgl. ebd., S. 475. Vgl. ROBERT E. HEGEL: The Novel in Seventeenth Century China, New York: Columbia UP 1981; KEITH MCMAHON: Causality and Containment in Seventeenth-Century Chinese Fiction, Leiden u.a.: Brill 1988.
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EINFÜHRUNG
(Misers, Shrews, and Polygamists), und es ist auch Grundlage der Arbeit von Yenna Wu (The Chinese Virago).128 Die Vorgehensweise in den beiden vorgenannten Studien hat insofern ihre Berechtigung, als die Themenstellung beide Male motivbezogen ist. Allerdings erfaßt eine derartige Selektion in keinem der Bücher den Roman als ganzes, da dieser nur als Materialquelle ausgeschlachtet wird. Wir wollen es bei diesen knappen Schilderungen vom »traurigen Schicksal« des frühen chinesischen Romans in literaturgeschichtlichen Werken vor allem der westlichen Sinologie belassen. Im Grunde scheint das Problem doch vornehmlich darin zu bestehen, daß sich unter den mit chinesischer Erzählkunst befaßten Literaturwissenschaftlern bislang kaum jemand die Mühe gemacht hat, jene Forderungen zu erfüllen, die Y.W. Ma in dem oben bereits angeführten Eintrag zum Indiana Companion to Traditional Chinese Literature stellte, nämlich unter geringerer Betonung von Werturteilen und Vergleichsmaßstäben, die die großen Romane vorgeben, eine möglichst breite Erfassung von Werken der Romankunst anzustreben und dabei auf ein strikt chronologisches Vorgehen zu achten.129 Wir haben uns bei der Anfertigung der vorliegenden Arbeit von den vorstehend durch Ma zum Ausdruck gebrachten Forderungen leiten lassen und wollen nunmehr unter Einbeziehung der einleitend zu diesem Abschnitt angeführten literaturgeschichtlichen Werke sowohl in China als auch im Westen die eigene Methode näher erläutern. Kommen wir zunächst zum Problem des zugrundegelegten Materials sowie der Absteckung des zeitlichen Rahmens. Die Beschränkung auf die Dynastien Ming und Qing, d.h. speziell den Zeitraum des 15. Jahrhunderts bis zum Ende der Kaiserzeit 1911, war von der Aufgabenstellung her vorgegeben, insbesondere deshalb, weil erst während dieser Periode Romane überhaupt konkret festzustellen sind. Ein Problem dabei war, innerhalb des für längere ebenso wie für kürzere epische Werke gebräuchlichen xiaoshuo-Begriffes zu einer zuverlässigen Abgrenzung der eigentlichen Romane von den verschiedenen Formen der »Erzählung« (also »Kurzgeschichte«, realisiert als huaben, pinghua o.ä. bzw. einfach xiaoshuo) zu gelangen, zumal sowohl die Roman-xiaoshuo als auch die Erzählungs-xiaoshuo gemäß dem für die Auswahl zugrundegelegten Kriterium in der Schriftsprachenvariante baihua vorliegen, einem Kriterium, von dem nur in wenigen Ausnahmefällen abgewichen wurde. Mithin ergab sich also unter Anwendung allgemeiner Bestimmungskriterien des Romans als Langform der imaginären, nicht-metrischen Erzählkunst sowie unter strenger Zugrundelegung der weiter oben speziell für die chinesische Ausprägung dieser Literaturform beschriebenen Definitionsmerkmale 128
129
Vgl. KEITH MCMAHON: Misers, Shrews, and Polygamists. Sexuality and Male-Female Relations in Eigtheenth-Century Chinese Fiction, Durham u.a.: Duke UP 1995; YENNA WU: The Chinese Virago. A Literary Theme, Cambridge, Mass. U.a.: Harvard UP 1995. Vgl. »Fiction«, S. 35.
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Forschungsstand und Methode
eine zunächst rein gattungsmäßige Eingrenzung der Romantexte. Auch hiervon wurde nur in wenigen Ausnahmefällen abgewichen, etwa bei der nicht in huiKapiteln eingeteilten Erzählung von der verrückten Frau, die zudem eine der wenigen hier untersuchten Erzähltexte in wenyan darstellt, oder bei den in einem Exkurs eigens markierten tanci, deren rhythmisch-gebundener Sprachstil sich von dem der übrigen xiaoshuo abhebt. Was die Zuordnung der Verrückten Frau anders als ebenfalls nicht kapitelmäßig markierte Erzähltexte bzw. Sammlungen derselben u.U. gleicher oder größerer Länge zu den Romanen rechtfertigte, war neben dem Umstand einer selbständigen Veröffentlichung vor allem die einheitliche und zusammenhängende Handlung. Das Kriterium der Imagination wiederum ließ hier einige in der Vergangenheit der Erzählkunst zugeordnete Werke wie Sechs Aufzeichnungen über ein unstetes Leben (Fusheng liuji) ausscheiden, was sich – wie in eben diesem Fall – jedoch erst durch die eingehendere Lektüre verifizieren ließ. Mithin ergab sich gegenüber literaturgeschichtlichen Untersuchungen der Vergangenheit insgesamt ein wesentlich homogeneres Bild von Erzählwerken. So leidet zumindest die deutsche Übertragung des Titels von Lu Xuns Zhongguo xiaoshuo shilüe als »Kleine Geschichte der chinesischen Romandichtung« insofern unter dem Mißverständnis des xiaoshuo-Begriffs, als sich Lu Xun mitnichten nur auf Romane im hier zugrundelegten Sinne bezog, sondern vielmehr versuchte, ein Bild von der Erzählkunst insgesamt (d.h. auch unter Einschluß der Kurzformen) zu geben. Das gleiche gilt auch für Ou Itaïs Untersuchung Le Roman Chinois, in der sich anders, als der Buchtitel nahe legt, neben einer Reihe unzweifelhafter Romane auch Angaben über romanhafte Vorformen wie die Volksbücher (pinghua) und ein eigenes Kapitel über Erzählsammlungen finden. Betreffend das mehr als dreieinhalb Jahrhundert umfassende Zeitspektrum, in dem der frühe chinesische Roman sich entfaltete, erwies es sich angesichts der in der Einleitung untersuchten erzählerischen Homogenität des Romans nicht als notwendig, etwa in bezug auf Stil, Form o.ä. einzelne Epochen anzunehmen, wie dies mitunter im Falle von Darstellungen der Kunst und Literatur Europas erfolgt, wo dann Werke des Rokoko mit denen des Barock, der Aufklärung etc. verglichen werden. Derartige aus der europäischen Tradition übernommene Systematisierungen fanden mitunter auch in China Anwendung, wie etwa das Beispiel Fu Sinians (1896–1950) zeigt, der in seinen »Untersuchungen zur Periodisierung der chinesischen Literaturgeschichte« (Zhongguo wenxueshi fenqi zhi yanjiu) vier Epochen annahm, in denen bestimmte Gattungen und Stile vorherrschten. Die Konzentration erfolgte auch hier beim Roman auf einige herausragende Werke, wie der Traum der Roten Kammer und Die Gelehrten zeigen, welche beide der »Chinesischen Renaissance« (wenxue fuguchao) zugeschrieben werden.130 Unter weitgehender Fortlassung dieser »Epochenproblematik« stellt sich auch das Problem jeder Peri130
Vgl. FU SINIAN: »Untersuchungen zur Periodisierung der chinesischen Literaturgeschichte« (Zhongguo wenxueshi fenqi zhi yanjiu), in: Xinchao 1 (1919).
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EINFÜHRUNG
odisierung nicht, die sich zwar um Objektivität bemühen mag, dabei jedoch vielfach zu Einseitigkeit neigt und grundsätzlich unterstellt, der Niedergang bestimmter Konventionen und der Aufstieg neuer seien konkret an einem geschichtlichen Wandel festzumachen, wobei meist nicht berücksichtigt wird, daß Konventionen oftmals zeitgleich weiterhin fortbestanden haben.131 Konkret ist diese Schwierigkeit z.B. auch hier wieder an Lu Xuns Kleiner Geschichte nachzuvollziehen, in der die einzelnen bei ihm angeführten Romangenres in einen direkten Bezug zu den Dynastien Ming und Qing gestellt worden sind. Dies wäre allenfalls zulässig gewesen, wenn Lu Xun wie im Falle der bei ihm mit renqing xiaoshuo benannten »Sittenromane« die entsprechenden Entwicklungen innerhalb dieses Genres für die Ming ebenso wie für die Qing beschrieben hätte. Eine ausschließlich für die Ming entworfene Kategorie der »Romane über Götter und Dämonen« (shenmo xiaoshuo), der keine Angaben über entsprechende Vertreter in der Qing-Zeit folgen, legt aber den Eindruck nahe, als sei dieses Genre nach der Dynastiegründung durch die Mandschuren zum Erliegen gekommen, was aber nicht der Fall ist, wie wir noch sehen werden. Im Falle der vorliegenden Arbeit waren wir vielmehr darum bemüht, unter Zugrundelegung eines homogenen Zeitraums sowie zumindest unter Verzicht auf eine strikte Trennung zwischen den beiden Herrscherhäusern (die als solche betrachtet ohnehin nur begrenzt auf die Romanentwicklung einwirkten) die Entwicklungen innerhalb der einzelnen Themen- und Motivkomplexe des Romans aufzuzeigen und dabei die jeweiligen Zeitumstände miteinzubeziehen, wie sie sich etwa in Philosophie, Religion, Beamtenwesen o.ä. äußern,132 um den methodischen Ansprüchen einer literaturhistorischen Untersuchung gerecht zu werden.133 Ein wesentlicher Grundsatz dabei war die zeitliche Abfolge, was im Falle einzelner Problemfelder innerhalb der jeweiligen Themen- und Motivkomplexe hieß, auch hier die chronologische Entwicklung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Damit sind wir bei der Frage der inhaltlichen Organisation des verwendeten Textmaterials angekommen, die angesichts des schieren Umfangs besondere Überlegungen erforderlich machte. Ein vorrangiges Ziel dieser Arbeit war es dabei, den zugrundegelegten Textkorpus möglichst breit anzulegen und neben den in Übersetzungen und Monographien mehr oder weniger gut dokumentierten Werken 131
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Vgl. zu diesem Problemkomplex u.a. TAI-WAI WONG: »Period Style and Periodization. A Survey of Theory and Practice in the Histories of Chinese and European Literature«, in: China and the West: Comparative Literature Studies, hrsg. von WILLIAM TAY, YINGHSIUNG CHOU, HE-HSIANG YUAN, mit einer Einleitung von A. Owen Aldridge, Hongkong: The Chinese UP 1980, S. 45–67. Zur Zusammenstellung eines Katalogs von außerliterarischen Bezügen vgl. auch CLAUDIO GUILLÉN: Literature as System: Essays toward the Theory of Literature, Princeton: Princeton UP 1972, dort speziell der Aufsatz »Second Thoughts on Literary Periods«, S. 420–469. Vgl. dazu die Bemerkungen in der Rezension von FRANK STAHL: »Literatur vs. Geschichte. Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur, München: Scherz-Verlag 1990«, in: Orientierungen 2/1991, S. 155–160.
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Forschungsstand und Methode
auch solche zu erfassen, die bislang überhaupt noch nicht oder nur in sehr geringem Umfang einer Untersuchung für wert befunden worden sind. Auf die spezifischen Probleme bei der Materialbeschaffung werden wir im folgenden Abschnitt »Quellen« hinweisen. Da die Darstellung insbesondere dem Anliegen verpflichtet war, Entwicklungen innerhalb der entworfenen Motiv- und Themenkomplexe aufzuzeigen sowie auf ihre literarische Realisierung hinzuweisen, schloß dies abgesehen von Romanen, die mit anderen in einem motivisch-stofflichen Zusammenhang stehen, gerade auch solche »Epigonen« ein, die sich durch Titel oder Inhalt als bewußte Folgewerke zu bestimmten Vorläufern zu erkennen geben. Wo sich hierbei in Ausnahmefällen wie etwa bei den umfangreichen Fortsetzungen zum Traum der Roten Kammer u.U. eine anderweitige Zuordnung zu den Themenkomplexen hätte rechtfertigen lassen, wurde davon mit Blick auf die Erhaltung der Titel- und Werkhomogenität abgesehen. Aus all diesen Überlegungen ergab sich von vornherein auch die Notwendigkeit, die Darstellungen in möglichst breit angelegten Themenkomplexen vorzunehmen. Grundsätzlich unterliegt jede Untersuchung epischer Textarten dem Zwang, sowohl idealtypisch als auch historisch zu systematisieren. Speziell innerhalb der chinesischen Romangeschichte ist man bei der Suche nach Gattungsbegriffen an gewisse Vorgaben gebunden. Unproblematisch stellen sich in diesem Zusammenhang etwa die »Kriminalromane« (gong'an xiaoshuo) dar, die, wie wir sehen werden, durch entsprechende Titelbezeichnung zumeist bis in die späte Qing-Dynastie hinein klar auf die Tradition innerhalb dieser Gattung abheben. Das gleiche trifft auf die historische yanyi-Literatur bzw. die einfach mit shi (Historie) gekennzeichneten Werke zu. Schwierig wird es jedoch bereits schon wieder dort, wo im Titel mittels Begriffen wie yishi (verlorene Geschichte) oder waishi (inoffizielle Geschichte) zwar noch historische Dimensionen angedeutet werden, der eigentliche Romaninhalt dann aber durchaus nicht mehr mit der Gattung des historischen Romans in Deckung zu bringen ist. Besonders auffällig ist dies im Falle von Wu Jingzis Inoffizieller Geschichte des Gelehrtenwaldes (Rulin waishi). Unbefriedigend auch, was sich in der frühen chinesischen Literaturwissenschaft, die sich mit dem Roman befaßte, an Lösungsansätzen abzeichnete. So leidet etwa Lu Xuns Kleine Geschichte der chinesischen Romandichtung ganz erheblich darunter, daß der Verfasser bei dem Entwurf der Gattungskategorien einerseits auf durch die Geschichtenerzähler überlieferte Bezeichnungen wie etwa die mit dem Vortrag historischer Ereignisse befaßten jiangshi zurückgriff, andererseits jedoch willkürliche und vor allem mit Blick auf den Inhalt formulierte Klassifizierungen vornahm, darunter am seltsamsten die chinesische Variante des »Bildungsromans« (yi xiaoshuo jian caixuezhe), womit nicht etwa auf die innere Entwicklung eines Protagonisten abgehoben wird sondern auf vermeintliche Tendenzen bestimmter Autoren, mittels des Romans ihre umfassende Bildung zu präsentieren. Hierunter faßte Lu Xun zum Beispiel Werke wie die Betrachtungen eines Landmanns (Yesou puyan) oder die Blumen im Spiegel (Jinghuayuan). Zu teilweise noch
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EINFÜHRUNG
viel spitzfindigeren Unterscheidungen als Lu Xun kam Sun Kaidi in seinem 1932 angefertigten Katalog von Werken der populären Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo shumu).134 Wie Lu Xun so wählte auch Sun als oberstes Ordnungsprinzip die Chronologie innerhalb der Dynastienfolge und blieb seinem Vorgänger auch in der Kategorie der historischen Erzählwerke mit der Bezeichnung jiangshi xiaoshuo weitgehend verhaftet. Alles, was an Erzählliteratur jenseits des Historischen angesiedelt ist, unterteilte Sun in weitere Kategorien, die weitgehend inhaltlichen Gesichtspunkten folgten. Besonders kompliziert mutet dabei die Diversifikation der »Liebesromane« (yanfen xiaoshuo) an, für die sich allein fünf Unterabteilungen finden: »Sittenromane« (renqing xiaoshuo, z.B. Jin Ping Mei und Traum), »Bordelliteratur« (xiaxie xiaoshuo, z.B. Blumen aus Shanghai [Haishang hualiezhuan]), »Romane über Talente und Schönheiten« (caizi jiaren xiaoshuo), »Romane über Helden und Heldinnen« (yingxiong ernü xiaoshuo, z.B. Betrachtungen eines Landmanns) sowie »pornographische Romane« (weixie xiaoshuo, z.B. Baumstumpfwald). Sodann wird der Komplex des Mythisch-Phantastischen innerhalb der Kategorie der »Romane über das Übernatürliche« (lingguai xiaoshuo, z.B. Reise in den Westen) erfaßt. Die »Ritter« und »Detektivromane« sind in zwei Klassen (xiayi xiaoshuo bzw. qingcha xiaoshuo) innerhalb der Gruppe shuo gong'an zusammengefaßt. Schwierig nachzuvollziehen schließlich ist der letzte Oberbegriff der »Allegorischen Romane« (fengyu xiaoshuo), worunter Sun die »satirischen Romane« (fengci xiaoshuo, z.B. Die Gelehrten) ebenso faßt wie die »Ermahnenden Romane«(quanjie xiaoshuo, z.B. Laterne an der Wegkreuzung) – die letzte Kategorie übrigens die einzige, die sich an funktionalen Aspekten ausrichtet. Was sich in keiner dieser Gattungen unterbringen ließ, kam bei Sun in eine eigens entworfene Abteilung der »Zweifelsfälle«. Ou Itaï schließlich gelangte in seiner Monographie Roman Chinois zu teilweise ganz ähnlichen Gattungen wie Lu Xun und Sun Kaidi, traf aber mitunter andere Zuordnungen. So wurde der Traum der Roten Kammer nicht wie das Jin Ping Mei den »Sittenromanen« (Roman des mœurs) zugeordnet, sondern als einziger Vertreter der »Sentimentalen Romane« (Romans sentimentaux) angeführt. Für das bei nur oberflächlicher Lektüre zugestandenermaßen schwer einzuordnende Werk Betrachtungen eines Landmanns ebenso wie für Blumen im Spiegel entwarf Ou die kaum nachvollziehbare Gattung der »Prunkromane« (Romans de parade).
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Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf das Kapitel »Erklärungen zur Kategorisierung« (fenlei shuoming) der Neuausgabe Peking: Renmin wenxue 1982, S. 1–6.
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4. Die Problematik der Quellen klassischer chinesischer Romanliteratur Die Frage, der hier nachgegangen werden soll, bezieht sich zunächst auf die schlichte Möglichkeit einer zahlenmäßigen Erfassung von Romanwerken aus der Zeit des kaiserlichen China. Die weitgehende Ausgrenzung des Genres aus dem offiziell sanktionierten Literaturkanon sowie die Probleme mit der Zensur haben neben der Vernichtung einzelner Werke vor allem zu einer großen Streuung der Bücher und Manuskripte in privaten Bibliotheken Chinas sowie später des Auslands geführt, so daß eine Bibliographierung hier von Beginn an nur unter den größten Schwierigkeiten erfolgen konnte. Ungeachtet aller definitorischen Probleme ergibt sich folgendes Bild, wobei vor allem Sun Kaidi (1898–1986) zu Beginn der dreißiger Jahre wichtige Vorarbeiten leistete, auf die man sich auch heute noch bezieht und wo in seinem Katalog von einigen Erzählwerken, die in Tokio eingesehen wurden (Ji ben Dongjing suojian xiaoshuo shumu, 1931) sowie dem Katalog von Werken der populären Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo shumu, 1932) zusammen ca. achthundert Titel genannt werden.135 Die überaus reiche Produktion im Bereich der xiaoshuo zum Ende der Qing-Dynastie würdigte noch im gleichen Jahrzehnt A Ying (1900– 1977) mit einem Katalog der Dramen- und Erzählkunst aus der späten Qing-Zeit (Wan Qing xiqu xiaoshuo mu, 1937), in dem 497 Erzählwerke aufgeführt werden und wo der Autor die Zahl der Romane zu dieser Zeit auf über tausend beziffert.136 Bei den drei vorstehend genannten Bibliographien handelt es sich sozusagen um den Grundstock, auf dessen Basis immer wieder Modifikationen und Erweiterungen vorgenommen worden sind. Sieht man einmal von einschlägigen Nachschlagewerken wie dem Großen Wörterbuch zur chinesischen Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuo da cidian)137, der Enzyklopädie zur klassischen Erzählkunst Chinas (Zhongguo gudai xiaoshuo baike quanshu)138 oder dem Großen enzyklopädischen 135
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Der Katalog von Werken der populären Erzählkunst Chinas wurde immer wieder neu aufgelegt und liegt hier in der Ausgabe Peking: Renmin wenxue 1982 vor. Zu einer kritischen Würdigung der beiden Bibliographien, der dort fehlenden Erzählwerke und Hinweisen auf die methodischen Mängel bei der Zuordnung vgl. u.a. ZHANG YING / CHEN SHU: Neue Untersuchungen zum chinesischen Kapitel-Roman (Zhongguo zhanghui xiaoshuo xin kao), Zhengzhou: Zhongzhou guji 1991, S. 302–320. Der auf Arbeiten und ersten Veröffentlichungen aus dem Jahre 1937 basierende Katalog erschien zum ersten Male im Jahre 1940 und wurde u.a. 1954 in Schanghai (Wenyi lianheVerlag) neu aufgelegt. Hrsg. von HOU JIAN, Peking: Zuojia chubanshe 1991. Hrsg. von einem Verfasserkollektiv gleicher Bezeichnung, Peking: Zhongguo-dabaikequanshu-Verlag 1993.
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EINFÜHRUNG
Wörterbuch der klassischen Erzählkunst (Gudai xiaoshuo baike da cidian)139 ab, in denen mehrere hundert Titel als Romane zu identifizieren sind, so bildet der vom Zentrum für die Erforschung der Erzählkunst aus den Dynastien Ming und Qing sowie der Forschungsabteilung Literatur der Akademie für Sozialwissenschaften in Jiangsu im Jahre 1990 herausgegebene Annotierte Gesamtkatalog zu der volkstümlichen Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo zongmu tiyao) die mit 1164 Titeln bis heute umfangreichste Zusammenstellung der vormodernen Erzähl- und Romankunst Chinas,140 wenngleich auch hier aufgrund der Tatsache, daß sich die über hundert an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler bei ihrer Arbeit ausschließlich auf Bibliotheken Chinas bezogen, immer noch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Die ausführliche, nach streng chronologischen Gesichtspunkten vorgenommene Aufstellung von Werken in der baihua mit Angaben zu den Verfassern, Erscheinungsdatum, verschiedenen Manuskriptversionen, Inhalt und Kapitelübersichten beschränkt sich zwar überwiegend auf diejenigen Romanwerke, die bis 1911/12 erschienen, doch ist auch hier angesichts der Berücksichtigung einzelner auf die Tang- und Song-Zeit datierter bianwen und huaben kein eindeutiges xiaoshuo-Konzept zugrundegelegt worden.141 Wenn man bei einer Statistik der Romankunst nicht wie die Herausgeber des vorstehend genannten Gesamtkatalogs aufgrund der angeführten definitorischen Mängel einen Zeitraum von gut tausend Jahren veranschlagt, sondern kleinere, vor allem an den Dynastien orientierte Zeiteinheiten zugrundelegt und hierbei zu der richtigen Vermutung gelangt, daß Romane erst mit der späten Ming-Zeit vorliegen, erscheinen die Zahlenangaben exakter. Es sei einmal dahingestellt, wie der japanische Sinologe Takayasu Roku im Jahre 1784 in Osaka bei der Aufstellung eines Verzeichnisses über die chinesischen Romane der Ming zu der Zahl von »nicht weniger als einhundertsechzig Titeln« gelangte,142 jedenfalls decken sich seine Angaben in erstaunlichem Maße mit Zählungen, die aufgrund der Biographien Sun Kaidis und des Gesamtkatalogs vorgenommen worden sind und für die Epoche zwischen 1522 und 1644 einhunderteinundvierzig Titel veranschlagen.143 Die bei Huang Ren (1868–1913) in seiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgeleg139 140 141
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Hrsg. von BAI WEIGUO und ZHU SHIZI, Peking: Xueyuan chubanshe 1991. Erschienen in Peking bei Zhongguo wenlian chuban gongsi. Das Konzept der Herausgeber wird abgerundet durch den Umstand, daß man keine Romanübersetzungen aus Fremdsprachen berücksichtigte, wohl aber eine geringe Zahl von Werken diverser Autoren des »großchinesischen Reiches« aufnahm, die nicht der HanNationalität angehörten, sondern aus Tibet und der Mongolei stammten. Vgl. die Angaben im Nachwort zu »Kin Ping Meh« oder die abenteuerliche Geschichte von Hsi Men und seinen sechs Frauen, aus dem Chinesischen von FRANZ KUHN, Wiesbaden: Insel 1950, S. 905. Vgl. die Tabelle S. 3 bei CHEN DAKANG: Historische Entwicklungslinie der volkstümlichen Romane (Tongsu xiaoshuode lishi guiji), durchgesehen von Guo Yushi, Changsha: Hu'nan chubanshe 1993.
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Die Problematik der Quellen klassischer chinesischer Romanliteratur
ten Geschichte der chinesischen Literatur (Zhongguo wenxueshi) genannte Zahl von vierhundert Kapitelromanen, die während der Ming-Dynastie erschienen sein sollen, erscheint somit wesentlich zu hoch veranschlagt und ist u.U. nur durch Berücksichtigung verschiedener Manuskriptversionen ein und desselben Romans zu erklären.144 Zumindest für das knappe erste Jahrhundert der mandschurischen Dynastie (die Zählung umfaßt hier den Zeitraum 1646–1735) bleibt die Romanproduktion mit einhundertdreiundvierzig Werken im Vergleich mit dem bezeichneten Zeitraum Ende der Ming nahezu ausgeglichen.145 Unter Berücksichtigung einer seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt betriebenen Romanproduktion, die nicht zuletzt durch die Anfertigung von Folgewerken zu beliebten Ausgangsromanen wie dem Traum der Roten Kammer oder dem Kriminalroman und den Romanen über »Talente und Schönheiten« angeheizt wurde und in der man vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere thematisch neue Akzente setzte, dürften wir nach eigenen groben Schätzungen mit etwa eintausendzweihundert bis eintausenddreihundert Titeln, die zwischen 1522 und 1911 erschienen, in etwa die richtige Zahl getroffen haben.146 Zum Schluß dieser Einleitung ein Hinweis auf die zugrundegelegten Textversionen: Wie weiter oben bereits bemerkt wurde, führte die in der chinesischen Kaiserzeit verordnete Nichtbeachtung der Romankunst dazu, daß anders als in den übrigen literarischen Bereichen keine offiziellen Bücherkollektionen (congshu) dazu angelegt wurden, die Werke also meist nur in einzelnen Drucken und Manuskripten kursierten, was eine Bearbeitung in späteren Zeiten erheblich erschwerte. Nachdrucke bzw. mit editorischen Anmerkungen versehene kritische Neudrucke, die einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurden, sind zwar für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts belegbar, beziehen sich aber gewöhnlich auch nur wieder auf die bekanntesten und beliebtesten unter den Romanen. Der in Peking angesiedelte Huaxia-Verlag hat zu Beginn der 90er Jahre damit begonnen, in mehreren Serien über hundert Werke der klassischen chinesischen Erzählkunst herauszugeben, was gemeinsam mit der mehr als fünfzig Titel umfassenden Reihe Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas (Zhongguo lidai jinhui xiaoshuo), die seit 1994/95 im Shuang-di-guoji-Verlag in Taipeh erschienen ist und vor allem die wichtigsten der ansonsten schwer zugänglichen erotischen Romane umfaßt, eine sichere Grundlage für den Forscher bildet, der die umfangreiche Lektüre nicht alleine in Bibliotheken bewerkstelligen kann. 144
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Vgl. zu diesen Angaben ZHANG YING / CHEN SHU: Neue Untersuchungen zum chinesischen Kapitel-Roman, S. 310. S. dazu ebenfalls die Tabelle S. 3 bei CHEN DAKANG: Historische Entwicklungslinie der volkstümlichen Romane. Wohlgemerkt sind hiermit einzelne als eigenständige Werke identifizierbare Romane gemeint und nicht etwa unterschiedliche Manuskriptversionen, gekürzte Fassungen o.ä.
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EINFÜHRUNG
Für die Einstellung in Institutsbibliotheken sind dagegen zwei Sammlungen geeignet, die sich bewusst als Ergänzung zu den traditionellen Bücherkollektionen verstehen und diesem Charakter durch den Umstand Rechnung tragen, daß es sich um Nachdrucke weltweit in den Bibliotheken oder in Privatbesitz befindlicher Manuskripte chinesischer Erzählkunst handelt. So publizierte der Pekinger Zhonghuashuju-Verlag zwischen 1988 und 1991 bislang in zwei Serien über vierhundert Titel unter der Bezeichnung Kollektion klassischer Ausgaben von Werken der Erzählkunst (Guben xiaoshuo congkan), gefolgt von dem Shanghaier Guji-Verlag, der in dem Zeitraum von 1990 bis 1994 fünfhundertdreißig Titel der Erzählkunst aus der Song- bis zur Qing-Dynastie herausbrachte (Sammlung klassischer Ausgaben von Werken der Erzählkunst [Guben xiaoshuo jicheng]).
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Teil II Die Welt der Mächtigen
1. Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas
Wie sollten ohne Phantasie und Spekulation Fakten zueinanderfinden, wie verflossenes Geschehen in einer sich der Vergangenheit erinnernden Gegenwart aufgefunden werden? Nichts macht sich selbst zum Faktum, alle Geschichte bedarf des schöpferischen Aktes eines Historikers. (Johannes Fried)
Wohl kaum ein Volk hat einen so umfangreichen Korpus von Schriften mit geschichtlichen Themen und Bezügen hervorgebracht wie das chinesische. Neben dem Thema Liebe spielen historische Stoffe sowohl in der Erzähl- wie auch in der Bühnenliteratur eine herausragende Rolle. In der Einleitung haben wir auf die Bedeutung der Geschichtsschreibung als wesentliches Modell für den frühen Roman in China hingewiesen und wollen daher an dieser Stelle zunächst die naturgemäß noch viel engeren Beziehungen zwischen der historisch ausgerichteten Erzählkunst und der überlieferten Historiographie näher betrachten. Bekanntlich entwickelte sich die chinesische Geschichtsschreibung, welche in ihrer formativen Periode bereits auf die Zeit zwischen dem 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. zurückgeht, in der Fortsetzung des Mythos.147 Die chinesischen Gottheiten traten gewöhnlich als historische Herrschergestalten auf, womit dem Priester neben seinem Dienst zur Verehrung der Gottheit gleichzeitig die Rolle des Chronisten zufiel. Wir wollen hier auf diese Fragen nicht weiter eingehen, doch hat der mit der Zeit herausgebildete Chronik-Stil gerade für die eigentlich ihm zukommenden Bereiche – gemeint sind hier die »Reichsgeschichten« – großen Einfluß auch auf die übrigen Textformen ausgeübt, welche sich mit der Geschichte in welcher Weise auch immer befaßten. Neben der additiven Natur, die den Darstellungen in den Annalen zugrundeliegt, kennzeichnet diese darüber hinaus ein moralisch-belehrender Ton, wie er auch noch in den sich später herausbildenden historischen Romanen zu vernehmen ist. Es war Sima Qian (145?–90? v. Chr.), der mit seinen Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji)148 das Paradigma für die später von beamteten Historikern 147
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ROLF TRAUZETTEL: »Die chinesische Geschichtsschreibung«, in: Ostasiatische Literaturen, hrsg. v. GÜNTHER DEBON, Wiesbaden: Aula-Verlag 1984, S. 77–89 (= Bd. 23 Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. v. KLAUS VON SEE). Liegt in ausgewählter Übersetzung u.a. vor als Records of the Historian, übers. von YANG HSIEN-YI und GLADYS YANG, Peking: Foreign Languages Press 1979.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
verfaßten offiziellen Dynastiegeschichten (zhengshi) geschaffen hat, die schließlich während der Qing-Dynastie (1644–1911) in vierundzwanzig Werken standardisiert und von Kaiser Qian Long (reg. 1736–1796) in einem Korpus zusammengefaßt wurden.149 Neben diesen freilich in ihrer Darstellung recht trockenen Quellen der historischen Romane sind an schriftlich überlieferten Werken etwa solche wie die Überlieferung des Zuo (Zuozhuan) zu nennen, die in ihrem erzählerischen Ansatz bereits Alternativen zum Stil der Chroniken aufzeigen und als frühe Vorläufer des Romans nicht wegzudenken sind.150 Man wird in der chinesischen Geschichtsschreibung und den sich daraus entwickelnden historischen Romanen vergeblich nach etwas wie einer historischen Wahrheit suchen, die sich aus einem Ermittlungsprozeß ergibt. Es ist schwierig, für den Wahrheitsanspruch in der chinesischen Geschichtsschreibung philosophischwissenschaftlich fundierte Grundlagen zu finden. Aufgabe des Historikers war es, die angenommenen Wahrheiten in einen angemessenen Wortlaut zu kleiden.151 So lag der chinesischen Geschichtsauffassung das Konzept eines zyklischen Wandels zugrunde, in dem Wahrheit und Unwahrheit, Gutes und Böses, Ordnung und Unordnung einander stets abwechselten. Die Vorstellung von den dynastischen Zyklen ging dabei zurück auf die überlieferte Beobachtung der in der Natur stattfindenden Wechsel, insbesondere der vier Jahreszeiten. Die Herrschaftslegitimation über das Reich kam allein dem zu, der das Mandat des Himmels erhalten hatte und damit der »Sohn des Himmels« war. In der Erzählliteratur mit ihren vielfältigen Ausdrucksformen billigte man gerade den Dynastiegründern aus geringen Verhältnissen zur Herleitung ihres Anspruchs auf die Herrschaft eine göttliche Geburt zu – so geschehen etwa in dem Roman Die Helden (Yingliezhuan), wo von Zhu Yuanzhang (1328–1398), dem Gründer der Ming (1368–1644), die Rede ist. Während die offizielle Geschichtsschreibung in der Lage war, die gegebenen Machtverhältnisse im Reich teilnahmslos nachzuzeichnen,152 tat man sich in den Romanen schwerer, wie am Beispiel der Historischen Erzählung von den Drei Reichen (Sanguo yanyi) gut nachzuvollziehen ist: War der »amtlichen« Auffassung zufolge das Reich Wei (220–265) unter Cao Cao bzw. seinem Sproß Cao Pi der 149
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Darüber hinaus gab es die sogenannten yeshi, d.h. eine inoffizielle Geschichtsschreibung, womit private Aufzeichnungen und einzelne kleinere Arbeiten zu Personen und Ereignissen vergangener Zeiten gemeint waren. Auch dieses Werk liegt in ausgewählter Übersetzung vor: The Tso Chuan. Selections from China's Oldest Narrative History, übers. von BURTON WATSON, New York: Columbia UP 1989. Einen ersten Überblick über die Themen des Historischen bietet im übrigen der entsprechende Abschnitt in JACQUES PIMPANEAU: Histoire de la Litterature Chinoise, Paris: Éditions Philippe Picquier 1989, S. 336–361. Vgl. dazu TRAUZETTEL: »Die chinesische Geschichtsschreibung«, S. 79. Zu diesem Problem vgl. die Graphik bei SHELLEY HSUEH-LUN CHANG: History and Legend. Ideas and Images in the Ming Historical Novels, Ann Arbor: The University of Michigan Press 1990, S. 43
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legitime Nachfolger der untergegangenen Han (206 v. Chr.–220 n. Chr.), galten die Sympathien im Roman ganz eindeutig dem Staate Shu (221–263) unter Liu Bei, einem Abkömmling der Han. Zweifelsohne genügt es nicht, wenn eine Erzählung lediglich Vergangenes referiert. Von einem historischen Roman kann nur gesprochen werden, wenn er die geschichtlichen Ereignisse in die Struktur der Handlung einbaut.153 Andererseits gehört es jedoch genauso zum Wesen des historischen Erzählwerks, daß seine Botschaft meist noch vor der geschichtlichen Genauigkeit rangiert. Nur das Notwendigste an geschichtlicher Information wird gegeben, man reißt Probleme lediglich an, vertieft sie nicht. Ein Autor historischer Romane ist nur insofern freier als der Historiker, als er Figuren und Fakten erfinden kann. Umstände und Bedingungen müssen aber plausibel sein, erhebt der Autor doch stets den Anspruch, eine Totalität zu vergegenwärtigen. Wieviel Spielraum sich der Darstellung des Historischen dennoch bietet, werden wir weiter unten aufzeigen. Mit Hilfe der hier genannten Definition lassen sich zumindest einige Werke ausschließen, die eine zu geringe historische Basis aufweisen, um dem in diesem Abschnitt behandelten Genre zugerechnet zu werden. Bestimmte Anhaltspunkte bei der Suche nach dem historischen Roman bietet auch die chinesische Literatur selbst, insbesondere durch die Titel der betreffenden Werke. So geben die Bezeichnungen yanyi, zhi, zhizhuan, liezhuan oder einfach zhuan einen ersten Hinweis darauf, daß es sich um ein historisches Werk handeln kann. Allerdings lohnt es sich, einen genaueren Blick zu tun. Klassische historische Romane werden gemeinhin im Titel mit yanyi (wörtl. »Darstellung«) gekennzeichnet. Der Begriff tauchte zum ersten Mal während der Jin-Dynastie (1115–1234) in einem fu-Gedicht des Fan Yue mit dem Titel »Der Westfeldzug« (Xizheng) auf und bedeutete dort soviel wie »alte Begebenheiten«. In den Erzählwerken späterer Zeit findet er sich häufig zusammen mit der Bezeichnung tongsu (populär), um die Popularisierung dieser Form der Schilderung geschichtlicher Ereignisse anzudeuten. Dennoch ist yanyi kein eindeutiges Indiz für den historischen Roman, wird es doch in Wahrheit auch vielen Werken angehängt, die nicht unter dieses Genre fallen, ja selbst nicht-fiktionale Werke haben dieses Element mitunter in ihrem Titel.154 Die Bezeichnung zhi (Aufzeichnung, Annalen) bzw. zhizhuan (Aufzeichnung, oft übersetzt als »popularisierte Chronik«) weist zumindest formal-inhaltlich, weniger sprachlich, eine große Nähe zur offiziellen Geschichtsschreibung auf,155 während liezhuan (meist übersetzt mit »Biographie«) bereits in den Aufzeichnungen 153
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Diese Definition stammt von Y.W. MA: »The Chinese Historical Novel: An Outline of Themes and Contexts«, in: Journal of Asian Studies, Feb. 1975, Bd. XXXIV, Nr. 2, S. 278. Ebd., Anm. 4. Beide Begriffe finden sich bereits bei Sima Qian bzw. im Hanshu. Zhuan bezeichnet den Bericht oder die Biographie, wohingegen zhi in der Bedeutung »Monographie« oder »historischer Essay« steht.
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des Sima Qian auftaucht und dort eine der fünf Sektionen bezeichnet, in die das Buch unterteilt ist. Die liezhuan bzw. einfach nur zhuan bezeichnen aber nicht unbedingt nur die Biographie einer einzelnen Person, sondern fassen summarisch auch das Leben und die Verfassung von Gruppen, Bevölkerungsstämmen etc. zusammen. Bei der Bedeutung, die man der Geschichtsschreibung in China zumaß, nimmt es nicht wunder, daß sich viele historische Romane inhaltlich am Geist historiographischer Vorlagen orientierten. Bei den Protagonisten handelt es sich meist um Dynastiegründer, ihre Berater und die Kriegshelden. Die Menschen muß wohl die Vorstellung fasziniert haben, wie man zum Herrscher wird. Besonders das Thema des »schwachen letzten Herrschers« hat die Autoren immer wieder in ihren Bann gezogen. Verkörpert wird diese Figur des hunjun, das heißt des Herrschers ohne eigenen Willen und ausreichendes Durchsetzungsvermögen, der sich Ausschweifungen hingibt und dabei leichtfertig die Verdienste ihm treu ergebener Helden vergißt, in der Geschichte durch den letzten Kaiser der Shang-Dynastie (ca. 16. Jhr. v. Chr.–11. Jhr. v. Chr.), König Zhou, sowie den Kaiser Yangdi der ohnehin kurzlebigen Sui-Dynastie (581–618). Mit größerer Sympathie wurde lediglich der letzte Ming-Kaiser, Chongzhen (1628–1644), bedacht. Zahlreiche fiktionale Werke befassen sich mit seinem tragischen Tod.156 Die obenstehenden Ausführungen haben bereits einen kurzen Hinweis auf Themen gegeben, die in den historischen Romanen Chinas behandelt wurden. Folgende Schwerpunkte bildeten sich dabei heraus: Der größte Teil der historischen Romane dürfte sich mit dem Aufstieg und dem Fall von Dynastien befassen, wobei dann eingegangen wurde auf die Zeit des Interregnums, die Auseinandersetzungen während der Gründungsphase, territoriale Ausweitung, Blüte und Niedergang. Diese Form des historischen Romans konnte sich wie im Falle der Geschichte der Drei Reiche (Sanguo yanyi) bzw. der Geschichte der Sui und Tang (Sui Tang yanyi) auf ein oder zwei Dynastien beziehen oder aber in geraffterer Art und Weise wie bei der Geschichte der Staaten der Östlichen Zhou zur Darstellung ähnlich einer allgemeinen Geschichte Chinas (zumindest während einer längeren Periode über mehrere Jahrhunderte hinweg) werden.157 Gerade die Umstände der Gründung eines Herrscherhauses haben die Verfasser historischer Romane immer wieder in ihren Bann gezogen, so daß sich einzelne Werke ausschließlich diesem 156
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So u.a. der kurze historische Roman Jiao chuang tongsu xiaoshuo in zehn Kapiteln, verfaßt im Jahre 1645. Aus den historischen Persönlichkeiten, die im Kampf um die Gründung einer Dynastie unterlagen, sind literarisch nur zwei Helden erwachsen: Xiang Yu, dessen Bild vor allem von Sima Qian bestimmt wird, und Liu Bei, der Held in den Drei Reichen. Es gibt gar ein ehrgeiziges Werk, das sich die Darstellung aller chinesischen Kaiserdynastien zum Ziel gesetzt hat, nämlich die Populäre Darstellung über die vierundzwanzig Dynastien (Ershisi shi tongsu yanyi) in vierundvierzig Kapiteln aus der Feder eines gewissen Lü Fu mit einem Vorwort, das auf das Jahr 1727 datiert.
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Themenkomplex widmeten.158 Genannt sei hier etwa die Vollständige Erzählung über den fliegenden Drachen (Feilong quanzhuan), die sich mit Zhao Kuangyin, dem Gründer der Song befaßt. Genausogut konnte ein Werk sich aber schwerpunktmäßig mit der Niedergangsphase einer Dynastie auseinandersetzen, wie die Darstellung über den Niedergang der Tang und die Fünf Dynastien (Can Tang Wu dai shi) beweist. In das Zentrum des Romans ließen sich aber daneben genausogut Leben und Werdegang einer einzelnen historischen Person bzw. Familie rücken (als Beispiele seien hier der Historische Roman über die Familie Yang [Yangjiafu yanyi] und Die leuchtende Perle [Mingzhuyuan] über den Eunuchen Wei Zhongxian aus dem Ende der Ming-Zeit genannt)159 Wir werden die Fragen der Verfasserschaft von historischen Romanen im folgenden im Zusammenhang mit den einzelnen Werken behandeln. Vieles bleibt dabei wie bei den meisten Beispielen der frühen chinesischen Romanliteratur im dunkeln. Die Quellen, auf die sich Autoren bei der Niederschrift der Romane bezogen, sind nicht selten obskur. Gerade im Falle bereits verschollener Texte bzw. solcher, die nur wenigen Gelehrten zugänglich waren, ist es schwierig, die Originalität des Dargestellten nachzuvollziehen. Selbst die Rolle Luo Guanzhongs als Autor der Erzählung über die Drei Reiche ist nicht ganz sicher. Gerade bei großen historischen Romanen wie den Drei Reichen, die eine lange Entwicklung bis hin zum fertigen Roman durchlaufen haben, sollte am ehesten von einer zusammengesetzten Verfasserschaft gesprochen und nicht von einzelnen Autoren ausgegangen werden.160 So schwierig es um die Feststellung der Verfasserschaft historischer Romane bestellt sein mag, immerhin ist der Name eines Mannes aus dem 16. Jahrhundert erhalten, der als früher Vertreter dieses Genres gilt. Xiong Damu, der während der Jiajing-Zeit (1547–1566) lebte und mit richtigem Namen wohl Xiong Fuzhen geheißen haben dürfte (»Damu« war demnach sein Pseudonym),161 gilt als Verfasser mehrerer einschlägiger Werke, von denen die frühesten aus den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts stammen: Bericht über die Helden aus der Zeit des Aufstiegs und Niedergangs der Song (Da Song zhongxing 158
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Zu solchen Kriegs- oder Militärromanen vgl. etwa »Vollständige Erzählungen über Yue Fei« (Shuo yue quan zhuan). Siehe dazu C.T. HSIA:»The Military Romance: A Genre of Chinese Fiction«, in: Studies in Chinese Literature, hrsg. von CYRIL BIRCH, Berkely: University of California Press 1974, S. 339–390. Zu den hier beschriebenen Einteilungskriterien für den historischen Roman siehe vor allem SUN KAIDI: Katalog der umgangssprachlichen Geschichten in China (Zhongguo tongsu xiaoshuo shumu), Peking: Renmin wenxue 1982, S. 4–6; MA: »The Chinese Historical Novel«, S.280–285. Als Beispiele seien hier nur die Stoffe der Mengjiangnü oder etwa der Acht Unsterblichen angeführt. Vgl. dazu die Ergebnisse der Untersuchungen von CHEN DAKANG: Historische Entwicklungslinie der volkstümlichen Romane (Tongsu xiaoshuo de lishi guiji), durchgesehen von Guo Yushi, Changsha: Hu'nan chubanshe 1993, S. 101ff.
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yingliezhuan, 1552) und Populäre Erzählung über die Erzählungen aus dem Buch der Tang (Tangshu zhizhuan tongsu yanyi, 1553). Die übrigen historischen Werke stammen aus einer späteren Periode, der Wanli-Zeit (1573–1620): Bericht über die Han-Dynastie (Quan Han zhizhuan, 1588) und Bericht über die Nördliche und Südliche Song-Dynastie (Nanbei liang Song zhizhuan, 1593). Die Werke erschienen alle in Xiongs Heimatstadt Jianyang (Provinz Fujian), vor allem bei den ortsansässigen Druckereien der Familien Yu und Yang. Als Herausgeber popularisierter Geschichtswerke taten sich insbesondere die Yus in der Zeit der Wanli- und Chongzhen-Periode (also etwa in den letzten siebzig Jahren bis zum Sturz der Ming 1644) hervor. Neben den Werken Xiong Damus gaben sie eine Reihe historischer Erzählliteratur heraus, angefangen von der Erzählung über die Drei Reiche (Sanguo zhi yanyi) über die Erzählung von der Östlichen und Westlichen Jin (Dong Xi Jin zhizhuan) bis hin zu den Helden (Yingliezhuan). Mit dem Bericht über die Dynastien (Lieguo zhizhuan) legten sie allerdings auch ein eigenes Werk vor. Waren es zunächst noch einzelne Autoren und Herausgeber, die sich an die Veröffentlichung eines historischen Romans wagten, so nahmen sich mit der Zeit immer mehr Personen dieser Themen an, wurden Stoffe wiederaufgegriffen, umgeschrieben und erweitert. Früh begann man auch, Lücken in der Darstellung der historischen Epochen zu füllen. Angefangen bei den mythischen Urzeiten chinesischer Geschichte (etwa in der Erzählung über die Zeit von Pangu bis zu Yao und Shun [Pangu zhi Tang Yu zhuan]) bis hin zu Jiao chuang, dem Werk über den letzten MingKaiser, blieb keine Epoche unerwähnt162 – mit zwei Ausnahmen jedoch: Es fehlen romanhafte Darstellungen der historischen Perioden der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420–589) und der Yuan-Dynastie (1260–1368). In beiden Fällen liegt vermutlich die Annahme »dunkler Zeitalter« zugrunde, manifestiert einmal in der furchtbaren politischen Zerrissenheit des Reiches und im anderen Fall in der Fremdherrschaft durch die Mongolen.163 Dennoch war die Geschichtsschreibung durch die historischen Romane gegen 1620 im wesentlichen bereits abgeschlossen. Es fällt auf, daß eine ganze Anzahl historischer Romane in relativ schneller Reihenfolge angefertigt wurde. Allein zwischen 1604 und 1617 erschienen zwölf Werke, darunter auch Fortsetzungen solcher Bücher, die sich offenbar gewisser Beliebtheit erfreuten, wie die Fortsetzung der Helden (Xu yingliezhuan) zeigt, die zwischen
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Zu einer Übersicht über die einzelnen Romane und die Dynastien, welche darin abgehandelt werden, s. CHANG: History and Legend, S. 19f. Im übrigen kommt Cai Dongfan das Verdienst zu, sich während der Zeit der chinesischen Republik (1911–1949) um eine umgangssprachliche Neufassung der historischen Romane in vierundvierzig Bänden bemüht zu haben. (Vgl. CAI DONGFAN: Volkstümliche Darstellung der Dynastien [Lichao tongsu yanyi], Reprint in Hongkong: Wenkuang shuju 1956.) Die Bedenken, die im letzteren der beiden Fälle vorgebracht wurden, waren durchaus nicht neu, ging doch seinerzeit auch der Abfassung der Annalen der Fremddynastien Liao (937– 1125) und Jin (1115–1234) ein heftiger Streit unter den Gelehrten voraus.
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1603 und 1613 unter dem Pseudonym »Gonggu laoren« erschien. Damit drohte dem Genre der Stoff auszugehen. Einzelne Autoren gingen daher dazu über, Geschichten über frühere Dynastien neu zu schreiben. Zhen Wei etwa brachte in einem auf 1613 datierten Vorwort seine Unzufriedenheit über die Ausarbeitung des Konfliktes zwischen Han und Chu in Xiong Damus Vollständiger Erzählung über die Han-Dynastie (Quan Han zhizhuan) zum Ausdruck und verfaßte eine neue Version der Ereignisse unter dem Titel Historische Erzählung über die Westlichen Han (Xi Han tongsu yanyi). Der 1605 anonym verfaßte Roman Historische Aufzeichnungen über Blüte und Niedergang der beiden Han-Dynastien (Liang Han kai guo zhongxing chuanzhi) war Anlaß für Xie Zhao, die geschichtlichen Begebenheiten in einer neuen Fassung unter dem Titel Historische Erzählung über die zwölf Kaiser der Östlichen Han (Dong Han shi'er di tongsu yanyi) vorzulegen, wobei das genaue Erscheinungsdatum dieses Werkes unbekannt ist. Der drohende Stoffmangel zwang die Verfasser außerdem, zeitlich näherliegende Ereignisse zu beachten und die Wege der klassischen yanyi-Literatur, die sich vornehmlich mit weit zurückliegenden Epochen befaßt hatte, zu verlassen. Ein Beispiel ist »Xizhenzhais« hundert Kapitel umfassender Roman Die erfolgreiche Befriedung von Bozhou (Zhengbo zoujie zhuan tongsu yanyi) aus dem Jahre 1603, in dem über den Aufstand Yang Yinglongs in Yangzhou berichtet wird, der 1601 niedergeschlagen wurde. Damit jedoch war dem Zeitgeschehen der Weg zu einer Würdigung in den historischen Romanen geebnet, wobei sich die Autoren vor allem auf eine Reihe von Ereignissen konzentrierten, die die Geschicke der letzten zwanzig Jahre der Ming-Dynastie bestimmten: die Auseinandersetzung zwischen der Donglin-Partei und der Beamtenschaft bei Hofe, endend mit dem Tod des Eunuchen Wei Zhongxian; Bauernaufstände und der zunehmende Machtzuwachs der Mandschuren. Die Geschwindigkeit, mit der die Werke in der Folge der ihnen zugrundeliegenden Zeitereignisse erschienen, ist beachtlich. So berichtet etwa der 1624/1625 von einem unbekannten Verfasser angefertigte und heute bereits nicht mehr existente Roman Erzählung über den Nordosten (Liaodong zhuan) von dem 1621/1622 erfolgten Einfall der Dschurdschen in Nordostchina und wurde demnach in unmittelbarer Folge dieser Vorfälle geschrieben. Noch schneller rezipierte man in der Literatur den Stoff um Wei Zhongxian, der sich 1628 erhängt hatte und auf den wir weiter unten in dem zentralen Roman dieses Komplexes noch zu sprechen kommen werden. Die Anfertigung dieser in unmittelbarer Folge bestimmter historischer Vorkommnisse vorgelegten Erzählwerke machte eine vollkommen neue Arbeitsweise erforderlich, die in ähnlicher Form auch zum Ende der Qing-Dynastie zur Anwendung kam, da man sich neben der Verarbeitung im Umlauf befindlicher Anekdoten vornehmlich auf Schilderungen in den damals kursierenden amtlichen Zeitungen u.ä. Publikationen stützen mußte. Da deren Verbreitung jedoch begrenzt war, kam den Romanen über zeithistorische Begebenheiten wie Kriege und hofinterne Intrigen eine besondere Bedeutung bei der Verbreitung von Wissen darüber zu – dies umso mehr, als sich z.B. zu der Gestalt
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Wei Zhongxians keine Angaben in den offiziellen Ming-Annalen finden. Die konkreten Quellen, derer sich diese Zeitromane bedienten, waren also wesentlich verschieden von denen des eigentlichen historischen Romans, was denn auch von den Autoren selbst so gesehen wurde, die damit eine ganz neue Tradition begründeten. In den letzten Jahren der Ming schließlich wurden auch die noch bestehenden zeitlichen Lücken des historischen Romans in bezug auf die Ereignisse über die Dynastien der mythischen Urkaiser gefüllt. So entstanden in der Chongzhen-Ära (1628–1644) Werke wie die bereits erwähnte Erzählung über die Zeit von Pangu bis Yao und Shun, Historische Erzählung über die Xia-Dynastie (You Xia zhizhuan), Historische Erzählung über die Shang-Dynastie (You Shang zhizhuan) oder Volkstümliche Erzählung über die Urzeiten (Kaipi yanyi tongsu zhizhuan). Streng genommen handelt es sich hierbei um mythische Werke, da gesicherte historische Grundlagen in Gänze fehlen. Als Bezüge dienten vielmehr Darstellungen in Werken wie dem Klassiker der Berge und Meere (Shanhaijing). Insgesamt dürfte die vage Quellenlage für die Darstellung historisch nicht mehr faßbarer Zeiten auch den Verfassern der Bücher selbst gewärtig gewesen sein. So hatte man sich zum Beispiel in der Historischen Erzählung über die Shang-Dynastie zwar die Zeit der Shang-Herrschaft (1600–1000 v. Chr.) zum Thema genommen, beschrieb aber zu drei Vierteln Ereignisse um den letzten Kaiser Zhou dieser Dynastie und griff dabei auf Materialien zurück, wie sie bereits im »Volksbuch über den Feldzug des Königs Wu gegen die Zhou« (Wuwang fa Zhou pinghua) vorlagen. In den ersten Jahrzehnten der Qing-Herrschaft lebte das Genre des historischen Romans noch eine Weile fort, doch waren auch hier angesichts der Zeiten des Umbruchs vor allem unruhige Epochen als Themen von Interesse. Nicht zu verkennen auch die Tendenz, bereits vorliegende Abschnitte aus der Geschichte neu zu schreiben bzw. zu erweitern, wie wir das weiter unten im Zusammenhang mit einigen Werken über die Dynastien der Sui und der Tang noch ausführlicher behandeln werden. Hinzu kam, daß die Verfasser historischer Romane auch insofern neue Wege beschritten, als sie mehr und mehr die Würdigung ganzer Dynastiegeschichten in ihren Werken aufgaben und sich vielmehr auf bestimmte historische Persönlichkeiten konzentrierten, womit sich die Möglichkeit ergab, neben der Berücksichtigung geschichtlichen Materials auch die eigene Sicht stärker einzubringen. Die Räuber vom Liangshan-Moor boten hier ein gutes Vorbild. Es handelt sich hier wohlgemerkt nicht um eine Entwicklung in der Folge des eigentlichen historischen Romans, vielmehr hat die wesentlich von den Räubern beeinflußte Literatur des Abenteuerromans, die wir in einem gesonderten Abschnitt vorstellen wollen, parallel zu den fiktionalisierten Historien im Gefolge der Drei Reiche bestanden. Dennoch änderte sich der Ton und die Ausgestaltung in der QingDynastie ganz merklich. Mit ihrem Hang zum Sensationellen und Reißerischen wurden die Abenteuerromane im Laufe der Zeit von den »Ritterromanen« (wuxia xiaoshuo) bzw. den »Kriminalromanen« (gong'an xiaoshuo) abgelöst, wobei man
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auch hier zunächst auf eine Reihe bereits in kürzerer Erzählform vorliegender Stoffe rekurrierte. Auch diese beiden Romanformen werden uns weiter unten noch stärker beschäftigen, was nicht zuletzt durch die Tatsache gerechtfertigt scheint, daß zumindest das Genre des Ritterromans sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreut – ein Indiz immerhin für die Bedeutung, die man dem Militärischen zumindest in der Unterhaltung zumaß, wissen wir doch, daß der chinesische Kriegsmann dem zivilen Beamten in seinem Status stets nachgeordnet war (»Gutes Eisen verschwendet man nicht für einen Nagel, einen ordentlichen Mann läßt man nicht Soldat werden«). Als anspruchsvolle Literatur besonders für die Gelehrten mochten diese Werke freilich nicht gelten. Beide Romantypen, der Ritter- wie der Kriminalroman, wirken mit ihrer thematischen Beschränktheit überaus stereotyp. Es trifft sie weniger der Vorwurf, dem historischen Anspruch nicht gerecht geworden zu sein, als vielmehr der, die Möglichkeiten als Roman nicht ausreichend genutzt zu haben. Die historische Grundlage wird in diesen Werken ähnlich dünn wie bei Scott oder Dumas. Auch die poetologischen Grundlagen für den historiographischen Roman änderten sich zum Ende der Qing-Dynastie ganz erheblich. Spätestens Wu Woyao (1866–1910) durchbrach mit seinen Bemerkungen die von der traditionellen Geschichtsschreibung beanspruchte Vorherrschaft über die historischen Romane und wollte diese in einem konkret pädagogischen Sinne verstanden wissen, wenn er betonte: »Wer gestern ein Werk der offiziellen Geschichtsschreibung las und nichts verstand, der mag die [historischen] Romane aus der Gegenwart lesen, und er wird mit den Ereignissen so vertraut, als habe er selbst an den Vorgängen teilgehabt.«164 Damit gerieten jedoch auch Klassiker des historischen Romans wie die Drei Reiche auf den Prüfstand, die Wu als unverständlich anprangerte mit dem Argument, nur die Gelehrten hätten hier einen Zugang gefunden. In das Zentrum seiner Forderungen geriet dagegen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Mediatisierung der Erzählkunst die Forderung, ein historischer Roman müsse belehren können, indem er die Ereignisse der Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar mache (jie gu jian jin). Ähnlich formulierte das Zhang Taiyan 1906 im Vorwort zur Historischen Erzählung über Hong Xiuquan (Hong Xiuquan yanyi). Zhang griff bei seinen Ausführungen weit zurück, wenn er die Ursprünge fiktionalisierter Geschichte bereits in der Zhanguo-Zeit (475–221 v. Chr.) ansiedelte. Für Zhang Taiyan war fiktionalisierte Geschichte das ideale Lehr- und Unterhaltungsmedium schlechthin, bot sich doch dem Verfasser die Möglichkeit, mittels anschaulicher Ausführungen, Anekdoten etc. eine bestimmte historische Sicht zu vermitteln. Mit Hilfe des historischen Romans würden »selbst Frauen
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Wu Woyao in der Schrift »Vorwort zu den historischen Romanen« (Lishi xiaoshuo xu), hier zit. nach FANG ZHENGYAO: Geschichtlicher Abriß der chinesischen Erzählkritik (Zhongguo xiaoshuo piping shilüe), Verlag Zhongguo shehui kexue 1990, S. 267.
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und Kinder aus Bauernfamilien« in die Lage versetzt, Einblicke in die Dynastienfolge sowie das Leben der Minister und Menschen bei Hofe seit frühestenZeiten zu gewinnen.165
1.1 Die geteilte Herrschaft Keiner der historischen Romane hat auf die folgenden Werke dieses Genres so viel Einfluß genommen wie die Drei Reiche, wohl der erste Roman in der chinesischen Literatur überhaupt. Das Werk deckt die Periode zwischen dem Zusammenbruch der Han- und der Gründung der Jin-Dynastie ab, also etwa den Zeitraum 168–265, als sich drei Reiche die Herrschaft über China teilten: Im Norden das Reich Wei (220–265) unter seinem Gründer Cao Pi, im Südwesten Shu (221–263) unter Liu Bei und im Osten Wu (222–280) unter Sun Quan. Die Konkurrenz dieser drei Reiche um die Vorherrschaft bot viel Stoff für die zeitgenössische und spätere Bearbeitungen, die schließlich bis hin zur Entstehung des Romans führten. Die frühesten schriftlichen Zeugnisse über die Geschichte der Drei Reiche liegen mit der entsprechenden offiziellen Chronik der Drei Reiche (Sanguozhi) des Chen Shou (233–297) und einem längeren Kommentar von Pei Songzhi (372–451) zu den Drei Reichen aus der Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien im 5. Jhr. vor.166 Die späteren Romanversionen haben sich von diesen frühen Quellen naturgemäß bereits stark entfernt, nur in Ausnahmefällen kommt es einmal zur Übernahme von Textpassagen.167 Wichtiger ist hingegen die Frage, wie man es mit der Legitimität der einzelnen Reiche und der sie regierenden Herrscherfiguren hielt, wobei naturgemäß Liu Bei als der sich namentlich auf die Abkunft von dem HanHaus der Liu berufende Gründer von Shu und die Usurpator-Gestalt Cao Caos als Gründer der Wei im Mittelpunkt standen. Als Regel mag gelten, daß vor-Mingzeitliche Literaten, die den im Norden des Reiches gegründeten Dynastien angehörten, es eher mit den Wei als den legitimen Nachfolgern der Han hielten, wohingegen solche aus den im Süden angesiedelten Herrscherhäusern mehr Liu 165
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HUANG XIAOPEI: Historische Erzählung über Hong Xiuquan (Hong Xiuquan yanyi), Shanghai: Shanghai guji 1981, Vorwort v. Zhang Taiyan, S. 1. Hier wird der Begriff yanyi in seiner wohl ursprünglichsten Form gebraucht als »Erklärung der Bedeutung«, vgl. dazu WENDY I. ZELDIN: New History of the States. The Sources and Narrative Structures of a Chinese Fictionalized History, Ph. D. Harvard University 1983. Vgl. TONG CHAO u.a. (Hg.): Ausgewählte Kapitel aus der Chronik der Drei Reiche. Versehen mit Anmerkungen und Übertragungen (»Sanguozhi« jinghua zhuyi), Peking: Beijing guanbo xueyuan 1992. Erwähnenswert ist hier u.a. die Vorhersage Xu Shaos über die Karriere des Cao Cao. Die Passage findet sich jeweils im ersten Kapitel/Abschnitt des Sanguo yanyi bzw. Sanguozhi. Cao Cao wird eine Zukunft als fähiger Minister, der das Reich ordnen kann, vorausgesagt, doch erfolgt gleichzeitig ein Hinweis auf das Unglück, welches er aufgrund seiner Stärke und einer Neigung zum Verrat heraufbeschwört.
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Beis Reich der Shu favorisierten. Eine deutliche Bevorzugung der Wei und Wu als den offensichtlich aufgrund ihrer Überlegenheit zu legitimen Nachfolgern der Han erklärten Reiche ist diesbezüglich schon in Chen Shous Chronik auszumachen, der diesen beiden wesentlich mehr Material widmete als den Shu.168 Auch Sima Guangs (1019–1086) Sicht in seinem Geschichtswerk Durchgehender Spiegel zur Hilfe bei der Regierung (Zizhi tongjian), einer weiteren wichtigen Station in diesem Bewertungsprozeß, blieb noch weitgehend »nördlich«, indem er sich wie zuvor Chen Shou bei dem Entwurf einer orthodoxen Linie von Dynastien auf die Maßstäbe der territorialen Kontrolle und der Machtübertragung berief. Demzufolge kam den sechs Dynastien der Zhou, Qin, Han, Jin, Sui und Tang das Verdienst zu, das Reich geeint und die Herrschaft aufeinander übertragen zu haben. Diese Wahrnehmung der Dinge änderte sich jedoch spätestens mit dem von Zhu Xi (1130–1200) unter Rückgriff auf Sima Guangs Geschichtswerk vorgelegten Grundzügen des durchgehenden Spiegels zur Hilfe bei der Regierung (Zizhi tongjian gangmu),169 in dem Cao Cao das Bild des fremden Eroberers gewann, ein Umstand, der wohl vornehmlich mit dem Schicksal der Südlichen Song zu erklären ist, die den Kaiserhof nach dem Einfall der Dschurdschen nach Hangzhou verlegen mußten und um Bewahrung der Han-Identität bemüht waren. In dieser Form des Usurpators ging Cao Caos Bild jedenfalls auch in das Erzählwerk der Drei Reiche ein. Welche Quellen außerhalb der Geschichtsschreibung standen dem Verfasser unseres Romans nun weiterhin zur Verfügung?170 Möglicherweise aus der SuiDynastie, also aus der Zeit um die Wende des 6./7. Jahrhunderts, stammt das Schaustück »Liu Bei überquert mit seinem Roß den Tan-Fluß« (Liu Bei cheng ma 168
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Chen brachte diesen Vorzug für Wei auf mehrfache Weise zum Ausdruck, so u.a. durch den Aufbau seiner Chronik, indem er zunächst mit aller Ausführlichkeit (d.h. in mehr als der Hälfte des Textes) auf die Lage in Wei und erst später auf die in Shu und Wu einging und für Wei ungünstige Umstände lediglich am Rande erwähnte (Cao Caos Niederlage an den Roten Klippen wird mit einem Satz abgetan). Sodann mit Hilfe der Titulierungen, wenn er etwa Cao Cao als den »Gründer der Wei« (Wei taizu) bezeichnete, ein Titel, der lediglich kaiserlichen Dynastiegründern zustand, wohingegen die Männer an der Spitze von Shu und Wu nur mit der Bezeichnung »Herrscher« (zhu) benannt wurden. Vgl. JIN WENJING: »Von der Verbindung der Grundzüge des durchgehenden Spiegels zur Hilfe bei der Regierung und der Erzählung von den Drei Reichen mittels der Szene ›Bei Kerzenlicht die Nacht durchwachen‹« (Cong »Bingzhu dadan« tandao »Sanguo yanyi« he »Tongjian gangmu« de guanxi), in: ZHOU ZHAOXIN (Hg.): Untersuchungen zur Erzählung von den Drei Reichen (Sanguo yanyi congkao), Peking: Beijing daxue 1995, S. 272–279. Vgl. dazu auch WINSTON L.Y. YANG: »The Literary Transformation of Historical Figures in the San-Kuo chih yen-I«, in: WINSTON L.Y. YANG / CURTIS P. ADKINS: Critical Essays on Chinese Fiction, Hongkong: The Chinese UP 1980, S. 50ff. Hinweise hierauf finden sich u.a. bei BORIS RIFTIN, ,VWRULþHVNDMDHSRSHMDLIRO¶NORUQDMDWUaGLFLMDY.LWDH8VWQ\HLNQLåQ\HYHUVLL¾7URHFDUVWYLMD½ (Das historische Epos und die Erzähltradition in China, mündlich tradierte und schriftliche Versionen der ›Drei Reiche‹), Moskau: Namka 1979.
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du Tanxi). Auch das zaju-Drama der Yuan- und Ming-Zeit hat sich des Stoffes etwa mit wenigstens fünfzig bis sechzig Stücken wie den »Drei Duellen mit Lü Bu« (San zhan Lü Bu), dem »Schwur im Pfirsichblütengarten« (Taoyuan jieyi) oder der »Einsamen Reise über tausend Meilen« (Qian li du xing) intensiv angenommen, d.h. mit nahezu einem Zehntel aller siebenhundert erhaltenen Werke dieser Gattung.171 Gerade die eben angeführten Darstellungsformen des Schauspiels bzw. Dramas scheinen aber einer ganz eigenen Tradition im Umgang mit dem Stoff der Drei Reiche gefolgt zu sein, finden sich doch zwischen ihnen und dem Roman kaum irgendwelche Übereinstimmungen abgesehen von der Konzentration auf Protagonisten wie Liu Bei, Guan Yu, Zhang Fei, Zhuge Liang etc., deren Schicksal jedoch zumeist nur in einem geringen Umfang an Szenen geschildert wird. Zumindest was die personale Gewichtung betrifft, scheint den Dramen jedoch eine gewisse Brückenfunktion zuzukommen, wie sich gut an der Gestalt Guan Yus feststellen läßt. Von einer historisch eher unbedeutenden Figur, der im Sanguozhi kaum tausend Zeichen gewidmet wurden, nahm Guan in den zaju eine beherrschende Rolle ein, mit der er auch in den Roman überwechselte, wie die zahlreichen Szenen belegen, deren Mittelpunkt er ist. Aus der Erzählliteratur selbst läßt sich hingegen als eines der frühesten Beispiele die Volksbuch-Version (pinghua) »Vollständig illustriertes Volksbuch über die Drei Reiche« (Quan xiang pinghua Sanguozhi) aus den Jahren 1321/1323 anführen, die man 1926 in Japan entdeckte. Dieses Volksbuch hat eine ähnliche Anlage wie der Roman, jedoch findet sich ein wichtiger Unterschied gleich zu Beginn: Anders als im Roman wird in einem Vorspann quasi eine Erklärung für die Wirren und das komplizierte Beziehungsgefüge zur Zeit der Drei Reiche gegeben, wobei der Verfasser die Vergeltungstheorie (baoying) vertritt. Das Besondere dabei ist, daß die Ursache und die daraus erfolgende Vergeltung zeitlich drei- bis vierhundert Jahre auseinanderliegen: Da Han Gaozu, der Gründer der Han-Dynastie, einst eine Reihe von verdienten Ministern um die Früchte ihrer Bemühungen um das Wohl des Reiches gebracht hat, ordnet der oberste Himmelsherrscher (tiangong) die Aufteilung des einstigen Reiches in drei Gebiete an und legt dabei fest, wer als Wiedergeburt von wem welche Rolle zu spielen hat. Die früheren Han Xin, Peng Yue und Ying Bu werden als Cao Cao, Liu Bei bzw. Sun Quan wiedergeboren, Gaozu selbst kommt als Inkarnation des letzten Han-Kaisers Xiandi zur Welt, an dem schließlich Cao Cao die angeordnete Rache vollstreckt.172 Ob die Volksbuch171
172
Zu den Dramenbearbeitungen des Stoffes vgl. u.a. die Übersicht bei CHEN XIANGHUA: »Kurze Bemerkungen zu den Dramenfassungen des Stoffes von den Drei Reichen« (Sanguo gushi ju kaolüe), in: ZHOU ZHAOXIN (Hg.): Untersuchungen zur Erzählung von den Drei Reichen, S. 362–435. Zu der hier angeführten pinghua-Version s. ZHONG ZHAOHUA (Hg.): Fünf vollständig illustrierte pinghua aus der Yuan-Zeit samt Anmerkungen (Yuan kan quan xiang pinghua wu zhong xiaozhu), Chengdu: Bashu shushe 1989, S. 371–501. Vgl. zu den Beziehungen zwi-
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version aber als Vorlage für eine Romanfassung diente, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Sun Kaidi behalf sich diesbezüglich mit einer fehlenden, rein hypothetischen cihua-Version (Sanguo cihua), quasi einem Zwischenwerk, mit dessen Hilfe er die Unterschiede zwischen Volksbuch und Roman zu erklären versuchte.173 Stellen wir die Frage nach dem möglichen Verfasser der ersten Romanfassung der Drei Reiche zunächst noch ein wenig zurück und wenden uns den ersten Ausgaben dieses Werkes zu. Als Druck lag die früheste erhaltene Fassung der Drei Reiche bereits im Jahre 1522 vor, doch darf man aufgrund der Datierung eines Vorworts schon für 1494 eine Version des Sanguozhi tongsu yanyi annehmen.174 In der Folge entstanden eine Reihe von Fujian-Drucken (minben), die überwiegend auf die Fassung aus dem Jahr 1522 zurückgingen: Sanguo zhizhuan, Sanguo quanzhuan, Sanguo zhizhuan pinglin etc. Insgesamt sind für die Ming-Zeit etwa dreißig Ausgaben des Romans festzustellen, die Zahl für die Qing-Dynastie beträgt annähernd siebzig.175 Luo Guanzhongs Name nun taucht zu Beginn des Textes von 1522 auf. Es ist aber fragwürdig, ob diese Ausgabe die Neuauflage eines vorher von Luo angefertigten Romans ist, waren die Drei Reiche doch einer ganzen Reihe von Dichtern und Zeitgenossen aus der Umgebung Luos nicht bekannt. Auch die Tatsache, daß die erste erhaltene Ausgabe der Drei Reiche erst aus einer Zeit von mehr als hundert Jahren nach dem wahrscheinlichen Tod Luos vorliegt, gibt Anlaß zu Zweifeln. Es ist also gut möglich, daß die Ausgabe von 1522 auf eine ganz andere Fassung des Romans zurückgeht.176 So interessant die Hypothese von der Verfasserschaft des Luo Guanzhong (ca. 1330–ca. 1400) sein mag, gesicherte Erkenntnisse über seine Biographie und seine Tätigkeit als Verfasser von Erzählliteratur und anderen Werken liegen uns nur in geringer Zahl vor.177 Die einzige zeitgenössische Quelle mit Angaben über Luo
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schen der Chronik-, der pinghua- und der Romanversion der Drei Reiche auch ZHOU YINGXIONG: Roman-Geschichte-Psyche-Persönlichkeit (Xiaoshuo-lishi-xinli-renwu), Taipeh: Dongda 1989, S. 51–54. Vgl. SUN KAIDI: »Die Drei Reiche als pinghua und in der Version des volkstümlichen Romans« (Sanguozhi pinghua yu Sanguo zhizhuan tongsu yanyi), in DERS.: Cangzhouji, Peking: Zhonghua shuju 1965, Bd. 1, S. 109–120. Das auf 1494 datierende Vorwort gibt als dessen Verfasser das Pseudonym Yong Yuzi an, wohinter sich Jiang Daqi verbirgt. Das Vorwort aus dem Jahre 1522 zeichnet ein gewisser Xiu Ranzi alias Zhang Shangde. Vgl. zu diesen Angaben SHEN BOJUN in dem Ende 1996 angefertigten Aufsatz: »Rückblick auf die Forschungen zu den Drei Reichen in den achtziger Jahren und Ausblick« (Bashi niandai yilai »Sanguo« yanjiu de huigu yu zhanwang), S. 6. (Die Quelle der Veröffentlichung ist aus den zur Verfügung gestellten Kopien nicht ersichtlich.) Vgl. dazu u.a. ANDREW H. PLAKS: The Four Masterworks of the Ming Novel, Princeton: Princeton UP 1987, S. 364, Anm. 11. Für einen Einstieg in die Problematik mag vor allem ein Beitrag von LIU TS'UN-YAN dienen: »Lo Kuan-chung and his Historical Romances«, in: YANG / ADKINS: Critical Essays
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ist eine kurze Biographie in einem frühen Ming-Werk (1424) mit dem Titel Ergänzende Bemerkungen zu den Verstorbenen (Lu gui bu xu bian). Darin gibt sich der Autor als ein Jugendfreund Luo Guanzhongs aus und erwähnt, mit diesem vor sechzig Jahren, also 1364, zum letzten Male zusammengetroffen zu sein, des weiteren aber keine Angaben über sein Schicksal machen zu können. Von einer Anfertigung der Drei Reiche durch Luo ist nicht die Rede, erwähnt wird lediglich, daß er Dramen verfaßt habe. Von diesen ist aber heute nur noch eines erhalten.178 Daneben wird Luo jedenfalls die Verfasserschaft bzw. Mitverfasserschaft an einer Reihe weiterer Werke zugeschrieben, die wir im folgenden teilweise noch behandeln werden.179 Alles, was sich ansonsten noch zur Vita Luo Guanzhongs aus den Quellen entnehmen läßt, ist, daß ihm gelegentlich eine Nähe zu den Führern der Anti-Mongolen-Bewegung in Südchina zugeschrieben worden ist und daß er dabei in den Diensten Zhang Shichengs (gest. zwischen 1353 und 1367) gestanden haben soll, der ein umfangreiches Gebiet im Süden beherrschte.180 Ob nun die Drei Reiche tatsächlich ein Produkt aus der Epoche des Wechsels der Dynastien von Yuan und Ming war oder erst im mittleren oder späten fünfzehnten Jahrhundert entstand (d.h. ein oder zwei Generationen vor der Fassung aus 1522), muß letztlich dahingestellt bleiben. Eine Reihe von Zeitumständen wie etwa die Bauernaufstände, die Konzentration der Macht bei den Eunuchen etc. zur Zeit der Regierung von Kaiser Xiaozong (1488–1505) und Wuzong (1506–1521) können das Klima zur Abfassung des Romans durchaus begünstigt haben. Es geht im Werk um das Ende der Han, eine durchaus plausible Absicht des Buches könnte die Mahnung an die MingLeser gewesen sein, nicht das gleiche Schicksal zu erleiden. Während in der frühen Phase wohl nur längere Romanfassungen der Drei Reiche zu finden waren, kam es zu einer stärkeren Verbreitung der yanyi-Variante vor
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on Chinese Fiction, S. 85–114. Neue Forschungen der chinesischen Literaturwissenschaft geben Hinweise darauf, daß Luo Guanzhongs Lebensspanne in dem Zeitraum zwischen 1315/1318 und 1385/1388 anzusiedeln ist. Vgl. SHEN BOJUN in dem Ende 1996 angefertigten Aufsatz: »Rückblick auf die Forschungen zu den Drei Reichen in den achtziger Jahren und Ausblick«, S. 5. Gemeint ist »Das Wind-und-Wolken-Treffen des Song-Gründers« (Song Taizu longhu fengyun hui). Neben den Drei Reichen wird Luo Guanzhong als Verfasser von drei weiteren Werken der Erzählliteratur betrachtet, nämlich der Darstellung der beiden Dynastien Sui und Tang (Sui Tang liang chao zhizhuan), des Historischen Romans über den Niedergang der Tang und die Geschichte der Fünf Dynastien (Can Tang Wudaishi yanyizhuan) sowie der alten Version des Aufstands der Zauberer und ihre Unterwerfung durch die drei Sui (San Sui pingyao zhuan). Als Mitverfasser kommt Luo für Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und für das Cihua über Prinz Qin, Gründer der Tang (Da Tang Qinwang cihua) in Frage. Vgl. die Bemerkungen im Nachwort zu Three Kingdoms, attributed to Luo Guanzhong, aus dem Chinesischen übers. von MOSS ROBERTS, Berkeley u.a./Beijing: University of California Press/Foreign Languages Press 1991, S. 962.
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allem nach der Bearbeitung durch Mao Zonggang, der um 1660 in Changzhou, dem heutigen Wuxian in der Provinz Jiangsu, gelebt haben dürfte und zusammen mit seinem Vater Mao Lun an der Durchsicht und Verbesserung von Werken wie den Drei Reichen oder dem chuanqi-Stück »Die Laute« (Pipaji) arbeitete. Neben einem dufa-Kommentar zu unserem Roman, einer Liste mit den vorgenommenen Änderungen sowie erläuternden Hinweisen vor den Kapiteln und im Text strich Mao diverse Passagen daraus (im wesentlichen entfernte er originale Dokumente aus der Zeit der Han und der Drei Reiche und kürzte die Ursprungsfassung damit um ca. ein Sechstel) und fertigte schließlich jene Version in einhundertzwanzig Kapiteln an, die auch den meisten modernen Fassungen zugrundeliegt. Li Yu (1611–1680), berühmter Dramatiker und Zeitgenosse Mao Zonggangs, zeigte sich unzufrieden mit dessen Version der Drei Reiche und legte eine eigene vor, die aber lange nicht so populär wurde wie die von Mao. Der Roman selbst ist unterteilt in zweihundertvierzig Erzähleinheiten, die jedoch je nach Ausgabe unterschiedlich geordnet werden. In der Version von 1522 etwa finden sich vierundzwanzig juan zu je zehn Erzählabschnitten, wohingegen andere Fassungen wie z.B. die zhizhuan- und die quan-zhuan-Version in neunundzwanzig juan zu je zwölf Abschnitten gegliedert sind. Die heute übliche Aufteilung in einhundertzwanzig Kapitel zu je zwei Erzähleinheiten stammt erst aus der WanliZeit (1573–1620) und wurde von Mao Zonggang für die späteren Romanausgaben übernommen. Sie ergibt sich aus dem inneren Rhythmus der Drei Reiche, d.h. den meist zehn Kapitel umfassenden größeren Sinnabschnitten des Werkes. Die Kapitel eins bis zehn etwa beschreiben Aufstieg und Fall von Dong Zhuo, dem mächtigen Statthalter, der sich mit einer Anzahl von Recken umgibt, um die Macht bei Hofe zu erobern. Er fällt schließlich den Intrigen seines Ziehsohnes Lü Bu zum Opfer, eben der Figur, mit deren Schicksal sich die folgenden zehn Kapitel elf bis zwanzig auseinandersetzen.181 In diesen größeren Zehn-KapitelEinheiten sind immer wieder auch kleinere Episoden von ein bis zwei Kapitel Umfang aufgenommen (z.B. die in Kap. 25–27 beschriebene Gefangenschaft und Flucht Guan Yus). In seiner Metastruktur erreicht der Roman um Kapitel 60, also exakt zur Hälfte des Buches, seinen Höhepunkt. Cao Cao steht auf dem Gipfel der Macht, nicht ohne jedoch Zeichen der Müdigkeit zu zeigen. Liu Bei hat sich mit der Einnahme von Yizhou die Herrschaft gesichert. Daß sich hier ein Wendepunkt andeutet, wird auch deutlich durch versteckte Rückblicke des Verfassers auf den Romanbeginn. So wird mit den Schilderungen des Aufstands von Zhang Lu (Kap. 59/60) an die von den Gelbturbanen verursachten Unruhen in Kap. 1 erinnert. Mit der Erwähnung des Schwurs im Pfirsichblütengarten schlägt der Verfasser an der gleichen Stelle der Romanmitte einen weiteren Bogen zurück zum Beginn des Werks. 181
Zu diesen und weiteren Fragen der Einteilung des Romans s. vor allem PLAKS: The Four Masterworks, S. 378ff.
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Er macht sich die gleiche Technik noch einmal am unmittelbaren Abschluß des Romans zunutze (Kap. 118: Hinweis auf eine neue Schwurgemeinschaft zwischen Zhong Hui und Jiang Wei; Kap. 119: Erwähnung neuer drohender Unruhen durch die Gelbturbane). Die nach dem Romanhöhepunkt einsetzende gegenläufige Entwicklung wird besonders deutlich an den Ereignissen, die nach ca. drei Vierteln des gesamten Werkes erfolgen. Guan Yus Tod in Kap. 77 leitet über zum Ableben einer Reihe weiterer Helden: Cao Cao (Kap. 78), Zhang Fei (Kap. 81) und Liu Bei (Kap. 85). Über die folgenden zwanzig Kapitel hinweg ist Zhuge Liang bis zu seinem Tod (Kap. 104) die beherrschende Gestalt. In den nunmehr verbleibenden Abschnitten tauchen nur noch nachrangige Figuren auf. Gerade das Ende des Romans mit dem Tod all der Helden und dem Anbruch einer neuen Dynastie ist ein Hinweis darauf, daß das Thema der Vergeblichkeit jenes einfachere der Vergeltung übertönt.182 Kompositorisch sind hier vor allem die Wiederholungen von Interesse, die sich gerade thematisch bei historisch begründeten Anlässen wie den Szenen bei Hofe, Staatsbanketten, Kampfszenen und Strategemen ergeben, sich daneben jedoch auch bei der Darstellung bestimmter Typen finden. Unter den Hunderten von Personen, die die Romanhandlung bevölkern, kann nur einer Handvoll der Status eines echten »Charakters« zugebilligt werden. Ansonsten ist ziemlich durchgängig lediglich von treuen und ergebenen Beratern, überheblichen Heerführern, unschlüssigen Herrschern etc. die Rede. Nicht zu vergessen sind hier selbstverständlich die einzelnen Textelemente, d.h. insbesondere Wörter und Formeln, die mit großer Monotonie wiederholt werden. So leitet der Verfasser z.B. die Äußerung gegensätzlicher Standpunkte in einer Debatte bei Hofe regelmäßig mit der Bemerkung ein, daß »sich einer der Anwesenden erhob«. Die in anderen Romanen der Zeit üblichen Erzählformeln am Kapitelende bzw. vor der Überleitung zu Gedichten müssen hier gar nicht gesondert aufgeführt werden. Obgleich auch die Drei Reiche aus einem vielen der klassischen Romane gemeinsamen Fundus an kompositorischen und sprachlichen Elementen schöpften, hebt sich das Werk doch bei der Wahl der eigentlichen Sprachebene recht deutlich von übrigen Romanen seiner Zeit wie den Räubern vom Liangshan-Moor, der Reise in den Westen (Xiyouji) etc. ab. Mit der starken Verwendung eines relativ einfachen Idioms der klassischen Schriftsprache unterscheiden sich die Drei Reiche hierbei klar von den eher der Umgangssprache zugewandten Werken, was bereits in dem Vorwort der Fassung von 1494 mit der Bemerkung unterstrichen wird, in seiner Wortwahl »nicht zu volkstümlich« (yan bu shen su) sein zu wollen. Der Einfluß möglicher schriftlicher Quellen zum Thema bzw. das auch sprachlich den historischen Personen zugemessene Gewicht kommt nicht zuletzt durch die Verwendung der Schriftsprache 182
Zum Tempo der vorgetragenen Ereignisse in den Kapiteln vgl. ANDREW HING-BUN LO: »Sanguo chih yen-I« and »Shuihu chuan« in the Context of Historiography: An Interpretive Study, Ph.D. Princeton University 1981, S. 56ff.
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wenyan selbst in der wörtlichen Rede zum Ausdruck. Anders als in vielen anderen frühen Werken der umgangssprachlichen Romankunst hat man sich in den Drei Reichen auch nicht gescheut, in größerem Umfang aus kaiserlichen Erlassen, amtlichen Briefen etc. zu zitieren. Wenden wir uns nach diesen Vorausbemerkungen zu Struktur, Sprache etc. dem Inhalt der Drei Reiche zu, so fällt zunächst auf, daß mit der Schilderung des Zerfalls der Han in die Drei Reiche und der späteren Reichseinigung durch die Jin die in der chinesischen Geschichtsschreibung wichtige Frage der dynastischen Zyklen problematisiert wird. Insgesamt umfaßt das Werk einhundertundzwölf Jahre der historischen Epoche zwischen 168 und 280. Aus der inhaltlichen Gewichtung dieses Zeitraums wird deutlich, daß das Hauptanliegen im Roman mit achtzig Kapiteln der Regierung des letzten Han-Herrschers Xian (reg. 189–220) gilt, erst die letzten vierzig Kapitel handeln von den eigentlichen Drei Reichen. Aufstieg und Fall der Herrscherhäuser, eben der »dynastische Zyklus« als das Muster vieler Epochen der chinesischen Geschichte, werden dabei jeweils am unmittelbaren Romanbeginn und -ende in Form einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit thematisiert, die nicht zuletzt auch eine wichtige kompositorische Klammer des gesamten Buches bildet. Zum Auftakt von Kapitel 1 heißt es: »Das lang geteilte Reich wird wieder eins, doch lange eins, wird es auch wieder geteilt werden.« Hundertzwanzig Kapitel später dreht der Verfasser den Satz dann um: »Das lange Zeit vereinte Reich zerfällt, doch lange geteilt, wird es auch wieder eins.« Wesentlicher inhaltlicher Bezugspunkt der sich zwischen diesen Feststellungen abspielenden Handlung ist nun der romanhaft übersteigerte Mythos von den drei Schwurbrüdern Liu Bei, Guan Yu und Zhang Fei. Sie leben in einer von Kriegswirren geprägten Zeit, die den Verlust der Reichseinheit bringt. Wo ehrgeizigen Männern in Zeiten dynastischer Stabilität kaum viel mehr zu tun bleibt, als die Leiter der bürokratischen Rangordnung zu erklimmen, bieten unsichere Zeiten wie die zu Beginn des dritten Jahrhunderts vor allem den Abenteurern und Kriegern unbegrenzte Aufstiegsmöglichkeiten. Wem unter den Konkurrenten um die Macht gibt das Schicksal seine Gunst? Auch hier bleiben die Drei Reiche ganz in der Tradition der überlieferten Wertvorstellungen, wie wir noch sehen werden. Von Beginn an schildert der Roman die Eliminierung der »ungeeigneten« Führer, bis am Ende nur die Männer an der Spitze der Staaten Wei, Wu und Shu bleiben. Sie überstehen die vorangegangenen Auseinandersetzungen vor allem durch ihre Verbindung mit weisen Ratgebern, Gestalten, die in dieser Vielfalt in keinem anderen historischen Roman mehr auftreten werden. Eine Reihe von Naturkatastrophen, begleitet vom verheerenden Einfluß der Eunuchen bei Hofe, deutet gleich zu Beginn des Romans den Niedergang der Han-Dynastie an.183 Liu Bei (161–223, von 221 an nannte er sich »Kaiser von 183
Der Bearbeitung lagen folgende Versionen der Drei Reiche zugrunde: die zweibändige chinesische Fassung in einhundertzwanzig Kapiteln Sanguo yanyi, Hubei: Changjiang wenyi 1981;
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Shu«), vom Namen her ein entfernter Angehöriger des Kaiserhauses der Han (die äußerliche Legitimation dieses Herrschaftsanspruchs wird durch die Eroberung Shus im Roman später in Frage gestellt), doch selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammend und von Beruf Bastbinder, trifft auf Guan Yu und Zhang Fei. Unzufrieden über die katastrophale Lage im Reich schwören sich die drei Männer im Pfirsichblütengarten, dem Landgut Zhangs, sich gegenseitig bei den Bemühungen beizustehen, dem Haus der Han zu dienen und für das Wohl der Menschen zu kämpfen. Auf eigene Kosten rüsten die drei Männer eine fünfhundert Mann starke Truppe zum Kampf gegen die Gelbturbane aus, eine taoistische Sekte, die im Jahr 184 einen Aufstand angezettelt hat. Gemeinsam gelingt es, die Bewegung niederzuschlagen, doch müssen die Recken durch die herablassende Behandlung von seiten der Han-Machthaber erfahren, daß es um die Dynastie nicht gut bestellt ist. Bei der Ämterverteilung für die Führer der Hilfstruppen werden Liu Bei und seine Freunde lediglich mit kleinen Beamtenposten bedacht, den Liu Bei, der Inhaber, kurze Zeit darauf aber schon wieder verliert. Erst nach der Niederschlagung eines weiteren Aufstands erhebt man Liu Bei in einen militärischen Rang. Als Charakter gewinnt Liu Bei im Roman erst recht spät an Kontur. Lange Zeit gibt er das Bild des guten Feldherren ab, dem nur wechselhaftes Glück beschert ist. Auch bei der Suche nach angemessenen Beratern scheint Liu zunächst eher vom Pech verfolgt, verliert aufgrund einer Intrige Cao Caos mit Tan Fu einen erfahrenen Militärfachmann aus seiner Umgebung. Der Suche nach Zhuge Liang, dem »Schlafenden Drachen«, wird daher viel Platz eingeräumt, um die entscheidende Rolle dieses Mannes zu würdigen (Kap. 37–38). Der Verfasser bedient sich bei den Besuchen Liu Beis einer einfachen Symbolik, indem er die als wichtig eingestuften Szenen mit entsprechenden Momenten im Zyklus der Jahreszeiten verbindet und zentrale Textpassagen kunstvoll ausschmückt: Mehrmals findet Liu Bei die Hütte Zhuge Liangs verlassen vor, der zweite vergebliche Besuch erfolgt in der Winterzeit, frostige Schneelandschaft bestimmt das Bild. Erfolgreich ist Liu Bei erst bei seinem dritten Besuch, der im Frühling erfolgt. Nun endlich wird er mit seinem Anliegen von dem weisen Einsiedler akzeptiert und gewinnt einen Mann, der ihm die entscheidende Hilfe im Kampf um die Macht ist. Dabei gibt Liu Bei aber keinesfalls das Bild eines strahlenden Helden ab, schon früh läßt man den Leser wissen, daß Liu nichts von Bildung und Wissen hält, dafür umso mehr zu Draufgängertum neigt. Doch auch als Militärführer verliert Liu zahlreiche Schlachten, die er selbst führt.184 Als Schwäche muß Liu Bei sich im Roman auch gewisse sexuelle Normverstöße vorwerfen lassen, wie der Autor an einigen Stellen durchblicken läßt.185
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die gekürzte Übersetzung von FRANZ KUHN, der im wesentlichen den Inhalt der Kapitel 1–38 wiedergibt: Die Drei Reiche, Frankfurt/M.: Insel 1981 und die wohl bislang einzige vollständige Übertragung in eine westliche Sprache von MOSS ROBERTS: Three Kingdoms, Berkeley u.a./Beijing: University of California Press/Foreign Languages Press 1991. Z.B. die Kämpfe in Kap. 24, 31. 43, 63, 83 und 84. Z.B. in Kap. 54.
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Nicht weniger anfechtbar ist Liu Beis »Machtergreifung« in Shu, die auf Ehrbrüchen und Verstößen gegen die geltende Moral gründet, also lediglich machtpolitisch vertretbar bleibt. Doch auch Liu Beis persönliches Umfeld weist Probleme auf. Sein Verhältnis zu den beiden Schwurbrüdern ist lange nicht so gut, wie das im ersten Kapitel durch den Schwur angedeutet wird. So zeigt sich Liu etwa häufig bestürzt über Zhang Feis Wutausbrüche, des öfteren kommt es zu Auseinandersetzungen über strategische Probleme, die in dem Ausspruch Lius gipfeln, daß er Zhang Fei nicht traue.186 Gegenüber Guan Yu verhält sich Liu Bei respektvoller, bricht aber nach dessen Tod auch hier den einst gegebenen Schwur, am gleichen Tag zu sterben, und wartet mit seinem Rachefeldzug bis nach dem Tod Zhang Feis. Dieser Feldzug ist der erste und wichtigste Schritt Lius nach der Thronbesteigung in Shu. Ausführlich wird die Frage der Angemessenheit dieser Handlung diskutiert, im Mittelpunkt hier und überhaupt als konfuzianischer Wert im Zentrum des Romans steht der Begriff yi (Ehre), der in seinen weiteren Bedeutungen Eigenschaften wie Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Loyalität etc. umschreibt. Nicht zuletzt der Konflikt zwischen der privaten Ehre (siyi) und dem öffentlichen, allgemeinen Vertrauen (gongyi), das einer genießt, wird an verschiedenen Stellen betont. So vernichtet Liu Bei sich schließlich selbst und die Sache, für die er einst eingetreten ist, durch die überstarke Betonung des Ehrbegriffs. Dagegen ist sein Verhältnis zu Zhuge Liang weitgehend persönlicher Natur, der weise Berater steht auf einer Stufe mit den Schwurbrüdern. In einer familiären Szene an seinem Totenbett überträgt Liu dem Berater die Regentschaft für den Sohn Liu Shan, gesteht ihm gar das Recht zu, notfalls selbst die Kaisermacht zu ergreifen. Die zweitwichtigste Gestalt innerhalb der Gemeinschaft der Schwurbrüder ist zweifellos Guan Yu.187 Der historische Guan (ca. 162–220), ursprünglich ein General im Gefolge des Liu Bei, tritt in den Drei Reichen als einer der herausragenden Recken in Erscheinung. Entwirft der Roman zu Beginn das Bild von einem mit hohen physischen Kräften und zahlreichen militärischen Talenten begabten Mann, der sich mit seinem »Grünen Drachensäbel« bei jedem Gegner Respekt zu verschaffen weiß, so werden diese Attribute jedoch im weiteren Verlauf nicht weiter betont, in den Mittelpunkt rücken vielmehr die Ergebenheit und Treue Guan Yus gegenüber Liu Bei, woraufhin ihn dieser mit dem Schutz seiner Familie beauftragt. Als Liu in einer militärischen Auseinandersetzung mit Cao Cao unterliegt, begibt sich Guan Yu mit den ihm anvertrauten Verwandten in Gefangenschaft, lehnt aus Treue gegenüber dem Schwurbruder auch die Privilegien ab, die Cao Cao ihm in der vergeblichen Hoffnung gewährt, den Krieger zum Eintritt in seine eigenen Dienste zu bewegen. Dieses Maß an Treue läßt ihn dann bei der wichtigen Schlacht an den Roten Klippen in einem ungünstigen Licht erscheinen. 186 187
Z.B. in Kap. 65 und 70. Zum Wandel des Bildes von Guan Yu vgl. auch WINSTON L.Y. YANG: »From Histority to Fiction – the Popular Image of Kuan Yu«, in: Renditions, Frühjahr 1981, S. 67–79.
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Denn abgesehen von körperlicher Stärke, Robustheit und Willenskraft fehlt es Guan Yu an der Gerissenheit, die für den erfolgreichen Militär unabdingbar ist. Der bereits unterlegene Cao Cao macht sich die Schwächen Guans – eine Gefühlsduselei mit einer Mischung aus Ehrgefühl und Dankbarkeit sowie den Hang zu Überheblichkeit – zunutze, erlangt freien Abzug und flüchtet. Es dürfte sich hier um eine bewußte Bloßstellung Guan Yus handeln bzw. eine Kritik an dem Begriff der Ehre, da aus den historischen Quellen lediglich zu erfahren ist, daß Cao Cao die Flucht in dichtem Nebel gelang. Guan Yus Niedergang beginnt, als Liu Bei die Königswürde erreicht. Er zeigt sich empört darüber, lediglich als einer der fünf »Tiger-Generäle« eingestuft zu werden, lehnt in der Folge die Verheiratung mit einer Tochter des Sun Quan ab. Ausführlich wird auch der Tod dieses Recken geschildert, angedeutet bereits in einem Traum von einer Hüftwunde, die ihm ein wilder Eber beifügt. Eine dann tatsächlich im Kampf davongetragene Verletzung, deren Behandlung Guan Yu keine Beachtung schenkt, schwächt ihn in der Folge immer mehr, so daß er Niederlagen erleidet, das ihm als Lehen übertragene Jingzhou verliert, schließlich mit einem Netz gefangen und enthauptet wird. Guan Yus Schicksal mutet insofern tragisch an, als ihm die Einsicht in die eigenen Schwächen zu fehlen scheint. Auch herrscht ein erheblicher Kontrast zwischen dem volkstümlichen Bild der Figur und der Gestalt Guan Yus im Roman. In keiner Weise ist dort bereits die spätere Gottheit im Pantheon der volkstümlichen Religion Chinas zu erkennen, zu der man Guan Yu erhob.188 Von den drei Schwurbrüdern bleibt der Eindruck, den die Beschreibung der Gestalt Zhang Feis bietet, am schwächsten. Zhang Fei (ca. 166–221) nahm wie Guan Yu eine militärische Stellung unter Liu Bei ein und wurde 221 während eines Feldzugs gegen den Staat Wu ermordet. Auch sein Bild erscheint in den volkstümlichen Volksbuch- oder Dramenversionen (zaju) wesentlich positiver als im Roman.189 Sein Verhältnis zu Liu Bei hält lange nicht das, was der Schwur im Pfirsichgarten verspricht. In zahlreichen Kapiteln muß er sich durch Liu Vorhaltun188
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Die Erhebung in den Götterstand erfolgte jedoch erst Jahrhunderte nach den historischen Ereignissen der Drei Reiche. Per kaiserlichen Erlaß ernannte man Guan Yu 1120 aufgrund seiner Tugend zunächst zum Herzog, später dann zum Fürsten. Von dem Yuan-Kaiser Wen wurde ihm der posthume Titel »Fürst der Krieger und Kulturbringer« verliehen, den er bis zum Ende der Ming-Dynastie innehatte, als ihn der Kaiser Wanli 1594 zum »Getreuen und redlichen großen Gott, der Stütze des Himmels und dem Beschützer des Reiches« machte. Spätestens aus dieser Zeit stammt auch der Brauch, Guan Yu als »Guandi« oder »Guan'gong« in Tempeln zu verehren. Zahlreiche Gewerbe erwählten sich Guandi in der Folge zum Schutzgott. Ihren Höhepunkt erreichte die Verehrung als Gottheit in der QingZeit, wo man in Guan Yu eine Kraft zur Unterstützung im Kampf gegen die Europäer zu erkennen glaubte. Vgl. hierzu ANTHONY CHRISTIE: Chinesische Mythologie, aus dem Englischen übertragen von ERIKA SCHINDEL, Wiesbaden: Emil Vollmer 1968, S. 105f. So erweist sich Zhang Fei in den Schlachtszenen der erstgenannten Werke viel öfter als fehlerloser und mächtiger Held als in der Version von Mao Zonggang.
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gen wegen seiner Trunksucht, Brutalität oder des Mangels an militärischen Fähigkeiten machen lassen.190 Auf der anderen Seite klagt Zhang Fei immer wieder, sich mißverstanden zu fühlen, seine wahren Fähigkeiten von niemandem erkannt zu wissen.191 Die Gegnerschaft wird vor allem sichtbar, als Zhang Fei mit Guan Yu nach der Thronbesteigung durch Liu Bei um Einfluß und Stellung ringt. Die harte Behandlung seiner eigenen Männer in der Truppe ist es, was die Attentäter Fan Jiang und Zhang Da gegen den Weggefährten ihres Königs aufbringt und zu dessen Ermordung veranlaßt. Hier stimmen Roman und historische Darstellung überein. Die wohl interessanteste Gestalt in den Drei Reichen ist Cao Cao (155–220), ein glänzender Feldherr und Stratege, das Sinnbild des machtgierigen, skrupellosen und verschlagenen Politikers schlechthin, wohingegen sein Bild in der offiziellen Historiographie eher ausgeglichen bleibt. Überhaupt wird seine Gestalt erst in der volkstümlichen Literatur seit der Song-Zeit mit allerlei negativen Attributen bedacht. Seinen Aufstieg bei Hofe verdankte Cao Cao vor allem den Erfolgen gegen die Gelben Turbane und setzte sich nach 192 schnell gegen die übrigen Heerführer der Han durch, die um die Hegemonie rangen. Die Inthronisierung des Kinderkaisers Xiandi 196 erfolgte unter seinem maßgeblichen Einfluß. Im Jahre 213 zum Herzog von Wei ernannt, blieb ihm die offizielle Kaiserwürde versagt, diesen Titel errang erst sein Sohn Cao Pei (187–226), der 220 die Dynastie von Wei ausrief. Damit erfaßt man jedoch lediglich einen Teil des Wesens von Cao Cao. Neben der Abfassung eines Kommentars zu dem strategischen Handbuch Sunzi tat sich Cao Cao nicht zuletzt auch als Verfasser lyrischer Gedichte hervor, die getragen sind von Melancholie und Weltverdrossenheit und in kaum einer anspruchsvollen Anthologie der klassischen chinesischen Lyrik fehlen.192 Zumindest diese Qualitäten verweigert man Cao Cao im Roman nicht ganz, wie die Szene mit der »Kurzen Ballade« (Duan ge hang) in Kapitel 48 belegt. Direkte Konkurrenten um die Macht im Reiche werden Liu Bei und Cao Cao, nachdem sie, zumindest anfangs von ähnlichen Anliegen und Vorstellungen getragen, wenigstens einen Teil des Weges gemeinsam gegangen sind. Bei einem Vergleich der beiden Staatsführer scheint Cao Cao dem Liu Bei vor allem bei den Tugenden, die eine Führergestalt traditionell auszeichnen, überlegen: deshi – die Fähigkeit, geeignete Anhänger um sich zu scharen; zhiren – das Talent, menschliche Fähigkeiten zu bewerten; und yongren – die Weisheit, jemanden aufgrund seines Könnens und seiner Gaben am richtigen Platz einzusetzen. In seinem Anspruch auf die Herrschaft 190 191
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Z.B. Kap. 13, 14, 16, 21 und 22. Z.B. Kap. 22 und 70. Gerade das Verhältnis Zhangs zu Liu Bei dürfte dem von Song Jiang zu Li Kui in dem Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor entsprechen, vgl. dazu PLAKS: The Four Masterworks, S. 416f. Zu einem Überblick über die zwanzig erhaltenen Gedichte und Lieder vgl. u.a. WEN CHUN: »Tsao Tsao and His Poetry«, in: Chinese Literature 3/1975, S. 102–108.
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vermittelt Cao Cao eher den Eindruck des bawang, des Despoten oder Hegemon als den eines legitimen Herrschers. Dieses zwiespältige Bild Caos ist im Roman früh angelegt. Trotz der Antipathie, die der Verfasser der Drei Reiche gegenüber der Person Cao Caos immer wieder zeigt, ist dessen Bild als legalistischer Tyrann nicht überzeichnet. So richtet sich seine Grausamkeit eher gegen einzelne Individuen aufgrund kalter Berechnung und ist nicht schlechthin vorhanden. Selbst die häufig für ihn gewählte Bezeichnung jianxiong (skrupelloser Held) ist schließlich nicht vollständig negativ aufzufassen, wie der Umstand beweist, daß auch Liu Bei mit diesem Wort ab und zu charakterisiert wird und das mit einem Lächeln nimmt. Keine der bislang vorgestellten Kriegergestalten ist durchweg von der Gunst des Schicksals verwöhnt. Das Kriegsglück wechselt ständig, selbst der gerissene Taktiker Cao Cao hat Niederlagen hinzunehmen. Weder Liu Bei noch Cao Cao hinterlassen den Eindruck, daß sie die jeweilige Lage stets vollkommen beherrschen, nicht selten kommt den Ratgebern, derer sie sich bedienen, die entscheidende Rolle zu. Die herausragende Gestalt dabei ist Zhuge Liang (181–234), ein hervorragender Stratege, dem auch verschiedene kriegstechnische Neuerungen zugeschrieben werden. Während Zhuge Liang in der offiziellen Geschichtsschreibung eher das Bild des gerechten, mutigen und loyalen Mannes abgibt,193 der mit großen Fähigkeiten zur Herrschaft ausgestattet ist, betont der Roman vor allem seine überragenden militärischen Talente. Als man ihm nach dem Tode Liu Beis die Regentschaft über Shu überträgt, stellt er sich selbst an die Spitze der Truppen, um die Völker im Süden zu unterwerfen. Er setzt dabei weniger auf militärische Kraft als auf Güte und Weisheit und verkündet: »Es ist besser, Herzen zu gewinnen als Städte einzunehmen, ein Kampf mit dem Herzen ist dem mit Soldaten vorzuziehen« (gong xin wei shang, gong cheng wei xia; xin zhan wei shang, bing zhan wei xia). Es unterstützt nur den Eindruck seiner Überlegenheit, wenn der Romanverfasser Zhuge Liang auch übernatürliche Fähigkeiten zuschreibt, ein Wesensmerkmal, das ansonsten im Werk recht schwach ausgebildet bleibt. So ist es diesen Kräften zu verdanken, wenn Zhuge Liang bei der Schlacht an den Roten Klippen den Südostwind herbeiruft, der dafür sorgt, daß die Feuerstrategie aufgeht und Cao Caos Truppen von den Flammen erfaßt werden. Im Roman bietet Zhuge Liang das Bild des zurückgezogenen, der Welt entsagenden Weisen, der jedoch den konfuzianischen Staatsidealen verpflichtet bleibt. So ist es mit der Rolle von Männern wie ihm durchaus vereinbar, daß sie in Zeiten, da ihre Dienste erforderlich sind, ihre Zurückgezogenheit aufgeben und sich beratend an die Seite eines würdigen Herrn stellen. Angesichts des Scheiterns seiner Pläne, das Reich zu einen, muß Zhuge Liangs Unfehlbarkeit als Berater allerdings in einem anderen Licht gesehen werden. Die Entscheidung, seine Einsiedelei aufzu193
Vgl. dagegen den Essay von SU SHI »Über Zhuge Liang«, in dem er diesem Staatsmann eine gewisse Neigung zum Despotentum unterstellt.
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geben, um das Han-Reich neu zu errichten, erweist sich als falsch. Freilich sind dies Interpretationen, die sich erst nach der gesamten Lektüre des umfangreichen Werkes anstellen lassen. Denn bis kurz vor dem Ende des Romans profiliert sich Zhuge Liang als die dominierende Gestalt unter den Militärstrategen jener Zeit. Selbst in offenbar aussichtsloser Lage gelingt es ihm regelmäßig, einen Ausweg zu finden194. Eine Szene, die möglicherweise auf buddhistische Einflüsse zurückgeht, kündigt schließlich den nahenden Tod Zhuge Liangs an: Seit mehreren Tagen hält sich der Staatslenker bereits in seinem Zelt im Feldlager auf und betet. Das helle Kerzenlicht während der Nachtzeit bereitet ihm Freude. Plötzlich stürmt einer seiner Generäle mit der Ankündigung ins Zelt, die Wei griffen an, worauf die Kerzen im Luftzug erlöschen. Seufzend, sein Ende ahnend, läßt Zhuge Liang sein Schwert sinken und verkündet: »Leben und Tod sind vom Schicksal bestimmt, was nützen da Gebete?« (Kap. 103) Das Bild der erloschenen Kerze weist auf Leere sowie Vergeblichkeit menschlichen Strebens hin und findet sich häufig in den einleitenden Passagen zu Todesszenen in der chinesischen Erzählkunst. Das Thema verlorener Hoffnungen, verlorenen Heldentums und aufgegebener Pläne zieht sich durch den gesamten Roman. Tatsächlich erkrankt nun Zhuge Liang kurze Zeit darauf und stirbt. Mit seinem Tod wird auch die letzte Phase des Staates Shu eingeleitet, die der Roman nun im weiteren beschreibt. Aufreibende Kämpfe zwischen den drei Reichen sowie Konflikte mit einer neuen Macht im Norden kennzeichnen das Bild. Die letzten Herrscher von Shu geben sich nur noch ihren Ausschweifungen hin. Als der alte Kaiser Houzhu vor den Wei kapitulieren will, macht ihm Liu Shen, einer seiner Söhne, Vorhaltungen und bringt, da der Vater nicht auf ihn hört, erst die Familie und anschließend sich selbst um. Damit ist das Reich Shu untergegangen (historisches Jahr 263). Doch auch die Zeit der Staaten Wei und Wu läuft ab, beide werden von den Jin erobert. So läßt am Ende auch Zhuge Liangs Urteilsvermögen und Weitblick mehr und mehr zu wünschen übrig. Besonders eindrucksvolle Szenen finden sich diesbezüglich in dem Abschnitt über den Südfeldzug gegen den Rebellen Meng Huo, der die geschilderten Ereignisse unmittelbar nach dem Tode Liu Beis beherrscht. Festzuhalten ist zunächst, daß auch die historischen Quellen die Richtigkeit dieser Maßnahme mit Hinweis auf die Notwendigkeit betonen, sich das Hinterland zu sichern, um freie Hand für den entscheidenden Nordfeldzug gegen das Reich der Wei zu haben.195 Doch zumindest in den Darstellungen des Romans geht diese 194
195
Zu den Diskrepanzen im Geschichtsbild von Zhuge Liang vgl. etwa LIU JINGHUA: »Von der Herrschertreue Zhuge Liangs und seinem Versagen« (Zhuge Liang de zhongjun yu shiwu), in: TAN LIANGXIAO (Hg.): Zhuge Liang und die Kultur der Drei Reiche (Zhuge Liang yu Sanguo wenhua), Chengdu: Chengdu chubanshe 1993, S. 52–61. Vgl. TANG LING: »Die Eroberung des Südens mittels der Taktik ›ins Zentrum vorstoßen‹« (Yi »gongxin« zhinanzhong), in: TAN LIANGXIAO (Hg.): Zhuge Liang und die Kultur der Drei Reiche, S. 86–89.
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langfristige Strategie nicht auf, denn als Shu in Kapitel 118 um Hilfstruppen von den südländischen Man bittet, bleibt dieser Aufruf unbeantwortet. Selbst der Rebell Meng Huo erweist sich in seiner Erscheinung lange nicht als so »barbarisch«, wie Zhuge Liang ihn und seine Krieger darstellt. An einer Stelle gesteht Meng zwar seine »Kulturlosigkeit« ein, doch hebt er hervor, wenigstens nichts von Zhuge Liangs »Gerissenheit« zu besitzen und stattdessen ein ehrenhafter Mann zu sein (Kap. 89). Selbst die Klagen des weisen Ratgebers angesichts der enormen Opfer, die ihn die sieben Feldzüge gegen Meng Huo gekostet haben, wirken am Ende nicht zuletzt wegen der Heftigkeit, mit der er seine militärischen Pläne betrieben hat, aufrichtig. Schließlich und endlich darf man sich unter Zugrundelegung der gesamten Ereignisse im Roman die Frage stellen, ob Zhuge Liang wirklich so weise war, derart vehement für die Reichseinigung zu kämpfen, wo er doch in den frühesten Gesprächen mit Liu Bei bereits die Dreiteilung des Territoriums als fait accompli angekündigt hat. Hier hat man den Eindruck, daß der Weise ganz bewußt wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt werden soll. Naturgemäß nehmen die Schilderungen kriegerischer Auseinandersetzungen in einem Roman wie den Drei Reichen eine herausragende Rolle ein. Die meisten der Schlachten sind dabei in ihrer Beschreibung jedoch eher monoton, dagegen stehen stets die Vorbereitungen und die Ausrüstungen zum Kampf selbst im Vordergrund. Eine Ausnahme bildet lediglich die Schlacht an den Roten Klippen, eine der berühmtesten Szenen in der an Schlachten sicher nicht armen volkstümlichen Literatur Chinas. Der historische Hintergrund dieser militärischen Auseinandersetzung war die Koalition zwischen Sun Quan und Liu Bei, die dank der Bemühungen Zhuge Liangs zustande gekommen war, der die Kräfte der beiden Heerführer zum Kampf gegen Cao Cao führte.196 Im Herbst des Jahres 208 befahl Sun Quan seinen beiden Heerführern Zhou Yu und Chen Pu, dreißigtausend Mann mit den Truppen Liu Beis zu vereinigen. An den Roten Klippen (am Südufer des Yangtse, nordöstlich des Kreises Jiayu in der heutigen Provinz Hubei) trafen die feindlichen Verbände aufeinander. Nach einer ersten kleineren Niederlage zog sich Cao zunächst auf das Nordufer nach Wulin (westlich von Jiayu) zurück und erweiterte damit die Kampflinie. Caos Ausgangslage war nicht ungünstig, doch hatte er von Beginn mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen. Die Schlacht selbst bildet das zentrale Ereignis in den Drei Reichen vor allem deshalb, da es Sun Quan und Liu Bei gelingt zu verhindern, daß Cao Cao den Yangtse überschreitet und das Königreich Wu erobert. Die eigentlichen Kampfszenen im Werk sind anders als in den übrigen historischen Überlieferungen und literarischen Be196
Zu den historischen Zusammenhängen und Ereignissen vor und während der Schlacht vgl. Kapitel 2 »Die Schlacht an den Roten Klippen und die Konstellation zur Entstehung der Drei Reiche« (Chibizhi zhan he Sanguo dingli jumiande xingcheng), in: LIU CHUNFAN: Bemerkungen zur Geschichte der Drei Reiche (Sanguoshi hua), Peking: Beijing chubanshe 1981, S. 75–141 (zu den Kampfhandlungen s. insbesondere S. 99–106).
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arbeitungen auf den verdienstvollen Einsatz Zhuge Liangs hin angelegt. Unmittelbar vor der Schlacht gibt es eine schöne Szene, in der sich Cao Cao vollkommen siegessicher zeigt. Seine im Seekampf unerfahrenen Männer aus dem Norden leiden während der Übungen auf dem Yangtse, klagen über Übelkeit und Unwohlsein. Pang Tong, ein vermeintlicher Überläufer aus dem Süden, rät Cao Cao, seine Schiffe an Bug und Heck derart miteinander zu verketten, daß eine einheitliche, nicht schwankende Fläche daraus entsteht, auf der man über Planken von einem Boot auf das andere Ufer eilen kann. Beglückt über diesen sich letztlich als verhängnisvoll erweisenden Rat, glaubt Cao Cao das Ende seiner Gegner nahe.197 Als die Generäle Cao Caos vor der Schlacht in die Pläne zur Verbindung der Schiffe eingeweiht werden, kommen bei einigen Zweifel auf. Cheng Yu etwa warnt vor der Gefahr eines Feuers, das sich gerade bei verbundenen Booten schnell ausbreiten könnte. Doch Cao Cao schlägt alle Warnungen aus, er ist sich seiner Sache absolut sicher, hat er doch auch der entscheidenden Frage des Windes die notwendige Beachtung geschenkt. Da sich seine Streitmacht auf dem Nordufer des Flusses befinde und zur Winterszeit stets ein Nordwind herrsche, niemals einer aus dem Süden, würde sich ein durch die Gegner auf dem Südufer eingesetztes Feuer gegen deren eigene Mannschaften richten. Wie die Niederlage später zeigt, hat sich Cao geirrt. Bei der Popularität des Stoffes der Drei Reiche in der volkstümlichen Literatur Chinas ist es nicht verwunderlich, daß sich einige Verfasser darum bemühten, den historischen Stoff des Vorgängers in eigener Weise fortzuführen. Eine Schwierigkeit bestand hierbei darin, daß es sich bei der Epoche der Drei Reiche um einen abgeschlossenen geschichtlichen Rahmen handelte und eine Erweiterung der Ausgangsfassung bei Beibehaltung der dort schwerpunktmäßig betonten Ereignisgeschichte nur möglich war, wenn man gleichzeitig das enge Korsett des betreffenden Zeitraums sprengte, sich damit aber unweigerlich vom eigentlichen Thema der Reiche Shu, Wei und Wu löste. Dies praktizierte etwa der anonyme Verfasser der umfangreichen, noch in der Ming-Dynastie erschienenen Fortsetzung zum Historischen Roman über die Drei Reiche (Xu Sanguo yanyi), die zeitlich mit den Eroberungen des Wu Di, des Kaisers der Westlichen Jin (265–317), einsetzt und damit unmittelbar an den Schluß der Drei Reiche anknüpft.198 Anders als die tatsächlichen historischen Ereignisse jedoch nahelegen, schildert die Fortsetzung 197
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Die Szenen des Gelages am Abend der Schlacht (Kap. 48 des Romans) sind zu finden bei C.T. HSIA: Der klassische chinesische Roman. Eine Einführung, aus dem Englischen übersetzt von EIKE SCHÖNFELD und mit einem Nachwort versehen von Helmut Martin, Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 81–84. Eine exakte Bestimmung der Zeit der Abfassung ist nicht möglich, als Verfasser ist mit »Xiyang yeshi« lediglich ein nicht weiter zuzuordnendes Pseudonym angegeben. Von der Fortsetzung zu den Drei Reichen sind heute einhundertfünfundvierzig Kapitel erhalten, ein Hinweis am Ende des Buches legt jedoch den Schluß nahe, daß es sich hierbei nur um den
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den geschichtlichen Verlauf weniger aus der Sicht des mächtigen Staates Wei, sondern berichtet zunächst von der Organisation des Widerstandes durch Liu Yuan in Shu gegen die Jin. Doch auch weiterhin steht der Konflikt Shu-Jin im Mittelpunkt der Erzählung, wobei auch noch auf den Rückzug der Jin in den Süden und die Ausrufung der Östlichen Jin (317–420) durch Chengdi (reg. 325–343) eingegangen wird. Das Werk selbst ist mit zahlreichen Zitaten aus Anekdoten und den offiziellen Annalen versehen. Es deckt aufgrund seines Umfanges bereits einen erheblichen Teil jener historischen Periode ab, die auch in dem ebenfalls während der Ming-Zeit (um 1612) anonym erschienenen Historischen Roman über die Östlichen und Westlichen Jin (Dong Xi Jin yanyi) behandelt wird. Dieser Roman hält sich inhaltlich und sprachlich stark an die historische Überlieferung, d.h. er übernimmt viel aus der Geschichte der Jin, die seinerzeit unter der Leitung von Fang Xuanling (578–648) zusammengestellt worden ist. Einer seiner Höhepunkte ist die berühmte »Schlacht von Feishui«, die in die Geschichte einging, weil eigentlich unterlegene Truppen den Sieg gegen eine stärkere Armee davontrugen.199 Eine weitere Möglichkeit, die Drei Reiche als Aufhänger für einen Folgeroman zu nehmen, bestand darin, sich von der strengen Chronologie und dem gesamten historischen Ambiente zu lösen und damit weniger die in der einen oder anderen Weise verbürgten Ereignisse zum Gegenstand zu machen, als vielmehr eine rein fiktive Handlung zu entwerfen. Diesen Weg beschritt der ebenfalls namentlich nicht bekannte Autor des 1740 erschienenen Werkes Steinperle – spätere Erzählung von den Drei Reichen (Hou Sanguo shizhu yanyi), welches in dreißig Kapiteln vorliegt und insgesamt auf einen eher phantastischen Hintergrund hin entworfen ist mit dem offensichtlichen Ziel, dem Herrscherhaus Liu/Han zu seinem legitimen Recht zu verhelfen. Die beiden Protagonisten in diesem Werk sind übernatürlicher Herkunft: Zur Zeit des Jin-Kaisers Wudi birst eines Tages ein Berg in der Präfektur Lu'an, und zum Vorschein kommt eine schöne Frau, bei der es sich um die »Himmlische Brokatstickerin« handelt, die eine irdische Existenz durchmachen soll. Sie erhält den Namen »Steinperle« und begibt sich in ein Kloster. Eines Tages wird ihr von einem alten Abt ein Himmelsbuch überreicht mit der Aufforderung, sich die darin beschriebenen Kampftechniken anzueignen. Als sie sich zu einer Amazone ausgebildet hat, sammelt sie nach und nach eine Reihe von Recken um sich und stellt eine Armee auf. In der Präfektur Pingyangfu nun lebt der alte Bildungskaufmann Liu (eine Anspielung auf das Kaiserhaus der Han) kinderlos mit seiner Frau. Als er eines
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ersten von zwei Bänden (ji) handelt. In einem modernen Druck liegt das Werk als Ausgabe des Yuelu-Verlags, Changsha 1994 vor. Der Historische Roman über die Östlichen und Westlichen Jin umfaßt insgesamt zwölf Bände, von denen vier mit einhundertsechzehn Szenen (ze) auf die West-Jin und acht Bände mit zweihunderteinunddreißig Szenen auf die Ost-Jin entfallen. Eine neuere chinesische Fassung liegt u.a. vor aus dem Verlag Shanghai guji, Shanghai 1991.
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Tages am Longmen-Berg vorüberkommt, rollt ein Fleischklumpen vom Berg herab und bleibt im Schlamm stecken, geschützt von mehreren hundert Krähen. Erst Liu lassen die Vögel an den Klumpen heran, und er nimmt ihn mit nach Hause. Unterwegs sucht er in einem Kloster Schutz vor einem Unwetter, wobei sich der Klumpen plötzlich in einen schönen Knaben verwandelt, der von den Lius als Sohn angenommen wird, den Namen Liu Hongzu erhält und sich später Yuanhai nennt. Die Authentizität der historischen Gestalt Liu Hongzus darf angezweifelt werden, handelt es sich doch bei ihm laut den Annalen der Jin um einen Hunnen. Aus den Geschichtsquellen wird aber ersichtlich, daß Hongzu die Erbfolge des untergegangenen Kaiserhauses in der Tat für sich beanspruchte. Als der Junge sechzehn Jahre alt ist, händigt ihm ein Taoist ein Schächtelchen mit einer steinernen Elster aus, die kurz darauf zum Leben erwacht und in Richtung Hauptstadt davonfliegt, um dort neue Recken zu rekrutieren. Einen davon führt sie zu einem Ort, an dem eine Kiste liegt. In dieser befindet sich wiederum ein Schwert, das göttlicher Herkunft ist und durch eine Inschrift zu erkennen gibt, daß man es Liu Hongzu aushändigen solle. Der Finder macht sich mit der Waffe auf nach Pingyang, sammelt unterwegs noch einen weiteren Helden ein und schließt mit Hongzu am Ende einen Dreibrüderbund, der der Pfirsichgartenszene in den Drei Reichen nachempfunden ist. In der Folge treffen Hongzu und Shizu zusammen und vereinigen ihre Kräfte, die von der Himmelsfee angediente Führung der Verbände lehnt Liu aber zunächst ab. Man hebt weitere Truppen aus und zieht in den Krieg gegen die Reichsfürsten; nach zahlreichen Siegen erklärt sich Steinperle zur Königin von Zhao. Nach der Einnahme der Hauptstadt Luoyang erscheint erneut ein himmlischer Bote, der Steinperle Vorwürfe macht, die Herrschaft an sich gerissen zu haben, stehe diese doch vielmehr Hongzu zu. Die unrechtmäßige Königin kommt daraufhin zum »wahren Bewußtsein« und entsagt der Welt, während Hongzu den Thron besteigt und sich zum »König von Han« macht. Wenden wir uns von dem rein auf China bezogenen Kontext ab, in dem die Drei Reiche zweifellos früh die Rolle eines »Staatsromans« spielten, so ist die Bedeutung dieses Werks auch vor dem gesamt-asiatischen Hintergrund durchaus bemerkenswert. Wir werden diese knappen Angaben über die Rezeption und den Einfluß der chinesischen Erzählwerke auf die Literaturen Asiens im folgenden bei den übrigen hier behandelten Romanen nicht weiter verfolgen können und nur in Ausnahmefällen auf bestimmte stoffliche Zusammenhänge hinweisen.200 Im Falle der Drei Reiche sind die entsprechenden Verbindungen der chinesischen und der außerchinesischen Literatur jedoch insofern von einigem Interesse, als der Einfluß hier 200
Ausgiebig ist der Frage des Einflusses chinesischer Erzählwerke auf die Literaturen Asiens nachgegangen worden in CLAUDINE SALMON (Ed.): Literary Migrations. Traditional Chinese Fiction in Asia (17-20th centuries), Peking: International Culture Publishing Corporation 1987.
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weit über das eigentliche Feld des Schöngeistigen hinausgeht. Die Anliegen, die man dabei andernorts mit dem Werk verband, sind ganz unterschiedlicher Natur gewesen. So bestand ein wesentliches Ziel etwa bei den Mandschuren gerade zur Zeit ihrer Expansion, die der Ablösung der Han-chinesischen Ming-Dynastie vorausging, wohl vornehmlich darin, über den Roman zu militärischen Kenntnissen zu gelangen, die in den kriegerischen Auseinandersetzungen von Nutzen waren. Dies sicherte den Drei Reichen nicht nur eine frühe Übertragung ins Mandschurische durch den Gelehrten Dahai (1599–1632, posthum erschienen 1650), sondern führte mit der Vorliebe, die man den Herrscherfiguren Nurhaci (1559–1626) und Taizong (1592–1643) für den Roman zuschrieb, auch dazu, daß diesem im Gegensatz zu zahlreichen anderen Vertretern der chinesischen Erzählkunst Zensurmaßnahmen erspart blieben. Vor diesem Hintergrund ist auch die Verehrung chinesischer Kriegshelden wie Guan Yu zu verstehen, dem ein Platz in der mandschurischen Staatsreligion eingeräumt wurde.201 Ein ähnliches Ziel dürfte die Wahrnehmung der Drei Reiche in Korea gehabt haben, wo man sich durch das Studium der Strategeme, die Lektüre über den Umgang mit Verrätern etc. ein tieferes Verständnis von den Grundlagen der Machtpolitik versprach. Anders hingegen sah es in den entfernteren Siedlungsgebieten der chinesischen Diaspora aus. Hier scheint vielmehr der identitätsstiftende Charakter der opulenten Erzählung für die aufstrebende chinesische Elite im Vordergrund gestanden zu haben, wie das Beispiel Thailands zeigt, wo eine frühe Übertragung von einem gewissen Chao P'hya K'hlang (ca. 1750–1805) angefertigt worden ist, einem hohen Beamten offenbar chinesischer Herkunft, der die Stellung des Außenministers bekleidete.202 Die überragende Rolle, die die Drei Reiche in den genannten ebenso wie vielen hier nicht erwähnten Kulturen Asiens innehatten – um diesen Exkurs zu einem Abschluß zu bringen – zeigt sich nicht zuletzt darin, daß zumeist vollständige Übersetzungen des Romans angestrebt wurden und damit eine breite Grundlage für Adaptionen des Stoffes in den unterschiedlichsten Formen der Kunst wie etwa Schauspiel und Drama vorlag. In der chinesischen Literaturgeschichte wird der Name Luo Guanzhongs noch mit einem weiteren historischen Roman in Verbindung gebracht, der zumindest thematisch einige Bezüge zu den Drei Reichen aufweist. Die Aufzeichnungen über den Niedergang der Tang-Dynastie und die Geschichte der Fünf Dynastien (Can Tang Wudai shi yanyi zhuan)203 tragen hinter dem Titel einen Vermerk, in dem Luo Guanzhong als Verfasser angegeben ist. Auch im Text werden die Drei Reiche 201
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Vgl. MARTIN GIMM: »The Manchu Translations of Chinese Novels and Short Stories – an Attempt at an Inventory«, in: ebd., S. 145f. Vgl. PRAPIN MANOMAIVIBOOL: »Thai Translations of Chinese Literary Works«, in: ebd., S. 317–321. Vorliegend als Ausgabe Peking: Baowentang 1983.
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mitunter erwähnt.204 Sehr wahrscheinlich jedoch verband ein anonym gebliebener Autor mit der Angabe von Luos Namen die Hoffnung, sein Werk, indem er es mit einem berühmten Namen schmückte, aufzuwerten, so daß mitunter jegliche Verfasserschaft geleugnet und lediglich ein Textkompilator angenommen wird.205 Tatsächlich wirkt der in sechzig Kapiteln abgefaßte und mit einfachen Kapitelüberschriften ohne Gegenverse versehene Roman nachlässig bearbeitet und im ganzen unbehauen. Der Niedergang liegt in mehreren Fassungen vor, so u.a. in einer spät-Ming-zeitlichen, die Li Zhi (1527–1602) mit Kommentaren versah. Eine konkrete Angabe über das Jahr des Druckes findet sich in dieser Ausgabe jedoch nicht. Darüber hinaus gibt es noch zwei allerdings sehr fehlerhafte Qing-Ausgaben (u.a. aus dem Jahr 1762). Bereits zur Zeit der Südlichen Song (1127–1279) war die Geschichte der Fünf Dynastien (907–960) zu einem beliebten Stoff in der Kunst der Erzählung und des Dramas geworden. Als einer der bekannteren Vorläufer der vorliegenden Romanversion gilt hier etwa das »Volksbuch über die Geschichte der Fünf Dynastien« (Wudai shi pinghua), doch gerade auch in den Dramen der Yuan-Zeit wurde der Stoff immer wieder gerne verarbeitet, wie etwa Bai Pus »Li Keyong schießt mit dem Pfeil ein Geierpaar« (Li Keyong jian she shuang diao) beweist. Ausführlich beschreibt der Roman zunächst den Niedergang der Tang sowie die Geschichte der Folgestaaten der Späten Liang (907–923) und der Späten Tang (924–936). Die Darstellung dieser Zeit umfaßt insgesamt fünfzig der sechzig Kapitel, womit die Schilderung der übrigen Staaten der Fünf Dynastien – der Späten Jin (937–946, Kap. 50–57), der Späten Han (947–950, Kap. 58) und der Späten Zhou (951–960, Kap. 59–60) – recht knapp gerät. Durch den ununterbrochenen Erzählfluß entsteht der Eindruck direkter zeitlicher Folge. Tatsächlich machen die geschilderten Ereignisse von den durch Huang Chao (gest. 884) angezettelten Aufständen (Ausbruch 875) bis hin zur Gründung der Song durch Zhao Kuangyin (927–976) im Jahr 960 nahezu ein ganzes Jahrhundert aus. Die Aufzeichnungen über den Niedergang der Tang-Dynastie und die Geschichte der Fünf Dynastien greifen eine Reihe mythisch anmutender Themen auf, die dem Leser in recht einfacher Form dargeboten werden. Schon die Geburt des späteren Rebellenführers Huang Chao ist ein Hinweis auf die in der volkstümlichen Erzählkunst Chinas beliebte Vorstellung göttlicher Fügung: Ein kleines Kind in gelben Kleidern, das am Wegesrand sitzt, verwandelt sich in gelbes Gas und 204
205
In Kap. 29 des Niedergangs findet sich z.B. eine Gedichtzeile mit direktem Hinweis auf eine Szene in Kap. 68 der Drei Reiche. Zu dieser Auffassung vgl. die Ausführungen in einem Aufsatz ZHAO JINGSHENS (»Unmaßgebliche Bemerkungen zum Roman Aufzeichnungen über den Niedergang der Tang-Dynastie und die Geschichte der Fünf Dynastien« [Xiaoshuo xianhua – »Can Tang Wudai shi yanzhuan«]), der sich im Anhang zu der o.g. Baowentang-Ausgabe des Romans findet (S. 235– 242).
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dringt in den Leib einer Frau, der späteren Mutter, die nach fünfundzwanzig Monaten Schwangerschaft endlich ein extrem häßliches Kind zur Welt bringt. Der Knabe macht jedoch im Studium und in der Kampfkunst seinen Weg, nimmt schließlich in Chang'an an einem Wettkampf teil, aus dem er als Sieger hervorgeht. Da ihm der Kaiser aufgrund seiner Häßlichkeit die Anerkennung verweigert, leistet Huang einen verhängnisvollen Schwur: Huang Chao trat vor das Tor des Palastes und seufzte: »In der Ausschreibung für den Wettbewerb waren Fertigkeiten mit Pinsel und Schwert gefragt, nicht Schönheit des Antlitzes. Hätte ich eher gewußt, daß der törichte Herrscher seine Wahl vom Aussehen abhängig macht, wäre ich gar nicht erst hierher gekommen.« [...] Neben der Straße scharrte ein Hahn, der zu krähen begann, als er Huang Chao erblickte. »Was dem einfältigen Herrscher entging, hat wenigstens dieses Tier erkannt, indem es in mir einen Mann mit hervorragenden Eigenschaften sieht«, stieß Huang hervor und seufzte erneut. Mit diesen Worten wandte er sich an den Hahn und sprach: »Wenn ich das Zeug zum Herrscher habe, dann krähe jetzt noch einmal!« Tatsächlich krähte der Hahn ein weiteres 206 Mal, worauf sich Huang Chao schwor, die Tang zu vernichten.
Huang verfaßt ein Schmähgedicht, das er an die Wand eines Wirtshauses schreibt, und flieht daraufhin aus der Stadt. Geister verkünden, daß mit Sicherheit Unglück über das Land kommt, wenn Huang in einem bestimmten Kloster einen Mönch tötet. Voller Verbitterung gelangt auch Huang auf seiner Flucht in eben dieses Kloster, und klagt über sein Schicksal: Es war mir bestimmt, Minister im Reich zu werden, doch wo keine Moral mehr herrscht, nur noch Betrügern und Gesindel Vertrauen geschenkt wird, geht der Blick für den Edlen verloren. Im Reich herrschen Unordnung und Chaos, die Mächtigen streben allein nach Gewinn und Profit, Weisheit und Können bedeuten nichts mehr. Wie geht es an, daß ein Herrscher jemanden nur aufgrund seines Aussehens bemißt, nicht nach seinen Fähigkeiten und seinem Heldenmut. Ich schwöre daher, daß ich alles daran setzen werde, die Mächtigen zu stürzen, 207 das Reich zu säubern und vollständig zu erobern.
Huang, sich des Geisterspruchs bewußt und weit davon entfernt, einen Mönch töten zu wollen, hat dafür gesorgt, daß sich niemand im Kloster aufhält, als er mit seinem Schwert probt. Nur den Mönch, der an einem Baum lehnt, hat er übersehen, und als er nach dem Stamm ausholt, um das Schwert zu prüfen, erschlägt er den Geistlichen, womit sich das Schicksal erfüllt. 206
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Aufzeichnungen über den Niedergang der Tang-Dynastie und die Geschichte der Fünf Dynastien, Kap. 3, S. 5. Ebd., Kap. 4, S. 9.
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In der Folge brechen im Reich Aufstände unter der Führung Huang Chaos aus, Kaiser Xizong flieht aus der Hauptstadt. Dem Rat eines Ministers folgend, nimmt Xizong Verbindung mit Li Keyong (856–908) auf, einem in den Norden des Reiches verbannten Militär, der dort eine starke Streitmacht aufgebaut hat und mit dessen Hilfe es gelingen soll, Huang Chao niederzuwerfen. Durch die Erlebnisse nach dem Aufbruch der Truppen Lis wird ein weiterer Held des Romans eingeführt – An Jingsi, Sohn eines Königs, der einst in den Bergen ausgesetzt worden ist und als Schäfer in der Wildnis lebt. Jingsi erlegt den Tiger, der Li Keyong angefallen hat, und gibt dem Feldherren anschließend Auskunft über seine bizarre Herkunft. An Jingsi sagte: »Meine Mutter hat mich zur Welt gebracht, ich habe nie einen Vater besessen.« Da sagte der König: »Jeder Mensch entsteht aus dem Zusammenspiel von Yin und Yang. Was für ein Unsinn zu behaupten, du hättest eine Mutter, aber keinen Vater besessen!« Darauf antwortete An Jingsi: »Ich weiß nur, daß meine Mutter Cui mit Namen hieß, bei meiner Geburt achtundzwanzig Jahre war und daß von einem Vater nie die Rede gewesen ist. Es geschah an einem sonnigen Tag, als eine Gruppe von Cousinen meine Mutter einlud, mit ihnen zur Lingqiu-Schlucht zu wandern, wo sie wildes Gemüse ernten und die Frühlingslandschaft genießen wollten. Sie kamen zum Kaisergrab, vor dem rechts und links der Straße acht steinerne Wächter ihren Dienst verrichteten. Die jungen Frauen spaßten mit meiner Mutter und riefen: ›Wir alle sind schon in festen Händen, nur du hast noch keinen passenden Mann gefunden. Wie wäre es, wenn wir dir heute einen Mann suchen?‹ ›In Ordnung‹, sagte meine Mutter, ›nur wo wollt ihr suchen und vor allem wen?‹ Die Cousinen wiesen auf die steinernen Wächter und sagten: ›Wie wäre es mit einem von denen? Du hast die Wahl.‹ ›Warum sollte ich meinen Mann nicht wählen‹, erwiderte Mutter schlagfertig, ›schließlich bin ich keine Witwe!‹ Damit warf sie ihren Korb in die Luft und wartete gespannt, an welcher Statue er niederfallen würde, um sich mit eben jener Steinfigur zu vermählen. Der Korb blieb am Hals des zweiten Wächters in der Reihe hängen. Mutter lief hinzu, umarmte den steinernen Mann und rief: ›Steinmann, Steinmann Nummer zwei, du bist mein Mann, ich bleib’ dir treu!‹ Damit verließen die Frauen den Ort und kehrten nach Hause zurück. Tatsächlich lag in der folgenden Nacht niemand anders als der steinerne Wächter vom Kaisergrab im Bett neben meiner Mutter. Er besaß ein strahlendes Antlitz, und die beiden wurden Mann und Frau. Nach einiger Zeit wurde Mutter schwanger mit mir. Als die Leute davon erfuhren, fragten sie, mit wem sie sich eingelassen habe, und Mutter erzählte alles genauso, wie es sich zugetragen hatte. Doch niemand glaubte ihr, man jagte Mutter aus dem Dorf, so daß sie mich in einer Höhle zur Welt brachte. Sieben Jahre zogen wir als Bettler von Tür zu Tür und baten bei den Menschen um etwas zu essen. Eines Tages gelangten wir zum Kaisergrab in der Lingqiu-Schlucht. Die steinernen Wächter waren alle umgestürzt, ihre Häupter abgeschlagen. Mutter hieß mich, die Köpfe wieder anzufügen und die Statuen aufzurichten, damit alles wieder so aussah wie zuvor. Sie sagte: ›Nur noch das Zeichen an von anfügen soll künftig dein Familienname sein‹, und sie nannte mich An Jingsi. Mutter brach in Tränen aus, wir kehrten heim, und am
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Abend erhängte sie sich. Ich begrub Mutter in der Nähe der Steinwächter. Allein 208 ziehe ich seitdem durchs Land.«
Das Thema einer belebten und liebenden Statue erinnert stark an die früheste Version des Pygmalion-Stoffes, wo sich der König gleichen Namens in eine Statue der Aphrodite verliebt, sie jedoch erst zur Frau nehmen kann, nachdem die Göttin ihr Bildnis belebt hat. Li Keyong nimmt Jingsi als Sohn an, gibt ihm den Namen Li Cunxiao. Schon in einer seiner ersten militärischen Bewährungsproben erweist sich Cunxiao als listenreicher Krieger, indem es ihm gelingt, die Stadt Hangu einzunehmen und damit den strategisch wichtigen Shiling-Paß freizumachen. Auch hier eine frappierende Ähnlichkeit zu einem abendländischen Mythos – der List des Odysseus bei der Einnahme Trojas. Hangu war eine Stadt mit mächtigen, steilen Mauern. Sieben Tage bereits stürmten sie unablässig gegen das Bollwerk an, ohne jedoch eine Spur von Erfolg. Da trat Xue A'tan vor Li Cunxiao und riet: »In der Stadt gibt es kein Wasser und Brennholz mehr, sie werden bald aufgeben müssen. Nach nunmehr einer Woche der Belagerung sind unsere Soldaten erschöpft. Wir sollten uns vorübergehend zurückziehen, dann wird die Stadt am Ende im Schlaf in unsere Hände fallen.« Cunxiao lobte den Plan und unterrichtete Li Keyong. Man gab Befehl zum Rückzug, und am Abend zogen sich alle Truppenteile nach und nach aus ihren Stellungen zurück. Cunhui hatte von der Stadtmauer aus den Rückzug der feindlichen Truppen beobachtet. Er fürchtete dahinter eine List und hieß einige seiner Kundschafter, aus dem Westtor zu schlüpfen und die Gegend zu erkunden. Als sich herausstellte, daß sich die Truppen Li Keyongs in geraume Entfernung von Hangu zurückgezogen hatten, befahl er den Bürgern und Soldaten, sich innerhalb von drei Tagen mit ausreichend Wasser und Brennholz einzudecken. Aus Sorge, die Feinde würden nach Ablauf dieser Zeit tatsächlich wieder gegen die Stadt vorrücken, kam es zu einem hektischen Treiben, bei dem die Menschen massenweise Holz in die Mauern Hangus schafften. Wie erwartet traf am dritten Tag die Nachricht von den vorrückenden Truppen Li Keyongs ein, eilig begaben sich die Bewohner Hangus in den sicheren Schutz der Stadt. Cunhui hieß die Wachen, Türme und Mauern zu besetzen, Cundang selbst unternahm es, mit einem Trupp die Tore der Stadt zu überprüfen. Es war gegen Mitternacht, als plötzlich an einem der Tore zur Stadtseite hin ein Feuer ausbrach. Sogleich begab sich Cundang an die Gefahrenstelle, wurde aber von jemandem mit einem Schwerthieb aus dem Sattel geschleudert. Die zehn Ritter Li Keyongs richteten unter den Fußsoldaten Cunhuis ein Blutbad an, dann öffneten sie die Tore, um ihre Kameraden in die Stadt einzurücken zu lassen. [...] Xue A'tans Plan war also aufgegangen: Als Holzfäller verkleidete Soldaten Li Keyongs hatten sich 209 unter die Bevölkerung gemischt und nachts die Tore der Stadt geöffnet. 208 209
Ebd., Kap. 10, S. 33. Ebd., Kap. 12, S. 40f.
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Für ihre Verdienste bei der Niederschlagung Huang Chaos werden Vater und Sohn am Ende vom Kaiser belohnt: Keyong wird Fürst von Jin, Cunxiao erhält ein hohes Amt bei Hofe. Neid und Eifersucht bestimmen die Atmosphäre in der Umgebung des Kaisers. Zhu Wen, ehemaliger General unter Huang Chao, vermählt mit der Schwester Xizongs, überwirft sich mit dem Kaiser, als dieser ihm den versprochenen Gewinn nach einer Wette verweigert. Zhu ruft in der Folge die Dynastie der Späten Liang aus, nachdem die Verräter Li Cunxin und Tang Junli einen Befehl des betrunkenen Keyong gefälscht haben und Cunxiao infolgedessen hingerichtet worden ist. Es gelingt Zhu Wen, den nach dem Hungertode Xizongs als Nachfolger auf den Thron gelangten Zhaozong (889–904) zu entmachten. Noch einmal sammelt Li Keyong Truppen, findet aber den Tod. Doch auch Zhu Wen verfällt schnell den Lockungen der Macht. Die von ihm ausgerufene Dynastie geht unter, nachdem er sich bei der Abwesenheit des Sohnes mit dessen Frau eingelassen hat und von dem jungen Mann nach Entdeckung der Blutschande getötet wird. Schließlich nehmen Tang-Truppen Kaifeng ein, machen Li Cunxu zum Kaiser der Späten Tang. Cunxu gibt sich jedoch bald Ausschweifungen hin und wird durch Li Keyongs Sohn Siyuan bekämpft, der dann als Mingzong auf den Thron gelangt. Der letzte Herrscher der Späten Tang, Li Congke, überwirft sich bei einer Familienfehde mit Shi Jingtang, dem Gatten der Kaiserschwester. Shi ruft daraufhin die Dynastie der Späten Jin aus, die sich aber nur etwas über ein Jahrzehnt an der Macht hält und von den Späten Han abgelöst wird, ausgerufen von General Liu Zhiyuan. Nach kaum drei Jahren ist freilich auch deren Herrschaft zu Ende, ruft Guo Wei mit den Späten Zhou die letzte der Fünf Dynastien aus – die Bedrohung durch die Kitan im Norden ist bereits nicht mehr aufzuhalten. Das Verdienst, die Fremdherrschaft zunächst erfolgreich abgewehrt zu haben, kommt fürs erste dem Song-Gründer Zhao Kuangyin zu, der die letzten Szenen des Werkes beherrscht, verabschiedet mit einem Ausruf der Erleichterung: »Tägliche Kämpfe in den Fünf Dynastien, Räuberbanden ziehen durchs Land, im Reich kehrt keine Ruhe ein. Wie gut, daß der Gründer der Song das Reich nun wieder einte und überall Ruhe einkehrte!« Die Song-Dynastie wird uns im Rahmen des historischen Romans noch einige Male unter den verschiedensten ausgewählten Aspekten beschäftigen. Das chinesische Reich erbrachte in dieser Epoche kulturelle Glanzleistungen, doch wie selten zuvor führten die ständigen Bedrohungen der Nomadenvölker aus dem Norden den Han-Chinesen die eigene Schwäche ständig vor Augen. Gerade das Herrscherhaus Song hatte mit der Verschleppung zweier Kaiser vor dem Rückzug in den Süden zu Beginn des 12. Jahrhunderts eine der schlimmsten Erniedrigungen hinzunehmen. Es verwundert daher nicht, daß man – wie im folgenden Beispiel – aufgrund der großen Ähnlichkeit der Probleme zur Mitte der Ming-Dynastie (angeführt sei hier nur die unsichere Lage an den Grenzen sowie die Gefangennahme des Ming-Kaisers Yingzong [reg. 1436–1449] bei einem Feldzug gegen die Mon-
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golen) in der Erzählkunst auch immer wieder gerne auf entsprechende Zeiten während der Song abhob.
1.2 Der kriegerische Clan Familie Yang schildert den Kampf mehrerer Generationen aus dem Yang-Clan hervorgegangener Generäle gegen die Liao (Kitan) und die Xixia (Tanguten) in Nordchina. Zahlreiche Vorlagen in Form von Textbüchern und Dramenfassungen zeugen von der Beliebtheit, der sich der Stoff seit der Yuan-Zeit erfreute.210 Die Begebenheiten um den Yang-Clan dürften um die Mitte der Ming-Dynastie die Form des Romans angenommen haben, der früheste Druck liegt in einer Fassung von acht Bänden und achtundfünfzig Kapiteln aus dem Jahre 1606 vor. Die Verfasserfrage ist unklar, mitunter taucht jedoch der Name Xiong Damus in diesem Zusammenhang auf.211 So fragwürdig dies auch ist, Xiong wird auf jeden Fall in anderer Weise mit dem Werk in Verbindung gebracht. Auf der Grundlage der Familie Yang soll er demnach die Chronik der Nördlichen Song-Dynastie (Bei Song zhizhuan tongsu yanyi ti ping) verfaßt haben. Familie Yang ist mit einem Vorwort aus der Feder eines gewissen Ji Zhenlun aus Nanking versehen, über den aber weiter nichts bekannt ist. Der im Roman geschilderte Inhalt ist nur zum Teil historisch korrekt, wie wir im weiteren noch sehen werden. Hintergrund ist das Erstarken des Kitan-Staates im Norden Chinas, nachdem der Begründer, ein gewisser Apaoki, Angehöriger des mächtigen Yelü-Clans, sich im Jahre 907 zum Kaiser ausgerufen hatte und in der Folge über ein Reich regierte, das von der Mongolei über die Mandschurei bis nach Korea reichte. Der heraufbeschworene Konflikt mit China entlud sich 979 in einem Krieg, in dem die Song eine schwere Niederlage hinnehmen mußten. Während der nächsten Jahrzehnte gelang es jedoch keinem der beiden Reiche, die Lage im Norden entscheidend zu verändern. Im Jahre 1005 schloß man daher den Vertrag von Shanyang, in dem sich die Song zu jährlichen »Kontributionen« verpflichteten, was ihnen zumindest den Unterhalt einer kostspieligen Armee ersparte. Gleichzeitig gewannen auch die Tanguten während der ersten Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts immer mehr an Einfluß und sagten sich 1038 formell von den Song los. Doch auch in diesem Fall gelang es dem chinesischen Kaiserreich, die Lage an der Grenze mittels Zahlungen ruhig zu halten, ein 210
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Als Textbuch ist die Geschichte der Familie Yang verarbeitet in Stücken wie »Herr Yang Ling« (Yang Ling gong) oder »Der fünfte Herr Yang wird Mönch« (Wu lang wei zeng). Als Yuan-Drama liegt hier u.a. vor »Xie Jinwu verleumdet die Mitglieder des QingfengHauses« (Xie Jinwu zhasu Qingfengfu). Vgl. dazu ZHAO JINGSHEN: »Die Entwicklung der Geschichte über die Generäle des Yang-Clans« (Yangjia jiang gushi de yanbian), in: DERS.: Gesammelte Aufsätze zur chinesischen Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuo congkao), Ji'nan: Qilu shushe 1980, S. 212–218. Zur Person Xiong Damus vgl. die Angaben in der Einleitung dieses Kapitels.
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Verfahren allerdings, das von nicht wenigen als Schmach empfunden wurde und in dieser Form auch im vorliegenden Roman zum Ausdruck kommt. Familie Yang beginnt mit der Schilderung der Geburt des Song-Gründers, die unter wunderbaren Umständen stattfindet. Ein weiterer kurzer Abschnitt ist dem Unterricht gewidmet, den Zhao Kuangyin und seine Brüder bei ihrem Lehrer Chen Fu erhalten. Dann der Einsatz im Militär, Verdienste und die »Wahl« Zhao Kuangyins durch die Generäle zum Song-Kaiser Taizu. Mit Hinweisen auf die unsichere Lage an der Grenze im Norden wird schließlich zum eigentlichen Thema übergeleitet. Sodann erfährt der Leser etwas über die Herkunft des Ahnen aus dem Yang-Clan. Herausragende Gestalt ist zunächst Yang Ye (Yang Jiye), eine historische Person, die zu einem der berühmtesten Song-Generäle wurde. Er stammte aus dem nordchinesischen Taiyuan, sein genaues Geburtsdatum ist unbekannt, er starb jedoch 986 etwa sechzigjährig. Nach dem ersten Angriff Song Taizus 976 gegen die Nördlichen Han riet Yang Ye dem Herrscher Liu Jiyuan, sich den Song zu unterwerfen. Später wurde Yang Ye aufgrund seiner Tapferkeit als Gardegeneral in Taizongs Dienste aufgenommen und mit der Verwaltung Zhengzhous beauftragt. Nunmehr im Dienst des Song-Kaisers, setzt man Yang Jiye bald an die Spitze der Truppen, die die Kitan in Schach halten sollen. Deren Verbände werden von einer Frau angeführt, die sich Kaiserin Xiao (Xiaohou) nennt. Es dauert nicht lange, und ein Krieg bricht aus, in dessen Verlauf zehn Offiziere der Song gefangen werden, darunter Yang Yanlang (958–1014), der sechste Sohn des Yang Ye. Die Darstellung der Schlachten nimmt im Roman breiten Raum ein, eindrucksvoll ist die Szene, in der Yang Ye stirbt. Mit nur wenigen Getreuen an der Seite hat er sich im Wolfszahntal verschanzt. Trotz der Verletzung durch einen Pfeilschuß gelingt es Yang Ye noch einmal, die Feinde zurückzuschlagen. Er führt seine Männer vor den kleinen Tempel des Li Ling, eines Helden aus der HanZeit, der ebenfalls in Feindesland starb. In auswegloser Situation spitzen sich die Ereignisse zu. Als Yang Ye sah, daß die Liao-Truppen keinen Angriff unternahmen, weigerte er sich, weiter Nahrung zu sich zu nehmen. Doch als nach drei Tagen immer noch nicht sein Tod eingetreten war, wandte er sich an seine Soldaten und sagte: »Männer, Seine Majestät der Kaiser hat mich mit Gnade und Wohlwollen bedacht. Ich habe ihm seinerzeit versichert, daß es mir gelingen werde, die Grenzen zu sichern und die Eindringlinge zurückzuwerfen. Doch Verräter in den eigenen Reihen haben das verhindert. Man hat uns ins Verderben geschickt, ich habe kein Gesicht mehr, kann mit dieser Schmach nicht weiterleben!« Dann blickte Yang die etwa hundert Soldaten an, die noch geblieben waren: »Ihr habt daheim Eltern, Frauen und Kinder. Es ist sinnlos, wenn ihr zusammen mit mir sterbt. Kehrt in die Heimat zurück und bittet den Kaiser, mir zu vergeben!« Tiefbewegt riefen die Männer aus: »General, wir werden zusammen mit Euch in den Tod gehen!« Yang Ye grübelte einen Moment und hob dann erneut an: »Auf
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Hilfe zu hoffen ist vergeblich! Wir sind eingekesselt, es gibt kein Entrinnen! Man nennt mich gemeinhin ›Ohnefeind‹, da niemand in der Lage ist, es mit mir aufzunehmen. Es wäre eine unerträgliche Schmach, von den Liao lebend gefangen zu werden. Besser, ich bereite meinem Leben selbst ein Ende!« Entschlossen wandte er sich daraufhin nach Süden, verneigte sich und sagte: »Glück und Gesundheit seiner Majestät Kaiser Taizong. Leider ist es mir nicht vergönnt, noch einmal das Antlitz Eurer Majestät zu erblicken!« Mit diesen Worten nahm er seinen Helm ab, schlug sein Haupt gegen die Stele des Li Ling und starb. Yang Ye zählte zu der Zeit neunundfünfzig Jahre. Als die Männer sahen, daß Yang tot war, unternahmen sie erneut einen Ausfallversuch, wurden jedoch allesamt von den Truppen der Liao niedergemetzelt. Nur zwei oder drei Männern 212 gelang die Flucht.
Der Höhepunkt der im Roman eingehend geschilderten Schlachten ist sicherlich mit den Kämpfen im Neundrachental erreicht, wo Kaiserin Xiao eine Reihe von teils magischen Gefechtsstellungen errichten läßt. Niemand auf Seiten der Song durchschaut zunächst das Schema und Wesen der Stellungen, erst die herbeigerufene Lingpo bringt Aufklärung. Zur Bekämpfung der Stellungen ist allerdings ein Haarbüschel der Kaiserin Xiao notwendig, das beschafft werden muß. In diesem Abschnitt taucht zum ersten Mal der Name Yang Zongbaos auf, der als Enkel Lingpos vorgestellt wird und als Held im weiteren Verlauf eine beherrschende Rolle spielt. Seine Person ist zwar nicht belegt, als historisches Pendant kommt allerdings Yang Wenguang (?–1074) in Frage, Enkel des Yang Ye und ein SongGeneral unter Kaiser Zhenzong.213 Die letzte große Tat Yanlangs vor seinem Tod ist, dafür Sorge zu tragen, daß die Leiche des Vaters im Wolfszahntal ordentlich bestattet wird, nachdem ihm der Geist des Toten erschienen ist und geklagt hat, immer noch keine angemessene Ruhestätte gefunden zu haben. Bei einer weiteren militärischen Aktion der Song unter ihrem neuen Kaiser Renzong kommt es zwischen dem mittlerweile als junger Held des Yang-Clans in den Vordergrund getretenen Zongbao und dem Feldherren Di Qing zu Konflikten. Der erfolglose Di muß den Oberbefehl über die Truppen nach Zongbaos Eintreffen an diesen abgeben. Anders als in vielen literarischen 212 213
Historischer Roman über die Familie Yang, Shanghai: Shanghai guji 1980, 1. Buch, S. 40. Von den insgesamt vier Söhnen des Yang Tingzhao (958-1014) wird lediglich Yang Wenguang in den Annalen der Song erwähnt. Wie sein Vater und der Großvater Yang Ye so war auch Wenguang als General mit der Verteidigung der Grenzen befaßt. Wenguang wurde erst in den letzten Lebensjahren von Tingzhao geboren, als dieser bereits über fünfzig war. Als Tingzhao starb, war Wenguang demnach noch ein Kind und dürfte seine militärische Laufbahn frühestens zwischen 1023 und 1031 aufgenommen haben. In der Volksüberlieferung übersah man, daß Tingzhao und Wenguang trotz des großen Altersunterschieds Vater und Sohn waren und schaltete mit Yang Zongbao einen fiktiven Vater Wenguangs dazwischen, so daß Tingzhao und Wenguang einander plötzlich im Verhältnis Großvater-Enkel gegenüberstanden.
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Darstellungen dieser und späterer Zeit ist Di Qing – er wird uns u.a. in dem aus der Qing-Zeit stammenden Roman Turm der Zehntausend Blumen (Wanhualou) noch begegnen – hier eine negative Figur. Dies läßt sich nur so erklären, daß der Verfasser die ansonsten so dominierende Heldengestalt Dis aus dramaturgischen Gründen in ein schlechtes Licht rückt, um Yang und seinen Clan strahlender erscheinen zu lassen. Jedenfalls trägt Zongbao einen Sieg über den gegnerischen König Nong Zhigao davon, zieht sich aber wegen der Verhaftung des renitenten Di Qing dessen Haß zu. Aus Furcht, der einflußreiche Di könne sich bei Hofe an ihm rächen, quittiert Yang Zongbao auf seltsame Art und Weise seinen Dienst beim Kaiser: Vor den Augen Renzongs verwandelt er sich in einen Vogel und fliegt in den Himmel davon. Alle Welt hält ihn für tot oder wenigstens verwandelt, doch Zongbao fliegt zum Anwesen des Clans zurück, wo er alle Familienmitglieder mahnt, seine Erscheinung geheim zu halten, damit er nicht ein weiteres Mal zum Dienst für den Kaiser gerufen wird und sich einem friedlichen Leben auf dem Lande hingeben kann. Im Umfeld des Stoffes der Familie Yang sind eine ganze Reihe von Erzählungen wie etwa der Komplex um Di Qing angesiedelt, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden. Ein Roman, der sich jedoch direkt unter Ausbau von in der Familie Yang angelegten Szenen aus diesem Vorgänger entwickelte und besonders enge thematische Bezüge zu ihm aufweist, ist die zur Qing-Zeit entstandene und in einem Druck aus dem Jahre 1779 vorliegende Vollständige Erzählung über den Clan der Hu (Shuo Hu quanzhuan) in vierzig Kapiteln. Bei dem Verfasser handelt es sich vermutlich um einen gewissen Zhang Rong, wie aus den Unterschriftenstempeln des Vorworts zu entnehmen ist.214 Die Figur Hu Tingzans, des Ahnherren der beiden Protagonisten Hu Shouyong und Hu Shouxin im Clan der Hu, taucht bereits als prominenter Verwandter des Yang Linggong in zahlreichen Episoden der Familie Yang auf. Der Inhalt des Clans der Hu ist jedoch anders als das Ursprungswerk weniger mit der Aufarbeitung der geschichtlichen Zusammenhänge befaßt, sondern konzentriert sich unter dem Einfluß der zur Zeit seiner Entstehung bereits weit fortgeschrittenen erzählerischen Dehistorisierung von überlieferten Ereignissen auf die Auseinandersetzungen zwischen dem Clan der Hu und der Familie des Ministers Chong Ji. Als dessen Sohn Chong Heihu die junge Zhao Fengquan raubt und bei einer Rettungsaktion durch die Brüder Hu Shouyong und Hu Shouxin erschlagen wird, rächt sich der Minister, indem er über seine Tochter Duohua, die Lieblingskonkubine des Kaisers Renzong, einen kaiserlichen Befehl zur Vernichtung des Hu-Clans erwirkt. Shouyong und seinem Bruder gelingt jedoch mit Hilfe Yang Liugongs und einiger weiterer auf214
Vgl. dazu die Ausführungen zu dem Roman bei CAI GUOLIANG: Untersuchungen zum Roman der Ming und Qing (Ming Qing xiaoshuo tanyou), Hangzhou: Zhejiang wenyi 1985, S. 47–53.
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rechter Männer die Flucht. Sie heben an der Westgrenze Truppen aus und ziehen gegen die Hauptstadt des Reiches. Kanzler Bao klärt den Herrscher über das den Hus angetane Unrecht auf und erhebt Anklage gegen Chong Ji und seine Angehörigen. Renzong befielt in der Folge die Hinrichtung der Konkubine und degradiert den Minister, der am Ende bar jeden Schutzes von den Brüdern Hu getötet wird.
1.3 Der betrogene General Als einer der ersten in der Geschichte der chinesischen Erzählkunst nahm sich Xiong Damu während der Wanli-Zeit in einem geschlossenen Werk des Krieges zwischen den Song und dem Reich der Jin-Dschurdschen im 12. Jahrhundert an, womit wir historisch an die Periode der im vorstehenden Abschnitt behandelten Zeit anschließen. Im Jahre 1552 erschien seine Populäre Darstellung der Wiedererstarkung der Song (Da Song zhongxing tongsu yanyi) in acht Büchern und achtzig Episoden. Xiong hielt sich dabei weitgehend an die Überlieferungen, wie wir sie schon in der offiziellen Geschichtsschreibung der Song-Annalen finden. In groben Zügen beschreibt der Roman bereits die gesamte Yue-Fei-Problematik, wenngleich die Gestalt des Generals hier noch nicht so deutlich zutage tritt wie später in der Vollständigen Erzählung und eher noch die militärischen Aktionen im Vordergrund stehen. Mehr einer Nacherzählung der offiziellen Geschichtsdarstellung gleicht auch die ebenfalls aus dem Ende der Ming-Dynastie stammende Version des Yu Huayu, Volkstümliche Erzählung über den treuen [Yue Fei] nach Quellen der offiziellen Geschichtsschreibung (An jian tongsu yanyi jingzhong zhuan).215 215
Neben den Quellen in der offiziellen Geschichtsschreibung lagen zu jener Zeit selbstverständlich in der Dramen- und Erzählkunst bereits zahlreiche Bearbeitungen des Stoffes aus früheren Epochen vor. So z.B. das Yuan-Drama »Unterweltsfürst Yama straft das Verbrechen am Ostfenster« (Dizangwang zheng dongchuang shifan) aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, in dem abgehoben wird auf den Mordbefehl des Qin Gui an General Yue Fei. Um 1445 griff Zhao Bi das Thema auf und fertigte daraus die Erzählung »Fortsetzung zur Erzählung über das Verbrechen am Ostfenster« (Xu dongchuang shifan zhuan) an, die in die Sammlung Xiao pin ji aufgenommen wurde. Selbst Feng Menglong soll mit Hand an eine weitere Erzählung zu dem Stoff mit dem Titel »Jingzhongqi« angelegt haben. Gerade in der QingDynastie gewannen die Darstellungen des Yue-Fei-Stoffes vor dem Hintergrund der Fremdherrschaft durch die Mandschuren einen immer drängenderen Ton, wurde die Gestalt des Feldherrn mehr und mehr idealisiert. Die Romanversion der Vollständigen Erzählung wurde in der Qianlong-Zeit (1736–1796) verboten. Die anti-mandschurischen Ressentiments im Roman werden auch im Vorwort von Jin Feng angedeutet. Darin räumt Jin ein, daß zahlreiche Details in der Handlung des Romans zwar nicht den Tatsachen entsprächen, gleichzeitig wird aber betont, daß ein Sieg über das Fremdvolk der Jin durchaus hätte herbeigeführt werden können. Dies läßt sich kaum anders lesen als eine Aufforderung an die HanChinesen, sich zum Kampf gegen die Qing-Machthaber aus dem Norden aufzuraffen.
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Die Romanfassung der Vollständigen Erzählung über Yue Fei in achtzig Kapiteln ist zwischen 1684 und 1744 entstanden. Als Verfasser bzw. Herausgeber werden ein gewisser Qian Cai und ein Jin Feng genannt, über die aber bis auf das Vorwort Jins aus dem Jahre 1744 weiter nichts bekannt ist. Anders als der weiter unten im Zusammenhang mit der Vergessenen Geschichte der Sui noch vorzustellende Romanheld Qin Shubao, der in seiner Persönlichkeit und Entwicklung bereits wesentlich individuellere Merkmale aufweist, ist die Gestalt des Song-Generals Yue Fei (1103–1141) noch vollkommen eingebunden in die Fügung durch mythische, schicksalhafte Kräfte.216 Die ganze Dramatik dieses Kriegers und seiner Zeit wird in einen überirdischen Handlungsrahmen eingebettet. Eine der ersten Romanszenen führt in den Großen Donnertempel des Paradieses. Die Predigt Buddhas wird auf das unflätigste gestört, als die Himmlische Fledermaus einen Furz läßt. Während Buddha diesen Fauxpas übergeht, kann sich der in der Runde sitzende Garuda in seinem Zorn nicht zügeln und tötet die Fledermaus wegen ihres Mangels an Reinheit. Die Fledermaus wird einst als Frau Wang, die spätere Gattin von Kanzler Qin Gui, wiedergeboren werden und als solche Rache an der Wiedergeburt Garudas nehmen – eben dem Yue Fei, der als Strafe für sein Vergehen (er hat im Paradies getötet) eine Erdenexistenz durchmachen muß. Während diese Fügung nur die eigentlichen Protagonisten eines engeren Zirkels betrifft, wird in einer weiteren Szene der größere Zeitbezug zum Untergang der Song konstruiert. Danach hat Kaiser Huizong (1101–1126) gesündigt, als er während der Zeremonien zur Verehrung des Himmels einen Strich in der Zeichenkombination der mächtigen Gottheit falsch schrieb, so daß aus dem »Großen Jadekaiser« auf einmal der »Große Hundekaiser« geworden ist. Für diesen Frevel soll er nun büßen. So hat der Himmel verfügt, den Rotbärtigen Drachen im Land der feindlichen Dschurdschen Gestalt annehmen zu lassen, damit er das Reich der Song mit Krieg überziehe. Um seiner gewaltigen Macht Einhalt zu gebieten, ist als sein Gegenspieler Yue Fei auserkoren, der gleichzeitig verhindern soll, daß die Herrschaft der Song nicht zu einem vorzeitigen Ende kommt. Damit jedoch der himmlischen Fügungen noch nicht genug: Auf seinem Weg hinab zur Erde hackt Garuda am Ufer des Gelben Flusses einem Schlangengeist ein Auge aus. Das Schicksal will es, daß dieser Geist als Moqi Xie wiedergeboren wird, eben der Mann, der Yue Fei einst am Wind-und-Wellen-Pavillon ermorden soll. Im übrigen sei hier vermerkt, daß der Gelbe Fluß im Roman als Grenzlinie zwischen den Reichen der Jin und der Song eine zentrale Rolle spielt. Jedesmal, wenn die Jin sich dieser Linie nähern oder sie überschreiten, droht Gefahr. Lange nach dem Tode Yue Feis wird der Jadekaiser später eine Untersuchung der Ereignisse anordnen und die Verbrecher bestrafen, allein dem Yue Fei gestattet man die 216
Zu einer eingehenderen Betrachtung seiner Biographie vgl. etwa HELMUT WILHELM: »From Myth to Myth: The Case of Yue Fei's Biography«, in: Confucian Personalities, hrsg. von ARTHUR F. WRIGHT / DENIS TWITCHETT, Stanford, Cal.: Stanford UP 1962, S. 146–161.
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Rückkehr in den Himmel. Ohnehin bietet der General Yue im Roman nahezu ein Bild der Vollkommenheit. In seiner Bedeutung als mythische Heldengestalt, aufgestiegen in den chinesischen Pantheon, folgt er gleich hinter Guan Yu.217 Yue Fei ist in den konfuzianischen Tugenden bewandert, genießt Bildung und verfügt über eine Kampfkunst von unangefochtener Überlegenheit. Die hier im Überblick kurz vorgestellte, in der volkstümlichen Literatur beliebte Form der Erklärung komplexer Zusammenhänge durch den Einfluß höherer Mächte hat selbst in der offiziellen Geschichtsschreibung über Yue Fei eine Entsprechung, wenn dort von der wundersamen Errettung des kaum einen Monat alten Knaben während einer Überschwemmungskatastrophe die Rede ist (die Mutter rettete sich mit dem Kind in einem großen Wasserbottich). Auch die Vollständige Erzählung greift diesen Stoff auf und schildert, wie Sohn und Mutter in der Folge nach Hebei gelangen und dort Aufnahme bei dem reichen Grundherrn Wang Ming finden. In der Familie findet Yue Fei mit Wang Gui, dem etwas jüngeren Sohn des Hauses, auch den ersten der späteren Kampfgefährten, mit denen er sich in der Folge umgibt. In der Rekrutierung dieses und weiterer Helden weist der Roman einige Bezüge zu den Räubern vom Liangshan-Moor auf, eine Ähnlichkeit, die im weiteren Verlauf noch verstärkt wird, etwa durch die Gestalt von Lehrer Zhou Tong,218 der die Knaben im Hause Wang unterrichtet, und durch eine Reihe weiterer Helden, die direkt aus den Räubern übernommen worden sind: etwa Yan Qing, An Daoquan oder Ruan Xiao'er, um nur einige zu nennen. In einem großen Bogen leitet der Roman nun über zur Lage im Nordosten des Reiches, wo König Akuta bzw. nach seinem Tode der Bruder Wu-ch'i-mai (1075– 1135) die Jin-Dynastie des Volkes der Dschurdschen geschaffen haben. Bestürzt vernimmt man am Hofe der Song die Kunde von den heranrückenden Jin-Truppen. Zhang Bangchang beginnt sein doppeltes Spiel, indem er gegenüber Kaiser Qinzong so tut, als wolle er die Gegner mit hohen Tributleistungen beschwichtigen, in Wirklichkeit aber den Ausverkauf der Song betreibt. Von Zhang Bangchang kommt auch der Rat an Wu Shu, wie er den Sturz der Song betreiben könne: Er müsse eben die gesamte Linie der Song-Herrscher eliminieren, solle mit der Forderung nach einer königlichen Geisel beginnen. Kaiser Qinzong berät sich daraufhin mit seinem Vater Huizong, der empfiehlt, Qinzongs Bruder, Prinz Zhao, auszuliefern. Als Begleiter für die Reise in den Norden stellt sich der spätere Verräter Kanzler Qin Gui (1090–1155) zur Verfügung. Prinz Zhao stirbt jedoch, bevor die Dschurdschen aufbrechen. Die Wahl als weitere Geisel fällt nun auf 217
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Der historischen Gestalt des Generals Yue Fei wurde schon wenige Jahrzehnte nach dessen Tod eine posthume Verehrung zuteil, als man ihr zu Ehren in Hangzhou einen Tempel errichtete. Auch der mächtige Yuan Shikai verehrte Yue Fei noch 1914 als eine der höchsten militärischen Gottheiten. So finden wir Zhou Tong bereits in der Bearbeitung der Wu-Song-Saga durch die Erzähler in Yangzhou.
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Fürst Kang, einen jüngeren Bruder Qinzongs. An Kangs Seite soll Li Ruoshui mitreisen. Ermuntert von Zhang Bangchang macht Wu Shu jedoch nun Tabula rasa am Hofe der Song und bringt alle männlichen Mitglieder der Kaiserfamilie einschließlich Huizong und Qinzong in seine Gewalt. Die im Roman beschriebenen Ereignisse sind hier im Vergleich zur tatsächlichen Entwicklung in etwas geraffter Form wiedergegeben. Allerdings kam Zhang Bangchang als Führer der Verhandlungen mit den Jin wirklich eine zentrale Rolle zu, seine Verdienste honorierten die Jin durch der Belehnung mit »Groß Chu«, einem Herrschaftsgebilde, das freilich nur so lange von Dauer war, bis der Song-Hof Zhang zum Selbstmord zwang. Mit der Verschleppung der beiden Kaiser in den Norden hatten die Chinesen ein traumatisches Erlebnis in ihrer Geschichte, das in der Folge immer wieder in der Erzählliteratur thematisiert worden ist. Zu gewöhnlichem Volk degradiert, treffen die beiden Song-Herrscher schließlich am Hofe der Jin ein, es kommt zu erniedrigenden Szenen, die der Roman eindringlich beschreibt: Die Diener eilten nach draußen, um die beiden Kaiser Huizong und Qinzong herbeizuholen. Diese traten vor den Herrscher der Jin, weigerten sich jedoch, niederzuknien. »Ihr habt unzählige meiner Soldaten und Generäle auf dem Gewissen«, hob der Herrscher der Jin nun an, »jetzt seid ihr gefangen und wagt es dennoch, nicht vor mir niederzuknien!« Damit wandte er sich an die umstehenden Beamten und befahl: »Geht und erhitzt den Boden im Palast des Silbernen Friedens. Dann laßt die beiden Kaiser ihre Kleider ablegen, setzt ihnen eine Hundefellmütze auf, paßt ihnen einfache grüne Wäsche an. Am Hintern befestigt ihr ihnen einen Schwanz, an den Hüften legt ihr ihnen kupferne Schellen, an den Taschen sechs große Glocken an. Fesselt ihnen die Hände mit Weidenruten und sorgt dafür, daß sie barfuß sind.« Innerhalb kurzer Zeit hatte man den Boden im Palast erhitzt, daß er rot glühte. Qinzong und Huizong wurden herbeigetragen, mit den Füßen auf den heißen Boden gesetzt, daß ihre Fußsohlen verbrannten und sie wild umhersprangen, wobei die Glocken und Schellen läuteten. Die umstehenden Minister und Würdenträger der Jin frohlockten bei dem Anblick, den der tanzende Vater und Sohn lieferten, sie gröhlten, jubelten und prosteten einander zu. Die beiden armen Song-Kaiser – man trieb einen furchtbaren Spaß mit ihnen. Das hatten sie davon, auf die Worte der Verräter gehört und den Ermahnungen der aufrechten 219 Minister keine Beachtung geschenkt zu haben!
Das nächste Opfer wird Li Ruoshui, der kein Blatt vor den Mund nimmt, vor die Mächtigen der Jin stürmt und ihnen droht, wie schlecht es ihnen in Zukunft ergehen werde, wenn die Song nach Norden zögen. Dann müßten sie für die Beleidigungen, die sie den beiden Kaisern antäten, schrecklich büßen. 219
Vollständige Erzählung über Yue Fei (Shuo Yue quan zhuan), Peking: Huaxia 1995, Kap. 19, S. 102.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Unentwegt schimpfte Li Ruoshui und wies mit dem Finger drohend auf die Jin. »Schneidet ihm den Finger ab!« befahl der erboste Herrscher der Jin daraufhin seinen Wachen. Diese nickten und hackten dem Li Ruoshui einen Finger ab. Doch da erhob Li Ruoshui die zweite, unverletzte Hand, wies auf den Herrscher und schimpfte: »Schurke! Was glaubst du, wen du vor dir hast! Du magst einem Li Ruoshui den Finger abhacken, aber du wirst seine Wut, mit der er sich gegen Verbrecher, wie ihr es seid, nicht bändigen!« »Hackt ihm den Finger ab!« befahl der Herrscher der Jin daraufhin knapp. Im Nu hatte man Li Ruoshui den zweiten Zeigefinger abgeschlagen, doch noch immer schimpfte er ohne Unterlaß. »Reißt ihm die Zunge heraus!« hieß der Herrscher der Jin die Wachen nun. Die taten wie man ihnen befohlen hatte, das Blut troff Li Ruoshui aus dem Munde, doch noch immer stieß er schimpfende, zornige Laute aus, die freilich nicht mehr deutlich artikuliert waren, und er sprang dabei wild hin und her. Die umstehenden Barbaren lachten und sagten: »Was für ein spaßiger Anblick!« Sie saßen ihrer Landessitte gemäß auf dem Boden, gröhlten und tranken Wein. Man erhob gerade die Becher, als sich Li Ruoshui in einem Moment, da niemand auf ihn achtete, auf den Herrscher der Jin stürzte und sich an seinem Ohr festbiß. Der Herrscher war gelähmt vor Schreck, sogleich eilten Prinzen, Beamte und Wachen herbei, um Li Ruoshui von seinem Opfer fortzureißen, wobei auch das Ohr verlorenging. Li Ruoshui wurde zu Boden geworfen, mit mächtigen Schwerthieben schlug man auf ihn ein, daß er bald zu einer unkenntlichen Masse aus 220 Fleisch und Knochen entstellt war.
Im Frühling des folgenden Jahres zieht Wu Shu, der vierte Prinz der Dschurdschen, zum zweiten Mal gegen das Reich der Song, kommt aber diesmal langsamer voran, da er auf dem Weg noch eine Reihe von Befestigungen beseitigen muß. Im Sommer schlägt er sein Lager am Gelben Fluß auf, als man ihm eines Tages die Ankunft eines prächtig gekleideten Reiters meldet, in dem man bald den Fürsten Kang auf einem Pferd erkennt. Auch Cui Xiao wohnt der Szene bei. Er ist ein alter chinesischer General, der nach der Einnahme eines Passes durch die feindlichen Jin gefangengenommen und in den Norden verschleppt worden ist. Er hat die beiden Kaiser Huizong und Qinzong in ihrem Gefängnis besucht und von ihnen ein mit Blut aufgesetztes Schreiben an Fürst Kang erhalten, in dem dieser aufgefordert wird, zurück in den Süden zu fliehen und die Herrschaft über das Reich zu ergreifen. Beim Näherkommen und einem Anblick der Truppen steigt das Pferd von Fürst Kang auf einmal und scheut, doch es gelingt dem Reiter, das Tier rechtzeitig zu zügeln. Die Stelle ist wichtig, da sie mit Blick auf die weiteren Ereignisse vermitteln soll, daß Kang kein guter Reiter ist. Erfreut gibt Wu Shu dem Kang Quartier. Zusammen mit seinen leiblichen Söhnen und dem aufgenommenen Kang opfert Wu Shu den Ahnen im Norden. Aus Erinnerung über die traurige 220
Ebd., Kap. 19, S. 102f.
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Lage seiner eigenen Familie bricht Kang in Tränen aus, woraufhin Wu Shu ihn heißt, sich zur Ruhe zu begeben. Cui Xiao geleitet seinen Herrn fort, findet nun endlich Gelegenheit, Kang jenen Brief zu geben, den Qinzong und Huizong einst im Verlies schrieben und den er seitdem in seinem Ärmel bei sich führt. Fürst Kang kann den Brief gerade noch in seinem Ärmel verstecken, als man ihn vor das Zelt ruft, wo sich Wu Shu nach seinem Befinden erkundigt. Was nun folgt, ist die Schilderung der spektakulären Flucht des Fürsten Kang. Sie sprachen gerade, als sie über sich einen Vogel herbeifliegen sahen etwa so groß wie eine Henne, nur daß er ein buntes, prächtig schimmerndes Federkleid trug. Der Vogel ließ sich auf einem Zeltdach nieder, wandte sich zum Lager hin und rief: »Prinz der Song, Prinz der Song, die Zeit ist bald um, von hier mußt du fort, dies ist nicht dein Ort!« Als Wu Shu das erschrockene Gesicht des Cui Xiao bemerkte, fragte er: »Sag, was hat der Vogel da soeben gerufen? Ich habe diese Vogelstimme noch nie vernommen, mir scheint, als bediene das Tier sich der Sprache eures Reiches, ist das richtig?« »Das ist ein ganz sonderbarer Vogel«, mischte sich nun Prinz Kang ein, »doch bei uns in China sieht man ihn oft. Wir nennen ihn den ›Vogel Junyi‹, sein Anblick verheißt Unglück. Er hat Euch beleidigt, Majestät.« Was er denn gerufen habe, wollte Wu Shu nun wissen. »Das wage ich nicht zu sagen«, erwiderte Kang, doch als ihm Wu Shu versicherte, daß ihn keine Schuld treffe, er möge nur reden, da hob Fürst Kang an: »Er rief: ›He, Hunnensau, he, Hunnensau, ich hau dich blau! Nicht faul, nicht faul, ich stopf ’ dir das Maul! Gleich knallt’s, gleich knallt’s, ich brech dir den Hals!‹« »Genug!« rief Wu Shu empört. »Wer von euch schießt mir dieses Biest ab?« Fürst Kang bat darum, den Vogel mit Pfeil und Bogen zu erlegen. »Wohlan«, ermunterte ihn Wu Shu, »laß sehen, wie gut du das Bogenschießen verstehst!« Fürst Kang erhob sich daraufhin, griff nach dem Bogen und sagte zu sich: »Wenn dies ein heiliger Vogel ist, dann wird er mir den Weg zur Flucht weisen, und der Himmel tut damit kund, daß das Haus der Song nicht untergeht. Ich will diesen Pfeil abschießen und sehen, ob er trifft.« Damit zielte Fürst Kang nach dem Vogel und schoß, doch dieser öffnete nur den Schnabel, fing den Pfeil, breitete die Flügel aus und erhob sich mit dem Pfeil im Schnabel in die Lüfte. Sogleich eilte Cui Xiao, das Pferd des Fürsten zu holen, und rief: »Majestät! Schnell, hinterher!« Damit schwang sich Fürst Kang auch schon auf das Roß und nahm die Verfolgung auf. Cui Xiao lief noch eine Weile hinterher und hieb mit der Peitsche auf das Roß ein, um es anzutreiben. Fürst Kang folgte dem Vogel mit dem Pfeil durch das gesamte Lager, wobei sich das Tier bald hier, bald dort niederließ. Wu Shu sah dem Treiben noch eine Weile zu und dachte bei sich: »So ein dummer Kerl, ob er wirklich glaubt, den Pfeil auf die Weise zu erlangen?« Damit wandte er sich ab und begab sich ins Zelt, wo die Prinzen dem Wein zusprachen. Nach einer Weile eilte ein Knappe herbei und berichtete: »Der Fürst hat bei seinem scharfen Ritt durch das Lager das Zaumzeug vollkommen fahren lassen und dabei mehrere Zelte niedergetrampelt, selbst Menschen sind zu Schaden gekommen.« »Was erdreistest du dich, mich mit derartigen Nichtigkeiten zu belästigen!« fuhr Wu Shu den Knappen an. Dieser wagte nicht, weiter
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN zu berichten, und zog sich zurück. Doch die übrigen Fürsten, die wußten, wie sehr Wu Shu an Fürst Kang hing, wandten ein: »Majestät, es zählt nicht viel, wenn er ein paar Zelte niedertrampelt oder einige Menschen über den Haufen reitet. Doch der Fürst ist noch jung und unsicher beim Reiten, was, wenn ihm etwas zustößt?« »Ihr habt recht«, fiel Wu Shu lachend ein, »ich schaue wohl besser einmal selber nach ihm.« Damit trat er aus dem Zelt, bestieg sein Roß Feuerdrachen und fragte die Knappen: »In welche Richtung ist der Fürst geritten?« Als er erfuhr, daß der junge Mann geradewegs aus dem Lager gesprengt sei, trieb er sein Roß mit der Peitsche an und nahm die Verfolgung auf. Bald traf er auf Cui Xiao, der keuchend den Rückweg angetreten hatte, und er dachte sich bei seinem Anblick: »Aha, bestimmt hat der Alte dem Fürsten etwas gesteckt, er wird nicht umsonst so eilig davongeeilt sein. Wo er nur hin will, weiß er denn nicht, daß mir schon die ganze Welt untertan ist?« Und laut rief Wu Shu aus: »He, Fürst! Wo eilst du hin? Warum kehrst du nicht um?« Ein Schreck durchfuhr den Fürsten Kang, als er die Stimme vernahm, und wild trieb er sein Pferd an. »Na warte, dem Bürschchen werde ich es zeigen«, sagte sich Wu Shu und zielte mit dem Bogen nach dem Flüchtenden, traf aber nur die Fessel seines Pferdes. Das Pferd des Fürsten bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab, doch schnell hatte sich Kang wieder hochgerappelt. »Hast dich schön erschreckt, mein Fürstchen, wie?« lachte Wu Shu. Verzweifelt blickte Fürst Kang sich um, da sah er in der Nähe einen alten Mann in Taoistenkleidern aus dem Dickicht hervortreten, in der einen Hand ein Roß an der Leine, in der anderen eine Peitsche. »Herr, schnell, nehmt dieses Pferd!« rief er dem Fürsten zu. Ohne zu zögern, schwang sich Fürst Kang auf das Roß, gab ihm die Peitsche und stob davon. Erbost trieb nun auch Wu Shu sein Pferd an und rief dem Taoisten mit wütender Stimme zu: »He, Alter, das kostet dich deinen Kopf! Warte nur, bis ich zurück bin!« Unterdessen hatte Fürst Kang das Flußufer erreicht. Seine Lage schien aussichtslos. Vor sich die reißenden Fluten des Stromes, hinter sich Wu Shu, der schon bedrohlich nahe war. »Der Himmel hat mich verlassen!« rief er mit lauter Stimme aus, als das Pferd sich unter ihm aufbäumte und mit einem riesigen Satz in die Fluten sprang. »Entsetzlich!« schrie nun auch Wu Shu bei diesem Anblick aus, als er das Ufer erreicht hatte. Erschüttert, mit Tränen in den Augen, starrte er in die Fluten, doch von Fürst Kang keine Spur. Schließlich wandte er sich um und schlug den Weg zurück zum Lager ein. Als er an dem Wäldchen vorüberkam, war von dem Taoisten nichts mehr zu sehen. Ein Stückchen weiter erblickte er Cui Xiao, der seinem Leben ein Ende bereitet hatte. Weinend kehrte Wu Shu ins Lager zurück, wo er den Fürsten mit stockender Stimme alles berichtete. »Schade um ihn. Nehmt es euch nicht derart zu Herzen, Majestät!« versuchten ihn die Männer zu trösten, doch soll davon nicht weiter die Rede sein. In der Zwischenzeit war das Pferd mit Fürst Kang in den Fluß gesprungen. Pferd und Reiter trieben an der Oberfläche auf das andere Ufer zu, und eigentlich hätte Wu Shu beide recht gut sehen müssen. Doch eine himmlische Kraft sorgte dafür, daß sie vor den Blicken Wu Shus verborgen blieben. Mit geschlossenen Augen ließ sich Fürst Kang durch die Fluten tragen, er hörte nur das laute Rau-
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas schen des Wassers. Bald hatte man das andere Ufer erreicht, wo das Pferd den Fürsten noch bis zu einem Wäldchen trug, ihn dort von seinem Rücken gleiten ließ und dann im Gehölz verschwand. »Pferd!« rief der Fürst, »wenn du ein Herz hast, dann trage mich noch ein Stück. Du kannst mich doch hier nicht allein zurücklassen!« Nachdenklich hob der Fürst den Kopf, als er bemerkte, daß die Dämmerung hereinbrach. Mit langsamen Schritten schlug er den Weg zum Wäldchen ein, wo er alsbald auf einen alten Tempel stieß. Als er näher kam, fiel ihm über dem Tor eine alte, verwitterte Tafel auf, auf der in goldener Schrift fünf Zeichen zu lesen waren: »Göttertempel des Fürsten von Cui«. Fürst Kang trat in den Tempelhof, und sein Blick fiel auf ein Pferd aus Lehm, welches haargenau dem glich, das ihn hierher getragen hatte. Seltsam war auch, daß das Pferd ganz naß war. »Sollte dies das Pferd sein, das mich über den Fluß trug?« dachte er bei sich. »Doch warum hat sich dann der Lehm in den Fluten nicht aufgelöst?« Er hatte kaum soweit gedacht, als das Pferd auch schon in sich zusammenfiel und sich auflöste. Fürst Kang begab sich daraufhin in die Tempelhalle, erhob die Hände zur Gottheit und rief: »Ich danke dir für den Schutz, den du mir gewährt hast. Wenn es mir gelingt, das Reich wieder zurückzuerobern, dann werde ich deinen Tempel restaurieren und dir eine goldene Statue errichten lassen.« Dann trat er aus der Halle, verschloß das Tor des Tempels und rollte einen Stein davor. Anschlie221 ßend bereitete er sich in einem Nebengebäude ein Quartier für die Nacht.
Diese berühmte Fluchtszene findet sich in einer kürzeren Fassung bereits in den Überkommenen Ereignissen der Xuanhe-Ära (Xuanhe yishi), einem langen Volksbuch aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts, in dem vom Niedergang und Fall der Nördlichen Song berichtet wird und das einen literarischen Vorläufer der Räuber vom Liangshan-Moor bildet.222 Schon kurze Zeit nach dem Betreten chinesischen Reichsbodens macht Fürst Kang seine Anwartschaft auf den Thron geltend und ruft als Kaiser Gaozong (1127–1162) die Dynastie der Südlichen Song aus (1127–1279). Eingedenk des Auftrags der gefangenen Kaiser sammelt er mutige Männer um sich, die ihm bei der Rückeroberung des Reiches helfen sollen. Man entsinnt sich dabei selbstverständlich Yue Feis, der dem Befehl sogleich Folge leistet und in die Hauptstadt eilt. Wie man sieht, erfolgt die Einbindung Yue Feis in die Politik des Hofes erst recht spät. Seine Eroberungen und Kämpfe gegen Banditen und lokale Machthaber hat er bis dahin überwiegend aus eigener Initiative unternommen, was ihm den Ruf eingetragen hat, möglicherweise gar eigene Ambitionen auf den Thron zu haben. Dies belegt auch die Yue Fei in den Mund gelegte Behauptung, nach der er sich mit dem Song-Gründer Zhao Kuangyin verglichen haben soll.223 221 222
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Ebd., Kap. 20, S. 106ff. Zu der betreffenden Szene in der Volksbuchfassung vgl. etw. Überkommene Ereignisse der Xuanhe-Ära (Xuanhe yishi), Verlag Jiangsu guji 1993, S. 105. Vgl. JOCHEN DEGKWITZ: Yue Fei und sein Mythos, Bochum: Brockmeyer 1983, S. 11.
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In dem nächsten Romanabschnitt bis Kapitel 45 gelingt es Yue Fei und den übrigen Generälen zwar, den Jin verschiedentlich Niederlagen beizufügen, den eigenen Rückzug nach Süden jedoch – die neue Hauptstadt wird Hangzhou – können sie nicht verhindern. Die historisch belegte und erfolgreich von Yue Fei im Jahre 1134/1135 geschlagene Schlacht bringt einen Einschnitt insofern, als der zurückgeworfene Wu Shu nun auf einem anderen Wege versuchen wird, endgültig die Herrschaft über China zu erlangen. Ein williges Werkzeug findet er in Qin Gui, der einst als Gesandter die Kaiser in den Norden begleitete, mittlerweile aber zusammen mit der Gattin – die die Geliebte von Wu Shu wird – ein Leben als Viehhirt fristet. Mit einem Brief von Qinzong (Huizong ist 1135 während der Gefangenschaft verstorben; Qinzong wird 1156 ebenfalls in der Fremde sterben) begibt sich Qin Gui mit Gattin Wang an den Hof Kaiser Gaozongs, wo er Yue Fei schaden will. Verschiedene Anschläge gehen zwar fehl, doch gelingt es Qin Gui am Ende, den ahnungslosen Yue Fei in ein Netz von Intrigen zu verstricken, aus dem er sich nicht mehr befreien kann, so daß es schließlich im »Wind-undWellen-Pavillon« ermordet wird (Kap. 61). Der zentrale Konflikt im Roman ist denn auch der zwischen dem loyalen Krieger und Soldaten im Felde und der mangelnden Deckung durch den Hof. Das Bild von Kaiser Gaozong gewinnt hier einen entschieden anderen Charakter. Hatte man gerade nach der phantastischen Flucht, die nicht ohne Wohlwollen des Himmels erfolgt ist, den Eindruck von einem »wahren Herrscher«, so trübt sich dieses Bild zunehmend aufgrund des ausschweifenden Lebensstils, den der Kaiser nach der Thronbesteigung pflegt. Bei den schmutzigen Affären des Qin Gui zum Schaden Yue Feis bleibt der Name der Majestät zwar ausgespart, doch man fragt sich, wie es möglich ist, daß der Kaiser nicht eingreift. In den verbleibenden Kapiteln treten nun die Söhne der ehemaligen Recken in die Spuren ihrer Väter: Yue Lei, Niu Tong, Zong Liang, Han Qilong und Han Qifeng. Verräter Qin Gui entgeht zwar seiner Strafe im Diesseits, doch ist bereits eine Schicksalsentscheidung dahingehend getroffen, daß er einst mehrere Jahre lang wird Höllenqualen erleiden müssen, um hernach als Rind, Schaf oder Schwein wiedergeboren zu werden. Der Roman endet mit einem Empfang Yue Leis in Hangzhou durch Kaiser Xiaozong (1162–1164).
1.4 Erinnerungen an den Dynastiegründer Im Gegensatz zu Zhao Kuangyin, dem Ahnen des Herrscherhauses der Song, der uns in den vorstehend untersuchten Werken bereits am Rande beschäftigt hat und auf den wir noch einmal in dem Qing-Roman Fliegender Drache treffen werden, war Zhu Yuanzhang (1328–1398) – Dynastiegründer der Ming und Protagonist in dem historischen Roman Helden (Yingliezhuan) – ein Mann von wesentlich bescheidenerer Herkunft. Zhu stammte aus einer verarmten Bauernfamilie und hatte während seiner Jugend der buddhistischen Sekte »Weißer Lotos« nahegestanden, die lokale Aufstände anzettelte. Doch dauerte es geraume Zeit, bis breitere Bevölke-
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rungsschichten Zugang zu Zhus sozialrevolutionär anmutender Aufstandsbewegung fanden und er endlich nach seinem Sieg über die Yuan-Mongolen 1368 in seiner neuen Hauptstadt zum Kaiser erhoben wurde. Der unter verschiedenen Werktiteln bereits für das Jahr 1591 nachgewiesene Roman Helden liegt in einer Fassung von achtzig Kapiteln vor und wird dem Dichter Xu Wei (1521–1593) zugeschrieben, der sich bei der Handlungsführung im Werk recht stark an die Vorlagen der Geschichtsschreibung hielt,224 nicht ohne freilich auf die Anreicherung des Stoffes mit zahlreichen Anekdoten zu verzichten. Ausgiebigst wird im Roman jenes Repertoire genutzt, das der chinesischen Erzählliteratur mit der Erklärung vom Zusammenwirken himmlischer und irdischer Mächte zur Verfügung steht, angefangen beim Traum über den Eingriff von Göttern bis hin zu Naturerscheinungen. Deutlich rückt dabei der Antagonismus zwischen dem sich Luxus und Ausschweifungen hingebenden Mongolenkaiser Toghan Temür (dem letzten Herrscher der Yuan-Dynastie, der als im Chinesischen mit Shundi bezeichneter Kaiser von 1333–1368 die Regierungsgewalt ausübte) und dem aufstrebenden Zhu Yuanzhang in den Vordergrund. Warnend wird Shundi zunächst die Gefahr des Sturzes in mehreren Träumen vor Augen geführt: So erscheint ihm im Schlaf eine seltsame Gestalt in roten Gewändern, die Sonne auf der linken, den Mond auf der rechten Schulter tragend, und reinigt den Palast von Ameisen und Ungeziefer. Der Schreck reißt Shundi aus seinem Traum, als die Gestalt ihn selbst mit auszukehren droht. Böse Omen künden weiteres Unheil an, als in der Folge ein Teil des Palastes einstürzt (Kap. 1). Obwohl die Zeichen in der Umgebung des Kaisers richtig gedeutet werden, unternimmt dieser jedoch nichts, den verhängnisvollen Kurs zu ändern. Zu spät ist es dann bereits, als er am Ende (Kap. 66) von einem großen Schwein (chinesisch zhu, homophon zu dem Zunamen des Zhu Yuanzhang) träumt, das in den Palast eindringt. Die Truppen der Ming stehen zu diesem Zeitpunkt bereits vor den Toren der Hauptstadt. Ganz anders dagegen Zhu Yuanzhang, dessen bescheidene Herkunft mittels einer Fügung des himmlischen Jadekaisers mehr als wettgemacht wird. Aus seinem Gefolge entsendet er den Goldjungen (Jintong) und das Jademädchen (Yunü) zur Erde, wo sie als Ehepaar Zhu den späteren Dynastiegründer Yuanzhang zur Welt bringen. Die Umstände zur Zeit der Geburt lassen schließlich keinen Zweifel mehr an der Ankunft des Himmelssohnes zu: Zauberhafter Glanz, himmlische Düfte, ätherische Klänge und das Herrschersymbol des Drachen vor dem Geburtshaus begleiten die Szene (Kap. 5). Orakel und Weissagungen während seines Heranwachsens führen dem jungen Mann stets seine Bestimmung vor Augen. 224
Zu nennen sind hier insbesondere die Annalen der Yuan und der Ming (Yuanshi und Mingshi) sowie Yang Yis »Aufzeichnungen der Ming« (Ming liang ji) etc. Zahlreiche Szenen der Helden dienten ihrerseits als Vorlage für Dramen und Schauspiele der unterschiedlichsten Stilrichtungen (vgl. dazu den Katalog in den Helden [Yinglie zhuan], Ausgabe Peking: Baowentang 1981, S. 351–358, die auch der folgenden Bearbeitung zugrunde liegt).
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Während all diese Schilderungen recht stereotyp wirken und die Distanz zur Herrschergestalt nur betonen, wirft ein Bubenstreich des späteren Kaisers Licht auf die Beliebtheit dieses Mannes, die er in der Volkskultur genossen haben mag. Hier wird die Person Yuanzhangs einmal ganz deutlich faßbar. Familie Zhu leidet Hunger. Eine Nachbarin empfiehlt den Eltern, den mittlerweile elfjährigen Knaben, von dem hier abwechselnd als Yuanlong und als MingGründer Taizu die Rede ist, bei der Familie Liu als Kuhhirten unterzubringen. Dies behagt Yuanlong freilich nicht, doch fügt er sich nach gutem Zureden durch die Mutter zunächst seinem Schicksal und löst das Problem schließlich auf seine Weise. Nachdem Yuanlong bei der Familie Liu eingetroffen war, wurden die Tage allmählich heißer. Tagaus tagein tollte und tobte er mit den übrigen Kindern. Man schüttete hohe Erdhügel auf, die die größeren unter den Kindern erklommen, um sich oben thronend als Kaiser auszugeben. Yuanlong war soeben dabei, vor der »Majestät« seinen Kotau zu verrichten, als der Junge den Hügel hinabkullerte und unten mit Schrammen und blutigem Kopf vor seinen Füßen landete. »Laßt mich mal«, drängte sich nun ein weiterer junger Bursche nach vorne, »wenn ich oben bin, werft ihr euch schön vor mir nieder, so wie es sich gehört.« Yuanlong und die anderen Kinder waren kaum niedergekniet, als der Junge, der den Thron erklimmen wollte, stürzte und mit blutigem Schädel das Weite suchte. Vor Schreck wagte sich nun niemand mehr auf den Hügel. »Jetzt paßt mal auf!« rief Yuanlong und erklomm, während die übrigen Kinder im Staub niederknieten, den Hügel, auf dem er sicher, ohne nur im geringsten zu wanken, Platz nahm. Willig nahmen die Kinder Yuanlongs Befehle und Anweisungen entgegen, ausgelassen verbrachte man den Tag. Eines Tages wurden im Huangjue-Tempel religiöse Feiern vorgenommen. Yuanlong riß einige der überall angebrachten Papierwimpel ab, um sie als Fahnen zu verwenden. Dann ließ er die übrigen Kinder in fünf Gruppen Aufstellung nehmen, teilte ihnen die Rinder und Kälber, die sie zu hüten hatten, als Mannschaften zu und ließ Kinder wie Tiere unter lauten Befehlen exerzieren. Willig trotteten die Rinder hinter den Wimpelchen ihrer jeweiligen Mannschaften her, alle bewegten sich ordentlich in Reih und Glied. Als sie mit diesen Spielen einige Tage zugebracht hatten, kam Yuanlong plötzlich eine Idee: Er schlachtete eines von den Kälbchen, ließ es von den anderen Kindern ausnehmen und bereitete dann, nachdem er das Fleisch in eine Kruke getan hatte, über einem Feuer am Abhang ein schmackhaftes Mahl, an dem sich alle labten. Den übriggebliebenen Schwanz des Kälbchens ließ er in einen Felsspalt klemmen. Wenn Liu Daxiu dann das Kalb vermißte und zu suchen begann, würde er behaupten, das Tier sei zwischen die Felsen gestürzt. Und wirklich, als sie am Abend von der Weide heimkehrten und Liu Daxiu die Tiere zählte, bemerkte er, daß ein Kälbchen fehlte. Nach dem Grund befragt, erklärte ihm Yuanlong, daß das Tier in einen Felsspalt gestürzt sei. Ungläubig hieß ihn Liu Daxiu, ihm die Stelle zu zeigen, woraufhin ihn der Junge an den Ort führte, nicht ohne freilich unterwegs eine
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas Reihe von Stoßgebeten zum Himmel zu schicken und um den Beistand der lokalen Gottheiten zu bitten. Sein Wunsch wurde erhört, tatsächlich sah man nach dem Eintreffen, wie der zwischen den Felsen eingeklemmte Schwanz des Kälbchens wild hin und her wedelte. Sogar ein schwaches Muhen war zu vernehmen. Hernach schlachtete Yuanlong erneut ein Kälbchen und verfuhr auf die gleiche Weise wie zuvor. Wiederum überzeugte sich Liu Daxiu und fand alles wie beim ersten Mal, freilich ohne klüger daraus zu werden. Nur der Geruch von gebratenem Kalbfleisch, der von Yuanlong ausging, machte ihn mißtrauisch, er fragte die übrigen Kinder und fand nach einer Weile schließlich die ganze Wahrheit heraus. Liu Daxiu blieb daher am Ende nichts anderes übrig, als 225 Yuanlong wieder zu seiner Familie zurückzuschicken.
Wie der Textauszug belegt, hat man der Gestalt Zhu Yuanzhangs mit gewissen Führungstalenten und einem gesunden Maß an Skrupellosigkeit in der Legendenbildung bereits früh eine Reihe solcher Eigenschaften zugeschrieben, wie sie für einen Kaiser unabdingbar sein dürften. Der Roman beschreibt daher auf einer weiteren Ebene, wie es Yuanzhang nach und nach gelingt, sich mit fähigen Generälen und Beratern zu umgeben. Einen Heerführer, der ihn von Sieg zu Sieg führt, findet er in Xu Da. Im zivilen Umfeld ist die historische Gestalt des Liu Ji (1311– 1375) die beherrschende Person. Doch auch die Figur dieses Beraters wird wiederum phantastisch überhöht: Liu Jis Geschichte nimmt ihren Anfang in dem abgeschiedenen Leben, das der Mann nach seinem Rückzug aus der Politik führt. Eines Tages bricht vor ihm während einer Wanderung durch die Berge eine Felswand auf, doch warnt ihn eine Stimme mit Hinweis auf in der Höhle befindliche Bestien vor dem Eintreten. Dennoch tritt Liu unbekümmert ein, woraufhin er einen taoistischen Text findet, den ein weißer Affe bewacht. Dieser verkündet, die im Text verkündeten Prinzipien der Staatskunst, in denen er Liu anschließend unterweist, seien zum Wohle der Menschheit anzuwenden. Mit den ihm derart zugewachsenen Kräften vollbringt Liu Ji sodann viele außergewöhnliche Taten.226 Es ist ganz natürlich, daß bei der Beschreibung einer historischen Epoche, deren Ergebnisse im wesentlichen auf kriegerische Auseinandersetzungen zurückgehen, der Schilderung von Schlachten viel Raum gegeben wird. Die Truppen des Zhu Yuanzhang erringen einen Sieg nach dem anderen, die einst mächtigen Yuan bieten ein Bild des Jammers. Doch wird die von ihnen ausgehende Gefahr damit ein für allemal gebannt sein? Der Roman beantwortet diese Frage auf seine Weise. 225 226
Ebd., Kap. 5, S. 19. Vgl. dazu ebd., Kap. 17 u. 18. Zu Liu Ji und seiner Gestalt im Roman vgl. u.a.: HOK-LAM CHAN: Liu Chi (1311–1375), the Dual Image of a Chinese Imperial Adviser, Ph.D. Dissertation, Princeton University 1967; ders.: »Liu Chi (1311–1375) in the Ying-lieh chuan. The fictionalization of a scholar-hero«, in: Journal of the Oriental Society of Australia 5 (1967), S. 25–42.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Die Verbände Zhu Yuanzhangs verfolgten die flüchtenden Yuan-Truppen über den Hongluo-Berg hinaus. Nach etwa fünfzig Meilen erblickten sie in der Ferne Soldaten der Mongolen, die dabei waren, sich in Ermangelung von Proviant mit Gräsern und Pflanzen zu verpflegen. Doch kaum hatten die Mongolen die gegnerischen Truppen ausgemacht, da ergriffen sie eilig die Flucht. Dennoch gelang es den Angreifern unter Fu Youde und Zhu Liangzu in einer stürmisch vorgetragenen Attacke, mehr als zweitausend Mongolen niederzumetzeln. Lediglich drei- bis fünfhundert Reitern glückte mit dem Kronprinzen der Yuan die Flucht zum Wulong-Fluß. Träge floß der mächtige Strom dahin, doch nirgendwo eine Furt, ein Boot zum Übersetzen. Nicht mehr lang, und die Truppen der Ming würden den Fluß ebenfalls erreicht haben. Verzweifelt und mit Tränen in den Augen glitt der Prinz vom Pferd, kniete im Sand und wandte sich mit flehenden Worten an den Himmel: »Seit alters her haben an den Grenzen des chinesischen Reiches starke und kriegerische Völker gelebt. Zur Zeit des mythischen Kaisers Shun gab es die drei Stämme der Miao; das Volk der Xianyun war Nachbar der Zhou; während der Dynastien Qin und Han lebte man mit den Xiongnu-Hunnen Seite an Seite; die Tang kämpften gegen das Kitai-Volk, das Reich der Song unterlag schließlich den Kitan und den Dschurdschen. Mehr als hundert Jahre lang nun haben meine Vorfahren, die Kaiser der Mongolen, über China geherrscht. Doch heute sind wir geschlagen, die Truppen der Ming hart auf unseren Fersen. Allein der Himmel mag nun darüber befinden, ob unser Volk dem Untergang geweiht ist oder weiterbestehen wird.« Weinend warfen sich darauf die mongolischen Reiter in den Sand, klagten dem Himmel ihr Leid. – Da, ganz plötzlich, teilten sich die Fluten des Flusses vor ihren Augen, und die Krieger des Prinzen überquerten auf einer kupfernen Brücke das Wasser. Als die Truppen des Zhu Yuanzhang das Ufer erreichten, wollten sie sogleich die Verfolgung auf der Brücke aufnehmen, doch wie staunten, sie als sie sahen, daß es sich lediglich um eine Gischtwoge in der Luft handelte. Ratlos blickte Wenzhong eine Weile auf die Szene, bevor er seufzte und sagte: »Es war der Wunsch des Himmels, daß die Mongolen nicht untergehen.« Wenzhong und die anderen waren soeben dabei, umzukehren, als man einen eigenartigen Lärm vernahm und aus der Richtung des Hongluo-Berges eine seltsame Gestalt näherkommen sah, wohl sechs Fuß hoch, mit grauem, dunklem Körper, zwei grünen Augen und einem Horn auf dem Schädel, aus dem flötende, pustende Laute drangen. »Das muß der Horngott sein«, gab Wenzhong Fu und Zhu sowie den übrigen Soldaten zu verstehen. Mit lauter Stimme sprach er daher: »Horngott, Horngott, himmlisches Wesen, das du Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen mit deiner wunderbaren Kraft durchdringst, gib uns Auskunft. Wenn die Mongolen nun ein für allemal niedergeworfen sind und sich nie mehr erheben werden, so laß dein Horn schweigen; erheben sie sich aber einst erneut, so tue das mit einem Stoß durch dein Horn kund; dringen sie nach Süden vor, können aber noch nördlich der Großen Mauer gestoppt werden, so blase zweimal durch das Horn; gelingt es ihnen aber, die Grenzen zu verletzen und in das Reich einzufallen, so gebe das mit einem dreimaligen Stoß durch dein Horn zu verstehen.« Als Wenzhong geendet hatte, stieß der Horngott tatsächlich dreimal durch sein Horn. Da er auf diese Weise Kunde über den Beschluß des Himmels
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas erhalten hatte, führte Wenzhong seine Truppen noch in der Nacht zurück zum 227 Hongluo-Berg.
Seiner Rolle als der »wahre Herrscher« wird Zhu Yuanzhang am Ende in vollem Umfang gerecht, als es ihm nämlich gelingt, in das durch die Wirren der Zeit verursachte Chaos bis hinein ins Leben jedes einzelnen wieder Ordnung zu bringen und als Bewahrer konfuzianischer Tugenden verbindliche Grundsätze zu schaffen. Demonstriert wird das im Roman anhand von zwei Beispielen unmittelbar vor der Eroberung der Yuan-Hauptstadt Dadu durch die Ming: Im ersten Fall wird ein Mann vor Zhu Yuanzhang geführt, der seinen dreijährigen Sohn getötet hat, um mit diesem Opfer die Götter zur Heilung seiner schwerkranken Mutter zu bewegen. Jedermann lobt ihn ob seiner pietätvollen Haltung gegenüber der Mutter, doch Zhu zeigt sich empört, erklärt, daß der Vater-Sohn-Beziehung in der Familie elementare Bedeutung zukomme und sie durch nichts gefährdet werden dürfe. Die Zerstörung dieser Beziehung könne niemals Zeichen von Pietät sein, weshalb dem mörderischen Vater Stockhiebe verabfolgt werden. In dem zweiten Fall bringt ein Mann zur Audienz bei Zhu Yuanzhang seine junge Tochter mit, wohl in der Hoffnung, der künftige Herrscher möge in seinem Gefolge oder gar an seiner Seite Verwendung für das Mädchen finden. Empört über das unsittliche Anliegen des Mannes erklärt Zhu, daß er sich anderswo einen Schwiegersohn suchen möge und im übrigen ein Verbrechen auf sich lade, wenn er das Kind nicht durch ein tugendhaftes Vorbild leite. Die Strafe ist die gleiche wie im ersten Fall.228
1.5 Der Blick zurück Angeregt durch die Popularität eines Romans wie der Drei Reiche und anderer Werke der frühen Erzählkunst, wandte man sich während des 16. Jahrhunderts im historischen Roman auch solchen Epochen zu, die in der volkstümlichen Literatur und Kunst bis dahin weniger berücksichtigt worden waren. Die Geschichte der Staaten ist ein frühes Beispiel für den Versuch, einmal vorgelegte Bearbeitungen zu erweitern, anzureichern und in eine reifere Form zu bringen.229 Etwa um die Mitte des 16. Jahrhunderts verfaßte Yu Shaoyu Die Geschichte der Staaten (Lieguo zhizhuan). Wie die Familie des Xiong Damu, so besaßen auch die Yus in Jianyang (Provinz Fujian) - einer Gegend, in der das Verlagsgeschäft 227
228 229
Helden, Kap. 74, S. 306f. Die hier im Roman umgestaltete Szene über den Horngott geht ursprünglich zurück auf eine Darstellung in Kapitel 9 des Werkes Volkstümliche Erzählung über die Seereise des Eunuchen Zheng He in den Westen (San bao taijian xiyangji tongsu yanyi). Ebd., Kap. 68, S. 280f. Zu dem Werk und seinen literarischen Fassungen liegt wenigstens eine wissenschaftliche Studie vor, WENDY I. ZELDIN: »New History of the States«: The Sources and Narrative Structures of a Chinese Fictionalized History, Ph.D. an der Harvard University 1983.
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seit der Song- und Yuan-Zeit blühte - ein Publikationsorgan. Das Verlagshaus der Yus schien sich dabei auf solche Stoffe zu konzentrieren, die nicht von den Xiongs behandelt wurden. Kommerzielle Überlegungen dürften daher auch hinter Yus Abfassung der Geschichte der Staaten stehen. Die ursprüngliche Fassung von Yu Shaoyus Werk existiert nicht mehr, doch legte sein Neffe Yu Xiangdou Die Geschichte der Staaten 1606 neu auf und unterteilte das Werk in acht Bücher und zweihundertsechsundzwanzig Episoden (ze). Im Jahre 1615 erschien dann eine Version in zwölf Büchern. Yus Werk ist weitgehend chronologisch aufgebaut und weist kaum etwas von der komplexen Struktur der späteren umgearbeiteten Fassungen auf. Anders als diese jedoch deckt es nicht nur die Periode der Östlichen Zhou (770 v. Chr.–256 v. Chr.), sondern die der gesamten Zhou-Dynastie (also seit 1122 v. Chr.) ab. Neben historischen Materialien wie den Aufzeichnungen des Großhistorikers von Sima Qian und den Grundzügen des durchgehenden Spiegels zur Hilfe bei der Regierung des Zhu Xi verwendete Yu bei der Anfertigung des Romans allerdings auch eine Reihe von nicht-historischen Stoffen und übernahm Handlungselemente aus Dramen sowie Volksbüchern wie dem »Volksbuch über den Feldzug des König Wu gegen die Zhou« (Wuwang fa Zhou pinghua). Während Yu Shaoyu eine zwar bereits strukturierte, jedoch alles in allem immer noch als Rohfassung des Stoffes zu betrachtende Version vorlegte, muß als Schlüsselautor des Romans Feng Menglong (1574–1646) gelten, der das Werk umarbeitete und als Neue Geschichte der Staaten (Xin lieguo zhi) neu herausgab. Feng, der aus Changzhou in der Präfektur Suzhou stammte, hat sich große Verdienste um die volkstümliche Literatur Chinas in all ihren Formen und Gattungen erworben. Ein Leben lang widmete er, der erst im fortgeschrittenen Alter für kurze Zeit als Beamter einen Kreis leitete, sich insbesondere der Erzählliteratur. Beispielhaft sind seine Bemühungen um die umgangssprachlichen Geschichten seit der Song-Dynastie, die er in zahlreichen Sammlungen vorlegte. Neben der Umarbeitung und Erweiterung des obigen Stoffes zur Neuen Geschichte der Staaten hat Feng auch einem Roman wie der Niederschlagung der Dämonen (Pingyao zhuan), der uns in einem weiteren Abschnitt beschäftigen wird, eine reifere Form gegeben und die Zahl der ursprünglich zwanzig auf vierzig Bücher verdoppelt. Nicht gesichert ist dagegen seine Verfasserschaft für ein Werk mit dem Titel Wang Yangmings Erscheinen in der Ming-Dynastie und seine Maßnahmen gegen die Aufstände (Huangming da ru Wang Yangming xiansheng chushen jing luan lu).230 230
Zu Feng Menglong s. u.a.: PATRICK HANAN: »The Authorship of some Ku-chin hsiao-shuo Stories«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies, 29 (1969), S. 190–200; DERS.: The Chinese Vernacular Story, Cambridge/Mass.: Harvard UP 1981, Kap. 4 und 5, S. 75–120; HU WANCHUAN: Feng Menglongs Biographie und seine Verdienste um Romane und Erzählungen (Feng Menglong shengping ji qi dui xiaoshuozhi gongxian), Taipeh 1973; MIAO YONGHE: Feng Menglong, Shanghai 1979.
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Seine Version der Geschichte der Staaten in einhundertundacht Kapiteln dürfte Feng um 1630 abgefaßt haben. Im Vergleich zu Yu Shaoyus nur etwa halb so langem Werk umfaßt die Neue Geschichte eine Periode von fünfhundert Jahren chinesischer Geschichte, beginnend mit der Herrschaft von König Xuan der Zhou (826–780 v. Chr.) bis hin zur Reichseinigung durch Qin Shihuang im Jahre 221 v. Chr. Dies entspricht grob der Zeit der Östlichen Zhou, eben der historische Zeitabschnitt, der in der Geschichtswissenschaft auch besser bekannt ist unter den Perioden »Frühling und Herbst« (Chunqiu) sowie der Zeit der »Streitenden Reiche« (Zhanguo). Feng Menglong hat seiner Fassung einige »Richtlinien« (fanlie) vorangestellt, in denen er Auskunft über die Quellen gibt, auf die er sich bezieht: Geschichtsdarstellungen, Kommentare, Prosaanthologien etc. Als die wichtigsten darunter werden die Aufzeichnungen des Großhistorikers, die Überlieferung des Zuo (Zuozhuan) und die Gespräche über die Staaten (Guoyu) genannt, doch sind daneben philosophische Werke wie Guanzi, Yanzi und Han Feizi ebenso angeführt wie die Frühlings- und Herbstannalen des Herrn Lü (Lüshi chunqiu) und deren Kommentare Gongyang (Gongyang zhuan) und Guliang (Guliang zhuan).231 Mit der Wahl dieser sprachlich schon sehr früh in der Variante des Idioms der klassischen Schriftsprache wenyan fixierten Quellen dürfte es zu tun haben, daß die Neue Geschichte durchweg in diesem Idiom abgefaßt ist und damit ein wesentliches Merkmal der Erzählliteratur jener Zeit nicht teilt: die Aufnahme umgangssprachlicher Elemente, wie sie auch Fengs Werke in den Sammlungen von Geschichten kennzeichnet. So ausführlich Feng Menglong bei der Nennung der Werke ist, auf die er sich bezieht, ungenannt bleibt seine erzählerische Hauptquelle, die Geschichte der Staaten nämlich in der Fassung von Yu, aus der lange Passagen übernommen worden sind. Die bereits vorliegende fiktionalisierte Fassung der Geschichte besaß darüber hinaus den Vorteil, daß mit ihr eine eigene Chronologie der Ereignisse existierte, die nur noch mit weiteren Handlungsstoffen angereichert werden mußte. Denn anders als die historischen Quellen wie die Überlieferung des Zuo (welche der Chronologie des Staates Lu folgt) oder die Gespräche über die Staaten (in denen die Gespräche eher als Ereignisse betont werden und keine übergreifende Chronologie vorliegt) folgte Yu Shaoyu in seinem Werk der Chronologie des Reiches der Zhou. Fengs Text ist dabei durchweg mit Kommentaren versehen, die sich von Angaben zur Bedeutung von einzelnen Zeichen bis hin zu Erläuterungen inhaltlicher Zusammenhänge beziehen. Er gibt seiner Romanversion eine ganz eigene geistig-ideelle Grundlage, wenn er bei der Darstellung des zunehmenden Verfalls der Zhou-Dynastie bereits im Vorwort klar macht, daß nicht das Schicksal, sondern das menschliche Handeln der ausschlaggebende Faktor für Sieg oder Niederlage im Kampf, Fortbestand oder Untergang der Dynastie ist: Ein würdiger 231
Zu den Quellen siehe ausführlich ZELDIN: »New History of the States«, S. 67f.
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Herrscher bedient sich angesehener und aufrechter Männer und wählt geeignete Nachfolger. Entsprechend gewichtig sind daher die zahlreichen im Roman aufgezeichneten Gespräche bei Hofe zwischen dem Herrscher und seinen Beratern, die Maßnahmen zur Aufdeckung einer Verschwörung etc. Seine letzte und endgültige Form hat der Stoff schließlich mit der Geschichte der Staaten der Östlichen Zhou (Dongzhou lieguo zhi) nach der Bearbeitung von Cai Yuanfang in der Qianlong-Periode (1736–1796) bekommen.232 In den Text selbst hat Cai freilich nurmehr unwesentlich eingegriffen, er nahm lediglich einige kosmetische Veränderungen vor, indem er gelegentlich ein Wort bzw. eine Phrase auswechselte oder eine Anmerkung hinzufügte, im übrigen aber Feng Menglongs Fassung unberührt ließ. Cais größtes Verdienst um das Werk dürfte die Hinzufügung ausführlicher »Leseanweisungen« (dufa) sein, die in einem sehr didaktischen Ton abgefaßt sind und zur Lektüre auffordern, um zu einem rechten Verständnis der Vergangenheit zu gelangen. So betont Cai zunächst die Historizität der Neuen Geschichte, die, weit über reine Erzählkunst hinausgehend, zum Studium der Geschichte, Kriegskunst und Diplomatie anrege. Der größte Teil des Essays jedoch befaßt sich mit dem Gegensatz von Recht und Unrecht sowie der Wichtigkeit für einen Herrscher, sich ergebene und treue Anhänger zu suchen. Sein didaktisches Anliegen in den »Leseanweisungen« unterstreicht Cai mit dem Hinweis, daß man mittels fiktionalisierter Geschichte wie im vorliegenden Falle in der Lage sei, selbst »Frauen, Kindern und einfachem Bauernvolk« Kenntnisse über den Lauf der Geschichte zu vermitteln. Bei dem großen Zeitraum, den die Geschichte der Staaten abdeckt, verwundert es nicht, daß vieles episodenhaft bleibt. Die zusammenhängendste Geschichte (Kap. 70–83) ist die über Wu Zixu (?– 484 v. Chr.), eine Heldengestalt, welche in der Literatur stets für ihre Loyalität gewürdigt worden und in den chinesischen Pantheon aufgestiegen ist. Beschrieben wird darin das Schicksal Wus, seine Herkunft, seine Zeit als Minister und schließlich sein Tod. Eine der spannendsten Stellen ist die Flucht Wu Zixus nach Wu. Wu Zixu reiste in zügigem Tempo, als er schließlich Ezhu (den heutigen Kreis Wuchang) am Ufer des mächtigen Yangtse erreichte. Verzweifelt starrte Wu auf die Fluten, die ihm den Weg versperrten, wohl wissend, daß die feindlichen Truppen ihm hart auf den Fersen waren. Plötzlich gewahrte er auf den Fluten einen Fischer, der in seinem Boot flußaufwärts ruderte. Erfreut sagte sich Wu Zixu: »Der Himmel hat mich nicht verlassen!« Dann rief er: »He, Fischer, setz mich über! Mach schnell und bring mich über den Fluß!« Der alte Fischer war gerade dabei, sein Boot ans Ufer zu lenken, als er dort noch jemanden wahrnahm. Daher stimmte er eine Melodie an und sang: »Sonne und Mond strahlen hell, Eindringlinge sind nicht fern, ich treffe dich in der Schilfbucht.« Wu Zixu 232
Eine frühe Ausgabe ist mit einem Vorwort Cais aus dem Jahre 1736 versehen.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas verstand, flugs eilte er stromabwärts bis nach Luzhou (dreißig li westlich von Wuchang), wo er sich im Schilf verbarg. Nach einer Weile steuerte der Fischer sein Boot ans Ufer, doch da er Wu Zixu nirgendwo erblickte, hob er erneut an zu singen: »Die Sonne geht unter, schwer wird mir ums Herz; der Mond zieht eilig über den Himmel, warum setzen wir nicht über den Fluß?« Daraufhin bahnten sich Wu Zixu und Mie Sheng einen Weg aus dem Schilfdickicht. Als der Fischer die beiden erblickte, winkte er ihnen aufgeregt zu, woraufhin sie über die Steine am Ufer ins Boot kletterten. Kaum waren Wu und Mie an Bord, da stieß der Fischer vom Ufer ab, legte sich kräftig in die Riemen und ruderte auf den Fluß hinaus. In weniger als zwei Stunden erreichten sie das andere Ufer. »Vergangene Nacht«, hob der Fischer an, »träumte ich, der Stern eines Generals sei in mein Boot gefallen, und ich ahnte, daß ich einen bedeutenden Mann über den Fluß setzen würde. Aus keinem anderen Grund ruderte ich deshalb heute auf den Fluß hinaus, um Euch zu treffen. Eurer Erscheinung nach zu urteilen, seid Ihr kein gewöhnlicher Mann, sprecht daher offen mit mir und verschweigt mir nichts.« Daraufhin sagte ihm Wu Zixu seinen Namen. Der alte Fischer seufzte und sagte: »Ihr seht hungrig aus, wartet ein wenig, dann werde ich Euch etwas zum Essen bringen.« Damit machte der Fischer sein Boot an ein paar Weiden am Ufer fest und begab sich ins Dorf, um Essen zu holen. Die Zeit verging, und der Fischer war immer noch nicht zurückgekehrt. Da sagte Wu Zixu zu Mie Sheng: »Es ist schwer zu sagen, was in den Herzen der Menschen vor sich geht. Woher sollen wir wissen, ob er nicht mit Häschern wiederkommt, um uns zu fassen?« Wieder drangen die beiden Männer tief in das Schilf ein, um sich zu verbergen. Nach einer Weile kehrte der alte Fischer mit dem Essen zurück: Mit Weizenschleim, gesalzener Fischsuppe und einer Schüssel Brühe traf er unter den Bäumen ein. Als er niemanden sah, rief er: »Mann im Schilf, Mann im Schilf! Ich habe mir keinen Vorteil verschafft, indem ich Euch verriet!« Als Wu Zixu daraufhin aus dem Schilf trat und sich zu erkennen gab, sagte der alte Fischer: »Ich wußte, daß Ihr hungrig seid, und habe Euch daher etwas zum Essen mitgebracht. Warum habt ihr euch vor mir verborgen?« »Gewöhnlich wird das Schicksal vom Himmel bestimmt«, erwiderte Wu Zixu, »doch heute bin ich ganz und gar Euch ausgeliefert. Mein Herz ist voll Kummer und Sorge. Was außer der Vorsicht sollte mich veranlassen, mich vor Euch zu verbergen?« Daraufhin reichte der Fischer ihnen die Mahlzeit und ließ die beiden Männer essen. Danach machten Wu und Sheng Anstalten zum Aufbruch. Wu nahm sein Schwert von der Hüfte und reichte es dem Fischer: »Dies ist unserer Familie vom König vermacht worden. Seit drei Generationen tragen mein Großvater, mein Vater und ich die Waffe. Das Schwert besitzt sieben Sterne und ist hundert Goldstücke wert. Nehmt es als Dank für Eure Barmherzigkeit.« Der alte Fischer lächelte und erwiderte: »Ich habe gehört, daß der König von Chu demjenigen, der Wu Zixu fängt, fünfzigtausend Scheffel und einen hohen Beamtenrang versprochen hat. Meint Ihr, es kommt mir auf Euer Schwert im Wert von hundert Stücken Gold an, wenn ich mir selbst einen Ministerposten entgehen lasse? Außerdem benötigt Ihr das Schwert auf der Reise. Ihr seht also: Was für Euch von großer Wichtigkeit ist, ist für mich von keinerlei Wert.« »Wenn Ihr nicht mein Schwert
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN als Dank annehmt«, erwiderte Wu Zixu, »so nennt mir wenigstens Euren Namen, damit ich Euch in der Zukunft einmal angemessen danken kann.« Verärgert entgegnete der alte Fischer daraufhin: »Ich habe Euch über den Fluß gesetzt, weil Euch Unrecht angetan worden ist. Was lockt Ihr mich mit Versprechungen für die Zukunft, mich auf so etwas einzulassen, hieße, kein aufrechter Mann zu sein!« »Ihr beschämt mich, wenn Ihr nichts als Dank annehmt«, erwiderte Wu Zixu daraufhin, und er bat den Fischer erneut, zu sagen, wie er ihm danken könne. »Was unser zufälliges Treffen heute angeht«, hob der Fischer von neuem an, »so seid Ihr auf der Flucht vor Nachstellungen in Chu, und ich helfe einem Verbrecher aus Chu. Was für einen Zweck soll dabei mein Name haben? Außerdem: Ich lebe von dem, was mir die Flüsse geben. Selbst wenn Ihr meinen Namen wüßtet, würden wir einander nicht wiedersehen. Wenn der Himmel es fügt und wir einander doch eines Tages begegnen, so werde ich Euch einfach ›Mann aus dem Schilf‹ nennen, und Ihr ruft mich ›alter Fischer‹. Dies wird ausreichen, um einander zu erkennen.« Wu Zixu verabschiedete sich mit einer Verbeugung und wandte sich ab. Er hatte jedoch nur ein paar Schritte getan, als er sich noch einmal umwandte und zu dem Fischer sagte: »Falls ihr auf Truppen stoßt, so verratet ihnen nichts von meinem Geheimnis.« Nur diese wenigen Worte waren der Grund dafür, daß der Fischer sein Leben einbüßen sollte. Wie, das erfahrt Ihr im nächsten Kapitel. Es war also so gewesen, daß der Fischer Wu Zixu über den Fluß gesetzt und ihm zu essen gegeben hatte, sich jedoch weigerte, das Schwert als Dank anzunehmen. Wu Zixu hatte sich dann im Gehen noch einmal umgewandt, um den Fischer zu ermahnen, sein Geheimnis nicht zu verraten und die Truppen, die ihm auf den Fersen folgten, nicht auf seine Fährte zu locken. Da erhob der Fischer den Blick zum Himmel und seufzte: »Ich war aufrichtig und tugendhaft zu Euch, doch noch immer mißtraut Ihr mir. Wie könnte ich mich je reinwaschen, setzten die Truppen an anderer Stelle über und nähmen Eure Verfolgung auf. Nur mein Tod wird Eure Zweifel beseitigen.« Mit diesen Worten machte er das Boot vom Ufer los und setzte Segel. Als er die Mitte des Flusses erreicht hatte, ließ er das Boot kentern und ertränkte sich in den Fluten. Der Chronist sagt in seinem Gedicht: »Viele Jahre lang vermied er Ruhm und verbarg sich zwischen seinen Angelgeräten; doch in seinem kleinen Boot setzte er einen flüchtigen Minister von Chu über. Um Euer Mißtrauen zu beseitigen, will ich für Euch sterben; seit alters her wird der Name ›Alter Fischer‹ überliefert.« [...] Als Wu Zixu sah, daß der Fischer sich ertränkt hatte, seufzte er und sagte: »Durch deine 233 Hilfe blieb ich am leben; doch du starbst meinetwegen, wie tragisch!«
Die Geschichte über Wu Zixu hat eine lange Tradition, die bis weit in die vorchristlichen Jahrhunderte zurückreicht. So wird etwa in der Überlieferung des 233
Die Geschichte der Staaten der Östlichen Zhou (Dongzhou lieguo zhi), Hefei: Anhui wenyi 1993, Kap. 72–73, S. 751–754. Vgl. zur Geschichte der Staaten in westlichen Sprachen die ausgewählte Übersetzung ins Französische von JACQUES PIMPANEAU (Übers.): Royaumes en Proie à la Perdition: Chroniques de la Chine ancienne, Paris: Flammarion 1985.
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Zuo unter dem Datum des 20. Jahres von König Zhao (d.h. 522) über die Hinrichtung von Wu She und seinem Sohn Shang berichtet. Alsdann schwenkt die Erzählung über zu Wu Zixu und seiner Flucht nach Wu. Auch in den Frühlingsund Herbstannalen ist an verschiedenen Stellen von Wu Zixu die Rede. Angeführt wird dort z.B. unter der Kategorie »Verschiedener Wert« (yibao) die Erzählung von dem Fischer, der sich weigert, das Schwert Zixus anzunehmen. Nur stürzt sich der Mann danach nicht in die Fluten, sondern wird nach Wus erfolgreichen Feldzügen gesucht, kann aber nicht mehr aufgefunden werden.234 Unter der Kategorie »Zeitgemäßheit« (shoushi) wird berichtet, wie Wu Zixu nach und nach in Wu an Einfluß gewinnt, den siegreichen Feldzug gegen Chu führt und das Grab des toten Königs Ping auspeitscht.235 Die wesentlichen Elemente der Geschichte sind sodann auch in den Aufzeichnungen des Großhistorikers schon angelegt, während in der Wechseltext-Version (bianwen), die spätestens aus dem 9./10. nachristlichen Jahrhundert stammt und weitgehend mit der späteren Romanfassung übereinstimmt, lediglich die Schwerpunkte etwas anders gesetzt wurden.
1.6 Das Bild des letzten Herrschers als Tyrann Die chinesische Geschichtsschreibung und in ihrer Folge auch die Erzählliteratur haben sich stets schwer getan, die Leistungen, Nöte, vielleicht auch Verdienste gerade der letzten Herrscher einer Dynastie in einem objektiven Licht zu betrachten. Der Anspruch, das »Mandat des Himmels« durch moralische Integrität, eine menschliche Herrschaft und fähige Regierung zu bewahren, wog schwer. Um so negativer mußten jene Herrschergestalten am Ende einer Dynastie erscheinen, die dieses Mandat offenbar nicht mehr besaßen. Besonders schlecht ist bei dieser Einschätzung Kaiser Yang, letzter Herrscher der nur wenige Jahrzehnte dauernden Sui-Dynastie (589–618), weggekommen, der sich die Rolle des lasterhaften, grausamen Tyrannen mit einer Reihe weiterer Endzeitherrscher teilt, von denen wir noch einige kennenlernen werden. Als einer der berühmtesten »Vorgänger« von Kaiser Yang gilt König Zhou, letzter Herrscher der Shang-Dynastie (1766–1122 v. Chr.). Der Katalog von Übeln, die man beiden Herrschern zuschreibt, ähnelt sich: Genußsucht, Faulheit, tyrannischer Mißbrauch der Macht, Orgien, Sadismus, sexuelle Ausschweifungen, Mißachtung der Beziehungen zu Verwandten und anderen Machtpersonen – Vergehen, die sicherlich nicht nur dem konfuzianischen 234
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Vgl. die deutsche Fassung Frühling und Herbst des Lü Bu We, aus dem Chinesischen übertragen und herausgegeben von RICHARD WILHELM, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1979, S. 126f. Ebd., S. 184f. Die einzelnen Episoden der Geschichte von Wu Zixu sind noch auf eine Reihe weiterer Abschnitte in den Frühlings- und Herbstannalen verteilt, so z.B. »Überlegenheit beim Angriff« (zhanggong) und »Kenntnis der Veränderungen« (zhi hua).
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Moralkodex widersprechen. Mögliche Verdienste, die sich ein Herrscher in seinem Amt erworben haben mochte, wurden dabei von der Nachwelt oft geflissentlich vergessen.236 Die amourösen Abenteuer des Kaisers Yangdi aus der Sui-Dynastie sind ein historischer Roman aus der späten Ming-Dynastie und erschienen anonym unter dem Verfasserpseudonym »Einsiedler aus dem Osten von Qi« (Qidong yeren) im Jahre 1631.237 Das vierzig Kapitel umfassende Werk setzt sich aus einer Anzahl von schriftlichen Quellen zusammen, die überwiegend auf Sammlungen von Anekdoten aus der Tang- und Song-Zeit zurückgehen. Darüber hinaus beinhaltet der Roman auch einige Beispiele anspruchsvoller Dichtkunst. Er ist in einem ebenmäßigen und klaren Stil verfaßt. Noch einmal hat dabei ein belesener Literat weit in die Geschichte Chinas zurückgegriffen, um das eigene, vom Sturz bedrohte Herrscherhaus zu mehr Stärke und Abwehr des scheinbar Unvermeidlichen zu bewegen. Die unterschwellige Frage, die im Werk mitschwingt, lautet: Was rechtfertigt Loyalität gegenüber einem unwürdigen und ungerechten Herrscher? Daß der Roman nicht nur in mahnender Absicht verstanden wurde, sondern die Institution des Kaiserhauses an sich in Frage stellte, belegt sein Verbot während der Qing-Dynastie lange nach dem Sturz der Ming. Durch die Art und Weise der Charakterisierung der Herrscherfigur des Kaisers Yang ist auch ein direkter Zeitbezug unverkennbar.238 Für den eingeweihten Kenner der Verhältnisse im kaiserlichen Peking war klar, daß der Verfasser der Amourösen Abenteuer des Kaisers Yangdi mit der Gestalt Yangdis auf den nach mehr als 236
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Eine verdienstvolle Leistung Yangdis etwa bestand darin, Gelehrte zur Herausgabe von Schriften aus dem Altertum zu ermutigen und Bibliotheken katalogisieren zu lassen. Daneben rief der Sui-Kaiser ein Prüfungssystem ins Leben, das über tausend Jahre hinweg Anwendung fand. Vgl. BERNARD LLEWELLYN: China’s Courts and Concubines. Some People in Chinese History, London: George Allen & Unwin 1956, S. 77. Zu Bearbeitungen des Romans in der westlichen Literatur s. vor allem ROBERT E. HEGEL: The Novel in Seventeenth Century China, New York: Columbia UP 1981, S. 84–103 und S. 106–111. Ein freilich weniger eindrucksvolles Beispiel für die Auseinandersetzung mit der Historie der Sui und Tang während der Wanli-Periode (erste Fassung um 1550, erweiterte Fassung aus dem Jahre 1619) liegt mit dem zu jener Zeit verfaßten Werk Historische Aufzeichnungen der beiden Dynastien Sui und Tang (Sui Tang liang chao zhizhuan) in zwölf Büchern und einhundertzweiundzwanzig Kapiteln vor, das jedoch manchmal auch Luo Guanzhong zugeschrieben wird. Die Historischen Aufzeichnungen haben starken Einfluß genommen auf die Abfassung der weiter unten besprochenen Geschichte der Sui und Tang (Sui Tang yanshi). Als ein weiteres wichtiges Werk, das Einfluß gewann auf die Dichtung über die Sui- und die Tang-Zeit, ist die Volkstümliche Darstellung der Tang (Tang shu zhizhuan tongsu yanyi) von Xiong Damu zu nennen. Sowohl die Volkstümliche Darstellung als auch die Historischen Aufzeichnungen wurden später von Xu Wenchang zusammengefaßt zu einer ersten Version der Geschichte der Sui und Tang in zehn Büchern und einhundertvierzehn Episoden.
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vierzig Jahren Herrschaft 1620 verstorbenen Wanli-Kaiser abzielte. So wie Yangdi etwa von Yang Su abhängig war, hing Kaiser Wanli von seiner Mutter und Minister Zhang Juzheng ab. Gleich dem Sui-Herrscher war auch Wanli später bekannt für seine Suche nach sinnlichen Genüssen, nachdem er sich 1589 in die inneren Gemächer des Palastes zurückgezogen hatte und sich bis zum Jahre 1615 weigerte, noch einmal zu einer Audienz zu erscheinen. Von seinem Privatleben heißt es, es sei gekennzeichnet gewesen durch Gier, Trunksucht und Extravaganz. Doch nicht nur in ihrem Wesen zeigen die Kaiser Ähnlichkeiten, gerade die Kritik an ihrem Finanzgebaren deutet starke Bezüge an. Wird Yangdi im Roman durchgehend wegen des Aufwandes für seine Kanalbauprojekte angeklagt, so trafen Jahrhunderte später Wanli ähnliche Vorwürfe, als er das Reich mit dem Bau prunkvoller Paläste (1596/1597), der Ausrüstung für den Koreafeldzug (1594) und dem Bau eines Kanals vom Gelben Fluß bis zum Huai-Fluß (1593–1604) an den Rand des Ruins trieb. Werfen wir, um die Schilderungen in den Amourösen Abenteuern des Kaisers Yangdi besser einordnen zu können, auch hier zunächst wieder einen kurzen Blick auf die historischen Zusammenhänge.239 Kaiser Wendi (Yang Jian, reg. 581–601) war der Gründer der Sui-Dynastie. Er hatte das Reich nach einer Periode langer Zerrissenheit wieder geeint und bemühte sich, die innerchinesische Wirtschaft durch den Ausbau des Kanalsystems anzukurbeln. Die bestimmende Gestalt bei Hofe war lange Zeit Yang Su, ein entfernter Verwandter des Wendi-Kaisers, zudem ein machtbesessener Mann, der laut den Annalen der Sui zusammen mit der Kaiserin gegen die übrigen Prinzen arbeitete, um den späteren Yangdi (geboren 569 als Yang Guang, reg. 604 bis zu seinem Tode 617) auf den Thron zu bringen. Von Wesen und Begabung her gesehen dürfte Yangdi sicherlich über einige Qualitäten verfügt haben, so betonen wenigstens die Quellen seine Gelehrsamkeit und eine Neigung zur Dichtkunst. Die unterstellte Verschlagenheit wird nicht zuletzt auf den Konkurrenzkampf zu den Brüdern zurückzuführen sein. Nur Yangdi gelang es, sich die zunehmende Furcht des Vaters vor den fünf ambitionierten Prinzen zunutze zu machen und den Feindseligkeiten durch die Eltern zu entgehen. Die konfuzianischen Historiker der späteren Jahrhunderte griffen Yangdi vor allem aufgrund seiner aufwendigen Kanalbauarbeiten an, für die bis zu eine Million Arbeiter beschäftigt worden sein sollen. Unterschlagen wurde dabei, daß die Kanäle oftmals Wasserwegen aus früheren Jahrhunderten folgten und nicht nur Prestigezwecken dienten, sondern eine wichtige Funktion bei der Versorgung mit Gütern aus verschiedenen Teilen des Reiches erfüllten. Erfolglose Feldzüge gegen die Koguryo im Nordosten schwächten das Reich zunehmend, so daß ab 613 immer wieder Aufstände ausbrachen. Im Herbst 616 239
Die Darstellung folgt hier weitgehend den Ausführungen von ARTHUR F. WRIGHT: »The Sui dynasty (581–617)«, in: The Cambridge History of China, hrsg. von DENIS TWITCHETT und JOHN K. FAIRBANK, Cambridge u.a.: Cambridge UP 1979, Bd. 3, S. 48–149
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verließ der Kaiser Luoyang und begab sich nach Yangzhou, von wo er wie gelähmt die Ereignisse im Reich abwartete. Ein Jahr später inthronisierten Rebellen seinen Enkel als Nachfolger, 618 erlag Yangdi einem Anschlag von Yuwen Huaji, Sohn des von ihm einst am stärksten favorisierten Generals Yuwen Shu. Die Gestalten aus dem Yuwen-Clan werden uns weiter unten noch in einer eindrucksvollen Szene aus dem Folgeroman Vergessene Geschichte der Sui (Suishi yiwen) interessieren. Bevor wir zum eigentlichen Roman übergehen, sei noch die Bemerkung erlaubt, daß Yangdi dank seiner zahlreichen Aktivitäten im Reich bei weitem nicht als der schlechteste der chinesischen Kaiser angesehen werden darf. Im Kontext seiner Zeit betrachtet, dürfte er nicht tyrannischer als die meisten übrigen Herrscher gewesen sein. In den ersten vier Kapiteln der Amourösen Abenteuer des Kaisers Yangdi rekapituliert der Autor die Ausschaltung der Gegner des jungen Yang Guang und dessen Thronbesteigung.240 Bereits in diesem ersten Teil ist der Roman voll von zugegebenen recht einfachen Symbolen und Anspielungen auf das weitere Schicksal des Kaiserhauses, doch besticht das Werk gerade durch die Schlichtheit seiner eingesetzten Mittel. Nichts wird unterlassen, um den kommenden Herrscher in ein schlechtes Licht zu rücken. In einem Traum etwa antizipiert Kaiserin Dugu die Geburt ihres Sohnes Yang Guang. Darin gebiert sie ein Wesen, das zunächst Ähnlichkeit mit einem Drachen hat (Kaisersymbol), dann jedoch immer mehr die Gestalt einer Ratte annimmt. Das Thema der Ratte zieht sich durch den ganzen Roman, die Tiere werden als Plage oft in einem Atemzug mit den Räuberbanden genannt, die das Land unsicher machen. Während eines geheimnisvollen Höhlenbesuches findet man später heraus, daß Yangdi in Wahrheit ebenfalls nur die Wiedergeburt eines Rattengeistes ist.241 Die Doppelsymbolik Drache/Ratte hat ihre Entsprechung in einem ambivalenten Bild bei der Geburt des Kindes. Die Freude über die Geburt des Nachkommen findet ein jähes Ende, als man den Ausbruch eines Feuers meldet. Doch die vermeintliche Flammenbrunst erweist sich als roter Glanz über dem Palast, wird von dem elterlichen Kaiserpaar als günstiges Omen gedeutet. Dennoch ist diese Schönrederei nur vordergründig, der wahre Effekt – das Versinken des Kaiserhauses im Blut – nur zu deutlich. Die Kritik an der mangelnden Einsicht gegenüber Zeichen und Omen, die das Schicksal setzt, wird hier sichtbar. Auch kaum zweideutige Träume und Erscheinungen, die alle auf Gefahr hinweisen (z.B. der Traum einer Konkubine vom Kaiser inmitten einer Feuersbrunst, Kap. 14) werden von dem mit Blindheit geschlagenen Yangdi positiv gedeutet. Dabei sollte der Kaiser es nach der Konsultation der Sterne besser wissen, wie die folgende Szene eindrucksvoll zeigt. 240 241
Bearbeitet nach der Ausgabe Zhengzhou: Zhongzhou guji 1988. Die Szene wird in komprimierter Form auch in dem Folgewerk Vergessene Geschichte der Sui dargeboten (Kap. 34), dort aber, mit mehr Abstand zu den Quellen, durch den Mund Qin Shubaos als Aberglaube abgetan.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas »Zeige mir, wo der Stern des Kaisers ist!« forderte Yangdi die Sterndeuterin Yuan Ziyuan auf. Yuan wies mit der Hand nach Norden und erwiderte: »Siehst du dort die fünf Sterne im Bild des Ziwei, nördlich des Großen Bären? Der erste, schwach leuchtende ist bestimmend für den Mond, man nennt ihn den Stern des Kronprinzen. Der große, rötlich schimmernde daneben ist bestimmend für die Sonne. Das ist der Stern der Kaiser.« »Wieso flimmert und bewegt sich der Stern der Kaiser derart?« wollte Yangdi nach einem Blick an den Himmel wissen, worauf ihm Yuan Ziyan erklärte, dies hänge mit seiner Vorliebe für das Reisen zusammen. »Es ist doch eine Kleinigkeit, völlig unbedeutend, wenn ich hier auf Erden eine Vorliebe für das Reisen habe«, lachte der Kaiser. »Wie kommt es, daß sich das, was hier geschieht, im Bild der Sterne reflektiert?« »Es ist vielmehr umgekehrt«, erläuterte Yuan. »Nicht der Himmel spiegelt, was Ihr tut, sondern Ihr seid mit allem, was Ihr tut und laßt, ein Abbild des Himmels. Als Sohn des Himmels seid Ihr der Herrscher über die Welt. Alles was Ihr unternehmt, ist vorherbestimmt von den Sternen. Daher haben sich alle Herrscher und Kaiser im Altertum dem Befehl des Himmels bedingungslos unterworfen.« Nachdem Yangdi geraume Zeit auf die Sterne am Himmel gestarrt hatte, fragte er erneut: »Wie kommt es, daß die Sterne im Bild des Ziwei so düster und unklar sind?« »Davon wage ich nicht zu sprechen.« »Ihr quält mich, wenn Ihr mich darüber im ungewissen laßt«, drängte der Kaiser. »Sagt nur frei heraus, was der Himmel mir für ein Schicksal bestimmt, wo doch Blüte und Untergang lange festgelegt sind.« »Ich fürchte«, hob Yuan Ziyan nun an, »daß die Düsterkeit der Sterne nur bedeuten kann, daß das Reich Eurer Majestät nicht ewig währen wird.« »Wird sich wohl diese Fügung noch ändern lassen?« hob der Kaiser von neuem an, nachdem er geraume Zeit geschwiegen hatte. »Die Sterne mögen düster wirken«, erklärte Yuan nun, »doch ihr Hof ist hell und die Umgebung ruhig. Mit Aufrichtigkeit und einem tugendhaften Lebenswandel werden Majestät jederzeit eine positive Wende in der Fügung durch die 242 Sterne bewirken.«
Der nächste, vierzehn Kapitel (Kap. 5–18) umfassende Abschnitt der Amourösen Abenteuer des Kaisers Yangdi befaßt sich mit der Konsolidierung seiner Macht. Wie vergeblich das alles ist, macht eine weitere symbolträchtige Szene in Kapitel 6 deutlich, die auf das Ende der Sui hinweist. Darin mißt sich Yangdi mit Yang Su beim Wettfischen. Zunächst liegt die Majestät vorne, stört sich jedoch am wichtigtuerischen Gerede des Ministers, der dem Kaiser einen goldenen Karpfen (liyu) fangen möchte und tatsächlich bald ein entsprechendes Exemplar von scheinbar enormem Gewicht an der Angel hat. Gegen den Rat Yang Sus, den sonderbaren 242
Amouröse Abenteuer des Kaisers Yangdi, Kap. 16, S. 175.
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Fisch besser zu töten, um späteres Unheil zu vermeiden, entschließt sich Yangdi, das Tier zu markieren und wieder auszusetzen. Der prächtige Fisch, der in der ersten Silbe li lautlich die Anspielung auf den Familiennamen Li der Kaiserfamilie des Hauses der folgenden Tang-Dynastie (618–906) erahnen läßt, spielt auch im weiteren Verlauf eine Rolle. Der »Li-Fisch« wird später in Yangdi stets das Gefühl der Konkurrenz zu dem mächtigen Clan der Li um den Dynastiegründer Li Yuan hervorrufen, am Ende entpuppt sich der riesige Fisch gar als Drache. Verstärkt wird dieses Bild in der Folge noch durch einen herrlichen Birnbaum (li) im kaiserlichen Garten. Die Bestürzung des Kaisers wird zunächst gemildert durch den Hinweis, daß in der Nähe ebenfalls ein schöner Yangmei-Strauch blühe, was in der ersten Silbe eine Verbindung zum eigenen Yang-Clan herstellt. Yangdi verschafft sich durch eigene Anschauung ein Bild, muß aber insgeheim gestehen, daß die Blüten der Birne schöner sind. Am Ende steht der Li-Baum in strahlender Blüte, während der Yangmei-Strauch nach und nach verdorrt. Die folgenden zehn Kapitel (19–29) des Romans in seinem dritten Teil befassen sich mit dem langsam einsetzenden Niedergang aufgrund von Exzessen. Der Autor widmet sich unweigerlich den Anstrengungen und Strapazen, die für die Bevölkerung durch die Anlage der Kanäle entstehen, mit deren Bau der Kaiser einen gewissen Ma Shumou beauftragt hat. In der folgenden von Grausamkeit gekennzeichneten Szene steht weniger Yangdi im Vordergrund als vielmehr sein Handlanger Ma. Dieser hütet erkrankt das Lager, als ihm ein von der Majestät gesandter Arzt eine seltsame Medizin verordnet: Der tägliche Genuß eines jungen Lamms werde die Krankheit beheben. Und wirklich ist Ma bald nach Beginn der Therapie geheilt. Doch selbst nach seiner Genesung will er nicht auf den Genuß des zarten Fleisches verzichten, so daß man ihm bald den Spitznamen »Fleischfresser« (han suluan) gibt, d.h. wörtlich jemand, der versessen ist auf Scheiben gebratenen Fleisches. Überall in der Gegend läßt er die Lämmer aufkaufen, bald dient seine Gier nach den Lämmern denen, die sich bei ihm einschmeicheln wollen, als Vorwand, um ihm ein gut zubereitetes Lämmchen zu schenken. In einem Dorf der Umgebung kommt es zu einer besonderen Grausamkeit, als man sich entschließt, Ma Menschenfleisch zu servieren. Mit Tränen in den Augen entgegnete Tao Lang'er: »Herr, was Ihr gespeist habt, waren keine Lämmer, sondern zubereitete Kinder!« Fassungslos wich dem Ma Shumou die Farbe aus dem Gesicht, als er das hörte. »Wie, was soll das heißen, zubereitete Kinder?« »Ich will ganz ehrlich mit Euch sein, Herr«, entgegnete Tao Lang'er. »Als ich Euch das erste mal das Gericht vorsetzte, habe ich dafür meinen eigenen Sohn geopfert. Er war gerade drei, doch als ich hörte, daß Ihr so gerne Lammfleisch speist, trennte ich dem Kind Kopf und Glieder ab und servierte es Euch als Lamm. Als wir, nachdem Euch das Gericht mundete und wir zur weiteren Zubereitung aufgefordert worden waren, daheim bald keine Kinder mehr besaßen, stahlen wir die Bälger in der Umgebung des Dorfes.«
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas »Unsinn!« rief Ma Shumou. »Wer würde schon so leichtfertig Kinder umbringen, alles Lüge, was du da erzählst. Ich glaube dir kein Wort.« »Niemals würde ich es wagen, Euch anzulügen, Herr!« sagte Tao. »Die Namen der Familien, aus denen wir die Kinder stahlen, habe ich sorgfältig notiert. Auch die Knochen und Überreste der Kinder sind noch da, überzeugt Euch selbst.« Betroffen lauschte Ma Shumou den Worten des Tao Lang'er. »Ich kenne dich nicht, auch sind wir nicht miteinander verwandt. Sag mir, was der Grund dafür ist, daß du diese grausamen Taten begangen hast.« »Ich will Euch den Grund nicht verschweigen, Herr«, hob Tao nun an. »Ihr müßt wissen, daß hier in der Gegend mehr als hundert Personen dem Clan der Tao angehören. Unsere Toten bestatten wir in einem Ahnengrab in der Nähe. Ein Unsterblicher hat uns einst verkündet, daß im Falle, daß auf dem Grab auch nur ein Stein, ein wenig Erde bewegt würde, die ganze Sippe von Krankheit und Unglück befallen wird und daß alle Krankheit und Tod zu erleiden haben. Nur bei unversehrtem Zustand des Grabes können die Tao der Katastrophe entgehen. Nun ist es so, daß das Grab mitten auf dem Bett des Kanals liegt, den Ihr zu bauen plant. Da unsere gesamte Sippe somit von dem Untergang bedroht ist, schlachteten wir unsere Kinder und setzten sie Euch vor in der Hoffnung, irgendwann einmal Euer Gehör in der Sache zu finden. Heute nun ist es mir gelungen, Eure Aufmerksamkeit zu erlangen, da darf ich es wagen, Euch darum zu bitten, den Lauf des Kanals um wenige Meter zu verschieben und unseren Clan vor 243 dem Untergang zu bewahren.«
Ma macht sich die Not der Tao-Familie zunutze, indem er sie zur Bereitstellung weiterer »Lammgerichte« auffordert. Obwohl die betroffenen Eltern und Familien bald ahnen, was die Ursache für das Verschwinden ihrer Kinder ist, hört doch niemand ihre Klagen. Zu spät erfährt Yangdi am Ende von dieser Tragödie und urteilt die Täter ab. In einer Eingebung beweist der Herrscher plötzlich eine Volksnähe, die an das Gebaren der »Roten Kaiser« im China während der ersten Jahrzehnte der Volksrepublik erinnert: Yangdi reist mit seinen Damen per Schiff auf dem Kanal. Die Dammkronen sind kahl und unbebaut, bieten in der Sommerzeit keinen Schatten, so daß Yangdi befiehlt, alle Menschen in der Umgebung mögen einen Baum entlang des Dammes pflanzen. Bald erfolgt die Reise darauf im Schatten. Der Kaiser ist gerührt von der Dienstbarkeit des Volkes und pflanzt eigenhändig einen Baum, was überaus »modern« wirkt: Der Kaiser begab sich hinüber zu den Weidensetzlingen, wählte einen aus und zog ihn mit eigenen Händen aus dem Bündel hervor. Er war damit noch nicht richtig fertig, als ihm schon unzählige Helfer ein Loch gegraben und den Setzling für ihn eingepflanzt hatten. Nun strich Yangdi nur noch einmal mit der Hand über die Pflanze und ahmte die Bewegungen des Pflanzens nach. Begeistert brachen die Minister und das Volk daraufhin in Jubelstürme aus. Nun war es an 243
Ebd., Kap. 23, S. 253.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN der Reihe der übrigen Beamten und Würdenträger, nacheinander einen Setzling zu pflanzen. Als sie alle damit fertig waren, begann die Bevölkerung, im Chor 244 zu rufen, doch glich das alles weder einem Lied noch Gesang.
Dieser Vorgang, so ein kurzer Hinweis an der Stelle im Text, soll übrigens dem Weidenbaum seine chinesische Bezeichnung yangliu eingetragen haben. Es dürfte im übrigen diese Art von Aufwand und Luxus sein (Bepflanzung der Dammkronen zum Schattenspenden), die unser Bild von Herrschern und Despoten ganz gleich welcher Herkunft und welcher Zeit so ähnlich erscheinen läßt. Einerlei, ob ein römischer Nero auf einer Reise teures Duftwasser über den Kot der Eselinnen streuen läßt, welche mitgeführt werden, um der Kaiserin auch in der Ferne das Bad in der Milch zu ermöglichen; oder ob Yangdis Bäume pflanzen läßt, um Schatten zu erhalten – die Formen des Prunks dieser Herrscher bleiben sich wohl über alle Zeiten und in allen Ländern gleich. Es ist nunmehr ein Maß an Dekadenz erreicht, daß der Niedergang unvermeidlich bleibt – das Thema der letzten zehn Romankapitel (30–40). Der Symbole und Bilder offenbar überdrüssig, meldet sich der Erzähler mit seiner Klage selbst zu Wort, zeigt Verständnis für die überall im Lande ausbrechenden Unruhen, nachdem das Kaiserhaus die Steuerschraube unerträglich angezogen hat, um nur noch mehr aufwendige Projekte zu finanzieren. Wie sehr mochten die Einnahmen aus der Getreidesteuer dabei noch zu steigern sein? Man stelle sich nur einmal vor, was in den zurückliegenden Jahren alles finanziert worden war: Hier hatte man ein neues Schloß, dort einen neuen Palast errichtet; kaum waren die wichtigsten Bauten in der Östlichen Hauptstadt bezogen, war sogleich der Xiyuan-Park angelegt worden. Daneben die Instandsetzung der Großen Mauer, Inangriffnahme der Flußbauprojekte, Aufnahme von Handelsbeziehungen mit den Völkern im Westen, nicht zu vergessen der Feldzug gegen die Liao – all das verschlang riesige Summen. Selbst wenn bei diesen Unternehmungen hilfreiche Geister mit Hand angelegt hätten, die Belastung wäre dennoch zu groß gewesen; selbst wer es vermocht hätte, Steine in Gold zu verwandeln, er hätte nicht derart bedenkenlos das Geld ausgeben können. Der Belastung des Volkes waren Grenzen gesetzt, ohnehin war es bereits schwierig genug, daheim alle Münder zu stopfen, wie sollten dann noch alle möglichen Steuern und Abgaben aufgebracht werden? Manchmal blieb wirklich keine andere Wahl, dann mußte man, wollte man am Leben bleiben, knapsen und zwacken, sich das letzte vom Munde absparen, um die gepreßte Steuer beizubringen. Am Ende blieb den Menschen nur das nackte Leben, alles hatte man ihnen genommen, so daß sie gar keine andere Wahl mehr hatten, als unter die Räuber zu gehen. Welch ein Gedanke, in Zeiten größter Not weitere Projekte und Bauten in Angriff zu nehmen, die Steuerschraube weiter anzuziehen! In der armen, mittellosen Bevölkerung rottete man sich zu kleinen Gruppen zusam244
Ebd., Kap. 27, S. 299.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas men, bald gab es hier eine Diebesbande, dort eine Räuberschar. Man schloß sich zusammen, aus kleinen Dieben wurden Räuberhauptleute, unter denen sich freilich in unruhigen Zeiten wie diesen mitunter auch immer wieder einzelne Helden befanden. Dou Jiande machte die Gegend südlich des Zhang-Flusses unsicher, Li Mi sorgte für Unruhe in Luoyang, in der Bergfeste von Wagang sammelte ein gewisser Hauptmann Zhai Banditen um sich, und in den abgelegenen Bergen genoß Liu Wuzhou den Ruf eines Helden. Überall schossen Räuberbanden wie Pilze aus dem Boden, doch Yangdi wußte von all dem nichts und 245 gab nur strengen Befehl, wieder einen neuen Palast zu errichten.
Dem guten Zureden eines Taoisten gegenüber verschlossen, der ihn zur Umkehr bewegen will, verfällt Yangdi am Schluß immer mehr einem Leben in Ausschweifungen, erschöpft sich nach der Einnahme potenzsteigernder Mittel. Das schlimme Ende läßt nicht lange auf sich warten, die Gegner um den Li-Clan gewinnen die Oberhand. Kaum zwei Jahre nach den Amourösen Abenteuern des Kaisers Yangdi erschien 1633 in Hangzhou mit der Vergessenen Geschichte der Sui (Suishi yiwen) ein weiterer historischer Roman, dessen Handlung in der Sui- bzw. der frühen Tang-Zeit spielt und der daher in Teilen als eine Fortsetzung der Amourösen Abenteuer angesehen werden kann, aus denen auch einige Gestalten und erzählerisches Material übernommen worden sind.246 Der Roman stammt wohl aus der Feder Yuan Yulings (1599–1674), Sproß einer wohlhabenden Familie in Suzhou.247 Yulings Großvater Yuan Nien (1539–1617) hatte im Jahre 1577 bei den Beamtenprüfungen den Doktortitel erworben und mehrere wichtige Provinzposten innegehabt. Yuan Yuling selbst erlangte als Verfasser romantischer Komödien eine gewisse Berühmtheit. Sein bekanntestes Stück, »Der Westturm« (Xilouji), scheint in großem Umfang auf eigene Erfahrungen zurückzugehen. Der »Westturm« handelt von einem jungen, reichen Lebemann, einer Kupplerin, einer ebenso schönen wie poesiebegabten Kurtisane sowie dem Konkurrenten des Lebemannes, einem 245 246
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Ebd., Kap. 30, S. 327f. Zu Bearbeitungen in westlichen Sprachen s. u.a. ROBERT E. HEGEL: The Novel in Seventeenth Century China, S. 112–139. Hegel versucht bei der Übersetzung des Titels eine wörtliche Version: »Geschichten, die von den Sui-Historikern vergessen wurden«. DERS.: »Maturation and Conflicting Values: Two Novelists' Portraits of the Chinese Hero Ch'in Shu-pao«, in: WINSTON L.Y. YANG / CURTIS P. ADKINS: Critical Essays on Chinese Fiction, S. 115–150. Die Frage der Verfasserschaft der Vergessenen Geschichte der Sui ist letztlich nicht ganz geklärt, da in diversen Kommentaren zum Roman von einer »Ursprungsfassung« (yuanben bzw. benzhuan) die Rede ist. Ein entsprechender Text hat sich bis heute allerdings nicht gefunden, so daß die Vermutung nicht ganz unbegründet sein dürfte, daß der Kommentator sich auf einen früheren Entwurf Yuans bezieht, der unter Freunden kursierte. Vgl. dazu HEGEL: The Novel, S. 124.
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Dichter. Es heißt, das Stück rekurriere auf Enttäuschungen Yuans in der Liebe, als er einem Konkurrenten unterlag. Nach einer Anekdote soll Yuan Yuling bei der Werbung um die Gunst einer Angebeteten, einer gewissen Zhou Qisheng, mit einem Literaten namens Shen Tonghe aneinandergeraten sein, als dieser die Kurtisane um 1620 entführte. Als man Yuan in der Folge der Streitigkeiten inhaftierte, soll er im Gefängnis aus Rache das Stück zu Papier gebracht haben. Der »Westturm« wurde im Winter 1645/46 kurze Zeit nach dem Sturz der Dynastie in Peking uraufgeführt. Yuan hatte damals seine Heimat bereits geraume Zeit verlassen und Jahre in der Hauptstadt verbracht. Wie sein Romanheld Qin Shubao so mußte sich auch Yuan in diesen unsicheren Jahren entscheiden, welcher Seite er sich anschloß. Gleich Qin so trat auch Yuan über zu den Gewinnern. Mit der Übernahme eines Postens im Bereich des Wasserbaus im Ministerium für Öffentliche Arbeiten war Yuan Yuling einer der ersten chinesischen Literaten, die ihre Dienste den neuen Mandschu-Machthabern anboten. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb bemerkenswert, weil Yu aus der Region des unteren Yangtse stammte, wo sich bis in die Qing-Zeit hinein zahlreiche Anhänger der Ming fanden. Im Jahre 1646 erhielt Yuan einen Posten in der Provinz Shandong, gleichzeitig die Heimat seines Helden Qin. Später diente er als Präfekt in Hubei, verlor diesen Posten jedoch 1653 nach einer Anklage wegen des Mißbrauchs von Geldern und zog sich nach Rückkehr in das heimatliche Suzhou schließlich ganz von den Amtsgeschäften zurück. Die damals gegen Yuan gerichteten Vorwürfe, ein Überläufer zu sein, dürften auch den Grund dafür darstellen, daß seine Vergessene Geschichte der Sui nach 1633 kein weiteres Mal aufgelegt wurde. Späteren Lesern war der Roman dennoch geläufig, da wesentliche Teile daraus in die Geschichte der Sui und Tang eingingen, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Hauptfigur der Vergessenen Geschichte ist Qin Shubao (gest. 638), eine Gestalt, die aus einer frühen jugendlichen Unsicherheit heraus vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Mißstände der Zeit zu einer selbstbewußten Persönlichkeit reift. Anders als bei den Amourösen Abenteuern des Kaisers Yangdi, wo die Kritik weitgehend an den Verfehlungen durch den Kaiser festgemacht wird, bietet sich in der Vergessenen Geschichte eine vollkommen neue Perspektive: Der Roman spielt zum größten Teil außerhalb der Hauptstadt in den Provinzgegenden bzw. auf dem Lande. Machtmißbrauch, Räuberbanden – nicht eine einzelne Person wird angeklagt, sondern eine ganze Epoche. An der Person Qin Shubaos werden die Nöte der Zeit verdeutlicht: Immer wieder klingen Fragen nach der persönlichen Freiheit und Verantwortung an – wie frei ist man, wie soll man seine soziale Rolle im Leben wählen? Der junge Romanheld Qin Shubao hat zunächst noch einen romantischen Ausblick auf das Leben. Er ist Nachfahre einer Reihe angesehener Generäle, von denen der letzte während der Eroberungen durch die Sui fiel. Dem Studium nicht sonderlich zugetan, wendet sich Shubao der Kriegskunst zu. In seiner persönlichen Umgebung findet er keine Vorbilder, er wirkt orientierungslos, lehnt es
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ab, einer gewöhnlichen Beschäftigung nachzugehen, doch die Mutter treibt ihn zur Übernahme eines geringen Amtes als Polizeimann. Shubaos Begleitung eines Gefangenentransports in eine andere Provinz ist der Wendepunkt im Leben des jungen Mannes. Unterwegs rettet Qin einen Mann, der von Banditen überfallen worden ist – es handelt sich um Li Yuan, den Gründer der späteren Tang. Bevor man ihm jedoch danken kann, ist Qin Shubao schon weitergezogen. Mittellos sitzt er daraufhin geraume Weile in Luzhou fest, den ständigen Anfeindungen des Wirtes ausgesetzt, muß er sich am Ende gar erniedrigen, sein Pferd zu verkaufen. Enttäuscht darüber, daß er den an sich selbst gestellten Ansprüchen nicht gerecht werden kann, erkrankt Qin. In der Folge ist der junge Mann immer wieder auf die Gnade anderer angewiesen, er findet Aufnahme bei dem gebildeten Wei Zheng (580–643, später ein Minister unter den Tang) und dem wohlhabenden Landeigner Shan Xiongxin. Auf der Rückreise in die Heimat wird Qin in einen Mordfall verwickelt und zum Strafdienst in die Armee des Luo Yi versetzt, eines angeheirateten Onkel Qins. Nach Beendigung des Dienstes und der Rückkehr zur Mutter kommt Shubao als Amtsbote unter, wird aber in diesem Zusammenhang aus Wut über die grausame Vergewaltigung durch Yuwen Huiji (einen Bruder von Huaji, dem Mörder des Sui-Kaisers Yangdi) selbst zum Mörder. Einer kurzen Leidenschaft und Empörung folgend, wird Shubaos Rache weniger als Heldentat gesehen als vielmehr als Ursache für den Tod der Wan'er, ihrer Mutter sowie die Vernichtung ihres Heims. Im Anschluß an die Arbeit als Polizeioffizier ist es eine der Aufgaben von Qin, eine Gruppe von Arbeitern zum Bau des Großen Kanals zu eskortieren. Er entdeckt die kannibalistischen Gelüste des Ma Shumou, verhaftet die Entführer der Kinder, doch aufgrund von Mas Einfluß sind die Männer bald wieder frei. Qin gibt daraufhin sein Amt auf und zieht sich in die Heimat zurück, wo er ein Leben als Einsiedler fristet. Dem nach seinem zeitweisen Rückzug nunmehr innerlich gefestigten Qin Shubao wird in der Folge das wichtige Amt eines Generals übertragen, als die Sui-Truppen gegen den koreanischen Staat Koryo zu Felde ziehen. Er dient treu und ergeben, vermeidet gar einen Konflikt mit dem Vater des Yuwen Huiji, den er einst erschlug. Ein Vorbild an Größe und Stärke – endlich würdiger Nachfolger der Generationen von Generälen in der Familie – kehrt Qin schließlich in die Heimat zurück. Am Ende hat Qin Shubao nun zu sich selbst gefunden, wird aber mit den Problemen der Zeit konfrontiert. In Li Shimin (598–649, Sohn des Tang-Gründers Li Yuan) erkennt er schließlich den »wahren Herrscher«. Mit der Statur, die Qin nun als gestandener Mann besitzt (endlich der historische Held, der den Tang auf treue Weise half, ihre Macht zu begründen), verliert er für den Autoren selbstverständlich etwas von seiner komplexen Persönlichkeit und gerät am Ende eher wieder zu einem gängigen Heldentypus. Die eindrucksvollste Szene im ganzen Roman ist die Vergewaltigung der jungen Wan'er in Kapitel 22. Es handelt sich um eine einzigartig realistische Schilderung,
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für die sich in der zeitgenössischen chinesischen Erzählliteratur nur wenige Beispiele finden lassen und die auch in keines der Folgewerke wie etwa die Geschichte der Sui und Tang aufgenommen worden ist. Die Darstellung geht an Deutlichkeit bei weitem über die stereotypen Schilderungen etwa bei Kampfszenen hinaus, in denen dem Leser grausame Details zumeist erspart bleiben. Yuan Yuling greift in seinen Vergessenen Geschichten einen Abschnitt aus den Amourösen Abenteuern des Kaisers Yangdi wieder auf (dort Kapitel 31), wo geschildert wird, wie sich der Kaiser an der jungen, erst dreizehn Jahre alten Dienerin Yuebin vergeht, indem er sie in ein zum Zwecke des Lustgewinns angefertigtes »Gefährt zur Vergewaltigung« (renyiche) einspannt. Die hier in Übersetzung wiedergegebene grausige Szene ist gleichsam Auftakt zu weitreichenden Veränderungen: Im unmittelbar anschließenden Kapitel wird vom körperlichen Verfall des Sui-Herrschers berichtet sowie der Thronbesteigung durch seinen Sohn. Doch wenden wir uns nun den Frauen aus Chang'an zu. Für die aus wohlhabendem Hause, die sich nie um genug Nahrung und Kleider sorgen mußten, die jeden Tag in Glück und Wohlstand zubrachten und für die ihr gesellschaftlicher Umgang genügend Abwechslung bereithielt, für die boten all der Pomp und die Pracht, mit der man in der Stadt den Jahreswechsel feierte, nichts Besonderes und Aufregendes. Es berührte sie kaum, denn sie waren es ohnehin gewohnt, daß sie kaum, da sie ihre Sänften verlassen hatten, stets umringt waren von eifrigen Dienern. Anders dagegen bei den Frauen, die aus viel einfacheren Verhältnissen stammten. Die Mühen des zurückliegenden Jahres hatten sie erschöpft, endlich war die Zeit herangekommen, da ihnen die Feiern etwas Ruhe und Abwechslung boten. Ganz gleich, ob schon betagt oder noch in zartem Jugendalter, zur Zeit des Jahreswechsels lebten die Frauen in den Häusern auf, eine geheimnisvolle Macht schien sie hinaus auf die Straßen zu ziehen. Prächtige Lampions schmückten die Straßen, überall Schausteller, Tänzer, Liedermacher; hier ritt jemand auf einem Kamel vorüber, dort fochten zwei Laternendrachen einen Kampf aus. Es war dieses Gedränge, Geschiebe, das Rufen und Schreien von Jung und Alt, Arm und Reich, dieses bunte Bild aus Bauern, Herrschaften und Mönchen, das die Frauen jedes Jahr von neuem auf die Straßen trieb. Es war die Zeit, zu der man sich mit Freunden und Verwandten verabredete, wo man sich herausputzte, die besten Kleider und seinen Schmuck anlegte, und wer von all dem nichts besaß, der lieh sich eben hier und da etwas zusammen, um sich bei dem Spaziergang über die Brücken oder des Nachts bei Mondenschein sehen lassen zu können. Da traf sich Schwester Zhang mit Fräulein Li von nebenan, begab sich Frau Zhao zur Wucherin ein paar Straßen weiter. Fröhlicher Lärm erscholl von überall her, bis in die letzten Winkel der Gassen nur ein Schnattern und Schwätzen. Wehe dem Gatten, der da mit finsterer Miene vielleicht ein Verbot aussprechen wollte. Sogleich hatten die Frauen lautstark ihren Anspruch angemeldet, ihn einen Tyrannen genannt, wo gab es denn so was, daß man zum Jahreswechsel nicht seine Freunde und Bekannten aufsuchte, mal zu einem kleinen Schwätzchen nach nebenan eilte! Doch gab es freilich auch Männer – seien es Gatten, Väter oder Brüder – die ihre Frauen, Töchter und Schwestern
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas bei den Ausflügen begleiteten, sich gerne mit dem herausgeputzten Frauenvolk auf der Straße tummelten. Sicher gab es Unterschiede bei den Frauen, die sich da auf der Straße zeigten: So etwa die, die billig auftraten, sich dick Puder und Creme ins Gesicht schmierten, einen roten Rock, grüne Bluse am Körper trugen, die Ärmel hochgekrempelt, mit wackelndem Hintern, vorgestülpten Lippen daherkamen, stets mit den Blicken nach etwas zu suchen schienen und von aller Welt begutachtet wurden. Doch dann gab es auch jene, die dezenter und bescheidener auftraten, die sich ohne viel Schmuck, Schminke und ausgesuchte Kleider auf die Straße begaben, deren grazile Bewegungen beeindruckten, die sich einer gewählten Sprache bedienten und ein anmutiges Bild boten. Fachmännisch ließen die Herren aus Chang'an ihre Augen über das weibliche Publikum schweifen, stets hielten sie im dichtesten Getümmel Ausschau, zarter Duft hing ihnen in der Nase, zog sie an, veranlaßte sie zu anzüglichen Bemerkungen, freizügigen Witzchen. Von all dem Treiben interessierten diese Herren am wenigsten die Lampions. Wie der süße Duft die Ameise, die farbige Blüte die Biene – so zog das zarte Geschlecht sie an. Kaum hatten sie eine fesche Frau ausgemacht, dann drängten sie – egal, ob sich da ein Lampion befand oder nicht – auch gleich herbei in ihre Nähe, strichen wie zufällig mit der Hand über ihren Körper, tätschelten sie an den Brüsten, sogen den Duft auf ihren Wangen ein. [...] Und dennoch – wohl wissend, was für ein wildes, ungezügeltes Treiben um diese Zeit auf den Straßen herrschte, hielt es viele Frauen nicht zu Hause, kamen sie dann heim, hielten sie dem Gatten vor, wie er sie vernachlässige, wo sie doch draußen die besten Möglichkeiten besaßen. Die Folge: Da verstieß einer seine Frau, wandte ihr im Bett den Rücken zu; dort fühlten sich andere durch das Treiben der Gattin dazu angetan, es selbst wild zu treiben, wobei aus solch einer Begegnung auf der Brücke nicht selten gar Mord und Vergewaltigung die Folge sein konnten. Fürwahr: Dieses Treiben auf den Straßen, um die Laternen anzusehen, ist die übelste Sache, die es gibt. Wer hätte gedacht, daß auch die alte Witwe Wang, anstatt sich ein wenig früher zu Bett zu begeben, sich mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Wan'er noch einmal nach draußen begeben würde, um sich das bunte Leben anzuschauen. Daran war im Grunde nichts auszusetzen, wer konnte denn schon ahnen, daß dieser Bummel ein Verbrechen hervorrufen würde, das der Freude der Alten und der Begeisterung des Mädchens an den Lampions ein jähes Ende bereiten sollte. Ein einziger falscher Schritt kann alles verderben. Nun, und wie sah es aus, das junge Mädchen: Ihre Hüften, so schmal wie eine Weide im Frühling; ein Gesicht wie Pfirsichblüten am Ende des Winters; Haut so weiß wie Schnee, Knochen so fein wie Jade; ein Anblick im Mondenschein noch einmal so schön! Gemeinsam schlossen Mutter und Tochter das Tor ab und begaben sich nach draußen auf die Straße, um die Laternen anzuschauen. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ihnen ein paar junge Burschen singend, immer wieder die eine oder andere Bemerkung machend, folgten. Die Kerle ließen keinen Blick
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN von Wan'er. Kaum gelangten sie an eine belebtere Straße, schwärmten sie aus wie Ameisen und Bienen, ließen den Frauen kaum noch Platz zum Atmen. Nicht nur Wan'er hatte Angst, auch die Alte Wang hatte ein ungutes Gefühl. Die Burschen preßten sich eng an ihren Leib, tätschelten über ihre Brust, aber das sollte noch nicht alles sein. Was die Frauen nicht ahnen konnten, war, daß diese Kerle im Auftrag des jungen Herrn Yuwen unterwegs waren, der sie ausgeschickt hatte, ihm sogleich Bericht zu erstatten, sobald sie jemanden ausmachten, der vielleicht nur zu drei Vierteln hübsch zu nennen war. Hatte man ihm berichtet, kam der junge Herr, um das Fräulein selbst in Augenschein zu nehmen. Da die Kerle nun sahen, wie hübsch Wan'er war, eilten sie sogleich, dem Herrn Yuwen davon zu erzählen. Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten, sondern nahm sofort die Verfolgung auf. Der Anblick der jungen Frau entfachte ein loderndes Feuer in seiner Brust. Da man ihm zu verstehen gab, daß das Mädchen nur in Begleitung einer alten Frau war, ahnte er, was für ein leichtes Spiel er haben würde, und er begann sie zu necken. Wan'er war sprachlos vor Schreck, sie sah sich um, doch nirgends ein Ort, an den sie flüchten konnte. Der alten Frau Wang war Herr Yuwen ein vollkommener Unbekannter, als ihr sein Treiben schließlich zu bunt wurde, hielt sie nicht länger an sich und schimpfte. Doch Yuwen Huiji nutzte diesen unerwarteten Wechsel der Ereignisse, tat aufbrausend und wetterte seinerseits: »Was erlaubt sich dieses alte Weibstück, packt sie und schafft sie mir aus den Augen!« Ohne zu zögern, wurden Mutter und Tochter von den Schergen des jungen Herrn ergriffen und zum Tor seines Anwesens gezerrt. Kalter Schweiß rann den beiden Frauen über den Rücken, sie waren so benommen vor Schreck, daß sie kein Wort des Protestes hervorbrachten, sie kamen sich vor, als hätte man sie in eine dichte Nebelbank gestoßen oder mitten ins Zentrum eines Gewitters, wo es um sie herum donnerte und blitzte. Freilich gab es Passanten, die Zeugen der Szene wurden, doch die meisten von ihnen wußten, wie wild und roh sich der junge Herr Yuwen öfter aufführte, daher wagte es niemand, den Frauen beizuspringen. Man hatte das Tor des Anwesens erreicht. Da Witwe Wang von keinerlei Verwendung war, sperrte man sie in das Häuschen des Torwächters, Wan'er hingegen wurde ins Innere des Hauses gezerrt, um mehrere Ecken stieß man sie durch ein paar Innenhöfe, bis die Rotte mit ihrem Opfer schließlich das Studierzimmer des jungen Herrn erreichte. Yuwen Huiji wartete bereits. Er setzte einen wütenden Gesichtsausdruck auf, woraufhin sich die Burschen sogleich zurückzogen und nur einige Dienerinnen zurückblieben. Yuwen Huiji maß Wan'er von Kopf bis Fuß, wahrlich, da hatte er einen guten Fang gemacht. Trotz ihrer Furcht wirkte sie wie: Eine zarte Blüte, im Regen noch lieblicher; eine biegsame Weide im Wind. Yuwen Huiji zog sie zu sich heran, preßte ihr Gesicht zwischen seine Hände, um ihr einen Kuß auf die Lippen zu drücken. Nun verhielt es sich so, daß Wan'er noch vollkommen unerfahren in diesen Dingen war, nicht einmal den Namen für das wußte, was da mit ihr geschah. Mit einer heftigen Bewegung wandte sie ihr Gesicht ab, stieß ihn von sich. Als Yuwen ihr mit den Fingern in den Schritt
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas griff, sprang sie erschrocken hoch, hielt die Hände schützend vor den Körper. Tränen rannen ihr aus den Augen, als sie schluchzend rief: »Mutter! So komm doch und hilf mir!« Wie oft hatte Witwe Wang draußen am Tor da nicht schon gerufen: »Mein Kind, wo bist du! Gebt mit mein Kind zurück!« Doch wer konnte schon wissen, wie viele Höfe und Mauern sie trennten, sie hätten noch so laut schreien können und einander doch nie gehört. Kichernd zog der junge Herr Wan'er zu sich heran und sagte: »Es nützt überhaupt nichts, wenn du schreist. Du tust besser, was ich dir sage. Wenn du nett bist und alles so tust, wie ich es dir sage, dann wirst du bestimmt meine Nebenfrau. Gefällt dir das nicht, so lasse ich dich in ein paar Tagen von jemandem zurückbringen. Doch sei dir einer Sache gewiß: Mein Haus ist wie eine Färberei – du wirst es niemals weiß und unbefleckt verlassen!« Als hätte sich ein junges Mädchen wie Wan'er mit solchen Worten einfach abfinden können! Sie biß, trat, kratzte, schlug um sich, daß es Yuwen Huiji unmöglich war, sie auch nur anzurühren. Als er sie küssen wollte, stieß sie mit dem Kopf gegen sein Gesicht. So wehrte sich Wan'er noch eine Weile, doch es heißt von den jungen Herren aus begüterten Häusern häufig nicht umsonst, daß sie heftig und aufbrausend sind, und so hatte auch Yuwen Huiji bald seine Geduld verloren. »Bringt sie aufs Bett!« befahl er den Dienerinnen und stieß das Mädchen von sich fort. Die Dienerinnen kicherten und taten, wie man ihnen geheißen hatte. Das Bett im Studio des Yuwen Huiji war kein gewöhnliches Bett. Es trug den Namen »Bett vom Berge Wu«, war das Geschenk eines Freundes namens He Chou und wurde auch »Bett der vollkommenen Freude« genannt. [He Chou ist auch der Name jener Gestalt in Sui Yangdi yanshi, die den Yangdi mit dem Gerät ausstattet, das es ihm ermöglicht, junge Mädchen zu entjungfern.] Wann immer es Yuwen Huiji gelang, ein Mädchen aus gutem Hause hier in sein Studio zu entführen, so war er es schon gewohnt, daß diese jungen Frauen aufgebracht wie sie waren, sich seinen Griffen mit heftigen Bewegungen zu entziehen versuchten, ihre Schenkel zusammenpreßten, traten und vehement um sich schlugen. Daher waren an jeder Ecke des Bettes Schlingen aus Brokat angebracht, in die man Arme und Beine des Opfers zwang, sobald man es erst einmal auf das Bett bugsiert hatte. Derart festgezurrt, jeder Möglichkeit des Widerstands beraubt, mußten die Frauen das »Wolken-Regen-Spiel« über sich ergehen lassen. Aus meiner Sicht ist der Genuß des Liebesspiels mit einer Frau, die dir ihr Herz nicht geschenkt hat und deren Gliedmaßen so fest angebunden sind, daß sie sich kaum bewegen kann, überaus fragwürdig. Yuwen Huiji war ein Dummkopf, was verstand er schon von den Freuden der Liebe, wenn er den Frauen auf die Art seinen Willen aufzwang. Fürwahr: Eine gewöhnliche Biene verstand sich nur darauf, dem Duft zu folgen; selbst die schönste Blume auf dem Felde galt ihr nichts! Wan'er war gerade einmal achtzehn Jahre alt, dabei von zierlichem Körperbau und schüchternem Wesen, eine Jungfrau, die sich ihre Keuschheit bewahrt hatte. Der junge Herr ließ sich von einer Dienerin mit einer Lampe leuchten, als er
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN den Daumen zwischen Wan'ers Schenkel preßte und das zarte Häutchen zerriß. Wie bei einem aufgeplatzten Pfirsich, so brach die Flüssigkeit hervor, ein kleiner zartroter Bach sickerte ins Bett. Erregt von dem Anblick schwoll das Glied des jungen Herren, mit einer einzigen Bewegung stieß er es ihr in den Unterleib. Gepeinigt vom Schmerz schrie Wan'er auf, ein würgendes Gefühl ergriff sie, daß sie keinen Ton mehr herausbrachte. So festgezurrt war ihr Körper, daß sie nicht die Möglichkeit zur geringsten Bewegung besaß. Die Diener kicherten hinter vorgehaltener Hand. Heimlich lugten die Männer und Frauen aus der Dienerschaft immer wieder zum Fenster herein, um einen Blick auf das Spektakel zu werfen, pärchenweise standen sie dicht aneinander geschmiegt, um sich, angeregt durch das, was sich vor ihren Augen darbot, intensiv miteinander zu beschäftigen. Nun waren das alles Leute aus dem Personal, aber bei einem jungen Herrn, der ein so ausschweifendes Leben führte, war es kein Wunder, daß das Gesinde seinem Beispiel fleißig folgte. Und da Yuwen Huiji diesen körperlichen Freuden täglich nachging, beherbergte er bei sich eine ganze Reihe von taoistischen Priestern sowie Heiler verschiedener Sekten, die einander darin auszustechen versuchten, ihn mit den besten Aphrodisiaka zu versorgen. Da fand sich neben gewöhnlichen Mittelchen auf der Grundlage von Seehundnieren, Aktinolith, Curculigogras oder der Wüstencistanche auch allerlei seltenes Gebräu aus dem Ausland. Unentwegt stopfte sich Yuwen Huiji mit Pillen aller Art voll, nicht zu vergessen die Laugen und Essenzen, mit denen er sein männliches Glied wusch und reinigte. Auf seinem »Schildkrötenkopf« hatten die diversen Mittelchen einen dicken Fleischring wachsen lassen, hart wie Leder. Und um die Wurzel hatte er einen bleiernen Reifen voller Medizin und Kräuter gestreift. Das Glied war daher prall und hart wie ein reifer Kürbis, dazu kam, daß der Fleischring auf der Eichel es im geschwollenen Zustand noch ein gehöriges Stück verlängerte, wobei man dunkle Adern unter der Haut hervorquellen sah. Wahrlich ein beeindruckendes Ding, wenn er es hin und her schwang. Wie gesagt, Wan'er war noch eine Jungfrau, und wie der brutale Kerl sie da nahm, in sie eindrang, da kam es ihr vor, als stieß ihr jemand mit dem Messer in den Unterleib. Blut floß ihr aus der Wunde und beschmutzte die Kleider. Sie hatte die Zähne zusammengebissen, eiskalt waren ihre Hände und Füße dabei geworden. Obgleich er mit Wan'er verfuhr, wie es ihm gefiel, störte den jungen Herrn, daß sie sich dabei nicht williger gab, und so zwang er absichtlich sein mächtiges Glied mit aller Kraft in ihren Körper, als wolle er ihren Unterleib zerreißen. Das Mädchen mochte bitten und betteln wie sie wollte, er ließ nicht von ihr ab. Schließlich verlor er seinen Spaß an der Sache, zog das Glied geräuschvoll zwischen ihren Schenkeln hervor und griff nach einer Lampe, um sein Opfer näher zu betrachten. Außerstande, die ihr angetane Schande zu ertragen, überschüttete ihn Wan'er mit Flüchen und Verwünschungen. »Räuber, Schurke, herzloser Verbrecher, was fällt dir ein, so über mich herzufallen, du hast mich ruiniert, es wäre besser gewesen, du hättest ein Messer genommen und mich getötet!« »Schlampe, was erdreistest du dich, so mit mir zu sprechen!« brauste der junge Herr nun seinerseits auf, wütend über ihre harten Worte. »Die meisten Frauen
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas gleich welchen Standes würden sich glücklich schätzen, wenn ich es mit ihnen täte, als Liebhaber genieße ich in der Stadt ein gewisses Ansehen! Was nun dich angeht, du kleines Miststück aus dem hintersten Winkel irgendeiner finsteren Gasse, so wisse, daß nichts wieder heilen kann, nachdem ich dich einmal genommen habe. Für eine wie dich ist das noch gut genug. Ich sollte dich vielmehr zu Tode prügeln lassen, wo du es wagst, mir Widerworte zu geben, ja gar Widerstand leistest, du widerliche kleine Sklavin. Es kostet mich nicht soviel, dich hier einzuschließen und zu verhindern, daß du in deinem Leben auch nur noch einen Schritt aus meinem Hause tust!« Mit diesen Worten wandte sich der junge Herr an seine Dienerschaft und ließ sich das Verzeichnis seiner Pagen bringen. Dann rief er die jungen Kerle zu sich und verkündete: »Paßt auf, ihr werdet mir der Reihe nach dieses Pferdchen hier zurechtreiten. Gedrängelt wird nicht, immer schön nach der Reihenfolge, wie sie im Verzeichnis festgelegt ist! Nehmt sie dabei nur richtig schön ran. Solltet ihr das Luder dabei zu Tode schinden, macht auch nichts, begrabt sie an einem leeren Flecken im Hinterhof. Bleibt sie am Leben, dann bringt sie anschließend in den Westflügel des Studios, ich werden sie dann denen von euch überlassen, die nicht verheiratet sind, damit ihr nachts euren Spaß mit ihr habt!« Ein freudiges Strahlen ging über die Gesichter der Pagen, als habe ihnen der Himmel ein Geschenk gemacht. »Vielen Dank für eure Gnade, ehrwürdiger Herr!« riefen sie im Chor. Einige von den Burschen mochten gerade sechzehn oder siebzehn sein, andere vielleicht Anfang zwanzig, doch alle waren sie jedenfalls kräftige, rücksichtslose Kerle. So fackelten sie nach der Aufforderung durch ihren Herrn nicht lange, sondern machten sich ans Werk. Wie Hungergeister fielen sie über das arme Ding her, ein paar Stöße und Zuckungen, dann war es meist vorbei. Was für ein Bild, die wilde Rotte dicht zusammengedrängt vor dem Bett, lachend, schreiend, schnaufend. Daneben der junge Herr, der vor Freude in die Hände klatschte. Die, bei denen das Geschäft ein wenig länger dauerte, warfen ihrem Herren zwischendurch immer wieder triumphierende Blicke zu. Yuwen Huiji klatschte, johlte, feuerte sie an, prostete ihnen mit großen Schälchen Schnaps zu. Die Orgie war noch im besten Schwunge, als jemand vorne vom Tor herbeieilte und dem jungen Herrn etwas ins Ohr flüsterte: »Die Alte ist immer noch draußen am Tor und macht großen Aufruhr. Was sollen wir tun?« »Unerhört, ist denn das die Möglichkeit, wartet, ich werde mich selbst darum kümmern.« Nun, da der junge Herr das Studio verlassen hatte, machte die Sache den Pagen noch einmal soviel Spaß. Rauf und runter, einer nach dem anderen bestieg Wan'er, daß das Mädchen bald mehr tot als lebendig war. Sie hatte geweint, bis ihr die Tränen versiegten, dann schließlich, als sie wie leblos dalag, kamen jene unter den Pagen, die noch ein bißchen Mitgefühl besaßen (und das waren beileibe die wenigsten unter den Burschen), wärmten ein wenig Wein, lösten die Fesseln und halfen, sie aufzurichten. Nachdem Wan'er ein wenig zu sich gekommen war, fragte sie nach ihrer Mutter. »Warum fragst du?« erwiderten die Pagen, »man hat sie schon vor geraumer Zeit zurückgeschickt.« Wieder brach Wan'er in Tränen aus und schluchzte unaufhörlich. Die Pagen umringten sie, redeten auf sie ein, daß sie doch aufhören möge. Doch wollen wir hiervon nicht weiter berichten.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Unterdessen hatte sich der junge Herr nach draußen vor das Tor begeben, um die Alte zu fragen, warum sie so einen Lärm veranstalte. Als Witwe Wang vernahm, daß Yuwen Huiji aus dem Hause getreten war, hob sie erneut lautes Wehklagen an, schlug sich auf die Brust, stampfte mit den Füßen, rief den Himmel und die Erde um ihren Beistand, bat, daß man ihre Tochter freiließ. »Ich habe mir deine Tochter schon vorgenommen«, antwortete der junge Herr, »mach jetzt, daß du wegkommst, sonst lasse ich dich fortprügeln!« »Selbst wenn du drohst, mich totzuprügeln, ich gehe hier nicht ohne mein Kind fort!« rief die Alte. »Ich bin Witwe, ich habe nur dieses eine Kind. Sie ist bereits jemandem zur Ehe versprochen, gib mir meine Tochter, ich brauche sie, wenn nicht, dann sterbe ich heute nacht hier vor deinem Tor!« »Mach was du willst, aber krepier mir nicht hier vor meinem Tor!« erwiderte der junge Herr. »So viele Leichen können wir hier nicht aufnehmen. Pah, mach was du willst, stirb von mir aus, mir ist’s gleich. Doch es wäre wirklich besser, wenn du jetzt heim gingest.« Damit befahl er seinen Schergen, die Frau fortzujagen. Sie stießen, zerrten und trieben die Witwe Wang bis zum Eingang der Gasse, gaben ihr dann noch einen Stoß, daß sie auf das Pflaster der Hauptstraße 248 fiel, und verriegelten anschließend das Tor, damit sie nicht wieder zurückkam.
Auch die Vergessene Geschichte der Sui reicht mit ihrer Handlung nur bis kurz in die Tang-Dynastie hinein. Wenige Jahrzehnte nach diesem Werk hingegen, etwa um 1675, legte der aus Suzhou stammende Chu Renhuo (ca. 1630–1705) mit der Geschichte der Sui und Tang (Sui Tang yanyi) einen historischen Roman vor, der mit einem zeitlichen Rahmen von etwa zwei Jahrhunderten (d.h. ca. 570–770) weit über seine Vorgänger hinausging und die Entwicklung der Tang-Dynastie bis zum Kaiser Minghuang (reg. 712–755) erfaßte.249 Vermutlich schrieb Chu aus finanziellen Erwägungen, da er über keinen Beamtenposten verfügte. Dies dürfte auch ausschlaggebend dafür gewesen sein, daß Chu sich keiner offiziellen Dynastiegeschichte verpflichtet fühlte, sondern eine Anthologie von Geschichten und Themen schuf, in der neben zahlreichen historischen Gestalten auch solche aus der Welt der Legenden zu finden sind. Bei dem in wenigstens einem Dutzend Ausgaben vorliegenden Werk handelt es sich um einen der beliebtesten historischen Romane Chinas, was übrigens gerade an dem Umstand auszumachen ist, daß es nicht wie sonst oft üblich zu einer Revision von Chus Fassung kam und 248
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Die Übersetzung erfolgte nach der chinesischen Ausgabe Peking: Beijing daxue 1988, Kap. 22, S. 175–181. Hinzugezogen wurde stellenweise auch die Übertragung bei HEGEL: The Novel in Seventeenth Century China, S. 113–118, der anders als hier offenbar nicht auf eine purgierte Ausgangsfassung angewiesen war. Zu Bearbeitungen s. etwa ROBERT E. HEGEL: »Sui T'ang Yen-I and the Aesthetics of the Seventeenth-Century Suchou-Elite«, in: ANDREW H. PLAKS (Hg.): Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton UP 1972, S. 124–159; DERS.: The Novel in Seventeenth Century China, S. 190–208. Die erste erhaltene Ausgabe des Romans stammt aus dem Jahre 1695.
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alle Ausgaben mit seiner Version übereinstimmen. Neben den beiden Romanvorläufern, welche weitgehend die Gestaltung der Kapitel 1–60 beeinflußt haben,250 dienten Chu vor allem die zu Beginn des 17. Jahrhunderts zusammengestellten Geschichtensammlungen sowie Song-zeitliche Prosaliteratur, Anekdotensammlungen aus der Tang-Zeit u.ä. als Quellen. Für den Stoff im letzten Drittel des Werkes dürfte daneben nicht zuletzt die Erzählung über Unruhen im Reich der Tang und die Befriedung der West-Liao (Hun Tang ping Xi zhuan)251 als eine wesentliche Vorlage gedient haben. Die seltsame Mischung aus Historie, Kriminalroman, Liebesgeschichte, Schilderung von Wundersamem und Übernatürlichem sowie moralischer Anleitung (alle Kapitel mit Ausnahme von Kap. 64 werden durch einen kurzen belehrenden Kommentar eingeleitet, der gewöhnlich Aufschluß darüber gibt, welche moralischen Haltungen aus dem betreffenden Kapitel zu gewinnen sind) macht sicherlich den Reiz dieses Werkes aus. So gesehen ist die Geschichte der Sui und Tang sicherlich im strengen Sinne kein historischer Roman, der sich durch eine Ausrichtung an historischen Fakten auszeichnet. Vielmehr ist es nur die grobe chronologische Aneinanderreihung der erzählten Ereignisse, die die Historizität der zentralen Gestalten verbürgen mag. Auch Chus freie Gestaltung der Zeitzusammenhänge entgeht nicht ganz der Schwierigkeit, der historische Romane unterliegen, wenn sie beanspruchen, ein umfassendes Bild einer ganzen Epoche zu liefern. Die dramatischen Höhepunkte der Geschichte müssen dabei zwangsläufig nivelliert werden, außerdem bringt die lediglich lockere Verknüpfung von Szenen meist nur eine episodische Struktur hervor. Chu Renhuo hat sich freilich bemüht, dieser Tendenz entgegenzuwirken, indem er die Erzählung nicht streng chronologisch aufbaute, sondern verschiedene Themenkomplexe in unterschiedlichen Teilen des Romans wieder aufgriff.252 Insgesamt läßt sich der hundert Kapitel umfassende Roman dabei in acht größere Themenkomplexe unterteilen: Aufstieg und Herrschaft des Hauses der Sui (ver250
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Auf originale Entwürfe des Chu Renhuo gehen hier etwa zurück: Kap. 27 (Wang Yi wird mit einer Frau vermählt), Kap. 34 (Zhu Gui'er rettet das Leben von Yangdi), Kap. 42 (Li Mi erringt einen Sieg über die Machthaber der Sui), Kap. 51-52 (Qin Shubao wird für die Tang gewonnen) und Kap. 57 (Li Shimin wird mit Hilfe von Magie gerettet). Hier nach der Ausgabe Zhengzhou: Zhongzhou guji 1993. Das Werk ist unter mehreren Titel bekannt, so z.B. Spätere Erzählung über Unruhen im Reich der Tang (Hun Tang hou zhuan), Spätere Erzählung über die Großen Tang (Da Tang hou zhuan) u.a. Der Verfasser ist nicht bekannt (genannt wird allerdings gelegentlich ein gewisser Zhong Xing, über den sonst keine Erkenntnisse vorliegen), zeitlich ist der siebenunddreißig Kapitel umfassende Roman aber mit Sicherheit vor der Kangxi-Periode (1662–1722) anzusiedeln. Die Erzählung über Unruhen im Reich der Tang beschreibt sehr episodisch Leben und Wirken wichtiger Persönlichkeiten der Tang-Dynastie in der Zeit zwischen den Kaisern Taizong und Suzong (also 627–762). Das Werk fußt selbst ganz wesentlich auf den Darstellungen im Durchgehenden Spiegel zur Hilfe bei der Regierung des Sima Guang. Die Abenteuer des uns bereits bekannten Qin Shubao und anderer Helden etwa finden sich in Kap. 3–4, 6–18, 21–26, 31–33, 37–39 und 41–46.
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streut bis einschließlich Kap. 48); die Abenteuer von Qin Shubao und diversen weiteren Helden (verstreut bis einschließlich Kap. 46); Aufstieg des Clans der Li und Konsolidierung der Macht des Hauses der Tang (verstreut bis Kap. 60); Liebesaffären (Kap. 60–63); die Herrschaft von Li Shimin als Kaiser Taizong der Tang (Kap. 63–70); die Abenteuer der Kaiserin Wu Zetian (Kap. 69–75); die Herrscherin Wei (Kap. 76–77) und die Herrschaft des Kaisers Minghuang alias Xuanzong (Kap. 77–100). Das naturgemäß nur locker zusammengefügte Material wird von Chu Renhuo auf verschiedene Weise miteinander verklammert, etwa durch die Wiedergeburt von Kaiser Yangdi und seiner Lieblingskonkubine Zhu Gui'er als Yang Guifei und Kaiser Minghuang. Auch weniger prominente Romangestalten spielen bei diesem Prozeß eine Rolle, so z.B. Frau Ning, die Mutter Qin Shubaos, deren Figur bis weit in den Roman hineinreicht und die während eines Palastbesuches in Kap. 71 als greise alte Dame von einhundertundfünf Jahren vorgestellt wird. Das biblische Alter einzelner Personen scheint ein beliebtes Klammerelement von umfangreichen Werken der Erzählliteratur jener Zeit gewesen zu sein und wird uns auch in Werken wie den Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt (Xingshi yinyuan zhuan) noch begegnen. Da uns die Gestalten aus dem ersten Teil des Romans bereits weitgehend aus den Vorläuferwerken bekannt sind, wollen wir bei unserer knappen inhaltlichen Betrachtung eher einen Blick auf den Schluß des Buches werfen. Neben der Legendengestalt Mulans, einer streitbaren Amazone aus Nordchina, die in den Kleidern eines Mannes anstelle des Vaters in den Krieg zieht und dabei zahlreiche Siege erringt,253 sind hier vor allem die Figuren der Kaiserkonkubine Yang Guifei und des Rebellen An Lushan von Interesse. Yang Guifei ist wohl die berühmteste Konkubine in der chinesischen Geschichte, ihre Liebe zum Kaiser hat über die Jahrhunderte unzählige Dichter wie Li Bai oder Bo Juyi inspiriert. Geboren im Jahre 718 in der heutigen Provinz Shanxi, gelangte die junge Yang Yuhuan (Jadering), so ihr eigentlicher Name, nach dem Tode des Vaters nach Chang'an. Schon als junge Frau rühmte man ihre Schönheit. Ursprünglich für einen der jungen Prinzen im Kaiserpalast bestimmt, gab man Yang Guifei dann jedoch dem Kaiser Xuanzong als Trost zur Konkubine, nachdem dessen Lieblingsfrau kurz zuvor überraschend im Kindbett gestorben war. Bald gelang es der jungen Frau, eine Spitzenstellung unter den Damen des Kaisers zu erringen und ihre Verwandtschaft mit einträglichen Posten zu versorgen. Yang 253
Auch in der kreativen Behandlung des Mulan-Stoffes (Kap. 56–60) erweist sich Chu als ein Meister der Adaption vorhandener Vorlagen für seine Erzählung. Anders als in der ursprünglichen Fassung, wo Mulan das Angebot des Herrschers für ein Leben in Wohlstand ablehnt und zu ihren Eltern zurückkehrt, bringt sich die nun den Namen Hua tragende Heldin in der Geschichte der Sui und Tang am Grab des Vaters um, nachdem der Khan sie aufgefordert hat, sich in seinen Harem aufnehmen zu lassen. Unter Umständen läßt sich hier eine Anspielung des Autors auf ein mögliches Verhalten bei der Machtergreifung durch die Mandschuren erkennen.
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Guifei verdankt ihren Ruf als Femme fatale vor allem der Beziehung zu An Lushan (?–757), einem einflußreichen Manne türkischer Abstammung, der sich später mit den Tartaren verbündete und China in einen blutigen Krieg stürzte. Bei der Flucht des Kaisers aus der Hauptstadt starb Yang Guifei im Jahre 756.254 Eine kleine Szene im Roman wirft Licht auf die schwierigen Beziehungen zwischen den Geliebten, nachdem Yang Guifei zusammen mit dem Kaiser An Lushan als Ziehsohn angenommen hat, um ungestörte Tête-à-têtes zu arrangieren. Yang Guifei hatte sich an diesem Tag nicht geschminkt und erschien in gewöhnlichen Kleidern. Voller Anmut und Lieblichkeit trat sie vor den Kaiser, über dessen Züge ein Strahlen ging, als er sie erblickte. Er ließ ihr ausländisches Hualu-Duftwasser reichen, das als Tribut gegeben worden war, damit sie sich damit schminke. Während Yang Guifei das Duftwasser auflegte, setzte sich der Kaiser neben den Spiegel, um ihr zuzusehen. Nachdem die Konkubine mit dem Auftragen an Stirn und Schläfe fertig war, verrieb sie das übrige Wasser noch an Händen und Armen, wobei die Kleidung über ihrem Oberkörper ein wenig verrutschte und den Blick auf die Brüste freigab. »Herrlich!« rief der Kaiser bei dem Anblick aus, »weich und zart wie das Fruchtfleisch der Königlichen Seerose!« »Zart und sahnig wie der Rahm der Schafsherden aus dem Norden!« entfuhr es An Lushan ganz unbedacht in seiner Begeisterung. Kaum waren ihm jedoch die Worte aus dem Mund gefahren, als er bemerkte, wie taktlos und anstößig er mit dieser Äußerung gewesen war. Betreten senkte er den Kopf, Yang Guifei brach in Angstschweiß wegen der Bemerkung Ans aus, ob der Kaiser etwas gemerkt hatte? Selbst die umstehenden Zofen erstarrten vor Schreck, ihr Gesicht wechselte die Farbe. Doch Xuanzong schien das alles nicht zu kümmern, er zeigte auf An Lushan und sagte mit fröhlicher Stimme: »So, da weiß unserer Barbarensohn denn auch, was Rahm ist!« Damit brach er in lautes Gelächter 255 aus, in das auch bald Yang Guifei und die Zofen einfielen.
Wie An Lushan wohl um die Beschaffenheit der Brüste Yang Guifeis wissen mochte, wenn er sich nicht zuvor selbst einen Eindruck verschafft hatte, so die lakonische Frage des Verfassers im unmittelbaren Anschluß an die Szene. Es geht jedoch noch einige Zeit ins Land, bevor die Lage schließlich eskaliert. Der Tod eines überaus gelehrigen Kakadus leitet zu der Katastrophe über, die bald den Kaiser und seine Konkubine ereilen soll. Verehrter Leser, was glauben Sie, wer da gesprochen hatte? Es war jener sprechende Kakadu, den An Lushan einst bei seinem ersten Besuch im Kaiserpalast Yang Guifei zum Geschenk gemacht hatte. Das Tier befand sich schon geraume Zeit im Palast, es war gelehrig, sprach alles, was man ihm beibrachte, erwies 254 255
Vgl. B. LLEWELLYN: China's Courts and Concubines, S. 92–101. Geschichte der Sui und Tang (Sui Tang yanyi), Taipeh: Shijie shuju 1982, Kap. 83, S. 642.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN sich darüber hinaus auch als sehr gescheit und verständig. Stets blieb der Kakadu in der Nähe der Yang Guifei, die das Tier liebte wie ihren Augapfel und ihm den Namen Schneekleidchen gegeben hatte. Eines Tages flog das Tier herbei und ließ sich neben der Kommode Yangs nieder. »Ich hatte in der vergangenen Nacht einen bösen Traum«, hob der Vogel an. »Darin bin ich von einem Raubvogel bedroht worden. Ich fürchte, meine Zeit ist bald abgelaufen, und ich werde Euer Majestät nicht mehr lange Gesellschaft leisten können.« Bei diesen Worten nahm sein Vogelgesicht einen betrübten Ausdruck an. »Man sollte Träumen nicht solch eine große Bedeutung beimessen«, erwiderte Yang Guifei, »du nimmst dir die Sache zu sehr zu Herzen. Wenn du jedoch in der Tat innerlich zu aufgewühlt bist, so empfehle ich dir, die Herz-Sutra des öfteren aufzusagen, dann wird wieder Ruhe in dein Herz einkehren. Du wirst Glück verspüren, und alle Sorgen werden vertrieben.« »Das wäre freilich ideal«, entgegnete der Kakadu, »darf ich die Majestät denn um Belehrung bitten?« Yang Guifei trug einer Zofe auf, einige Räucherstäbchen in den dafür vorgesehenen Topf zu stecken, griff dann nach einem Büchlein, das sie stets bei sich führte, schlug die Herz-Sutra auf und begann mit gefalteten Händen, den Text zweimal herzusagen. Der Kakadu lauschte andächtig der Rezitation und hatte sich bald alles so gut eingeprägt, daß er die Sutra selbst ohne Fehler vortragen konnte – sehr zur Freude der Yang Guifei. Tagaus tagein sagte er nun die Herz-Sutra auf, trug sie manchmal mit lauter, klarer Stimme vor oder rezitierte sie einfach nur innerlich, im stillen vor sich hin. Darüber vergingen drei Monate. Eines Tages nun hatten sich der Kaiser und Yang Guifei in den Park begeben, wo sich Xuanzong daran erfreute, mit dem Bogen auf Elstern zu schießen. Yang Guifei sah von einem Aussichtsturm dem Treiben zu, auch der Kakadu war den Turm emporgeflogen und hatte sich auf dem Sims niedergelassen. Plötzlich ging unterhalb des Turmes ein Falkner aus der höfischen Jagdgesellschaft mit zwei Sperbern an der Fessel vorüber. Als die Raubvögel den Kakadu über sich auf dem Turmsims erblickten, flatterten sie auf und stießen nach oben. »Oh weh, ein Unglück!« rief der Kakadu erschrocken aus und flog eilig ins Innere des Turmes. Der Zufall wollte es, daß dort eine Magd fegte, der Staub drang den Sperbern, die mittlerweile auch das Turmfenster erreicht hatten, in die Augen, so daß sie umkehrten und sich wieder auf dem Arm des Falkners niederließen. Voller Bestürzung fiel der Blick Yang Guifeis auf den Kakadu, der zu Boden gefallen war und erst nach geraumer Zeit das Bewußtsein zurückerlangte. Sie hob den Vogel hoch und fragte anteilnahmsvoll: »Armes Schneekleidchen, hast dich erschreckt.« »Der Traum von damals ist wahr geworden«, hob der Vogel an, »ich bin von den Raubvögeln zu Tode erschreckt worden. Ich fürchte, ich werde diesen Schock nicht lange überleben. Zum Glück haben sie mich nicht in Stücke gerissen, das Sutrenlesen aus der Vergangenheit war nicht ganz umsonst.« Damit schloß er die Augen, nahm fortan weder Nahrung zu sich, noch sprach er ein Wort, sondern rezitierte nur mit leisem Murmeln die Herz-Sutra daher. Sooft sie konnte, leistete Yang Guifei ihrem Kakadu Gesellschaft. Nach drei Tagen endlich öffnete Schneekleidchen wieder die Augen und sagte: »Ich habe nun die ganze
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas Kraft der Sutra in mich aufgenommen. Es ist Zeit, mein Federkleid zurückzulassen und ins Paradies von Sukhavati einzukehren. Lebt wohl, Majestät!« Damit stieß Schneekleidchen einige Seufzer aus, wandte sich aufrecht Richtung Westen, schloß die Augen, legte die Flügel an und starb. Wahrlich: Mensch und Tier besitzen gleichermaßen Buddhanatur, doch manchmal ist das Tier selbst dem Menschen an Bewußtsein und Einsicht überlegen; solch ein Tier war auch der Kakadu, der nicht nur sprach, sondern auch die Fähigkeit zu höherer Einsicht besaß; seltsam, daß der Mensch es nicht mal mit einem Vogel aufnehmen kann. Zutiefst betrübt über den Tod Schneekleidchens ließ Yang Guifei den Vogel in einen silbernen Sarg legen und im kaiserlichen Park begraben. Der Ort erhielt den Namen Kakadugrab. Um ihrem gefiederten Freund Glück und Trost auf seinem Weg durch die Unterwelt zu spenden, las Yang dann hundertmal die Herz-Sutra. Auch Kaiser Xuanzong trauerte, als er vom Tod Schneekleidchens erfuhr. Im Palast befanden sich mehrere Dutzend Käfige mit Kakadus, die sprechen konnten. Der Kaiser ließ sie allesamt vor sich bringen und fragte: »Ihr seid Vögel und sehnt euch sicherlich nach eurer Heimat. Als ein Zeichen meiner Gnade werde ich daher veranlassen, daß man euch die Freiheit schenkt!« Die Kakadus dankten der Majestät mit gemeinsamen Hochrufen. Sodann trug der Kaiser einigen Boten auf, die Käfige mit den Vögeln in die Berge im Süden des 256 Reiches zu bringen und die Tiere dort auszusetzen.
Yang Guifei hat nicht zuletzt deshalb an dem Tier gehangen, weil es von An Lushan stammt. Die Quelle für diese schöne Anekdote ist unklar, möglicherweise stammt sie auch vom Verfasser selbst. Nach der von An Lushan angezettelten Rebellion ist Xuanzong jedenfalls gezwungen zu fliehen und kann auch Guifei nicht retten, nachdem die verbleibenden Getreuen an der Seite des Kaisers ihren Kopf gefordert haben. So kreativ Zhu Renhuo seine Version von der Geschichte der Reiche Sui und Tang auch gestaltet haben mochte, die literarische Entwicklung war darüber noch nicht beendet. Erst mit der Vollständigen Erzählung über die Tang (Shuo Tang quanzhuan) wird die frühe literarische Darstellung der Epoche der Sui und Tang zu einem Abschluß gebracht, gefolgt nur noch von zwei Fortsetzungswerken.257 Doch anstatt in der Beschreibung der historischen Zeit nach dem Tode Kaiser Xuanzongs weiter voranzuschreiten, baut dieser in seiner frühesten erhaltenen Fassung aus dem Jahre 1783 vorliegende Roman (das Vorwort stammt bereits aus dem Jahre 1736) Berichte über die Helden vom Wagang-Paß aus, die sich zu Ende der Sui-Dynastie zusammenfanden und die treibende Kraft beim Sturz der Dynastie 256 257
Ebd., Kap. 87, S. 672f. Hier bearbeitet nach der Ausgabe Zhengzhou: Zhongzhou guji 1989, die zehn Bücher und achtundsechzig Kapitel umfaßt.
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wurden. Die Vollständige Erzählung basiert zu weiten Teilen auf Zhu Renhuos Geschichte der Sui und Tang, bedient sich daneben jedoch verschiedener Volksgeschichten, insbesondere der »Mit Gedichten versehenen Beschreibung des Königs Qins in der Zeit der Großen Tang« (Da Tang Qinwang cihua) des Mingzeitlichen Verfassers Zhu Shenglin. Die Handlung der Vollständigen Erzählung bewegt sich zeitlich zwischen dem Sturz der Sui und der Thronbesteigung durch Li Shimin als Kaiser Taizong (im Jahre 627). Romanheld ist wiederum Qin Shubao, der anfangs noch in den Diensten der Sui steht, sich später aber den Helden vom Wagang-Paß anschließt. Qin Shubao erwirbt sich große Verdienste, als er verhindert, daß der künftige Herrscher Li Shimin im Kampf erschlagen wird. Zeitlich unmittelbar an die Thronbesteigung durch Taizong anschließend, befaßt sich der Folgeroman Fortsetzung zur Geschichte der Tang (Shuo Tang hou zhuan)258 vornehmlich mit der Konsolidierung der Lage an den Grenzen und den zu diesem Zweck unternommenen Feldzügen eines gewissen Luo Tong nach Norden und Xue Rengui gen Osten. Beschrieben wird zunächst, wie Luo Tong dem Qin Shubao bei einem Feldzug gegen die Nordbarbaren zu Hilfe kommt und ihn als Held der weiteren Handlung ablöst. Obwohl in diesem Abschnitt eine Reihe von historischen Persönlichkeiten auftreten, sind sowohl der Nordfeldzug als auch die Gestalt Luos frei erfunden. Anders dagegen die Ostfeldzüge, die unter dem historischen General Xue Rengui (614– 683) stattfanden und denen der größere Teil dieses Werkes gewidmet ist.259 Sein Kontrahent ist Zhang Shigui (?–656), ebenfalls eine historische Gestalt, die aufgrund ihrer Verdienste vom Kaiser auf hohe militärische Posten berufen wurde, hier jedoch wegen dramatischer Erfordernisse ähnlich wie Di Qing im Roman über die Generäle des Yang-Clans als negative Figur dargestellt wird. Selbst noch einmal von einer dritten Erweiterung des Stoffes gefolgt (Dritte Fortsetzung zur Geschichte der Tang [Shuo Tang san zhuan]), kündigt der Verfasser der Fortsetzung zur Geschichte der Tang am Ende von Kapitel 55 außerdem eine Fortsetzung zu den Feldzügen unter Xue Rengui an. Tatsächlich liegt ein solches Werk vor, wenn auch erst recht spät erschienen. Es wurde im Jahre 1847 unter dem Titel Drittes Buch über die Westfeldzüge zu Tang-Zeit (San Tang zheng xi yanyi) publiziert.
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Hier bearbeitet nach der Ausgabe Zhengzhou: Zhongzhou guji 1992, die fünfundfünfzig Kapitel umfaßt und in ihrer ersten erhaltenen Ausgabe auf das Jahr 1768 zurückgeht. Xue Rengui ist ein beliebter Held der populären Volkskunst, so liegen etwa aus der YuanZeit das Drama »Xue Rengui jin yi huang xiang« und aus der späten Ming- bzw. der QingZeit die Erzählung »Ding Tianshan« über ihn vor.
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1.7 Ein mächtiger Eunuch am Ende der Ming-Dynastie Hatte man in zahlreichen Erzählwerken während der Wanli-Zeit im ausklingenden 16. Jahrhundert die herrschenden Mißstände allenfalls versteckt anzuklagen gewagt, indem man auf frühere Epochen zurückgriff (etwa mittels des oben erwähnten Sui-Kaisers Yangdi), die gewisse Ähnlichkeit zur Gegenwart aufwiesen, so schienen die Verhältnisse für Beamte und Gelehrte spätestens mit dem Tode Wanlis (1620) in einem Maße unerträglich geworden zu sein, daß ein direkterer Ton der Klage erforderlich wurde.260 Damit gewann die Romankunst vorübergehend eine Aktualität, wie sie sich erst wieder zum Ende der Qing-Dynastie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert feststellen läßt. Die Ming hatten erzählerisch ihre eigene Dynastie entdeckt. War der Ton in einem Werk wie den weiter oben behandelten Helden noch neutral und mochte lediglich zu nostalgischen Betrachtungen Anlaß geben, so rückte etwa die Erzählung über den Zhengtong-Kaiser (Zhengtong zhuan) mit dem Bericht über die Gefangennahme des Kaisers Yingzong im Jahre 1449 während eines Feldzugs in der Mongolei die innere Krise unmittelbar in den Mittelpunkt. Ähnlich auch der 1603 erschienene Roman Die erfolgreiche Befriedung von Bozhou (Zheng Bo Zou jie zhuan tongsu yanyi) über die erfolgreiche Niederschlagung eines Aufstandes in Sichuan. Unter den Kaisern Tianqi (1621–1627) und Chongzhen (1628–1644) dienten Werke der Erzählkunst schließlich zu direkten politischen Attacken: Mit der von Anhängern Wei Zhongxians seinerzeit in Umlauf gebrachten und weiter oben bereits kurz erwähnten Erzählung über den Nordosten (Liaodong zhuan) sollte Weis Gegner, General Xiong Tingbi (1598–1625), diskreditiert und ausgeschaltet werden. Doch bereits kurz nach seinem Tod im Jahre 1627 wurde Wei Zhongxian dann selbst Opfer wütender literarischer Angriffe. Bereits 1628 lagen zwei jeweils vierzig Kapitel umfassende Werke über den verhaßten Eunuchen vor: Der Traum von den Kräften Yin und Yang zur Ermahnung der Welt (Jingshi Yin Yang meng) und das Erzählwerk mit Klage und Tadel gegen Wei Zhongxian (Wei Zhongxian xiaoshuo chi jianshu). Beide Werke nahmen Einfluß auf den fünfzig Kapitel umfassenden Roman Die leuchtende Perle (Mingzhuyuan), der wohl zwischen 1630 und 1650 in der ausgehenden Ming-Zeit bzw. der frühen Qing-Zeit entstanden ist und sich bis heute unter verschiedenen Titeln immer noch großer Beliebtheit erfreut.261 Das 1868 der Zensur zum Opfer gefallene Werk wurde nicht selten in einem Atemzug mit großen Romanen wie dem Traum der Roten Kammer und dem Jin Ping Mei 260
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Zur geistig-politischen Verfassung Chinas während der Wanli-Zeit vgl. einführend etwa RAY HUANG: 1587 – ein Jahr wie jedes andere. Der Niedergang der Ming, Frankfurt/M.: Insel 1986. Vgl. die diversen Ausgaben der letzten Jahre: Beiläufige Bemerkungen zum Taowu (Taowu xianping), Peking: Renmin Zhongguo-Verlag 1993; Vollständige Aufzeichnungen über den Eunuchen Wei (Wei yan quan zhuan), Peking: Huaxia-Verlag 1995. Der Ausarbeitung hier lag die Ausgabe Mingzhuyuan, Guilin: Lijiang-Verlag 1994 zugrunde.
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genannt, besitzt aber vor allem wegen seiner Anklage gegen das Beamtentum nicht zuletzt auch mit Wu Jingzis Gelehrten (Rulin waishi) eine gewisse Ähnlichkeit. Historisch bedeutend ist die Leuchtende Perle jedoch vor allem aufgrund ihres differenzierten Bildes von der Persönlichkeit Wei Zhongxians und den Zeitumständen, so daß dem Roman trotz seiner häufigen Bemühung überirdischer Mächte von der chinesischen Literaturwissenschaft das Attribut »Tatsachenroman« verliehen wurde.262 Ein Verfasser der Leuchtenden Perle wird zwar nirgendwo erwähnt, doch taucht in diesem Zusammenhang immer wieder der Name eines gewissen Li Qing (1602–1683) auf, der 1631 die Prüfungen zum Jinshi bestand und eine Anstellung als Beamter in der Hauptstadt erhielt. Wer war nun diese Eunuchen-Gestalt am Ende der Ming-Dynastie, die hernach so viel Haß und Abscheu auf sich zog? Um die Darstellung im Roman würdigen zu können, sei hier ein kurzer historischer Abriß gegeben.263 Wei Zhongxian (1568–1627) stammte aus dem Ort Suning in der heutigen Provinz Hebei. Er war ungebildet und galt als notorischer Spieler.264 Wei war vorübergehend verheiratet und besaß eine Tochter. Bei der Eintreibung von Spielschulden durch eine Reihe von üblen Burschen mißhandelt, beschloß Wei Zhongxian, seinem Leben eine Wende zum Besseren zu geben und unterzog sich einer freiwilligen Kastration – die Voraussetzung für die Aufnahme in den Palast zum Dienst in den inneren Gemächern. Bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts befand sich Wei im Gefolge jener kaiserlichen Konkubine, die den Zhu Youjiao geboren hatte, welcher 1621 als Kaiser Tianqi auf den Thron kam. Youjiao war ältester Sohn des Kaisers Taichang, der 1620 nach nur wenigen Monaten als Kaiser verstarb nach der Einnahme roter Pillen. Auch der Roman (Kap. 23) erwähnt die mysteriösen Umstände seines Todes, die als der »Rote-Pillen-Fall« politische Bedeutung erhielten. Der neue Herrscher Tianqi galt als schwacher Monarch, besaß nur geringe Bildung, war womöglich sogar geistig behindert. Da er sich nicht mehr in der Lage zeigte, aktiv in die sich kritisch zuspitzende Lage einzugreifen, zog er sich mit der Zeit immer mehr in die inneren Gemächer des Palastes zurück und überließ die Amtsgeschäfte den Dienern und seinem Gefolge, wo sich besonders Wei als negative Figur hervortat. Schwächlich und kränklich wie der Kaiser 262 263
264
S. dazu das Nachwort zur Ausgabe Taowu xianping, S. 481f. Die Darstellung folgt weitgehend den Angaben in The Cambridge History of China, hrsg. von FREDERICK W. MOTE und DENIS TWITCHETT, Bd. 7: The Ming Dynasty, 1368–1644, Teil I, Cambridge u.a.: Cambridge UP 1988, S. 591–614. Vgl. auch die knappe Biographie zu Wei Zhongxian in SHIH-SHAN HENRY TSAI: The Eunuchs in the Ming Dynasty, Albany: State University of New York 1996, S. 3–6. Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Wei vgl. vor allem ULRICH MAMMITZSCH: Wei Chung-hsien (1568–1628): A Reappraisal of the Eunuch and the Factional Strife at the Later Ming Court, Ph.D. Dissertation, University of Hawaii 1968.
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war, fand er vor allem Freude an der Gesellschaft von Wei und einer Amme namens Frau Ke (im Buch Ke Yinyue), die 1627 starb und illegitime Beziehungen zu Wei unterhalten haben soll, wie das auch im Roman ausführlich geschildert wird. Aus einer eher untergeordneten Stellung im Gefolge des Kaisers gewann Wei nach der Thronbesteigung durch Tianqi immer mehr Macht und Einfluß, stieg dann innerhalb kurzer Zeit zum Mitglied des Zeremonienamtes auf, dem Zentrum der Aktivitäten von Eunuchen in der Hauptstadt des Reiches. Ungebildet wie Wei nach Aussage der historischen Quellen war, konnte er sich diese wichtige Stellung nur mit Hilfe des Einflusses von Amme Ke auf den Kaiser sichern. Ausgestattet mit großen Vollmachten, sollte Wei zum mächtigsten Eunuchen seiner Zeit werden. Auf die Kritik durch Zensor Wang Xinyi (1572–1645) hin reagierte Wei im Sommer 1621 mit einer Säuberung im Palast, der auch der einflußreiche »gute« Eunuch und Donglin-Sympathisant Wang An zum Opfer fiel. In den folgenden Jahren gelang es Wei Zhongxian zunehmend, seine Macht zu konsolidieren, indem er sich seiner Kritiker entledigte und weiter einflußreiche Stellungen anstrebte. 1624 ernannte man Wei zum Leiter des »Ostdepots« (Dongchang), einer unter der Kontrolle durch die Eunuchen stehenden Geheimdienstorganisation. Hiermit erhielt Wei richterliche und Strafgewalt. Im Jahre 1625 wurde er zum Vizekommandeur der obersten Militärkommission ernannt, 1626 machte man seinen Neffen zum Fürsten. Überall im Reiche warb man um die Gunst, Schreine zu Ehren des Wei Zhongxian zu errichten. In Memoranden an den Hof pries man Tugenden und Fähigkeiten des Eunuchen. Militärische Siege, die man weit ab von der Hauptstadt erfocht, schrieb man seiner weisen Führung zu. Der Kult um Wei erreichte 1627 seinen Höhepunkt, als man vorschlug, ihm die gleichen Ehren wie dem Konfuzius zukommen zu lassen. Als Kaiser Tianqi 1627 erkrankte und kurz darauf starb, reichte Wei nach der Thronbesteigung des neuen Kaisers Zhu Youjian (1611–44) ein Rücktrittsgesuch ein, das jedoch zunächst abgelehnt wurde. Klagen gegen Wei und sein Gefolge wurden laut. Als einer der ersten aus der Riege um Wei legte Kriegsminister Cui Chengxiu seinen Posten nieder. Am 8. Dezember 1627 forderte man Wei auf, die Hauptstadt zu verlassen und einen geringen Zeremonienposten in der Heimat des ersten Ming-Herrschers anzutreten. Unter Mitnahme großer Schätze und Reichtümer begab sich Wei nach Fucheng, ca. zweihundert Kilometer von Peking. Dort erfuhr er von dem Kaiserbefehl, in dem seine Verhaftung und ein Verhör angeordnet waren. Um härteren Bestrafungen zuvorzukommen, erhängten sich Wei und ein ihm nahestehender Eunuch in der zweiten Dezemberwoche in Fucheng. Kurze Zeit darauf beging auch Cui Chengxiu Selbstmord. Doch weder ihm noch Wei war ein ehrenvolles Begräbnis vergönnt. Ihre Leichen wurden zerstückelt, die Häupter zur Warnung in der jeweiligen Heimatstadt aufgesteckt. Nach dem Tod des mächtigen Eunuchen blieben auch Säuberungsaktionen gegen seine Fraktion nicht aus, Amme Ke, ihr Bruder, der Sohn sowie einer von Weis Neffen waren unter den mehr als zwei Dutzend Personen, welche hingerichtet bzw. in den
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Selbstmord getrieben wurden. Die überall im Lande zu Ehren von Wei errichteten Schreine riß man nieder. Die Angehörigen jener Familien, die von Wei verfolgt worden waren, rehabilitierte man. Der Roman Leuchtende Perle ist recht deutlich in zwei Teile zu gliedern, von denen gerade der erste (Kap. 1–19) für uns interessant ist, da er die Lebensphase Wei Zhongxians vor seinem Eintritt in den Palast beschreibt, wohingegen der etwas längere zweite Teil mit dem Aufstieg in der Umgebung des Kaisers im großen und ganzen jene historischen Fakten reflektiert, die wir bei unserer kurzen biographischen Übersicht bereits erwähnt haben. Der Roman weist eine für seine Zeit erstaunliche Nähe zu den frühen chinesischen Erzählformen, insbesondere den Textbüchern (huaben), auf. Der Text ist nicht nur durchzogen von zahlreichen Erzählformeln und erläuternden Prosapassagen (die den früheren rhythmisch vorgetragenen Partien entsprechen), er verfügt noch dazu über eine mehr als ein Kapitel umfassende Einleitung, in der die für Textbücher typische Einführung (ruhua) zu erkennen ist, welche inhaltlich in keiner direkten Beziehung zum übrigen Romangeschehen steht. Der Verfasser hat sich in dieser Einführung die Flutkatastrophen zum Thema genommen, die die Menschen im Reich immer heimsuchten und hier bereits sinnbildlich auf die katastrophale Lage hinweisen, in die der Eunuch Wei Zhongxian das Land später stürzt. Der junge Jinzhong (Zhongxian wird er sich erst nach Aufnahme in den Kaiserpalast nennen) durchlebt ein wechselhaftes Schicksal, Geburt und Jugend lassen noch nichts von der Macht des späteren Eunuchen erahnen, von einem absoluten Tiefpunkt im Leben Jinzhongs gibt uns der Verfasser ein anschauliches Bild. Es mochten etwa zehn Tage vergangen sein, als Jinzhong von einer heftigen Krankheit befallen wurde. Sein ganzer Körper glühte, er verspürte überall Schmerzen, war kaum noch in der Lage, seine Glieder zu bewegen. Stöhnend wälzte er sich Tag und Nacht auf dem Lager. Nach einem weiteren halben Monat bekam er plötzlich einen schlimmen Ausschlag. Da seine Vorräte nahezu aufgebraucht waren, gab er zum Schluß auch seine Decke her, um wenigstens noch etwas zum Essen zu erhalten. Nach einigen Tagen gingen die Bläschen am Körper auf, troff ihm eine eitrig-blutige Flüssigkeit über die Haut. Zunächst kümmerten sich die Herbergsleute noch um ihn, doch angeekelt von seiner abstoßenden Krankheit, wagte sich bald niemand mehr in seine Nähe. Selbst als Jinzhong mit schwacher Stimme nach einer Schale Suppe rief, erhielt er keine Antwort, so daß ihm nichts übrig blieb, als einsam zu darben. Die wenigen hundert Kupferkäsch in seiner Tasche waren bald aufgebraucht, lediglich einigen wohltätigen Leuten aus der Nachbarschaft war es zu verdanken, daß er überhaupt noch ein wenig Speise und Trank erhielt. Ihm blieb am Ende nichts übrig, als sich mit den einfachen Dingen, die man ihm gab, zufriedenzugeben. Zum Glück waren die Tage bereits milder geworden, so daß er mit der dünnen Kleidung, die ihm verblieben war, gerade auskam. Nur der Gestank, den seine eitrigen Wunden am Körper hervorriefen, brachte die Menschen in der Nachbarschaft nach und nach
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas gegen ihn auf, und man gab ihm bald überhaupt nichts mehr, selbst wenn er darum bat. Zwei Tage lag er mit vor Hunger knurrendem Magen auf dem Boden, als ein alter Mann an ihn herantrat und zu ihm sagte: »Es wird nicht viel nützen, wenn du hier liegst und darauf wartest, daß dir jemand etwas zum Essen bringt. Im Shuilu-Tempel werden heute die Armen gespeist, warum gehst du nicht hin und siehst, ob du nicht vielleicht ein paar Dampfbrötchen ergatterst.« »Ich weiß nicht, wo der Tempel liegt«, stöhnte Jinzhong. »Du mußt durch das Südtor, dann ist es nicht mehr weit«, erklärte ihm der Alte. Da Jinzhong den Hunger nicht weiter ertrug, erhob er sich trotz der großen Schmerzen und begab sich, auf seinen Bambusstab gestützt, zu dem bezeichneten Tempel. Vor dem Tempeltor sah er eine große Zahl von Bettlern hocken. An der Außenseite des Tores hatte man bereits eine Rampe für die Speisung errichtet, bei Einbruch der Dämmerung sah man, wie die Mönche oben tätig wurden. [...] Zur Zeit der zweiten Doppelstunde, als die Mönche ihre Gebete verrichtet hatten, warfen sie Reis, Weizen, Dampfbrötchen nach unten zu den Bettlern, wobei sie ein paar Gebetsformeln sprachen. Gierig stürzten die Bettler nach vorne, die Kräftigen rafften soviel zusammen wie sie konnten, und auch Jinzhong gelang es, ein paar Dampfbrötchen zu ergattern. Ermattet schlief er in dieser Nacht vor dem Klostertor. Bevor er einschlief, hörte er, wie die übrigen Bettler davon sprachen, am kommenden Tag zum Taishan-Kloster zu ziehen, wohin die Damen der Herrschaften aus der Stadt einen Ausflug unternähmen. [...] Zusammen mit den übrigen Bettlern zog Jinzhong am nächsten Morgen zum Taishan-Kloster. Im gepflasterten Innenhof der Anlage herrschte reges Treiben, man spielte Fußball, übte sich in Akrobatik, hier gab es Geschichtenerzähler, dort Faustkämpfer. Interessiert begaben sich die Damen und Herren aus der Gesellschaft zu den einzelnen Gruppen, man zündete Räucherstäbchen an, lustwandelte oder vergnügte sich anderweitig. Erwartungsvoll verharrten die Bettler am Außentor, wagten sich nicht in den Klosterhof. Jedesmal, wenn jemand aus dem Tor nach draußen trat, streckten sie gierig die Hände aus, bettelten um Geld. Einige der Wohltätigen gaben gerne ein Almosen, andere schimpften und wimmelten die Bettler ab, wieder eine andere Sorte Frauen gab erst ein Almosen, als man das lästige Bettlervolk nicht abschütteln konnte. Für die meisten der Bettler kamen auf die Weise am Tag sechzig bis siebzig Kupferkäsch zusammen. Jinzhong jedoch, geschwächt von der Krankheit und dem Ausschlag, gelang es kaum, sich nach vorne zu drängen. Außerdem war er zu weich, verstand es nicht, effektvoll sein Leid zu klagen, so daß er es am Ende nur auf zwanzig bis dreißig Käsch brachte, was gerade einmal für ein paar Dampfbrötchen und Wein an einem Tag langte. [...] Die Zeit der Mitte des vierten Monats brach heran. Jedes Jahr um diese Zeit, am 18. Tag des Monats, brachten die reichen Haushalte fleischlose Speisen und Geld in den Tempel, um die Armen drei Tage lang zu versorgen. Die Bettler sehnten jedes Mal diese Tage herbei, da es die einzige Zeit war, zu der sie nie Hunger litten. Der 15. des Monats war vorüber. Nach dem Mittagsmahl brachten die Gläubigen den Reis und was sie sonst an Almosen vorbereitet hatten, ins Kloster, stapelten, jede Familie für sich, die Sachen an einem Ort. Alles, was
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN einigermaßen schön und von Wert war, ging an die Mönche: Schuhe und Strümpfe, Geld, Stoffe, Taschentücher und Fächer. Man setzte ihnen würziges Gemüse, Reis, Suppe, Dampfbrötchen und so weiter vor. An Spenden überließ jeder der wohlhabenden Gläubigen fünfzig Kupferkäsch. Erst dann kamen die Bettler an die Reihe: für jeden eine Schüssel Reis, vier Dampfbrötchen, eine Schale Gemüsesuppe und fünf Kupferkäsch. Zunächst nahmen alle der Reihe nach die ihnen zustehenden Speisen und Gaben entgegen, doch dann begann man zu drängeln und zu schieben, worauf den Almosenspendern die Geduld riß und sie den Bettlern die Sachen einfach hinwarfen, daß diese selbst davon nähmen. Da blieb es nicht aus, daß die Kräftigen mehr nahmen, als ihnen zustand und Schwächere gar nichts erhielten. Nur mit Mühe gelang es Jinzhong, ein Dampfbrötchen zu ergattern. Der Boden vor dem Westflügel war über und über mit Reis und Nahrung bedeckt, darin die Bettler, ihre Speisen verzehrend. Stolz und überheblich zeigten die robusteren unter dem Bettlervolk ihre Beute; als man sah, daß Jinzhong kaum etwas zu essen hatte, machte man sich lustig über ihn und schimpfte ihn einen Versager. Mit hungrigem Blick sah Jinzhong ihnen beim Essen zu. Lärmend und schmatzend saßen die Bettler auf dem Platz beieinander, als sie einen jungen taoistischen Mönch mit wankendem Schritt aus der Halle treten und in Richtung des Westflügels gehen sahen. Der junge Mann bot eine stattliche Erscheinung: Auf dem Haupt trug er eine strahlende Sternenmütze, gekleidet war er mit einem bunten Kranichfedergewand, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Die Füße steckten in kostbarem Schuhwerk. Sein Antlitz strahlte so erhaben wie das Licht des vollen Mondes, und es schien ganz, als sei er ein Gast von der sagenhaften Insel Penglai. Der Taoist wurde mit seinem Glaubensnamen Yuanlang angesprochen und hieß von Hause aus Chen. Er war um die zwanzig, klug sowie von rascher Auffassung und beherrschte die heiligen Schriften ohne Mühe. Kein Wunder, daß der Tao-Priester ihn zu seinem Lieblingsschüler gewählt hatte. Von Natur aus war er wohltätig. Als er aus dem Tempel trat, wandte er sich der Gruppe der Bettler zu, die um die Almosenspeisen stritten. Sein Blick fiel auf Jinzhong, der mit leeren Händen in der Nähe hockte und gierig auf die anderen starrte. »Warum ißt du nichts?« fragte ihn Yuanlang und trat dichter an ihn heran. »Mir fehlt die Kraft, mit ihnen zu streiten«, antwortete Jinzhong. »Der, das ist ein Edelmann unter uns Bettlervolk«, höhnten einige der Männer ringsum. »Der tut immer sehr groß und verlangt, daß man ihm die Speisen ordentlich serviert.« »Richtig«, stimmte jemand anders ein, »das ist unser Bettler-Gelehrter, immer piekfein und vornehm-zurückhaltend!« Yuanlang maß Jinzhong mit seinem Blick und sagte schließlich: »Komm mit mir.« Langsam und nur unter starken Schmerzen erhob sich Jinzhong und folgte dem Taoisten zu einer Seitenpforte. Yuanlang hieß ihn eintreten, gab ihm vier Dampfbrötchen, eine Schüssel Gemüse und ein Schälchen heißen Tee und sagte dann: »Genügt das? Wenn nicht, laß es mich wissen.« »Das ist mehr als genug, verehrter Meister«, bedankte sich Jinzhong mit einer Verbeugung. Bevor Yuanlang den Raum verließ, sagte er: »Du bleibst jetzt jedenfalls erst einmal hier und ißt, hier bist du vor den anderen sicher und niemand wird dir etwas wegnehmen.« Damit nahm er zwei Beutel mit Geldmünzen aus dem Ärmel, reichte sie Jinzhong und begab sich zurück in die
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas Halle. Jinzhong ließ sich das Mahl in ungestörter Atmosphäre munden. Als er fertig war, begab er sich wieder auf den Platz und hockte sich zu den übrigen 265 Bettlern.
Auch in der Folge verliert Yuanlang den Jinzhong nicht aus den Augen, er speist ihn und gibt ihm neue Kleider. Die finanzielle Misere des Mannes kann er dadurch nicht abwenden, in seiner Verzweiflung beschließt Jinzhong, die ihm einst von Yinyue überlassene Perle zu verhökern. Eine letzte, große Erniedrigung scheint das Schicksal des Helden zu besiegeln. Sein kümmerlicher Anblick läßt bei den Käufern sogleich den Verdacht aufkommen, Jinzhong habe das Schmuckstück gestohlen. Man jagt ihn fort, ohne ihm die Perle zurückzuerstatten, doch bietet ein zufällig dazugekommener Herr sich als Käufer an. An dem Geld, das Jinzhong erhält, hat er freilich nicht lange Freude, wird er doch ein Opfer räuberischer Bettler, die ihn in den Fluß stoßen. Es folgt die Szene, die sein Leben verändern soll. Eigentlich wollte Jinzhong der Hauptstraße folgen, doch die Bettler zogen ihn auf einen kleinen Weg. »Das ist eine Abkürzung«, riefen sie, »schau, wir haben noch einen Krug Wein dabei, den wir zum Abschied gemeinsam mit dir leeren wollen. Dann wird dir die Reise nach Hause nicht lang.« Jinzhong hatte keine andere Wahl, als den Männern zu folgen. In einiger Entfernung erblickte er einen Fluß, der ihnen den Weg versperrte. Man hielt an und ließ sich im Schatten einer Weide nieder. Der Krug wurde herumgereicht, die Männer packten kleine Speisen in Lotosblattpfannkuchen aus. Immer wieder stieß man mit Jinzhong an, der bald betrunken ins Gras sank. Als die Bettler sahen, daß er fest schlief, zogen sie ihn nackt aus, zerrten ihn zum Fluß und übergaben ihn den Fluten. Nachdem sie Kleider und Gepäck unter sich aufgeteilt hatten, machten sie sich aus dem Staub. Unterdessen hatten die reißenden Fluten des Flusses Jinzhong gepackt und ans andere Ufer gespült. Als ein streunender Hund den nackten Menschenkörper am Ufer liegen sah, kam er herbei und beschnüffelte ihn am ganzen Leib. Angeregt von dem genossenen Wein ragte das steife Glied des Schlafenden steil empor. Neugierig schnupperte der Hund daran und biß Jinzhong schließlich Glied samt Hoden ab. Gepeinigt vom Schmerz, schrie Jinzhong im Schlaf auf, fiel zur Seite und plumpste in den Fluß, wo das Wasser über ihm zusammenschlug und er von neuem das Bewußtsein 266 verlor.
Eine Flußgottheit rettet Wei Jinzhong, dessen Schicksal noch nicht erfüllt ist, geheilt wird er von einem Mönch. Mit der Abwendung ins Abenteuerlich-Schicksalhafte hat der Autor dem Eunuchen eine ganz neue Dimension verliehen. Er ersparte 265 266
Die leuchtende Perle, Kap. 17, S. 201–204. Ebd., Kap. 18, S. 209.
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sich dadurch freilich die sicher nicht einfache Schilderung der inneren Beweggründe des historischen Wei Zhongxian zur Vornahme einer Kastration.267 Ausgestattet mit wertvoller Medizin, die ihm nun bei seinem gesellschaftlichen Aufstieg von Nutzen sein soll, verläßt Wei den Mönch und kommt wieder nach Peking. Dort findet er bald Aufnahme im Gefolge des jungen Prinzen und späteren Tianqi-Kaisers, wo auch seine ehemalige Geliebte Yinyue, von der nun stets als »Amme Ke« die Rede ist, ihren Dienst verrichtet. In der Folge der Inthronisierung Tianqis winkt schließlich auch Wei Zhongxian ein günstigeres Schicksal, die Stationen seines Aufstiegs sind oben bereits knapp dargelegt. Ausführlich wird seine Auseinandersetzung mit den Anhängern der Donglin-Fraktion geschildert, aus der Wei in Kriegsminister Yang Lian (1571–1625) einer der gefährlichsten Herausforderer erwächst. Selbst Yangs berühmte Denkschrift aus dem Jahre 1624, in der er Wei Zhongxian vierundzwanzig Verbrechen anklagte (Anmaßung kaiserlicher Autorität, Intrigantentum gegen aufrechte Minister, Mord an politischen Gegnern im Palast, erzwungene Abtreibung bei der Kaiserin [womit Wei laut Anklage verhindern wollte, daß Tianqi ein Erbe geschenkt wurde] etc.), fehlt nicht.268 Doch gelingt es Wei trotz zahlreicher Intrigen und des Ausbaus seine Machtstellung bei Hofe mittels Pfründen für die Verwandten nicht, sein Schicksal von dem des Kaisers zu lösen. Als Tianqi stirbt, ist auch Wei Zhongxians Ende nicht mehr fern. Durch das verhängnisvolle Wirken Wei Zhongxians wird gleichsam der Niedergang der gesamten Ming-Dynastie eingeleitet, der sich noch über etwas mehr als ein Jahrzehnt hinstrecken soll. Wie in der Einleitung zu diesem Kapitel festgestellt, hoben eine Reihe von Romanen auf die entsprechenden historischen Ereignisse ab, wohingegen eine rückblickende erzählerische Gesamtwürdigung der Periode zwischen ca. 1620 und 1644 naturgemäß erst unter der Herrschaft der Qing erfolgen konnte. An herausragender Stelle ist hier ein Werk zu nennen, das unter dem Titel Historische Erzählung der Geschichte vom Reisigholz (Qiaoshi yanyi) in den ersten Jahren des neuen Herrscherhauses der Mandschuren erschien und von Lu Yingyang (ca. 1572–ca. 1658) verfaßt worden ist, einer Gestalt aus dem Zirkel um den bekannten Literaten Wang Shizhen (1526–1590), welcher seiner Aufgeschlossenheit gegenüber den Erzählwerken des 16. Jahrhunderts u.a. mit einem Kommentar zum Jin Ping Mei Ausdruck verliehen hatte.269 Der Roman Geschichte vom Reisigholz arbeitet recht vollständig die historischen Ereignisse der letzten 267
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Zu dem konkreten Prozedere bei der Kastration vgl. einführend ULRIKE JUGEL: Politische Funktion und soziale Stellung der Eunuchen zur späteren Hanzeit (25–220 n. Chr.), Wiesbaden: Franz Steiner 1976, vor allem S. 17f. (= Münchener Ostasiatische Studien Bd. 15). Sie findet sich in Die leuchtende Perle, Kap. 31, S. 339–342. Der Roman Qiaoshi yanyi wurde hier bearbeitet nach einer Ausgabe in der Reihe Bekannte klassische Romane Chinas in hundert Bänden (Zhongguo gudian xiaoshuo mingshu baibu), Peking: Huaxia 1995.
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zwanzig Jahre der Ming-Dynastie auf. In sehr geraffter Form finden die Intrigen des Eunuchen Wei Zhongxian ebenso Erwähnung wie der Aufstand der WeißenLotus-Sekte in Shandong. Sodann wird die bedrohliche militärische Lage in Nordostchina erwähnt gemeinsam mit dem Aufstieg des Li Zicheng (1606–1645), der nach dem Mord an seiner Gattin aus der Haft flieht und als Militärführer in der Grenzregion Gansu Anstellung findet, wobei er sich erste Kontakte mit »ehrbaren« Räubern verschafft, die ihm später als Rebellenführer Gefolgschaft leisten und schließlich die Einnahme Pekings ermöglichen, wo sich Chongzhen, der letzte Ming-Herrscher, 1644 auf dem Kohlehügel erhängt. Gerade bei Li Zicheng wird die Zusammenstellung von Historisch-Verbürgtem mit dem Anekdotischen besonders deutlich. Knappe Schilderungen der Feldzüge, die Aufnahme von amtlichen Proklamationen u.ä. in den Text schwächen den eigentlichen Erzählcharakter und unterstützen den Chronikstil. Breit angelegt dagegen die ausführlichen Schilderungen des Liebeslebens von Li Zicheng, dessen Verbindung mit leichtlebigen Damen, die ihm seine Kräfte rauben, seine Statur als potentieller Kaiser von vornherein schwächt. Die Geschichte vom Reisigholz endet mit der Darstellung der unseligen Verbindung des Grenzgenerals Wu Sangui (1612–1678) im Jahre 1644 mit den Mandschuren, die ihm bei der Vertreibung Li Zichengs helfen sollen, dann aber selbst die Macht an sich reißen und das chinesische Reich nach einem erfolgreichen Südfeldzug unter ihre Kontrolle bringen. Obwohl erzählerisch wenig ausgefeilt, ist der Roman von nicht geringem historischen Wert und gewann wegen seiner kohärenten Schilderung der Epoche Einfluß auf die Abfassung weiterer Werke wie etwa des vor ähnlichem Hintergrund angesiedelten chuanqi-Dramas Pfirsichblütenfächer (Taohuashan).
1.8 Die Auflösung der Geschichte – Der historische Roman Chinas zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Wir haben weiter oben im Zusammenhang mit dem Roman Vergessene Geschichte der Sui und seinen Folgewerken dazu bereits einen starken Wandel im Stil des historischen Romans während der Qing-Dynastie andeuten können. Die Werke dieses Genres zur Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewannen zwar eine größere Unabhängigkeit von den geschichtlichen Quellen, verloren damit aber gleichzeitig ihre historische Glaubwürdigkeit. In den Mittelpunkt rückten Heldengestalten, die individuellere Züge annahmen und in weit geringerem Maße als zuvor den Fügungen durch überirdische Mächte unterworfen waren – dies wenigstens für den »aufgeklärten« Leser späterer Epochen ein positiver Aspekt. Zwei Formen des Umgangs mit historischen Stoffen zeichneten sich ab: zum einen der Einbau historischer Personen in einen weitgehend fiktiven Handlungsrahmen, wie dies etwa bei der Verarbeitung des Di Qing-Stoffes geschah; zum anderen der Verzicht auf die Fiktionalisierung konkreter historischer Ereignisse oder Personen und der Einbau weitgehend fiktiver Gestalten in einen historischen
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Rahmen, der mit geringfügigen Hinweisen auf bestimmte Herrscher- oder Ministergestalten meist wenig ausgeprägt blieb, dabei aber dennoch den Anschein von Authentizität verleihen sollte. Eingeleitet wurde diese Tendenz der Enthistorisierung ganz wesentlich von einem Werk, das schon im Titel die geschichtlichen Bezüge weitgehend verschleiert. Gegenstand des uns hier interessierenden Romans Vollständige Erzählung über den fliegenden Drachen (Fei long quan zhuan) ist wie in den weiter oben untersuchten Helden die Figur des Dynastiegründers Zhao Kuangyin (927–976), des Ahnen der Song. Es dürfte wohl kein Zufall gewesen sein, daß sich die chinesischen Geschichtenerzähler, Dramenschreiber und Dichter seit der Song-Zeit immer wieder des Stoffes insbesondere zweier Dynastiegründer annahmen, denen aus ihrer Sicht große Verdienste zukamen, nämlich Zhao Kuangyin und Zhu Yuanzhang. Zhao und Zhu sind die beiden letzten Han-chinesischen Kaiser, denen es – wie im Falle Zhao Kuangyins – gelang, das jahrzehntelang zerrissene Reich wieder zu einen bzw. – wie bei Zhu Yuanzhang – die Herrschaft eines Fremdvolkes noch einmal abzuschütteln. Entsprechend frisch und positiv ist das Bild der Herrscher, welches uns die Verfasser der volkstümlichen Dramen- und Erzählkunst vermitteln. Der sechzig Kapitel umfassende Roman Vollständige Erzählung über den fliegenden Drachen ist von einem wohl aus Südchina stammenden Mann namens Wu Xian verfaßt, der uns mit einem auf das Jahr 1749 datierbaren Vorwort auch einen Hinweis auf die etwaige Entstehungszeit gibt.270 Wu stand bei der Abfassung des Romans bereits eine Reihe von literarischen Bearbeitungen des Stoffes zur Verfügung, angefangen bei Luo Guanzhongs Drama »Das Wind-und-WolkenTreffen des Song-Gründers« (Song Taizu longhu fengyun hui) über eine Erzählung des Li Yu (»Das Wind-und-Wolken-Treffen« [Fengyun hui]) bis hin zu einer Textbuchversion (»Dynastiegründer Zhao begleitet die Jingniang über tausend Meilen weit heim« [Zhao Taizu qinali song Jingniang]) und einer bereits aus der QingZeit stammenden Erzählung gleichen Titels wie der Roman, auf deren Grundlage Wu Xian sein Werk verfaßt hat.271 Die Handlung im Fliegenden Drachen ist weitgehend fiktiv und läßt bereits die Neigung erkennen, sich stärker an dem Genre des Abenteuerromans zu orientieren. Wu Xian beschreibt die letzten zwölf Jahre vor der Dynastiegründung der Song im Jahre 960, lehnt sich dabei jedoch nur geringfügig an die Darstellungen in der offiziellen Geschichtsschreibung an. Vielmehr flicht er eine Reihe von Anekdoten in die Erzählung ein und schildert ausführlich die Erlebnisse des künftigen Kaisers nach seiner Flucht aus der Hauptstadt, so daß vor den Augen des Lesers das für den historischen Roman der späteren Qing-Zeit typische Bild des Abenteuerhelden entsteht, der erst nach langem Ringen an sein Ziel gelangt. 270 271
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Peking: Renmin wenxue 1985. Vgl. dazu W.L. IDEMA: »Novels about the founding of the Sung-Dynasty«, in: Sung Studies Newsletter 9, 1974, S. 2–9.
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Zhao Kuangyin, der mit seiner Familie in der Hauptstadt Kaifeng lebt, wird als junger Mann von achtzehn Jahren vorgestellt. Zusammen mit seinen Schwurbrüdern Zhang Guangyuan und Luo Yanwei treibt er in der Stadt allerlei Schabernack und Unfug. Bei einem Tempelbesuch mutmaßen die drei jungen Männer eines Tages, ob wohl einer von ihnen das Zeug zum Kaiser hat. Als Probe aufs Exempel gilt der Ritt auf einem Lehmpferd im Hof des Tempels, virtuos knüpft der Autor hier an die Szene der spektakulären Flucht von Fürst Kang aus dem Reich der Jin an, wie wir sie weiter oben im Zusammenhang mit der Vollständigen Erzählung über Yue Fei vorgestellt haben. Wir erinnern uns: Nach Kangs Ritt durch den Strom des Gelben Flusses gelangt er mit dem Pferd zu einem Tempel, wo das Tier sich als Lehmpferd entpuppt und in sich zusammenfällt. [...] »Seit altersher heißt es, daß ein Herrscherhaus das nächste abwechselt«, sagte Luo Yanwei. »Wo hätte es das je gegeben, daß ein einziges Herrscherhaus alle Kaiser stellte.« »Richtig«, pflichtete ihm Zhang Guangyuan bei, »wer mag schon sagen, wem das Glück einst hold sein wird. Nimm dir zum Beispiel nur unseren eigenen Herrscher heute, einst ein Pferdeknecht, der sich um das Wohl des Reiches zahlreiche Verdienste erworben hat und derzeit wohl nicht umsonst Kaiser ist. Es heißt schon ganz richtig: ›Selbst aus den bescheidensten Verhältnissen werden Edelleute und Fürsten hervorgebracht.‹ Gerade dir als einem Adligen stehen noch alle Möglichkeiten offen.« »Meinst du wirklich?« fragte der angesprochene Zhao Kuangyin zweifelnd. »Als hätte ich einen Grund, dir etwas vorzumachen«, protestierte Luo Yanwei. »Aber reden wir nicht weiter über die Sache. Laßt uns zumindest einmal so tun, als wären wir richtige Kaiser, selbst wenn uns die erforderliche Macht noch fehlt. Wer weiß, vielleicht ist ein ›wahrer Herrscher‹ unter uns, wenn wir unsere Rolle nur echt genug spielen.« »Einverstanden«, stimmte Zhang Guangyuan zu. »Jeder kommt abwechselnd an die Reihe.« »Also gut«, gab nun auch Zhao Kuangyin freudig seine Zustimmung zu der Vorstellung. »Die Sache gilt. Ich schlage vor, wir setzen uns abwechselnd auf dieses Lehmpferd hier und versuchen, auf ihm zu reiten. Wer es fertig bringt, es wenigstens ein paar Schritte weit zu bewegen, der wird einst Kaiser sein.« Wahrlich: Wie ein Fluß immer wieder Seltsamkeiten aus seinen Fluten zutage fördert, so kam es auch hier ganz unvermittelt zu einem seltsamen Ereignis. »Der Jüngste fängt an«, befahl Zhao Kuangyin nun. »Zuerst kommt Bruder Luo, dann Bruder Zhang, ich bilde den Schluß.« »Zu Befehl«, rief Luo Yanwei aus. Er brach sich einen Zweig vom Baum, trat neben das Lehmpferd, krempelte noch seine Arme nach oben und schwang sich dann auf den Rücken der Statue. »Danke vielmals für Eure Großzügigkeit, meiner Wenigkeit den Vortritt gelassen zu haben!« rief er seinen beiden Freunden zu. »Schneller!« schrie Luo, wobei er dem Pferd mit der Gerte einige Streiche über sein Hinterteil zog. Doch durfte er wirklich annehmen, die Statue vom Fleck zu bewegen? Immer heftiger schlug er mit der Gerte auf das Lehmpferd ein, bis er vor Anstrengung rot im Gesicht anlief. »Los, du lahmer Gaul, mach, daß du dich bewegst!« rief er, »heute wirst
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN du von einer kaiserlichen Majestät geritten. Was fällt dir ein, dich nicht vom Fleck zu rühren!« Dabei stieß er der Statue mit den Schuhen so heftig in die Weichen, daß ein wenig von dem Lehm abbröckelte. »Sieht nicht so aus, als ob das mit dem Kaiser bei dir etwas wird, Bruder«, sagte Zhang Guangyuan lachend und trat neben ihn. »Ich glaube, du kannst noch so heftig auf die Mähre einprügeln, sie wird sich nicht bewegen. Laß mich mal ran, ich werde dir zeigen, wie man das macht.« Entmutigt machte ihm darauf Luo Yanwei Platz. Nun begab sich Zhang Guangyuan zu dem Lehmpferd, griff um seinen Hals und schwang sich auf den Rücken des Tieres. Er versetzte ihm ein oder zwei Klapse auf die Kuppe, doch umsonst, das Pferd regte sich kein Stück von der Stelle. Nervös und aus Furcht, von den beiden Freunden verlacht zu werden, preßte er seine Schenkel eng um die Flanken des Tieres in der Hoffnung, es werde sich nun bewegen. Als er auf diese Weise eine ganze Weile umsonst auf dem Rücken des Lehmpferdes zugebracht hatte, sprang er entnervt ab und wurde von Yanwei lachend in Empfang genommen: »Was ist, warum bewegt sich der Klepper bei dir genausowenig wie bei mir? Du hast dort oben nicht das beste Bild geboten.« »Aus der Traum für uns beide vom Kaiserwerden«, stellte Guangyuan fest, »soll es unserer älterer Bruder doch einmal probieren.« »Dann paßt mal auf«, sagte Zhao Kuangyin daraufhin, trat ein paar Schritte nach vorne und maß das Pferd mit seinem Blick, bevor er ausrief: »Was für ein prachtvolles Pferd! Alles was ihm fehlt, ist der Odem, es zum Leben zu erwecken!« Dann griff er mit der linken Hand in die Mähne des Tieres, packte mit der Rechten an den Sattelknauf, und während er sich auf den Rücken schwang, wünschte er sich insgeheim: »Ihr himmlischen Mächte, wenn es mir, dem Zhao Kuangyin, vergönnt ist, einst Kaiser im Reich zu werden, dann macht, daß sich das Pferd bewegt. Ist es mir aber nicht vergönnt, dann soll das Tier ruhig stehenbleiben.« Tatsächlich hatte Zhao Kuangyins Stoßgebet die lokalen Gottheiten aufgerüttelt. Als der Stadtgott und die Erdgottheit sahen, wie Kuangyin auf dem Lehmpferd reiten wollte, eilten sie zu Hilfe herbei, um ihr heimliches Werk zu verrichten: Vier kleine Hilfsgeister wurden an die Fesseln des Pferdes beordert, zwei Gerichtsdiener hatten nach dem Zaumzeug zu packen. Der Stadtgott selbst hielt die Steigbügel, die Erdgottheit trieb von hinten mit der Peitsche an. Und wirklich: Zhao Kuangyin hatte dem Pferd soeben dreimal mit der Gerte eins übergezogen, als sich Mähne und Schweif bewegten. »Es hat sich bewegt!« rief Luo Yanwei und klatschte vor Freude in die Hände. »Unser älterer Bruder hat es geschafft!« »Pah«, brüstete sich Kuangyin nun, der die Bewegungen des Lehmpferdes freudig wahrgenommen hatte. »Das war noch gar nichts. Jetzt will ich euch beiden einmal zeigen, wie das Pferdchen laufen kann.« Damit versetzte er dem Lehmpferd noch einmal drei Hiebe mit der Gerte, worauf das Tier in einem großen Satz aus dem Tor des Tempels sprengte und über die Straße stob. Als die Menschen von Kaifeng Zhao Kuangyin auf dem Lehmpferd daherreiten sahen, rissen sie ungläubig die Augen auf. Aufgeregt begann man zu tuscheln: »Sowas, ein Gespenst am hellichten Tag in der Stadt. Das hat die Welt noch nicht gesehen, ein Ritt auf einem Lehmpferd!« »Was für ein Bengel aus welcher Familie hat sich denn da wieder für einen dummen Spaß erlaubt? Na,
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas das laß mal den Präfekten hören, die Eltern können einem leid tun!« Doch jemand, der den jungen Mann auf dem Rücken des Lehmpferds erkannt hatte, mahnte: »Redet nicht so despektierlich! Der junge Kerl dort stammt aus gutem Hause. Sein Vater ist Zhao Hongyin, der Stadtkommandant. Der kann sich alles erlauben, dem könnt ihr nichts.« Als sie diese Worte vernahmen, lösten sich einige Burschen von der Sorte des nichtsnutzigen Gesindels aus der Menge, traten hinter das Lehmpferd und begannen, Faxen zu machen und lärmend herumzualbern. Guangyuan fürchtete, daß die Situation entgleisen könne, er trat dicht an Zhao Kuangyin heran und mahnte: »Bruder, treib es nicht zu weit, schau, wie die Leute um uns herum feixen. Der Trubel nimmt immer mehr zu. Lange geht das nicht mehr gut. Bring das Pferd besser zurück in den Tempel, wir beide warten daheim auf dich.« »Ihr habt recht, ich kehre besser um!« sagte Kuangyin. Die beiden Freunde hatten sich bereits davongemacht. Mit ein paar Peitschenhieben trieb Zhao Kuangyin das Lehmpferd zurück in den Tempel. Als er es an seinem ursprünglichen Platz verankert hatte und abstieg, sah er zu seiner Verwunderung, daß die Statue über und über mit Schweiß 272 bedeckt war.
Die Angelegenheit wird in einer Klage vor den Kaiser gebracht, der Zhao Kuangyins Dreistigkeit mit einer dreijährigen Verbannung bestraft, wobei der junge Held die Kurtisane Han Sumei kennenlernt. Kuangyin bleibt nach Verbüßung seiner Strafe nur kurz in der Hauptstadt, läßt er sich doch aus Empörung über die vom Hofe gegen den Vater verhängte grausame Prügelstrafe zu einem Mord hinreißen und muß nun endgültig fliehen. Damit beginnt eine längere Odyssee, während der er zunächst mit Zhang Guiying eine Gemahlin findet und kurze Zeit später in Schirmhändler Chai Rong und dem aus einer bedrohlichen Lage befreiten Zheng En Schwurbrüder und Kampfgenossen gewinnt, von denen er freilich zwischendurch aufgrund der herrschenden Wirren immer wieder einmal getrennt wird. Immerhin erweist sich Zhao Kuangyin an verschiedenen Stellen als moralisch gefestigter Anwärter auf den Thron, durch Aktionen wie etwa die Befreiung der Zhao Jingniang und ihre Zurückbringung in die tausend Meilen entfernte Heimat. Daß er – wie eingangs mit der Lehmpferd-Szene gezeigt – auch weiterhin mit höheren Mächten in Verbindung steht, belegt im weiteren Verlauf sein Kampf gegen einen Fuchsgeist und ein Flötenmonster. Als schließlich Chai Rong in der Hauptstadt die Gunst des Gründers der Späten Zhou, Guo Wei, erringt, hat auch Zhao Kuangyins Zeit der Wanderschaft bald darauf ein Ende. Bei Kämpfen gegen die anderen Machthaber im Reich zeichnet er sich wiederholt aus, macht seinen Weg an die Spitze. Zusammen mit Chai und Zheng wird er mit Fürstentümern belehnt. In einer interessanten Szene, die bei der Einnahme der Stadt Yangzhou spielt, erfahren wir etwas über die wirtschaftlichen Verhältnisse während eines Feldzugs. Nachdem die Truppen der Zhou den wichtigen Paß von Fengxiang ein272
Vollständige Erzählung über den fliegenden Drachen, Kap. 1, S. 6ff.
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genommen haben, müssen sie zunächst eine Reihe von Versorgungsproblemen lösen. Zhao Kuangyin ist aus Gründen der Staatsräson zu einer drastischen Maßnahme gezwungen. Der Quartiermeister trat vor Zhao Kuangyin, um Bericht zu erstatten: »Unsere Vorräte gehen zur Neige, was sollen wir tun?« Besorgt setzte Zhao Kaiser Shizong in Kenntnis, der sogleich seine Minister zu einer Beratung zusammenrief. Vergeblich beriet man eine Weile, bis endlich ein Minister namens Yang Lu vortrat und anhob: »Mir ist zu Ohren gekommen, daß es hier in der Nähe einen buddhistischen Tempel gibt, in dem sich kupferne Statuen befinden. Warum schmelzen wir sie nicht ein und prägen Münzen aus dem Metall. Dann haben wir wenigstens Sold für die Soldaten. Wenn die Südlichen Tang erst einmal vollständig niedergerungen sind, können wir immer noch neue Statuen für den Tempel gießen lassen.« Shizong nickte zustimmend, doch ein anderer Minister wandte mit mahnender Stimme ein: »Unmöglich! Wenn Majestät die Buddhastatuen einschmelzen läßt, um Geld daraus zu prägen, dann ist das ein Verbrechen, mit dem unser Land Fluch auf sich laden wird!« »So weit wird es nicht kommen«, beruhigte ihn Shizong. »Hat nicht Buddha selbst bei der Verkündung seiner Lehre empfohlen, man möge mit seinem Fleisch die Geier und Tiger füttern? Mir scheint es da mehr recht als billig, die Statuen einzuschmelzen, dienen sie doch ohnehin nur der Betrachtung!« Kaiser Shizong schickte also nach einigen Handwerkern und ließ sie eine Münze einrichten. Nun kam es aber, daß die neuen Münzen die Prägung der Zhou enthielten samt der Regierungsdevise von Kaiser Shizong. Entsprechend schwierig war es, die neue Währung auf dem Gebiet der Südlichen Tang in Umlauf zu bringen, noch dazu, wo die Soldaten der Zhou ihre Silbermünzen zurückbehielten und nur mit dem Kupfergeld bezahlen wollten. Die Bevölkerung der Südlichen Tang fragte sich, was sie mit dem neuen Geld anfangen sollte, waren die fremden Soldaten einmal abgezogen. Die Leute wurden mürrisch und unruhig. Am Ort lebte ein Tuchhändler namens Wang Desheng. Eines Tages traten Soldaten der Zhou in seinen Laden und zwangen Wang, ihnen gegen die neue Währung Stoff zu verkaufen. Wang war darüber so aufgebracht, daß er einen Dolch in seinem Gewand versteckte und zur Münze eilte, um dort in einem versteckten Winkel auf eine Gelegenheit zur Ausführung seines mörderischen Planes zu warten. Nun trug es sich aber zu, daß Zhao Kuangyin an einem Tisch in der Münze saß, um den Sold an die Soldaten zu verteilen. Plötzlich fiel ihm auf, wie sich Wang dem Tisch näherte, und er rief aus: »Mit dem Mann stimmt etwas nicht! Nehmt ihn fest!« Sogleich stürzten sich einige Wachen auf Wang Desheng. Als sie in seinem Gewand den Dolch fanden, führten sie ihn vor Zhao. »Er ist ein Schurke, der einen Dolch bei sich trägt, um Euch zu ermorden.« Aufmerksam beobachtete Zhao Kuangyin das mörderische Funkeln in den Augen Wangs. Ihm mißfiel, daß der Mann immer noch stand und nicht vor ihm niedergekniet war. »Wer hat dich hergesandt?« herrschte er Wang an. »Wen sollst du töten?«
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas »Ihr verblendeten Fürsten und Minister!« entfuhr es Wang Desheng. »Was wißt ihr in eurem Glanz und Pomp schon von den Nöten des Volkes! Euch steht allein der Sinn nach Eroberungen, Armut und Elend der Menschen scheren euch nicht. Seit alters her ist es so, daß die Menschen, das Volk, die Grundlagen des Staates bilden. Warum sollen wir bluten, wenn euch Sold und Getreide ausgehen? Was nützt uns das Kupfergeld, wenn eure Soldaten einmal abgezogen sind? Wir werden gezwungen, unsere Waren gegen wertloses Geld abzugeben, wovon sollen wir einst leben? Daher bin gekommen, dich zu töten, doch das Schicksal hat bestimmt, daß ich mein Leben in die Hände eines verfluchten Mannes wie dir legen muß.« »Du elender Wicht!« entfuhr es Zhao Kuangyin empört. »Die Münzen sind auf Befehl seiner Majestät des Kaisers geprägt worden, sie tragen seine Devise. Wie könnten sie daher wertlos sein? Wenn wir die Südlichen Song erst einmal besiegt haben, werden wir Wege finden, das Geld wieder einzuziehen. Du bist in mörderischer Absicht hier eingedrungen, aus ganz niederen Motiven zudem. Ich kann nicht anders, als dich zu töten, sonst wird unser neues Geld nicht angenommen.« Mit diesen Worten befahl er den Wachen, Wang Desheng vor das 273 Tor der Münze zu führen und zu enthaupten, damit das Volk ruhig blieb.
Die Tempel-Szene hat im nächsten Kapitel noch ein Nachspiel. Auf der Rückreise in die Heimat erkrankt Kaiser Shizong. Bei der Suche nach Wasser gelangt Zhao an eine Quelle und will soeben etwas von der Flüssigkeit schöpfen, als er drei Mönche entdeckt, die baden. Er macht ihnen Vorhaltungen, wie sie ihre schmutzigen Körper in dem Wasser reinigen könnten, das anderen als Trinkwasser diene. »Ist das eure Barmherzigkeit als Buddhisten?« lautet seine Frage. Doch als die Mönche angeben, sie seien die Verkörperungen der vom Kaiser eingeschmolzenen Statuen und suchten nach ihren Verbrennungen nun Kühlung im Wasser, sieht sich Kuangyin gezwungen, ihnen die Wiedererrichtung der Statuen zuzusagen, woraufhin die Mönche auch mit dem heilenden Wasser für die Majestät herausrücken. Der Niedergang des Kaisers ist damit nicht mehr aufzuhalten. Nach dem Tode des Herrschers der Späten Zhou rufen die Unterführer Zhao Kuangyin zum neuen Himmelssohn aus. Von der Familie Yang her sind wir bereits mit der – dort freilich negativ beschriebenen – Gestalt des Di Qing (1008–1057) vertraut, eines Generals, der unter dem Song-Kaiser Renzong diente und sich im Kampf gegen die Dschurdschen und Kitan zahlreiche Verdienste erwarb. Di Qing, über den sich Nachweise in den Annalen der Song finden, wurde im Laufe der Zeit zu einer beliebten Gestalt der volkstümlichen Erzähl- und Dramenkunst und fehlt in kaum einem Werk über Kaiser Renzong, Bao Zheng oder die Generäle der Familie Yang. Die Geschichten um diese historischen Gestalten spielen zur Mitte der Song-Dynastie, als man noch in der Lage war, den von Norden angreifenden Nomadenvölkern Widerstand ent273
Ebd., Kap. 57, S. 522f.
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gegenzusetzen. Doch nicht nur aufgrund geschichtlicher Ereignisse sind die Schicksale des Kaisers und seiner Generäle miteinander verknüpft. Im Mythos wurde Renzong als irdische Existenz des Unsterblichen Rotfuß (chijiao da xian) angesehen, dem mit Bao Zheng und Di Qing – beide ebenfalls Wiedergeburten von Unsterblichen – zwei hervorragende Helfer an die Seite gestellt wurden, die sich als Idealfiguren gegenseitig ergänzten: Bao Zheng als düstere, häßliche Gestalt, ein harter, unbestechlicher Richter; dagegen die strahlende Heldengestalt Di Qings, der Sieger über Verräter und Unruhestifter. Es waren die Di-Qing-Romane der Jiaqing-Zeit (1796–1820) die schließlich den letzten Abschnitt der Kriegsromane einläuteten, jener Unterform des historischen Romans, die später in den Ritterromanen (wuxia xiaoshuo) eine Fortsetzung fand und sich in dieser Ausprägung bis heute noch großer Beliebtheit erfreut, wie wir in einem der folgenden Abschnitte noch näher ausführen werden. Der früheste, auf das Jahr 1801 datierende Roman über diesen Stoff liegt in einhundertzwanzig Kapiteln vor und trägt den Titel Frühere Erzählung über die fünf Tiger-Generäle, die die Westlichen Liao bezwangen (Wu hu ping Xi qianzhuan).274 Anders als bei dem Folgeroman über den Südfeldzug handelt es sich bei dem Feldzug gegen die Westlichen Liao um eine frei erfundene Handlung, über die sich keine Hinweise in den historischen Annalen finden. Die Handlung führt an den Hof des Song-Kaisers Renzong, an dem Kanzler Pang Hong eine beherrschende Stellung einnimmt. Als Di Qing, Marschall der drei Pässe, sich in der Hauptstadt befindet und Pangs Schwiegersohn Wang Tianhua im Wettkampf besiegt, zieht er sich den Haß des Kanzlers zu. Nur der Respekt vor dem einflußreichen Richter Bao Zheng hält Pang Hong zunächst von Repressalien ab, doch gewinnt er, als Bao im kaiserlichen Auftrag nach Shanxi gesandt wird, freie Hand und entledigt sich des verhaßten Kriegsmannes, indem er ihn gemeinsam mit Zhang Zhong, Li Yi, Liu Qing und Shi Yu (eben die fünf Tiger-Generäle) mit dem Feldzug gegen die Westlichen Liao beauftragt. Statt Di Qing soll nun Kriegsminister Sun Xiu, ein weiterer Schwiegersohn Pangs, die drei Pässe sichern. Es folgt die Darstellung von Intrigen und Ränken, gegen die sich Di Qing und seine Recken behaupten müssen. Am Ende klärt man bei Hofe alle Verbrechen und Verschwörungen auf, überführt Pang Hong und Sun Xiu der Komplizenschaft mit dem Feind und richtet die beiden hin. Prinzessin Baobo gelangt nach Kaifeng, um mit Di Qing zu leben. 274
Bekannt ist das Werk auch unter dem Titel Die fünf Tiger-Generäle bezwingen die Westlichen Liao, historischer Bericht über das Perlenbanner, vollständige Erzählung über Di Qing (Wu hu ping Xi zhenzhuqi yanyi Di Qing quanzhuan). Die Bearbeitung hier erfolgte unter Zugrundelegung der Ausgabe Frühere Erzählung über Di Qing – die fünf Tiger-Generäle bezwingen die Westlichen Liao (Di Qing yanyi qian zhuan – wu hu ping Xi), Peking: Zhongguo Xiju-Verlag 1991. Zu Datierung und Reihenfolge der historischen Romane zum Stoff um Di Qing vgl. auch C.T. HSIA: »The Military Romance«, S. 384ff.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas
Am Ende der Früheren Erzählung über die fünf Tiger-Generäle wird bereits auf ein Fortsetzungswerk hingewiesen, und in der Tat liegt mit der auf 1807 datierenden Späteren Erzählung über die fünf Tiger-Generäle und ihren siegreichen Südfeldzug (Wu hu ping nan hou zhuan) ein Folgeroman vor. Nicht nur dies, sondern auch die sprachliche und stilistische Übereinstimmung läßt für die beiden Werke ein und denselben Autor vermuten. Die Spätere Erzählung über die fünf Tiger-Generäle beschreibt in zweiundvierzig Kapiteln den historisch verbürgten Feldzug Di Qings gegen Nong Zhigao in Südchina, der schließlich besiegt wird. Wieder bilden zahlreiche Verschwörungen den Hintergrund bei Hofe, angezettelt von Nachfahren des Sun Xiu. Mit in den Kampf ziehen an der Seite von General Di diesmal seine Söhne Di Hu und Di Long sowie einige Feldherren aus dem Clan der Yang. Der Popularität der beiden Romanwerke über die Tiger-Generäle ist es wohl zu verdanken, daß Li Yutang um 1808 literarisch noch einmal weit ausholte und den Lesern in seiner achtundsechzig Kapitel umfassenden Historischen Erzählung vom Turm der Zehntausend Blumen (Wanhualou yanyi) Aufschluß über die Person Di Qings zu geben bemüht war.275 Der Roman führt zurück bis zu den frühen Zeiten der Song unter Kaiser Zhenzong (998–1023). Dieser beauftragt den Eunuchen Chen Lin, in Taiyuan achtzig Mädchen als Palastdamen auszuwählen. Unter den Kandidatinnen befindet sich auch Qianjin, die jüngere Schwester des Militärkommandanten von Taiyuan, Di Guang. Der Kaiser gibt die schöne junge Frau nach ihrer Ankunft im Palast seinem achten Bruder, König Bo, zur Frau. Anderntags schickt man Boten nach Taiyuan, um Di Guang zu danken, doch aus Rache wegen einer alten Fehde übermittelt der Bote Sun Xiu eine falsche Nachricht. Sun ist der Schwiegersohn des verräterischen Präzeptors Pang, dessen Vater einst von Di Yuan, dem Vater Di Guangs, hingerichtet wurde. In Taiyuan teilt Sun nun mit, Qianjin habe sich aus Gram über die befohlene Vermählung entleibt. Vor Kummer entsagt Di Guang dem weiteren Dienst und zieht sich mit der Gattin, einer Tochter und dem Sohn Di Qing aufs Land zurück. Kurze Zeit nach dem Aufbruch des Kaisers zu einem Feldzug gegen die Kitan, der ihn elf Jahre aus der Heimat fernhalten wird, bringt Kaiserin Liu in Erfahrung, daß die kaiserliche Nebenfrau Li einen Sohn und damit potentiellen Thronfolger entbunden hat, wohingegen sie selbst »nur« ein Mädchen zur Welt gebracht hat. Liu befiehlt den Eunuchen der inneren Gemächer zu verkünden, auch sie habe einen Sohn geboren, doch aus Furcht vor einer Entdeckung durch den Kaiser nach 275
Die Datierung geht auf eine Jahresangabe im Vorwort zurück. Der Roman ist auch bekannt unter dem Titel Historische Erzählung über den Turm der Zehntausend Blumen, Yang Zongbao, Bao Zheng und Di Qing (Wanhualou Yang Bao Di yanyi) und liegt in dieser Fassung aus dem Jahre 1831 vor. Unter gleichem Titel wird er hier bearbeitet nach der Ausgabe Peking: Xiju-Verlag 1991.
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dessen Rückkehr läßt sie sich zu einer schrecklichen Tat hinreißen: Sie befiehlt dem Eunuchen Guo Huai, den Sohn Lis gegen einen gehäuteten Fuchs auszutauschen und das geraubte Kind in einem Teich zu ertränken. Doch der Befehl bleibt unausgeführt, auf Umwegen gelangt das Kind in den Palast des Königs Bo und wird von diesem an Sohnesstatt angenommen, ohne er freilich weiß, um wen es sich handelt. Die von Nebenfrau Li bewohnten Gebäude gehen auf Befehl der Kaiserin Liu in Flammen auf, doch entkommt Li aus der Stadt. Die Erzählung vom Tausch des Kronprinzenbabys gegen einen Fuchsbalg geht auf frühe Legendenbildungen zurück und findet sich bereits in Bearbeitungen durch das YuanDrama. Ein beliebtes Schauspiel aus der Qing-Zeit liegt mit dem »Tausch des Kronprinzen gegen einen Fuchs« (Huli huan taizi) vor. Als Kriminalfall in höchsten Gesellschaftskreisen fand der Stoff auch Eingang in Romane wie Die Kriminalfälle des Richters Bao (Bao gong'an) oder Drei Ritter und fünf Edle (Sanxia wuyi), womit bereits eine weitere Entwicklungsform des historischen Romans angedeutet wird – der Kriminalroman – auf den wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden. In den Kriminalfällen des Richters Bao ist der Stoff übrigens abgewandelt worden: Eunuch Guo Huai tauscht beide Kinder aus, Nebenfrau Li wird unter Hausarrest gestellt, nachdem sie versehentlich das ihr untergeschobene Mädchen getötet hat. Bei dem Verhör durch Bao Zheng hüllt sich Guo zunächst in Schweigen, erst mit einer List und unter Einschaltung des Kaisers, der in einer Göttergestalt auftritt, gelingt es, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Am Ende werden Mutter Li und ihr Sohn (der spätere Kaiser Renzong) im Palast wieder vereint. In dieser Version ist Bao Zheng die treibende Kraft, der Stoff ist zu einem Kriminalfall abgewandelt, den der Richter aufzuklären hat. Doch zurück zu unserem Turm der Zehntausend Blumen. Kurz nach dem Tode des Vaters wird Di Qing auf der Flucht von seiner Mutter getrennt und gelangt auf den Berg Emei, wo ihn ein Abt in der Kampfkunst unterweist. In der Hauptstadt zieht Di Qianjin unterdessen den Prinzen heran und bringt noch ein weiteres Kind zur Welt. Bald darauf stirbt König Bo, doch der zurückgekehrte Kaiser nimmt sich der Familie des Bruders an, macht dessen älteren, angenommenen Sohn (also sein eigenes Kind) zum Kronprinzen, der schließlich als Renzong den Thron besteigt. Nach der Vermählung seiner Tochter mit dem Kaiser wird Pang Hong Kanzler, Sun Xiu Kriegsminister. Yang Zongbao erhält den Befehl zur Bewachung der drei Pässe. Nach Beherrschung aller Techniken der Kampfkunst durch Di Qing begibt sich dieser in die Hauptstadt und verbrüdert sich mit Li Yi und Zhang Zhong. Bei einem Gelage im Turm der Zehntausend Blumen geraten die drei in Streit mit dem aus vornehmem Hause stammenden Herrn Hu. Hu wird erschlagen, der Fall kommt vor Richter Bao Zheng, welcher Di Qing freispricht, dessen Freunde aber ins Gefängnis steckt. In der Folge lernt der junge Mann seine Tante Di Qianjin kennen, soll zum Fürsten geadelt werden, lehnt aber ab und möchte sich den Aufstieg mittels eigener Verdienste erarbeiten. Gelegenheit dazu bietet sich ihm schließlich an den drei
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Pässen im Kampf gegen die Kitan. Dank einer Vision erkennt Bao Zheng die Wahrheit über Kaiserin Liu und Nebenfrau Li. In der Folge des Geständnisses durch den Eunuchen Guo Huai erhängt sich Kaiserin Liu am Ende. Es kennzeichnet die historischen Romane der hier fraglichen Periode, daß sie im Vergleich zu solch kantigen, unbehauenen Werken wie den Amourösen Abenteuern des Kaisers Yan oder der Familie Yang erstaunlich glatt und geschliffen wirken. Hier soll nicht mehr belehrt werden, im Vordergrund steht nicht mehr die historische Botschaft, mit der der Leser ermahnt werden soll, sondern offenbar das Anliegen zu unterhalten. Dieser Eindruck ist uns auch in der abendländischen Literatur nicht fremd, er stellt sich etwa bei der Lektüre von Werken Alexandre Dumas oder Walter Scotts ganz deutlich ein. Darin wird mit den historischen Gestalten – soweit vorhanden – gespielt, sie sind nicht die Protagonisten, auf die die Handlung zusteuert, sondern geraten als Statisten in den Hintergrund. An ihre Stelle treten Abenteurer, fiktive Gestalten im historischen Gewand, die sich in Kampf und Liebe bewähren. In ihrem Aufbau ähneln sich die meisten der Werke: Der anfänglichen Verwirrung bzw. Katastrophe (oft ein Verbrechen, aufgrund dessen jemandem ein Unrecht zugefügt bzw. eine Familie getrennt wird) folgen die Behauptung des Helden im Kampf gegen widrige Mächte und sein schließlicher Sieg. Auch eine Anzahl von stereotypen Romangestalten tauchten immer wieder auf, wie wir das im Zusammenhang mit dem gerade vorgestellten Di-Qing-Stoff bereits kennengelernt haben: der in die Ferne verschlagene, auf Hilfe wartende Beamte oder General; die pietätvollen Söhne, die um die Rettung des Vaters bemüht sind; der böse Minister; die ehrliche Geliebte etc. Der geschichtliche Rahmen in einem der bekannteren frühen chinesischen Werke dieser Art – die Rede ist von der Vollständigen Erzählung über den Schmuckturm (Fenzhuanglou quan zhuan) – ist bereits auf das notwendigste reduziert. Außer einer Zeitangabe am unmittelbaren Romananfang, die die Handlung an den Beginn der Tang-Dynastie verlegt, ist die einzige historische Gestalt der Kaiser, doch selbst er ist als Person kaum noch wahrnehmbar und tritt lediglich unter der Bezeichnung »Himmelssohn« (tianzi) in Erscheinung. Die Vollständige Erzählung über den Schmuckturm wurde als Roman anonym während der Jiaqing-Periode in achtzig Kapiteln vorgelegt, die früheste Fassung läßt sich für 1798 feststellen. Sprache, Stil und Aufbau legen beim Verfasser eine Nähe zum Theater bzw. Drama nahe,276 wie denn verschiedene Szenen aus dem Werk noch während des 19. Jahrhunderts in Fassungen für die Bühne umgearbeitet wurden.277 276
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Der ungenannte Verfasser des Vorworts aus dem Jahre 1806 schreibt den Roman Luo Guanzhong zu, was aber schon in bezug auf Stil und Reife des Werkes unwahrscheinlich ist. Vgl. den Anhang in der Fassung Vollständige Erzählung über den Schmuckturm (Fenzhuanglou quan zhuan), Peking: Baowentang shudian 1986, S. 387–394, der auch diese Bearbeitung zugrundeliegt.
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Der Handlungsauftakt erinnert in erstaunlichem Maße an den in den vorgenannten Di-Qing-Romanen: Der aufrechte Luo Zeng wird von dem ihm übel gesonnenen Kanzler Shen Qian an die Grenze entsandt, um dort Angriffe der »Barbaren« (fan, auch dies eine beliebte Simplifizierung in pseudohistorischen Werken dieser Art) abzuwehren. Die Gattin samt den beiden Söhnen Luo Kun und Luo Can bleibt zunächst in der Hauptstadt. Eines Tages geraten sie bei einem Ausflug zum Schmuckturm in Streit mit dem Kanzlersohn Shen Tingfang, doch ist der Anlaß noch zu unbedeutend, als daß der mächtige Vater bereits etwas gegen die Familie Luo unternehmen könnte. Die Luos genießen nämlich beim Kaiser aufgrund ihrer Verdienste zur Zeit der Dynastiegründung hohes Ansehen. Doch schon bald bietet sich dem Kanzler Gelegenheit, die Rache auszuüben: In einer dringenden Depesche bittet Luo Zeng um weitere militärische Unterstützung für die Kämpfe an der Grenze, doch besticht Shen Qian den Boten, woraufhin dieser angibt, Luo sei zum Gegner übergelaufen. Nur knapp entgehen die Söhne Luo Cang und Luo Kun samt der Mutter einer Festnahme und fliehen aus der Hauptstadt. Kun und Cang trennen sich, um im Lande Truppen zur Unterstützung des Vaters zu werben. Die folgende Handlung befaßt sich zunächst vornehmlich mit dem weiteren Schicksal Luo Kuns, der bei seiner Suche zahlreiche Abenteuer zu bestehen hat und auch in Liebeshändel verstrickt wird. Mit Cheng Yumei, Tochter einer Wirtsfamilie, bei der er Unterkunft findet, steht Kun in einer vom Schicksal vorherbestimmten Beziehung, doch gibt es da noch die junge Bai Yushuang, Tochter aus gutem Hause, die den Luo-Söhnen versprochen ist und aus ihrem Elternhaus flüchtet, nachdem die Verbindung mit dem Hause Luo durch den Sturz der Familie aufgelöst ist. Militärische Hilfe erhält Kun von den Banditen am Hühnerkrallenberg, unter denen sich auch zahlreiche Angehörige von Beamten befinden, die der Drangsalierung durch den üblen Kanzler Shen auf diese Weise zu entkommen suchen – die »ehrlichen Räuber«, auch dies ein seit den Räubern vom Liangshan-Moor immer wieder verwendeter Topos in der Erzählliteratur Chinas. Doch auch Luo Can, der andere Bruder, ist unterdessen nicht untätig. Im Süden des Landes versammelt er Aufständische um sich und wird daraufhin von der zentralen Reichsregierung bekämpft. Den Brüdern gelingt es nach weiteren Abenteuern und der Errettung vor dem Tode in letzter Minute schließlich, ihre Kräfte am Hühnerkrallenberg zu vereinen und gegen die Hauptstadt Chang'an zu ziehen. Heimlich schleusen die Banditen ihre Männer in die Stadt. Dort hat die geflüchtete Bai Yushuang inzwischen den Kanzlersohn Shen Tingfang erschlagen, der ihr Gewalt antun wollte. Während des Verhörs durch Shen Qian wird dessen ganze Schlechtigkeit deutlich: »Woher kommst du, elendes Abschaum?« fuhr Shen Qian den gefangenen Long Biao an. »Wie heißt du, und in was für einer Beziehung stehst du zu Herrn Bai? Schnell, sprich, sonst bist du des Todes!«
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas »Ich fürchte mich nicht, meinen Namen zu nennen«, entgegnete Long Biao trotzig. »Ich bin Long Biao, General vom Hühnerkrallenberg. Ich bin gekommen, um dem Reich einen Dienst zu erweisen und es von verräterischem Pack wie dir zu befreien. Ein Herr Bai ist mir nicht bekannt, von wem sprichst du?« Darauf begann Long Biao so abscheulich zu schimpfen und zu fluchen, daß dem Kanzler die Röte ins Gesicht stieg. Zornig erwiderte er: »Aha, mit Räubergesindel haben wir es also zu tun!« Sogleich befahl Shen Qian den Wachen, Long Biao hinauszuführen und unter dem Mittagstor hinzurichten, doch Mi Shun fiel ihm ins Wort: »Haltet ein, Exzellenz! Erst soll er uns sagen, mit wem er unter einer Decke steckt und warum er nach Chang'an kam. Auch muß er uns mitteilen, wer die Mörderin in Wirklichkeit ist. Schnell, gestehe, du Schurke!« »Warum ich hier bin, habe ich schon gesagt«, rief Long Biao. »Aus keinem anderen Grunde als dich, Shen Qian, zu töten!« »Auf wessen Anweisung hin hat die Mörderin gehandelt?« wollte der Kanzler wissen. »Sie ist kein Mensch, sondern eine Fee!« war die Antwort von Long Biao. Erzürnt über die freche Erwiderung wollte Shen Qian soeben die Folter anordnen, als ein Bote eintraf: »Exzellenz, bei den Banditen vom Richtplatz handelt es sich um Räuber vom Hühnerkrallenberg. Die Torwächter Wang Yue und Shi Zhong haben sie in die Stadt gelassen und sind dann geflohen.« Erschrocken drängte Shen Qian an Long Biao gewandt erneut: »Sprich, wer sind deine Hintermänner in der Hauptstadt?« »Spar dir deine Worte und töte mich, wenn du willst!« fuhr ihn Long Biao schroff an, doch Shen Qian zeigte auf Bai Wenlian und fragte noch einmal: »Kennst du den da?« »Der einzige, den ich hier kenne, bist du, schurkischer Kanzler, Mörder und Verräter!« Da er sah, daß aus Long Biao nichts herauszubekommen war, ließ ihn Shen kurzerhand ins Verlies schleudern. Dann befahl er den Wachen, Bai Wenlian seine Kopfbedeckung, den Amtsgürtel und alle übrigen Insignien abzunehmen. »Wage es nicht, mich anzurühren«, fuhr Bai hoch, »ich habe meine Bestallungen vom Kaiserhof erhalten.« »Der Kaiserhof, das bin ich«, schrie nun Shen Qian seinerseits, »nehmt ihm seine Amtstracht ab.« Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, taten die Wachen, wie ihnen geheißen war, und jagten Bai Wenlian anschließend fort. Shen Qian beauftragte jemanden, in den Yamen zu eilen und Bais Amtssiegel sicherzustellen. Als er alle notwendigen Anweisungen gegeben hatte, wandte er sich zum Schluß an General Kang Long: »Vermutlich wird Bai Wenlian morgen früh in den Palast zur Majestät eilen wollen. Sorge dafür, daß die Palasttore gut bewacht werden und daß man ihn nicht vorläßt.« Damit erhob sich Shen Qian 278 und begab sich in seine Gemächer.
278
Ebd., Kap. 64, S. 310f.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
Aufgrund gemeinsamer Anstrengungen – zusammen mit dem aufrechten Luo Zeng, der die Hilfe seiner Söhne erhält, schließt sich der Kreis – gelingt es am Ende, die Barbaren zu besiegen und Shen seiner gerechten Strafe zuzuführen. Neben der Verleihung von Titeln und Ämtern erhält auch jeder der jungen Helden die für ihn bestimmte Gattin. Nicht viel früher als der Turm der Zehntausend Blumen wird auch die Vollständige Erzählung von der bestickten Robe aus dem Lande Ge (Xiu Ge pao quan zhuan) entstanden sein, für die als Verfasserzeit das Ende der Qianlong-Periode (1736– 1796) anzunehmen ist. Der Roman aus der Feder eines lediglich unter seinem Pseudonym »Bewohner des Sui-Gartens in Südchina« bekannten Verfassers umfaßt zweiundvierzig Kapitel, hat als historischen Hintergrund die Zeit des MingKaisers Jiajing und erzählt von dem Unrecht an der Familie des Finanzministers Tang Shangjie, das diesem im Zusammenhang mit einer aus dem Lande Ge gesandten Robe zugefügt wird. Wie der Turm der Zehntausend Blumen, so ist auch dieser Roman überaus flüssig und zusammenhängend geschildert. Ähnlich wie mit dem fiktiven Lande Dandang in der Früheren Erzählung über die fünf Tiger-Generäle rückt auch hier eine Begebenheit im Zusammenhang mit dem erfundenen Reiche Ge in das Zentrum der Handlung. Die Erzählung von der bestickten Robe schildert zunächst, wie ein Gesandter aus dem Lande Ge an den Hof des Ming-Kaisers gelangt, um die seit mehreren Jahren ausgebliebenen Tributzahlungen wieder aufzunehmen und darüber hinaus mit dem wertvollen Kleidungsstück eine Entschädigung anzubieten. Ein Kleidungsstück so wertvoll wie Schmuck und Perlen, mit Mustern und Zeichen versehen, gefüttert mit Baumwolle. Ein Gewebe von unerklärlicher Substanz, weder aus fremden Ländern eingeführt noch ein gewöhnliches Tuch aus den hiesigen Webereien. Nahtlos hatte der Schneider die Teile der Robe zusammengefügt, kunstvoll seine Stickerei aus feinstem Brokat daraufgesetzt. Ein Schmuckstück von einem Gewand, das der mythische Kaiser Yu der Xia-Dynastie in uralten Zeiten trug, als er die Fürsten am Tushan-Berg empfing. Ein Gewand für die festlichsten Anlässe, aus der Hand eines mit göttlicher Begabung versehenen Schneiders, das nun, wo es einem hohen Würdenträger in der Ferne überreicht 279 wurde, zu viel Haß und Unglück führen sollte.
Der kaiserliche Ratgeber und Prinzenerzieher Liang Zhu rät zur Annahme der wertvollen Robe, die abgesehen von den soeben beschriebenen Qualitäten Hitze gleichermaßen wie Kälte abweist, dazu wasserimprägniert und unbrennbar ist. Aufgrund seiner Verdienste um das Reich wird das wertvolle Kleidungsstück dem
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Vollständige Erzählung von der bestickten Robe aus dem Lande Ge (Xiu Ge pao quan zhuan), Peking: Renmin Zhongguo 1993, Kap. 1, S. 2.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas
Finanzminister Tang Shangjie geschenkt, ein Vorgang, den Zhang Delong, Vizeminister im Ministerium für Arbeiten, voller Neid registriert. Der Neid steigert sich zu unversöhnlichem Haß, als Tang sich später weigert, Zhang die Robe für eine Feier zu leihen. Die Rede kommt im weiteren auf die zahlreichen Söhne des Finanzministers, von denen sechs in der Hauptstadt an seiner Seite leben, während der siebte namens Yunqing bei der Großmutter im fernen Fujian weilt. Tang Shangjie schickt einen Diener zu dem Sohn, damit dieser in die Hauptstadt zurückkehrt, doch hat Yunqing bis dahin eine Reihe von Abenteuern zu überstehen. In der Hauptstadt setzt unterdessen Zhang Delong alles daran, um seinen verhaßten Gegner Tang Shangjie aus dem Weg zu räumen. Doch werden die Verschwörungspläne bald aufgedeckt. Zhang Delong plant die Flucht nach Ge, doch das Verhältnis zu dem Nachbarstaat ist gespannt, seit man dort darum gebeten hat, die wertvolle Robe zurückzuerstatten und gegen ein anderes Gut einzutauschen, bislang aber noch keine Reaktion aus dem Reich der Mitte erfolgt ist. Zhang Bao flieht mit dem Vater, tötet aber zuvor noch Xie Ji und seine Mutter. Da sich die Robe im Besitz der Zhangs befindet, erwirbt man sich die Gunst des Ge-Herrschers, als man das Kleidungsstück zurückerstattet. In Ge ist man daher auch nicht abgeneigt, als Zhang zu einem Feldzug gegen die Chinesen anregt. Ausgerechnet über den einst von Tang Yunbao so erfolgreich gehaltenen Paß Yanmen dringen die Feinde in das Reich ein, geführt von den Ge-Feldherren, Zhang Bao und der Amazonen-Prinzessin Luanna. Schnell wird die Lage für die Ming bedrohlich. Das militärisch schwächere Ge verwendet eine List: Unter dem Anspruch, Rache für die vernichtete Familie der Tang zu nehmen, zieht man zu Felde und bringt es fertig, daß viele Menschen sich vom Kaiserhaus der Ming abund den Befreiern/Invasoren zuwenden. Der in Not befindliche Herrscher wünscht sich wieder seine treuen Minister und Feldherren aus dem Hause der Tang herbei. Um dem Feinde Ge den Wind aus den Segeln zu nehmen, rehabilitiert er die verbliebenen Angehörigen des Clans. Erfreut unterwerfen sich die noch lebenden Tang-Angehörigen daraufhin, stellen ihre Truppen in den Dienst des Kaisers. Bei einem Scharmützel ist Tang Ji vom Anblick der Luanna so hingerissen, daß man ihn gefangen nehmen kann. Er macht sich keine Illusionen über sein Schicksal, doch offenbar hat die Prinzessin mehr im Sinn. Nach einer Weile hieß Prinzessin Luanna ihre Generäle und Truppen, sich zurückzuziehen, und behielt nur einige Soldatinnen an ihrer Seite. Nachdem sie ihre Uniform abgelegt hatte, lächelte sie vorsichtig und sagte: »Ich würde Euch gerne sogleich die Freiheit schenken, doch mir liegen zwei Dinge am Herzen, von denen ich nicht weiß, ob Ihr Euch darauf einlassen werdet.« Dankbar über die freundlichen Worte vergaß auch Tang Ji für einen Augenblick die Feindschaft zwischen ihnen und sagte: »Nun, da die Kampfhandlungen eingestellt sind, kann man doch über alles reden. Bitte, was ist Euer Anliegen?« »Das erste, worum ich Euch bitte«, begann Luanna, »ist die Freilassung von Zhang Bao.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Sodann will ich Euch...« Bei diesen Worten lief sie über und über rot an im Gesicht. »Was ist es, das Ihr von mir wollt?« beeilte sich Tang Ji zu sagen, als er sie so sah. Schüchtern wagte es Luanna nicht, fortzufahren, doch nachdem Tang Ji eine Weile in sie gedrungen war und sie zum Sprechen aufgefordert hatte, unterdrückte sie ihre Scham und preßte hervor: »Euch will ich und nichts anderes!« »Was ihre Majestät meint«, fügte eine ältere Generalin erklärend hinzu, »ist, daß sie Euch zum Manne will.« »Aber was wird ihr Vater, der König von Ge, dazu sagen?« wandte Tang Ji ein. »In unserem Land«, erklärte die Generalin, »ist es seit alters her so, daß die Töchter ihre Männer selbst wählen, Eltern nehmen darauf keinen Einfluß. Erst wenn die jungen Leute Mann und Frau geworden sind, berichten sie davon den Eltern.« »Wenn das so ist« sagte Tang Ji, »dann würde ich Euch, Prinzessin, darum bitten, daß Ihr Euch bei Eurem Vater um zwei Dinge für mich einsetzt. Zunächst wünsche ich, daß Ihr mir den Gefangenen Zhang Delong aushändigt. Dann, daß Ihr Euch mit Euren Truppen wieder nach Ge zurückzieht, die Tributleistungen wieder aufnehmt und den Frieden einhaltet.« Die Prinzessin billigte ihm dies alles zu und löste ihm dann eigenhändig die Fesseln. Tang Ji machte Anstalten, sogleich aufzubrechen. »So schnell kommt Ihr mir nicht weg«, sagte die Prinzessin, »nehmt noch eine Weile Platz.« Tang Ji blieb nichts anderes übrig, als sich wieder hinzusetzen. Nach einer Weile forderte ihn Luanna auf, im Angesicht des Himmels den Schwur abzulegen. Feierlich verneigte sich Tang Ji und hielt um ihre Hand an. Die Flammen der Liebe loderten in ihren Herzen, Leidenschaft packte sie. Unter dem Vorwand, Tang Ji zurück in sein Lager zu begleiten, begab sich Luanna mit ihm ein Stück weit hinaus ins Freie. Gebettet auf weiches Gras wurden die beiden ein Paar. Als beide hernach eng umschlungen beieinanderlagen, sagte Luanna sanft: »Herr, überzeugt Euch selbst, hier, dieses Blut, Ihr seid mein erster Mann. Nicht daß Ihr später, wenn man uns offiziell ins Brautgemach führt, denkt, wir Mädchen aus der Fremde gingen nicht als Jungfrauen in die Ehe und kennten gleich den Tieren weder Anstand noch Sitte.« Dann herzten sie sich noch eine Weile, woraufhin jeder in 280 sein Lager zurückkehrte.
Der auf wunderbare Weise vermittelte Friede zwischen den Völkern wird besiegelt mit der Überstellung des Zhang Delong und der Rückerstattung der Robe durch die Ge. Der chinesische Kaiser wiederum erhöht den Status von Prinzessin Luanna, indem er sie als Prinzessin in den Kaiserpalast aufnimmt. Die bislang in diesem Abschnitt besprochenen Beispiele des historischen Romans um die Wende des 18./19. Jahrhunderts bleiben in ihren geschichtlichen Bezügen recht vage. Selbst Verbindungen zur Gegenwart sind nur schwer ausmachen. Wo dagegen tatsächlich einmal die Möglichkeit zu kritischen Tönen bestand, bedienten sich die Verfasser mit Vorliebe zeitloser Stoffe wie dem um den berühmten Hai 280
Ebd., Kap. 40, S. 185f.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas
Rui (1513–1587), der während des Endes der Ming-Dynastie dem Reich auf verschiedenen Posten diente und als unbestechlicher, prinzipientreuer und unbeugsamer Beamter in die Geschichte einging.281 Gleich, wer sich literarisch mit dem Leben einer historischen Idealfigur wie Hai Rui befaßte, und egal, zu welcher Zeit einer dies tat – er mußte sich stets darüber bewußt sein, daß die Gestalt des »reinen Beamten« gleichermaßen Vorbild wie Bedrohung war. Es dürfte daher kein Zufall sein, daß ein oder mehrere anonyme Verfasser der Qing-Zeit die ursprüngliche Romanfassung des Stoffes einem nicht weiter identifizierbaren Autoren der Ming namens Li Chunfang zuschrieben.282 Tatsächlich liegt die früheste Romanversion mit der Vollständigen Erzählung von Hai Rui, dem Beamten in der Großen Roten Robe (Hai gong da hong pao quan zhuan) in sechzig Kapiteln jedoch erst aus dem Jahre 1813 vor, von der dann bis 1867 drei weitere Auflagen erschienen. Auch kürzere Erzählungen des Stoffes wie »Der Phönix der aufgehenden Sonne« (Chao yang feng) oder »Die glücksverheißende Zeichnung« (Jiqingtu) sind erst für die Qing-Dynastie feststellbar. In dem Roman vom Beamten in der Großen Roten Robe wird die gesamte Biographie des Hai Rui aufgearbeitet, angefangen bei der Geburt unter glücksverheißenden Vorzeichen. Auf dem Weg in die Stadt, wo er schließlich im Alter von dreizehn Jahren an den Prüfungen teilnehmen möchte, befreit Hai Rui ein junges Mädchen von bösen Geistern, das er nach dem Wunsch der Eltern sogleich heiraten soll. Erst mit der Einwilligung seiner Mutter kann sich Hai Rui jedoch zu diesem Schritt entschließen. Nach einer Reihe von Hindernissen endlich zum Studium in der Hauptstadt angelangt, gerät Hai Rui auch in Konflikt mit dem mächtigen Clan des Yan Song (1480–1567), der beherrschenden Figur am Hofe des Jiajing-Kaisers. Als aufrechter Beamter und Mahner genießt Hai Rui bald einen ausgezeichneten Ruf im Volk, zieht sich jedoch in seiner Auseinandersetzung mit den Mächtigen deren unversöhnlichen Haß zu. Die Konfrontation in der Hauptstadt mit dem mittlerweile zum Kanzler aufgestiegenen Yan Song bleibt daher nicht aus. Die Auseinandersetzung mit dem Haus der Yan zieht sich durch den ganzen Roman. Hai Rui gelingt es noch, den zügellosen Kanzlersohn Yan Shifan zu bändigen, doch steht schließlich seine Versetzung auf den Zensorposten in Nanking bevor. Aus Gram darüber, daß es ihm nicht gelungen ist, den Clan der Yan zur Rechenschaft zu ziehen, stirbt er in der Ferne mit einer letzten Bitte an seine Gattin:
281
282
Zur Einführung in die Biographie Hai Ruis vgl. u.a. RAY HUANG: 1587 – Ein Jahr wie jedes andere, S. 221–260. Auch die Herausgeber der hier verwendeten Ausgabe Vollständige Erzählung von Hai Rui, dem Beamten in der Großen Roten Robe (Hai gong da hong pao quan zhuan), Peking: Baowentang 1984 sitzen diesem Trugschluß noch auf.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN »O weh! Bald werden sich unsere Wege für immer trennen! Als Beamter habe ich auf Posten in den entlegensten Regionen des Reiches gedient, doch nirgends und niemals habe ich aus meiner Stellung den geringsten Vorteil gezogen. Meine rote Amtsrobe ist in der Kiste verstaut. Nimm sie nach meinem Tode und wickle meine Leiche darin ein als Zeichen für die Ehrlichkeit, mit der ich mein Amt 283 stets versehen habe.«
Übersteigert und historisch an vielen Punkten nicht korrekt (so ist etwa Zhang Juzheng keineswegs, wie im Roman angegeben, ein Mann im Gefolge des Yan Song, sondern Großsekretär des späteren Wanli-Kaisers) ist sicherlich die Auseinandersetzung des Werkes mit den mächtigen Beamten bei Hofe. In der literarischen Fassung tritt Hai Rui als »Diener der kleinen Leute« stärker in den Vordergrund, die historische Gestalt, die gar den Kaiser zu kritisieren wagte, verschwindet. So ist es auch nur folgerichtig, daß der Hai Rui im Roman bereits kurze Zeit nach dem Tode Jiajings stirbt, wohingegen der historische Hai Rui noch die ersten Jahre des Wanli-Kaisers miterlebte. An dieser Stelle setzt ein aus dem Jahre 1832 in zweiundvierzig Kapiteln vorliegender Fortsetzungsroman mit dem Titel Vollständige Erzählung von Hai Rui, dem Beamten in der Kleinen Roten Robe (Hai gong xiao hong pao quan zhuan) ein, in dem beschrieben wird, wie Zhang Juzheng (1525–1582) nach dem Rückzug Hai Ruis auf seinen Alterssitz unter dem jungen Wanli-Kaiser die Macht bei Hofe erobert. Empört über das haltlose Treiben in der Hauptstadt begibt sich Hai Rui ohne Rücksicht auf sein eigenes hohes Alter nach Peking und setzt eine sechzig Punkte umfassende Anklage gegen Zhang Juzheng auf. Im Bunde mit den zurückgezogen als Piraten lebenden Nachfahren der Yang-Generäle gelingt es Hai Rui endlich, den Sturz Zhangs zu bewerkstelligen. Für seine Verdienste mit dem Amt des Kriegsministers belohnt, stirbt Hai Rui hundertjährig. Der beliebte Stoff um Hai Rui ist außer in den Erzählungen und Romanen selbstverständlich auch immer wieder in zahlreichen Bühnenstücken aufgegriffen worden, wie die vielen Bearbeitungen der unterschiedlichsten lokalen Dramenformen und der Peking-Oper belegen. Von welcher Explosivität der gesamte Stoff war, davon zeugt die Staatsaffäre, die der Historiker und stellvertretende Bürgermeister Pekings, Wu Han (1909–1969), zu Beginn der sechziger Jahre mit seinem Drama »Hai Rui legt sein Amt nieder« (Hai Rui ba guan) auslöste. Die Vorboten der Kulturrevolution kündigten sich hier bereits an.284
283
284
Vollständige Erzählung von Hai Rui, dem Beamten in der Großen Roten Robe, Kap. 60, S. 403. Vgl. dazu C. C. HUANG: Wu Han, Hai Jui Dismissed from Office, Honolulu: The University Press of Hawaii 1972; CLIVE ANSLEY: The Heresey of Wu Han. His Play »Hai Jui’s Dismissal« and its Role in China’s Cultural Revolution, Toronto u.a.: University of Toronto Press 1971.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas
1.9 Das Leiden an der Geschichte – Der historische Roman zum Ende der Qing-Dynastie Der vorstehende Abschnitt hat versucht deutlich zu machen, daß der historische Roman Chinas spätestens mit dem frühen 19. Jahrhundert in eine Phase der Erstarrung eintrat, aus der er sich kaum mehr zu befreien vermochte. Nicht, daß die Geschichte selbst aus dem Bewußtsein entrückt wäre, dazu waren die Bezüge und Traditionen zu stark. Doch war das Anliegen vieler historischer Romane aus der Vergangenheit nicht die Verfassung früherer Epochen bzw. die Auseinandersetzung mit dem Leben und Wirken historischer Gestalten als solcher gewesen. Es ist vielmehr ganz offensichtlich, daß eine große Zahl der historischen Romane in der späten Ming- und der frühen Qing-Zeit trotz weit zurück in die Vergangenheit gelegter Inhalte auf die Lage zur Zeit der Abfassung der Werke zielte. Dieser Möglichkeit kritischer Attacken auf die Gegenwart waren später angesichts einer strengeren Zensur durch die Qing-Beamten offensichtlich Grenzen gesetzt. Erst mit dem zu erahnenden Ende der Dynastie, das die Schwäche der Kaiserherrschaft auf vielerlei Weise offenbarte, gewann der historische Roman noch einmal für kurze Zeit eine vehemente, zerstörerische Kraft. Er repräsentierte dabei wohl nicht jenes Genre, das die literarische Virtuosität der Verfasser am besten zum Ausdruck brachte, doch er war ein beliebtes Medium, um die Kritik an der Zeit mittels traditioneller Formen noch einmal auf eindrucksvolle Weise zu artikulieren. Mit Wu Woyao (1866–1910) und seinen zahlreichen zum Ende der QingDynastie verfaßten Romanen werden wir uns im weiteren Verlauf noch ausführlicher beschäftigen. Von Interesse sind an dieser Stelle jedoch bereits zwei in der Tradition des historischen Romans stehende Werke, die jedoch beide unvollendet blieben. Der siebenundzwanzig Kapitel umfassende Torso der Schmerzvollen Geschichte (Tongshi) erschien zwischen 1903 und 1905 zunächst als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift »Xin xiaoshuo«, dann 1911 als zusammenhängendes Werk.285 Die Handlung ist in die Zeit der Yuan-Dynastie im 13. Jahrhundert verlegt, als die Mongolen über China herrschten. Die Lager von Helden und Verrätern gruppieren sich um die historischen Gestalten des Generals Wen Tianxiang (1236–1283) und der Verrätergestalt des Kanzlers Jia Sidao (1213–1275). Vor dem Hintergrund der Schilderung der Leiden der Han-chinesischen Bevölkerung nach der Eroberung durch die Mongolen tauchen ganz deutlich die Bezüge zum China um die Zeit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert auf: die Schwäche und Ohnmacht der Regierung, die Korruptheit der Beamten und Minister, der Verrat am eigenen Land aufgrund der Gier nach Macht und Reichtum etc. Die Rückversetzung der Handlung in die Zeit der Fremddynastie Yuan bot die Möglichkeit zu zwei Lesarten: ein geographisch enger gefaßtes Abzielen auf die Herrschaft der Mandschu-Kaiser und ein weiter gefaßtes Ziel, bei dem die Auseinandersetzung 285
Der Roman hat trotz seiner Bruchstückhaftigkeit eine Reihe von Neuauflagen erlebt und wurde hier in der Fassung Fuzhou: Fujian renmin 1981 bearbeitet.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
mit den Großmächten der Zeit – Rußland, England, Frankreich, Deutschland, das aufstrebende Japan – im Mittelpunkt stand. Wu will die Leser aufrütteln, appelliert in dramatischen Worten an ihren patriotischen Geist. Aus seinen Äußerungen sprechen Wut und Betroffenheit. Hier werden kaum noch Kompromisse gemacht, es entfallen Anspielungen, Satire und Kritik mittels versteckter Bilder. Bereits in den ersten Zeilen des Werkes beschwört Wu Woyao die Einigkeit der chinesischen Nation, wenn er schreibt: Die Welt teilte sich damals in fünf Kontinente mit jeweils zehntausend Ländern. Obgleich es nirgends eine entwickelte Kultur gab, unterschied man doch bereits zwischen den Ländern und Nationen, die sich miteinander im Wettbewerb befanden. Starke Staaten behaupteten sich, schwache gingen unter. Jeder bekannte sich zu seinem Vaterland, das dort lag, wo man geboren wurde und wo man starb. Niemand handelte damals gegen sein nationales Gewissen, verleugnete seine Wurzeln oder betete das Ausland an, nur weil man es dort verstand, andere für sich einzunehmen. Ein Feind mochte noch so stark und mächtig sein, das eigene Land war niemals restlos zu besiegen, denn wer das vorhatte, der hätte die Bevölkerung bis zum letzten Mann ausradieren müssen; was ihm dann in die Hände gefallen wäre, wäre nur noch leeres, ödes Land. Verehrter Leser, lachen Sie nicht, ich erzähle hier durchaus keinen Unsinn. Sie werden mir nicht unterstellen, ich wüßte nicht, daß weder in China noch anderswo die Bevölkerung vollkommen ausgelöscht wurde. Was ich sagen will, ist, daß eine Nation nicht untergehen wird, wenn es Menschen gibt, die noch den Willen besitzen, sich zu behaupten und der Bedrohung zu trotzen. Was für eine Größe besitzt der Held, der erhobenen Hauptes dem eigenen Untergang entgegensieht! Nein, verehrter Leser, ich bin nicht so einfältig, wie Sie vielleicht annehmen, auch mag ich mit meinen Angriffen nicht zu heftig werden. Was mich bedrückt, ist allein der Umstand, daß es unter den Chinesen zu wenige gibt, die Rückgrat und Standfestigkeit besitzen, statt das eigene Land willig dem Feind zu überlassen; Menschen, die sich nicht schämen, den Feind zum Kampf gegen die Landsleute zu führen und darüber gar Stolz und Genugtuung empfinden. Ich werde wohl nie verstehen, was in den Herzen solcher Menschen vorgeht. Daher liegt mir daran, über ihre Taten zu berichten und die gegenwärtigen 286 Ereignisse im Spiegel der Vergangenheit deutlich zu machen!
Wu Woyao schreibt in einer Zeit, da nicht mehr nur Kummer und Betroffenheit über Bedrohung und Sturz einer Dynastie die geistige Verfassung der Literaten bestimmte, sondern tief gehender Zweifel an der eigenen Kultur die Gemüter bewegte und bereits etwas vom späteren Bewusstsein, »der kranke Riese Asiens« zu sein, mitschwang. Hier nutzt die Sehnsucht nach vergangenem Ruhm und Stärke nichts mehr, hier müssen Probleme grundsätzlicher Art gelöst werden – China am Scheideweg. Die Auseinandersetzung mit den fremden Mächten, der Eindruck 286
Ebd., Kap. 1, S. 1.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas
eigener Unterlegenheit und Schwäche mögen dabei den Blick für den Wert und die Notwendigkeit des Eigenen auf beeindruckende Weise geschärft haben. Der Dialog zwischen dem gefangenen Marineoffizier der Song, Zhang Gui, und dem zu den Mongolen übergelaufenen General Zhang Hongfan mag dies verdeutlichen: »Du heißt mich zu kapitulieren, doch ich will dir sagen, daß ich, Zhang Gui, immer noch ein Chinese bin. Seit meiner Geburt esse ich den Reis Chinas und wandle auf chinesischem Boden. Es wäre mir niemals auch nur im entferntesten in den Sinn gekommen, einem Tartaren meine Dienste anzubieten. Du dagegen hast deine Wurzeln, deine Herkunft, verleugnet, strebst nur nach Gewinn und machst dich zum Sklaven der Fremden. Nun gut, sei ein Sklave, doch wie bringst du es fertig, fremde Truppen gegen dein eigenes Land und zum Mord an deinen Landsleuten zu führen. Was hegst du für einen Groll gegen das chinesische Volk, was haben dir die Feinde versprochen, daß du dich zu solch schändlichen Taten herbeiläßt? Was glaubst du, mag es dir für zweifelhaften Ruhm einbringen, wenn du, Zhang Hongfan, unsere Bevölkerung ausrottest, dich zum Handlanger bei der Eroberung des Reiches machst, damit daraus einst Tartarenland wird? Schau dich an, du Halbmensch, von der Erscheinung her ein Chinese, doch die Kluft der Feinde am Leib. Glaubst du wirklich, nach deinem Tode aufrecht vor 287 die Galerie deiner Ahnen treten zu können?«
Bei dem aufrüttelnden Ton, den Wu Woyao im gesamten Roman trifft, wundert es nicht, daß er weniger an den historischen Fakten als an seiner Botschaft interessiert ist. Im Zusammenhang mit der Todesszene des verräterischen Kanzlers Jia Sidao bestätigt der Autor diesen Eindruck. Kanzler Jia ist mit Truppen nach Wuhu entsandt worden, um die Yuan abzuwehren. Als seine Mission scheitert, wird er von Zheng Huchen, einem treuen Kaiserlichen in Yangzhou, gefangengenommen, um an den für ihn bestimmten Verbannungsort gebracht zu werden. Aus persönlichem Groll an dem Kanzler ertränkt Zheng den Verräter schließlich in einem Jauchetrog und flieht anschließend. Hier bemerkt Wu Woyao, daß Zheng gemäß der offiziellen Geschichtsschreibung nach dem Mord von Chen Yizhong gefaßt und im Gefängnis umgekommen sei. Doch sei dies ein sehr fader Schluß, und da er nicht am Abschreiben interessiert sei, habe er sich zu dieser Abwandlung entschlossen. Wer Wert auf historische Korrektheit lege, der möge in den Geschichtswerken nachschlagen, um dort die Fakten zu erfahren.288 Nachdem die Yuan nun das gesamte Reich unterworfen haben, begeben sich eine Reihe von aufrechten Männern in den Widerstand. Verkleidet als Herren der Yuan ziehen Zong Ren und Hu Chou (»Barbarenfeind«) nach Norden, um die Lage zu erkunden. Die Männer nehmen die vielen Leiden und Erniedrigungen wahr, welche die Han-Bevölkerung unter den Mongolen durchzumachen hat. Hu 287 288
Ebd., Kap. 4, S. 31. Ebd., Kap. 6, S. 53.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
Chou wird Zeuge einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen dem Dritten Zhou, einem Han-Chinesen und zwei Mongolen. Als die Mongolen abgezogen sind, erkundigt sich Hu: »Worüber seid ihr in Streit geraten?« wollte Hu Chou von dem Dritten Zhou wissen, »ich bin erst dazugekommen, als eure Auseinandersetzung bereits in vollem Gange war, doch mir fiel auf, daß du dich nicht gewehrt hast, sagst du mir, warum?« »Mich wehren?« Der Dritte Zhou machte ein zerquältes Gesicht. »Wo denkst du hin? Wenn ein Mongole, ein ›Subjekt des Himmels‹ [tianchaoren], wie sie sich nennen, einen Han-Chinesen erschlägt, geschieht gar nichts. Bringt aber ein Han-Chinese einen Mongolen um, so ist er augenblicklich des Todes. Desgleichen gehen Mongolen straffrei aus, wenn sie Han-Leute verprügeln, umgekehrt drohen unseren Landsleuten jedoch Arbeitslager in Urumtschi oder auf dem WuliyasuPlateau. Würdest du es angesichts solcher Zustände wagen, die Hand gegen einen Mongolen zu erheben?« »Warum laßt ihr euch diese Behandlung denn einfach gefallen?« wollte Hu Chou wissen, der das alles nicht hinnehmen wollte. »Was bleibt uns anderes übrig?« erwiderte der Dritte Zhou. »Mit ein wenig Glück dürfen wir unter Umständen gar auf Gnade und Anteilnahme hoffen.« »Das klingt seltsam«, wandte Hu Chou ein, »du wirst die Prügel von gerade eben nicht als einen Akt der Gnade bezeichnen wollen, wie? Oder willst du etwa behaupten, du hättest die beiden Männer darum gebeten, dich zu schlagen?« »Das ginge dann doch zu weit, noch um Prügel zu bitten«, protestierte der Dritte Zhou aufgebracht. »Nein, es kam zum Streit, als die beiden Söldner bei mir im Laden ein Pfund Rindfleisch kaufen wollten und ich gerade kein Messer zur Hand hatte.« »Wie, du bist Fleischer und besitzt kein Messer?« mokierte sich Hu. »Du weißt aber auch gar nichts«, empörte sich der Dritte Zhou. »Ist dir etwa die Verfügung durch den Kaiser der Yuan unbekannt, nach der in der HanBevölkerung nur jeweils zehn Familien ein Messer besitzen dürfen? Wehe dem, der sich privat ein Schneidewerkzeug verschafft! Nun ist es so, daß innerhalb der zehn Familien das Messer jeden Tag die Runde macht. Das Unglück wollte es, daß heute die Reihe nicht an mir war und ich erst zu einem Nachbarn hätte eilen müssen, das Messer zu holen. Die beiden Söldner weigerten sich zu warten, sie warfen mir fünfzig Kupferkäsch hin und wollten sich mit einer Rinderkeule davonmachen. Da ich ihnen das Fleisch nicht so billig überlassen wollte, kam es zum Streit. Sie zerrten mich nach draußen, droschen auf mich ein. Dann griffen sie nach einer weiteren Keule, für die sie nicht das geringste, bezahlten und machten sich davon.« »Das ist ja glatter Raub«, schimpfte Hu Chou. »Darf ich wissen, wieso du noch auf Mildtätigkeit und Gnade hoffst?« »Ganz einfach«, erklärte der Dritte Zhou. »Ich habe die Prügel eingesteckt, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten. Man kann nie wissen, vielleicht fällt ihnen morgen ein, daß sie mir noch einen Betrag Kupferkäsch schulden, und sie bringen mir das Geld. Wäre das nicht ein Zeichen von Güte?«
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas Hu Chou war zutiefst empört über das, was er gehört hatte. Doch da er von dem Dritten Zhou noch weitere Einzelheiten erfahren wollte, hielt er an sich und fragte: »Gut und schön, sie schreiben euch vor, daß nur jeweils zehn Familien ein Messer besitzen dürfen. Aber das muß doch sehr unpraktisch sein. Kann sich nicht jede Familie insgeheim ein oder zwei Messer kaufen?« »Unmöglich!« rief der Dritte Zhou. »Die zehn Familien werden gemeinsam haftbar gemacht. Sie sind verpflichtet, jeden hinzuhängen, der sich privat ein Messer anschafft, ansonsten erhalten alle die gleiche Strafe. Es gibt hier niemanden, der es wagt, insgeheim ein Schneidewerkzeug zu besorgen.« »Und wenn man es einfach daheim versteckt, niemandem davon erzählt?« wollte Hu wissen. »Kein Gedanke!« warf der Dritte Zhou ein. »Jeden Abend picken sich die Wachen eine andere Familie heraus, um Kontrollen vorzunehmen: Kisten und Schränke werden durchwühlt, kein Winkel, an dem man nicht sucht.« Voller Interesse nahm Hu Chou die Schilderungen des Dritten Zhou zur Kenntnis. »Wie viele Familien seid ihr hier am Ort?« wollte er wissen. »Die Mongolen können doch unmöglich Nacht für Nacht überall suchen.« »Das ist auch nicht notwendig«, gab ihm der Dritte Zhou zu verstehen. »Sie wählen sich jeden Abend ganz willkürlich eine Familie aus. Es kann aber auch sein, daß sie bei einer Familie ein paar Tage in Folge auftauchen und dann wieder für eine ganze Weile nicht kommen. Man muß mit allem rechnen.« »Wie könnt ihr euch von den Tartaren nur so schikanieren lassen?« fragte Hu Chou und schüttelte mit dem Kopf. »Gemach, Herr, sprecht leiser«, hob der Dritte Zhou warnend die Hand. »Wenn man uns hier von ›Tartaren‹ reden hört, haben wir gleich Ärger am Hals. Der hiesige Militärkommandant hat verfügt, daß man von den Mongolen nur als ›Subjekten des Himmels‹ reden darf, wohingegen die korrekte Bezeichnung für die Han-Bevölkerung der ihr angehört, ›Barbaren‹ zu lauten hat.« »Pah«, rief Hu Chou verärgert aus, »bist du etwa kein Han-Chinese mehr?« »Natürlich war ich vordem einer«, gab der Dritte Zhou zu verstehen, »doch später bin auch ich ein Subjekt der Himmelsdynastie geworden. Nimm es so, wie es ist. Und überhaupt: Als Barbar ist man doch genauso Mensch wie als Subjekt der Himmelsdynastie. Was soll denn das Gerede vom Han-Chinesen? Du schimpfst auf die Himmelsdynastie, hältst es mit den Han-Barbaren. Aber ist der Barbarenkaiser vielleicht besser, gibt er dir Geld und Nahrung? Seit alters her heißt es: ›Wer die Zeichen der Zeit erkennt, ist ein großer Mann.‹ Mir scheint, davon sind Menschen wie du noch weit entfernt.« Mißgelaunt wandte sich Hu Chou ab und ging. Er wußte, daß jemand mit einer kriecherischen Natur wie der Dritte Zhou nichts von seinem Anliegen 289 begreifen würde.
Der Roman endet schließlich mit Sabotageaktionen und Kämpfen, die die Männer um Zheng Huchen und Hu Chou gegen die Mongolen anzetteln. 289
Ebd., Kap. 11, S. 98ff.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
Mit der Geschichte der beiden Dynastien Jin (Liang Jin yanyi), die in den Jahren 1906/1907 in der Zeitschrift »Yueyue xiaoshuo« erschien und mit dreiundzwanzig Kapiteln ebenfalls ein Fragment geblieben ist, legte Wu Woyao in der Folge noch einen weiteren historischen Roman vor. Wie Wu im Vorwort zu dem Werk betonte, beabsichtigte er damit eine Fortsetzung zu den Drei Reichen, wobei er ganz eindeutig didaktische Ziele verfolgte, sollte der Roman doch als Textbuch im Schulunterricht zum Einsatz kommen. Anders als in der Schmerzvollen Geschichte wolle er sich, so Wu, jeder unhistorischen Anspielung auf gegenwärtige Ereignisse enthalten. Der Roman hält sich weitgehend an die Vorlagen der klassischen chinesischen Geschichtsschreibung, insbesondere an den Durchgehenden Spiegel zur Hilfe bei der Regierung des Sima Guang. Die Erzählung setzt mit der Unterwerfung des Staates Wu durch die Jin im Jahre 280 ein und reicht bis 308, ist aber wie der erste historische Roman Wus unvollendet geblieben.290 Im letzten der hier unter der Rubrik der historische Romane vorgestellten Werke wollen wir uns mit der Erzählung über eine geschichtliche Gestalt befassen, die mit ihrem zerstörerischen Wirken wie kaum eine andere den Sturz der QingDynastie befördert hat. Die Rede ist von Hong Xiuquan (1813–1864), einem Angehörigen der Hakka-Volksgruppe in der südchinesischen Provinz Guangdong, der sich Ende der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts an die Spitze einer bunt aus antimandschurischen, religiösen und sozialrevolutionären Elementen zusammengewürfelten Bewegung setzte und 1851 das »Himmlische Reich des allgemeinen Friedens« (Taiping tianguo) ausrief. Historisch wird diese Periode als »TaipingRebellion« (1851–1864) bezeichnet. Nur wenige Jahrzehnte nach dem Scheitern der Taiping verfaßte Huang Xiaopei (1872–1912), ebenfalls aus Guangdong stammend, seine Historische Erzählung über Hong Xiuquan (Hong Xiuquan yanyi). Huang war ein frühes Mitglied der bürgerlich-revolutionären Partei der Tongmeng und befaßte sich längere Zeit in der Gegend um Hongkong mit Propagandaarbeit. Daneben gab er mehrere Zeitungen heraus und legte neben dem hier vorgestellten Roman eine Reihe weiterer Werke zu Persönlichkeiten seiner Zeit vor, auf die wir weiter unten noch eingehen werden.291 Huangs historischer Roman über Hong Xiuquan – der erste chinesische Roman, der sich mit der Taiping-Rebellion befaßt – teilt das Schicksal zahlreicher anderer 290
291
Vgl. KAI NIEPER: Neun Tode, ein Leben. Wu Woyao (1866–1910). Ein Erzähler der späten Qing-Zeit, Frankfurt/M.: Peter Lang 1995, S. 113f. Zur frühen Veröffentlichung des Werkes s. ebd., S. 366f. Zu Angaben über die Biographie Huang Xiaopeis vgl. etwa WANG JUNNIAN: »Über die Historische Erzählung über Hong Xiuquan« (Guanyu »Hong Xiuquan yanyi«), in: Wenxue yichan, 1983, Nr. 3, S. 110–118. Huang Xiaopei wird uns auch in dem Kapitel über den kritischen Roman Chinas zum Ende der Qing-Dynastie noch beschäftigen, wo sich weitere Einzelheiten zu seinem Leben und Werk finden.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas
Werke aus der Zeit und blieb unvollendet. Mit der von Huang vorgelegten Fassung in vierundfünfzig Kapiteln dürfte der Roman etwa die Hälfte dessen umfassen, was der Autor seinerzeit vorzulegen gedachte. Das Verfasservorwort datiert auf das Jahr 4606 des mythischen Kaisers Huangdi (entspricht der Jahreszahl 1908) – auch diese Wahl einer eigenen Chronographie ein klarer Hinweis auf die antimandschurischen Ressentiments. Nach den im Vorwort gemachten Angaben dürfte Huang Xiaopei seine Arbeit am Roman um 1905 aufgenommen und ihn kurze Zeit darauf ausschnittweise in zwei Zeitungsbeilagen veröffentlicht haben.292 Nachdem Huang in Tokio mit Zhang Binglin zusammengetroffen war, verfaßte ihm dieser 1906 ein weiteres Vorwort zum Roman. Jahrzehntelang kaum beachtet, griffen verschiedene Autoren nach 1949 den Stoff des Führers der Taiping noch einmal auf, und es kam zu Fortschreibungen des Romans auf der Grundlage des Werkes von Huang. Am bekanntesten dürfte die Fassung von Wang Jichuan sein, der einhundertzwanzig Kapitel aus eigener Feder hinzufügte und somit eine insgesamt einhundertvierundsiebzig Kapitel umfassende Version vorlegte. Wie Huang Xiaopei in seinem Vorwort betont, dienten ihm als Quellen für die Erzählung über Hong Xiuquan neben zeitgenössischen Darstellungen wie der Geschichte des Taiping-Krieges (Taiping tianguo zhanshi) auch zahlreiche Anekdoten und Erzählungen aus seiner Kinder- und Jugendzeit, nicht zu vergessen die Gespräche, die er 1895 mit Männern führte, welche früher als Taiping-Beamte gedient hatten und nach der Niederschlagung des Aufstands zurückgezogen in Klöstern von Guangzhou lebten. In Aufbau und Anlage – den Kriegshandlungen wird breitester Raum eingeräumt – steht die Erzählung über Hong Xiuquan noch ganz in der Tradition der historischen Romane und weist starke Bezüge zu den Drei Reichen und den Räubern vom Liangshan-Moor auf. Ausgehend von den Männern, die sich nach und nach um Hong Xiuquan sammelten, beschreibt der Roman die Anfänge der TaipingRebellion sowie alle wichtigen Stationen, die die Bewegung durchmachte: den Aufstand in Jintian, die Feldzüge gen Norden, die Einnahme Nankings sowie die weiteren militärischen Maßnahmen. Daneben finden jedoch auch die zahlreichen inneren Konflikte der Bewegung Erwähnung, wobei insbesondere die Affäre um den Yang-Clan in den Vordergrund rückt. Der Roman bricht ab mit den Angriffen des Li Xiucheng auf das große Heerlager der Qing-Truppen im Jahre 1860. Ohne dies im Werk so deutlich zu kennzeichnen wie vordem Wu Woyao, hat man bei der Lektüre der Erzählung über Hong Xiuquan den Eindruck, daß der Autor bei der Darstellung weitgehend einer Han-patriotischen, von Ressentiments gegen die herrschenden Mandschuren getragenen Gesinnung folgt. So hält er es ganz offensichtlich mit den Taiping-Rebellen und verurteilt ihre Aktionen nicht. Kritisch setzt sich Huang Xiaopei dagegen mit historischen Gestalten wie Zeng Guofan (1811–1872) oder Li Hongzhang (1823–1901) auseinander, Männern, die 292
Und zwar 1905/1906 in Beilagen zu den Zeitungen »You suowei bao« sowie »Shaonian bao«.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
im Dienste der Qing-Kaiser standen und bei der Niederwerfung der Rebellen u.a. mit Ausländern kooperierten – eine Vorgehensweise, die für patriotische Zeitgenossen wie Huang stets den Ruch des Kriechertums und der Anbiederung besaß. Aus der zeitlichen Distanz schwer nachzuvollziehen sind auch die Bewertungen einzelner Personen. Insbesondere der Haß, mit dem Yang Xiuqing, einer der wichtigsten Militärführer der Taiping, verfolgt wird, ist für den Leser aus späterer Zeit unverständlich. Das Bild des Romanhelden, dessen Bedeutung für die chinesische Geschichte in neuester Zeit von dem amerikanischen Sinologen Jonathan D. Spence in seinem biographischen Werk God’s Chinese Son noch einmal hervorgehoben wurde,293 bleibt in der Erzählung über Hong Xiuquan eigenartig schwach, so daß man feststellen darf, daß Huang Xiaopei an dem komplexen Wesen seiner Titelgestalt scheiterte und damit keineswegs dem im Romantitel kenntlich gemachten Anspruch einer Biographie gerecht wird. Dies ist umso bedauerlicher, als Hong Xiuquans Herkunft und Psyche selbst Literaten und Forscher weit über Chinas Grenzen hinaus fasziniert hat.294 Gerade der religiöse Stoff und die Verbindungen zum Christentum, die in der Biographie Hongs ganz deutlich mitschwingen, hätten interessante Ansätze geboten. Kaum zwanzigjährig nach mehreren nicht bestandenen Prüfungen zum Beamten von Depressionen und Halluzinationen geplagt, kam Hong Xiuquan 1836 in Kontakt mit einem amerikanischen Missionar (bei dem es sich u.U. um Edwin Stevens handelte), über den er eine Ausgabe der Traktate »Worte zur Ermahnung des Zeitalters« (Quan shi liangyan) des Liang A'fa (1789– 1855) erhielt. Liangs von christlichem Gedankengut geprägtes Werk hinterließ tiefen Eindruck bei Hong, insbesondere die Darlegungen vom Himmelreich (später übernommen als tianguo) und von der Rettergestalt des Messias haben Einfluß auf sein weiteres Leben genommen. Die Erzählung über Hong Xiuquan bleibt bei der Vermittlung dieser Zusammenhänge und Verhältnisse überaus oberflächlich, Hongs geistlich-manische Beweggründe werden ganz aus dem Blickwinkel patriotischer Ziele interpretiert. Im Roman lernen wir den Führer der Taiping als einen Mann kennen, der die Dreißig bereits überschritten hat und in den abgelegenen Regionen von Guangdong und Guangxi Anhänger um sich sammelt. Bei der Suche nach einem geeigneten Stützpunkt erhält Hong von einem örtlichen Priester Gelegenheit zur Predigt und legt seine Ziele dar: Hong Xiuquans Ansichten von einer Predigt unterschieden sich fundamental von denen des Priesters Qin Rigang. Während Qin sehr wohl von Gott zu sprechen 293
294
JONATHAN D. SPENCE: God's Chinese Son. The Taiping Heavenly Kingdom of Hong Xiuquan, New York u.a.: W. W. Norton 1996. Einen interessanten Zugang zur Psyche des Hong Xiuquan bietet nicht zuletzt der in authentischen und fiktiven Dokumenten abgefaßte Roman über die Taiping-Rebellion von ERWIN WICKERT: Der Auftrag des Himmels, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1979.
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Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas wußte, leitete Hong Xiuquan schnell zu etwas anderem über. Er äußerte ein paar Floskeln darüber, daß jeder, der Gott liebe und verehre, künftig in den Himmel komme und daß, wer dies nicht tue, mit dem Sturz in die Hölle zu rechnen habe. Dann kam er schnell zu seinem eigentlichen Anliegen, der Lage in China: »Als Angehörige eines Volkes sind wir alle gleichberechtigt. Alle sind wir die Nachfahren des Gelben Kaisers, wir sind Landsleute, Brüder und Schwestern, genießen souveräne Rechte. Geht es an, daß wir uns von anderen unterdrücken lassen? Schämen sollten wir uns, daß wir uns so lange von den Mandschuren haben knechten lassen. Wir haben unser Recht als Volk nahezu verwirkt, ja, wir verdienen den Schutz und die Fürsorge Gottes kaum noch. Viel schlimmer aber wird unsere Untätigkeit noch angesichts der Verkommenheit, die am Kaiserhof herrscht, der Korruptheit der Beamten und der entwürdigenden Unterdrückung 295 unserer Landsleute. Es ist ein Skandal! «
Doch die Rede Hongs hat einen ganz anderen Effekt als erwartet: Man hält ihn für verrückt, es kommt zum Aufruhr in der Kirche. Schon Huang Xiaopeis Werk über den Taiping-Anführer Hong Xiuquan reicht derart nah an die Gegenwart der Jahrhundertwende heran, daß man im strengeren Sinne nicht mehr von einem historischen Roman sprechen kann. Dieser Eindruck verstärkt sich noch in Huangs beiden anderen Romanen, die auch schon mit der Titelwahl und unter Verzicht auf die yanyi-Formel gar nicht mehr für sich beanspruchen, in der Tradition des historischen Romans zu stehen. Vielmehr gelang es Huang dabei, mit der Thematik maßgeblicher Gestalten seiner Zeit ganz neue Akzente für den politischen Roman zu setzen. Wenig Sympathie für den Romanhelden läßt schon der Titel des 1908 erschienenen und mit sechzehn Kapiteln unvollständig gebliebenen Erzählwerks Der große Roßtäuscher (Da mapian) erahnen, in dem sich Huang mit der Reformergestalt Kang Youwei (1858–1927) auseinandersetzt. Aus jeder Zeile des Buches sprechen Abscheu und Verachtung gegenüber dem von der Nachwelt weit wohlwollender beurteilten Kang. Überheblichkeit und grenzenlose Selbstüberschätzung sind die ersten Vorwürfe, die der Verfasser in seinem Werk gegen den Reformer erhebt. Nicht von echten politischen Anliegen, sondern allein von Machtstreben und Geldgier sei Kang Youweis Streben geprägt gewesen, so Huang weiter. Geschickt habe er die Spannungen am Hofe zwischen Kaiser Guangxu und der Kaiserinwitwe Cixi ausgenutzt und die Reformbewegung von 1898 initiiert, um selbst zu Einfluß zu gelangen und sich am Ende zum Herrscher aufzuschwingen. Gescheitert sei Kang schließlich an dem Militärführer Yuan Shikai, der den angebotenen Pakt mit den zwielichtigen Reformern nach einer ersten Zusage dann doch ausgeschlagen und für die Partei um Kaiserinwitwe Cixi optiert habe. Kang Youweis Neigungen zu einem aus295
Historische Erzählung über Hong Xiuquan (Hong Xiuquan yanyi), Shanghai: Shanghai guji 1981, Kap. 4, S. 24.
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schweifenden Leben, Lügen und Betrügereien hätten selbst in Japan, wohin er sich nach dem Scheitern in Peking flüchtete, letztendlich zu seiner Ausweisung geführt. Mit Tan Sitong (1865–1898), der sich nach dem Scheitern der Reformen weigerte zu fliehen und einen Märtyrertod starb, wird die idealisierte Gegenfigur zu Kang Youwei geschaffen. Wesentlich besser als Kang Youwei kommt der Protagonist Yuan Shikai (1859– 1916) in Huang Xiaopeis kurz darauf im Jahre 1909 erschienenen Aufzeichnungen über Aufstieg und Niedergang im Beamtentum (Huanhai shengchen lu) weg, das mit zweiundzwanzig Kapiteln nur unwesentlich länger ist als Der große Roßtäuscher. Vor der Geschichte fand Yuan Shikai anders als Kang Youwei freilich weit weniger Gnade, doch zeigt sich damit auch recht gut die häufige Willkür solcher Bewertungen sowie die Notwendigkeit, aus den Verhältnissen der Zeit selbst ein Urteil zu finden.296 In seinen Aufzeichnungen über Aufstieg und Niedergang im Beamtentum zeichnet Huang Xiaopei anhand der Gestalt Yuans die Verhältnisse auf der politischen Bühne Chinas in den eineinhalb Jahrzehnten zwischen dem chinesischjapanischen Krieg (1894/95) und dem Tode Kaiser Guangxus und der Kaiserinwitwe Cixi im Jahre 1908. Yuans Aufstieg im Gefolge Li Hongzhangs kommt dabei ebenso zur Sprache wie seine Verwicklungen in die kriegerischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, die Reformbewegung von 1898 und den Boxeraufstand zwei Jahre später. Es verdient Beachtung, wie eng sich Huang insgesamt an die politischen Abläufe hält und die kühle, berechnende Art Yuans selbst im Umgang mit seinen Widersachern erfaßt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der damals weit verbreiteten anti-mandschurischen Ressentiments wird die Anteilnahme des Verfassers für die besonderen Nöte und Hindernisse eines Mannes wie Yuan Shikai sichtbar, der als Han-Chinese bei Hofe immer wieder mit erheblichen Widerständen zu kämpfen hatte.
296
Vgl. die umfassendere Studie über Yuan von JEROME CH'EN: Yuan shih-K'ai (1959–1916), Stanford, Cal.: Stanford UP 1961.
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2. »Räuberpistolen« – Der Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und seine Folgewerke Der Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (auch bekannt in der wörtlichen Übersetzung des chinesischen Titels zu Die Erzählung vom Flußufer) über Song Jiang und seine Bande von einhundertundacht Banditen, die als Unterschlupf ein abgelegenes Sumpfgebiet um den Berg Liang in der Provinz Shandong wählten,297 führt uns noch einmal zurück in die Zeit des Kaisers Huizong (1101–1125) am Ende der Nördlichen Song. Die moderne chinesische Literaturwissenschaft seit Lu Xun (1881–1936) hat es sich angewöhnt, auch Die Räuber vom Liangshan-Moor der Gattung der historischen Romane zuzurechnen. Trotz nicht zu leugnender geschichtlicher Bezüge weist das Werk jedoch eine Reihe von Eigentümlichkeiten auf, die es aus der Tradition der frühen historischen Erzählliteratur herausheben und in deutlichen Kontrast etwa zu den Drei Reichen treten lassen. Einflüsse der Räuber auf den historischen Roman sind dennoch nicht zu leugnen, wie wir durch mehrere Hinweise im vorstehenden Kapitel insbesondere im Zusammenhang mit den Werken zum ausklingenden 18. und frühen 19. Jahrhundert betont haben. Da die Räuber zudem genauso wie die Drei Reiche das Privileg genießen, zu den »Vier großen Romanen« (si da qishu) gezählt zu werden, drängt es sich methodisch geradezu auf, das Werk samt seinen Fortsetzungen in einem gesonderten Abschnitt zu behandeln.298 Literarisch stellten die Räuber im Vergleich mit den Drei Reichen durchaus eine Weiterentwicklung der Romankunst dar: Die Sprache wird lebendiger, und es ist insbesondere in bezug auf die Ausformung von Figuren und Begebenheiten eine größere Unabhängigkeit von historischen Quellen festzustellen. Wenn das Werk dennoch lediglich »wenig stimulierendes Material« bietet und unter »extremer historischer Unterernährung« leidet,299 dann ist dies hauptsächlich auf den Mangel zurückzuführen, sich nicht von der Verwendung stereotyper Handlungselemente freizumachen, wie sie sich bereits bei den berufsmäßigen Geschichtenerzählern finden, und die Möglichkeiten realistischer Darstellungsweise nicht ausreichend genutzt zu haben. 297
298
299
Das Gebiet lag ursprünglich zwischen zwei kleineren Flüssen, die sich dort vereinigten. Als der Gelbe Fluß später seinen Lauf nach Süden verlegte, wurde die Sumpfgegend nach und nach trockengelegt und aufgeschüttet. Auf die Ausnahmestellung der Räuber vom Liangshan-Moor hat bereits Hsia hingewiesen, vgl. C.T. HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 100. Ebd., S. 99f.
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Während die Drei Reiche bereits aufgrund der ihnen als Grundlage dienenden historischen Epoche mit ihrer faszinierenden Vielfalt von Charakteren und Episoden eine große Anziehungskraft besaßen, mußten bei den Räubern erst Ereignisse konstruiert werden, die die Gewichtigkeit geschichtlicher Vorgänge suggerierten und Interesse für die Liangshan-Legende hervorriefen. Um die Helden leichter identifizierbar zu machen und die Popularität der Erzählung zu steigern, wurden zahlreichen Gestalten die Familiennamen und Merkmale beliebter Helden aus Geschichte und Legende untergeschoben. Neuere Materialien wie etwa die in den vergangenen Jahren für soziologische Forschungen immer beliebteren Kreisannalen haben dabei genaueren Aufschluß über die Mitglieder der Bande vom Liangshan-Moor geben. Danach haben die im Roman versammelten Personen historisch an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten über die gesamte Song-Dynastie bis zum Ende des 13. Jahrhunderts hinweg gelebt.300 So ist etwa Chai Jin ein Abkömmling des Chai Rong, eben dem Kaiser Shizhong der Späteren Zhou. Bei Yang Zhi wiederum handelt es sich um einen Nachfahren des General-Clans der Yang. Geschichtlich unzusammenhängende Ereignisse wurden auf diese Weise miteinander verknüpft. Der gesamte Entstehungsprozeß der Räuber ist überaus komplex und gibt mit seinen zahlreichen historischen, literarischen und dramatischen Quellen besonders gut Auskunft über die Entwicklungsgeschichte der frühen Romane Chinas. Anders als die Drei Reiche läßt sich das Werk um Song Jiang und seine Bande nicht auf eine einzige historische Vorlage zurückführen, die als verbindliche Quelle in Frage kommt. Wie aus den Dokumenten der offiziellen und inoffiziellen Geschichtsschreibung über die Song-Zeit zu entnehmen ist,301 machten Song Jiang und seine Männer um 1120 die nordchinesischen Provinzen Shandong und Hebei unsicher, ergaben sich aber 1121 den Regierungstruppen nach einer vernichtenden Niederlage. Im Unterschied zu Fang La (?–1121), der zeitgleich eine Rebellion in seiner südchinesischen Heimatprovinz Zhejiang anzettelte und die Herrschaft der Dynastie schwer erschütterte, hatte der Aufstand von Song Jiang jedoch kaum politische Auswirkungen. Gleichwohl treffen die meisten historischen Quellen nur bis zum Zeitpunkt des Sieges über Song Jiang und seine Bande weitgehend gleichlautende Aussagen. Ob Song sich nach seiner Niederlage (wie auch in der hundert bzw. einhundertzwanzig Kapitel umfassenden Romanversion angegeben wird) tatsächlich an den Kämpfen gegen Fang La beteiligte und vom Kaiser begnadigt wurde oder aber ob er im Anschluß daran wiederum selbst Aufstände anzettelte bzw. 300
301
KLAUS MÜHLHAHN: »Herrschaft, Macht und Gewalt: Die Welt des Shuihuzhuan«, in: minima sinica 1/1992, S. 59f. Unter den offiziellen Quellen sind vor allem die Annalen der Song von Bedeutung. Eine Übertragung dieser und weiterer Quellen findet sich bei RICHARD GREGG IRWIN: The Evolution of a Chinese Novel. Shui-hu-chuan, Cambridge/Mass.: Harvard UP 1953, S. 9–53, einer der frühesten wissenschaftlichen Studien im Westen zu dem Roman.
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke
samt seiner Bande schon bei der Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen ums Leben kam (als vage Zeitangabe werden hier die Jahre 1122–1124 genannt) – darüber besteht keine Einigkeit.302 Deutet sich der grobe Handlungsrahmen des späteren Romans in den historischen Quellen bereits an, so liegt mit den vermutlich nicht später als um die Wende des 13./14. Jahrhunderts entstandenen Überkommenen Ereignissen der Xuanhe-Ära (Xuanhe yishi) eine erste literarische Version des Stoffes vor, auf deren Grundlage dann nach und nach weitere Figuren und Episoden hinzugefügt wurden. Die überkommenen Ereignisse der Xuanhe-Zeit, das längste Werk der vor-Ming-zeitlichen Prosaliteratur in der Umgangssprache,303 beschreiben den Niedergang und Fall der Nördlichen Song mit Schwerpunkt auf den Leben von Kaiser Huizong. Sechs Einzelepisoden daraus sind in der Folge in erweiterter Form in den Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor aufgenommen worden, wobei die Banditen um Song Jiang in dieser frühen literarischen Form jedoch zunächst nur den Eindruck einer gewöhnlichen Räuberbande hinterlassen.304 Parallel zu der Erweiterung des Stoffes von der Räuberbande um Song Jiang in der Erzählliteratur nahm sich seit der Yuan-Dynastie auch das Drama zahlreicher Episoden und Personen daraus an. Insgesamt liegen mehr als dreißig Bühnenwerke zu den Räubern vom Liangshan-Moor vor, die größtenteils aus der Yuan-, zum Teil aber auch aus der Ming- und Qing-Zeit stammen.305 Wenigstens neun dieser Dramen sind zumindest teilweise in den Roman eingegangen.306 Neben der Ausschmückung einzelner Details kommt den Dramen vor allem das Verdienst zu, die Personenbezüge anders gewichtet zu haben. Profitiert hat davon vor allem die Gestalt des Li Kui, der Hauptperson in mehr als zwanzig Dramen. Man darf zu Recht vermuten, daß dieser Umstand auch zu einer Aufwertung seiner Rolle im Roman führte, wo Li Kui neben Song Jiang eine beherrschende Bedeutung spielt. 302
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306
Vgl. dazu u.a. bereits die Angaben bei LU XUN: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung (Zhongguo xiaoshuo shilüe), Peking: Verlag für Fremdsprachige Literatur 1981, S. 188 sowie das Nachwort in Die Räuber vom Liangschan-Moor, aus dem Chinesischen von FRANZ KUHN, Frankfurt/M.: Insel 1975, S. 859f. S. dazu außerdem IRWIN: The Evolution of a Chinese Novel, S. 9–18. Die überkommenen Ereignisse der Xuanhe-Ära weisen einige formale Ähnlichkeiten zu den Volksbüchern auf, stehen aber in der Struktur den frühen Ming-Romanen näher. Vgl. WILLIAM O. HENNESSEY: The Song Emperor Huizong in Popular History and Romance: The Early Chinese Vernacular Novel »Xuanhe yishi«, Ph.D. Dissertation Univ. of Michigan 1980. Eine Sammlung mit fünfzehn dieser Dramen liegt vor von FU XIHUA (Hg.): Dramensammlung zu den Räubern vom Liangshan-Moor (Shuihu xiqu ji), Shanghai: Shanghai guji 1985. Vgl. KLAUS MÜHLHAHN: Geschichte, Frauenbild und kulturelles Gedächtnis. Der mingzeitliche Roman Shuihu zhuan, München: Minerva Publ. 1994, S. 88 (Berliner ChinaStudien Bd. 23).
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Darüber hinaus ist mit der Frage des rechtmäßigen Aufstands selbst die Aussage des Romans vom Drama beeinflußt worden: aus der verbrecherischen Räuberbande in den Quellen der Geschichtsschreibung wurden gerechte Kämpfer, die gegen Korruption und Unterdrückung durch die Beamten angingen. Daß neben den bisher genannten noch eine weitere Überlieferungstradition – die der professionellen mündlichen Geschichtenerzähler – existierte, darf und muß man angesichts der offensichtlichen Popularität des Stoffes wohl annehmen, doch sind die Beweise hier naturgemäß schwer zu erbringen. Die den meisten in der baihua verfaßten Romanen dieser Zeit eigene Stilistik und Erzählweise – genannt seien hier nur die gängigen Erzählformeln am Kapitelende bzw. zur Einleitung von Liedern und Gedichten sowie die häufigen Kommentare des angenommenen Erzählers – findet sich auch in den Räubern und gibt hier einen ersten Hinweis.307 Daneben zeigen jedoch auch zeitgenössische Dokumente, daß »die Geschichte von Song Jiang in den Straßen und Gassen« erzählt wurde.308 Motive und Stoffe der Räuber sind bis ins 20. Jahrhundert in einer eigenständigen Erzähltradition überliefert worden. Die Vorgehensweise der Geschichtenerzähler wird dabei besonders deutlich an einem entsprechenden Beispiel aus dem 20. Jahrhundert. Beachtenswert ist vor allem die Anreicherung von einzelnen Episoden, Personen und Szenen zu beachtlichem Umfang. Mit einer entsprechenden Version des Wu Song-Stoffes erschien erstmals 1959 eine achthunderttausend Zeichen umfassende Ausarbeitung von einem Geschichtenerzähler aus Yangzhou namens Wang Shaotang. Das Werk hat nahezu die gleiche Länge wie die Räuber, was um so erstaunlicher ist, als Wang darüber hinaus die Stoffe um Song Jiang, Shi Xiu und Lu Junyi in ähnlichem Umfang vorgetragen hat.309 307
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Es spricht für die literarische Kunstfertigkeit der mit der Abfassung der Räuber beschäftigten Autoren, daß sie sich keineswegs lediglich der stereotypen Formeln bedienten, sondern durchaus originelle Varianten fanden, mit denen auf Geschehnisse hingedeutet wurde, die nicht unbedingt im anschließenden Kapitel vorkommen, sondern an einer späteren Stelle im Werk. Ein besonders schönes Beispiel für die Überleitung von einem Kapitel zum anderen findet sich am Schluß von Kapitel 22: »[...] Plötzlich rief jemand hinter ihm her: ›Hauptmann Wu! Jetzt bist du zum Militärmandarin aufgestiegen – wie kommt es, daß du keinen einzigen Gedanken für mich übrig hast?‹ Wu drehte den Kopf zur Seite, um den Sprecher zu sehen. ›Aija, wie kommst du denn hierher?‹ entfuhr es ihm überrascht. Hätte Wu Song diesen Mann nicht gesehen, wäre es nicht dahin gekommen, daß sich eines Tages in der Stadt Yanggu die Leichen zu Bergen türmten und Menschenblut die Straßen färbte.« (Die Räuber vom Liangschan, aus dem Chinesischen übertragen und herausgegeben von JOHANNA HERZFELDT, Leipzig: Insel 1968, Bd. 1, S. 476) Zum ästhetischen Effekt der verschiedenen Sprachstile im Roman vgl. DEBORAH LYNN PORTER, The Style of the ›Shui-Hu Chuan‹, Ph.D. Princeton University 1989. Zit. nach ebd., S. 90. S. dazu die Ausgabe Wu Song (Wu Song), vorgetragen von Wang Shaotang, niedergeschrieben und geordnet von der Forschungsgruppe für Erzählungen im Yangzhou-Stil, Jiangxi renmin 1984 (zweite Auflage nach der ersten aus dem Jahre 1959).
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Wenden wir uns nach dieser knappen Auseinandersetzung mit den Quellen des Romans nun der Frage des Verfassers sowie der einzelnen literarischen Ausgaben zu. Es ist nicht leicht und dürfte auch nicht verlohnen, hinter einem Werk wie den Räubern, für das alleine schon zwei Verfasser angenommen werden und in dem zahlreiche Kritiker, Kommentatoren und Herausgeber ihre Spuren hinterlassen haben, eine einzelne schöpferische Gestalt zu vermuten. Da ein Einfluß der als Verfasser genannten Personen auf das Werk dennoch nicht auszuschließen ist und fraglich bleiben muß, ob hier angesichts der Vehemenz, mit der eine Zuschreibung an Shi Nai'an und Luo Guanzhong erfolgte, je neue Ansätze aufkommen werden, seien die Annahmen hier gleichwohl zunächst erwähnt. Da uns Luo Guanzhong aus den Darstellungen über die Drei Reiche bereits hinreichend bekannt ist, wollen wir uns eingehender mit der Gestalt Shi Nai'ans befassen, von dem vermutet wird, daß er zum Ende der Yuan-Dynastie als erster den Stoff der Räuber in die Form des Romans gegossen hat. Aus den Quellen der Ming-Zeit erfahren wir wenig genug über diesen Mann. Dort wird er lediglich als ein aus Hangzhou stammender Autor bezeichnet, der während der Yuan-Dynastie lebte. Gemäß einer weiteren Version, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach der Entdeckung einer Grabinschrift zu kursieren begann, war Shi Nai'an ein Bürger Yangzhous und hatte in der Yuan-Zeit 1331 den Doktortitel des Jinshi erworben. Der Rückzug aus den Amtsgeschäften soll ihm unter den Ming sodann die notwendige Muße verschafft haben, sich an die Abfassung der Räuber zu machen. Neuere Forschungen aus den vergangenen Jahrzehnten förderten Hinweise auf eine weitere Variante zutage. Danach soll Shi Nai'an von 1296 bis 1370 gelebt und zwei Jahre als Magistrat in Hangzhou zugebracht haben. Anders als das Shi zugeschriebene Verfasservorwort, auf welches wir gleich zu sprechen kommen, glauben macht, soll nach dieser Version durchaus versucht worden sein, ihn ins politische Tagesgeschäft zu involvieren, als der mit Gnaden der Mongolen zum Gouverneur von Zhejiang gemachte Zhang Shicheng (1321–1367) sich Shi Nai'an zum Ratgeber wünschte. Da Shi nach seiner Ablehnung Repressalien durch Zhang fürchtete, zog er nach Huaian um, wo er sich an die Abfassung der Räuber und anderer Romane wie Die Drei Reiche, Niederschlagung der Dämonen (Pingyao zhuan) etc. gemacht haben soll. Dem gewöhnlich als Verfasser dieser Werke genannten Luo Guanzhong kommt hier nur die Rolle eines Assistenten zu.310 All diese Angaben sind zu widersprüchlich, als daß man ihnen ohne weiteres Glauben schenken dürfte, doch verdeutlichen sie die Probleme, vor denen man bei der Suche nach den Verfassern der Werke früher Erzählliteratur oftmals steht. Anlaß zu berechtigten Zweifeln gibt daher auch die Authentizität des Shi Nai'an zugeschriebenen Vorworts, welches sich in der von Jin Shengtan auf siebzig Kapitel gekürzten Romanversion aus dem 17. Jahrhundert findet. In einer kummervollen 310
Vgl. WILLIAM H. NIENHAUSER (Hg.): The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature, Taipeh: SMC Publishing 1988, S. 699f.
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Stimmung, in der er die Vergänglichkeit beklagt, gibt der Verfasser Auskunft über den Trost, den er allein im Gespräch mit den Freunden findet. Doch sein Anliegen ist, etwas Bleibendes zu schaffen: Vielleicht ist es zu bedauern, daß niemand unter uns unsere Gespräche auf dem Papier festhält. Manchmal habe ich mir vorgenommen, was wir gesprochen haben, in einem Buch denen, die nach uns kommen, zu übermitteln. Aber bisher habe ich diesen Plan immer wieder verworfen. Warum? Wenn das Verlangen, seinen Namen der Nachwelt zu erhalten, nachläßt, ermattet das Herz. Wir unterhalten uns zu unserer Kurzweil, und ein Buch zu schreiben ermüdet. Außerdem wird niemand lesen wollen, was die aufgezeichnet haben, die dahingegangen sind. [...] Das vorliegende Buch umfaßt siebzig Kapitel. Jedesmal, wenn meine Freunde mich verlassen hatten und ich allein beim Lampenschein saß, habe ich in Muße geschrieben, Blatt um Blatt; auch an Tagen, an denen der Wind heulte und der Regen vom Himmel strömte, so daß die Freunde mich nicht aufsuchen konnten, habe ich es so gehalten. [...] Wann immer ich an meiner Gartenmauer entlangschlenderte oder des Nachts unter meiner wärmenden Schlafdecke wachlag, wann immer ich das Ende meines Gürtels zwischen den Fingern zwirbelte oder blicklos auf irgend etwas starrte, begehrten die Personen und Geschehnisse, die ich in meinem Buch dargestellt habe, ungestüm Einlaß in meinen Kopf. [...] Aija – ich bin geboren worden, um zu sterben! Wie kann ich jemals erfahren, was die Menschen über mein Buch denken, die nach mir auf die Welt kommen und es lesen werden! Weiß ich doch nicht einmal, was ich selbst nach 311 meiner Wiedergeburt davon halten werde.
Wir müssen es letztlich dahingestellt lassen, ob und in welchem Umfang Shi Nai'an bzw. Luo Guanzhong in der Tat mit der Abfassung der Räuber zu tun hatten. Trotz immer wieder geäußerter Vermutungen und Annahmen liegt bis heute keine »Urfassung« des Romans vor, die eindeutig einem der beiden Genannten oder gar einem Dritten zuzuschreiben wäre. Erste detaillierte (fanben) Ausgaben des Romans in hundert Kapiteln dürften dagegen bereits im frühen 16. Jahrhundert existiert haben.312 Darauf weisen zumindest verschiedene Kataloge privater Bibliotheken 311 312
Die Räuber vom Liangschan, Bd. 1, S. 7f. Die Frage der vollständigeren (fanben) oder gekürzten (jianben) Ausgaben des Romans hat nichts mit dem Umfang an Kapiteln zu tun, sondern bezieht sich auf die inhaltliche Ausgestaltung des Textes. In einer z.B. bereits von Lu Xun bearbeiteten EinhundertfünfzehnKapitel-Fassung fehlten eine Reihe von Kapiteln, die in der Hundert-Kapitel-Version durchaus enthalten waren. Über Herkunft und Zweck der gekürzten Versionen ist in der Vergangenheit kontrovers diskutiert worden. Lu Xun etwa äußerte zumindest die Vermutung, daß die Kurzversion durchaus keine Kürzung der Langfassung darstelle, sondern vielmehr dem Text der Urverfasser entspreche. Später schloß sich Lu Xun dagegen der von Hu Shi, Sun Kaidi etc. vertretenen Auffassung an, nach der die jianben-Ausgaben keinesfalls auf einen Urverfasser zurückgehen, sondern vielmehr entstanden sind aus verschiedenen Erwägungen
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hin. Jedoch ist keine dieser Ausgaben vollständig erhalten, eine erste komplette Hundert-Kapitel-Version liegt lediglich ein ganzes Jahrhundert später vor. Gemeint ist die 1610 im Rongyutang-Verlag erschienene Fassung Die von Herrn Li Zhuowu kommentierte Erzählung über die loyalen und gerechten Räuber vom LiangshanMoor (Li Zhuowu xiansheng piping zhongyi Shuihuzhuan).313 Der antitraditionalistische Denker Li Zhuowu (1527–1602) ist besser bekannt unter dem Namen Li Zhi. Mit seiner Forderung, die eigenen Interessen des Menschen freizusetzen, damit sein ursprünglich unschuldiger Geist zur Entfaltung komme, hat er erheblichen Einfluß genommen auf die Geistesgeschichte zum Ende der Ming-Dynastie, vor deren Hintergrund zahlreiche Autoren ihre erzählerischen Werke schufen.314 Daneben hat Li Zhi, wie wir in der Einleitung gesehen haben, der umgangssprachlichen Literatur große Wertschätzung entgegengebracht, da sie nach seinem Dafürhalten anders als die klassische chinesische Dichtkunst der Natur des Menschen entsprach. Gerade Die Räuber vom Liangshan-Moor sollen ihm sehr am Herzen gelegen haben, so daß sein Name immer wieder im Zusammenhang mit der Verfasserschaft einiger Kapitel des Romans auftaucht und Li als Kommentator der Räuber ebenso wie weiterer Werke der Erzählliteratur genannt wird.315 Von der oben genannten Ausgabe aus dem Rongyutang-Verlag lassen sich Verbindungen zu späteren detaillierten Fassungen herstellen, von denen die wichtigste eine in einhundertzwanzig Kapiteln sein dürfte, die um 1612 entstanden ist.316 Im Laufe der Zeit folgten weitere Bearbeitungen, so daß die längeren Fassungen der Räuber heute in Ausgaben von hundert, einhundertundneun, einhundertzehn, einhundertfünfzehn, einhundertzwanzig und einhundertvierundzwanzig Kapiteln vorliegen. In bezug auf die Handlungselemente und Ausführlichkeit der Detailbeschreibungen gibt es zwischen den verschiedenen detaillierteren Romanfassungen beträchtliche Unterschiede. Die grundlegende Intention des Romans bleibt jedoch angesichts der Beibehaltung des Hauptthemas – gemeint ist die freiwillige Unterwerfung Song Jiangs und seiner Bande sowie ihre Teilnahme an Feldzügen
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der Buchhändler, die auf schnellen Profit aus waren. (Vgl. dazu HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 96f.) Vgl. A. PLAKS: The Four Masterworks of the Ming Novel, S. 288. Zu Li Zhi vgl. u.a. RAY HUANG: 1587 – Ein Jahr wie jedes andere, S. 319–370; WILFRIED SPAAR: Die kritische Philosophie des Li Zhi (1527–1602) und ihre politische Rezeption in der VR China, Wiesbaden: Harrassowitz 1984; WOLFGANG KUBIN: »Der unstete Affe. Zum Problem des Selbst im Konfuzianismus«, in: SILKE KRIEGER / ROLF TRAUZETTEL (Hg.): Konfuzianismus und die Modernisierung Chinas, Mainz: Hase & Koehler 1990, S. 99f. Zweifel an der Authentizität von Li Zhis Kommentaren sind zuletzt ausführlich begründet worden bei DAVID L. ROLSTON (Hg.): How to Read the Chinese Novel, vor allem Anhang Nr. 2, S. 356–363. Der Titel dieser einhundertzwanzig-Kapitel-Fassung lautet Die von Li Zhuowu beurteilte vollständige Erzählung über die loyalen und gerechten Räuber vom Liangshan-Moor (Li Zhuowu ping zhongyi Shuihu quan zhuan).
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auf Seiten der Regierung – durchaus bestehen, wie dies auch in einem Kommentar des Li Zhi zur Einhundertzwanzig-Kapitel-Version zum Ausdruck kommt: Loyalität dem Herrscher gegenüber und heldenhaftes Verhalten sind die Grundlagen des Shuihuzhuan [...] Sich vom Bösen abwenden und zur Gerechtigkeit zurückkehren, das ist in wenigen Worten die durchgehende Grundlage des ge317 samten Buches.
Alle früheren Romanfassungen wichen wenige Jahrzehnte später jedoch der von Jin Shengtan (1610–1661) auf siebzig bzw. einundsiebzig Kapitel gekürzten Version, die 1644 erschien und dem Werk zudem eine ganz andere Lesart gab, die vor dem Hintergrund des politischen und sozialen Chaos, das den Zusammenbruch der Ming-Dynastie begleitete, durchaus verständlich wirkt. Jin stammte aus einer alten Gelehrtenfamilie in Suzhou, erlangte aber selbst nur den Titel eines Bakkalaureus (xiucai). Neben dem Studium der konfuzianischen Klassiker galt sein Interesse den verschiedensten literarischen Bereichen, was er durch die Anfertigung eines Kanons von »Sechs Werken der Talente« (liu caizi shu) zum Ausdruck brachte. Als das fünfte Werk fanden auch die Räuber Aufnahme in diesen Kanon.318 Den Zeitgenossen aufgrund seiner Belesenheit als Dichter ein Begriff, erlangte Jin Shengtan bei der Nachwelt vor allem wegen seiner Arbeiten am Roman der Räuber Berühmtheit. Gründe für die Kürzung des Werks hat er neben Hinweisen auf die zahlreichen dem Roman zugrundeliegenden Strukturelemente in seinen »Leseanweisungen« (dufa) erläutert.319 Darin wird deutlich, daß durchaus nicht nur politische, sondern ebenso auch ästhetische Maßstäbe für die Eingriffe am Werk ausschlaggebend waren. Jin Shengtan starb 1661 unter tragischen Umständen, als er bei dem »Vorfall der Klagen im Tempel« (ku miao an) in seiner Heimatstadt gemeinsam mit hundert anderen Gelehrten den Tod des Kaisers Shunzhi (1644–1661) zum Anlaß nahm, um gegen die Herrschaft eines lokalen Beamten zu protestieren, und daraufhin hingerichtet wurde.320 Mit dem drastischen Eingriff Jin Shengtans in die frühere Textfassung und der Streichung von fünfzig Kapiteln fiel die ehrenvolle Kapitulation der Räuberbande – und damit die Möglichkeit der Glorifizierung – auf einmal fort. In dieser neuen 317 318
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Zit, nach MÜHLHAHN: Geschichte, Frauenbild und kulturelles Gedächtnis, S. 96. Daneben enthielt der Kanon Qu Yuans Elegie Lisao, das philosophische Werk Zhuangzi, die Aufzeichnungen des Großhistorikers von Sima Qian, das Drama Westzimmer (Xixiangji) sowie die Dichtung des Du Fu. Jin Shengtans »Leseanweisungen« liegen mittlerweile in vollständiger Übertragung vor bei ROLSTON: How to Read the Chinese Novel, S. 124–145. Einen Überblick über die wichtigsten Strukturelemente wie Rekurrenz, Verzahnung etc. gibt MÜHLHAHN: »Herrschaft, Macht und Gewalt«, S. 74ff. Zu einer Studie, die sich ausführlich mit Jin Shengtan befasst, vgl. JOHN CHING-YU WANG: Chin Sheng-t'an, New York: Twayne Publishers 1972.
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Lesart waren Song Jiang und seine Männer nichts weiter als Gesetzesbrecher, die Räuber schlicht ein Werk, das zur Rebellion anstiften sollte. Jins Version des Romans wurde zur Standardausgabe der chinesischen Leser während der folgenden dreihundert Jahre und diente daneben auch den meisten Übersetzungen als Vorlage.321 Die längeren Fassungen von einhundert bzw. einhundertzwanzig Kapiteln gerieten völlig in Vergessenheit und wurden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. Es ist verschiedentlich die Frage aufgeworfen worden, ob schon vor der Bearbeitung durch Jin Shengtan kürzere Fassungen (jianben) existierten und wie sie zeitlich zu den längeren Versionen in Bezug zu setzen sind. Die Annahme, daß eine kürzere Fassung einer längeren vorausging, entspricht der Logik der literarischen Entwicklung und läßt sich gut mit der Anreicherung des Stoffes seit der Vorlage der Überkommenen Ereignisse der Xuanhe-Zeit belegen. Liu Ts'un-yan ging dabei noch weiter: Er vermutete die Existenz zweier früher Fassungen und schrieb die eine Luo Guanzhong, die andere Shi Nai'an zu. Aus Luos Version sind Liu zufolge später alle einfacheren Fassungen entstanden, während Shis Version vor allem für die längeren Fassungen Bedeutung erlangte.322 Für die Annahme, daß aus den früheren Langfassungen später die kürzeren hervorgingen, spricht, daß letztere nicht vor dem Jahr 1594 auftauchen und damit erst in einem späten Stadium vorliegen. Plaks dagegen vermutet eine zeitlich parallele Entwicklung der Lang- und Kurzfassungen.323 Der komplizierte Entstehungsprozeß der Räuber vom Liangshan-Moor, die Anreicherung des Urstoffs mit immer mehr mündlich überlieferten Anekdoten und Legenden, deren Intentionen in die Romanversion mit einflossen, deutet schon darauf hin, daß verschiedene Rezipienten des Werks mit ihm ganz unterschiedliche Aussagen verbinden konnten. Wo einzelne Episoden sich aus der Überlieferungstradition trennten, gewannen sie plötzlich einen Stellenwert, der ihnen ursprünglich nicht zukam. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß für die Räuber von Anfang an verschiedene Lesarten existierten und daß die Einengung auf eine einzige »offizielle« Version, die dem Roman nicht gut bekam, angesichts des brisanten Inhalts abhängig war von den jeweiligen Zeitumständen. Teilweise sind für die abweichenden Lesarten auch einfach Probleme in der Textanfertigung als Ursache zu sehen.324 Zwei vollkommen gegensätzliche Verständnisansätze haben 321 322
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Z.B. der oben bereits zitierten Übertragung der ANNA HERZFELDT. LIU TS'UN-YAN: »Sur l'authenticité des romans historiques de Lo Guanzhong«, in: Mélanges de Sinologie offerts à M. Paul Demiéville, II, Paris: Presses Universitaires des France 1974, S. 288f. PLAKS: The Four Masterworks, S. 301. Vgl. zur Frage der Unstimmigkeiten und Widersprüche ELLEN WIDMER: The Margins of Utopia. Shui-hu hou-chuan and the Literature of Ming-Loyalism, Cambridge/Mass.: Harvard UP 1987, S. 81.
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sich in der Rezeptionsgeschichte der Räuber herausgebildet: Einerseits unterstellte man dem Werk die schlichte Bejahung des bestehenden Systems, deutete es aber andererseits ebenso als umstürzlerische Propaganda.325 Im letzteren Fall drohte dann strenge Zensur.326 Im Wandel der Zeiten und der ideologischen Bezüge machte die Räuber als ein Erzählwerk, das in der Interpretation durch die Kommunisten einen äußerst sympathischen »Klassenhintergrund« bot, eine interessante Rezeptionsgeschichte durch. Während der Roman in der Volksrepublik China bis zum Beginn der Siebziger gerne als ein Epos der Bauernrevolution gepriesen wurde, machte Mao daran seine Kritik an Zeitgenossen wie Zhou Enlai und Deng Xiaoping fest und gab damit nach der eineinhalb Jahrzehnte zurückliegenden Affäre der Hai-Rui-Bearbeitung durch Wu Han erneut ein Beispiel für die Funktion bestimmter historischliterarischer Stoffe als Mittel politischer Allegorie.327 Wenden wir uns nach dieser Einführung zu Herkunft und Rezeption der Räuber den Fragen von Aufbau und Inhalt zu und betrachten zunächst das erste große Handlungssegment der Kapitel 1–71 (d.h. den Prolog plus siebzig Kapitel), in dem der Zusammenschluß von einhundertundacht Helden an der Festung des Liang-Berges geschildert wird.328 Eine Sonderstellung hierbei nimmt der Abschnitt über die Freilassung der Sterngeister zu Beginn des Romans ein. Jin Shengtan trug diesem Umstand insofern Rechnung, als er aus der Episode einen eigenen Prolog machte und sie damit von dem übrigen Romangeschehen löste. Der Inhalt dieses vorangestellten Abschnitts führt den Leser in die Welt der Taoisten und stellt damit auf eine Geisteshaltung ein, die im übrigen Werk kaum nachzuvollziehen ist. Nach Jahren des Friedens und Wohlstands im Reich wird das Land von einer Seuche heimgesucht. Der Kaiser erleichtert zwar die Lasten des Volkes durch Senkung der Steuern und eine allgemeine Amnestie, dennoch wütet die 325 326
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MÜHLHAHN: »Herrschaft, Macht und Gewalt«, S. 68. S. die Einleitung zu All Men are Brothers (Shui Hu chuan), übers. von PEARL BUCK, New York: The John Day Company 1968 (Reprint der Ausgaben von 1933 u. 1937), S. VIf. Neben dem Befehl zur Vernichtung der Druckstöcke und der noch existierenden Ausgaben wurde Beamten eine einjährige Gehaltssperre angedroht, wenn man sie bei der Lektüre der Räuber ertappte. Vgl. dazu KARL-HEINZ JANSSEN: »Mao verreißt einen Räuberroman«, in: DIE ZEIT, Nr. 39 v. 19.9.1975. Der Bearbeitung liegt außer den o.g. Übersetzungen von Anna Herzfeldt, Franz Kuhn und Pearl Buck weiterhin zugrunde die Hundert-Kapitel-Ausgabe Shuihuzhuan, Peking: Renmin wenxue 1984 sowie die Fassung in einhundertzwanzig Kapiteln Shuihu quanzhuan, Shanghai: Shanghai guji 1976. Der Vollständigkeit sei hier noch eine neuere Übertragung genannt: The Broken Seals: Part One of »The Marshes of Mount Liang«. Eine neue Übersetzung des Shuihuzhuan bzw. Water Margin von Shi Nai'an und Luo Guanzhong von JOHN und ALEX DENT-YOUNG, Hongkong: The Chinese UP 1994.
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Seuche weiter. Ein berühmter Taoist mit der Bezeichnung Zhang aus Jiangxi soll nun in die Hauptstadt gebeten werden, um den Himmel mittels Gesängen zu besänftigen. Als Bote wird der Zeremonienmeister am Hofe, Hong Xin, ausgewählt. Um bei seiner Suche Erfolg zu haben, muß Hong innerlich geläutert und gereinigt einen Berg besteigen. Da er jedoch unterwegs immer wieder über die Anstrengungen des mühsamen Aufstiegs klagt, erkennt er Meister Zhang nicht, als dieser ihm unterwegs auf dem Rücken eines Ochsen begegnet und sich, ohne vom Zeremonienmeister begrüßt worden zu sein in die Hauptstadt begibt. Während Meister Zhang also in Kaifeng erfolgreich zur Bekämpfung der Seuche beiträgt, weilt Hong Xin noch bei den Taoisten in Jiangxi. Bei der Besichtigung der Klosteranlage stößt er eines Tages auf die versiegelte »Halle der unterjochten Dämonen« und läßt sie gegen den Rat des Abtes aufbrechen. Ermutigt durch den verführerischen Hinweis auf einer Stele, daß die Bodenplatte an dieser Stelle von einem »Hong« zu öffnen sei, befiehlt der Zeremonienmeister den Umstehenden, die Öffnung freizulegen. Zu spät erkennt er die Katastrophe, als eine dicke schwarze Wolke aus dem Schacht nach oben steigt und in golden leuchtenden Strahlen ihren Weg in alle Himmelsrichtungen nimmt. Von dem Abt muß Hong Xin nun erfahren, daß in dem Tempel sechsunddreißig himmlische und zweiundsiebzig irdische Sterne eingekerkert waren. In Gestalt der einhundertundacht Rebellen vom Berg Liang werden sie nunmehr Unheil über das Land bringen. Dem Kaiser verschweigt Hong nach seiner Rückkehr freilich das Unglück. Ein wie mit dem Entweichen der Sterngeister angedeutetes übernatürliches Ereignis, aus dem die folgende Handlung entspringt, ist gängiges Merkmal für die frühen umgangssprachlichen Romane. Die besondere Form des Geschehens hebt sich zudem auch inhaltlich stark von der konkret-weltlichen Handlung des übrigen Romans ab. Das Element des Übernatürlichen spielt in den Räubern ansonsten kaum eine Rolle – dies übrigens nach Auffassung des Kommentators Jin Shengtan ein positiv zu bewertendes Faktum, das das Werk um Song Jiang angenehm von Romanen der zeitgenössischen Literatur wie etwa der Reise in den Westen unterscheide, die als »phantastische Hirngespinste« abgetan werden.329 Um so deutlicher wird die Klammer um die Ereignisse im Roman, die der Verfasser quasi mit der Gegenbewegung des Strahls vom Himmel herab auf die Erde in Kapitel 71 schafft: Auf einer mitgesandten Platte werden nun endlich die Namen der einhundertundacht Sterngeister offenbart, zusammen mit der Gestalt, in der jeder Stern auftritt. Es mutet zunächst seltsam an, daß im Roman nicht schon früher eine rationale Erklärung der Funktion der Sterngeister gegeben wird, doch macht die Hinauszögerung bis zum Schluß insofern Sinn, als bis zuletzt Helden auf den Berg gelangen und die komplette Anzahl der Helden erst spät erreicht wird. Verschiedentlich sind hinter diesem furiosen Auftakt mit seiner eigenen Symbolik Hinweise auf das aus dem Buddhismus stammende Konzept der Leere und Vergeblichkeit 329
Vgl. ROLSTON: How to Read the Chinese Novel, S. 133.
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(kong) gesehen worden, mit dem der Verfasser hier arbeitet: Die Räuberhelden tauchen zu Beginn aus dem Nichts auf (der Sternenstrahl schießt aus dem Boden), am Schluß löst sich ihre Bande dann auf und zerfällt.330 Neben diesem Prolog setzt sich der übrige Teil dieses umfangreichen Handlungssegments von siebzig Kapiteln aus mehreren Erzählsequenzen zusammen, in denen die wichtigsten Helden vorgestellt werden. In acht in sich abgeschlossenen Episoden steht jeweils ein Held im Mittelpunkt.331 Die Aneinanderreihung der Sequenzen führt zu einer relativ schwachen inneren Struktur, die verbindenden Elemente, die hier ein Gegengewicht schaffen, sind einmal der Berg Liang, an dem die Festung liegt sowie die vielen Helden gemeinsame Motivation, sich den übrigen Männern um Song Jiang anzuschließen. Während die häufigen Ortswechsel zu Beginn des Romans eher die Abgeschiedenheit der Moorgegend um den Berg betonen, rückt dieser in der Folge mehr und mehr in den geographischen Mittelpunkt und dokumentiert damit die zunehmende Macht der Bande. Die Festung wird zu einer Art »Zuhause«, in das die Räuber nach ihren mitunter weit ins Reich führenden Expeditionen zurückkehren und in dem einige der Männer mit ihren Familien wohnen. Auf die Funktion der utopischen Idealgesellschaft, die sich dort in ihrer Abgeschiedenheit herausbildet, werden wir noch zu sprechen kommen. Das erste echte Romankapitel nach dem Prolog führt die zuvor angedeutete Stimmung zunächst fort. Der Leser wird mit einer Figur bekannt gemacht, die im weiteren Verlauf der Clique um den Kaiser angehören wird und die Geschicke des Staates bestimmt. Gao Qiu – »Gao der Ballstoßer« – so sein Name aufgrund seines geschickten Umgangs mit dem »Fußball« (tatsächlich eine frühe Form des heute so beliebten Sports) – ist ein Nichtsnutz in der Hauptstadt Kaifeng. Aus der Verbannung zurückgekehrt, wird Gao in das Gefolge von Prinz Wang Jinqing aufgenommen, einem Schwiegersohn des Kaisers. Seinen Aufstieg erlebt Gao jedoch im Dienste von Prinz Duan, der als Huizong bald darauf den Thron besteigt und den Ballstoßer zum Befehlshaber der Palasttruppen macht. Gemeinsam mit Cai Jing (1046–1126) – dem späteren Kanzler und Präzeptor – sowie Tong Guan ist Gao die Rolle des »bösen Ministers« zugedacht, dessen Treiben wesentlich zum Sturz der Dynastie beiträgt. Das Bild des Kaisers Huizong bleibt im überwiegenden Teil des Romans wenig ausgeprägt, die Züge der Majestät treten erst gegen Ende der Räuber stärker zutage. Doch auch hier vermittelt Huizong, den Anweisungen durch Cai Jing vollkommen ausgeliefert, eher den Eindruck von Hilflosigkeit und Schwäche. Eine Szene kurz vor Ende des Romans gibt darüber 330 331
S. PLAKS: The Four Masterworks, S. 354f. Vgl. zu den Untersuchungen über den Aufbau der Räuber etwa MÜHLHAHN: Geschichte, Frauenbild und kulturelles Gedächtnis, S. 100f.; PETER LI: »Narrative Patterns in San-Kuo and Shui-Hu«, in: ANDREW PLAKS (Hg.): Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton UP 1977, S. 73–84.
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Aufschluß. Die Majestät zeigt sich hocherfreut über den Vorschlag Cais, der Räuberbande am Berg Liang endlich den Garaus zu machen und zwei Generäle mit dem Feldzug zu beauftragen. Sogleich läßt Huizong die entsprechenden Dekrete ausfertigen: »Als das geschehen war, zog er sich zurück. Danach verließ die Menge der hohen Mandarine die Audienzhalle; alle lächelten insgeheim.«332 Die folgende Episode um jenen Lin Chong, der als Militärinstrukteur in Kaifeng lebt, rundet zunächst das Bild des Schurken Gao Qiu ab. Lin gehört zu jener Sorte Helden (Qin Ming, Yang Xiong, Lu Junyi etc.) zu Beginn des Romans, die der Begriff der Ehre (yiqi) miteinander verbindet. Sie sind damit viel unproblematischer als die zentralen Figuren des Romans. Auf Männer wie Lin Chong trifft am ehesten die Tatsache zu, die mit der sprichwörtlichen Wendung »in die LiangBerge gezwungen worden zu sein« zum Ausdruck gebracht wird: die Not, den Nachstellungen durch schlechte Beamte und Minister zu entkommen. Lin und andere Männer seines Schlags lehnen es daher auch zunächst ab, sich den Räubern auf dem Berg Liang anzuschließen. Mittels eines schäbigen Komplotts wird Lin in sein Verderben getrieben: Nachdem er von einem dubiosen Händler ein kostbares Schwert gekauft hat, wird er von Gao, der angeblich auch die Waffen sehen will, in den Palast zitiert. Zu spät bemerkt Lin die Falle, in die er gelaufen ist, führt man ihn doch in die »Kriegshalle des Weißen Tigers«, wo gewöhnlich Beschlüsse über kriegerische Unternehmungen gefaßt werden und zu der der Zutritt mit der Waffe verboten ist. Man bezichtigt Lin eines Mordkomplotts, der Richterspruch fällt mit Stockschlägen, Brandmarkung und Verbannung noch recht milde aus. Aus freien Stücken, den Richterspruch achtend, begibt er sich nach Cangzhou, dem Ort, der ihm zur Verbannung zugedacht ist. Dort wird Lin mit Chai Jin bekannt, einem überaus einflußreichen Mann, der sich gestrauchelter Recken annimmt und in Verbindung mit den Räubern vom Berg Liang steht. Chai Jin nimmt eine Sonderstellung unter den Helden vom Berg Liang ein, ist er doch als Nachfahre Chai Rongs, des Kaisers Shizong der Späteren Zhou-Dynastie (951–960), der einzige Aristokrat der Bande. Gleichzeitig ist es Chai, der Lin Chong nach einer Mordaffäre am Ort der Bande vom Berg Liang empfiehlt, die zu diesem Zeitpunkt freilich noch eine gemeine Räubertruppe ist und von einem gewissen Wang Lun angeführt wird, welcher übrigens nicht zu verwechseln ist mit der gleichnamigen historischen Gestalt des Sektenführers und Rebellen, der 1774 einen Aufstand in Nordchina anzettelte und in Alfred Döblins 1915 erschienenem Roman Die drei Sprünge des Wang-lun verewigt wurde.333. Ausgangspunkt der militärischen Kampagnen gegen die Banditen im Moorgebiet ist die Präfektur Qizhou. Durch die Ereignisse in und um die Stadt wird der 332 333
Die Räuber vom Liangschan, Kap. 66, Bd. 2, S. 548. Vgl. zu dem Material, das Döblin als Hintergrund diente, das Nachwort von Walter Muschg in ALFRED DÖBLIN: Die drei Sprünge des Wang-lun, München: dtv 1980, S. 482ff.
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Leser endlich mit den eigentlichen Protagonisten des Romans bekannt. Da ist zunächst Chao Gai, ein wohlhabender, kämpferischer Mann, der landauf landab dafür bekannt ist, die Sache der ehrenhaften Recken zu vertreten, dabei den Reichen und Mächtigen zu nehmen und den Armen, Bedürftigen zu geben. Als er eines Tages von der Karawane Gouverneur Liangs aus Peking erfährt, mit der dieser wertvolle Geschenke an seinen Schwiegervater Cai Jing, den Kanzler in Kaifeng, sendet, entschließt er sich zusammen mit einigen anderen zum Überfall. Cai Jing, der dabei bereits das zweite Mal von Banditen um eine Geschenksendung betrogen wird, ordnet daraufhin ein rigoroses Vorgehen gegen die Banden in Shandong an. Die Lage für Chao Gai wird bedrohlich, als ein Komplize des Überfalls bei der Folter den Namen Chaos preisgibt. Von Song Jiang gewarnt, der in dem Ort Yuncheng als Gerichtsschreiber arbeitet, gelingt Chao Gai die Flucht zum Berge Liang, wo er sich an die Spitze der Bande setzt, nachdem Lin Chong den Wang Lun getötet hat. Der Kern der Führungsgruppe umfaßt zu diesem Zeitpunkt (Kap. 19) elf Personen und wird unter Chaos Leitung bis zu dessen Tod (Kap. 59) auf achtundachtzig anwachsen. Damit gebührt Chao nicht nur das Verdienst, anders als Song Jiang die längste Zeit als Führer der Banditen vom Berg Liang zu fungieren; er ist es auch, der der Bande ihr Gepräge gibt und aus den ruchlosen, gemeinen Verbrechern eine kampfstarke Truppe formt, die sich höhere Ziele als die bloße Plünderung der Bevölkerung steckt. Ganz praktisch kommt das darin zum Ausdruck, daß Chao Gai nach seiner Ernennung zum Anführer der insgesamt siebenbis achthundert Mann starken Räuberbande auf dem Berg eine Rangordnung unter dem Führungskader festlegt und dem bislang amorphen Banditengewimmel damit eine Struktur gibt. Darüber hinaus setzt er mit seiner Sorge um das Wohl der niederrangigen Gefolgsleute auch neue soziale Maßstäbe, ganz abgesehen von den militärischen Neuerungen, die die Schlagkraft und Verteidigungskraft der Truppe verbessern sollen. Hier beginnt sich etwas von der oben bereits angekündigten »idealen Gemeinschaft« in der Bergfeste anzukündigen. An die Unterführer und die Räuber der unteren Dienstgrade verteilte Chao Gai eine erhebliche Menge von seinem Beuteanteil und den Reichtümern, die er aus seinem Dorf mitgebracht hatte. Während der folgenden Tage wurde ohne Unterlaß bis in die Nacht hinein gefeiert. Danach ließ Chao Gai eine Bestandsaufnahme aller Waffen, Bekleidungsstücke und Vorräte durchführen und beschloß nach Beratung mit den zehn anderen Führern, daß die Reisspeicher ausgebessert und alle im Laufe der Jahre entstandenen Bauschäden beseitigt, eine große Anzahl Dschunken gebaut und Waffen auf Vorrat angefertigt würden. Mit allen Kumpanen wurden tagtäglich Übungen im Rudern und Steuern der Dschunken, in der Handhabung der verschiedenen Waffen und im Kampf von der Dschunke aus abgehalten, um auf 334 kommende Schlachten mit den kaiserlichen Soldaten gut vorbereitet zu sein. 334
Die Räuber vom Liangschan, Kap. 19, Bd. 1, S. 407.
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Damit sind wir in dem Roman an dem Punkt angelangt, wo es gilt, einen genaueren Blick auf den Protagonisten Song Jiang zu werfen. Die historischen Quellen zu seiner Person sind dürftig, die offiziellen Annalen haben den Rebellen, der noch nicht einmal die Beamtenprüfungen abgelegt hat, mit Nichtachtung gestraft und nicht für wert gefunden, in einem eigenen biographischen Überblick vorgestellt zu werden. Indirekte Hinweise auf Song Jiang finden sich in einigen Biographien über kaiserliche Feldherren in den Annalen der Song. In den Angaben zu General Hou Meng heißt es dort, dieser habe im zweiten Jahr der Devise Xuanhe (1120) dem Kaiser einen alarmierenden Bericht über die Bande um Song erstattet und dessen Begnadigung empfohlen.335 Im Gegensatz zu den meisten übrigen Gestalten in den Räubern erfährt man über Song Jiang; sowohl was seine Erscheinung als auch sein Wesen betrifft, eine ganze Menge.336 Es dürfte sich bei ihm um eine der fragwürdigsten Heldengestalten in der chinesischen Literatur handeln; mitunter hat man den Eindruck, als diene Song dazu, die Heldenproblematik einmal gründlich aufzuarbeiten und von den stereotypen Mustern wegzuführen. Im Roman gilt Song Jiang zumal als ein guter, hilfsbereiter Mann, der niemanden abweist – eben der »Rechtzeitige Regen« (jishiyu) – jener Spitzname, der im Zusammenhang mit Song am häufigsten genannt wird. Doch gerade diese Bezeichnung könnte durchaus auch ironisch in mehrfacher Hinsicht verstanden werden und auf Songs Neigung zu Tränenausbrüchen und zu überstürtzten militärischen Unternehmungen hinweisen, die gerade nicht »zur rechten Zeit« erfolgen.337 Daneben gibt auch die Bezeichnung »Hüter der Ehre und Gerechtigkeit« (baoyi) Aufschluß über ein wichtiges Charakteristikum im Wesen Song Jiangs, nämlich seine Verpflichtung gegenüber hehren Prinzipien und Tugenden wie Treue, Loyalität, Aufrichtigkeit etc. Songs moralisch-ethische Ansprüche sind jedoch zu hoch, die Zeiten, in denen er lebt, zu schwierig, als daß er nicht ständig mit den erstrebten Prinzipien in Konflikt geraten müßte. Er ist das klassische Beispiel eines Mannes, bei dem Worte und Taten weit auseinanderklaffen. Bei einer Reihe von Begebenheiten gibt Song keine allzu gute Figur ab. Eines Tages hilft er einer alten Frau bei der Beschaffung eines Sarges für ihren verstorbenen Mann. Die Alte Frau Yan will sich auf die eine oder andere Weise dankbar zeigen und setzt sich in den Kopf, Song mit ihrer Tochter Poxi zusammenzubringen, 335
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Vgl. dazu Die Räuber vom Liangschan-Moor (KUHN), S. 859f. Dort wird auch eine weitere historische Quelle zu Song Jiang genannt, die Kurze Geschichte der Östlichen Hauptstadt (Dongdu shi lüe). Einen linguistischen Weg zur Erschließung des komplexen Wesens von Song Jiang hat DEBORAH L. PORTER aufgetan: »The Formation of an Image: An Analysis of the Linguistic Patterns that Form the Character of Sung Jiang«, in: Journal of the American Oriental Society 112.2 (1992), S. 233–253. Vgl. zu dieser Lesart PLAKS: The Four Masterworks, S. 330.
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die als Singmädchen in Weinschenken und Freudenhäusern ihr Geld verdient. Tatsächlich läßt sich Song nach einer Weile überreden, ein Haus für Mutter und Tochter zu mieten und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Einige Monate verkehrt er jeden Abend bei Yan Poxi, doch dann werden seine Besuche spärlicher. Woran das lag? Nun, er liebte es, sich nach getaner Tagesarbeit in der Handhabung verschiedener Waffen zu üben, und er las gern Bücher über Kriegführung – der Frauenliebe maß er keine sonderliche Bedeutung bei. Die achtzehnjährige Poxi aber war ein lebenslustiges Mädchen, das dem Wein nicht abhold war, und 338 Song Jiangs trockene Art behagte ihr nicht.
So macht sich Song auch nicht viel daraus, als bald überall Gerüchte verbreiten, Yan Poxi habe in dem »Dritten Zhang« einen neuen Liebhaber. »Meine Eltern haben sie mir nicht zur Frau bestimmt, warum soll ich mich darüber aufregen, daß ihr Herz sie nicht zu mir treibt? Ich werde eben nicht mehr zu ihr gehen« – so seine Reaktion.339 Als die Alte Yan Song Jiang doch noch einmal zu einem Besuch bei der Tochter bewegen kann und Song sich überreden läßt, eine Nacht zu bleiben, stellt sich bald heraus, daß sich die beiden jungen Leute nicht viel zu sagen haben. Das Unglück will es zudem, daß Song am Morgen seine Tasche mit einem gefährlichen Brief des Chao Gai liegenläßt und nicht verhindern kann, daß Yan Poxi bei der Lektüre von dem brisanten Inhalt erfährt. Als Song schließlich die Herausgabe des Schreibens verlangt, leugnet die Frau, etwas von dem Brief zu wissen. Song läßt sich auf erniedrigende Verhandlungen ein und stimmt allen Forderungen der Frau zu: Er wird sie freigeben, ihr Schmuck und Kleider überlassen und sie zum Schluß noch mit einem Batzen Geld abfinden. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, in deren Verlauf Song Yan Poxi mit einem Dolch tötet. Die Szene zeigt, daß Songs Verhalten oft nicht gradlinig wirkt und so gar nicht heldenhaft. Eine weitere Episode, die dies belegt, spielt auf seinem Weg in die Verbannung – eine Folge seiner Tat. Im Xunyang-Turm genießt Song zunächst Speisen und Landschaft, doch schlägt Begeisterung bald in Kummer um. Beseelt vom Wein, voller Kummer und Trauer macht sich Song Jiang an die Abfassung eines Gedichts in aufrührerischem Ton, das er an die Wand der Schenke pinselt. Auch hier ist Song Jiang keinesfalls der leidenschaftliche Rebell, der mit seinen Worten Aufmerksamkeit erregen will und Mitstreiter für die gemeinsame Sache sucht. Sein Bestreben zielt alleine darauf, sich angesichts der eigenen künftigen Bedeutung an der Wand für die Nachwelt zu verewigen und der Bitternis in seinem Herzen Ausdruck zu geben. Nichts von allem ist von vornherein überlegt und Ausdruck eines festen Willens. Song schreibt wohlgemerkt im Zustand der Trunkenheit, auf die er sich interessanterweise nach der Entdeckung der Verse 338 339
Die Räuber vom Liangshan, Kap. 19, Bd. 1, S. 420. Ebd., S. 421.
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durch Huang Wenbin in der anschließenden Gerichtsverhandlung hinausreden wird. Doch zunächst die Verse: »Später einmal werde ich ein berühmter Mann sein, und wenn ich irgendwann hier wieder vorbeikomme, werde ich mich an Jahr und Monat erinnern und der Bitternis dieses Tages gedenken!« Unbewußt seine Weinseligkeit nützend, rührte er einen dicken Tuschebrei an, ließ den Pinsel sich darin vollsaugen, ging an die weiß getünchte Wand und schrieb: »Schon in der Jugend studierte ich Klassiker und Geschichte, im Mannesalter verlieh man mir Amtsgewalt. Ich gleiche aufs Haar dem Tiger im öden Hügelland, der, Zähne und Krallen verbergend, auf Beute lauert. Freudlos, gebrandmarkt auf beiden Wangen, wie soll ich die Verbannung in Jiangzhou ertragen? Doch für alle Bitternis kommt die Zeit der Rache, 340 und Blut wird färben die Mündung des Xunjiang.«
Nach der Entdeckung der Verse bekennt sich Song Jiang keineswegs zu dem Geschriebenen, sondern versucht, der drohenden Verurteilung zu entgehen, indem er vorgibt, irre zu sein und sich in Kot und Urin wälzt. Als dies niemanden überzeugt, gesteht er reumütig, die Verse im Zustand der Trunkenheit geschrieben zu haben und ansonsten keinerlei aufrührerische Gedanken zu hegen. Umsonst – der drohenden Hinrichtung entgeht Song Jiang nur, weil ein Brief mit der Nachricht von seiner Festnahme in die Hände der Räuber vom Liangshan fällt, man ihn auf dem Richtplatz gerade noch rechtzeitig befreit und mit in die Feste nimmt. Erst jetzt (Kap. 39) – und wiederum nicht aus freien Stücken – findet Song Jiang zu den Banditen im Moor, an deren Peripherie er sich die gesamte Zeit bewegt hat. Song Jiang wird also nur nolens volens Räuber. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß er sich nie unumwunden zur Sache der Banditen auf dem Berg bekennt. Es ist, als stehe er unter einem eigenartigen Zwang, sich stets mit dem »Wohl des Reiches« zu rechtfertigen. Erst recht spät gibt Song Jiang überhaupt seine Motive als Rebell zu erkennen: Weil dem Kaiser die Erleuchtung abgeht, so daß er den Staat von Gouverneuren regieren läßt, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, und niemals einen rechtschaffenen Mann mit diesem hohen Amt betraut. In jedem Yamen führen ausschließlich habgierige Mandarine das Wort und beuten die Hundert Familien unter dem Himmel aus. Darum kämpfe ich, Song Jiang, für die himmlische 341 Gerechtigkeit, eine andere Absicht hege ich nicht.« 340 341
Ebd., S. 76. Ebd., Kap. 63, S. 492.
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Zehrte Song Jiang zu Beginn noch von dem Anspruch, einst »ein großer Mann« zu werden, so muß er sich spätestens nach Übernahme der Führungsrolle in der Bergfeste an seinen Taten messen lassen. Als Anführer offenbart Song dann freilich bald eine Reihe von Schwächen, die er mit anderen geschichtlichen Gestalten in der chinesischen Erzählliteratur teilt. So neigt er ähnlich wie Liu Bei in den Drei Reichen dazu, Aktionen als Militärführer von persönlichen Rachegelüsten leiten zu lassen. Seine Maßnahmen gegen Huang Wenbin – den Mann, der seine Verse im Xunyang-Turm entdeckte – sind ein erstes Beispiel. Der Aufenthalt des Song Jiang im Hause des Chai Jin nach dem Mord an Yan Poxi ist, wie oben bereits dargestellt wurde, ein wichtiges Ereignis in den Räubern. Geschickt leitet der Roman von der zu Ende berichteten Affäre um Song über zum Bericht über eine der beliebtesten Figuren des Werks, Wu Song. Als flüchtiger Schläger, der in Qinghe mit einem hohen Mandarin aneinandergeraten ist, hat Wu ebenfalls im Hause des Chai Jin Unterschlupf gefunden. Vom Typus her ist Wu Song irgendwo zwischen dem vorsichtig taktierenden Lin Chong und dem dunkelgrausamen Li Kui anzusiedeln, einer weiteren zentralen Figur, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Die Beliebtheit der Gestalt und des ganzen um sie angesiedelten Stoffes wird zum einen erkennbar an der oben bereits genannten Bearbeitung durch die Erzähltradition von Yangzhou. Darüber hinaus ist Wu Song mit einem Grab am Ufer des Westsees von Hangzhou ein bleibendes Denkmal gesetzt worden. Nicht zuletzt ist seine Figur verknüpft mit einem spannenden Kriminalfall in der frühen chinesischen Romankunst, der als Auftakt in ein weiteres großes Erzählwerk – das Jin Ping Mei – übernommen wurde. Das wohl hervorstechendste Merkmal Wu Songs ist seine Gewalttätigkeit. Die allmähliche Steigerung von den »milden« Formen bis hin zum Blutrausch hat der chinesischen Erzählliteratur einige beeindruckende Szenen beschert, die es lohnen, einen genaueren Blick zu tun. Wu Song ist nach seiner Flucht ins Haus des Chai Jin bereits nach kurzer Zeit nicht wohlgelitten. Besonders nach dem Genuß von Alkohol gilt er als zänkisch und brutal, so daß er bald gemeinsam mit Song Jiang das Anwesen verläßt, kurz darauf aber allein den Weg ins Gebirge einschlägt, um sich zu seinem Bruder zu begeben. Ein Wirt in der Herberge, in der Wu vor der Weiterreise noch eifrig bechert, warnt ihn vor einem gefährlichen Tiger, der die Gegend unsicher macht, doch setzt Wu seine Reise unbekümmert fort. Erst die zahlreichen amtlichen Warnungen, die er entlang des Weges liest, überzeugen ihn von der Existenz des Raubtiers, aber da ist es bereits zu spät. Wu Song will sich in der heranbrechenden Dämmerung ein wenig Ruhe verschaffen, als das Raubtier auftaucht: Plötzlich hörte er einen langgezogenen dumpfen Ton: Aus dem Walddickicht schnellte mit einem weiten Satz ein Riesentiger heraus! »Aija!« entfuhr es Wu Song – er griff nach seinem Knüppel und versteckte sich hinter dem Felsblock. Dieses Ungetüm von Tiger verspürte Hunger und Durst zugleich. Es bewegte sich auf den Felsblock zu. Wu Song wurde von heftigem Schreck gepackt, der
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke Wein brach ihm als kalter Schweiß am ganzen Körper aus. Erzählen geht langsam, das Geschehen schnell voran! Der Tiger machte einen Satz vorwärts, Wu flitzte an dem Felsen vorbei und verbarg sich hinter dem Raubtier. Plötzlich streckte das Tier seinen Schweif wie eine Eisenstange senkrecht starr in die Höhe – im nächsten Augenblick ließ es ihn wie eine wuchtige Peitsche auf die Erde niedersausen. Wu sprang behende zur Seite. Als der Tiger merkte, daß ihm seine Beute abermals entwischt war, stieß er ein entsetzliches Gebrüll aus und drehte sich einmal um sich selbst. Mit schier übermenschlicher Kraft schwang Wu seinen schweren Knüppel durch die Luft – aber er verfehlte den Gegner! Ein abgestorbener Baumriese stürzte krachend um, der Knüppel barst auseinander, Wu hatte nur noch die untere Hälfte in der Hand. Wieder brüllte der Tiger markerschütternd, drehte sich abermals um sich selbst und setzte, aufs äußerste gereizt, zum Sprung auf sein Opfer an. Wu wich etwa zehn Schritte zurück – die Vorderpranken des Tigers landeten unmittelbar vor ihm auf der lehmigen Erde. In diesem Augenblick höchster Gefahr schleuderte Wu seinen halben Knüppel beiseite, packte die Halsmähne des Untiers fest mit beiden Händen und drückte den mächtigen Körper mit dem Aufgebot all seiner Kraft zu Boden. Der Tiger mühte sich verzweifelt, loszukommen. Wu gab keinen Fingerbreit nach und stieß ihm mit den schwerbeschuhten Füßen ins Gesicht und in die Augen. Unter wütendem Gebrüll wühlte die Bestie mit den Hintertatzen den Lehmboden auf, so daß eine Grube entstand. Blitzschnell drückte Wu den Tigerrachen tief in die Grube hinein – das ermattete Tier ließ im Widerstand nach. Wu nahm seine rechte Hand aus der Halsmähne, ballte sie zur Faust und schlug damit wie mit einem schweren Eisenhammer unentwegt auf den Kopf des Tigers ein. Als er wohl fünfzigmal zugeschlagen hatte, strömte dem Tier das Blut aus Augen und Maul, aus Nase und Ohren, sein Atem ging keuchend, und es war nicht mehr imstande, sich zu bewegen. Wu nahm nun auch die linke Hand aus der Mähne, langte nach dem halben Knüppel, den er zuvor weggeworfen hatte, 342 und hieb weiter auf das Tier ein, bis es nicht mehr atmete.
Nach dieser erfolgreichen Ausschaltung des Tigers wird Wu Song von der Bevölkerung in der nahegelegenen Stadt Yanggu wie ein Held gefeiert und erhält ein Amt als Hauptmann der Stadtgarnison. Am Ort trifft er gleichfalls den gesuchten Bruder Wu Dalang, den er eigentlich in Qinghe vermutete und von dessen Umzug er erst jetzt erfährt. Damit ist der Übergang zu der folgenden Kriminalaffäre geschaffen, die viel grausamer enden wird. Die in den Fall verwickelten Personen sind Pan Jinlian, die junge, lebenshungrige Frau des schwächlichen Wu Dalang, deren Verführungsversuchen der unbedarfte Wu Song wacker widersteht; sodann sind eine Nachbarin namens »Alte Wang«, die Pan Jinlian und ihrem jungen Liebhaber Ximen Qing – der dritten Gestalt in diesem Trio Infernale – als Kupplerin wertvolle Dienste 342
Ebd., Kap. 22, Bd. 1, S. 469–473.
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leistet und ihnen eine Unterkunft für ihr regelmäßiges Stelldichein gibt. Ximen Qing hat als Protagonist im Jin Ping Mei Unsterblichkeit erlangt, findet dort aber aufgrund seiner sexuellen Ausschweifungen ein ganz anderes Ende als in den Räubern. Wu Song hat zunächst überhaupt keine Ahnung von den Ereignissen um ihn herum, hat auch gar keine Gelegenheit, tiefere Einblicke in das heraufziehende Unglück zu bekommen, da ihn ein amtlicher Auftrag (er soll einen Goldtransport in die Hauptstadt begleiten) zunächst aus der Stadt führt. Kaum ist er fort, schmieden die Alte Wang, die junge Gattin und ihr Liebhaber Pläne, um den lästigen Wu Dalang beiseitezuschaffen. Als dieser von der Affäre seiner Frau mit Ximen Qing erfährt und droht, seinen skrupellosen Bruder nach seiner Rückkehr einzuweihen, sehen sich die drei zu schnellem Handeln gezwungen: Wu Dalang wird kurzerhand vergiftet, seine Leiche von dem bestochenen Bestatter verbrannt. Wohl erregt der zwanglose Umgang von Pan Jinlian und Ximen Qing Anstoß im Ort, doch aus Furcht vor der machtvollen Stellung des jungen Herrn wagt niemand, Einspruch zu erheben. So tappt auch Wu Song zunächst völlig im dunkeln, als er nach der erfolgreichen Beendigung seiner Mission von dem plötzlichen Tod des Bruders erfährt. Da ihm jedoch bei der Verrichtung der Gebete für den Toten am Altar die geisterhafte Gestalt des Wu Dalang erscheint und klagt, eines schrecklichen Todes gestorben zu sein, ist Wus Verdacht geweckt. Ein Verhör des Leichenbestatters fördert schließlich die ganze Wahrheit zutage. Nachdem er die Alte Wang und Pan Jinlian zu einer inszenierten Trauerfeier ins Haus geladen hat, verhört Wu Song zunächst beide Frauen und vollstreckt sodann eigenhändig die Hinrichtung an der Gattenmörderin. Mit festem Griff packte Wu Song erst die junge, dann die alte Frau und zwang sie, vor der Nische niederzuknien. Hinter ihnen stehend, sagte er, das Gesicht von Tränen überströmt: »Älterer Bruder, deine Seelen sind nicht weit von dieser Stelle entfernt. Dein jüngerer Bruder wird dich heute rächen, und sein Haß wird aus seinem Herzen schwinden wie Märzschnee.« Banges Entsetzen überkam die junge Frau bei diesen Worten, und sie schrie auf. Aber schon drückte Wu Song sie zu Boden, stellte sich auf ihre Arme und riß ihr die Kleider über dem Busen auf. Schneller, als es gesagt werden kann, stieß er ihr den Dolch in die Brust, drehte ihn einmal um und zog ihn heraus. Ihn zwischen den Lippen haltend, griff er mit beiden Händen in die klaffende Wunde, riß Herz, Leber und Eingeweide heraus und legte sie als Opfergabe vor 343 die Namenstafel.
Doch damit ist nur die halbe Arbeit getan. Kaum hat er die Alte Wang den Wachen übergeben, macht sich Wu Song, den abgetrennten Kopf der Toten in den Hän-
343
Ebd., Kap. 25, Bd. 1, S. 547.
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den, auf die Suche nach ihrem Buhlen. Er findet ihn beim Zechen, nach einem kurzen Handgemenge scheint Ximen Qing die Flucht zu gelingen, doch hat Wu ihn bald überwältigt und trennt auch ihm den Kopf ab. Mit den Häuptern der Getöteten begibt er sich zum Amt, wo man sich Mühe gibt, die bevorstehende Strafe durch eine für Wu günstigere Version der Vorfälle zu mildern. Gebrandmarkt tritt Wu Song schließlich seinen Weg in die Verbannung an. Die Ereignisse um Wu Song, Pan Jinlian und Ximen Qing bringen den ausgeprägten misogynischen Ton in den Räubern besonders deutlich zum Ausdruck. Die meisten weiblichen Gestalten im Roman wirken – wie schon bei der Affäre um Song Jiang und Yan Poxi angedeutet – im Vergleich zu den männlichen Helden wenig diszipliniert. Besonders auffällig sind ihre sexuellen Ausschweifungen. Es hat den Anschein, als hegten Figuren wie Wu Song und Song Jiang gerade wegen ihres sexuellen Puritanismus einen unbewußten Haß gegen die Frauen als ihre schlimmsten Feinde, da sie eine »quälende Erinnerung an die Unnatürlichkeit ihrer heldischen Selbstgenügsamkeit verkörpern«.344 Die Erhabenheit über sexuelle Versuchung stellt dabei den entscheidenden Test für einen Helden dar. Es fällt auf, daß die Mehrzahl der Männer vom Liangshan Junggesellen sind, doch auch bei den verheirateten Bandenmitgliedern spielt die Liebe kaum eine Rolle. Blut und Gewalt verfolgen den Wu Song unterdes auf seinem Weg in die Verbannung auch weiterhin. Selbstgerecht, wie Wu stets ist, verliert er bald jeden Maßstab für sein Handeln. Hat er zuvor ein selbst gefälltes Urteil an Tätern bzw. Mittätern vollstreckt, so erliegt er schließlich im Hause des Generals einem Blutrausch, dem die gesamte Familie des Militärs zum Opfer fällt. Zunächst sterben General Zhang und einige Diener unter der Hand des Berserkers, doch selbst unschuldige Frauen und Kinder sind am Ende nicht vor Wu sicher. Und Wu Song sagte vor sich hin: »Nun, da ich mein Werk begonnen habe, will ich es auch zu Ende führen. Auch wenn ich ihrer hundert töte, kann ich für sie alle nur mit meinem eigenen Leben zahlen.« Mit dem blutigen Dolch in der Hand ging er langsam treppab. Die Gattin des Generals fragte: »Was für ein furchtbarer Lärm war das?« Da trat ein riesenhafter Mann, eine Waffe vor sich her tragend, in ihr Blickfeld. »Wer seid Ihr?« fragte sie in plötzlich aufsteigendem Angstgefühl. Schon spaltete die scharfe Klinge ihr das Gesicht. Sie schlug mit einem Aufschrei zu Boden, aus der klaffenden Wunde schoß das Blut. Schritte wurden hörbar: Wu Song wandte sich um. Aus einem Zimmer kam das Sklavenmädchen, das der General ihm zur Frau zugesagt hatte: die liebliche Jadeorchidee. Sie führte zwei Kinder und trug eine brennende Kerze. In deren flackerndem Schein gewahrte sie die ermordete Gattin des Generals und schrie entsetzt: »Aija, wieviel Bitternis!« Wu Song stach zu – mitten ins Herz traf der Dolch das Mädchen, das eine Kind, das andere Kind. Alle drei sanken sie tot zu Boden. Danach erdolchte er 344
HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 125.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN noch drei Frauen, die den Gang entlangkamen. »Jetzt wird Ruhe in mein Herz 345 einkehren«, murmelte er.
Am Ende hinterläßt Wu Song fünfzehn Tote. So sehr das Vorgehen des Recken in der Ausführung der Rache seiner Tat in Yanggu ähnelt, ist doch ein neuer Ton vernehmbar: Gerade die Ermordung Unbeteiligter und der Hinweis auf einen Diebstahl vor dem Verlassen des Hauses (Wu Song raubt Gold und Silber) sollen an dieser Stelle vermutlich bewußt Abscheu hervorrufen.346 Kommen wir nun zu einer der dunkelsten Gestalten in den Räubern vom LiangshanMoor. Die Rede ist von Li Kui, aufgrund seiner überirdischen Herkunft dem »Himmlischen Mörderstern« zugeordnet, bekannter aber unter seinem Sternennamen »Schwarzer Wirbelwind«. Li Kui wird als überaus komplexe Persönlichkeit dargestellt, er erweist sich als ebenso pietätvoll und loyal wie sadistisch und grausam. Hingebungsvoll dient er der Sache der Banditen in der Feste und seinem Herrn, Song Jiang. An seiner Gestalt wird die dem Roman zugrundeliegende haohan (Helden-) Ideologie (gekennzeichnet durch Ehre, Rache, Solidarität und sexuelle Enthaltsamkeit) mit am eindrucksvollsten problematisiert. Li Kuis Wesen ist geprägt von allerlei Extremen und Widersprüchen. Einerseits im Besitz großer Wildheit und körperlicher Kraft – er kämpft stets mit zwei Äxten – zeigt er doch mitunter auch Schwächen, etwa wenn er im Kampf gegen verschiedene Frauen unterliegt. Von seiner sozialen Herkunft aus betrachtet, nimmt Li eine besondere Stellung unter den Banditen ein, die als Bande ein sehr heterogenes Bild abgeben. In ihr finden sich kleinere Grundbesitzer, Kaufleute, Magistratsangestellte, Handwerker, Fischer, Soldaten etc.347 Angesichts der traditionell sehr großen bäuerlichen Bevölkerung Chinas würde man in einer Räuberbande starken Zulauf aus dieser Gruppe erwarten. Tatsächlich ist aber Li Kui die einzige Gestalt der LiangshanBanditen, die als Bauer identifiziert werden kann. Er soll wohl als Typus für das urtümliche chinesische Wesen dienen, mit dem sich die Rezipienten des LiangshanStoffes schnell identifizieren. Es verwundert daher nicht, daß Li Kuis bodenständige Moral auch im Widerstand gegen Song Jiang, seine Treue und Ergebenheit sowie sein Beharrungsvermögen trotz der Unbeständigkeit und Schwankungen, die sein Charakter aufweist, immer wieder Beifall gefunden haben. Der Anführer und sein wackerer Recke bilden ein Gegensatzpaar, das in Song Jiang das Hauptsymbol des konfuzianischen Dienstes für den Thron festmacht, in Li Kui dagegen die »entfesselte Energie des Unbewußten«348 findet. Die moderne Literaturwissen345 346 347
348
Die Räuber vom Liangschan, Kap. 30, Bd. 1, S. 615. Vgl. PLAKS: The Four Masterworks, S. 322. Zum sozialen Milieu der Bandenmitglieder vgl. MÜHLHAHN: »Herrschaft, Macht und Gewalt«, S. 80. HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 126.
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schaft hat sich gar bemüht, in Li den Kämpfer für die permanente Revolution auszumachen.349 Li Kui und Song Jiang sind sicherlich das markanteste Gegensatzpaar im Roman. Bereits die soziale Struktur der Bande hat Hinweise darauf gegeben, daß Vertreter der gesellschaftlichen Schichten und Menschentypen eher gefragt waren als eine authentische Zusammensetzung. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das paarweise Auftreten der Protagonisten, deren gegensätzliche Charaktere ein möglichst breites Spektrum menschlichen Verhaltens und Wesens abdecken sollen. Neben Song und Li sind weitere Paare wie Lu Junyi und Yan Qing (Herr und Diener), Lu Da und Wu Song (Fresser und Säufer) erkennbar, wobei bereits Jin Shengtan dieses Strukturmerkmal ausmachte.350 Insgesamt erinnern die Paarungen der Charaktere an Darstellungen, die auch in der abendländischen Literatur auftauchen, man denke nur an Don Quichotte und Sancho Pansa. In den Roman wird die Gestalt des Li Kui erst recht spät eingeführt. In Kapitel 37 erfährt der Leser, daß sich Li Kui und Song Jiang in einem Wirtshaus von Jiangzhou kennenlernen, dem Ort also, an den man Song verbannt hat. Auch Li befindet sich nicht freiwillig in der Stadt; in seinem Heimatdorf hat er einen Mann erschlagen und nun nach seiner Flucht eine Anstellung als Hilfswächter erhalten. Das Verhältnis von Song Jiang und Li Kui beruht von Beginn an auf gegenseitiger Sympathie, wobei Li Kui den anderen sogleich als »Herrn« anerkennt. Song wiederum ist beeindruckt von der Kraft des urwüchsigen Mannes, in dem nach seinem Dafürhalten kein Falsch ist. Die wachsende Annäherung der beiden verdeutlicht eines der zentralen Motive des Romans, das bei der Darstellung der Herausbildung der Bande verwendet wird: Wie ein roter Faden ziehen sich Themen wie das Erkennen bestimmter Fähigkeiten von Helden (zhi ren), die Suche nach Führungspersönlichkeiten, die es wert sind, daß man ihnen folgt (qiu zhu), sowie die richtige Verwendung eines Talentes (yong ren) durch das große erste Segment des Romans. Nachdem Song Jiang einen Streit zwischen Li Kui und einer Reihe von Spielern geschlichtet hat, denen Li ihren Einsatz abnahm,speist man gemeinsam. Es kommt zu einer Szene, in der das Rauhbein seine ganze Natürlichkeit und Unverfälschtheit an den Tag legt. Song Jiang genoß den guten Trunk mit Behagen; sein Auge verweilte auf den beiden Männern, die mit ihm am Tisch saßen, und ihm wurde warm ums Herz. Plötzlich ging es ihm durch den Sinn, daß er gern eine kräftige Fischsuppe essen würde. [...] Er befahl dem Bediensteten, ihnen drei Näpfe stark mit rotem Pfeffer gewürzte weiße Fischsuppe zu bringen. Als sie aufgetragen wurden, betrachtete Song Jiang mit Wohlgefallen den vor ihm stehenden Napf und sagte: »Ein Gericht mag noch so schmackhaft sein – dem Vergleich mit seinem schönen Behälter 349 350
Vgl. MÜHLHAHN: »Herrschaft, Macht und Gewalt«, S. 82. Vgl. PLAKS: Four Masterworks, Fußnote S. 315.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN hält es nicht stand.« Er und Dai Zong holten mit den Eßstäbchen geschickt die Fischstückchen aus der Suppe; aber Li Kui langte sie mit den Fingern heraus und verspeiste sie mitsamt den Gräten. Song Jiang trank ein paar Schluck von der Suppe, dann setzte er den Napf ab. »Beim Zechen trinke ich gern zwischendurch einige Schluck Fischsuppe, aber diese ist nicht gut«, meinte er. Auch Dai Zong mochte die Suppe nicht, sie wäre versalzen. Li Kui aber sagte: »Wenn ihr beiden Brüder die Suppe verschmäht, will ich sie statt euer genießen.« Und schon streckte er den Arm aus, angelte mit den Fingern die Fischstückchen aus Song Jiangs Napf und aß sie wieder mitsamt allen Gräten; ebenso verfuhr er bei Dai Zong. Der Tisch war über und über mit Suppe bekleckert. Song Jiang rief den Bediensteten. »Mein Älterer Bruder scheint noch Hunger zu haben«, sagte er. »Bringt ihm zwei Kättie Fleisch! Nachher bezahle ich für uns zusammen.« Der Bedienstete entgegnete: »Dieser Demütige hat nur Hammelfleisch anzubieten, kein Kuhfleisch. Wünscht Ihr aber fettes Hammelfleisch – das ist reichlich vorrätig.« Li Kui griff nach den Suppennäpfen und schüttete dem Mann die Reste ins Gesicht, daß er über und über bespritzt war. Dai Zong rief unwillig: »Was soll das nun schon wieder heißen?« Worauf Li Kui erwiderte: »Dieser Bursche hat ein unerträgliches Benehmen! Tut, als wolle ich nur Kuhfleisch essen, und will 351 mir kein Hammelfleisch verkaufen!«
Song Jiangs Begeisterung für den wackeren Helden Li Kui muß freilich nach dessen Umzug in die Bergfeste angesichts seiner mehr und mehr von Sadismus und Lust am Töten geprägten Züge bald nachlassen. Das anfangs von Respekt und Bewunderung geprägte Verhältnis weicht mehr und mehr einer Haßliebe. So wie Song den Li einer zunehmenden Brutalität zeiht, erweist sich Li als vehementester Gegner gegen Bestrebungen von Song, seine Rolle als Anführer aufzugeben und u.U. den Ausgleich mit den Song-Herrschern zu suchen. Der Bruch im Verhältnis der beiden Männer setzt unmittelbar nach der Übersiedlung auf den Liangshan ein. Zwar erweist sich Li Kui zunächst als treuer Vollstrecker der von Song angeordneten Rache an Huang Wenbin, dem Beamten, der ihn wegen seiner rebellischen Verse hinrichten lassen wollte. Doch die Art und Weise der Ausführung ruft Entsetzen hervor. Huang hat bereits seine Schuld gestanden, bittet lediglich um einen raschen Tod, als Li Kui auf die Frage, wer Hand an den Mann legen wolle, nach vorne tritt, um genau das Gegenteil der letzten Bitte zu tun. Und mit einem spitzen, scharfen Messer schnitt er Huang Wenbin Stückchen um Stückchen das Fleisch von den Knochen und röstete es zum Verzehren mit einem Trunk kräftigen Weines in einem mit glühenden Holzkohlescheiten gefüllten Becken. Zum Schluß öffnete er ihm die Brust, trennte Herz und Leber heraus 351
Die Räuber vom Liangschan, Kap. 37, Bd. 2, S. 61f.
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke und kochte daraus eine kräftige Brühe, bestimmt, den Häuptlingen gereicht zu 352 werden, wenn sie sich den nächsten Rausch angetrunken haben würden.
Für diese grausame und unnötige Tat übt das Schicksal auf eigene Weise Rache. Als Li Kui seine Mutter auf den Liangshan holen möchte, wird die Frau unterwegs von einem Tiger gefressen. Li Kuis Problem ist seine unberechenbare, eruptive Gewalt, und so muß er sich immer wieder Vorwürfe von Song Jiang gefallen lassen, wenn er – wie etwa in Kap. 49 – bei den Kämpfen gegen den feindlichen Clan der Zhu im Blutrausch eine mit den Räubern befreundete Familie auslöscht. Noch viel stärker als bei den Taten Wu Songs kommen hier Willkür, Unbedachtheit und Sorglosigkeit bei der Anwendung von Gewalt zum Ausdruck. Doch alle Vorwürfe, die sich Li Kui gefallen lassen muß, führen zu nichts. Unmittelbar im Anschluß an die harten Worte Song Jiangs begeht Li Kui einen abscheulichen Mord an einem kleinen Jungen, um den Polizeisergeanten Lei Heng die Verfolgung aufnehmen zu lassen und ihn in das Lager der Liangshan-Banditen zu locken, damit er sich der Bande anschließt – die sicherlich fragwürdigste Form der Rekrutierung eines neuen Bandenmitglieds und ein Beispiel für die immer absurdere Formen annehmende Verrohung im Roman. In dieser Übersicht können nur die wichtigsten Helden der Räuberbande auf dem Liangshan vorgestellt werden. Auf das große Finale und den himmlischen Aufschluß über die Herkunft und Bezeichnung der einhundertundacht Gestalten wurde bereits hingewiesen. Ein Gelübde in der errichteten »Halle für Loyalität und Gerechtigkeit« beschließt sodann den Bund der Männer, die für das Wohl des Reiches kämpfen: Gemeinsam wollen wir unser großes Werk vollenden: in unseren Herzen nach Rechtschaffenheit trachten, mit vereinten Kräften unser Land schützen, den Hunger unseres Volkes nach Gerechtigkeit stillen. Die Himmlischen mögen unsere 353 Taten prüfen und einen jeden von uns danach belohnen oder strafen!
Jin Shengtans siebzig Kapitel umfassende Romanversion endet mit dieser Szene der Eintracht und Verbundenheit der Bande auf dem Berg Liang. Was in den längeren Fassungen folgt, sind die Bemühungen um eine Amnestie und die anschließende Desintegration der Bande, nachdem Song Jiang seine Männer einmal in den Dienst des Kaisers gestellt hat. Die Einhundertzwanzig-Kapitel-Fassung unter352
353
Ebd., Kap. 40, S. 120. Diese und ähnliche Szenen menschenfresserischer Attacken gegen ein Opfer sind keine literarische Neuerung durch die Räuber. Bereits in Sima Qians Aufzeichnungen finden sich Darstellungen grausamer Vestümmelungen etwa an einer Frau Qi, der Lieblingsgattin des Kaisers Gaozu. Die Räuber vom Liangschan, Kap. 70, Bd. 2, S. 636.
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scheidet sich von der populäreren Hundert-Kapitel-Fassung dadurch, daß sie über die Feldzüge gegen die Kithan und den Fang La hinaus die Niederschlagung der von zwei weiteren Rebellen – Tian Hu und Wang Qing – angezettelten Aufstände schildert.354 Doch trotz aller Verdienste um den Herrscher kann Song Jiang die Auflösung der Bande und den Tod ihrer Mitglieder nicht verhindern. Song selbst wird auf kaiserlichen Befehl hin vergiftet. Man beerdigt ihn in der KnöterichSenke außerhalb des Südtores von Chuzhou. Song erscheint den beiden letzten noch lebenden Mitgliedern des Führungskaders der Bande im Traum und fordert sie auf, an sein Grab zu eilen. Unabhängig voneinander treffen Wu Yong und Hua Rong am Ort ein. Der gemeinsame Selbstmord der beiden wird häufig als einer der Höhepunkte des Romans betrachtet. »Ich hatte genauso einen seltsamen Traum wie du«, sagte Wu Yong, »aus keinem anderen Grund bin ich an das Grab geeilt. Ich bin glücklich, dich hier zu sehen. Ich denke stets an Song Jiang und daran, wie ich die von ihm empfangene Güte und all seine Wohltaten erwidern könne. Sein Tod ist ein unerträglicher Verlust für mich. Es ist mein Wunsch, mich hier an Ort und Stelle umzubringen, damit meine Seele zu seiner findet. Das ist der Weg, Treue und Gerechtigkeit zu beweisen.« »Wenn dies euer Wunsch ist, Meister Wu, dann werde ich mich euch anschließen und mit meinem Tod ebenfalls meine Treue gegenüber Song Jiang beweisen.« Und so schworen sie, einander in den Tod zu folgen. In einem Gedicht heißt es dazu: Ein Traum führte Hua Rong und Wu Yong in die rote Senke, wo sie in Trauer und Kummer aufeinandertrafen; getragen von Ehre und Heldenhaftigkeit, wählten sie beide den Freitod und beschlossen ihr Leben am Ast eines Baumes. »Ich hoffe«, sagte Wu Yong, »daß du mich hier an Ort und Stelle bestatten wirst, wenn mich der Tod früher ereilt als dich. Wie kommt es, daß auch du mit dem Leben abzuschließen gedenkst, um der Verehrung gegenüber Song Jiang damit Ausdruck zu geben?« »Ich kann Güte und Gnade nicht vergessen«, erwiderte Hua Rong. »Sein Andenken ist mir unvergeßlich. Auf dem Liangshan war ich ein Nichtsnutz, ein Verbrecher, doch glücklich entging ich dem Tod. Der Kampf stählte mich und machte einen ehrenwerten Mann aus mir. Nach der Amnestie durch den Kaiser habe ich mir bei den Feldzügen im Norden und Süden des Reiches zahlreiche Verdienste erworben. Ich genieße überall Ruhm und Ansehen. Doch wie es aussieht, zweifelt der Thron an meiner Aufrichtigkeit. Man wird nach Vorwänden suchen, um mich zu vernichten. Es wäre mir unerträglich, ein Opfer von Verrätern und Intriganten zu werden und einen unehrenhaften Tod zu sterben. Wenn ich mich daher entschließe, dir, Bruder, zu den Gelben Quellen zu folgen, dann deshalb, weil mein Name noch unbefleckt 354
Wir werden hier auf diese zusätzlichen Feldzüge nicht eingehen. Die Bearbeitung folgt im weiteren der Hundert-Kapitel-Fassung Shuihuzhuan, Peking: Renmin wenxue 1984.
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke ist.« »Bruder«, sagte Wu Yong, »bedenke wohl, ich bin ein alleinstehender Mann ohne irgendwelche Familienangehörige. Mein Tod ist von keinerlei Belang. Du jedoch besitzt Frau und Kinder, wie werden sie leben ohne dich?« »Die Familie ist kein Hinderungsgrund für meinen Freitod«, erläuterte Hua Rong. »Meine Frau und die Kinder haben ihr Auskommen und genügend Hilfe in der Verwandtschaft.« Daraufhin weinten die Männer und erhängten sich nebeneinander an dem Ast des Baumes. Als die mitgereisten Diener ihre Herren nach geraumer Zeit nicht zurückkehren sahen, eilten sie zum Grab und sahen, daß sich Wu Yong und Hua Rong erhängt hatten. Sie benachrichtigten die zuständigen Beamten am Ort, und man zimmerte zwei Särge, in denen die beiden neben Song Jiang beerdigt wurden. Im Gedenken an die Gnade, Tugend, Ehrbarkeit und Gerechtigkeit errichteten die Menschen von Chuzhou eine Gedenkhalle, um ihrer Verehrung stets Ausdruck geben zu 355 können.
Es ist, als ob Wu Yong und Hua Rong mit ihrem Freitod die vorher zumeist leer und ausdruckslos gebliebenen Begriffe wie »Loyalität« und »Gerechtigkeit« noch einmal bekräftigen und von verbliebenen Zweifeln »reinigen« wollten. In einer abschließenden Traumszene erscheinen Song Jiang und Li Kui noch einmal dem Kaiser und klären ihn über die Hintergründe des Anschlags auf. Doch die zur Rede gestellten Verschwörer bei Hofe weichen aus und entgehen einer Strafe. Mit dem dramatischen Romanende wird die zerstörerische Beziehung zwischen Song Jiang und Li Kui zu einem logischen Schluß geführt. Sinn und Zweck der gesamten Räubergemeinschaft sind damit aber letztlich hinterfragbar. Es blieb nicht aus, daß ein beliebtes Werk wie die Räuber Nachahmungen fand, die dann aber ganz unterschiedlich ausfielen. Während die Aufzeichnungen von der Niederschlagung der Räuber (Dangkouzhi) aus der Mitte des 19. Jahrhunderts einen ambitionierten Versuch darstellen, endlich aus der Tradition der Verehrung Song Jiangs und seiner Bande herauszutreten und sie in dem Licht zu zeigen, in dem sie sich historisch darstellen – eben als einfache Räuberbande –, gingen die ersten beiden Folgewerke aus dem 17. Jahrhundert ganz andere Wege. Die Spätere Erzählung vom Flußufer (Shuihu houzhuan) läßt eine Reihe von überlebenden Helden ihr Glück in der Ferne suchen – ein klarer Hinweis auf den Utopiegedanken, der sich bereits in der abgeschiedenen Bergfeste im Liangshan-Moor andeutete. In der womöglich etwas später entstandenen Fortsetzung der Erzählung vom Flußufer (Hou Shuihuzhuan) scheitert der Versuch des Fortzugs dagegen am Ende, nachdem siebenunddreißig Gestalten aus den Räubern als Inkarnationen auf die Erde zurückgelangt sind.356 Doch wir wollen der Reihe nach vorgehen. Anders als 355 356
Ebd., Kap. 100, S. 1390f. Welches von den beiden frühen Folgewerken zeitlich dem anderen vorausging, ist schwer nachzuweisen. ELLEN WIDMER: The Margins of Utopia, S. 197f., vermutet aufgrund inhaltlicher Aspekte, daß die Spätere Erzählung der Fortsetzung um einige Zeit vorausging.
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die anonym verfaßte Fortsetzung liegt uns mit Chen Chen ein konkreter Autor der Späteren Erzählung vor. Chen (ca. 1614–ca. 1666 bzw. 1696) stammte aus der Gegend um den Tai-See in der Provinz Zhejiang. Man geht davon aus, daß Chen sich auch in der vom Niedergang bedrohten Ming-Dynastie keinerlei Beamtenprüfungen unterzog, doch war er literarisch talentiert genug, in Ming-loyale Dichtergesellschaften wie die »Taozhi-Vereinigung« (Taozhi meng) aufgenommen zu werden, die sich zwischen 1650 und 1664 in der Gegend der Yangtse-Mündung traf und prominente Persönlichkeiten wie Gu Yanwu, Gui Zhuang, Wu Yan etc. zu ihren Mitgliedern zählte. Seine Ablehnung der Mandschu-Herrschaft brachte er daneben durch zeitweise Unterstützung von Anti-Qing-Bewegungen zum Ausdruck, an deren Aktionen er sich u.U. auch persönlich beteiligte. Chens Kummer und Enttäuschung über die Zustände der Zeit kommt auch in seinem dichterischen Werk zum Ausdruck und klingt wohl am deutlichsten in den »Neun Liedern« (Jiu ge) an, die auf den Sommer des Jahres 1662 datiert sind. Ich wurde geboren in der Wanli-Zeit [1573–1620] und bin dankbar für die Wohltaten dieser Zeit, die vielen Menschen heute fremd erscheinen. / Nachts ließ ich die Türen meines Hauses unverschlossen, am Tage aß ich mich satt. / Auf Reisen begab ich mich vollkommen unbewaffnet. 357 Die Wurzeln allen Übels liegen in den drei großen Expeditionen. Überall schossen Banden von Banditen wie Pilze aus dem Boden, alles steht mir klar vor Augen, doch nun ist es zu spät. 358 Ein Anhänger der alten Dynastie, vergieße ich heimlich Tränen.
Diesen einleitenden Versen folgt ein großes Lamento über Leid und Trauer der Menschen unter den fremden Herrschern sowie die nagenden Zweifel angesichts der eigenen Zukunft. Es spricht einiges dafür, daß Chen ebenfalls zu dieser Zeit die Spätere Erzählung verfaßte, die wenige Jahre darauf, im Jahre 1664, zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Die Verfasserzeit ist zum Teil an politischen Ereignissen jener Epoche festzumachen. So stimmt etwa der Name einer Romanfigur mit dem des koreanischen Prinzen Yi U überein, der China um die Mitte des Jahres 1663 auf einer Tribut-Mission besuchte. Der vierzig Kapitel umfassende Roman führt ein Szene gegen Ende der Hundertbzw. Einhundertzwanzig-Kapitel-Versionen der Räuber fort. Dort heißt es:
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Gemeint sind die Feldzüge gegen die Mongolen in Ningxia, die Japaner in Korea und ethnische Minderheiten in Guizhou. Nach der englischen Übersetzung bei WIDMER: The Margins of Utopia, S. 32.
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke Wie verabredet begaben sich Li Jun und seine beiden Freunde zu Fei Bao und den übrigen drei Männern. In dem Dorf Yuliu beratschlagten die sieben dann zunächst und beschlossen schließlich, ihr Geld für den Bau eines Schiffes zu verwenden, mit dem sie in der Folge vom Hafen Taicang in fremde Länder aufbrachen. Dort wurde Li Jun Herrscher von Siam, Tong Wei, Fei Bao, und die anderen erhielten Ämter als Beamte. Sie führten ein sorgloses Leben in der Fremde 359 und unternahmen weitere Eroberungen. Das ist es, was aus Li Jun wurde.
Vorausgegangen waren wenige Kapitel zuvor Schilderungen, in denen Li Jun und einige andere Männer ihr Glück in der Ferne suchten. Die Wahl Siams scheint dabei vollkommen willkürlich aus dem Wunsch eines exotischen Ortes heraus erfolgt zu sein. Der Fortsetzungsroman Chen Chens greift diese Szene auf und berichtet nun, wie die Gruppe um Li Jun aus Mißfallen über die politischen Zustände in China das Land verläßt und – geleitet von zahlreichen Prophezeiungen und himmlischen Zeichen – nach Siam segelt. Bei der Ankunft in dem als Inselreich geschilderten fremden Land erobert Li sogleich das Eiland Jin'ao und freundet sich in der Folge mit der Herrscherfamilie an. Ein Mitglied der Gruppe heiratet dann eine siamesische Prinzessin, die chinesischer Herkunft ist. In der chinesischen Heimat haben sich die übrigen der später insgesamt auf zweiunddreißig Männer vom Liangshan anwachsenden Gruppe in zwei Räuberlagern zusammengeschlossen, die in Shandong bzw. Hebei liegen. In den Wirren des Dynastiesturzes der Nördlichen Song beschließen die Männer schließlich, Segel nach Siam zu setzen, denn inzwischen sind sie von der dort unter Li Jun gebildeten Vorhut informiert. Man trifft gerade rechtzeitig ein, um Li in seinem Kampf gegen den bösen Kanzler Gong Tao und eine Reihe von Verschwörern zu helfen. Nach dem Sieg über die Verräter trägt die Königsfamilie Siams Li Jun die Herrschaft über ihr Reich an. Kurz nach seiner Inthronisierung erfährt Li Jun von Schwierigkeiten, in denen Kaiser Gaozong, Herrscher über die Südlichen Song, nahe der Grenze zu Siam steckt. Li rettet Gaozong das Leben und bringt ihn zurück in die nach Hangzhou verlegte Hauptstadt, wo der Kaiser ihm dankt und sich auch für das den übrigen LiangshanHelden angetane Unrecht entschuldigt. Li Jun regiert sodann weiter über Siam, das mehr und mehr unter chinesischen Einfluß gerät. Die zweiunddreißig Helden heiraten in der Fremde und führen ein glückliches Leben. Chens Spätere Erzählung gliedert sich in zwei ungleich große Teile, von denen der erste mit seinen dreißig Kapiteln die kritische Botschaft von den bedauernswerten Zuständen im Reich verkündet – festgemacht an dem Schicksal der einzelnen Helden, die nach und nach zusammenkommen und ihre vollständige Zahl von zweiunddreißig nurmehr in Kapitel 29 erreichen. Erst in den letzten zehn Kapiteln 359
Vollständige Erzählung vom Flußufer (Shuihu quanzhuan), Shanghai: Shanghai guji 1976, Kap. 119, Bd. 3, S. 1397f.
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kommt Chen auf das Los der Bande in der Fremde zu sprechen, wo die Männer aufgrund von Charisma, Güte und Mut ihr Glück machen. Es taucht die Frage auf, warum Chen Chen in seinem Roman angesichts der komplexen und schwierigen Probleme seiner Zeit in der Mehrzahl zu einfachen, mitunter an den Haaren herbeigezogenen Lösungen kommt. Die strenge Zensur unter den Qing erklärt das Bedürfnis nach Harmonie und einem »Happy-End« nur zum Teil. Vielmehr hat es den Anschein, als wollte Chen mit seiner Vision von einer Lösung der Probleme einer in der Erzählkunst jener Zeit häufig vorkommenden Konvention gerecht werden.360 Mit der glücklichen Heirat der Romanhelden im fernen Siam greift Chen Chen zudem ein Thema auf, wie es zahlreichen Dramen und Geschichten zu eigen ist und auch in den etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts aufkommenden stereotypen Romanen über »Talente und Schönheiten« (caizi jiaren) vorkommt.361 Die Fortsetzung der Erzählung vom Flußufer (Hou Shuihuzhuan) ist das Werk eines anonymen Verfassers (angegeben ist nur das Pseudonym »Herr des Grünen Lotos-Studios«) aus dem Ende der Ming- bzw. dem Beginn der Qing-Dynastie.362 Der früheste Druck stammt aus den ersten Jahren der Mandschu-Dynastie. Wohl nicht zuletzt die harsche Kritik am Status quo dürfte für die unfreundliche Aufnahme des Werkes in der zeitgenössischen Gelehrtenwelt ausschlaggebend gewesen sein. Immerhin sorgte eine Übersetzung ins Koreanische dafür, daß Fortsetzung überhaupt erhalten blieb.363 Der Roman rekapituliert zunächst das Ende der Bande vom Liangshan mit dem Selbstmord des Wu Yong und Hua Rong am Grabe Song Jiangs. Anknüpfungspunkt für die weitere Handlung ist die Gestalt des Yan Qing, der erst recht spät in den Räubern auftritt, sich dafür aber durch seine zahlreichen Fähigkeiten im gesellschaftlichen Umgang nicht zuletzt mit den Frauen stark von den übrigen Bandenmitgliedern abhebt und schließlich auch das Amnestieangebot an Song Jiang vermittelt. In der Fortsetzung treten als Wiedergeburten von Protagonisten aus den Räubern u.a. Yao'er (Song Jiang) und Mo'er (Lu Junyi) auf. Es spricht für die hohe erzählerische Qualität der entsprechenden Szenen in den Räubern, daß auch das Folgewerk eine Reihe davon in seinen Handlungsverlauf einbaut. Als Beispiel sei hier die Tiger-Szene mit Wu Song angeführt, die hier freilich keiner Wiedergeburt dieses Recken, sondern dem Yang Yao zugeschrieben wird, der eines Nachts in trunkenem Zustand in der Annahme, auf 360
Vgl. dazu auch WIDMER: The Margins of Utopia, S. 72f. Auch Chens Roman hat wiederum die Bühnen- und Erzählliteratur späterer Zeit beeinflußt. Thematische Bezüge sind bis in japanische Romane des 19. und 20. Jahrhunderts festzustellen. (Vgl. ebd., S. 200ff.) 362 Der Roman wurde hier bearbeitet nach der Ausgabe Shenyang: Chunfeng wenyi 1981. 363 Vgl. WIDMER: The Margins of Utopia, S. 197. 361
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke
einem Ochsen zu sitzen, einen Tiger zu Tode reitet. (Kap. 3) Wie eng sich der Verfasser insgesamt an seine Vorlage hält, belegt auch der Umstand, daß sich ähnlich wie in den Räubern unmittelbar anschließend an die Tiger-Szene die Darstellung eines Liebesdramas findet, das dem um Pan Jinlian, Ximen Qing und Wu Dalang nachempfunden ist und bei dem die Protagonisten nun der gehörnte Ehemann Tai Yuan, die schöne Wang Yuexian und der örtliche Frauenheld Huang Jin sind. Die Affäre endet nach einem Racheakt Tais mit sechs Toten ähnlich blutig wie in den Räubern. Neben dem Himmelsheldenberg – ein Hinweis auf die himmlische Herkunft der Bande – sind weitere Berge, auf denen sich aufrechte Recken versammeln, der Emei-Berg (an den sich Yang Yao zurückzieht) und der »Einhornberg« (Qilinshan), an dem Wang Mo (Mo'er) alias Lu Junyi mit seiner Adoptivfamilie als Räuber wohnt. Wang Mos vier Stiefbrüder sind jedoch eifersüchtig auf ihn und neiden ihm sein hohes Ansehen beim Vater. Da sie dem angenommenen Bruder nicht anders schaden können, tischen die vier dem Vater Wang Tu eine Geschichte auf, um die mangelnde Pietät des Ziehsohnes zu belegen. Jetzt meldete sich der vierte Sohn zu Wort: »Brüder, ihr wißt noch nicht, was mir mit dem fünften Bruder vor ein paar Tagen passiert ist.« »Was denn?« wollten die anderen wissen und taten ganz neugierig. »Nein«, zierte sich der vierte Sohn jetzt, »ich sag’s besser doch nicht. Hinterher denkt der Vater noch, ich wolle Mo nur schlecht machen, und ist mir böse.« »Schnell, erzähl, was du weißt!« drängte nun auch Vater Wang Tu, und so rückte der vierte Sohn endlich mit seiner Geschichte heraus. »Als ich mit dem fünften Bruder vor ein paar Tagen durch die Berge streifte, bemerkten wir auf dem Waldboden plötzlich ein Vogelnest mit zwei kleinen Spatzen darin. Das Nest mußte vom Baum gefallen sein. Die beiden Vögelchen piepsten ganz jämmerlich, ihr Gefieder war noch nicht getrocknet, und sie flatterten hilflos mit den Flügelchen. Gierig streckten sie ihre Hälse aus dem Nest, rissen die Schnäbel weit auf und schrien nach Futter. Wir konnten ihnen nicht helfen, doch sterben lassen wollten wir sie auch nicht, und so blickten wir uns suchend um. Da fiel unser Blick auf ein großes Vogelnest in der Nähe. Wir hoben also die Spatzen auf und setzen sie in das Nest auf dem Baum. Dort saßen sie nun, reckten ihre Hälse und sperrten hungrig ihre Mäuler auf. Nach einer Weile kam der große Vogel zurück, doch als er sah, daß die beiden Spatzen darin nicht zu seiner eigenen Brut gehörten, begann er aufgeregt über dem Nest zu flattern und ließ sich schließlich auf dem Ast eines anderen Baumes nieder, wo er schimpfend und schnatternd in Richtung seines Nestes sah. Die beiden kleinen Spatzen glaubten, ihre Mutter sei zurückgekommen und piepsten um so lauter, um endlich Futter zu bekommen. Da hatte der große Vogel irgendwann Mitleid, flog hinüber zu dem Nest und breitete seine Flügel schützend über die beiden Küken. Nach einer Weile flog er zum Boden hinab und kehrte bald darauf mit Würmern im Schnabel zurück, um die Spätzchen zu füttern, als wären sie seine eigene Brut. Ich empfand große Freude bei dem Anblick und war stolz darüber,
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN den Küken beim Überleben geholfen zu haben. Doch der fünfte Bruder stand neben mir und grinste versteckt. Auf meine Frage, warum er das tue, antwortete er: ›Sieh dir den großen Vogel an, wie er sich abmüht, um seine neue Brut zu schützen und aufzuziehen. Es wird nicht lange dauern, da werden den Spatzen Federn gewachsen sein, und sie werden den Vogel, der sie großzog, nicht mehr kennen.‹ Bei diesen Worten brach er in Tränen aus, und als ich ein weiteres Mal nach dem Grunde fragte, antwortete er nur, der Anblick der Vögel habe ihn 364 traurig gemacht.«
Aufgebracht interpretieren die Brüder die Begebenheit dahingehend, daß sich in ihr die Absicht des fünften Bruders verrate, sich bewußt nicht pietätvoll gegenüber dem Ziehvater zu verhalten. Auch dieser gelangt trotz der eigenwilligen Deutung der Geschichte, die ebenso zugunsten des Bruders ausgelegt werden könnte, zu dem bitteren Schluß, eine falsche Brut herangezogen zu haben – genug Grund, ihn nach einem weiteren Vorfall aus der Familie zu verstoßen. Wang Mo schließt sich Banditen an und findet Aufnahme auf dem Weißwolkenberg. Die Brüder nehmen sich zunächst aus der Entfernung wahr und kommen später zusammen, ohne freilich von ihrer gemeinsamen Herkunft zu wissen. Nach seiner Wahl zum Anführer hält Yang Yao eine programmatische Rede (Kap. 27), in der er verkündet, es anders als Song Jiang machen zu wollen, der zwar ein ehrenwerter und rechtschaffener Mann gewesen sei, aber durch seine Konzeptlosigkeit und Führungsschwäche zur Vernichtung der Brüderschaft beigetragen habe. Die Vorwürfe gipfeln in der Feststellung, daß Song nicht die Statur eines Fürsten besitze. Yang Yao gibt zu erkennen, daß er seine Aufgabe nicht darin sieht, die Zustände im Reich kämpferisch zu verändern, sondern die Bande geschlossen an einen Ort zu führen, wo sie noch etwas bewirken kann. Er hat von einer Insel gehört, die sich in achthundert Meilen Entfernung befindet und die sonst keinem anderen Ort vergleichbar sein soll. Hier wird also keine Verpflichtung gegenüber dem Kaiser oder dem Reich eingegangen, vielmehr soll die utopische Gemeinschaft an sich erhalten bleiben. Der Plan bleibt jedoch unausgeführt, ist die Bande doch in der Folge viel zu sehr mit sich selbst und ihren militärischen Auseinandersetzungen beschäftigt. Die Niederlage am Fürstenberg (Junshan) ist am Ende nicht zu vermeiden, doch flieht die Führungsgruppe der Bande durch einen geheimnisvollen Xuanyuan-Tunnel zum E'mei-Berg. Während einer Explosion im Tunnel finden die Männer den Tod, werden aber sogleich von einem Unsterblichen darüber aufgeklärt, daß sie nunmehr dem Rad der Wiedergeburt entkommen sind. In einer Schlußszene verschmelzen die sechsunddreißig Himmels- und die zweiundsiebzig Erdensterne zu einer schwarzen Wolke. Von einem ganz anderen Inhalt ist der siebzig Kapitel umfassende Roman Aufzeichnungen von der Niederschlagung der Räuber (Dangkouzhi) aus der Feder 364
Fortsetzung der Erzählung vom Flußufer, Kap. 20, S. 195f.
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke
des Yu Wanchun (1794–1849).365 Yu stammte aus der Gegend der heutigen Stadt Shaoxing in der Provinz Zhejiang. Es werden nicht zuletzt die unsicheren Zeiten gewesen sein, in denen Yu lebte (wenige Jahre nach seinem Tod brach der Aufstand der Taiping-Rebellen los), daß er in seinem Werk, an dem er laut Aussage von Verwandten mehr als zwanzig Jahre arbeitete und das erst gegen Mitte der vierziger Jahre vollendet wurde, sich vehement gegen jede Form des vom Volke ausgehenden Widerstands aussprach, die das Reich hätte gefährden können. Der Niederschlagung der Räuber liegt somit eine überaus »reaktionäre« Sichtweise zugrunde, in der die Banditen vom Liangshan nahezu wieder auf ein Format zusammenschrumpfen, das sie wohl bereits in sehr frühen Fassungen vor ihrer Heroisierung in Werken des Dramas und der Erzählkunst besessen haben mögen: eine gemeine Räuberbande, die es zu bekämpfen gilt. Wurde in der früheren Fassung der Räuber noch darauf hingewiesen, daß die Bande bei Überfällen auf Städte wohl den Besitz der Beamten an sich brachte, doch die Bevölkerung verschonte, so betont Yu Wanchun bei der Beschreibung entsprechender Szenen ausdrücklich, daß die Menschen aus dem Volk bei Überfällen keineswegs verschont blieben und ebenso Opfer wurden wie die Reichen und Beamten. Man kann zur Romanfortsetzung Yus stehen, wie man will, ein realistischeres Bild als bei den Vorläufern aus den früheren Jahrhunderten ergibt sich bei ihr allemal. Dementsprechend wird auch Song Jiang aller Heldenhaftigkeit entblößt, wobei der Autor so weit geht, die Männer in der Feste zu ganz jämmerlichen Gestalten zu reduzieren: Song Jiang bricht nach jeder Niederlage seiner Bande in Tränen aus, pinkelt sich bei Schreckensbotschaften vor Furcht in die Hose. Stratege Wu Yong hat plötzlich das Nachsehen in der Auseinandersetzung mit der Amazone Liu Huiniang, und der einstige Meisterschütze Hua Rong fällt im Kampf, nachdem ihn ein Pfeil seiner Gegnerin Chen Liqing getroffen hat. In der logischen Folge blendet Yu Wanchun daher in seinem Folgewerk zu den Räubern die in den Kapiteln 71–100 bzw. 120 beschriebenen Verdienste der Bande im Kampf gegen die Kithan, Fang La etc. aus und setzt mit der Handlung unmittelbar am Ende der Jin-Shengtan-Fassung ein. Äußerlich kennzeichnet Yu das, indem er keine neue Kapitelzählung vornimmt, sondern mit Kapitel 71 einsetzt. Entsprechend einseitig ist der Blick in den Vorworten und zeitgenössischen Anmerkungen zum Roman.366 Der Tenor darin ist, daß die Heroisierung der Bande nur zu Übel und Unglück im Reich geführt und dem Kaiserhaus zahlreiche Bürden auferlegt habe. Besonders eindringlich schildert der Verfasser selbst sein Anliegen: 365
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Der Bearbeitung zugrunde liegt die Ausgabe Peking: Renmin wenxue 1985. Im ersten Druck aus dem Jahre 1853 nach dem Tode des Verfassers erhielt der Roman den Titel Abschluß der Erzählung vom Flußufer (Jie Shuihuzhuan), was vermutlich verlegerische Gründe hatte und die Attraktivität des Werkes steigern sollte. Eine Reihe davon finden sich im Anhang der o.g. Ausgabe, Bd. 2, S. 1044–1055.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Treue und Gerechtigkeit lassen sich niemals mit Banditentum vereinbaren. Seit Luo Guanzhong in seiner Erweiterung zu den Räubern den Song Jiang als ein 367 Muster von Loyalität und Aufrichtigkeit darstellte, hat es im Reich unzählige Banditen und Räuber gegeben, die seinem Beispiel nacheiferten: im Herzen ein Verbrecher, in den Worten ein treuer und ehrlicher Mann. Da werden Mord und Brandschatzung plötzlich zum ehrenwerten Geschäft, verlieren Vandalismus und Raub alles Abscheuliche, sind Entführungen und Überfälle auf Dörfer und Städte ein Akt der Gerechtigkeit. Sagen Sie selbst, lieber Leser, geht dies wirklich an? Solches unterstützen kann nur jemand, der von grundauf verdorben und 368 schlecht ist.
Der alten fragwürdigen Heldengestalten im Roman beraubt, entwirft Yu Wanchun das Bild einer Reihe aufrechter und regierungstreuer Männer und Frauen, die sich im Kampf um das Wohl des Reiches echte Verdienste erwerben. Am Ende gelingt es, den Liangshan zu erobern und die Führungsgruppe von sechsunddreißig Generälen einschließlich Song festzunehmen und in die Hauptstadt zu bringen, wo niemand dem Beil des Henkers entkommt. Soviel zur groben Handlung. Der Roman, der wohl die Länge der SiebzigKapitel-Fassung des Jin Shengtan haben dürfte, ist in Wahrheit der breit angelegte Versuch, die Geschichte vom Dienst des Song Jiang gegenüber der Dynastie und dem Kaiser zu widerlegen. Da bleibt es nicht aus, daß auch die Schergen bei Hofe, die einst den Mord an Song und der übrigen Räuberbande planten, plötzlich in die Nähe des Rebellen rücken. Ganz aus der Tradition jahrhundertealter Überlieferungen, die für die Beliebtheit Songs und seiner Männer sprechen, kann sich jedoch auch Yu Wanchun nicht stehlen, und so läßt er Song Jiang wenigstens nach dessen Gefangennahme noch ein wenig Gerechtigkeit widerfahren, wenn er die Ansichten der Bevölkerung reflektiert und die Abneigung gegen den Banditen zumindest ein bißchen relativiert. Song Jiang und die sechsunddreißig führenden Mitglieder der Bande knieten gefesselt außerhalb der Treppe zur Thronhalle. Die Menschen aus der ganzen Stadt strömten herbei, um dem Spektakel beizuwohnen. Nach den Feiern zur Niederschlagung der Aufstände Fang Las hatte die Bevölkerung in der Vergangenheit bereits einen Blick auf die imponierende Erscheinung des Oberkommandierenden Zhang Shuye werfen können, und auch diesmal ließen sie es sich nicht nehmen, 367
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Dieser Bemerkung liegt die Annahme zugrunde, daß die Siebzig-Kapitel-Fassung auf Shi Nai'an bzw. Jin Shengtan zurückgeht und Luo Guanzhong für die längeren Versionen von einhundert bzw. einhundertzwanzig Kapiteln verantwortlich zeichnet. Dieses Verfasservorwort zur »Entstehung der Aufzeichnungen von der Niederschlagung der Räuber« (Dangkouzhi yuanqi) findet sich nicht in den o.g. Anhang der chinesischen Ausgabe sondern als Zitat in der Enzyklopädie der alten Romane und Erzählungen Chinas (Zhongguo gudai xiaoshuo baikequanshu), Peking: Zhongguo baikequanshu-Verlag 1993, S. 53.
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»Räuberpistolen« – Die Räuber vom Liangshan-Moor und Folgewerke voller Staunen einen Blick auf den Helden zu erhaschen. Nicht zuletzt die Neugier auf Song Jiang lockte die Menschen vor den Palast, als wollten sie sich überzeugen, ob er tatsächlich, wie es im Volksmund hieß, »drei Köpfe und sechs Arme« besaß. Einige bekundeten ihr Mitgefühl mit Song Jiang und darüber, wie übel ihm damals von den Beamten mitgespielt worden sei, so daß er keine andere Wahl gehabt habe, als unter die Räuber zu gehen, mit der Folge, daß er jetzt vor die Richter trete; andere wiederum meinten, Song Jiang sei ein loyaler und aufrechter Mann, warum man ihm denn keine Amnestie gewährt habe, anstatt seine Festnahme zu betreiben. Die mit den wahren Vorgängen Vertrauteren jedoch bekundeten, daß Song Jiang ein falscher und hinterhältiger Kerl sei, der sich nach außen treu und gerecht gebe, in Wahrheit aber von Grund auf schlecht und durchtrieben sei. Oder wie war es sonst zu werten, wenn er wahllos raubte und plünderte und die Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, hinschlachtete? Mit seinen Taten hatte er sein wahres Antlitz als grausamer 369 Bandit gezeigt. Wild diskutierten die Menschen auf dem Platz durcheinander.
Yu Wanchun will mit seinem Werk die einzig gültige Version vom Schicksal der Bande vom Liangshan liefern und beansprucht für sich, die Intention von Autoren wie Shi Nai'an und Jin Shengtan fortzuführen, wenn er in einem dem letzten Romankapitel angefügten »Abschluß« (jiezi) schreibt: Ich habe mich hier an das gehalten, was bereits von Shi Nai'an und Jin Shengtan vorgezeichnet wurde. Weder hat Song Jiang eine Amnestie erhalten, noch setzte er sich für das Reich ein. Geschweige denn daß er sich an den Feldzügen gegen Fang La beteiligte oder etwa als treuer Minister geboren wurde und später in den Götterpantheon einging. Es ist auch unwahr zu schreiben, Li Jun sei ins Ausland geflüchtet und Herrscher von Siam geworden. Das ist alles Wunschdenken von zweifelhaften Gestalten, die selbst Anlagen zum Banditentum in sich tragen und den einhundertundacht Helden nacheifern wollen. Doch ach, in einer friedlichen Welt, in der Gesetz und Ordnung herrschen, ist kein Platz zur Entfaltung ihrer Neigungen, und so schwelgen sie in Erinnerungen an die Heldenhaftigkeit der Banditen, erheben Vorwürfe gegen den Thron und machen sich Gedanken darüber, wie man sich als Verbrecher möglichst erfolgreich durchs 370 Leben schlägt.
Mit dieser literarischen Deutung sind alle Folgeromane der Räuber, die noch den Geist der früheren Fassungen atmen, plötzlich hinfällig.
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Aufzeichnungen von der Niederschlagung der Räuber, Kap. 138, Bd. 2, S. 993. Ebd., S. 1037f.
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3. »Märchen für Erwachsene« – Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer Was ist Trivialliteratur?371 Die Frage ist schwer zu beantworten, denn in ihr schwingt bereits eine Wertung mit. Wer von »Trivialliteratur« spricht, der setzt voraus, daß es anspruchsvollere und weniger anspruchsvolle Themen, Formen und Werke der Literatur gibt, die sich einem objektiven Klassifikationsmaßstab unterwerfen lassen. Wie vielen »Klassikern« aber mag es beschieden gewesen sein, bereits in der Gegenwart als solche erkannt zu werden und die Anfechtungen durch Geschmack, Mode, Trend, Rezeptionsweise und Kritik jahrzehnte- oder jahrhundertelang zu überdauern? Was heute literarisch en vogue ist, mag morgen oder spätestens übermorgen als kitschig und abgeschmackt gelten und unter dem Stempel des Trivialen der Vergessenheit anheimfallen. Ein Kriterium scheint es dennoch zu geben, nämlich die Zahl der Leser in der Zeit. Das anspruchsvolle, klassische Werk wird die Zeiten womöglich in kleinen, aber immer neuen Auflagen überdauern und irgendwann vielleicht sogar Gegenstand eines Liebhaberkreises werden. Werke der Trivialliteratur dagegen bereiten einer großen Zahl von Lesern nur über kurze Zeit hinweg Freude, und nur den besten Titeln mag es gelingen, einmal eine Neuauflage zu erleben und unter die Klassiker dieses Genres aufgenommen zu werden. Der Trivialroman will unterhalten, dies ist sein erstes Anliegen. Mit schneller, spannender Lektüre wird der Leser gefesselt, entführt in eine Welt der Phantasie, in der oft nur noch bestimmte Namen und Orte mit der Realität übereinstimmen. Die Handlung bleibt meist vordergründig, im Mittelpunkt stehen Liebe und Haß, Recht und Unrecht, Abenteuer, Gewalt, Mord und ähnliches. Da die Stereotypen von Tätern und Opfern, Verfolgten und Liebenden nahezu in beliebiger Zahl wiederholbar sind, werden Helden – wenn überhaupt – nur in der Serie erkennbar. Angenommen, ein Chinese käme zu uns und wollte typische Werke der Trivialliteratur kennenlernen. Vermutlich würde man ihm Titel der Kriminalliteratur von Jerry Cotton und Maigret bis hin zu Romanen und Erzählungen Agatha Christies, Raymond Chandlers etc. nennen, dazu vielleicht noch etwas aus der neueren Fantasy-Literatur oder gar – um es ganz ins Phantastische übertreten zu lassen – einen Perry Rhodan? Was mag dem westlichen Literaturliebhaber dagegen in China und an den Orten der chinesischen Diaspora empfohlen werden, wenn er sich nach autochthonen 371
Zur Frage der Trivialliteratur in der chinesischen Literatur vgl. auch THOMAS ZIMMER: »Schlechter Wein. Zhu Guangqian (1897–1986) und das Problem der Trivialliteratur«, in: minima sinica 1/1997, S. 41–54.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer
Werken der Trivialliteratur erkundigt? Sehr wahrscheinlich wird man ihm Titel der »Erzählungen und Romane von bewaffneten Helden« (wuxia xiaoshuo) ans Herz legen – bis in die Gegenwart eines der beliebtesten literarischen Genres, das sich vor allem unter den Überseechinesen großer Beliebtheit erfreut, wie die zahlreichen Titel belegen, die in keinem chinesischen Buchladen der Chinatowns von Los Angeles bis Paris fehlen. Die chinesischen »Ritterromane« aus der Feder eines Liang Yusheng (geb. 1922), Gu Long (1936–1985) oder Jin Yong (geb. 1924) sind dabei heute längst zu Klassikern avanciert – gerade vor dem Hintergrund der zahllosen Epigonen. Es ist die bewußte Reduzierung auf einfache Schemata von Gut und Böse, Held und Unhold, sowie die Anpreisung von Tugenden wie Treue, Ehrlichkeit, Kühnheit und Mut, die die Welt der chinesischen Ritter als »umherziehender Helden« (youxia) ins Ideale führt, angedeutet auch in einigen weiteren Termini, mit denen man die Protagonisten dieses Romangenre bezeichnet, wie etwa »Held, herausragender Mann« (yingxiong) oder »großer Mann« (zhangfu) für die Herren gehobenerer Herkunft bzw. die plebejischeren Vertreter des »guten Kerls« (haohan) oder ganz allgemein »außergewöhnlicher Mann« (fei changren). Nicht nur die edlere Denkungsart, sondern auch körperliche Stärke bis hin zu phantastischen Fähigkeiten in der Kampfkunst rücken den chinesischen Ritter als Helden im Kampf gegen das Böse in die Nähe des »Superman« in amerikanischen Comics. Die Erprobung durch das Abenteuer ist der eigentliche Sinn der ritterlichen Idealexistenz. In der Welt, in der der Ritter sich bewähren will, scheint für nichts anderes als das Abenteuer Platz zu sein. Die Welt ist eigens für den Ritter geschaffen.372 Bild und Wesen des Ritters im Reich der Mitte sind offenbar mit keiner Hauptrichtung des Denkens in Übereinstimmung zu bringen. Es hat den Anschein, als habe das Rittertum seine eigene Ideologie entwickelt und sei weniger von Stand und sozialer Rolle als vielmehr vom Temperament bestimmt. Dies wird wohl auch einer der Gründe dafür gewesen sein, daß die xia anders als die Rittergestalten in Europa sich keinerlei Institution unterstellten und auch keine Bindung an den Glauben aufwiesen. Während die europäische »Ritterlichkeit« unbedingt die Kultivierung bestimmter Manieren voraussetzte, und neben der Bewährung im Kampf auch Höflichkeit und Charme gepflegt wurden, um das Herz einer schönen Frau zu erobern, verwiesen die Bilder chinesischer Rittergestalten meist auf rauhe, ungehobelte Kerle, die der Liebe kaum Beachtung schenkten. Vielmehr enthielt man sich jeglicher Sexualität in dem Glauben, auf diese Weise Kraft für den Waffengang zu sparen. Auch die Lebensumstände der Ritter hier wie dort weisen beträchtliche Unterschiede auf: Bewohnte man in Europa zumeist Burgen und Festungen, zogen die chinesischen Ritter die Wildnis als Aufenthaltsort vor. 372
Zum chinesischen Ritterroman vgl. KAI PORTMANN: Der Fliegende Fuchs vom Schneeberg. Die Gattung des chinesischen Ritterromans (wuxia xiaoshuo) und der Erfolgsautor Jin Yong, Bochum: Brockmeyer 1994 (= Chinathemen Bd. 77).
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Legte der abendländische Ritterheld Rüstungen und Kettenhemden an, um sich auf den Kampf mit schweren Waffen vorzubereiten, hielt man es in China eher mit leichter, bequemer Kleidung und kurzen Hieb- und Stichwerkzeugen – eine unbedingte Voraussetzung auch für die Anwendung traditioneller asiatischer Kampfarten,373 die zudem anders als in Europa eine Benutzung von Reittieren weitgehend verhinderte.374 Lediglich die Orientierung des eigenen Handelns an bestimmten Tugenden und Moralvorstellungen wie Gerechtigkeitssinn, Mut, Loyalität, Selbstlosigkeit, Ruhm und Ehre scheint etwas Verbindendes zwischen den Ritterbildern hier wie dort darzustellen. Die Beliebtheit des Stoffes über die xia in der Literatur macht hier durchaus ein moralisches Dilemma deutlich. Zwar betonen Heldengeschichten und Heldenverehrung die Gültigkeit grundlegender Werte, scheinen die überragenden Gestalten gerade in Zeiten der Bedrohung die soziale Stabilität aufrechtzuerhalten, doch droht die Heroisierung zumindest aus der Sicht der konfuzianischen Herrschafts- und Beamtenwelt starke Persönlichkeiten dazu zu ermutigen, die Gesetze zu ignorieren und unorthodoxe Wege zu beschreiten.375 Ihren Eingang in die Erzählliteratur dürften die Stoffe über die ritterlichen Heldengestalten während des 4./5. Jahrhunderts gefunden haben. Zumindest weisen einige kurze Werke wie »Das Dreikönigsgrab« (Sanwangmu) oder das »Li Ji« aus Gan Baos Sammlung Aufzeichnungen über Geister (Soushenji) bereits entsprechende Eigenschaften auf. Vor allem die mit übermenschlichen Fähigkeiten und allerlei Zauberkräften ausgestatteten Heldengestalten geben Inhalte vor, wie sie später in zahlreichen längeren und kürzeren Erzählungen und Romanen wieder auftauchen. Ein frühes prominentes Beispiel dafür ist die »Erzählung von Qiu Ranke« (Qiu Ranke zhuan) des Tang-Literaten Du Guangting (850–933). In der Zeit der Wirren während der Sui-Herrschaft angesiedelt, erzählt die Geschichte, wie der Ritter Qiu Ranke mit dem späteren Kaiser Li Shimin (627–649 im Amt) zusammentrifft, dessen Überlegenheit anerkennt und nicht weiter um die Vorherrschaft im Reich streitet. Mit dem historischen Hintergrund, den Themen wie Liebe und Rache sowie den angeführten übermenschlichen Fähigkeiten einzelner Helden weist die Erzählung bereits wesentliche Merkmale des Genres der wuxia-Erzählungen und 373
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Vgl. ebd., S. 7f.; s.a. JAMES J. Y. LIU: The Chinese Knight-Errant, London: Routledge and Kegan Paul 1967, S. 15f. Vgl. auch HOU JIAN: »Über den Ritterroman« (Wuxia xiaoshuolun), in: DERS.: Vergleichende Literaturwissenschaft zu chinesischen Romanen (Zhongguo xiaoshuo bijiao yanjiu), Taipeh: Dongda tushu 1983, S. 181. Auch terminologisch wird der Unterschied im Chinesischen deutlich. Während für den in Faustkampf und Schwertkunst bewanderten Helden je nach Fertigkeit die Begriffe wuxia bzw. jianxia zutreffen, lautet die Bezeichnung für den mit einem Reittier ausgestatteten Ritter westlichen Zuschnitts qishi. Vgl. zu dieser Einschätzung auch ROBERT RUHLMANN: »Traditional Heroes in Chinese Popular Fiction«, in: ARTHUR F. WRIGHT (Hg.): Confucianism and Chinese Civilization, Stanford, Cal.: Stanford UP 1975, S. 154.
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Romane auf. Andere literarische Werke der Zeit, die das Thema der Ritter aufarbeiten, sind zum Beispiel »Der Sklave vom Kunlun-Berg« (Kunlun nu) oder »Die Erzählung vom roten Faden« (Hongxian zhuan).376 Ob, wie in der chinesischen Literaturwissenschaft vielfach behauptet, ausgerechnet die Räuber unter Hinweis auf die an »Treue und Gerechtigkeit« (zhongyi) orientierten Helden als der erste echte Ritterroman Chinas gelten dürfen, sei hier angezweifelt, wenngleich gewisse Romangestalten (wie z.B. Li Kui) bestimmte archetypische Elemente des Ritters in sich bergen. Im übrigen jedoch hat man, zumindest wenn man die Romanversion Jin Shengtans aus dem 17. Jahrhundert zugrunde legt, bei weiten Teilen den Eindruck, daß das Werk sich auf ähnlich distanzierende Weise wie Cervantes' Epos Don Quichotte über den »Ritter von der traurigen Gestalt« mit dem ganzen Problemkomplex des ritterlichen Ethos auseinandersetzt. Dies hat freilich nicht verhindert, daß später eine Reihe von Werken wie Die grüne Päonie (Lü mudan) oder Der Garten des Frühlingserwachens (Zheng Chunyuan) mit ihren Schilderungen von »aufrechten und ehrlichen Ritter-Banditen« (zhongyi daoxia) bewußt versuchten, sich in der Tradition der Räuber zu bewegen. Spätestens seit der Qing-Dynastie fanden Elemente des Ritterromans auch Aufnahme in den Kriminalroman (gong'an xiaoshuo), auf den wir aber noch gesondert zu sprechen kommen werden. Mit einem prominenten Beispiel, der Erzählung vom heldenhaften Liebespaar (Ernü yingxiongzhuan), soll hier dagegen die Verknüpfung der Traditionen des Ritter- und Liebesromans aufgezeigt werden. Die Sieben Schwertritter und dreizehn Faustkämpfer (Qi jian shisan xia) mögen schließlich einen Ausblick auf die später so populären Werke des Genres geben, in denen die Helden über phantastische Fähigkeiten verfügen. Bevor wir jedoch auf diese späten Werke des Genres zu sprechen kommen, die in der Mehrzahl bereits aus dem 19. Jahrhundert stammen, wollen wir einen Blick auf zwei Romane tun, welche noch zum Ende der Ming-Dynastie verfaßt worden sind und zahlreiche Merkmale des Abenteuer- bzw. Ritterromans aufweisen. Es handelt sich um Die verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen (Chan zhen yishi) sowie das Folgewerk Die spätere Geschichte von Mönchen und Heiligen (Chan zhen houshi), die beide einem ansonsten unbekannten Verfasser namens Fang Ruhao zugeschrieben werden.377 Wenn die Annahme zutrifft, daß aus der Feder Fangs auch ein weiteres umfangreiches Erzählwerk mit dem Titel Mission 376
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Vgl. dazu etwa LIANG SHOUZHONG: Der chinesische Ritterroman früher und heute (Wuxia xiaoshuo hua gujin), Hongkong: Zhonghua shuju 1990, S. 1–8. Der Bearbeitung liegen zugrunde: Chan zhen yishi, Harbin: Heilongjiang renmin 1986; Chan zhen houshi, Peking: Renmin Zhongguo 1993. KEITH MCMAHON hat beide Romane in seinem Causality and Containment in Seventeenth-Century Chinese Fiction, Leiden u.a.: Brill 1988, S. 106–126 behandelt und als typische Vertreter des Romans der späten MingZeit bezeichnet.
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in den Westen (Dongduji, Vorwort auf das Jahr 1635 datiert) hervorgegangen ist, dann dürfte er einer der produktivsten Verfasser früher chinesischer Erzählliteratur gewesen sein. Die Verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen liegt in vierzig Kapiteln vor und spielt zur Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420–589), als das Reich in eine Reihe kleiner Staaten aufgeteilt war. Mit der beschriebenen Kleinstaaterei in einem nicht geeinten China – hier vor allem dem Wechsel in der Erzählung zwischen den Nördlichen Wei (386–535) und den Liang (503–589) – hat der Roman ganz deutliche Bezüge zu den Drei Reichen. Neben der Historie weisen auch die übrigen Schwerpunktthemen der Verlorenen Geschichte von Mönchen und Heiligen das Werk ganz deutlich als in der Tradition der »Vier großen Meisterwerke« (si da qishu) stehend aus: Die Problematik von Liebe und Erotik ist in weiten Teilen dem Jin Ping Mei nachempfunden, die mythisch-phantastischen Aspekte verweisen auf Die Reise in den Westen, und die Beschreibung der Räuberbanden läßt die Tradition der Räuber erkennen. In einem der der Verlorenen Geschichte von Mönchen und Heiligen vorangestellten Vorworte beansprucht der Verfasser denn auch Gleichrangigkeit mit den vorgenannten Meisterwerken. Die Verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen ist recht deutlich in zwei gleich große Teile zu gliedern, von denen der erste (Kap. 1–20) das Schicksal des zum buddhistischen Glauben übergetretenen Generals Lin Shimao aus dem Reich der Nördlichen Wei berichtet und sich intensiv mit Problemen aus dem religiösen Bereich auseinandersetzt, wobei die Vorbehalte gegen den Klerus mit einigen dem Zeitgeschmack entsprechenden deftigen Passagen gewürzt werden, während der anschließende zweite Teil überwiegend von Lins Schüler Du Fuwei erzählt und der inhaltliche Schwerpunkt dieses Abschnitts eher in den Kampf- und Kriegsszenen liegt. Die Brüche in der Themengewichtung sowie die erzählerisch verdichtenden Prosaeinschübe gemeinsam mit seiner derben Sprache weisen das Werk als ein Beispiel für die frühe Entwicklungsstufe dieses Genres aus.378 Das Niveau des spannenden Romanauftakts der ersten Kapitel wird leider nicht durchgehend beibehalten. Wie in kaum einem anderen großen Erzählwerk der Zeit beleuchtet der Autor dazu Probleme des Glaubens und der Religion in zahlreichen Aspekten: die Belastungen, die der Bevölkerung durch den Bau von Tempeln auferlegt werden; die Fragwürdigkeit des Zölibats; Wiedergeburt und Erlösung von weiteren irdischen Existenzen – es bleibt kein Thema ausgespart. Was Die verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen neben den oben angeführten Merkmalen als ein typisches Werk aus dem Ende der Ming-Zeit kennzeichnet, ist der Umgang mit Erotik und Sexualität. Weniger die Freuden als vielmehr die Probleme der Erotik im jeweiligen persönlichen Umfeld der Menschen, angefangen von der Jungfräulichkeit über die ersten sexuellen Erlebnisse 378
Vgl. dazu auch CAI GUOLIANG: Untersuchungen zum Roman der Ming und Qing (Ming Qing xiaoshuo tanyou), Hangzhou: Zhejiang wenyi 1985, S. 1–12.
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bis hin zur Homosexualität, stehen im Mittelpunkt.379 Die Freude des Autors an der Schilderung dieser Szenen ist geradezu mit Händen greifbar. In der Nachbarschaft des Maoxing-Klosters wohnt ein Mann namens Shen Quan, ein verarmter Sproß aus gutem Hause. Seine junge und hübsche Frau Li Saiyu unterhält die Familie mit Näharbeit. Eines Tages begibt sie sich ins MiaoxingKloster, um ein Holzschiff zu bewundern, das von einem Gläubigen gestiftet worden ist. Durch Zufall begegnet ihr der Mönch Zhong Shoujing, dessen Herz beim Anblick der Frau in Liebe entbrennt. Nachdem die beiden in der Folge noch einmal aufeinandergetroffen sind, träumt Zhong abends von einer schönen Frau, die ihn aufsucht und um Sutrenlesungen bittet. Der Mönch möchte die Dame zunächst zu einer Speise in seine Zelle führen. Die Frau lehnte die Einladung keineswegs ab, ließ sich vielmehr von dem Abt an der Hand zu seiner Zelle führen. Ein Gefühl der Lust überkam den Mann, er drängte sich ganz dicht an die Frau heran und fragte leise: »Sind Sie wirklich nur wegen der Sutrenlesungen gekommen, oder haben Sie vielleicht noch etwas anderes auf dem Herzen, meine Dame?« Die Frau senkte ihren Blick und lächelte vorsichtig. »Ich will Hochwürden nichts verheimlichen. Mich plagen des öfteren Unterleibsschmerzen, ich möchte, daß Ihr in einem Gebet um einen Sohn für mich bittet.« »Keine Sorge, meine Dame«, erwiderte der Abt daraufhin, »ich verfüge über eine Medizin, die Eurem Leib unverzüglich Wohlbefinden verschaffen wird und die Geburt eines Sohnes garantiert.« »Ihr wißt gar nicht, wie glücklich Ihr mich mit solch einer Medizin machen würdet, Hochwürden.« »Ich darf euch versichern, daß es sich um eine ganz besondere Medizin handelt, die Ihr bei keinem der Quacksalber in der Stadt findet«, hub der Abt noch einmal an, »Ihr solltet sie euch daher etwas kosten lassen.« »Aber darauf war ich nicht vorbereitet«, rief die Frau bestürzt aus, »ich habe nichts bei mir.« »Aber meine Dame, Ihr werdet doch sicher etwas finden, das Ihr mir überlassen könnt«, entgegnete der Abt mit einem vielsagenden Blick. »Nein, wirklich, ich habe nichts.« »Und ob Ihr etwas habt«, entgegnete der Abt in festem Tone, wobei er mit der Hand auf den Schoß der Frau wies. »Dort, das ist euer Schatz, nichts anderes mag ich haben.« »Verdammter Wüstling«, rief die Frau lachend, »Ihr macht euch lustig über mich.« Der Abt war unterdessen in sehr starke Erregung geraten. »Wenn die mir heute durch die Lappen geht, sehe ich sie so schnell nicht wieder«, dachte er bei sich. Daher scherte er sich nicht weiter um Einwände der Frau, sondern lüftete sein Kutte und wies auf sein Glied mit der Bemerkung: »Hier, dieser kleine Mönch hat die Medizin, von der ich soeben sprach. Ist unbedingt zu empfehlen. Sie bekommen die Blutungen damit in den Griff, das Kind wird mit Sicherheit ein Sohn. Ihr Leib wird sich beruhigen, und Sie werden ein nie erlebtes Glücksgefühl verspüren.« Kichernd hielt sich die Frau den Mund. Die beiden waren gerade dabei, sich zu vereinigen, als plötzlich ein rotgesichtiger Mönch hinzusprang und mit lauter Stimme rief: »Was treibt ihr beiden denn da, 379
Vgl. dazu MCMAHON: Causality and Containment, S. 106f.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN los, laßt mich auch einmal!« Damit riß er die Frau an sich und drückte ihr einen Kuß auf den Mund. Eine grenzenlose Wut packte den Abt, als er sich von dem ersten Schreck erholt hatte. Er griff nach einer Steintafel und schlug nach dem rotgesichtigen Mönch, doch dieser duckte sich und griff seinerseits an. Die beiden Männer stürzten zu Boden. Verzweifelt versuchte der Abt, den anderen über sich abzuschütteln, doch vergeblich. »Hilfe! Mörder!« rief er, und mit einem 380 Schrei erwachte er aus dem Schlaf.
Es handelt sich um einen vordergründig einfach zu deutenden Traum, der über die sexuellen Phantasien des Zhong Shoujing Auskunft gibt. Der rotgesichtige Mönch könnte die Sorge vor einem Konkurrenten symbolisieren. Daß es sich nicht nur um einen psychologisch zu deutenden Traum, sondern um eine mehr oder weniger verschlüsselte Vorhersage handelt, erfährt der Leser ein wenig später. Dem Abt ist es in der Zwischenzeit gelungen, die junge Frau Li mit Hilfe einer listigen Kupplerin in das Kloster zu schaffen. Alleingelassen sieht sich Li Saiyu bald dem geilen Geistlichen gegenüber. Er umgarnt sie, flüstert ihr die süßesten Worte ins Ohr, bis man schließlich auf das Lager sinkt. Die beiden wollen soeben mit dem Liebesspiel beginnen, als die Frau vor lauter Schmerzen im Unterleib zusammenbricht. Erst nach geraumer Zeit, nachdem Zhong ihr einen Tee gebracht hat, erholt sie Li Saiyu. Endlich gedenkt der Abt, ihr den Gürtel zu lösen, da wartet die Frau mit einer neuen Botschaft auf: Sie hat ihre Monatsblutungen, lehnt es daher nicht zuletzt mit Hinweis auf die Nähe Buddhas ab, sich auf das »blutige Geschäft« einzulassen. »Unser Buddha ist gnädig, der schert sich um so etwas nicht«, bemerkte Zhong Shoujing trocken. Er mochte kaum noch an sich halten, so sehr gierte er den bevorstehenden Freuden der Liebe entgegen. Schließlich verlor er die Gewalt über sich, hastig umschlang er Li Saiyu mit der einen Hand, während er mit der anderen begann, in ihrer Wäsche zu fummeln. Nervös rutschte Li Saiyu hin und her, als er ihr auch schon in den Schritt griff. Stutzig rief Zhong Shoujing da mit einem Mal: »Liebste, warum bis du denn so aufgeregt, jetzt hast du dir in die Hosen gemacht.« »Unsinn, du dummer Kerl«, rief Li Saiyu da, »zieh nur deine Hand hervor, dann wirst du sehen, ob ich in die Hosen gemacht habe oder nicht.« Als Zhong seine Hand hervorzog, waren seine Finger über und über mit Blut beschmiert. »Was ist das?« rief er erstaunt aus. »Bist du krank?« – »Das habe ich dir doch eben zu erklären versucht«, lachte Li, »dieses Blut stammt von meinen Monatsblutungen, alle Frauen haben das. Mit dieser Hand darfst du auf jeden Fall in der kommenden Zeit keine Räucherstäbchen entzünden und nicht in die Nähe der Sutren kommen!« Gründlich reinigte Zhong seine Hände und erzählte ihr dann den Traum, den er in der Neujahrsnacht gehabt hatte. »Jetzt weiß ich endlich, was dieser rotgesichtige Mönch bedeutet. Oh, du kannst dir nicht vorstellen, wie ich ihn gehaßt habe. Dabei war er nur ein Hinweis auf 380
Verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen, Kap. 5, S. 63f.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer deine Monatsblutungen. Na, da kann man nichts machen, bin halt doch nur ein armes Mönchlein.« »Geduld«, rief Li Saiyu, »wir werden unsere Gelegenheit 381 schon noch bekommen.«
Die sich nun entwickelnde Affäre erinnert entfernt an die zwischen Pan Jinlian und Ximen Qing im Jin Ping Mei, ist doch mit der Gestalt der Alten Zhao (Zhao po) ebenfalls eine Kupplerin beteiligt, die den Liebenden zum Stelldichein verhilft. Shen Quan, der gehörnte Ehemann, wagt sich nach Geschäften, zu denen er nach auswärts aufgebrochen ist, nicht mehr heim, als ihn die Nachricht erreicht, er werde wegen Spielschulden gesucht. Auch Lin Shimao hält es nicht länger in der Hauptstadt, nachdem er das unsittliche Gebaren Zhong Shoujings entdeckt hat. Erneuter Aufbruch und weitere Abenteuer in der Ferne sind die Folge. Die Kontakte, die der ehemalige General nun zu den »aufrechten Banditen« aufnimmt, erinnern an die Darstellung in den Räubern, ebenso wie die Szene, in der er mit Hilfe einer Fuchsgeist-Frau in den Besitz eines Himmelsbuches gelangt. Die Rache an dem bösen Abt ist erfüllt, als die Banditen Feuer an das Kloster legen, Zhong Shoujing in den Flammen umkommt und Shen Quan seine Frau und die Kupplerin tötet. Auch auf einem höheren programmatischen Niveau nimmt sich der Verfasser in eindrucksvoller Weise der Sache der Frauen an, etwa wenn er der Alten Zhao nach einem Wortwechsel mit Li Saiyus Gatten Shen Quan folgende Worte in den Mund legt: Er ist ein Mann, kennt also nur die Sicht der Männer. Was weiß er schon von den Leiden einer Frau! Wir müssen unser Haar in drei Teile kämmen, den Oberund Unterkörper mit Kleidern bedeckt halten. Wir sind den Stimmungen der Schwiegermütter unterworfen, hören auf das, was die Ehemänner anordnen. Am bemitleidenswertesten ist unser Körper mit seinen fünf Öffnungen. Wir gebären Jungen und Mädchen, beschmutzen die Sonne, den Mond und die Sterne und laden dabei allerlei Sünden auf uns. Doch ach, ohne Kinder haben wir niemanden, auf den wir im Alter zählen können. Während der Schwangerschaft sorgen wir uns Tag und Nacht, jede Geburt ist eine Frage von Leben und Tod. Erfüllung 382 findet die Mutter nur in der Verbundenheit mit dem Sohn.
Doch wie ist das Los der Frauen zu verbessern, oder ist es wirklich so hart? Schon die Reise in den Westen (Xiyouji) entwarf in einem Abschnitt das Bild des von Frauen beherrschten Staates, und auch in der Volkstümlichen Erzählung über die Seereise des Eunuchen Zheng He in den Westen (Sanbao taijian xia xiyang tongsu yanyi) bzw. in den Blumen im Spiegel (Jinghuayuan) werden wir wieder darauf treffen. Auf satirische Weise trägt der Autor der Verlorenen Geschichte über 381 382
Ebd., Kap. 7, S. 86f. Ebd., Kap. 6, S. 80.
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Mönche und Heilige seine Sicht vor. In »Hennendorf« (Cijishi) schwingt der Clan der You – angeführt von der Gattin des machtlosen Yang Wei (Wortspiel mit dem gleichlautenden yangwei = impotent) – das Zepter. Du Fuwei und Xue Ju, die sich am Ort befinden, bekommen eine Liste mit zehn Verboten zu Gesicht, durch die das Zusammenleben der Geschlechter aus der Sicht der Frauen neu bestimmt wird. 1. Der Besuch von Freudenhäusern sowie Zockerei sind verboten. Beim Wettspiel wird selten davor zurückgeschreckt, auch noch den Schmuck und die Kleider der Gattinnen zu versetzen, jeder Bordellbesuch ist Verrat an der Liebe und Fürsorge der Frau daheim. Männer, die diesem Verbot zuwiderhandeln, haben dreißig Schläge mit dem Bambusstab und eine Zahlung an die Gemeindekasse zu gewahren. 2. Verboten sind Beleidigungen und Mißhandlungen der Hausherrin. Die Frauen tragen ein hartes Los voller Schmerzen und Entbehrungen. Sie nehmen die Gefahren der Geburt und die Mühe der Arbeiten im Hause auf sich. Frauen gleichen dabei einem Vogel im Käfig und einem Fisch im Krug. Die Männer sollten ihnen mit Fürsorge und Verständnis, Liebe und Ergebenheit begegnen sowie ihren Anordnungen gehorchen. [...] 3. Es ist verboten, sich Konkubinen und Mätressen zuzulegen. Die Zahl der Nachkommenschaft wird vom Los und Glück des Menschen bestimmt, keinesfalls durch ausschweifende Affären mit dem anderen Geschlecht. Es ist auf das schärfste zu verurteilen, wenn sexwütige Männer unter dem Vorwand einer ausbleibenden Nachkommenschaft sich anderweitig käuflichen Freuden hingeben. In unserem Ort ist es ehrenwerter, keine Nachkommen zu haben, als sich Nebenfrauen zu nehmen. 4. Es ist verboten, intimen Umgang mit Hausmädchen und Dienerinnen zu pflegen. All jene unter den hübschen Hausmädchen und Dienerinnen, die es darauf anlegen, die Hausherren durch ihr Verhalten zu einem Seitensprung zu ermuntern und die Autorität der Herrin damit zu untergraben, werden auf das strengste bestraft. Den Wohlhabenden in unserem Dorf ist es lediglich gestattet, alte Männer und einfältige, dumme Frauen für die einfachen Dienste im Hause zu verwenden. [...] 5. Witwern ist die Wiederheirat verboten. Seit alters her gilt es für die Frauen nach dem Tod ihres Gatten allein als schicklich, sich nicht wieder zu verheiraten. Genausowenig kann es daher für einen Mann ehrenhaft (yi) sein, wenn er sich nach dem Tode der Gattin eine neue Frau nimmt. Den Witwern an unserem Ort ist es ohne Rücksicht auf ihr Alter oder das Vorhandensein einer Nachkommenschaft untersagt, sich neu zu verheiraten. [...] 6. Es ist den Ehemännern verboten, die Macht und Autorität ihrer Gattinnen zu untergraben. Den Anweisungen der Hausherrin ist in allen Dingen unbedingt Folge zu leisten. 7. Maßloses Trinken und Amüsement sind nicht schicklich. In unserem Ort ist es abgesehen von Anlässen wie Beerdigungen, Geburtstagen und dem Frühlingsfest untersagt, Feiern abzuhalten. 8. Das unerlaubte Verlassen der Häuser ist nicht zugelassen. Männer sind von grundauf schlecht. Aufgrund der Beschränkungen im eigenen Hause wird der Mann nichts unversucht lassen, draußen herumzustreunen und nach Kräften seinen ausschweifenden Gelüsten zu frönen. Die Frauen, die sich in den inneren Gemächern aufhalten, haben von diesem
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer schmutzigen Gebaren der Ehemänner meist keinerlei Kenntnis. Bevor daher Männer künftig das Haus verlassen wollen, müssen sie unbedingt die Erlaubnis ihrer Frauen einholen und angeben, wohin sie sich begeben, mit wem sie losziehen und was der Grund ihrer Unternehmung ist. Das Betreten der Gemächer und die Einnahme von Mahlzeiten ist dem Gatten bei seiner Rückkehr erst gestattet, wenn er zuvor über seine Aktivitäten genauestens Bericht erstattet hat. 9. Es ist verboten, in Gier und Unmäßigkeit nach Reichtum und Ruhm zu streben. Über eines Menschen Reichtum entscheidet der Himmel. Was weiß einer, der den weltlichen Dingen nachjagt und sich hemmungsloser Suche nach Glück und Erfüllung hingibt, Frauen und Kinder seiner Lust, in die Ferne zu schweifen, preisgibt, schon von dem Kummer der allein zurückgelassenen Gattin, die einsam beim Kerzenlicht Tränen vergießt und niemanden hat, der das nächtliche Lager mit ihr teilt? [..] Hat einer sein Glück in der Welt gemacht und kehrt dann heim, hat man die besten Jahre bereits hinter sich. Kann man etwas anderes als Gram und Kummer hierüber empfinden? Da ist es schon besser, wenn einer in der Heimat bleibt, die Felder bestellt und seinen Geschäften nachgeht, die Eheleute sich am gemeinsamen Umgang erfreuen und der Sohn nicht weit von der Mutter lebt. [...] Und wenn sich ein Aufbruch in die Ferne unter keinen Umständen vermeiden läßt, dann ist es am besten, wenn man die Ehefrau mit sich nimmt, um Ruhm und Reichtum gemeinsam mit ihr zu genießen. [...] 10. Das Zuwiderhandeln gegen diese Anweisungen ist untersagt. Es entspricht den Prinzipien des Himmels und dem Wege der Menschen, daß es die Regierung für die Belange im Staat und Disziplin für die Ordnung der Familienangelegenheiten 383 gibt. [...]
Die mit der Zerstörung des Miaoxing-Klosters eigentlich zum Abschluß gebrachte Erzählung wird nun mit der Darstellung des jungen Du Fuwei fortgesetzt, der als Säugling zu Lin Shimao gebracht wird, zu einem echten Recken heranwächst und – unterstützt von Gleichgesinnten wie dem jungen Xue Ju – gegen Unrecht und Unterdrückung kämpft. Anliegen und Schicksal ihres unsicheren Daseins haben die Banditengestalten in einem knappen Satz auf den Punkt gebracht: »Sieger werden zu Königen, Verlierer zu Banditen!«384 Während Lin Shimao dem Treiben der Welt entsagt hat und als Einsiedler gemeinsam mit dem von ihm zum Frieden bekehrten Tiger, Hund und Schwein in der Wildnis lebt, was ihm unter den Tang die Verehrung als Heiliger einbringt, erleben Du Fuwei und Xue Ju im Gefolge der Reichseinigung durch die Sui ihren Aufstieg. Man kann wohl zu Recht davon ausgehen, daß es sich bei dem Verfasser der sechzig Kapitel umfassenden Verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen (Chan zhen houshi), dem Folgewerk zu dem obigen Roman, ebenfalls um Fang Ruhao handelt. Auch das Pseudonym, das der Verfasserschaft zugrunde liegt 383 384
Ebd., Kap. 21, S. 323ff. Ebd., Kap. 27, S. 415.
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– der »Taoist vom Klarwasser« (Qingxi daoren) –, stimmt in beiden Werken überein. Gemäß den im Vorwort ersichtlichen Zeitangaben wurde das Werk zum Ende der Ming-Dynastie verfaßt und jedenfalls vor 1629 gedruckt. Held des Romans ist Qu Yan, eine Wiedergeburt des ebenfalls in den Himmel aufgestiegenen Xue Ju. Qu Yan ist der archetypisch am meisten ausgeprägte Held beider Romane über Mönche und Heilige. Er übersteht Anschläge auf sein Leben als noch Ungeborener, er entkommt Unbill und Entführung und taucht schließlich in der Gestalt des Retters auf. Den Frauengestalten im Roman gegenüber zeigt er sich stets abweisend und korrekt. Abgesehen von seiner Idealgestalt finden sich im Werk vor allem zwei Typen realistischer Charaktere: der kultivierte Chinese (siwen) – hier verdeutlicht an Qu Tianmin, dem Vater Qu Yans – und der brave Held (haohan), für den sich im Roman eine Reihe von Beispielen finden, vor allem unter den Banditen um Yang Lei (Kap. 41–47), die Typen wie Li Kui, Lu Zhishen und Wu Song aus den Räubern nachempfunden sind. Mit seinem Vorläuferwerk teilt die Verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen als Schwäche die ungleiche Gewichtung der Themen. So wird das Schicksal der Familie Qu Tianmin jedenfalls zu breit geschildert, während mehr oder weniger knapp vorgetragene Kampfszenen scheinbar willkürlich aneinandergereiht werden. Eingehende Würdigung dagegen findet auch in diesem Werk die Sexualität, angefangen von den sexuellen Wünschen der Witwe Pu zu Beginn des Romans bis zum Hinweis auf das »Sexmonster« Kaiserin Wu Zetian. Auch die Darstellung sexueller Ausschweifungen der Mönche fehlt nicht die Häufigkeit, mit der dieses Thema immer wieder in der Literatur jener Zeit auftaucht, könnte ein Hinweis darauf sein, daß damit womöglich ein breiter Publikumsgeschmack getroffen werden sollte. Die Szene über die sexuellen Wünsche der Frau Pu ist mit ihren knappen, eindringlichen Details und der Verbindung von Groteske und Erotik charakteristisch für die Erzählliteratur der damaligen Zeit. Es ist interessant festzustellen, wie die Darstellung mittels realistischer Details letztlich zu einem unrealistischen Ausgang führt. Frau Pu hatte ihre Abendmahlzeit eingenommen und war dabei, sich zu entkleiden und zu Bett zu begeben, als sie ein scharrendes Geräusch an der Kopfseite des Bettes vernahm. Sogleich nahm sie die Lampe, um nachzuschauen, und fand zwei Falter, die sich paarten: Schwanz gegen Schwanz gepreßt, schlugen sie mit ihren Flügeln und verursachten dabei die Geräusche, die sie wahrgenommen hatte. »Seltsam«, murmelte Frau Pu, »wo mögen die denn herkommen?« Sie hob das Kopfkissen und entdeckte eine zerdrückte Papierschachtel. Als sie sich bei ihrem Sohn erkundigte, antwortete dieser: »Ich habe die Falter heute morgen im Garten gefangen, aus Spaß habe ich sie in die Schachtel getan und sie dir unters Bett gelegt.« Unwillig griff Frau Pu nach den Faltern und schleuderte sie unter das Bett. Dann löschte sie das Licht und begab sich zur Ruhe. Für eine Weile schloß sie die Augen und rief sich die vergangenen Zeiten in Erinnerung,
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer als sie noch in glücklicher Liebe mit ihrem Gatten vereint war. Nicht im Traum wäre sie früher je auf den Gedanken gekommen, einst ein Witwendasein zu fristen. Seit Jahren bereits hatte sie nicht mehr das Geschlecht eines Mannes zu Gesicht bekommen. Wie einsam und verlassen sie sich fühlte! Selbst den Faltern ging es besser, lebten sich doch anscheinend in vollkommener Erfüllung. Vor Erregung fand Frau Pu keinen Schlaf. Unruhig warf sie sich auf dem Bett von einer Seite auf die andere. Schließlich stieß sie einige lange Seufzer aus, zog ihre Kleider an und erhob sich. Es herrschte drückende Hitze. Das Fenster stand halb offen, und das Licht des vollen Mondes schien durch die seidenen Vorhänge. Mit leichten Bewegungen verließ Frau Pu das Bett und trat an das Fenster. An den Fensterrahmen gelehnt, genoß sie den Anblick des Mondes. Mit einem Mal überkam sie eine heiße Sehnsucht, ihr Gesicht glühte, und ihr Mund wurde trocken, die Hüften schmerzten und die Kraft verließ ihre Glieder. [...] Oh, wie sehr sie sich in diesem Augenblick einen Mann herbeisehnte, der mit ihr die Freuden der Liebe teilte! Ihr fiel ein, daß sich unter den Dienern und dem Gesinde im Haus einige junge Kerle befanden, die auf dem Gebiet bereits Erfahrung besitzen mochten. Sollte niemand darunter sein, der ihre Lust befriedigte? Doch ach, es ging nicht an, daß sie sich als Dame des Hauses mit einem Diener abgab, nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Sache herauskäme. Sie hätte niemandem mehr unter die Augen treten können. Eine Weile starrte Frau Pu vor sich hin, bis ihr Hauslehrer Qu einfiel. Sein gepflegtes Äußeres, die Manieren und seine kultivierte Art – sie vergab sich nichts, wenn sie in einem kleinen Abenteuer ihre Sehnsüchte zu erfüllen suchte. Selbst wenn etwas geschah, sie würde nichts bereuen! Liebe und Verlangen verleihen Flügel, ein Falterpaar hatte sie in diese Unruhe versetzt. Frau Pu lauschte, vom Trommelturm war soeben der Schlag zur zweiten Nachtwache zu vernehmen. Ein Blick auf ihren Sohn Xian und die Diener verriet, daß alle fest schliefen. Leise öffnete sie die Türe, schlich in das untere Stockwerk hinab und weiter durch das Silberzimmer. In der Dunkelheit stieß sie an einen Stuhl, stolperte, fing sich, eilte weiter durch die Türe in den vom fahlen Mondlicht beschienenen Teeraum und erreichte endlich die Bibliothek. Als sich Frau Pu überzeugt hatte, daß es um sie herum überall still war, faßte sie sich ein Herz und klopfte. Das Klopfen schreckte Qu Tianmin aus dem Schlaf. Was mochte man von ihm um diese Zeit wollen. Eilig wandte er den Kopf Richtung Tür und rief: »Wer da?« »Ich bin’s«, klang es von draußen. Eine Frauenstimme. Doch auch auf nochmaliges Nachfragen ertönte wiederum nur ein »Ich bin’s.« »Das klingt nach der Stimme des jungen Geng«, überlegte Qu Tianmin. »Doch irgendeinen Grund wird er schon haben, mich zu nachtschlafener Zeit aufzusuchen.« [...] Er grübelte noch, als er wieder vor der Tür ein drängendes Wispern vernahm: »Meister Qu, so öffnet doch, ich muß euch etwas Dringendes sagen. Laßt mich ein!« Als Qu Tianmin die zarte Stimme der Witwe vernahm, wurde ihm warm ums Herz. Innerlich bewegt, dachte er: »Nun, was ist schon dabei, wenn ich öffne. Keine große Sache, schließlich will sie etwas von mir, nicht ich von ihr. Eine fesche und wohlhabende junge Frau wie sie, warum sollte sie nicht auf ein kleines Abenteuer aus sein?« Qu war gerade dabei, sich zu erheben und zur Türe
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN zu eilen, als er über sich einen hellen Strahl wahrzunehmen glaubte. Er stockte und rief: »Ei, was ist das? Du meine Güte, was tue ich? Soll ich ihr Leben und mein Leben zerstören nur wegen eines flüchtigen Verlangens? Welch eine Schmach!« Alle Wünsche nach einem Stelldichein mit der Witwe waren im Nu verflogen. Qu wandte sich im Bett um und schlief weiter. Eine Weile noch vernahm er das leise Klopfen und Wispern an der Türe, doch schenkte er dem keinerlei Beachtung, sondern schnarchte und tat, als ob er bereits tief schlafe. Beschämt und verärgert ließ Frau Pu von der Türe ab, als sie sah, daß Qu Tianmin auf ihr Drängen nicht öffnete. Auf leisen Sohlen schlich sie sich zurück in ihre Kammer, wo Xian soeben erwacht war. Sie wog ihn in den Schlaf und begab sich dann selbst zu Bett. Das Gefühl unstillbaren Verlangens war stärker geworden, ihre Wangen glühten, und in ihrem Unterleib kribbelte und krabbelte es. Ihre Sehnsucht wurde unerträglich. Seit altersher heißt es, daß das sexuelle Verlangen einer Frau nur schwer zu stillen ist. In ihrer Verzweiflung erhob sich Frau Pu, umklammerte einen der schwarzlackierten Pfeiler im Raum, legte ihre Schenkel darum und rieb mit dem Unterleib wenigstens hundert mal über das Holz, bis sie endlich eine Welle des Glücks durchfuhr. Ihr ganzer Körper wurde taub, als ob man ihr Eimer von Eiswasser von der Brust aus über den Leib gegossen hätte. Sie drehte und wandte sich eine Weile, bis ihr endlich etwas mit einem lauten Geräusch aus dem Unterleib fuhr. Wie gelähmt verlor sie die Kontrolle über sich und stürzte ohnmächtig auf das Bett. Als Frau Pu nach geraumer Weile endlich wieder zu sich kam, wagte sie es nicht, eine der Dienerinnen zu wecken. Wohl oder übel erhob sie sich, wickelte den Gegenstand, der ihr aus dem Leib gefahren war, in ein Laken und versteckte ihn. Dann wischte sie die blutverschmierten Stellen auf Pfeiler und Boden sauber und legte sich in ihren 385 Kleidern zu Bett, wo sie in tiefen Schlaf fiel.
Hier wird die Einsamkeit von Witwen thematisiert. Der Ausgang der Angelegenheit ist, daß Frau Pu nach diesen Vorfällen keine Monatsblutungen mehr hat, ihre Menopause also einsetzt. Auch sexuelles Verlangen verspürt sie nicht mehr, hat sie doch mit dem blutigen Klumpen aus ihrem Leib die »Wurzel von Lust und Verlangen« (seyuzhi gen) ausgerissen. Jahre später wird sie den sorgfältig verpackten Klumpen an Qu Tianmin und seine Familie senden als eine Warnung an die Witwen, sich besser wieder zu verheiraten als die Qualen unerfüllter Sehnsucht zu erleiden. Die beiden hier vorgestellten Romane weisen in ihrer Darstellung eine kosmischumfassende Dimension auf. In ihr finden sich Gesellschaftsschichten vom Bettler bis zum Kaiser, existiert das Mythische neben dem Reellen. Die Darstellung der Welt mit ihren teilweise beeindruckenden obszönen Details führt dabei hin zur letzten, mythischen Wahrheit. Das ist der Weg, auf dem der Meister seinen Schüler von der körperlichen Erscheinung (se) hin zur Wahrnehmung von Leere und Vergeblichkeit (kong) führt. Am Ende schafft der Autor aus Hoffnungslosigkeit 385
Verlorene Geschichte von Mönchen und Heiligen, Kap. 1, S. 3ff.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer
angesichts der realen Welt einen mythischen heldenhaften Retter, Qu Yan, der aber auch nur solange wirken kann, wie er von den Intrigen bei Hofe unbehelligt bleibt. Der in späten Ming-zeitlichen Werken anklingende Realismus hat sich während der anbrechenden Qing-Dynastie in seiner Mischung mit letzten mythischen Wahrheiten als Ziel und dem didaktischen Ton nicht erhalten. In den Mittelpunkt des Romans über Ritter, Helden und Abenteurer traten vielmehr Idealgestalten, die als menschliche Persönlichkeiten wenig glaubwürdig wirken. Gleichwohl entstand eine Reihe von Werken, die in ihrer Kunstfertigkeit eine große literarische Reife andeuten und eine Entwicklung der Bearbeitung des Ritter-Helden-Themas erkennen lassen. Mit den einförmigen Romanen über Talente und Schönheiten (caizi jiaren) aus der frühen Qing-Zeit beginnen sie sich neben dem Liebesthema eine Leichtigkeit der Erzählung und Eingängigkeit der Handlung zu teilen. Hier wird keine große Literatur vorgelegt, doch eine Anzahl der schmalen Romanbände besticht durch ihre inhaltliche Geschlossenheit und Unterhaltsamkeit. Abgesehen vom Thema der Liebe – einen Gegenstand, der noch in einem Werk wie den Räubern undenkbar gewesen wäre – nehmen die Romane des Genres über Ritter und Abenteurer auch immer mehr Elemente des Phantastischen und der Kriminalliteratur auf, so daß verschiedene literarische Zweige zu blühen beginnen wie etwa Romane über Ritter mit wunderbaren Fähigkeiten (shenguai xiaoshuo) oder der Ritter-Detektiv-Roman (gong'an xiayi). Ein in vielfacher Hinsicht richtungsweisender Ritter- und Abenteuerroman ist Die grüne Päonie (Lü mudan)386, ein anonymes Werk, das in einem ersten Druck aus dem Jahre 1832 vorliegt und bei dem es sich um einen der ersten Ritter- und Abenteuerromane aus der Qing-Zeit handeln dürfte. Bekannt ist der Roman auch unter den Titeln Fortsetzung der Erzählung über die Kämpfe gegen die Tang (Xu fan Tang zhuan) bzw. Spätere Erzählung über die späten Tang (Hou Tang hou zhuan). Die grüne Päonie hebt sich deutlich von den historischen bzw. halbhistorischen Werken über die Tang-Dynastie ab, teilt mit diesen aber den zeitlichen Rahmen. Die Handlung spielt zur Zeit der Kaiserin Wu Zetian, mit deren Machtergreifung der Roman seinen Anfang nimmt. Roter Faden ist die Geschichte von der Verbindung zwischen dem Generalssohn Luo Hongxun und der Amazone Hua Bilian. Anführer der Zunft ehrenwerter Banditen sind Bilians Vater Hua Zhenfang und der Flußpirat Bao Zi'an. Unter den aufrechten Männern bei Hofe ragt die Figur des Beamten Di Renjie heraus, der uns als »reiner Beamter« im weiteren noch bei den Kriminalromanen beschäftigen wird und hier mit Hilfe der Banditen die Clique der Usurpatoren um Wu Zetian ausschaltet. Die grüne Päonie macht dabei den Wandel vom Kriminal- zum Ritterroman deutlich. Selbst noch 386
Hier in der vierundsechzig Kapitel umfassenden Ausgabe Shanghai: Shanghai guji 1993.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
beeinflußt von den in der Qianlong- und Jiaqing-Periode in der Volkskunst kursierenden Kriminalfällen des Richters Shi (Shi gong'an), einem Werk, mit dem er eine Reihe von Protagonisten teilt, ebnet der Roman den für populäre Bücher wie Drei Ritter und fünf Edle (San xia wu yi) und erfüllt die Funktion eines Bindeglieds. In bezug auf Themen wie Liebe und Ritterlichkeit ist die Päonie schon einen großen Schritt entfernt von den Räubern am Liangshan-Moor und zeigt deutliche Einflüsse durch die Romane über Talente und Schönheiten. Das Werk wurde im Jahre 1881 mit Zensur belegt.387 Sprachlich weist Die grüne Päonie durchaus einige Besonderheiten auf, so etwa an einer Stelle, wo der Verfasser erhebliche Mühe auf die Beschreibung der Ausrüstung eines Banditen verwendet. Hier finden sich Begriffe, die dem chinesischen Rotwelsch entstammen dürften. Die Zeit der zweiten Nachtwache rückte heran. Hua nahm an, daß Ren Zhengqian sich mittlerweile in seinen Gemächern daheim befand. Er öffnete seinen Schnappsack und nahm die Kleider heraus, die er bei seiner nächtlichen Unternehmung aus Tarnzwecken anzulegen gedachte: einen grünen Rock, grüne Hosen, grüne Stiefel, grüne Gamaschen und eine grüne Tasche. Zwei kleine Messer stopfte er sich an den Stiefelseiten ins Futter. In der Innentasche des Rocks brachte er die Lotusbüchse, das Betäubungsmittel »Krähbruch«, Pulver, Riechsalz und ähnliches unter. Das lange Seil zum Erklimmen der Mauer befestigte er an der Hüfte. Verehrter Leser, ob Sie wohl wissen, wie solch ein Seil aussieht? Nun, es ist mehrere Meter lang, und an beiden Enden sind eiserne Haken von etwa einem halben Meter Länge befestigt. Die bringt man beim Erklimmen der Mauer an Vorsprüngen oder Vertiefungen an und hangelt sich dann am gestrafften Seil nach oben. Entsprechend bequem ist der Abstieg, wenn man den Haken an der Mauerkrone befestigt hat und entlang des Seils in die Tiefe gleitet. In der Sprache der Räuber spricht man von dem »Mauerseil« oder der »Tigerkralle«, und es ist ein Gegenstand, der in keiner Ausrüstung der Männer zwischen den Flüssen und 388 Seen fehlt.
Der in frühester Ausgabe aus dem Jahre 1846 vorliegende Roman Der Garten des Frühlingserwachens (Zheng chun yuan)389 aus der Feder eines anonymen Verfassers vereint einige typische Merkmale des Quest-Themas, schweift dabei aber anders als Die Grüne Päonie stellenweise ins Phantastische ab. Die Handlung ist in der Han-Dynastie zur Zeit des Kaisers Ping angesiedelt. Romanheld Hao Luan, ein aufrechter Nachkomme von Generälen im Dienste des Kaiserhauses, sucht im Auftrag des Heiligen Sima Ao nach würdigen Kandidaten für die übrigen beiden 387 388 389
Vgl. auch CAI GUOLIANG: Untersuchungen zum Roman der Ming und Qing, S. 33–36. Die grüne Päonie, Kap. 13, S. 52f. Hier in der achtundvierzig Kapitel umfassenden Ausgabe Peking: Beijing shifan daxue 1993.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer
der insgesamt drei wertvollen Jadeschwerter, die ihm von dem Heiligen ausgehändigt worden sind. Während er im Garten des Frühlingserwachens in der Stadt Kaifeng lustwandelt, wird Hao Luan eines Tages in eine Affäre verwickelt, die Auslöser für die gesamte weitere Handlung ist. Durch Zufall macht Hao Luan die Bekanntschaft des alten Feng Zhu – wie sich herausstellt, der Schwurbruder eines Verwandten aus dem Hause Hao. In der Begleitung des ehrwürdigen Herrn Feng trifft er dessen künftigen Schwiegersohn Sun Pei. Tochter Feng Xixia hält sich in einem anderen Pavillon des Parks fern der männlichen Gesellschaft auf. Das glückliche Beisammensein wird freilich alsbald getrübt, als Mi Yu, der Sohn des Kanzlers Mi Zhongli, mit seiner Entourage im Garten des Frühlingserwachens eintrifft. Damit ist die Zahl der Protagonisten vollständig, der Kampf für das Gute kann beginnen. Verbrecher und Verräter werden so in der Folge ihrer gerechten Strafe zugeführt, Mi Yu stirbt durch die Hand Ma Juns, des dritten Jadeschwertinhabers, der sein Eintreten für Gerechtigkeit und Treue früh bekundet hat und den Worten alsbald Taten folgen läßt. Beim Pläneschmieden der Freunde zur Befreiung des Sun Pei zeichnet er sich freilich eher durch Hitzköpfigkeit als kühle Überlegung aus, doch ist vernünftige Überlegung ohnehin nicht die Sache der chinesischen Ritter- und Abenteuergestalten. Der Wein versetzte Hao Luan in eine eigenartige Stimmung. Ganz unwillkürlich mußte er an Bao Gang und Sun Pei denken, eng zog er seine Brauen zusammen und blickte düster vor sich hin. »Bruder, was liegt dir auf dem Herzen«, wollte Zhou Shun wissen, »ist unser Beisammensein nicht eher ein Anlaß, freudig dem Wein zuzusprechen als Trübsal zu blasen?« »Sind wir dir womöglich als Schwurbrüder nicht würdig genug?« fragte auch Ma Jun besorgt. »Unsinn«, erwiderte Hao Luan, »freilich ist mir eure Gesellschaft lieb, und ich bin der letzte, der nicht mit euch den Bund der Schwurbrüderschaft schließt. Es ist nur, daß mir soeben das traurige Schicksal von Bao Gang und Sun Pei in den Sinn kam, und daß daher trotz des fröhlichen Beisammenseins mit euch keine rechte Freude in meinem Herzen aufkommen mag.« Bei diesen Worten traten ihm Tränen in die Augen. »Was sorgst du dich?« tröstete ihn Ma Jun, »sicherlich wird es bald ein fröhliches Wiedersehen geben.« »Vielleicht hast du recht«, hob nun Hao Luan wieder an, »in der Tat besteht wenig Anlaß zur Sorge um Bao Gang, der sich seit vier Monaten im Süden aufhält und von dem ich seither keine Nachricht habe. Viel mehr schmerzt mich der Gedanke an Sun Pei, von dem ich nicht einmal weiß, ob er überhaupt noch am Leben ist.« »Ist Bruder Sun nicht ein Bücherwurm, der bequem daheim sitzt und sich nebenbei den Geschäften widmet?« fragte Ma Jun ganz unbedarft. »Ach, es gibt wohl niemanden, der ihn zu retten vermöchte, was soll ich groß Worte darüber verlieren«, klagte Hao, doch Ma, der eine hitzige Natur besaß, sprang eilig hoch und rief: »Da Sun Pei den Bruderbund mit uns geschlossen hat, ist er einer von uns. Bruder Hao, warum sprichst du nicht frei heraus, was dir auf der Seele liegt, dazu sind wir als deine Schwurbrüder doch da, dir zu helfen.« »Es liegt mir fern, vor euch etwas zu verheimlichen«, antwortete Hao Luan, »alle Worte scheinen müßig, ist doch
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Bruder Sun in die Hände übler Verräter geraten, und sein Leben hängt an einem seidenen Faden. Es müßte schon ein Wunder geschehen, um ihn zu retten.« »Bruder Ma ist ein entschlossener und mutiger Mann«, wandte Zhou Shun ein, »du solltest ruhig erklären, was Sun Pei widerfahren ist, wer weiß, vielleicht fällt jemandem von uns etwas ein, wie man ihn retten kann.« »Ich will nicht Ma Jun heißen, wenn ich nicht alles unternehme, um Sun Pei da rauszuhauen«, bestätigte Ma Jun, worauf Hao Luan begann, über den Streit im Garten des Frühlingserwachens und die Auseinandersetzung mit Mi Yu sowie seinen Schergen zu berichten. »Solch eine Schurkerei«, rief Ma Jun zutiefst empört, als Hao Luan seinen Bericht beendet hatte, »sogleich werde ich mich nach Kaifeng begeben, Sun Pei befreien und diesen Schuft Mi ermorden.« »Du scherzt«, wandte Hao zweifelnd ein. »Keineswegs, Bruder, ich stehe zu meinem Wort.« »Und wann wirst du aufbrechen?« »Ich werde mich unverzüglich auf den Weg machen, es wäre nur gut, wenn mir einer der Brüder zur Hand ginge. Nun, wie steht’s, kommt jemand von euch mit?« »Wir sind dabei!« rief Zhou Shun. »Prima«, sagte Ma Jun, erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Es heißt Abschied nehmen, in ein, spätestens zwei Monaten bin ich mit Sun Pei an meiner Seite wieder hier.« »Bruder Ma«, wandte Chen Lei ein, der fürchtete, Ma werde mit seiner Überstürztheit das ganze Unternehmen gefährden, »gemach, es heißt, Kaifeng sei eine wohlbewachte Stadt, in der rund um die Uhr Soldaten patrouillieren. Es wird keine Kleinigkeit sein, Sun Pei da herauszuholen. Laß mich erst ins Lager zurückkehren und zwanzig geeignete Männer auswählen. Dann wollen wir losziehen und Bruder Sun befreien. Es lohnt nicht, die Sache zu übereilen.« Voller Sorge hatten Chang Rang und Liu Xu den Worten Chens gelauscht, und insgeheim begannen sie Hao Luan Vorwürfe zu machen: »Was mag sich Bruder Hao nur dabei denken, Anschluß an Banditen wie Chen zu suchen. Das wird kein gutes Ende nehmen.« Unterdessen tat Ma Jun die Einwände Chens lachend ab: »Ich zweifle keineswegs am Gelingen meines Unternehmens. Schließlich bin ich es gewohnt, allein im Dunkeln zu agieren. Im übrigen stehe ich zu meinen Worten und werde sofort aufbrechen.« Hao Luan wollte ihn nicht noch drängen und nickte nur bei diesen Worten. Angesichts der Entschlossenheit, mit der Ma auftrat, dachte Hao: »Zhou Shun, Zhou Long und Chen Lei machen mir keinesfalls den Eindruck aufrechter Ritter. Wie stark dagegen ist Ma Jun in seiner Brüderlichkeit und Verbundenheit mit unserer Sache, es könnte niemanden geben, 390 der würdiger wäre, das Schwert zu erhalten.«
Der Ritterbegriff in den chinesischen Romanen des Genres erschöpft sich selbstverständlich nicht in den Auffassungen von aufrichtiger Freundschaft und Ehre. Den Helden wird vielmehr eine überragende Rolle in der Sorge um das Wohl des Reiches zugedacht. Parallel zu den Romanen über Talente und Schönheiten, in denen den jungen Gelehrten der Aufstieg bis in die höchsten Ämter in der Umgebung des Kaisers mittels Fleiß und akademischer Begabung geebnet wird, 390
Ebd., Kap. 13, S. 66f.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer
haben die Ritterromane ein ähnliches Ideal gesellschaftlicher Durchlässigkeit entworfen, in dem die Helden neben Treue und Ehre vor allem aufgrund ihrer körperlichen Stärke die Gunst der Majestät erlangen. Die Recken im Garten des Frühlingserwachens erwerben sich entsprechende Verdienste, indem sie dem von einem Schurken betrogenen kaiserlichen Schwiegersohn Liu Xu zu seinem Recht verhelfen und einen Attentatsplan von Kanzler Mi und Eunuch Zhou auf den Kaiser vereiteln. Die von Hao Luan in die Hauptstadt geführten Truppen aufrechter Banditen unterstützen den Kaiser, stellen die Ordnung wieder her und werden mit Ämtern und Posten bedacht. Der heilige Sima Ao erscheint und fordert die Schwerter zurück, Hao, Ma und Bao führen ihre irdische Existenz noch bis ins hohe Alter fort und steigen dann in den Himmel auf. Die Gestalt der Amazone Hua Bilian in der Grünen Päonie hat den Blick auf die Heroinen in der chinesischen Ritter- und Abenteuerliteratur freigegeben. Bilian teilt sich wohl nicht zufällig den Zunamen mit Hua Mulan, einer der berühmtesten Amazonen in der chinesischen Literatur. Der Stoff um die treue Tochter, die in Männerkleidern an Stelle des alten Vaters in den Krieg zieht, geht zurück auf das »Lied von Mulan« (Mulan shi) aus der Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420–580), von dem sich eine Fassung (Mulan ci) in der Sammlung der Musikamtslieder (Yuefu shiji) findet, die Guo Maoqian im 12. Jahrhundert zusammengestellt hat. Von Dichtern wie etwa Bai Juyi und Du Mu in der Tang-Zeit besungen, gilt Mulan gemeinhin als das weibliche Idealbild für die Treue gegenüber dem Herrscher und die Pietät gegenüber den Eltern (zhongxiao liang quan). Neben den Liederfassungen aus der Volkskunst, die zur Gestalt Mulans existieren, hat ihr der Literatenbeamte Xu Wei (1521–1593) mit seinem zaju-Drama »Das Mädchen Mulan zieht für den Vater in den Krieg« (Ci Mulan ti fu congjun) ein Werk gewidmet. Eine frühe erzählerische Bearbeitung, die freilich von der ursprünglichen Fassung abweicht, findet sich in der Episode der Geschichte der Sui und Tang, auf die im Kapitel über den historischen Roman weiter oben bereits hingewiesen wurde. Einen ganzen Roman zum Mulan-Stoff widmete dagegen erst Zhang Shaoxian391 der Heroine. Sein Werk in zwölf Büchern und sechsundvierzig Bänden mit dem Titel Erzählung von der pietätvollen Jungfrau (Gui xiao liezhuan),392 das in der frühesten Ausgabe aus dem Jahre 1850 vorliegt, leitete schließlich weitere Bearbeitungen zur ausklingenden Qing-Dynastie in den unterschiedlichsten Genres ein.393 391
392 393
Über Zhang Shaoxian ist abgesehen von seinem Namen und der vermutlichen Heimatprovinz Fujian weiter nichts bekannt. Hier in der Ausgabe Hefei: Huangshan-Verlag 1991. So etwa das anonym verfaßte Werk in zweiunddreißig Kapiteln mit dem Titel Die Erzählung von der treuen, pietätvollen und mutigen Heldin (Zhong xiao yong lie qinü zhuan), eine chuanqi-Erzählung »Hua Mulan«, das Lokal-Drama »Mulan tritt in die Armee ein« (Mulan congjun) u.a.
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Der Verfasser der Pietätvollen Jungfrau nutzt die Möglichkeiten im Roman, die sich zur ausführlichen Schilderung anbieten, und gibt einen Überblick über Hintergründe und Motive der Heldin – Dinge, die in dieser Deutlichkeit im Gedicht bzw. Drama meist unerwähnt bleiben. Man befindet sich in den Zeiten der Reichsteilung der Nördlichen und Südlichen Dynastien. Während der Süden von SongKaiser Liu regiert wird, hat im Norden der kriegerische Wei-Herrscher Tuo die Macht, der sich in einer besonders kritischen Lage befindet, droht ihm doch zusätzlich zu den ständigen militärischen Auseinandersetzungen mit den Song nun an der Nordgrenze seines Reiches Gefahr, wo sich in der Wildnis um den Schwarzberg (Heishan) ein Räuberhauptmann namens He Hu (sein Spitzname lautet »Leopardenfell« [Baozipi]) eingenistet hat. Als »König vom Schwarzberg« übernimmt He Hu gemeinsam mit seinen Schwurbrüdern Zhao Rang und Gai Xiong Überfälle auf Wei und bedroht die Herrschaft von Kaiser Tuo. Als Militärstratege dient den Räubertruppen ein gewisser Sun Siqiao, seines Zeichens Gelehrter, der einst in die Berge entführt wurde und dessen Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus aufgrund seines unfreiwilligen Aufenthalts unter den Räubern noch nicht erloschen ist. Unterdessen läßt Kaiser Tuo eine Militärexpedition ausrüsten, deren Oberkommandierender Marschall Xin Ping wird, unterstützt von dem Vorhutführer Niu He. Da die angespannte Lage an der Grenze zu den Song dort erhebliche Kräfte bindet, ist man auf Seiten der Wei gezwungen, im Lande zusätzlich Volksmilizen auszuheben. Während Xin Ping mit den regulären Truppen bereits ins Kriegsgebiet zieht, ergehen Stellungsbefehle an die Kreise und Präfekturen. Die Aufforderung zur Reaktivierung erreicht auch den bereits betagten Bataillonskommandanten Hua Hu, der mit seiner Familie zurückgezogen im Hua-Weiler, einem kleinen Ort in der Provinz Hebei, lebt. Ältestes Kind ist die siebzehnjährige Mulan, ebenso belesen wie bewandert in der Kriegskunst und verlobt mit einem jungen Mann namens Wang Qingyun aus der Nachbarschaft. Die friedliche Familienidylle wird freilich gestört, als der Einberufungsbefehl eintrifft, demzufolge sich Hua Hu dem zwanzigtausend Mann starken Volkssturm anschließen soll. Ein Vorschlag Mulans, einen jüngeren Mann zu finden, der anstelle des Vaters unter dessen Namen in den Krieg zieht, wird aus Furcht vor der mit dem Tode zu bestrafenden Desertion verworfen. Schnell reift hingegen in der mutigen Tochter der Plan heran, selbst in Männerkleidern an die Stelle des Vaters zu treten, und in aller Heimlichkeit trifft sie die Vorbereitungen. In voller Montur tritt Mulan unmittelbar vor dem für den Aufbruch festgesetzten Termin vor die bis dahin ahnungslose Mutter. »Mutter«, rief Mulan, »ich spaße nicht. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Ich werde an der Stelle des Vaters in den Krieg ziehen.« Mit diesen Worten raffte Mulan ihre Kleider und kniete vor den Eltern nieder. [...] Die schockierte Mutter beugte sich zur Tochter hinab, zog sie hoch und rief mit schluchzender Stimme: »Oh weh, mein Kind, wie könntest du wohl gehen?« Dabei rannen ihr Tränen aus den Augen, während sie Mulan stützte. »Mutter«, hob Mulan nun an, »all das
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer Weinen hilft doch nichts. Du sorgst dich um mich, willst mich nicht fortlassen. Wäre aber denn der Vater überhaupt in der Lage, in den Krieg zu ziehen?« »Ach«, seufzte die Mutter und hatte ihre Stimme erst nach einer Weile wieder in der Gewalt. »Wenn du wüßtest. Unmöglich, daß Vater noch einmal in die Schlacht zieht. Er hat sich die Sache während der vergangenen Tage derart zu Herzen genommen, daß er schon mit dem Gedanken spielte, sich zu erhängen. Wir wagten nur nicht, dir davon zu erzählen.« »Siehst du«, sagte Mulan. »Wenn also nicht Vater in den Krieg zieht, dann vielleicht der kleine Bruder Yao'er?« »Unmöglich«, stöhnte die Mutter, »wie sollte ein kleines Kind in den Kampf geschickt werden.« »Na also«, lachte Mulan, »Vater ist zu betagt, der Bruder zu jung. Und in den Selbstmord wirst du Vater beim besten Willen nicht treiben wollen, oder?« »Kind«, rief die Mutter, »was sollen wir nur tun? Wie brächte ich es fertig, an deiner Liebe zu uns zu zweifeln. Ich bin hin und hergerissen zwischen der Sorge um dich und um den Vater, der sich das Leben zu nehmen droht. Bevor wir etwas 394 entscheiden, müssen wir den Vater dazu hören.«
Der Vater ist soeben dabei, die ganze Aktion Mulans rückgängig zu machen und doch noch selber in den Krieg zu ziehen, als Boten der Militärverwaltung eintreffen und zum Aufbruch drängen. In einer abschließenden theatralischen Szene bekundet Mulan ihre Treue gegenüber dem Verlobten Wang, dem sie in Leben und Tod verbunden sei. Tatsächlich erklären die Wangs als aufrechte Konfuzianer in der Folge ihr Verständnis für Mulans Aufbruch. Zwei vom Kreisvorsteher zugewiesene Knappen aus dem Ort, Mo Qianzhu und He Rugu, begleiten Mulan zu den Truppen. Sie werden der Heldin zwölf Jahre lang dienen, ohne das geringste über ihre wahre Identität zu erfahren, und erst nach der Heimkehr alles herausfinden. Diese Enthüllung ist eingebaut in eine Szene, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Recht glaubwürdig und mit einem gewissen Maß an Einfühlungsvermögen beschreibt der Verfasser sodann Eindrücke und Leben Mulans in der unbekannten Umgebung der rauhen Männerwelt. Die Abwesenheit von daheim läßt sie beim Anblick des Mondes traurig werden, in die Rolle als Mann – zumal wenn sie mit den Knappen das Lager teilen muß – findet sie sich nur langsam. Ihre beiden Begleiter Mo Qianzhu und He Rugu legten Kleider, Stiefel und Strümpfe ab und ließen sich auf dem Lager zum Schlafen nieder. Zwar weilten auch ihre Gedanken bei der Familie und der Heimat, doch kamen sie als Männer besser darüber hinweg. Innerhalb kurzer Zeit hatte die beiden der Schlaf übermannt, wie ihr Schnarchen verriet. Für Mulan als Frau hingegen war es ungewöhnlich, das Lager mit den Männern zu teilen. Ihr Herz war voll von hunderterlei Sorgen und Ängsten, sie dachte an die Eltern, die Schwester und den Bruder. 394
Ebd., Kap. 3, S. 13.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Wie würde sie den Gefahren unterwegs begegnen, was würde sie am Ort des Kampfgeschehens erwarten? Ruhelos wälzte sie sich auf dem Lager hin und her 395 und vergoß zahllose Tränen, ohne Schlaf zu finden.
Trotz dieser Zweifel findet sich Mulan im Truppenlager bald zurecht und gewinnt das Vertrauen von Marschall Xin Ping, der ihr den Befehl über fünftausend Mann der Volksmiliz anvertraut. Gelassen führt Mulan dennoch zunächst ihr Gefolge in den Kampf; erst der Anblick der vielen Toten läßt den Erzähler ein letztes Mal Vermutungen über den empfindsamen Blick der Frau anstellen. Als Mulan eilig ihre fünftausend Mann samt den Räubern, die kapituliert hatten, zum Westbergtal ziehen ließ und sie das von zahllosen verstümmelten Leichen übersäte Schlachtfeld erblickte, trieb es ihr im Vorüberreiten die Tränen in die Augen. »Eingeschlossen in meinem Boudoir habe ich nie auch nur einen einzigen Toten zu Gesicht bekommen«, sagte sie zu sich. »Heute dagegen steht mir der Tod stets vor Augen, das Töten ist wie ein Spiel. Tausende von Männern sind 396 durch meine Befehle ums Leben gekommen, ein furchtbarer Anblick.«
Am Ende ist es Mulan, die den Räuberhauptmann He Hu seiner gerechten Strafe zuführt. Für Mulan naht damit die Zeit, ihre Männerrolle aufzugeben, und mit ersten Andeutungen wendet sie sich an die bis dahin ahnungslosen Knappen, die sie auf ihrem Weg in die gemeinsame Heimat begleiten. »Sagt, Brüder, habt ihr schon einmal von dem Buddhawächtertempel südlich unseres Dorfes vernommen?« »General«, antwortete He Rugu als erster, »in dem Tempel haben wir als Kinder oft gespielt. Eine von den Statuen dort ist aus Eisen gegossen.« »Richtig«, erwiderte Mulan, »aber was glaubt ihr, habe ich gestern im Lager vernommen? Es heißt, der gußeiserne Buddhawächter habe über Nacht die Gestalt eines weiblichen Buddha angenommen. Was meint ihr, ist das nicht seltsam?« »Wirklich eigenartig«, riefen He Rugu und Mo Qianzhu aus einem Munde. »Wie kann wohl aus einer Wächterstatue plötzlich eine weibliche Buddhafigur werden? Womöglich glaubte der Wächter, die Welt gehöre heute den Frauen, daß er ihre Gestalt angenommen hat. Wir werden uns das sicher ansehen, wenn wir daheim sind, das darf man sich nicht entgehen lassen.« Mulan lachte insgeheim, als sie die beiden so sprechen hörte, und sie dachte: »Solche Dummköpfe, da gebe ich ihnen einen Wink mit dem Zaunfall und noch 397 immer ahnen sie nichts.«
Die beiden Männer fallen schließlich aus allen Wolken, als sie Mulan nach ihrer Heimkehr und nachdem sie sich in ihren Gemächern umgezogen hat, plötzlich in 395 396 397
Ebd., Kap. 4, S. 22. Ebd., Kap. 7, S. 37. Ebd., Kap. 42, S. 247.
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Frauengestalt vor sich sehen. So sind auch der Kaiser und sein Feldherr Xin Ping über die Maßen erstaunt, als sie von Mulan und ihrer wahren Gestalt vernehmen. Auch für Wang Qingyun steht eine Überraschung bereit, ahnt er doch lange Zeit nichts von seiner zweiten Gattin Wanhua. Den Abschluß bildet ein gemeinsames Happy-End mit Ministerposten für Wang, Adelsstand für die beiden Damen Mulan und Wanhua sowie der Schilderung gemeinsamen Eheglücks. Unter den Romanen des Genres nimmt das Werk, welches nun vorgestellt werden soll, eine besondere Rolle ein. Die Erzählung vom heldenhaften Liebespaar (Ernü yingxiong zhuan) in vierzig Kapiteln samt einem Prolog aus der Feder von Wen Kang (ca. 1800–1870) läßt schon im Titel die Verbindung wichtiger chinesischer Erzähltraditionen anklingen und stellt Bezüge sowohl zum klassischen Heldenund Abenteuerroman wie den Räubern als auch zu Liebesromanen aus der Gattung der Werke über »Talente und Schönheiten« sowie zum Traum der Roten Kammer (Hongloumeng) her, mit dem er mehr Elemente als nur die Verwendung der nordchinesischen Dialektvariante teilt.398 Der Autor Wen Kang selbst war Mandschure und Angehöriger einer hochangesehenen Sippe des Banneradels. Der erbliche Adelsrang, der General Le Bao, dem Großvater Wen Kangs, für seine Verdienste verliehen wurde, fiel in der Folge nicht an den Enkel, sondern an einen anderen Verwandten. Wen schlug die Laufbahn als Beamter ein, hatte aber bei den Prüfungen keinerlei Erfolg und war daher gezwungen, sich einen Posten als Sekretär in einem Ministerium zu kaufen. Während der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts übertrug man ihm schließlich die Stelle des Präfekten in Huihou, einem Ort in der Provinz Anhui. Einer späteren Ernennung zum kaiserlichen Residenten in Lhasa konnte Wen Kang aufgrund einer Erkrankung nicht mehr nachkommen. In Glanz und Reichtum geboren, erlebte Wen Kang den allmählichen Verfall und die Verarmung seiner Familie. In der Erzählung vom heldenhaften Liebespaar entwarf Wen, der sich erst im Alter der Schriftstellerei zuwandte, das Idealbild einer Familie von Rang. Realer Hintergrund zu dem Portrait, das er im Werk liefert, könnte das Familienleben eines Verwandten namens Wen Jing gewesen sein, der bei Hofe einen Ministerposten bekleidete und 1856 starb.399 Die Erzählung vom heldenhaften Liebespaar erschien erst posthum im Jahre 1878. Der Handlung im Text zufolge – Kaiser Yongzheng wird des öfteren 398
399
Der Bearbeitung zugrunde liegen WEN KANG: Die Erzählung vom heldenhaften Liebespaar (Ernü yingxiong zhuan), Changsha: Yuelu 1991 und die dazu erschienene Übersetzung WEN KANG: Die Schwarze Reiterin, aus dem Chinesischen von FRANZ KUHN (erstmals 1954), Frankfurt/M.: Insel 1980. Kuhn hat den Roman – die letzten neun Kapitel etwas kürzend – bis zur Mitte des Kapitels 28 übertragen. Zur Biographie Wen Kangs vgl. auch die Geschichte des chinesischen Romans (Zhongguo xiaoshuoshi), hrsg. von der Abteilung für Chinesisch der Universität Peking, Peking: Renmin wenxue 1978, S. 322ff.
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erwähnt – spielt das Werk in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts, d.h. etwa zwischen 1725 und 1727. In die Handlung einbezogen und am Schicksal der Heroine He Yufeng verdeutlicht wird die historische Gestalt des mächtigen Provinzstatthalters Nian Gengyao (gest. 1726), die den Hintergrund für den Schurken Ji Xiantang im Roman abgibt. Nian war seinerzeit maßgeblich an den Vorgängen beteiligt, die dazu führten, daß Prinz Yin Chen und nicht einer der zahlreichen anderen Söhne des Kangxi-Kaisers auf den Thron gelangte. Wegen zahlreicher Vergehen verurteilte man Nian Gengyao später zum Tode. Gründe für die in chinesischen Romanen dieser Gattung nicht häufig anzutreffende Mischung aus Ritterlichkeit bzw. Abenteuer und Liebe werden im Prolog zum Werk sichtbar. Darin wendet sich der Verfasser gegen die Zeiterscheinung eines Heroenkultes, in dem einseitig rohe Kraft und vernunftloses Draufgängertum verherrlicht werden. Diesen abgeschmackten, rein an körperlich-sinnlichen Effekten orientierten Aspekten, die nur auf des Sensationellen aus sind, hält er einen ethisch motivierten Heroismus entgegen, der neben den unverzichtbaren Elementen wie Mut, Tapferkeit und Kampfeskraft gekennzeichnet ist von Treue (zhong), Pietät (xiao), Züchtigkeit (jie) und Rechtschaffenheit (yi). Es verwundert daher nicht, daß er sich als Hauptfigur eine empfindsame Heldin wählt, die freilich beim genauen Hinsehen und für sich betrachtet nur das Geschlecht getauscht zu haben scheint und mit ihrem Rachedurst (sie will sich an einem hohen Würdenträger rächen, der ihren Vater in den Tod trieb) und Blutrünstigkeit (sie tötet bei der Aktion im »Alten Tempel der Menschenliebe« zur Befreiung ihres späteren Gemahls An Ji neun Räuber) kaum Unterschiede zu den männlichen Pendants der Dichtform aufweist. Ihre literarischen Vorbilder hat die Heldin He Yufeng in der kämpferischen »Frau aus Yue«, einer Gestalt aus dem Frühling und Herbst der Staaten Wu und Yue (Wu Yue chunqiu, verfaßt in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts),400 sowie der streitbaren Einzelgängerin Mulan, die wir bereits kennengelernt haben. Wenngleich die Dichtung um den Stoff der Heldin in der abendländischen Dichtung vielleicht nicht jene Popularität wie in China erlangt haben mag, so liegt doch mit der alttestamentarischen Judith, die den feindlichen Feldherrn Holofernes erschlägt, eine ähnliche archetypische Gestalt wie die »Frau aus Yue« vor. Breit und ausführlich wird nun im Auftakt der Erzählung vom heldenhaften Liebespaar das Schicksal der Banner-Familie An in Peking geschildert. Vater An Shuixin, der ein geruhsames Landleben führt, erlangt erst mit fünfzig die Weihen der Doktorprüfung und wird – ganz gegen seine Wünsche – in die ferne Provinz Jiangsu geschickt, wo er im Stromgebiet des Huanghe nach Überschwemmungen sein Talent bei Dammbauarbeiten unter Beweis stellen soll. Da es ihm nicht gelingt, sich durch Bestechungen und sozialen Umgang die Gunst der Vorgesetzten zu 400
Nach Motiven der »Frau aus Yue« hat JIN YONG seine Kurzgeschichte »Die Schwertkämpferin aus Yue« verfaßt.
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sichern, werden ihm die Arbeiten an einem besonders kritischen Punkt des Flusses übertragen. An Shuixin muß jedoch unweigerlich scheitern, weil ihm die notwendigen Mittel und Materialien für Bauarbeiten nicht zur Verfügung gestellt werden, mit der Folge, daß man ihn nach der mit dem Sommerhochwasser einsetzenden Katastrophe auch sogleich bei Hofe denunziert. Er entgeht zwar einer weiteren Verfolgung, muß aber am Ort des Unglücks bleiben, bis er Ersatz für den aufgrund seiner Verfehlungen angerichteten Schaden geleistet hat. An Ji, dem einzigen Sohn im Hause, dem es bei aller Stattlichkeit und Bildung an Lebenserfahrung fehlt und der sich in seiner Ängstlichkeit bisher nur immer in Begleitung seiner Diener aus dem Haus wagte, fällt nun die Aufgabe zu, sich in der Hauptstadt an die Beschaffung der erforderlichen Finanzmittel zu machen, um den Vater auszulösen. Anders als bei Jia Baoyu im Traum der Roten Kammer, einem verweichlichten Muttersöhnchen, das seine Zeit mit Freuden und Leiden an dem Liebeskonflikt um seine beiden Basen Lin Daiyu und Xue Baochai hinbringt und dabei am Ende in die Einsiedelei zieht, rafft sich der verwöhnte und weltfremde An Ji aus Pflichtgefühl gegenüber den Eltern zur Tat auf und unterzieht sich einer schwierigen Prüfung. Da der Roman die traditionellen chinesischen Werte unterstützt und insgesamt eine lebensbejahende Haltung vertritt, ist er gegenüber den in müde-resignativem Ton gehaltenen Werken wie dem Traum der Roten Kammer oder krititisch-zweifelnden Romanen wie den Gelehrten zu Recht gelobt worden.401 Ein zurückgezogener Bücherwurm, der keinerlei Erfahrung im Umgang mit den Menschen besitzt, stolpert An Ji während der Reise zunächst von einer Mißlichkeit in die andere. Vollends spitzt sich die Lage für ihn zu, als er mit dem unterwegs erkrankten Hua Zhong noch einen treuen Freund und Diener verliert, doch treibt ihn die Sorge um das Schicksal des Vaters weiter. Wie unbeholfen der junge Mann noch ist, zeigt die Szene in einem Wirtshaus, wo er wohl zum ersten Mal mit Angehörigen der unteren gesellschaftlichen Schichten zu tun hat. Ein Bursche erschien und goß kochendes Wasser in die Teekanne nach. Der junge An ließ den Tee ein wenig ziehen, dann goß er sich eine Schale voll und setzte sie zum Abkühlen auf den Tisch. Er war damit kaum fertig, als er jemanden eintreten hörte. Er wandte sich um und blickte auf zwei junge Frauen: die eine um die zwanzig, die andere vielleicht elf oder zwölf. Die ältere hatte sich das Haar zum Zopf geflochten, sie trug einen alten Falbelrock aus grüner Seide mit weiten pfirsichroten Ärmeln. Die jüngere hatte sich die Haare zu einem großen Knoten hochgesteckt. Sie trug einen seitlich geschlitzten mondhellen Kattunrock und darüber eine abgetragene, mit Fettflecken bespritzte Tunika von himmelblauem Atlasgewebe, auf das drei blaue Blumen gestickt waren. Beide hatten recht große »Goldlilien«-Füße von vier Zoll. Ihre Gesichter waren kräftig geschminkt, um den Mund sah man bei beiden einen gelben Rand – Überreste einer 401
Vgl. dazu u.a. HOU JIAN: Vergleichende Literaturwissenschaft zu chinesischen Romanen, S. 60.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN fetten, öligen Speise. Die ältere hielt eine Pipa-Laute in den Händen. Als An Ji erkannte, daß zwei Singmädchen vor ihm standen, rief er eilig: »Hinaus, aber schnell!«, doch die beiden scherten sich nicht weiter um das, was er sagte, sondern nahmen Platz und begannen mit dem Spiel der Laute. Während der junge Ji sich in die hinterste Zimmerecke zurückzog, hörte er nur, wie die beiden sangen: »Am frühen Morgen, unter jungen, grünen Weiden, verlor sie die Nadel...« »Still! Ich will nichts hören!« unterbrach sie der junge An. »Dann werden wir euch eben etwas Schöneres singen«, sagte die in dem grünen Rock. »Wie wäre es mit ›Bettschlacht in der Brautnacht‹?« »Nichts, gar nichts will ich hören!« schimpfte An Ji. Die mit der Laute reckte ihren Hals vor und fragte mit säuselnder Stimme: »Wir haben das Lied nun schon zum größten Teil vorgetragen, wollt Ihr wirklich nicht weiter lauschen?« »Auf keinen Fall«, erwiderte An. »Gar nicht anhören kostet auch Geld!« Da sich An Ji in diesem Augenblick nichts sehnlicher wünschte, als daß die beiden recht schnell aus dem Zimmer verschwanden, streifte er von der Schnur ein paar Dutzend Kupferlinge ab und schob sie der älteren zu. Mit einem Grinsen grapschte die Frau nach der Hälfte des Münzhäufchens. »Gebt mir den Rest!« bellte die jüngere. Aus Furcht, sie würde selber nach der Schnur greifen, warf An Ji den Rest der Münzen vor ihr auf den Tisch. Eifrig begannen die beiden zu zählen, teilten die Münzen in zwei gleiche Haufen und stopften dann ihren jeweiligen Anteil in die Taschen. Bevor sie gingen, trat die ältere an den Tisch, griff nach der Schale Tee, die An Ji zum Abkühlen dort hingestellt hatte und trank sie schlürfend aus. Die jüngere tat es ihr nach, setzte den Schnabel an ihren Mund und spülte den Tee hinunter. Erst dann verließen 402 beide mit wackelnden Hintern das Zimmer.
In dem Wirtshaus ist es auch, wo An Ji auf He Yufeng trifft, die zunächst in der Gestalt einer geheimnisvollen schwarzen Reiterin auftritt und sich in einem nächsten Schritt der Annäherung als »Dreizehnte Schwester« bezeichnen wird, bevor sie am Ende ihre wahre Identität preisgibt. Der Leser erfährt zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, als daß die junge Frau eine Streiterin für Recht und Gerechtigkeit ist und stets als Retterin in der Not auftritt. Auch An Ji profitiert hiervon, deckt doch die junge Amazone einen Mordanschlag gegen ihn auf, tötet die Räuber und befreit nebenbei noch die Familie des Zhang Yueshi, der zusammen mit Frau und Tochter im Tempel gefangengehalten worden ist. Tochter Zhang, die den Namen Jinfeng trägt, wird schon kurze Zeit nach ihrer Befreiung als Heiratskandidatin des An Ji gehandelt – freilich auf Seiten des letzteren nur dem Vorbehalt der Zustimmung seiner Eltern. Pietät ist auch ein wesentliches Merkmal im Charakter der He Yufeng, wie wir jetzt erfahren. Sie will den Tod des Vaters rächen und wagt es nur mit Rücksicht auf die Mutter nicht, loszuschlagen. Beseelt von dem 402
Die Erzählung vom heldenhaften Liebespaar, Kap. 4, S. 36f.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer
Rachegedanken, weist sie auch zunächst noch jeden Gedanken an eine Ehe mit An Ji (den Traum vom »Bettglück zu dritt«) von sich. Erst als sie nach dem Tode der Mutter von An Shuixin, dem die junge Frau keine Unbekannte ist, hat er sie doch als Kind bereits auf seinen Armen gewogen, erfährt, daß Ji Xiantang aufgrund übler Machenschaften bereits vom Kaiser hingerichtet wurde, zeigt sich Yufeng »gezähmt« und bricht in Tränen aus. Dem Autor ist es nicht gelungen, die Züge der Heroin nach ihrer Ehe mit An Ji bruchlos zu bewahren. He Yufeng wirkt nach der Übernahme häuslicher Pflichten während der letzten Romankapitel plötzlich blaß und schwach. Nur ein letztes Mal stellt sie nach der Heirat noch einmal vergangene Stärke unter Beweis, als sie eines Nachts Diebe von dem Anwesen vertreibt. Als treue und redliche Gattinnen unterstützen Yufeng und Jinfeng in der Folge An Ji bei seinen Prüfungen für die weitere Laufbahn – auch dies ein eklatanter Unterschied zu dem Frauenbild im Traum der Roten Kammer, wo die jungen Damen Jia Baoyu viel eher in Liebesabenteuer verstricken. Die Erzählung vom heldenhaften Liebespaar endet schließlich mit zahlreichen Hinweisen auf An Jis Erfolge als »Talent« an der Seite seiner holden Gattinnen. Vom Kaiser protegiert, gelangt er zu Amt und Würden. Ähnlich wie der vorstehende Roman aus der Feder eines mandschurischen Bannermannes keine Zweifel mehr an der Legitimität der Qing-Herrscher aufkommen läßt, so ist auch im Anliegen eines umfangreichen Werkes aus den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Versuch zu erkennen, mit Rückgriff auf Ereignisse zur Zeit der frühen Qing die Herrschaft der Fremdherrscher unter Hinweis auf ihr Bemühen um Friede und Wohlstand zu legitimieren. Die Rede ist von der Vollständigen Erzählung von Eintracht und ewigem Frieden (Yong qing sheng ping quan zhuan), die in zwei Teilen vorliegt. Für den ersten vierundzwanzig Bücher und siebenundzwanzig Kapitel umfassenden Teil aus dem Jahre 1891, der, wie aus einer Bemerkung im Vorwort hervorgeht, wohl auf Stoffe der Geschichtenerzähler zurückgeht, zeichnet als Verfasser ein gewisser Guo Guangrui verantwortlich.403 Guo stammte wie »Taoist Traumtrunken« (Tanmeng daoren), anonymer Verfasser des zweiten Teils aus dem Jahre 1893 in sechs Büchern und hundert Kapiteln, wohl aus der chinesischen Hauptstadt Peking. Das Pseudonym »Taoist Traumtrunken« wird uns noch im Zusammenhang mit dem Roman Kriminalfälle des Meisters Peng (Peng gong'an) begegnen. Anders als in den meisten anderen Ritter- und Abenteuerromanen findet sich in dem vorliegenden Werk mit der Schilderung der Kämpfe gegen die »Himmelsund Erdgesellschaft« (Tiandi hui), als deren Grundlage die »Lehre von den acht Trigrammen« (Bagua jiao) angegeben wird, ein konkreter historischer Hintergrund. Anderweitiger Möglichkeiten zum Widerstand beraubt, flüchteten sich zahlreiche loyale Anhänger der Ming in den ersten Jahren der Herrschaft der 403
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Shanghai: Shanghai guji 1993.
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Qing-Dynastie in Klöster und Tempel. Um das Jahr 1674 gründete eine Handvoll treuer Ming-Loyalisten im Shaolin-Kloster der Provinz Fujian die Sekte der »Himmels- und Erdgesellschaft« mit dem Ziel, die Qing zu stürzen und den Ming wieder an die Macht zu helfen. Der Name der Geheimgesellschaft leitet sich aus einem Spruch ab, der den Himmel als Vater und die Erde als Mutter bezeichnet. Während eines Initiationsritus hatten die neuen Sektenmitglieder folgenden Schwur abzulegen: »So zeitlos wie der Himmel und so dauerhaft wie die Erde, wir werden Rache üben, selbst wenn es zehntausend Jahre in Anspruch nimmt.« In der westlichen Literatur wird die Sekte mit Blick auf die Betonung der Harmonie von Himmel, Erde und Mensch manchmal als »Triadengesellschaft« bezeichnet.404 Während der größte Teil des Romans in episodischen Szenen die Verdienste und das wechselhafte Schicksal der einzelnen Helden im Kampf gegen die Anhänger der »Himmels- und Erdgesellschaft« beschreibt, zeichnet sich der einleitende Abschnitt von zehn Kapiteln, in dem die Haupthelden vorgestellt werden, durch seine Struktur aus, die an Szenen auf Theaterbühnen erinnert. Ungewöhnlich ist auch die Anwesenheit des Kaisers Kangxi im frühen Romangeschehen, der die Helden durch eigene Inaugenscheinnahme zu würdigen Amtsträgern für spätere Aufgaben ernennt und nicht, wie in Romanen des Genres sonst üblich, ihre Verdienste erst im Nachhinein honoriert. Während die eingangs des Romans beschriebene lockere Gruppe von Helden zerfällt, stehen Ma Chenglong und Ma Mengtai im Gefolge des Zensors Yilibu, der im Auftrag des Kaisers die Dämme entlang des Gelben Flusses inspirieren soll, weitere Abenteuer bevor. Insbesondere im Kampf gegen die Himmelsund Erdgesellschaft erwerben sie sich Verdienste. Im Zentrum steht zunächst eine Gestalt namens »Einäugiger Drache«, die eine hohe Position in der Gesellschaft bekleidet und später von Ma Chenglong besiegt wird. Nach und nach erfährt man dabei auch etwas über die Sekte, die sich in Teilen des Landes einer breiten Anhängerschaft rühmen darf. In einer Ortschaft kann man sich so etwa geraume Zeit keine Erklärung von Acht-Trigrammen-Zeichen machen, die an den Häusern in weißer Farbe angebracht sind. Die Nachforschungen bleiben zunächst ergebnislos: Ma Mengtai und Ma Chenglong verließen das Amt und wandten sich nach Norden. Nach etwa einer Meile gelangten sie zu dem Dorf, auf das sie bereits am Vortage aufmerksam geworden waren. Erstaunt stellten sie fest, daß Fenster und Türen der Häuser überall fest verschlossen waren und sich niemand auf der Straße zeigte. An den Häuserwänden waren überall die Zeichen der acht Trigramme in weißer Farbe angebracht. Als ihnen auch am andere Ende des Dorfes noch niemand begegnet war, begannen sie, an den Türen zu pochen, und sie
404
Vgl. dazu IMMANUEL C.Y. HSÜ: The Rise of Modern China, New York u.a.: Oxford University Press 1970, S. 170f. Zum Problem der Geheimgesellschaften vgl. daneben insbesondere JEAN CHESNEAUX: Les sociétés secrètes en Chine, XIXe et XXe siècles, Paris 1965.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer hörten, wie man von innen rief: »Wer da?« Eine der Türen öffnete sich für einen Spalt, und zum Vorschein kam ein dunkelgesichtiger Mann mit Bartstoppeln um das Kinn. Er trug mondweiße Kleider am Körper, an den Beinen schenkellange Strümpfe, die Füße steckten in grünen Leinenschuhen. »Was wünscht ihr?« fragte der Mann. »Wir wollten uns erkundigen, warum an den Häuserwänden im Dorf überall die Zeichen der acht Trigramme angebracht sind«, antwortete Ma Chenglong. »Was hat es damit auf sich?« »Ach, das wollt ihr wissen«, erwiderte nun der Mann und warf die Tür ins Schloß, ohne weitere Auskunft zu geben. Ma Chenglong rief noch einmal, doch der Mann ließ sich nicht mehr 405 blicken.
Die Männer tappen in bezug auf die Vorgänge lange Zeit im dunkeln, dem Zensor gegenüber versuchen sie die Sache der Trigramme gar mit der Bemerkung abzutun, die Zeichen dienten der Verschönerung der Hauswände. Erst ein Einheimischer bringt mit seinen Schilderungen Aufschluß. Chenglong und Mengtai begaben sich in die Wirtsstube und ließen sich Wein und Essen schmecken, das von einem Knecht aufgetragen wurde. Während sie zechten, kamen sie erneut auf die Sache mit den Trigrammen zu sprechen und wie wenig sie bisher darüber herausgefunden hatten. Einer der Knechte im Raum, der ihrem Gespräch gelauscht hatte, trat an ihren Tisch und sagte: »Verehrte Herren, Ihr könnt euch wohl noch weitere zehn Tage im Dorf aufhalten und werdet nichts herausfinden. Die Sache ist zu brisant, als daß sich einer der Bewohner darüber zu äußern wagte.« »Weißt du etwa mehr darüber?« fragte Ma Chenglong. »Wie heißt du? Sprich, hab keine Angst, ich werde persönlich dafür sorgen, daß dir nichts geschieht.« »Mein Name ist Yao Zhengzhi«, erwiderte der Knecht. »Ich arbeite seit vielen Jahren in der hiesigen Poststation und bin unzähligen der hier durchziehenden Zensoren und Beamten zu Diensten gewesen. Mit den weißen Trigrammen und den weißen Kreisen an den Hauswänden hat es folgendes auf sich: Ihr müßt wissen, daß hier am Ort ein reicher Mann namens Yu Sijing lebt, den wir alle aufgrund seines Reichtums nur den ›Schwelger‹ nennen. Als die Gegend hier damals ein ums andere Jahr von Heuschreckenplagen und Überschwemmungen heimgesucht wurde, gab er jedem, der sich beteiligen wollte, zweihundert Tael Arbeitslohn, die angeblich der Erschließung des Berges im Südosten unseres Dorfes Taoliuying dienen sollten. In Wahrheit jedoch rekrutierte er auf diese Weise Anhänger. Fünftausend Männer nämlich begaben sich zum Scherental an dem Berg, dann wurden die Zugänge zum Tal versperrt, und niemand durfte mehr hinaus. Über den Pässen wurden Fahnen mit der Aufschrift ›Wiedergründung der Himmels- und Erdgesellschaft, Stärkung des Glaubens der acht Trigramme‹ aufgesteckt. Tag für Tag wurde im Tal exerziert, und bald drang die Nachricht nach draußen, daß alle Dörfer der Umgegend dem Erdboden gleichgemacht würden, nur wer sich dem Glauben
405
Vollständige Erzählung von Eintracht und ewigen Frieden, Kap. 13, S. 57.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN der acht Trigramme unterwerfe, bleibe verschont. In panischer Angst reichten die Menschen ihre Beitrittsgesuche ein, es findet sich niemand in den Dörfern hier, der sich nicht als Anhänger des Glaubens ausgäbe. Die weißen Trigramme und Kreise an den Hauswänden dienen als Erkennungszeichen. Wenn ihr meinen Rat hören wollt, meine Herren, so solltet ihr und der Zensor euch nicht weiter um die Sache scheren. Erstens führt ihr keine Truppen mit euch und zweitens seid ihr ohnehin mit einem ganz anderen Auftrag zur Inspektion des Huanghe 406 unterwegs.«
Es wären nicht würdige Helden, die die Gunst des Kaisers zu Recht besitzen, wenn sie nicht auch in unterlegener Situation den Kampf aufnähmen. Das Schlachtenglück wechselt, doch irgendwann wird man des Anführers Yu Sijing habhaft, der sich mit Zensor Yilibu auf eine interessante Diskussion über das Recht zu herrschen einläßt, wodurch die Sekte eine Legitimation beanspruchen darf. Die Züge des Zensors hellten sich auf bei der Nachricht, daß Yu Sijing gefaßt worden sei. Nachdem man gemeinsam gespeist hatte, befahl Yilibu, den Kerl vorzuführen. Die Wachen zerrten ihn vor das Zelt, und als sie des Zensors ansichtig wurden, befahlen sie in barschem Ton: »Niederknien!« »Was fällt euch ein, mich so einer erniedrigenden Behandlung zu unterwerfen?« entgegnete Yu Sijing. »Ihr seid ein loyaler Beamter des Kaisers, ich bin ein treuer Kämpfer des Anführers unserer Sekte!« Als der Zensor diese Worte vernahm, erwiderte er: »Höre, Yu Sijing! Wenn du schon von loyalen Beamten und treuen Kämpfern sprichst, dann sage mir doch, warum du im Lande Unruhe hervorrufst?« »Sieger im Kampf um das Reich werden Fürsten und Könige, Verlierer werden Banditen«, entgegnete Yu Sijing, »angenommen unser Sektenführer eroberte das Reich und nähme dich gefangen, glaubst du, du wärest in seinen Augen etwas anderes als ein Bandit? Selbst wenn ihr unseren Anführer zum Tode verurteilt und zerstückelt, unterwerfen werde ich mich keinesfalls!« »Seit der Gründerahn unserer Dynastie den Thron bestiegen hat, sind in seiner und der unendlichen Gnade seines Nachfolgers Amnestien erlassen und Steuerlasten gesenkt worden. Männer wie du sollten die Zeichen der Zeit längst erkannt haben und ihren eigentlichen Aufgaben im Dienste der Majestät unverzüglich nachkommen. Was ist der Grund für deine Abtrünnigkeit?« »Wenn du es genau wissen willst«, erwiderte Yu Sijing auf die Frage des Zensors, »dann laß dir gesagt sein, daß in den Herzen aller Menschen Habsucht und Raffgier herrscht. Aus keinem anderen Grunde führte der Gründer der Han seine Männer aus der Steppe und eroberte das Reich, bescherte dem Herrscherhaus damit eine Blüte von vierhundert Jahren. Aus keinem anderen Grunde auch fiel der Ahn eurer Qing aus den Mandschurenlanden im Nordosten hier in China ein, als ihn der Kaiserhof der Ming um Unterstützung im Kampf gegen den Rebellen Li Zicheng bat. Oder denkt Ihr, Ihr säßet 406
Ebd., Kap. 15, S. 65.
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Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer andernfalls auf dem Posten, den Ihr heute einnehmt? Sprecht besser nicht von der Vergangenheit. Wenn Ihr denkt, nicht anders zu können, so tötet mich, ich 407 habe euch weiter nichts zu sagen.«
Die Teilnehmer an diesem ersten erfolgreichen Feldzug gegen die Sekte werden vom Kaiser mit Ämtern und Posten belohnt. Nach den einleitenden Kapiteln, in denen die Problematik um die Sekte eingehend behandelt wird, wendet sich die Erzählung den einzelnen Helden zu, die in den Auseinandersetzungen mit den Kämpfern der Sekte überall im Reiche zahlreiche Abenteuer bestehen müssen. Der im Kampf besiegte Wu En begibt sich in den äußersten Süden nach Yunnan, um dort mit dem verbündeten Wang Yangsheng eine neue Streitmacht aufzubauen. Doch selbst der Anschluß an den aus Yunnan stammenden Zhang Honglei, Anführer der mächtigen »Sternengesellschaft« (Tianwenjiao), dem Wu En schließlich huldigt, bringt keinen Erfolg mehr. Am Ende wird Wu in Yunnan von Ma Chenglong und den übrigen Helden festgenommen und auf Befehl des Kaisers an Ort und Stelle hingerichtet.
407
Ebd., Kap. 23, S. 97.
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4. »Annalen der menschlichen Verirrungen« – Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
Im vorstehenden Kapitel wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich spätestens seit der Mitte der Qing-Dynastie enge Bezüge zwischen dem chinesischen Ritterund Abenteuerroman und der Kriminalliteratur herstellen lassen. Nicht zufällig tritt in Werken wie der Grünen Päonie die Gestalt des Beamten Di Qing an die Seite der für Gerechtigkeit kämpfenden Helden, die mit dem geltenden Gesetz nicht selten in Konflikt stehen. In späteren Vertretern des Kriminalromans dagegen gewinnt die Gestalt des »Helden« immer mehr an Bedeutung, wobei zumeist ein Kollektiv an die Stelle der zuvor allein tätigen Richtergestalt tritt, wie etwa das Beispiel der Drei Ritter und fünf Edlen (San xia wu yi) zeigen wird. Eine ganz neue Form des Genres lernen wir schließlich bei Wu Woyao kennen. Es hieße jedoch den Traditionen dieses beliebten Literaturgenres vorgreifen, konzentrierte man sich allein auf die späten Werke dieser Gattung. Wie ein Blick auf die Terminologie und die Figuren im chinesischen Kriminalroman schnell zeigt, ist das Genre nicht zu trennen von ganz bestimmten Formen der Verwaltung und der allgemeinen sozialen Verfassung. Der Liebhaber westlicher Kriminalliteratur – verwöhnt von scharfsinnigen Detektiven wie einem Sherlock Holmes oder spannenden und rätselhaften Mordfällen in der Ausgestaltung durch Edgar Allan Poe – wundert sich über die Eigenheiten und Besonderheiten, wie sie sich in frühen chinesischen Werken des Genres offenbaren. Nur vage erschließt man aus dem Begriff des gong'an, der seit der Song- und Yuan-Dynastie in den Bedeutungen »Archiv«, »öffentliche Angelegenheit«, »Amtstisch« und zuletzt auch »Gerichtsentscheid« gebraucht wird, den chinesischen Kriminalroman. Literarisch als Bezeichnung für Werke mit kriminalistischem Inhalt relevant, wenn auch ohne Bezug zur Erzählkunst scheint gong'an dagegen während der Song-Dynastie in der Dramenform des Puppentheaters geworden zu sein.408 Dieser Terminus sowie die enge thematische Beschränkung in den frühen Vertretern auf die eigentliche Fallösung haben in einschlägigen Abhandlungen zu dem Thema mitunter zu Forderungen geführt, denenzufolge man eher von »Rechtsfalliteratur« (fazhi wenxue) reden sollte, zumal sich für die modernen Detektivgeschichten ohnehin ein ganz neuer Name eingebürgert hat, nämlich der der zhentan xiaoshuo.409 Der Einfachheit halber wollen wir hier jedoch weiter von »Kriminal-« bzw. »Detektivroman« reden. 408
409
Vgl. PATRICK HANAN: The Chinese Vernacular Story, Cambridge/Mass.: Harvard UP 1981, S. 40. Vgl. dazu ZHANG GUOFENG: Einige Bemerkungen zum Kriminalroman (Gong'an xiaoshuo manhua), Hongkong: Zhonghua shuju 1989, S. 4.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
Im Zentrum der älteren Vertreter dieses Genres steht gewöhnlich der »reine Beamte« (qingguan), als dessen prominenten Vertreter wir bei den oben behandelten historischen Romanen bereits Hai Rui kennengelernt haben. Wie wir noch sehen werden, oblag die eigentliche kriminalistische Arbeit vor allem den Beamten der unteren Verwaltungsstufen, also den Magistraten in den Kreisen bzw. den Präfekten in den übergeordneten Präfekturen des Reiches. Bereits ein Magistrat konnte erhebliche Macht in seinem Amt bündeln. Er war allgemein für das Wohl der Menschen in seinem Kreis zuständig und trug dabei die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit ebenso wie für das Bildungswesen und Steuerangelegenheiten. Zusätzlich oblag ihm neben der Rechtssprechung nicht selten auch noch das Kommando über eine örtliche Garnison. Als Kriminalbeamter und Richter befaßte er sich mit der Strafverfolgung und den Ermittlungsarbeiten ebenso wie mit der Urteilssprechung und der Vollstreckung des Richterspruches. Die Darlegung der konkreten Ermittlungsarbeiten nimmt in den Erzählungen und Romanen breiten Raum ein, beschränkt sich aber – wohl nicht zuletzt mit Blick auf das Interesse des Lesers – zumeist auf das Sensationelle, nicht ohne dabei belehrend und ermahnend zu wirken. Aus dem von der Gesetzeslage her sich ergebenden Zwang heraus, daß niemand verurteilt werden durfte, der die Tat nicht gestanden hatte, sind auch die Helden unserer Erzählwerke immer wieder zu Peinigung und Folter der vermeintlichen Täter gezwungen. Als legale Folterformen, wie sie im Strafgesetzbuch festgelegt waren, galten etwa das Tragen eines Eisenkragens, Prügel mit dem Bambusstab und Fingerschrauben. Nicht erlaubt dagegen waren das Niederknien auf Glassplittern, Eisenbetten oder das Auspeitschen mit nägelbeschlagener Peitsche. Die im Auftrag des Richter-Beamten verübte Folterung mußte dabei unbedingt zum Erfolg führen. Starb ein Angeklagter bei der Peinigung und stellte sich heraus, daß er unschuldig war, so konnte das den Tod des Richters ebenso wie des Gerichtspersonals bedeuten.410 Es fällt auf, daß in den Richtersprüchen, die Bao Zheng und seine Nachfolger fällen, reine Haftstrafen unbekannt sind. Dagegen findet man abgestufte Formen der Prügelstrafe, Verbannung und Degradierung von Beamten. Angesichts der schweren Kapitalverbrechen, die Gegenstand der Schilderung in den Erzählungen und Romanen sind, ist die Todesstrafe das gängige Urteil, wobei man vor allem drei Arten der Ausführung unterschied: die Strangulierung als die »würdevollste« Hinrichtungsform, da der Körper unversehrt blieb und Hoffnung auf eine Existenz im Jenseits bestand; sodann die Enthauptung und schließlich der »Tod der tausend Messerschnitte« als grausamste Strafe, bei der der Körper zerstückelt wurde, was jede Hoffnung auf eine jenseitige Wiederauferstehung zunichte machte.411 Alle verhängten Todesurteile mußten 410
411
Zu Grundlagen und Prinzipien der traditionellen Rechtssprechung in China vgl. OSKAR WEGGEL: Chinesische Rechtsgeschichte, Leiden u.a.: Brill 1980. Vgl. dazu etwa die Ausführungen im Vorwort zu The Strange Cases of Magistrate Pao. Chinese Tales of Crime and Detection, aus dem Chinesischen übers. und nacherzählt von LEON COMBER, Rutland, Vermont u.a.: Charles E. Tuttle 1964, S. 22ff.
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spätestens seit der Tang-Dynastie vom Thron bestätigt werden. Berufungsverfahren bei Beamten auf übergeordneten Verwaltungsebenen waren nicht unbekannt, wie u.a. das Beispiel in den Neun Toden von Wu Woyao zeigen wird. Richter Bao und die Titelhelden der übrigen Kriminalromane, die wir behandeln werden, begegnen uns in den Erzählungen zunächst stets als Magistrate in ihrem juristischen Aufgabengebiet. Je mehr die Amtsgewalt von Bao Zheng, Shi Shilung oder Di Renjie dagegen steigt, desto staatstragender werden ihre Aufgaben. Einem Peng Peng in den Kriminalfällen des Richters Peng (Peng gong'an) etwa vertraut man Streitkräfte für den Kampf gegen einen Rebellen in Turkestan an, der dem Yakub Beg (ca. 1820–1877) nachempfunden sein dürfte, Di Renjie ist am Ende vornehmlich mit dem Kampf gegen die Verschwörer bei Hofe befaßt. Es ist hier, wo sich dem Beamten im Dienste des Kaisers am ehesten jene Gestalten des aufrechten Banditen an die Seite gesellen, die ehedem womöglich selbst mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, nun aber das Wohl des Staates zu ihrer eigenen Sache machen und damit die Voraussetzungen gewinnen, in die Gunst einer Amnestie zu gelangen. Es scheint müßig, nach einem einzelnen Grund für das Aufkommen des Kriminalromans in der Ära des Ming-Kaisers Wanli Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu suchen.412 Vielmehr ist anzunehmen, daß der allgemeine Aufschwung in der Erzählliteratur sowie ein sich rasant entwickelndes Druck- und Publikationsgewerbe auch den Werken der gong'an-Literatur zu einer ersten Blüte verholfen haben.413 Wie verbreitet bestimmte Stoffe und Themen zu jener Zeit bereits waren, belegt u.a. die Gestalt von Richter Bao – einen historischen Beamten aus der Song-Zeit –, dessen Gerichtsfälle schon in zahlreichen Dramen der Yuan-Dynastie auftauchen.414 In die Erzählkunst hatten mehrere kleinere 412
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Zu den zahlreichen damals erschienenen Sammlungen von Kriminalgeschichten vgl. HUANG YANBO: Geschichte des chinesischen Kriminalromans (Zhongguo gong'an xiaoshuoshi), Shenyang: Liaoningrenmin 1991, S. 139–145, wo für diese Zeit allein sieben Werke angeführt werden. Auf die Sammlungen, die sich in der einen oder anderen Weise mit der Gestalt Bao Zhengs befassen, werden wir weiter unten eingehen. Unter den zahlreichen Werken und Sammlungen, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Sturz der Ming 1644 erschienen, seien hier nur einige genannt: zhusi gong'an, Druck aus 1598 in neunundfünfzig Kapiteln mit der Darstellung überwiegend ausgereifter kriminalistischer Vorgehensweise bei der Fallösung; Xiang xing gong'an, späte Wanli-Zeit, vierzig Kapitel; Falin zhuojian, Ausgabe von 1621 in vierzig Kapiteln; Mingjing gong'an, Ausgabe von 1624 in fünfundzwanzig Kapiteln. Während die Geschichten in den genannten Sammlungen überwiegend in der der gesprochenen Sprache angeglichenen baihua-Variante angefertigt sind, liegt mit den Sonderbaren Kriminalfällen des Richters Lan (Lan gong qi'an) eine Sammlung von vierundzwanzig Geschichten in dem klassischen Idiom wenyan vor. Im Mittelpunkt steht die Gestalt Lan Dingyuans (1680–1733), eines Kreisbeamten. Vgl. dazu ausführlich MA YAU-WOON: The Pao-Kung Tradition in Chinese Popular Literature, Ph.D. Yale University 1971, S. 78f. S.a. GEORGE A. HAYDEN: Crime and Punishment in Medieval Chinese Drama. Three Judge Pao Plays, Cambridge/Mass. u.a. 1978.
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Werke kriminalistischen Inhalts bereits zuvor durch Sammlungen wie das Taiping guangji, Zui weng tanlu etc. Eingang gefunden.415 Die Werke der gong'an-Literatur wollten vor allem moralisch belehren. Sie sind im Ton ganz ähnlich wie die Sammlungen von Fallgeschichten gehalten, mit denen sich ein aufgrund seiner Prüfungsvorbereitungen vor allem in Dichtkunst und Philosophie bewanderter chinesischer Magistrat in die Rechtsmaterie einarbeiten konnte, um den Anforderungen in seinem Amt gerecht zu werden.416 Solche Fallsammlungen wie etwa die »Gerichtsverhandlungen im Schatten eines Birnbaums« (Tangyin bishi) liegen bereits aus dem 13. Jahrhundert vor und dürften eine ähnliche Funktion erfüllt haben wie die »Pitavalgeschichten« des gleichnamigen französischen Juristen aus dem 18. Jahrhundert für die abendländische Jurisprudenz.417 Das Besondere der chinesischen Sammlungen ist jedoch, daß sie weder um eine Darlegung des Rechts in all seinen Facetten bemüht waren noch eine Analyse des Verbrechens anstrebten, sondern vielmehr den Delinquenten seiner gerechten Strafe zuführen wollten und damit vor allem ein juristisch-ethisches Anliegen hatten. Juristische Detailkenntnisse, auf die kein Magistratsbeamter verzichten konnte, erwarb man sich mit Hilfe einschlägiger Handbücher.418 Im Gegensatz zum Europa des 19. Jahrhunderts bietet der Kriminalroman Chinas aus der gleichen Zeit keinerlei Hinweis auf den Durchbruch eines aufklärerischen wissenschaftlichen Denkens. Selbst dort, wo ein Verbrechen ausführlicher geschildert wird und die Vermittlung psychologischer Motive naheliegt, läßt sich der 415 416
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Vgl. dazu eingehender HUANG YANBO: Geschichte des chinesischen Kriminalromans, S. 4–11. Zu den Möglichkeiten der juristischen Bildung für den chinesischen Magistratsbeamten vgl. JOHN WATT: The District Magistrate in Late Imperial China, New York: Columbia UP 1977. Zu den Beziehungen zwischen den chinesischen Fallsammlungen und der Erzählliteratur siehe u.a. ANN WALTNER: »From Casebook to Fiction: Kung-An in Late Imperial China«, in: Journal of the American Oriental Society 110.2 (1990), S. 281–289. Die frühe Fallsammlung der »Gerichtsverhandlungen im Schatten eines Birnbaums« liegt in einer Übersetzung von ROBERT VAN GULIK vor: T'ang-yin pi-shih: Parallel Cases from under the Pear Tree, Leiden: Brill 1956. Mit einer Übertragung 1649 ins Japanische wurde auch dort Einfluß auf die Entstehung von Kriminalgeschichten genommen: Im Jahre 1689 publizierte der Schriftsteller Saikaku Ihara (1642–1693) sein Honcho Oin Hiji (Einheimische Gerichtsverhandlungen im Schatten eines Kirschbaums), das schon im Titel eine Nähe zur chinesischen Vorlage ahnen läßt. (Vgl. Japanische Kriminalgeschichten, ausgewählt und hrsg. von INGRID SCHUSTER, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1985, S. 6.) Zu einer ausführlichen Würdigung der Tradition in der frühen deutschen Kriminalliteratur vgl. etwa das Nachwort in Des Mordes schwere Tat, Kriminalerzählungen von Friedrich Schiller, E.T.A. Hoffmann u.a., ausgewählt und mit einem Nachwort, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen versehen von JOACHIM LINDNER, o.O.: Goldmann 1993, S. 323–371. Vgl. dazu u.a. FRANK MUNZEL: Strafrecht im alten China nach den Strafrechtskapitalen in den Ming Annalen, Wiesbaden: Harrassowitz 1968.
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chinesische Verfasser niemals auf deren ausführlichere Darlegung ein, sondern reduziert schlicht auf Verbrechensursachen wie Habgier, Neid oder Ehebruch. Kaum einer der Gattenmorde in den Geschichtensammlungen wird erläutert, schlichte ehebrecherische Motive sind die Regel, so etwa bei den Morden eines Liebespärchens in den Kriminalfällen des Richters Peng an den jeweiligen Ehegatten (Kap. 12–14). Bei den herausragenden Vertretern des Genres in der westlichen Literatur bleibt für Zufälle kein Platz. Sherlock Holmes und seine Kollegen zeichnen sich durch gute Beobachtungsgabe, schnelle Auffassung, rasche Schlüsse und ihre Intuition aus. Sie gründen die Aufklärung der ihnen übertragenen Fälle streng auf eine logische Herleitung. Richter Bao und seine Nachfolger dagegen hängen bei ihrer Tätigkeit überaus stark von Hinweisen aus dem Jenseits ab, sie verkehren mit Geistern, reisen gar in die Unterwelt, wenn es nur zur Aufklärung eines Verbrechens beiträgt.419 Der Aufbau von Spannung durch Verrätselung und die schließliche plausible Enträtselung bleiben im chinesischen Kriminalroman aus. Neben der der frühen Erzählliteratur aus dem Reich der Mitte ohnehin innewohnenden Vorliebe für eine Überhöhung durch das Phantastische dokumentiert sich hier noch einmal eindrucksvoll die Sehnsucht der Bevölkerung nach gerechten, loyalen und unbestechlichen Beamten, die eine göttergleiche Stellung einnehmen. Die wohl populärste Gestalt der frühen erzählenden gong'an-Literatur, welcher die Richter-Detektive aus den Romanen späterer Zeit nachgebildet wurden, ist Bao Zheng (999–1062), eine historische Persönlichkeit gebürtig aus der Stadt Hefei, die zur Zeit des Song-Herrschers Renzong (reg. 1023–1064) während eines relativ friedlichen Abschnitts in der Geschichte dieser Dynastie auf verschiedenen Posten im Reich tätig war. So diente Bao z.B. als Präfekt der Hauptstadt Kaifeng und als Zensor und Finanzkommissar.420 Seine formal höchste Stellung hatte Bao Zheng als stellvertretender Leiter des Ritenministeriums kurz vor seinem Tode inne. Ob seiner Unbestechlichkeit wurde Bao berühmt in seiner Funktion als Mahner und Ankläger selbst mächtiger Amtsinhaber, womit er sich zahlreiche Feinde machte. Wesentlich günstiger kam er in der Sicht des Volkes weg, bei dem er durch Eingaben, die auf Steuervorteile und die Freistellung von Frondiensten zielten, Popularität gewann. So war er im Volksmund nicht zuletzt als »Meister Drachentafel« (longtu) bekannt, was auf seine Funktion als Mitarbeiter im DrachentafelPavillon der Hanlin-Akademie hinwies. Die Textgeschichte der Werke um die Richter-Detektiv-Gestalt des Bao Zheng ist überaus komplex und hatte bis zur Wanli-Ära bereits eine mehrere Jahrhunderte 419
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Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden insbesondere zwischen der Richtergestalt Bao Zheng und seinen Pendants im abendländischen Kriminalroman vgl. SABINE SCHOMMER: Richter Bao – der chinesische Sherlock Holmes. Eine Untersuchung der Sammlung von Kriminalfällen Bao Gong'an, Bochum: Brockmeyer 1994, insbes. S. 159–202. Zur Biographie des Bao Zheng vgl. BERND SCHMOLLER: Bao Zheng (999–1062) als Beamter und Staatsmann, Bochum: Brockmeyer 1982.
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dauernde Entwicklung durchgemacht. So taucht er schon früh in den zaju-Dramen der Yuan auf und ist dort in wenigstens zehn der zweiundzwanzig erhaltenen und dem gong'an-Genre zugerechneten Werke vertreten.421 Während sich Bao Zheng in der Mehrzahl der Geschichten als Detektiv und Richter kaum von den entsprechenden Gestalten in den übrigen gong'an-Dramen abhebt, macht seine im »Kreidekreis« (huilanji) – in Brechts Fassung hat das Thema weit über die Sinologie Bedeutung erlangt – an den Tag gelegte Weisheit dieses Stück zu einem der besten Kriminal-Dramen überhaupt.422 Anders als im Drama hat Bao Zheng in der erzählerischen Ausgestaltung in frühen Textbuch-Ausgaben (huaben) offenbar kaum Spuren hinterlassen.423 Erst in den Sammlungen von Kriminalgeschichten, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts entstanden, kristallisierte sich Bao Zheng auch in der Erzählliteratur als überragender Held heraus. Die zusammengefaßten Geschichten gehen dabei zumeist auf ältere Textfassungen zurück und finden sich verstreut bereits in früheren Sammlungen, von denen die älteste existierende Ausgabe mit dem Titel Umfassend ergänzte Sammlung von einhundert durch Bao Drachentafel entschiedenen Kriminalfällen (Quanbu Bao longtu pan baijia gong'an) auf das Jahr 1594 datierbar ist.424 Nahezu die Hälfte der Geschichten auf dieser Textstufe – die selbst wohl wieder auf frühere, aber nicht mehr zu datierende Fassungen zurückgehen – fanden gemeinsam mit Bao- Zheng-Geschichten aus anderen gong'an-Sammlungen jener Zeit Aufnahme in späteren Erzählversionen wie etwa Die Kriminalfälle des Bao Longtu (Longtu gong'an), die in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts entstanden sein dürften.425 Die Wahl der Einhundert-Kapitel-Form in Zusammenklang mit der Beschränkung auf einen einzelnen Protagonisten sowie dessen durch421
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MA YAU-WOON: The Pao-Kung Tradition in Chinese Popular Literature, S. 78f. ZHAO JINGSHEN: »Überlieferungen zu Baogong« (Baogong chuanshuo, 1933), in: DERS.: Gesammelte Aufsätze zur chinesischen Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuo congkao), Ji'nan: Qilu shushe 1980, S. 481–500 spricht von elf Yuan-Dramen zum Stoff von Richter Bao (ebd., S. 482). Daneben findet sich der Hinweis (S. 481), daß von Baos Richtertätigkeit bereits in den Song-Annalen die Rede war, wo auch die kurze Anekdote »Die abgeschnittene Rinderzunge« (Ge niushe) Erwähnung findet. Der Stoff war ebenfalls in einer Anzahl weiterer Genres der Dramenkunst überaus beliebt, wie die acht chuanqi-Dramen und vierzehn PekingOpern zeigen (ebd., S. 495ff.). ZHAO JINGSHEN: »Überlieferungen zu Baogong«, S. 483f. nennt ein frühes Beispiel für das Kreidekreisthema aus der Späten Han-Zeit, das dann in der Folge im Zusammenhang mit den Baogong-Erzählungen adaptiert wurde, Ma führt in seiner Untersuchung nur zwei von 132 geprüften huaben an, in denen Bao thematisiert wird. (MA YAU-WOON: The Pao-Kung Tradition, S. 93f.) Zur Textgeschichte der gong'an-Fassungen über Richter Bao vgl. SCHOMMER: Richter Bao, S. 17–22; PATRICK HANAN: »Judge Bao's Hundred Cases Reconstructed«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies, Bd. 40, Nr. 2 (1980), S. 301-323; MA YAU-WOON: »Themes and Characterization in the Lung-T'u kung-An«, in: T'oung Pao, Bd. LIX (1973), S. 179–202. S. SCHOMMER: Richter Bao, S. 17–22.
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weg strenges und gerechtes Wirken lassen das Bemühen der Verfasser erkennen, trotz des episodenhaften Charakters der Erzählungen ein einigendes Band zu schaffen und etwas Romanhaftes vorzulegen. Obgleich zwischen der älteren und der jüngeren Fassung nur wenige Jahrzehnte liegen, sind die Unterschiede doch beträchtlich. Am auffälligsten ist die Ausmerzung von Geschichten, in denen übernatürliche Wesen und hochgestellte Persönlichkeiten als Verbrecher auftreten. Neu hinzu kommen hingegen vorzugsweise Geschichten, in denen Mönche Missetaten begehen, wodurch ganz allgemein der Mensch ins Zentrum gerückt und eine »moralischere Stimmung« hervorgerufen wird.426 In einer weiteren Entwicklungsstufe wurden 1802 noch einmal 62 Geschichten unter dem Titel Illustrierte Kriminalfälle des Meisters Drachentafel (Xiuxing longtu gong'an) herausgegeben. Doch werfen wir einen kurzen Blick auf einige der Geschichten um Richter Bao selbst. Schon in einer der Ausgabe von 1594 vorangestellten längeren Einführung, in der Baos Werdegang zum Magistraten geschildert wird, läßt man ihn als einen jener Helden erscheinen, die Umgang pflegen mit den Mächtigen dieser Welt genauso wie mit denen im Jenseits. Es erfolgt ein Vergleich mit dem Unterweltskönig Yama, in dessen Reich sich Bao in der Folge tatsächlich begibt (z.B. in der nur in den älteren Textfassungen vorhandenen Geschichte »Die Umkehrung von Klugheit und Dummheit« [Qiao zhuo diandao])427. Durch die Hilfe des Stadtgottes gelangt Bao zu der Kurtisane Zhang, die ihm während der Zeit der Prüfungsvorbereitungen Quartier gibt. Zufällig erhält unser Held zu guter Letzt Einblick in die Unterlagen eines Boten des göttlichen Jadekaisers und erfährt, daß er bei den bald stattfindenden Prüfungen als bester abschneiden wird. Doch nicht nur in diesem Vorspann wird Bao Zhengs Gestalt mythisch überhöht. So muß er es in einigen Geschichten (z.B. in »Meister Bao fängt mit Klugheit das weiße Affengespenst« [Bao gong zhi zhuo baihoujing])428 mit übernatürlichen Kräften aufnehmen, doch siegt er hier ebenso wie im Kampf gegen menschliche Verbrecher. Wir haben weiter oben bereits kurz auf die Unterschiede in der Zielsetzung von Geschichten um Richter Bao in den früheren und späteren Fassungen hingewiesen. Davon ist selbstverständlich auch die Figur des Richters selbst nicht unberührt geblieben. In der Fassung der Hundert Kriminalfälle von 1594 wird von Bao überwiegend das Bild des treuen und beflissenen Ministers gezeichnet, der seine 426
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Vgl. das Nachwort von Wolfgang Bauer in: Die Leiche im Strom. Die seltsamen Kriminalfälle des Meisters Bao, übersetzt und vorgestellt von WOLFGANG BAUER, Freiburg i.Br.: Herder 1992, S. 232. Zu weiteren Übertragungen der Geschichten von Richter Bao in westliche Sprachen vgl. SCHOMMER: Richter Bao, S. 251. Die früheste Übersetzung stammt aus dem Jahre 1839 und wurde von THÉODORE PAVIR angefertigt (»Le Lion de Pierre« in: DERS.: Choix des Contes et Nouvelles, Paris). Übersetzt bei BAUER: Die Leiche im Strom, S. 190–193. Übersetzt ebd., S. 75–88.
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Anweisungen vom Herrscher erhält. Kaiser Renzong ist in einer ganzen Reihe von Geschichten präsent. Ganz anders dagegen in der späteren Version der Kriminalfälle des Bao Longtu, in der der Majestät kaum noch Beachtung geschenkt wird und die Gestalt des Richters um so mehr in den Vordergrund rückt. Es ist hier, wo Bao Zheng zu einer mythischen Gestalt heranwächst. Damit ist jedoch die Entwicklung der Gestalt Richter Baos in der chinesischen Erzählliteratur noch keinesfalls zu einem Abschluß gebracht. Vielmehr taucht er als Protagonist noch einmal in den ersten siebenundzwanzig Kapiteln der Drei Ritter und fünf Edlen auf, dem ersten Werk eines umfassenden Zyklus, in dem sich der Übergang vom Kriminal- zum Ritter- und Abenteuerroman deutlich abzeichnet.429 Erschienen im Jahre 1879 unter dem Verfasserpseudonym des »Meisters der Fragen an den Bambus« (Wen zhu zhuren) sind die einhundertzwanzig Kapitel umfassenden Drei Ritter auch bekannt unter der Bezeichnung Erzählung von treuen und heldenhaften Rittern und Edlen (Zhonglie xiayi zhuan).430 Der Roman geht ursprünglich auf Textbuchvorlagen des berühmten Geschichtenerzählers Shi Yukun (1810–1871) aus Tianjin zurück, der in Peking lebte. Die Vorlagen mit dem Gesamttitel Kriminalfälle des Herrn vom Drachentafel-Pavillon (Longtu gong'an) – nicht zu verwechseln mit dem um die Wende des 16./17. Jahrhunderts erschienenen Werk – wurden vermutlich nie gedruckt. Allerdings fertigte ein Zeitgenosse Shi Yukuns – ein gewisser Xie Lanzhai – um 1848 möglicherweise auf der Grundlage der vorgetragenen Fassungen eine Niederschrift mit dem Titel Aufzeichnungen über Gehörtes vom Herrn des DrachentafelPavillons (Longtu er lu)431 in einhundertzwanzig Kapiteln an. Auf der Grundlage dieser Textfassung hat der nur unter seinem Pseudonym bekannte Verfasser schließlich die Drei Ritter vorgelegt.432 Nahezu alle wichtigen Episoden um Richter Bao in den Drei Rittern konzentrieren sich auf das erste Fünftel des Romans. In den auf Kapitel 27 folgenden Abschnitten ist Bao Zheng lediglich von untergeordneter Bedeutung und tritt nur noch sporadisch auf, nach Kapitel 58 kommt er so gut wie überhaupt nicht mehr vor. Bis jedoch die Ritter nach und nach vorgestellt und schließlich versammelt 429
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Zum Roman Drei Ritter und fünf Edle sind eine ganze Reihe von Ergänzungen und Fortsetzungen entstanden. Die wichtigsten sollen im weiteren Verlauf vorgestellt werden. MA Y.W.: The Pao-Kung Tradition, S. 250 spricht diesbezüglich von nicht weniger als zwanzig Werken. Der Bearbeitung lag hier die 1956 von ZHAO JINGSHEN »gereinigte« Fassung San xia wu yi, Shanghai: Shanghai guji 21988 zugrunde. Einer Anmerkung bei SCHOMMER: Richter Bao, S. 37, Fußnote 32 entnehmen wir den Hinweis auf eine deutsche Übersetzung der Drei Ritter aus der Feder von P. HÜNGSBERG: Richter und Retter, Mödling bei Wien 1966. Liegt u.a. vor als Longtu er lu, Shanghai: Shanghai guji 1981. S. dazu ausführlich die Arbeit von SUSAN BLADER: A Critical Study of »San Hsia Wu-Yi« and Relationship to the »Lung-T'u Kung-An« Textbook, Ph.D. University of Pennsylvania 1977.
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sind, erfährt der Leser manches über den Werdegang Baos und seine Fähigkeiten als Detektiv. Nur entfernt wird noch an die stellare Existenz Richter Baos erinnert, die er in früheren Versionen einmal innehatte. Die Szene um das Erlebnis eines Richtergehilfen auf einem »Traumkissen« macht das deutlich: Nach anstrengenden Amtsgeschäften begibt man sich zur Ruhe. Der Gehilfe Bao Xing erinnert sich, daß man ein »Kissen der Unsterblichen« mit sich führt, und möchte darauf heimlich für eine Nacht ruhen. Also trägt er Li Cai, einem anderen Burschen im Gefolge, auf, in der Nacht die Wache zu übernehmen. Bao Xing begab sich daraufhin in seine Kammer und betrachtete das Kissen der Unsterblichen. Eine große Müdigkeit überkam ihn plötzlich. Er legte das Kissen aufs Bett und ließ sich darauf nieder. Sogleich versank er in einen Traum. Ihm war, als verlasse er den Raum. Vor der Türe fand er ein schwarzes Pferd mit schwarzem Zaumzeug, zwei Stallburschen zur Seite. Kaum hatten sie ihm schweigend auf das Pferd geholfen, da ging es schon in scharfem Galopp davon, bis er vor einem riesigen Gebäude anlangte, das dem Palast von Kaifeng glich. Er stieg vom Pferd und begann, sich zu fragen, was ihn wohl hierher geführt haben möge. Über dem Tor war eine Tafel mit der Aufschrift »Yin-Yang-Palast« angebracht. Unschlüssig stand er noch vor dem Gebäude, als ein Beamter herbeistürzte und ihn anschnauzte: »Wer bist du? Wie kannst du es wagen, dich als Herr der Sterne auszugeben und hierherzukommen? Sofort festnehmen!« Sogleich trat ein mit einem goldenen Panzer bekleideter Krieger herbei, der so laut schrie, daß Bao Xing vor Schreck erwachte. Er war in Schweiß gebadet. »Was hat der Mann gesagt, ich gäbe mich für den Herrn der Sterne aus?« dachte er bei sich. »Be433 stimmt ist das Kissen für den Herrn der Sterne, der einmal darauf ruhen soll.«
Abgesehen vom Fall einer Palastintrige sind die meisten der von Richter Bao bearbeiteten Kriminalfälle recht kurz und in sich abgeschlossen. Es ist dabei erstaunlich, daß sich der Romanverfasser nur in geringem Umfang auf Schilderungen in den früheren Geschichtensammlungen über Bao Zheng bezieht und in der Mehrzahl neue Kriminalhandlungen entwirft, die aber nichtsdestotrotz auf einen gemeinsamen Fundus an Motiven in kursierenden Erzählungen, Opernfassungen etc. zurückzuführen sein dürften.434 Als Ritter und aufrechte Männer, die an der Seite Bao Zhengs für die Belange der Kaiserin eintreten, finden sich zunächst Chu Pangyu und Ge Dengyun, später assistiert von den »drei Rittern« Zhan Zhao (der »Südliche Held«), Ouyang Chun (der »Nördliche Held») sowie den Zwillingshelden Ding Zhaolan und Ding Zhaohui. Die »fünf Edlen», die als weitere Helden bereits im Titel des Romans angegeben werden, sind in Wahrheit Inkarnationen von fünf Ratten und treten in Gestalt der Himmelsratte Lu Fang, der Erdenratte Han Zhang, der Bergratte Xu Qing, der Flußratte Jiang Ping sowie 433 434
Drei Ritter und Fünf Edle, Kap. 14, S. 92f. Vgl. dazu die Aufstellung bei MA Y.W.: The Pao-Kung Tradition, S. 253–257.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
der Ratte mit dem hellen Fell, Bai Yutang, auf. Als Räuber begeben sich die fünf Männer zunächst von Zeit zu Zeit in die Hauptstadt, um den Palast auszurauben, sind aber schließlich von Richter Bao derart angetan, daß sie ihr Gewerbe aufgeben und sich seinem Befehl unterstellen. Mit vereinten Kräften kämpfen die Helden gegen Unterdrückergestalten wie Ma Chaoxian, Ma Qiang und Wang Zhaoyu. Der Roman klingt aus mit den Kämpfen gegen den Prinzen von Xiangyang, dessen Niederlage für den Folgeroman Die fünf jungen Edlen (Xiao wuyi) im letzten Kapitel angekündigt wird. Zuvor legte allerdings der Qing-Gelehrte Yu Yue (1821–1906) aus Suzhou mit Sieben Ritter und fünf Edle (Qi xia wu yi) 1889 eine revidierte Fassung der Drei Ritter in ebenfalls einhundertzwanzig Kapiteln vor.435 Den Ausgangsroman insgesamt gutheißend, übte Yu lediglich an der seiner Auffassung nach nicht an den historischen Fakten orientierten Darstellung der die Auswechslung des Kaiserbabys gegen einen Katzenbalg Kritik. Er schrieb das erste Kapitel neu und zog die Romangestalten des Ai Hu, Zhi Hua und Shen Zhongyuan als weitere Haupthelden in den Titel mit ein. In gestraffter Form übernahm Yu Yue dabei das Handlungsgerüst vom Tausch des Kaiserkindes in Kapitel 1 der Drei Ritter, schickte aber unter Berücksichtigung der Dynastiegeschichte der Song einige klarstellende Bemerkungen voraus, die im wesentlichen den oben bereits dargelegten historischen Fakten über den Fall entsprechen. Es sollten elf Jahre seit der Veröffentlichung der Drei Ritter vergehen, bis der Folgeroman Die fünf jungen Edlen endlich im Mai 1890 erschien, zeitlich diesmal jedoch dicht gefolgt von einer weiteren Folge, der Fortsetzung zu den fünf jungen Edlen, die im Oktober des gleichen Jahres herauskam. Beide Werke wurden in einhundertvierundzwanzig Kapiteln vorgelegt. Im Vorwort der Fünf jungen Edlen findet sich der Hinweis, daß es sich beim Verfasser um dieselbe Person wie bei den Drei Rittern handele. Spiritus rector sei in beiden Fällen Shi Yukun gewesen, dessen Manuskripte ein Schüler aufbewahrt habe und die nun in die Hände des Verfassers gelangt seien. Für eine Verbindung des Werkes zur Bänkelliteratur sprechen die häufig in den Text eingefügten »Lobeshymnen« (zan) sowie die rhythmisch-gebundenen Verspassagen. Interessant ist der Hinweis im Vorwort, nach dem Die drei Ritter und Die fünf jungen Edlen aus ein und demselben Textkonvolut stammten, das den Titel Erzählung von treuen und heldenhaften Rittern und Edlen trug, wobei Die drei Ritter die Bezeichnung Die fünf älteren Edlen (Da wuyi) trugen und der Rest eben die Bezeichnung eben Die fünf jungen Edlen bekam. Die fünf jungen Edlen knüpft an das Vorgängerwerk an, holt aber noch einmal weit aus, um den Hintergrund für die Aufstandspläne Zhao Jues, des Prinzen von Xiangyang, zu erläutern. Bao Zheng, der als Kanzler auch zu Beginn dieses Romans wieder auftritt, entsendet den Hofmandarin Yan nach Xiangyang, um herauszufinden, was es mit 435
Beide Werke sind erschienen Peking: Zhongguo xiqu-Verlag 1992.
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den Aufstandsgerüchten auf sich hat. Der militärische Geleitschutz wird Bai Yutang übertragen, der als »Ratte mit dem hellen Fell« bereits aus dem Vorgängerroman bekannt ist. Die beiden werden unterstützt von einer Reihe weiterer heimlich eingetroffener Helden, die sich ein Bild von der »Kupferdrahtfalle« (tongwangzhen) machen wollen. Die Ablösung betagter Helden durch jüngere ist ein beliebtes Mittel in den auf mehrere Bände angelegten Romanwerken. Jedenfalls gelingt es mit der Zeit, die wichtigsten Kämpfer unter dem Prinzen auszuschalten, auch die tückische Kupferdrahtfalle kann unbrauchbar gemacht werden. Hier endet der Roman. Wie flexibel man mit dem Romangenre hantierte, zeigt die beliebige Hinzufügung nicht mit dem Inhalt verbundener Erzählelemente, wovon sich ein anschauliches Beispiel in Kapitel 89 findet. Dort hebt der Verfasser auf den Vortrag der Fünf jungen Edlen zur Zeit des Guangxu-Kaisers ab und erwähnt, daß die »Hörer« gerne die »Verse über die Pietät« (Xiaoshunge) des »Wahrhaftigen Liu« (Liu zhenren) vernehmen wollten, weshalb er diese in den Roman eingefügt habe. Die Passage ist zudem ein anschaulicher Beleg für den in zahlreichen Romanen zutage tretenden »Wertkonservatismus« und zeigt, wie unbegründet die vielfach pauschale Verurteilung der xiaoshuo als »verführerisch« und »subversiv« war. Verehrte Hörer! Entzündet das Räucherwerk und spitzt die Ohren, denn der Wahrhaftige Liu hat euch etwas zur Ermahnung mitzuteilen. Allein über das Altertum oder die Gegenwart zu reden ist bedeutungslos, doch es gibt da etwas, das von großer Wichtigkeit ist und dessen ihr stets gedenken solltet. Habt ihr euch überhaupt je klargemacht, woher euer Körper kommt? Ist da einer, der nicht vom Vater gezeugt und von der Mutter zur Welt gebracht worden wäre? Eure Körper und die von Vater und Mutter waren ursprünglich einmal eins, ein Stück Fleisch, ein Odem, ein Blut. Mit der Geburt hat man euch euren Körper gegeben, so seid ihr entstanden. [...] Entsinnt euch, wie Vater und Mutter euch aufzogen. Denkt nur an die Schwangerschaft der Mutter, zehn Monate voller Sorge und Mühsal. [...] Und erst die mühsame Geburt, wieviele Frauen sind im Kindbett nicht schon gestorben! Drei Jahre, in denen die Eltern euch hegten und pflegten, immer darauf bedacht, daß ihr keinen Hunger, keine Kälte, keine Hitze zu leiden habt, nicht erkrankt. Kein Moment, in dem sie in der Vorsicht um euer Wohl nachgelassen, in dem sie sich nicht jede Unachtsamkeit zum Vorwurf gemacht und gerne mit ihrem eigenen Körper euren Schmerz ertragen hätten. Ließen sie es je an Fürsorge fehlen, haben sie nicht, womöglich selber Hunger und Kälte leidend, euch immer mit Nahrung und Kleidung versorgt, euch Lesen und Schreiben beigebracht? Dann, als ihr erwachsen wart, bestellten sie eine Heiratsvermittlerin, wählten einen Ehegatten für euch. [...] In was bitte haben Vater und Mutter es euch je an etwas fehlen lassen? Und doch bringen viele den Eltern nicht die notwendige Verehrung entgegen. Deshalb besinnt euch der Kindespflicht, bald sind Vater und Mutter alt, wenn sie erst einmal gestorben sind, wird euer Bedauern zu spät sein und kein Ende finden. [...] Als gäbe es ihn nicht, den Mangel an Kindespflicht, ich will ihn wohl nennen. Kommt es nicht immer wieder vor, daß ihr, wenn die Eltern etwas wünschen, euch herausredet
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman mit Worten wie »zu teuer«, »zu schwierig«, »unmöglich«? [...] Ja, eure Frauen und Kebsen, die liebt und hätschelt ihr, eure Söhne und Töchter, die sind euch teuer wie Gold. Stirbt eine Frau, ein Kind von euch, dann bricht euch das Herz, doch sterben Vater oder Mutter, dann vergießt ihr keine Träne, ist alle Klage falsch. Doch wehe, euer eigenes Ende naht dann einmal, dann ist weder im Himmel noch hier auf Erden ein Platz für euch. In der Hölle werdet ihr dann eure gerechte Strafe erleiden müssen, unendlich wird eure Pein sein, wenn man euch zerstückelt und röstet, wenn ihr als Tier ins Leben zurückkehrt, ohne Aussicht auf ein menschliches Dasein. Deshalb meine Mahnung, kehrt alsbald um, bringt den Eltern die ihnen gebührende Verehrung entgegen, denn die Vorteile sind zahllos. [...] Eure Frauen und Kebsen sollt ihr unterweisen wie die Söhne und Töchter, damit das Gewerbe in der Familie blüht. Die Generation der Großeltern mögt ihr unterstützen wie ihr euch der Pflege eurer jüngeren Geschwister widmet. Den eigenen Eltern begegnet mit Großmut und Rücksicht. Nährt sie, wie es eure Mittel zulassen. Begleitet sie auf ihren Wegen außer Haus und leistet ihnen daheim Gesellschaft, damit sie sich nicht einsam fühlen. Antwortet ihnen, wenn sie euch rufen, bedient euch angemessener Worte und werdet nicht ausfallend oder gar grob, wenn sie vielleicht einmal einen Fehler begehen. [...] Was werden von den pietätlosen Söhnen und Töchtern nicht für Gründe für ihr Verhalten vorgebracht! Vater und Mutter lieben mich nicht, heißt es da vielfach, warum sie ehren? Doch solches Denken und Reden ist von Grund auf falsch. Was 436 bringt es denn, mit Vater und Mutter um Sieg und Niederlage zu ringen?
Wie wir oben gesehen haben, endet Die fünf jungen Edlen mit dem Bericht über die Vernichtung der Kupferdrahtfalle. Der Abschluß findet sich erst in der Fortsetzung zu den fünf jungen Edlen. Dort wird geschildert, wie Prinz Zhao Jue zunächst unauffindbar ist, bis die Nachricht eintrifft, er habe sich heimlich in den Westen abgesetzt. Bei der Durchsuchung des Palastes in Xiangyang werden die Umsturzpläne und die Namen der Verschwörer gefunden. Zhi Hua, einer der siegreichen Helden, will den Ehrungen entgehen. In der Hauptstadt gelingt es ihm, einen Mordanschlag auf Kanzler Bao zu vereiteln, der am Rande immer wieder auftaucht und etwa in Kapitel 11 einen Mordfall an mehreren Mitarbeitern einer Pfandleihe aufzuklären hat. In zahlreichen wechselnden Konstellationen erleben die Helden – vorneweg Zhi Hua, Ai Hu und Xu Liang – Abenteuer im Kampf gegen den Prinzen, der aber schließlich in Ningxia gestellt und besiegt werden kann. Während man ihn vor den Kaiser führt, stirbt Zhao Jue jedoch überraschend und entgeht damit einer Verurteilung durch den Onkel. Wohl die Beliebtheit des Zyklus der Drei Ritter und der Fortsetzungsromane nutzend, wurden zum Ende der Qing-Dynastie eine Reihe weiterer Werke dazu vorgelegt wie etwa die nur sechzehn Kapitel umfassende Fortsetzung zur Erzählung von Rittern und Edlen (Xu xiayi zhuan) aus der Feder eines unbekannten 436
Die fünf jungen Edlen, Kap. 89, S. 548ff.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
Verfassers. Der Stamm der Helden ist ähnlich denen in den Fünf jungen Helden, doch weicht der Inhalt ab. Danach ist Bai Yutang keineswegs in der Kupferdrahtfalle umgekommen, vielmehr gelingt ihm die Flucht. In seinem Kampf gegen den Prinzen von Xiangyang wird er unterstützt durch die junge Amazone Cuixiao, die maßgeblich zu seiner Flucht aus den Verliesen des Prinzen beigetragen hat. Gemeinsam vernichtet das Paar den Turm der Rebellen und führt die Truppen der Kaiserlichen zum Sieg über den Prinzen. Der Roman endet mit der Heirat von Bai Yutang und Cuixiao, die sich nach der Geburt eines Sohnes in die Berge zurückziehen. Bao Zheng ist nicht die einzige Detektivgestalt in der Romanliteratur der QingZeit geblieben. Ihm wurden verschiedene Heldengestalten nachgebildet, die ihre historischen Wurzeln bereits in der Dynastie der Mandschuren haben. Der nach Bao Zheng früheste Stoff aus diesem Genre befaßt sich mit Shi Shilun (gest. 1722), der zur Zeit des Kangxi-Kaisers mehrere Präfekten-Posten in Taizhou und Yangzhou bekleidete und auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn einen Ministerposten im Ministerium für Steuer- und Einwohnerangelegenheiten (hubu) innehatte.437 Die früheste Ausgabe eines siebenundneunzig Kapitel umfassenden Romans der Kriminalfälle des Richters Shi (Shi gong'an) geht auf das Jahr 1798 zurück. Ihr folgten zwischen 1840 und 1903 neun Fortsetzungen unterschiedlicher Länge, so daß der Textkorpus um Shi Shilun am Ende die beträchtliche Zahl von 528 Kapiteln umfaßte und diesbezüglich alle Kapitelromane aus der Zeit davor übertraf.438 Der Wandel im Kriminalgenre wird auch hier sichtbar: Überwog ähnlich wie bei dem Zyklus um Bao Zheng in der Frühfassung von 1798 noch die Vorliebe zum Kriminalbeamten, rückten in den Fortsetzungen die Ritter- und Heldengestalten mehr und mehr in den Mittelpunkt. Die nur etwas mehr als siebzig Jahre ausmachende zeitliche Nähe, gerechnet vom Tode Shi Shiluns bis zu der ersten Romanfassung, schließt zwar die Bearbeitung durch Geschichtenerzähler nicht aus, doch dürfte der Stoff stärker noch als im Falle Bao Zhengs seine literarische Fixierung vor allem im Erzählwerk selbst gefunden haben.439 Das wird u.a. an der beliebten Form der Handlungsverschränkung sichtbar. Die Vorstellung eines Falles, seine Bearbeitung und die Lösung bis hin zur Hinrichtung sind zumeist über zahlreiche Kapitel verstreut, so daß Richter Shi ähnlich wie der Kriminalbeamte im tatsächlichen Leben gleichzeitig an verschiedenen Fällen arbeitet. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels wird 437 438
439
Vgl. ZHAO JINGSHEN: Gesammelte Aufsätze zur chinesischen Erzählkunst, S. 512–521. Diese frühen Fassungen wurden unter Vornahme einer abweichenden Kapitelzählung eingearbeitet in die sorgfältig edierte Ausgabe Shi gong'an, Peking: Baowentang 1982, 3 Bde. (402 Kapitel), die dieser Bearbeitung zugrunde lag. Zu Shi Shilun finden sich auch Angaben in den Annalen der Qing, vgl. LI HANQIU / HU YIMIN: Erzählkunst der Qing-Dynastie (Qingdai xiaoshuo), Hefei: Anhui jiaoyu 1989, S. 109ff.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
Shi Shilun als Präfekt in Yangzhou mit dem grausamen Mord an den Eltern des örtlichen Bakkalaureus Hu Dengju konfrontiert, deren abgetrennte Häupter nicht aufzufinden sind. Nach ersten Ermittlungen und einem frühen Verdacht vergeht aber geraume Zeit, bis der Tathergang genau feststeht (Abschluß in Kapitel 24). Bis dahin sind aber bereits eine Reihe weiterer Kriminalfälle abgeschlossen. Es vergehen weitere einunddreißig Kapitel, bis die Mörder der Eltern Hus schließlich gemeinsam mit weiteren Verbrechern zur Zeit der Herbsthinrichtungen abgeurteilt werden. Die Figur Shi Shiluns ist insgesamt realistischer angelegt als Bao Zheng, doch fehlt auch hier nicht das Element des Übernatürlich-Phantastischen. Im Falle des Mordes an den Eltern Hu Dengjus erhält Richter Shi den entscheidenden Hinweis in einem Traum, nachdem er über der Lektüre einer Geschichte um den aufrechten Hai Rui in Schlaf gesunken ist. Im Traum erblickte er draußen im Hof neun Zeisige, die fröhlich auf der Mauerkrone hüpften und laut zwitscherten. Erstaunt sah er genauer hin, als er plötzlich unten am Boden das Grunzen von Schweinen vernahm. Tatsächlich liefen dort sieben kleine Ferkel herum. Shi war gerade dabei, sich einen Reim auf den seltsamen Anblick in seinem Traum zu machen, als die Zeisige mit einem Mal an den Rand der Mauer hüpften und sich mit einem wütenden Zwitschern an die Ferkel unter ihnen wandten, welche ihre Köpfe hoben und zurückgrunzten. Ein heftiger Windstoß fegte die ganze Szene plötzlich fort. Mit einem Ruf des Er440 staunens erwachte Shi.
Shi Shilun ahnt zu Recht, daß er in dem Traumbild einen wichtigen Hinweis auf die Lösung des Verbrechens erhalten hat. Daher trägt er seinen Gehilfen auf, nach einem »Neunten (jiu) Herrn Huang« (huang[que] für »Zeisig«) und dem »Siebten (qi) Herrn Zhu« (zhu für »Ferkel«) zu fahnden. Durch Zufall wird man fündig: Jiuhuang und Qizhu erweisen sich als Liebespaar, das als Mönch und Nonne im Lotos-Kloster Zuflucht gefunden hat und dort bei seinem »unsittlichen« Geschäft von den Eltern des Bakkalaureus Hu entdeckt worden ist. Aus Zorn über die drohende Bloßstellung bringt das Pärchen die beiden Alten um. Selbst dort, wo noch keine Klage eingereicht ist, sind es oft seltsame Erscheinungen bzw. übernatürliche Kräfte, die auf ein Verbrechen hinweisen. Gemeinsam mit einem eigenartigen grünen Krebs führt in Kapitel 28 ein Otter-Albino zu einer Leiche, nachdem zuvor seine Sänfte vom Wind in den Fluß geblasen worden ist. Eigenartig auch, wie Shi Shilun nach seinem Gebet zum Flußgott auf dem Rückweg in sein Amt in einen neuen Fall verwickelt wird. Shi warf einen Blick aus der Sänfte und sah eine junge Frau am Wegesrand stehen. Sie trug ein weißes Baumwollkleid am Körper hielt Papierstreifen in der Hand. Offenbar eine junge Witwe, dachte Shi. Die Frau trat zur Seite und ließ 440
Kriminalfälle des Richters Shi, Kap. 1, S. 2f.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN Shi in seiner Sänfte vorüber. Da sah er, wie sich plötzlich ein heftiger Wind um die Frau erhob und ihren Rock in die Höhe riß. Mit zusammengekniffenen Augen erblickte Shi ein Paar rote Hosen unter dem weißen Trauerrock. Seltsam, dachte Shi, als sie vorüber waren, und er hieß seine Gehilfen, Erkundigungen über die 441 Frau einzuholen.
Shi findet heraus, daß die junge Frau He Witwe ist und der Tod ihres Mannes Wu Qiren in der Nachbarschaft Verwunderung hervorgerufen hat. Sie entpuppt sich am Ende als Gattenmörderin, die zusammen mit ihrem Liebhaber den Ehemann umgebracht hat. Interessant ist hier wie in der zuvor geschilderten Szene um den Leichenfund, daß Shi den entscheidenden Hinweis mit Hilfe des Windes erhalten hat – ein untrügliches Zeichen für die Anwesenheit von Geisterseelen, die Windnatur besitzen. Die rote Farbe der Hosen, die Frau He trägt, ist nicht schwer als Hinweis auf ein Gewaltverbrechen mit sexuellem Hintergrund zu deuten. Was zählt, sind jedoch Beweise, und die beizubringen, fällt Shi oft nicht leicht. Es stört einen logisch denkenden Leser dabei, wieviel Sicherheit der Richter manchmal aus absonderlichen Erscheinungen erhält. Als er die verbrecherische Frau He gar noch mit einem Traum konfrontiert, in dem ihm der Stadtgott erschienen ist und berichtet hat, der Geist des Toten habe Klage gegen sie erhoben, leugnet die Witwe selbstverständlich weiter jede Schuld und bestreitet ganz richtig die Gültigkeit eines Traumes als Beweis. Shi Shilun hat einen schweren Stand. »Schweig!« rief Richter Shi wütend, »oder denkst du, du könntest mich mit deinem frechen Gerede hinters Licht führen? Sage mir lieber, warum du deinen Mann nach seinem Tod in aller Eile begraben hast. Das scheint mir sehr verdächtig, du wolltest wohl etwas vertuschen, wie?« »Weit gefehlt, Exzellenz«, erwiderte die Frau. »Warum sind Sie so mißtrauisch? Nach dem Tode erfolgt die Beerdigung, das ist ganz normal. Oder wollen Sie etwa behaupten, jeder tote Ehepartner sei von seinem Gatten ermordet? Und was die Eile der Beerdigung angeht, so ist dies kein Verstoß gegen Sitten und Bräuche. Vielmehr ist es eine Pflicht, den Verstorbenen recht bald zur letzten Ruhe zu betten. Stellen Sie sich nur vor, wie pietätlos es wäre, einen Toten erst geraume Zeit daheim aufzubahren und die Leiche vielleicht den Risiken einer Feuersbrunst oder den Verwüstungen eines Sturms auszusetzen. Nie und nimmer darf man einem Toten so etwas antun. Das wäre eine ausgesprochene Schande. Ich denke, ich habe vollkommen in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Bräuchen gehandelt, mir nichts zuschulden kommen lassen. Ehrlich gesagt, verstehe ich Ihre Vorwürfe nicht, Exzellenz, und Sie wollen ein Beamter sein, der sich die väterliche Sorge um das Volk angelegen sein läßt?« Sprachlos starrte Richter Shi auf Frau He und vermochte für einen Augenblick nichts zu erwidern. Schließlich sammelte er sich jedoch und fuhr sie wütend an: »Freches Weibstück! Du behauptest also wirklich, deinen Mann nicht umgebracht 441
Ebd., Kap. 300, S. 978.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman zu haben? Nun gut, so werde ich also morgen eine Exhumierung vornehmen und die Leiche deines Gatten obduzieren lassen. Dann werden wir schon sehen, wie weit du mit deinem frechen Mundwerk kommst!« Doch Frau He tat ganz gelassen und erwiderte: »Wenn es Exzellenz wünschen, dann werde ich mich selbstverständlich einer weiteren Obduktion nicht widersetzen. Nur eines möchte ich noch wissen: Angenommen eure Vorwürfe erweisen sich als unbegründet und die Leiche meines Gatten zeigt weder Wunden noch Verletzungen, dann dürften eure Amtsanmaßung und die Verleumdung unbescholtener Bürger nicht ungestraft bleiben, oder?« »Seid gewiß«, antwortete Shi Shilun kühl, »solltet Ihr recht behalten, dann werde ich persönlich bei meinen Vorgesetzten um Entlassung aus dem Amte 442 bitten.«
Richter Shis Nachweis der Schuld erscheint zunächst aussichtslos, als die vorgenommene Obduktion der Leiche keine äußeren Verletzungen erkennen läßt. Erst als ihm der Zufall zu Hilfe kommt und einen bis dahin ungenannten Augenzeugen zu Tage fördert, der mitangesehen hat, wie das mörderische Liebespaar dem betrunkenen Gatten eine große Nadel in den Bauch getrieben hat, ist Shi Shilun in der Lage, den Fall zu einer Lösung zu bringen. Man täte Shi Shilun jedoch unrecht, minderte man ihn zu einem lediglich auf Zufälle und phantastische Erscheinungen angewiesenen Kriminalbeamten herab. Vielmehr brilliert er nicht selten durch Genauigkeit und eine logische Herleitung der Verbrechensumstände, wie der folgende Fall beweist. Das Haus eines gewissen Meng Wenke ist in Flammen aufgegangen, der Mann in den Flammen umgekommen. Als der Brandstiftung Verdächtigte nimmt man seine Gattin Zhang fest, doch streitet sie jede Schuld mit dem Hinweis ab, der Ehemann sei ein Trunkenbold gewesen und habe aus mangelnder Vorsicht in den Flammen den Tod gefunden. Richter Shi läßt eine Autopsie der Leiche vornehmen und ordnet gleichzeitig die Untersuchung der Kadaver zweier Schafe an, die ebenfalls in den Flammen verbrannt sind. Insbesondere auf den Mund des toten Meng sowie die Mäuler der Schafe lenkt man das Interesse. Die Überprüfung ergibt, daß Mengs Mund rein ist, während sich in dem Maul eines bei lebendigem Leibe verbrannten Schafes lauter Aschereste befinden. Das Maul eines zuvor getöteten und dann ebenfalls verbrannten Schafes ist dagegen wie im Fall des Meng Wenke sauber. Damit steht für Richter Shi fest, daß das Feuer erst nach dem Tod des Gatten ausgebrochen ist, andernfalls müßten sich in seinem Mund aufgrund der Hilferufe Aschereste finden. Von hier ist es nicht mehr weit bis zur Überführung der Frau Zhang als Gattenmörderin.443 Damit ist Shi Shiluns Beschäftigung mit Kriminalfällen im wesentlichen zunächst abgeschlossen, er wird – und hier deutet sich eine typische Entwicklung 442 443
Ebd., Bd. 3, Kap. 301, S. 985f. Der beschriebene Fall umfaßt die Kapitel 78–80 in Kriminalfälle des Richters Shi.
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des Genres an, bei der es zur Verbindung von Elementen des Kriminalromans mit solchen des Ritterromans kam – beauftragt mit Aufgaben, die ihn weit über die Grenzen einer einzelnen Präfektur hinausführen und umfassender sind als die Aufklärung von Verbrechen. Da sich der Amtmann nun in die Gesellschaft von Gesetzlosen und diversen Helden begibt, muß er sich freilich auf andere Weise individualisieren als mittels der zuvor geschilderten Fähigkeiten bei der Klärung von Verbrechen. Die Person Shis bietet diesbezüglich ein ganz ähnliches Bild des Besonderen wie die des Exzentrikers Sherlock Holmes. Shi Shilun, von dessen körperlichen Mängeln der Leser bereits zuvor an mehreren Stellen aufgrund des Spitznamen »Shi, der Behinderte/Unvollkommene« (Shi bu quan) erfahren hat, wird als Person nun faßbar, ohne dabei freilich zu beeindrucken. Zudem wird er zur Gestalt des zähen, um Ansehen und Respekt ringenden »Krüppels« – ein Topos, der in der chinesischen Literatur spätestens seit Yan Ying bekannt ist. Yan (?–500 v. Chr.) war zur Zeit der Frühlings- und Herbst-Periode Minister des Staates Qi und mußte sich stets gegen Spott über seinen kleinen Wuchs behaupten, wie die Anekdoten im Frühling und Herbst des Meister Yan (Yanzi chunqiu) belegen. Bezeichnend für Richter Shi ist nun die Szene beim Besuch des mandschurischen Bannerritters Zhao Suose: »Der Bannerritter horchte auf, als man ihn Shi vorstellte, und er sah ihn sich genauer an. Amtmann Shi trug eine Mütze auf dem Kopf und war in seine Amtstracht gekleidet. An den Füßen geflickte Socken und einfaches Schuhwerk. Dem Bannerritter fiel auf, daß das eine Bein Shis etwas kürzer zu sein schien als das andere, er hatte eine stark gewölbte Brust und einen Buckel. Dabei von kleiner, gebückter Gestalt, war er gar zu häßlich anzusehen. Der Mandschure lachte heimlich und dachte: »Kein Wunder, daß die Menschen ihn ›Shi, den Un444 vollkommenen‹ nennen.«
Neben dem Romanwerk über Shi Shilun gehört jenes über Peng Peng sicherlich zu den beliebtesten Vertretern des Kriminalgenres jener Zeit,445 wie die zahlreichen 444 445
Shi gong'an, Bd. 1, Kap. 91, S. 211. Auf die wesentlich früheren, jedoch weitgehend unbekannt gebliebenen Seltsamen Kriminalfälle des Yu Chenglong (Yu gong'an qiwen) mit einem Vorwort aus 1800 sei hier nur am Rande verwiesen. Das Werk umfaßt 292 Kapitel und beschreibt siebenundzwanzig verschiedene Kriminalgeschichten. Protagonist ist Yu Chenglong (1617–1684), ein Beamter, der zunächst Verdienste als Magistrat über einen abgelegenen Ort der Provinz Guangxi sammelte und es wenige Jahre vor seinem Tod bis zum Gouverneur von Jiangxi brachte. Yu Chenglong ist auch Gegenstand eines 1903 entstandenen Romans in zwanzig Kapiteln mit dem Titel Die Erzählung von den acht edlen Beamten (Ba xian zhuan), in dem die Auseinandersetzungen Yus sowie sieben weiterer aufrechter Präfekten mit einem mächtigen Übeltäter namens Suo Ai beschrieben werden. Bemerkenswert an diesem Roman ist das schlechte Bild des Kangxi-Kaisers, der auf Gerüchte hört und ehrliche Beamte umbringen läßt.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
Fortsetzungen zu der 1892 im Druck erschienenen Urfassung der Kriminalfälle des Richters Peng (Peng gong'an) in hundert Kapiteln belegen.446 Insgesamt folgten dieser Version zwölf weitere Bände über Richter Peng, von denen acht noch bis zum Ende der Qing-Dynastie erschienen und die restlichen vier erst in den Jahren der Republikzeit ab 1911 vorgelegt wurden. Das Verfasserpseudonym »Taoist Traumtrunken« (Tanmeng daoren) gibt die gleiche Person an, die sich schon auf dem Manuskript der Vollständigen Erzählung von Eintracht und ewigem Frieden fand. Unter Umständen verbirgt sich dahinter der aus Fujian stammende Dichter und Schriftsteller Yang Yidian.447 Es mutet seltsam an, daß der Stoff um Peng Peng (1636–1704), einem Zeitgenossen des Shi Shilun, erst wesentlich später Eingang in die Romanliteratur fand, doch darf man annehmen, daß Richter Peng zuvor schon in anderen Formen der Volkskunst Beachtung gefunden hat. Darauf weisen zumindest die Dramen und Schauspiele hin, die sich mit Szenen um seine Person befassen.448 Die historische Gestalt Peng Peng stammte aus dem Ort Putian in der Provinz Fujian. Seinen ersten offiziellen Posten erhielt Peng 1684 als Magistrat des Kreises Sanhe westlich der Hauptstadt Peking, wo er sich in der Bevölkerung einen Namen als unbestechlicher Beamter machte, bei den mächtigen mandschurischen Bannerleuten jedoch nur Verachtung genoß. Aus diesem Lager stammten auch die Vorwürfe, Peng habe bei der Handhabung von Mordfällen und bei seinem Vorgehen gegen Banditen versagt, was schließlich zu seiner Zurückstufung führte. Kurze Zeit später jedoch, im Jahre 1690, beförderte man ihn auf einen Posten in Peking, in dessen Rahmen er sich u.a. mit Wasserbaufragen in Südchina befaßte. In der Folge waren ihm als Gouverneur auch mehrere Provinzen unterstellt: 1699 die von Guangxi und dann bis zu seinem Tode 1704 die von Guangdong.449 Der Roman Kriminalfälle des Richters Peng überzeichnet und idealisiert das Bild des Beamten und seiner Laufbahn insofern, als er ihm akademische Weihen und Posten unterstellt, die er in Wahrheit niemals erlangte. Anders als in der Wirklichkeit berichtet Kapitel 1, daß Peng den höchsten Gelehrtentitel jinshi innehatte und es bis zum Kriegsminister (Kap. 67) bzw. Kaiserlichen Kommissar für die Angelegenheiten im Nordwesten (Kap. 68) brachte. Dennoch folgt der Roman in groben Zügen der Entwicklung Pengs in seiner Tätigkeit als Beamter des Kaisers. Das Bild des Detektivs und Richters verblaßt nach und nach ebenso wie in den Kriminalfällen des Richters Shi, dem das Werk um Peng Peng ganz deutlich 446 447 448
449
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Peng gong'an, Peking: Beijing Shifan daxue 1993. Vgl. dazu die Einleitung ebd. Als Dramen tauchen diesbezüglich etwa Werke mit Titeln auf wie »Wu Wenhua«, »Das Treffen der Helden« (Yingxiong hui), »Der Neundrachenbecher« (Jiulongbei) u.a. Die biographischen Angaben zur Person Peng Pengs folgen weitgehend den Angaben in JEROME CH'EN: »Rebels Between Rebellions – Secret Societies in the Novel P'eng Kung An«, in: Journal of Asian Studies, Bd. XXIX, Nr. 4, Aug. 1970, S. 810.
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nachempfunden ist, wie nicht zuletzt auch einige Protagonisten belegen, die sich beide Romane teilen.450 Stellte diese Urfassung von 1892 durchaus noch eine Mischung von Kriminal-, Ritter- und Abenteuerroman dar, so gewinnt der Charakter der letztgenannten beiden Genres in den Folgeromanen absolutes Übergewicht. Schon zum Schluß von Kapitel 100 der Kriminalgeschichten des Richters Peng kündigt sich dieser Wechsel an, als für die Fortsetzung des Werkes eine Inspektionsreise Peng Pengs Richtung Westen in die Gebiete von Ningxia und Turkestan angesagt wird. In der Funktion eines hohen kaiserlichen Beamten übernimmt Peng damit staatspolitische Aufgaben vor allem in der Auseinandersetzung mit den Aufständischen.451 In China seinerzeit wohl weit weniger bekannt als die Romane um Bao Zheng, Shi Shilun und Peng Peng dürfte das Werk über einen hohen Beamten gewesen sein, der zur Tang-Zeit in einer kritischen Phase dieser Dynastie gelebt hat. Die Rede ist von Di Renjie (629–700) aus Taiyuan, der unter den Kaisern Gaozong und Zhongzong auf verschiedenen Posten diente und es unter Kaiserin Wu Zetian (625–705), die 690 die Macht an sich riß und die Zhou-Dynastie ausrief, bis zum Kanzler brachte. Die hohe Position, die Di Renjie in den späten Jahren seines Lebens bekleidete, dürfte wohl mit der Ausschlag dafür gewesen sein, daß der hier in vierundsechzig Kapiteln vorliegende Roman Vier aufsehenerregende seltsame Kriminalfälle zur Zeit der Wu Zetian (Wu Zetian si da qi'an),452 bekannt auch unter dem Titel Vollständige Erzählung über Richter Di Liang (Di Lianggong quan zhuan) aus dem Jahre 1902 sich nur zu einem Teil mit den Kriminalfällen befaßt und im übrigen die Auseinandersetzungen Dis mit der Kaiserin und ihren Hofschranzen thematisiert. Als Richter-Beamter ist Di Renjie gerade zu Beginn des Romans gefragt, wo er uns in der Funktion des Bezirksvorstehers von Changping begegnet. Es dauert auch nicht lange, und Di hat in der Gestalt Qiao Tais und Ma Rongs zwei unverzichtbare Helfer aus den Reihen der Banditen rekrutiert, die sich im folgenden vor allem durch ihre Kampfkünste auszeichnen werden. Die Morde, die Richter Di zunächst aufzuklären hat, unterscheiden sich im großen und ganzen nicht viel von denen, mit denen schon Bao Zheng und seine Nachfolger konfrontiert wurden. Variiert werden nur geringe Details, die nichtsdestoweniger interessant sind. Übernatürliche Erscheinungen (»Seelenwinde«) und Hinweise aus dem Jenseits – die Spielräume sind bekannt. In einem besonders schwierigen Fall hat es Di mit einem Gatten450
451
452
So taucht z.B. in Kap. 21 ein gewisser Li Pei auf, der bereits im Shi gong'an eine Rolle spielte. Die eindeutigen historischen Hintergründe zu den mit Kap. 130 (in der Gesamtzählung von Urfassung und Folgewerken) einsetzenden Ereignissen hat Ch'en in »Rebels Between Rebellions« dargelegt. Hier in der Ausgabe Wu Zetian si da qi'an, Peking: Zhongguo-Xiju-Verlag 1992.
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mord zu tun, kann jedoch der vermeintlichen Mörderin, einer Frau Zhou, trotz Folter kein Geständnis entlocken. Bei der Exhumierung der Leiche geschieht etwas Seltsames, nachdem der Sargdeckel geöffnet worden ist: Erschrocken wichen die Leute beim Anblick des Toten zurück und riefen: »Seht nur, wie eigenartig. Er ist mehr als ein Jahr tot und hat die Augen immer noch offen. Wie furchterregend!« Als Di das Gemurmel unter den umstehenden Leuten vernahm, trat er näher an den Sarg und warf einen Blick auf den Toten. Richtig: Die Augen waren offen, groß wie Walnüsse, ohne jeden Glanz und nur von einem grauen Schatten umflort. »Bi Shun! Bi Shun!« rief Di an den Toten gewandt. »Ich bin gekommen, um die Umstände deines Todes zu klären, wenn deine Seele noch nicht zur Ruhe gekommen ist und du mich hörst, dann schließe zum Zeichen die Augen, damit alle es sehen und wir deinen Fall lösen!« Und richtig – Bi Shun war zwar tot, doch seine Yin-Seele schwebte noch über dem 453 Grab. Di hatte kaum zu Ende gesprochen, als dem Toten die Augen zufielen.
Durch Zufall schnappt Richter Di den Namen eines gewissen Xu Detai auf, der Schüler einer privaten Lehranstalt ist und als aufrichtiger, braver junger Mann gilt, dem weder die Mitschüler noch der Lehrer ein Verbrechen zutrauen. Die Zusammenhänge werden jedoch klarer, als man unter der Kammer des Studenten einen Gang entdeckt, der zum Haus der Familie Bi führt. Während Xu Detai seine Verwicklung in das Verbrechen schnell gesteht und das Liebesverhältnis zu Frau Zhou offenbart, muß Richter Di bei ihr zu einer List greifen, um ein Geständnis zu erhalten, ohne das er kein Urteil fällen darf: In der Verkleidung des Unterweltfürsten Yama dringt Di gemeinsam mit seinen »Unterweltsgehilfen« in das Gefängnis ein, um Gericht über Frau Zhou zu sitzen. Einer der Verkleideten gibt sich zudem als der tote Bi Shun aus. Erst auf die Drohung hin, in der Unterwelt in einem Kessel voll Öl gebraten zu werden, legt Frau Zhou ein Geständnis ab und schildert den Tathergang. Danach hat sie den Gatten getötet, indem sie ihm eine lange Nadel ins Hirn trieb.454 In ihrer Gewissenlosigkeit hat Frau Zhou gar die eigene Tochter mittels eines Giftes stumm gemacht, damit das Mädchen nichts über das illegitime Verhältnis zu Xu berichten kann. Ein weiterer rätselhafter Todesfall, den Richter Di aufklären soll, erinnert in seinen Zusammenhängen stark an eine berühmte abendländische Kriminalgeschichte. Eines Tages wird Richter Di von einer Frau Li aufgesucht, die ihm vom frühen Tod ihrer Tochter Li Ligu während der Hochzeitsfeierlichkeiten mit dem jungen Herrn Hua berichtet. Di beginnt mit den Untersuchungen, sein Verdacht fällt bald auf einen der Hochzeitsgäste, hat sich doch ein junger Mann namens Hu Zuobin an jenem Abend auffällig benommen. Eifersucht könnte ein Motiv sein. Hu leugnet jedoch, die Tat begangen zu haben, so daß Di zu zweifeln beginnt. Er inspiziert 453 454
Ebd., Kap. 9, S. 43. Aufklärung des Falles ebd., Kap. 28.
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den Tatort und obduziert die Leiche. Die akribische Arbeit fördert schließlich mit vergiftetem Tee zumindest das Mordmittel zutage. In weiterer Kleinarbeit stellt Richter Di den vermeintlichen Tathergang noch einmal nach, angefangen bei der Zubereitung des Tees. Es kommt Erstaunliches dabei heraus, liegt doch, wie man jetzt feststellt, gar kein Mord vor. Unter dem morschen Gebälk, mit dem der Innenhof des Anwesens von Familie Hua überdacht wird, nistet nämlich eine rote Natter. Als man auf der Feuerstelle darunter Wasser für den Tee kocht, wird das Reptil von der Wärme aus seiner Behausung gelockt. Die Natter reißt ihr Maul auf und träufelt einige Gifttropfen in das Wasser. An dem damit zubereiteten Tee stirbt schließlich die Braut.455 Es ist interessant, wie sehr dieser Fall dem Sherlock-Holmes-Abenteuer »The Adventure of the Speckled Band« von Sir Arthur Conan Doyle (1859–1930) ähnelt,456 dem wohl populärsten Verfasser früher Kriminalgeschichten in der westlichen Literatur, dessen Werk ansatzweise bereits zum Jahrhundertbeginn ins Chinesische übertragen wurde und an dessen Vorbild sich auch diverse chinesische Schriftsteller nach 1911 versuchten.457 Damit ist das erste zusammenhängende Romansegment in dreißig Kapiteln zu einem Abschluß gebracht. In dem nächsten Abschnitt treffen wir einen ganz anderen Di Renjie an, der hier staatsmännische Konturen annimmt. Zuvor wird jedoch in einer knappen Überleitung die Lage im Reich geschildert, wo sich Wu Zetian und ihre Clique zur Macht aufgeschwungen haben. Ursprünglich Nonne, hat sie die Gunst des Tang-Kaisers Gaozong errungen, der sie nach seiner Inthronisierung mit in den Palast nimmt, wo sie bald die beherrschende Figur in den Frauengemächern ist. Nach der Vergiftung der Kaiserin ist Wu Zetian nicht mehr aus der Umgebung des Herrschers wegzudenken. Sie wartet nur Gaozongs Tod ab, um den Thronfolger Zhongzong nach Fangzhou zu verbannen, wo er als »König von Luling« lebt. Statt seiner erhebt die machtbewußte Frau ihre eigenen Verwandten in den Adelsstand und beauftragt sie mit den Regierungsgeschäften. Einzig günstiger Zug, der der Wu Zetian im Roman zugestanden wird, ist ihre Verwendung von Talenten. Hiervon profitiert auch Di Renjie, den man zum Gouverneur von He'nan mit Amtssitz in Kaifeng ernennt. Mehr und mehr nimmt Di in der Folge die Gestalt des »reinen Beamten« an, was ihm im Volksmund die Bezeichnung »Di Klarhimmel« (Di Qingtian) eingetragen hat. Nicht die Aufdeckung von Morden und Verbrechen sind sein Geschäft, sondern die Ausschaltung der Clique aus den Clans Zhang und Wu, die sich um die Herrscherin in der Hauptstadt festgesetzt 455 456
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Der Fall wird in ebd., Kap. 19–23 geschildert. Hier nach der Ausgabe SIR ARTHUR CONAN DOYLE: Six Great Sherlock Holmes Stories, New York: Dover Publications 1992, S. 39–59. Unter den Imitatoren tat sich u.a. ein gewisser Cheng Xiaoqing mit seinen Kriminalfällen unter dem Titel Fälle, die vom chinesischen Sherlock Holmes Huo Sang untersucht wurden (Zhongguo Fu'ermosi Huo Sang tan'an) hervor.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
haben. Mehr und mehr wird die Machtbasis der Kaiserin dabei untergraben. Richter Dis »Säuberungen« erstrecken sich auch auf das private Umfeld der Herrscherin, die in der Historie und Literatur Chinas nicht nur den Ruch der Machtgier, sondern, um das negative Bild zu vervollständigen, auch der Sexbesessenheit hat.458 Die Figur der Kaiserin rückt hier derart in den Vordergrund, daß man wohl zu Recht eine kaum verhüllte Anspielung auf die Kaiserinwitwe Cixi vermuten darf, die zur Zeit des Erscheinens dieses Werkes die beherrschende Figur am Hofe der Qing war. Die Rezeption chinesischer Kriminalliteratur ist verschlungene Pfade gegangen. Es ist dem Werk des niederländischen Diplomaten, Sinologen und Übersetzers Robert van Gulik (1910–1967) zu verdanken, daß die Richtergestalt Di Renjies Teilen einer europäischen Leserschaft besser bekannt sein dürfte als vielen einheimischen Lesern in China. Dort konnte sich Di an Popularität wohl nie mit Richter Bao messen. Van Gulik brachte Ende der 40er Jahre seine Übersetzung der ersten dreißig Kapitel der Vier aufsehenerregenden seltsamen Kriminalfälle zur Zeit der Wu Zetian als »Kriminalfälle des Richters Di« heraus und begann nach dem Erfolg des Buches in den fünfziger Jahren mit der Abfassung eigener Richter-Di-Romane, d.h. Nachdichtungen, die sich nur noch vage an der historischen Vorlage orientierten und lediglich die Chronologie des Lebens von Di Renjie als Bezugspunkt nahmen.459 Eine ganze Reihe dieser Kriminalfälle von Richter Di liegt auch in deutscher Übertragung vor.460 Die chinesische Seite wiederum fand anscheinend derart Gefallen an diesen Richter Di-Versionen, daß sie selbst wieder Übersetzungen davon anfertigte.461 458
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Die zahlreichen Anekdoten über Wu Zetian wurden 1902 zeitgleich mit dem Roman um Richter Di in einer anonym verfaßten Inoffiziellen Geschichte der Wu Zetian (Wu Zetian waishi) in achtundzwanzig Kapiteln verarbeitet, in der freizügig über das Liebesleben der Kaiserin Auskunft gegeben wird. Vgl. van Guliks Anm. auf S. 226 in Celebrated Cases of Judge Dee (Dee Goong An). An Authentic Eighteenth-Century Chinese Detective Novel, übers. und mit einer Einleitung sowie Erläuterungen von ROBERT VAN GULIK, New York: Dover Publications 1976. (Nach der 1949 privat in Tokio veröffentlichten Fassung Dee Goong An: Three Murder Cases Solved by Judge Dee.) Eine deutsche Übersetzung der englischen Judge Dee-Version van Guliks liegt vor mit Merkwürdige Kriminalfälle des Richters Di, aus dem Englischen von GRETEL und KURT KUHN, München/Zürich: Droemer/ Knaur 1964. Auf die Unterschiede der beiden Romansegmente wurde weiter oben bereits hingewiesen. Van Gulik faßte die ersten dreißig Kapitel, die mit der Beförderung Di Renjies enden, als selbständiges Werk auf und bezeichnete die folgenden vierunddreißig Kapitel mit Wu Zetian im Mittelpunkt als Hinzufügungen eines mittelmäßigen Schreiberlings. Wenigstens siebzehn Übersetzungen ins Deutsche erschienen beim Diogenes-Verlag. Zu einer eingehenden Würdigung des Lebens und des Werkes von van Gulik vgl. JANWILLEM VAN DE WETERING: Robert van Gulik. Ein Leben mit Richter Di, Zürich: Diogenes 1990. Erschienen 1986 unter dem Titel Erzählungen über Kriminalfälle, die Di Renjie zur Zeit der großen Tang-Dynastie löste (Da Tang Di Renjie duan'an chuanqi) im Gansu-RenminVerlag.
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Die Erzählwerke über Kriminalfälle der Richter Peng Peng und Di Renjie sind in der Zeit der Jahrhundertwende nicht die einzigen Vertreter ihrer Art geblieben, die sich dadurch auszeichnet, daß ein Magistrat bzw. Präfekt mit der Aufklärung einer Reihe von Verbrechen beauftragt wird. Keiner der zuzeiten auch kürzeren Romane wie z.B. Die seltsamen Kriminalfälle des Richter Li (Li gong'an qiwen)462 oder Die Kriminalfälle des Richter Liu (Liu gong'an)463 kann es jedoch an Popularität mit den o.g. Werken aufnehmen, denen sie ganz deutlich nachempfunden sind. Vereinzelt beschritten die Verfasser von Kriminalromanen zum Ende der QingDynastie neue Wege. Man begann, sich nach und nach von der Form reiner Sammlungen zu lösen, in denen die Kriminalfälle, mit deren Lösung ein einzelner Kriminalbeamter befaßt war, mehr oder weniger beziehungslos aneinandergereiht wurden. Verschiedentlich unternahm man Versuche, das eigentliche Verbrechen mehr in den Mittelpunkt der Schilderung zu stellen und die Zusammenhänge, in die es eingebettet war, eingehender zu erläutern. Naturgemäß nahm die Aufklärung der Tat in diesen Werken einen wesentlich geringeren Raum ein. Das wohl populärste Beispiel für diesen verbrechensorientierten Kriminalroman findet sich im Oeuvre des Wu Woyao (1866–1910). Wu war, wie wir am Schluß dieses Buches im Abschnitt über den zeitkritischen Roman zum Ende der QingDynastie noch sehen werden, ein sehr umtriebiger und schöpferischer Mann, der sich in seinen zahlreichen Werken den Problemen seiner Zeit widmete. Auch in seinem Roman Der seltsame Fall der neun Morde (Jiu ming qiyuan)464 geht es weniger um das Verbrechen an sich. Das Motiv läßt sich in diesem Fall nicht einfach auf Habgier, Rache o.ä. reduzieren. Vielmehr sieht Wu, wie er betont, die Ursachen in dem zeitgenössischen Übel des Aberglaubens. Die Täter werden dadurch nicht frei von Schuld, doch das, was sie getan haben, rückt in eine andere Dimension. Als Hintergrund dient Wu Woyao ein authentischer Mordfall in der südchinesischen Provinz Kanton im Jahre 1738, der recht gut dokumentiert ist. So 462
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Erschienen 1902 in vierunddreißig Kapiteln. Berichtet wird über die Kriminalfälle eines Li Chijun, Präfekt von Jinghai. Li Chijun liegt die historische Gestalt des Li Bingheng zugrunde, einer Qing-zeitlichen Persönlichkeit, die ihr Amt zweimal aufgrund der Einmischung durch Abgesandte ausländischer Mächte niederlegte und am Ende Selbstmord beging. Erschienen um 1903 in zwanzig Kapiteln nach Manuskripten aus der Zeit zwischen 1797 und 1804. Im Mittelpunkt steht die historische Gestalt des hohen Beamten Liu Yong, der von 1719–1804 lebte. Der Roman, der als moderner Druck (Liu gong'an, Peking: Renmin wenxue 1990) vorliegt, beschreibt das Vorgehen von Minister Liu gegen den Guo Tai, der Gouverneur von Shandong ist und im Zusammenhang mit einer Unterschlagung bereits mehrere Ankläger umgebracht hat. Auf seinem Weg nach Shandong hat Liu Yong mehrere Kriminalfälle zu lösen, der Übeltäter Guo entgeht seiner Strafe nicht und wird hingerichtet. Hier bearbeitet nach der Ausgabe WU WOYAO: Jiu ming qiyuan, Shanghai: Shanghai guji 2 1987. Der Roman liegt in sechsunddreißig Kapiteln vor. Er erschien 1906 zunächst als Serie in der Zeitschrift Xin xiaoshuo und kam erst später als Buch heraus.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
legte etwa Ou Su in seinen Aufzeichnungen mit dem Titel Verstreute Aufzeichnungen vom Wolkenturm (Ailou yizhi) wenige Jahrzehnte nach dem Verbrechen unter Berufung auf Berichte und Erzählungen aus der Gegend die Hintergründe zu dem Vorfall dar.465 Nach und nach fanden Motive des Falls Eingang in zahlreiche kantonesische nanyin-Balladen. Wichtigste Quelle für die Gestaltung durch Wu Woyao dürfte jedoch die frühe Romanversion Liang Tianlai: Eine neue Geschichte zur Warnung an die Reichen (Liang Tianlai jing fu xin shu) sein, in deren auf 1809 datierbarem Verfasservorwort ein gewisser Zhong Tieqiao (alias »Herr Anhe«) erkennbar wird.466 In Zhongs erzählerischer Urfassung fehlt kaum eines der bei Wu Woyao ausgebreiteten Details. Mit einem für die chinesische Erzählkunst bis dahin einzigartigen Romanauftakt führt Wu den Leser mitten in die Geschehnisse des Verbrechens. »He, kommt Leute, wir sind da! Schaut nur, wie fest die Türe verschlossen ist. Was meint ihr, wie sollen wir vorgehen?« »Pah, Dummkopf! Das sind doch nur zwei Holztüren. Die sollen nicht aufzubrechen sein? Schnell, bringt mir mal meinen eisernen Hammer!« Bang! Bang! Bang! »Macht einen verdammten Lärm!« »Okay! Da, die Eingangstüre hätten wir aufgebrochen ... Verdammt, da ist noch ein eisernes Tor. Was sollen wir tun?« Bumm! »Aha, dies ist das Zeichen, daß Bruder Lin eingetroffen ist.« »He, Bruder Lin, wir haben ein Problem mit der Eisentüre, die ist nicht aufzukriegen.« »Pah, für einen wie mich ist das ein Kinderspiel, bin schließlich nicht erst seit gestern unter den Banditen. – Laßt mich mal ran: Her mit dem Öl und dem Stroh. Denen da drinnen werden wir mal richtig einheizen. Das wird sie zur Vernunft bringen.« »Feuer, auch gut!« Eine Flamme züngelt empor. »Das Stroh wird nicht heiß genug. Schnell, bringt Holzkohle, die sollen ins Schwitzen kommen!« »Seht ihr, wie es glimmt und glüht, schnell jetzt!« Bumm, bumm, bumm ... »Seht, der Türrahmen ist eingestürzt, los, weiter ...« 465
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Ou Sus Werk stammt aus dem Jahre 1794. Die Darstellungen zum betreffenden Verbrechen finden sich in Buch 5 unter dem Titel »Befriedigung der Rachegelüste« (Yun kai xue hen). Vgl. dazu die in Auszügen abgedruckten Untersuchungen Luo Ergangs im Anhang zu Jiu ming qiyuan, S. 187–197. In den bekannten Lokalchroniken finden sich seltsamerweise keine Hinweise auf den Fall, wohl aber wird die Existenz von in den Fall verwickelten Personen wie Ling Guixing und Liang Tianlai bestätigt. Luo Ergang ist den Hintergründen zu dem Verbrechen bereits in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts nachgegangen und fand heraus, daß sich die Familien der Ling und der Liang bis in seine Zeit hinein (also gut 200 Jahre nach den Morden) feind waren und man den Angehörigen untersagte, in Heiratsbeziehungen zu treten. Zhongs Fassung ist noch ein wenig länger als die von Wu Woyao und liegt in vierzig Kapiteln vor.
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN »Verflixt, da ist ja noch eine Tür! « »Bruder Lin, die ersten beiden Türen haben wir mit dem Feuer aufbekommen. Was machen wir jetzt bei dieser steinernen Mauertür?« »Elende Schwächlinge! Strengt euch gefälligst an, sonst wird aus der Belohnung von Herrn Ling nichts!« »Los jetzt, mit vereinten Kräften!« [...] »Aha, da ist ja auch Herr Ling!« »Herr Ling, wir bringen diese steinerne Tür nicht auf, was schlagen Sie vor?« »Wie, erst brüstet ihr euch mit euren Fähigkeiten, und jetzt wollt ihr so schnell aufgeben?« »Keine Sorge, Herr Ling. Ich habe schon eine Idee.« »Heraus damit, Bruder Lin!« »Nun, da Sie es nicht auf das Geld der Liangs abgesehen haben, Herr Ling...« »Pfeif ich drauf, habe selber Geld wie Heu ...« »Na, wenn es Ihnen nur darauf ankommt, den Liang aus dem Weg zu räumen, dann wüßte ich schon, was zu tun ist ... Man müßte dabei gar nicht ins Haus selbst.« »Wenn ihr mir dieses verruchte Pack nur aus dem Weg schafft. Hauptsache, ihr Brüder macht ganze Arbeit ... Laß hören, was schlägst du vor, Alter Lin?« »Alles, was wir brauchen ist Stroh. Das verbrennen wir hier vor der Türe und lassen den Rauch durch die Ritzen nach innen ziehen ... Was ist, siebter Bruder, bis du immer noch so gewandt beim Klettern wie früher?« »Tja, ich hab zwar schon zwei Opiumpfeifchen geraucht, aber was man einmal gelernt hat, vergißt man so leicht nicht wieder. Klar, beim Klettern macht mir so schnell keiner was vor.« »Na, wenn das so ist, dann klettere auf das Dach, stopfe überall trockenes Holz und Stroh zwischen die Fensterritzen und zünd es an.« »In Ordnung, wird gemacht.« »Herr Ling, hier ist ein Sattel, nehmen Sie derweil Platz und schauen Sie uns 467 bei der Arbeit zu! Brüder, ans Werk!«
Für den in der Erzählliteratur an eine strenge chronologische und lineare Schilderung der Ereignisse gewöhnten Leser muß solch ein Romanbeginn geradezu revolutionär gewirkt haben, denn erst in Kapitel 16 sind alle Hintergründe, die zur Tat führen, vollkommen klar, schließt sich mit der Darstellung des Brandes und dem grausamen Erstickungstod der im Haus eingeschlossenen Opfer der Kreis des Erzählrahmens. Nun waren Zeitsprünge an sich in den traditionellen Erzählungen und Romanen nichts Ungewöhnliches, und auch Wu Woyao greift an mehreren Stellen auf dieses überlieferte Stilmittel zurück, wenn er – eingeleitet durch ein retardierendes »ursprünglich« (yuanlai) – zum Beispiel die Handlung an einer Stelle unterbricht und sich unter Rekapitulation der vorangegangenen 467
Der seltsame Fall der neun Morde, Kap. 1, S. 1f.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
Ereignisse einer anderen Person zuwendet.468 Rein formal könnte man den Beginn auch als von der eigentlichen Geschichte losgelöste Einleitung bzw. Vorspann (ruhua) auffassen, wie er sich oftmals in Erzählungen (z.B. den Textbüchern) findet. Beeinflußt könnte Wu Woyao auch von den nanyin-Balladen worden sein, die die interessanteste Episode, welche chronologisch erst in die Mitte des geschilderten Geschehens gehört, an den Beginn stellen.469 Auffällig ist jedenfalls, daß es sich bei der Einleitung um einen Dialog und nicht um eine Erzählung handelt. Ungewöhnlich mutet auch an, daß keiner der Dialogsätze mit einem »[er] sagte« (yue bzw. dao) eingeleitet wird, so daß auch der Einfluß westlicher Verfasser auf Wu bemüht wurde.470 Auf ein traditionelles Element greift Wu Woyao jedenfalls unmittelbar nach der Dialog-Einleitung zurück, wenn er sich als erläuternder Erzähler zu erkennen gibt und folgendermaßen an den Leser wendet: Verehrter Leser, nun habe ich einfach so drauflos erzählt von dem Verbrechen der Banditen. Da war von einem reichen Herrn Ling die Rede, der Geld hat wie Heu und nicht auf Raub aus ist, sondern sich die Bewohner des Hauses vom Leibe schaffen will. Über solche Seltsamkeiten wird der Leser mehr als erstaunt sein. Ich fürchte, wenn ich weiter in diesem Stil fortfahre, wird man sich am Ende auf nichts mehr einen Reim machen können. Daher will ich mich bemühen, Verlauf und Hintergrund des erwähnten Falles eingehend darzulegen, damit sich 471 jeder ein Bild von den Ereignissen machen kann.
Hier hat sich Wu bereits wieder von der gewagten Einleitung distanziert, und er wird den restlichen Roman in strenger Anlehnung an die überlieferte Erzählweise fortführen.472 Er holt im folgenden weit aus und erläutert die Hintergründe, die schließlich zu dem Verbrechen führen. Danach betreiben die Familien Liang und Ling in der Provinz Kanton einen Seidenhandel, doch zieht sich Ling Zongke am Ende aus dem Geschäft zurück und macht sein Glück anderswo. Der Besitz der Familie geht auf Ling Guixing, den späteren Anstifter des Mordes, über. Der Liang-Clan betätigt sich dagegen weiterhin in der Seidenbranche, wobei die Söhne 468 469
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471 472
Wu Woyao bedient sich dieser Form der Zeitsprünge in den Kapiteln 17, 18, 31 und 35. Vgl. dazu GILBERT CHEE FUN FONG: »Time in Nine Murders: Western Influence and Domestic Tradition«, in: MILENA D2/(ä(/29È-VELINGEROVÁ: The Chinese Novel at the Turn of the Century, Toronto: University of Toronto Press 1980, S. 121. FONG: »Time in Nine Murders«, S. 123 erwähnt etwa, daß Zhou Guisheng, ein enger Freund Wu Woyaos, in der Zeitschrift Xin Xiaoshuo die Übersetzung der Geschichte »Die schwarze Ringelschlange« veröffentlichte, welche von einem Franzosen stammte, dessen Name als »Baofu« transkribiert wird. Das erste Kapitel hebt mit dem Dialog zwischen Vater und Tochter an. Der seltsame Fall der neun Morde, Kap. 1, S. 3. Auch in bezug auf das Genre der gong'an-Romane weist Neun Morde eine ganze Reihe von Parallelen auf. Gängige Protagonistengestalt ist etwa der verkleidete Richter, der auch in Wus Roman nicht fehlt (hier als Richter Chen).
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN
Tianlai und Junlai die Geschäfte gemeinsam betreiben. Um Klarheit zu schaffen, zahlt man Guixing aus, nur ein geringer Betrag bleibt (wohlbemerkt mit Guixings Einverständnis) offen, genug Grund, die folgenden Auseinandersetzungen auf die Spitze zu treiben. Ling Guixing nun strebt nach höherem und beabsichtigt, einen akademischen Titel zu erwerben. Mit Geldbeträgen glaubt er, sich die Prüfer gefügig machen zu können, auch die Horoskope sind so günstig, daß Guixing gar annimmt, die Examina am Kaiserhof als Bester zu bestehen. Doch am Ende reicht es nicht einmal für den Bakkalaureus, so die niederschmetternde Nachricht, die aus dem Kreisprüfungsamt eintrifft. Von den fünf Voraussetzungen, die man als maßgeblich für das Bestehen einer Prüfung annimmt (Schicksal ming, Glück yun, geomantische Verbundenheit fengshui, Ansammlung von yin-Kraft jiyingong und Bildung dushu) hält man alle für gegeben bis auf die Geomantik. Erneut wird ein Wahrsager bestellt, der sich Ma Banxian (Ma, der halbe Heilige) nennt. Dieser gibt nun an, daß das steinerne Haus der Familie Liang in der Nachbarschaft die Ursache für eine ungünstige geomantische Wirkung sei. Guixing ist zuversichtlich, mit den Verwandten (die beiden Clans sind durch Heiraten miteinander verbunden) wegen des Hauses zu einer Einigung zu gelangen. Geplant ist ein Abriß. Doch die Dinge entwickeln sich anders. Liang Tianlai ist aus Pietät gegenüber dem Vater, der das Haus einst erbaute, nicht zu einem Verkauf und schon gar nicht zu einem Abriß bereit. Vorlaut verkündet zudem der Sohn Tianlais, nicht die geomantische Lage, sondern mangelnder Fleiß und Begabung Guixings hätten den Prüfungserfolg verhindert. Man trennt sich im Streit. Treibende Kraft hinter dem nun beginnenden Psychoterror ist Guixings Onkel Ling Zongkong, der sich zudem allerhand Gemeinheiten ausdenkt. So wird unter seiner Anleitung zum Beispiel das Grab des Liang-Ahnen Chanda geöffnet und der Sarg geraubt – ein schwerer Verstoß gegen die Ahnenverehrung. Man setzt den Liangs zu, wo man kann, Fischteiche werden zerstört, Felder verwüstet, falsche Schuldscheine der Liangs in Umlauf gebracht, Tianlai und sein Bruder gar verprügelt. Darüber hinaus macht Zongkong sich Formen des Aberglaubens zunutze (»Wenn der weiße Tiger Besitz von der Wohnhalle ergreift, sterben innerhalb eines Jahres mehrere Menschen!«) und bringt auf einer Wand gegenüber der Wohnhalle der Liangs das Bild eines Tigers an. Die Liangs behelfen sich, indem sie an einem Felsen das Bild eines anderen Tigers anfügen und den Zauber damit aufheben. Wu Woyao fühlt sich an dieser Stelle bemüßigt, seine aufklärerische Haltung darzulegen: Verehrter Leser! All diese Wahrsagerei, Geomantik, weiße Tiger und was sonst noch – das ist alles abergläubisches Zeug und nicht der Rede wert. Nur weil die Menschen damals noch nicht jenes Maß an Bildung genossen und glaubten, man könne mit einem Geist einen anderen bekämpfen – nur deshalb erzähle ich 473 hier davon. 473
Der seltsame Fall der neun Morde, Kap. 6, S. 26.
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Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman
Die Frauen versuchen zu vermitteln, Guixian, die junge Schwester des Guixing, schämt sich für das Verhalten des Bruders und begibt sich zu Frau Liang. Umsonst, wie sich bald herausstellt. Aus Scham und Zorn erhängt sich die junge Guixian. Den gewissenlosen Guixing läßt das ungerührt, er hat nur ein Ziel vor Augen; die Vernichtung des Liang-Clans. Zu diesem Zwecke dingt er einige Halunken um Lin Dayou, um das grausige Werk zu verrichten. Der arme Herumtreiber Zhang Feng erfährt von dem Mordkomplott und will die Liangs warnen, doch man schenkt ihm keinen Glauben. Zu spät beachtet man die Warnungen, Tianlai und die übrigen Männer entschließen sich zur Flucht, glauben die Frauen sicher und wohlverschlossen daheim. Doch elendiglich sterben acht Damen den Erstickungstod, darunter die schwangere Gattin Tianlais. Nur die Großmutter Shi überlebt wie durch ein Wunder. Was folgt, ist die Schilderung einer korrupten Bürokratie, die sich als unfähig erweist, den ganz offensichtlichen Fall zu klären und die Täter zu bestrafen. Landrat Huang wird von dem Clan der Lings bestochen, Kronzeuge Zhang Feng verwickelt sich im inszenierten Kreuzverhör in Widersprüche und erhält eine Prügelstrafe, erweist sich jedoch in der Folge als aufrichtig genug, Bestechungsversuchen Guixings zu widerstehen. Aber auch Tianlai ist unterdessen nicht untätig, es gelingt ihm, den Fall vor den Generalgouverneur Kong Dapeng zu bringen. Regierungssoldaten umstellen das Anwesen Ling Guixings und verhaften siebzig Personen. Aufgrund der Schwere des Verbrechens gibt Kong Dapeng den Fall an das Justizministerium ab und wird auch bald selbst zu Flußregulierungsarbeiten in Shandong abberufen. Nun haben die Übeltäter wieder Oberhand, der bestochene Präfekt Lian läßt Anstifter und Mörder frei, Liang Tianlai droht eine Verleumdungsklage. Guixing gibt sich siegessicher. Eines Tages kam Tianlai zufällig am Haus der Familie Ling vorbei, als er plötzlich Guixing in einer Sänfte erblickte, gefolgt von zwei Burschen. Sogleich senkte Tianlai den Kopf, um der Gruppe aus dem Weg zu gehen, doch Guixing hatte ihn schon ausgemacht, hieß die Träger anhalten und sprang aus der Sänfte. »He, verehrter Cousin«, zerrte er Tianlai an der Schulter, »wieder unterwegs, um in irgend einem Yamen Anklage gegen mich zu erheben?« »Was geht’s dich an, wohin ich unterwegs bin?« brummte Tianlai unwillig. »Hör mir gut zu, Liang Tianlai«, lachte Guixing hämisch. »Du müßtest schon hinauf in den Himmel vor den Jadekaiser ziehen oder dich hinab in die Unterwelt zu Fürst Yama begeben, um mit dieser Klage etwas gegen mich auszurichten. Da du an keinen der beiden Orte gelangen kannst, magst du ruhig bis in die Hauptstadt gehen, doch sei gewiß, auch das ist umsonst. Ich gestehe es ganz offen – für die vielen Toten bin ich verantwortlich. Doch weißt du, warum man mir nichts anhaben kann? Weil ich Geld habe! Du und deine Familie, ihr habt euch verausgabt, euer Geld darauf verwendet, mich mit Prozessen zu überziehen. Und was hat es geholfen? Ihr könnt einem wirklich leid tun mit eurer Sturheit.« Damit hieß er einen seiner Diener, zweihundert Tael Silber aus der Tasche zu ziehen und Tianlai vor die Füße zu schleudern. »Hier, das schenke ich dir! Vielleicht reicht es für eine neue Klage gegen mich ... Aha, ich sehe, du bist nicht in
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DIE WELT DER MÄCHTIGEN der besten Verfassung. Na warte, ich werde dir schon auf die Sprünge helfen!« Damit griff Guixing nach einem Fächer in seinem Ärmel und begann, auf Tianlai einzuschlagen, der sich bemühte, das Weite zu suchen. Stolz erhobenen 474 Hauptes bestieg Guixing wieder die Sänfte und begab sich nach Hause.
Guixing gibt sich, wie man am Ende herausfindet, zu selbstsicher. Es gelingt Tianlai, Zeit zu gewinnen und nach Peking zu flüchten, indem er das Gerücht streut, ernstlich erkrankt zu sein. In der Hauptstadt endlich hat Tianlai mit seiner Klage Erfolg, die Täter werden schließlich ihrer gerechten Strafe zugeführt.
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Ebd., Kap. 28, S. 140.
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Teil III Die Welten hinter der Welt – Imagination und Daseinserklärung
1. Der Komplex des Mythisch-Religiös-Phantastischen im frühen Roman Es ist der Götter gut müßiggehn, sie haben den Donnerschlag und den Blitz in der Hand
Wir verlassen den Komplex des frühen chinesischen Romans, in dem die Welt in ihren historischen Dimensionen sowie zeitlich und örtlich zuzuordnenden Abläufen Gegenstand der Darstellung war. Selbst dort, wo wie in den beiden letzten Abschnitten über Abenteuer, Ritter und Detektiv-Beamte nicht mehr die konkrete Herrschergestalt bzw. das Schicksal einer Dynastie im Mittelpunkt standen, war durch den Entwurf eines konkret-historischen Rahmens doch stets die Einbindung in das Konzept des Wahren gegeben, wurde wenigstens die Illusion vermittelt, daß sich Handlungen um identifizierbare Persönlichkeiten tatsächlich so entwickelt haben. Wie wir jedoch gesehen haben, war die Welt des realen Scheins immer wieder durchbrochen von Anklängen an die Phantastik und das Übernatürliche, so daß sich nur mit Mühe der Eindruck einer ungebrochenen historischen Szenerie bzw. der stringenten Wirklichkeitsbeschreibung einstellte, zu der der Leser in einem unumwundenen Urteil hätte sagen mögen, daß die Dinge sich so oder ähnlich hätten abspielen können. Wir reden hier wohlgemerkt nicht schlechthin vom Konzept des Realismus bzw. der mimetischen Gestaltung. Dennoch sollte unserer Auffassung nach bei Anlage und Wahl eines bestimmten Themas im Roman die Vermittlung der Zusammenhänge auf schlüssige und nachvollziehbare Weise erfolgen. Es mag bei der Darstellung einer Herrschergestalt mit Blick auf ihre im Volksglauben begründete Rolle als Verbindung zwischen Erde und Kosmos gerade noch angehen, wenn sie im Bunde mit höheren Mächten steht, doch der Eindruck, der uns diesbezüglich von Beamten wie Bao Zheng bei ihrer Arbeit im konkret-weltlichen Gefüge vermittelt wird, leidet, wenn hier entscheidende Zusammenhänge von übernatürlichen Kräften abhängig gemacht werden. Wie wir im folgenden auf der anderen Seite sehen werden, hat sich die chinesische Erzählkunst jener Bereiche, die sich mit dem Komplex des Mythischen, Religiösen und Phantastischen befaßten zumal in der Gattung des spät auftretenden Romans schwer getan, ihre umfangreichen Zeugnisse aus dem konkret historischen Gefüge zu lösen und reine Phantasiewelten zu entwerfen.475 Es lohnt daher, einen 475
Die chinesische Literaturwissenschaft stand bei der Einordnung der diesem Komplex zuzuordnenden Erzählwerke vor ähnlichen Problemen. Der Terminus zhiguai xiaoshuo als »Berichte von Übernatürlichem« blieb dem Genre der Geschichten vorbehalten, die Gan Bao und seine Nachfolger herausgaben. Lu Xun prägte in seiner Kurzen Geschichte der
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG
kurzen Blick zurück auf die frühen Erzählformen dieses Genres und ihre Entwicklungsbedingungen zu werfen, um so zu einem besseren Verständnis des Romans während der Dynastien Ming und Qing zu gelangen. Der Komplex der chinesischen Erzählliteratur, der in diesem Kapitel abgehandelt werden soll, ist mit Bedacht sehr breit gefaßt, um den verschiedenen Formen bei der Darstellung der Götterwelten und des Übernatürlichen möglichst gerecht zu werden. Der Begriff des Mythos, etwa wie ihn Aristoteles in seiner Poetik gefaßt hat, war ursprünglich lediglich eine Bezeichnung für Handlung bzw. Erzählstruktur und dabei der kontrapunktische Gegenbegriff zum Logos und der dialektischen Abhandlung. Erst in der modernen Kritik wird der Mythos vielfach als das Übernatürliche bzw. Nichtnaturalistische und Irrationale der Geschichte, Wissenschaft, Philosophie und Wahrheit schlechthin entgegengesetzt.476 Anders als bei Aristoteles hat vielfach die Reduzierung auf die Bedeutung »Erzählung von Göttern« stattgefunden. Der Mythos besitzt allerdings einen vielschichtigeren Charakter, als man gemeinhin annimmt, und setzt die Existenz von Gott bzw. Göttergestalten nicht schlechthin voraus. Vielmehr bietet er dem Übernatürlichen, Seltsamen, Wunderbaren und Unerklärlichen breiten Raum.477 Jeder Mythos ist ein Versuch der Deutung der Welt in ihren realen und erfahrbaren Bezügen sowie der Rolle und dem relativen Status des Menschen. Ein Mythos ist in der Lage, die politischen und moralischen Werte einer Kultur zu verbreiten und Systeme bereitstellen, mit deren Hilfe individuelle Erfahrungen in einer universellen Perspektive interpretiert werden. Das kann die Intervention übermenschlicher Einheiten genauso beinhalten wie Aspekte der natürlichen und kulturellen Ordnung.478 Bei der Beschäftigung mit chinesischer Mythologie als der unempirischen und »unwissenschaftlichen« Erklärung des Menschen von dem, was wir das Überirdische nennen, fällt sogleich die relative Armut an echten Mythen auf, wohingegen es einen reichen Schatz an Äußerungen des Volksglaubens gibt, in dem die Berichte von Geistern und Gespenstern anzusiedeln sind.479 Zudem fehlen eindeutige
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chinesischen Romandichtung für die »Romane über Götter und Teufel« den Terminus shenmo xiaoshuo, der aber sehr stark den Antagonismus zwischen den verschiedenen Denk- und Glaubensrichtungen in China in den Vordergrund stellte. Als Oberbegriff über zhiguai und shenmo hat in der letzten Zeit der Terminus shenguai Anwendung gefunden, was u.a. an den Bezeichnungen für Sammelbände erkennbar ist, wie sie von Zeit zu Zeit in China erscheinen (vgl. LIN CHEN / DUAN WENGUI [Hg.]: Große Ausgabe des mythologischen Romans in China [Zhongguo shenguai xiaoshuo daxi], Chengdu: Bashu shushe 1989, Ausgabe in zehn Bänden). Vgl. RENÉ WELLEK / AUSTIN WARREN: Theorie der Literatur, Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 203f. Vgl. ANNE BIRRELL: Chinese Mythology, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1993, S. 3. Vgl. zu dieser Definition WILLIAM G. DOLY: Mythography: The Study of Myths and Rituals, University: University of Alabama Press 1986, S. 11. Zu dieser Feststellung gelangt bereits E.T.C. WERNER: Myths and Legends of China, London u.a.: George G. Harrap 1924, S. 60 und 74f.
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Der Komplex des Mythisch-Religiös-Phantastischen im frühen Roman
Zeugnisse über Ordnung und Bearbeitung der Mythen aus frühester Zeit, was nur so zu erklären ist, daß es in China offenbar keine Männer wie Homer, Hesiod oder Ovid gab, die die übertragenen Mythen wiedererzählten und ihnen eine schriftliche Form gaben. Chinas Mythen hingegen blieben oft nur sehr verstreut in diversen Texten erhalten, wobei man sie gerne aus ihrem eigentlichen historischen Zusammenhang herausriß und lediglich als Beleg für eine bestimmte These benutzte.480 Dieser nachlässige, freie Umgang mit dem mythischen Material hatte schließlich zur Folge, daß die betreffenden Gestalten ihre genauen Konturen einbüßten und bald nur noch eine dünne Grenze zwischen Göttern und Geistern bestand. Zwar trennte man theoretisch sehr wohl zwischen den Himmelsgottheiten und irdischen Geistergestalten, doch in der Mehrzahl der Fälle war es etwa Totengeistern bald nicht mehr versagt, in den Pantheon aufzusteigen, wohingegen ausgesprochene Gottheiten in der Überlieferung ihres einstigen Status beraubt und zu Menschenwesen degradiert wurden. Dem Namen nach mochten diese mythischen Gestalten unter Umständen noch bekannt sein und auch wieder Gegenstand in späteren Schöpfungen werden, doch fehlten ihnen zumeist der konkrete evolutionäre Hintergrund und die organische Entwicklung.481 Damit ist die Frage nach dem Warum für diesen Mangel durchaus nicht beantwortet, und man bleibt auf Spekulationen angewiesen. Nicht zuletzt aber der Konfuzianismus, der sich auf nüchterne Art und Weise vor allem mit Fragen der Ethik zur Lenkung der Familie und des Staates und mit Wegen zur Befriedung der Welt beschäftigte, hegte eine große Abneigung gegen das Spekulative und Übernatürliche. Auf Konfuzius geht die Forderung an den »Edlen« zurück, sich von Geistern fernzuhalten und im übrigen nicht über Gespenster und Absonderliches zu reden.482 Eine Stufe unterhalb des mythischen Kontextes – ursprünglich zurückgehend auf den chinesischen Ahnenkult – ist jener Bereich anzusiedeln, den wir hier unter die Rubrik der phantastischen Literatur fassen. In dem von den konfuzianischen Bildungsidealen wenig sanktionierten Bereich des Volksglaubens dürfte sich das Interesse am Wunderbaren und Übernatürlichen in hohem Maße erhalten haben. 480
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Vgl. u.a. BIRRELL: Chinese Mythology, S. 17f. Neben einer guten Zusammenfassung der einzelnen Mythen nennt Zheng als die wichtigsten klassischen Werke Chinas, in denen Auskunft über frühe Myhenauffassungen gegeben wird, u.a. das Buch der Riten (Liji), Riten der Zhou (Zhouli), Buch der Urkunden (Shujing) u.a. (vgl. CHANTAL ZHENG: Mythen des alten China, aus d. Französischen von FRANK FIEDELER, München: Diederichs 1990, S. 133f.). Zu dieser Beobachtung gelangte u.a. CH'EN SHOU-YI in seinem Werk Chinese Literature. A Historical Introduction, New York: Ronald Press Co. 1961, S. 267f. Die entsprechenden Stellen finden sich in den Konfuzius zugesprochenen Gesprächen (Lunyu), vgl. dazu die Ausgabe KONFUZIUS: Gespräche, aus dem Chinesischen von RALF MORITZ, Frankfurt/M.: Röderberg 1983, VI, 22. (S. 67) und VII, 21. (S. 71). Siehe einführend zur Problematik den Aufsatz von RAINER VON FRANZ: »Die Domestizierung der Gespenster«, in: minima sinica 2/1994, S. 1–14.
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Die Darstellung des Unerhörten und nie Gesehenen lenkt den Blick auf Grenzerfahrungen und Phänomene, die jenseits der Erfahrungswirklichkeit sind. Die Ebene des Realen wird mehr noch als im Mythos überschritten zugunsten des Irrealen, Wunderbaren, Übernatürlichen, Zauberhaften und Gespenstisch-Geisterhaften. Eine erste Sammlung weniger von Ereignissen als vielmehr von Wesen und Gestalten aus diesem Kanon des Phantastischen liegt mit dem auf das 3. bzw. 4. vorchristliche Jahrhundert zurückgehenden Klassiker der Berge und Meere (Shanhaijing) vor, der vor allem mit einer Anzahl furchteinflößender Tiergestalten bevölkert ist. Etwas später fanden auch die mit menschlichen Zügen ausgestatteten Unsterblichen (xian) Aufnahme in diese Runde.483 In dieser knappen Einführung kann selbstverständlich nicht die gesamte frühe erzählerische Entwicklung des Umgangs mit Mythos, Religion und Phantastik beschrieben werden. Für die Thematisierung der Stoffe von entscheidender Bedeutung waren jedoch einige Werke, die nach dem Sturz der Han-Dynastie etwa im dritten nachchristlichen Jahrhundert erschienen. Diese als »Berichte vom Außergewöhnlichen« (zhiguai) in Anlehnung an die Historiographie konzipierten Gespenstergeschichten besaßen mit bestimmten kultischen Ursprüngen zunächst einen rein chinesischen Hintergrund, nahmen jedoch nach und nach immer mehr Einflüsse des über Zentralasien eindringenden Buddhismus auf.484 Als eine der frühesten und bedeutendsten Sammlungen dieser Werke legte Gan Bao um 340 seine Aufzeichnungen über Geister (Soushenji) vor,485 doch kursierten zu jener Zeit bereits eine ganze Reihe ähnlicher Sammlungen, wie ein Buch mit dem Titel Wunderbare Geschichten (Lieyizhuan) beweist, das Cao Pi (187–226), einem Sohn des Cao Cao, zugeschrieben wird. Werke aus der Folgezeit wie Wu Juns (469–520) Mehr unpassende Erzählungen (Xu qi xiezhi) oder Wang Yans (ebenfalls 5. Jahrhundert) Berichte von mysteriösen Offenbarungen (Ming xiangji) wiesen deutlich buddhistische Züge auf, doch blühten zu jener Zeit genauso Sammlungen mit taoistischen Stoffen. Während für diese ersten nachchristlichen Jahrhunderte also bereits umfassende Sammlungen von Geschichten über das Mythisch-Phantastische existierten, sollte es gleichwohl bis zur Ming-Dynastie dauern, bis die Stoffe Eingang in die längeren Erzählformen des Romans fanden. Das späte Auftauchen des mythischen Romans in China dürfte der Grund dafür sein, daß die 483
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Vgl. hierzu und zur weiteren Entwicklung des erzählerischen Umgangs mit Elementen des Phantastischen das umfassende Vorwort in H.C. CHANG: Tales of the Supernatural, New York: Columbia UP 1984, S. 1–40. Vor allem den schamanistischen wu-Kult, vgl. CH'EN: Chinese Literature, S. 268. Vgl. zur Sammlung und den von ihr auf die Erzählkunst maßgeblichen Einflüssen KENNETH J. DEWOSKIN: »The Six Dynasties Chih-kuai and the Birth of Fiction«, in: ANDREW H. PLAKS (Hg.): Chinese Narrative, Critical and Theoretical Essays, Princeton, N.J.: Princeton UP 1977, S. 21–52. Die Berichte über Geister liegen mittlerweile in einer vollständigen englischen Übersetzung vor (KENNETH J. DEWOSKIN/ J.I. CRUMP [Übers.]: In Search of the Supernatural: The Written Record, Stanford 1996).
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Der Komplex des Mythisch-Religiös-Phantastischen im frühen Roman
frühen Vertreter dieses Genres mit einer Vielzahl historischer Bezüge und religiösen Darstellungen jeder Glaubensrichtung befrachtet sind. Die Investitur der Götter (Feng shen yanyi) ist dabei eher noch als Die Reise in den Westen (Xiyouji) mit ihrem soteriologischen Bericht über die Mühen bei der Verbreitung des Buddhismus in China eine theogonische Mythe, deren historische Bezüge sich durch Verlagerung der Handlung in frühistorische Zeiten ähnlich wie bei der Ilias des Homer der Nachprüfbarkeit entziehen. Beide Werke weisen trotz der Divergenzen im Werk selbst durch die geschichtlichen und mythologischen Vorlagen auf den Bann der kollektiven Überlieferung hin, in dem sie stehen. Die Romanhandlung resultiert in beiden Fällen nicht aus dem Verhalten besonderer Menschen, sondern aus dem Verhalten allgemeiner menschlicher Typen, welche vor einem Hintergrund agieren, der weitgehend durch die zugehörigen literarischen Konventionen bestimmt wird. Die Zielrichtung und Intention sowohl der mythisch-religiösen als auch der phantastischen Romane ist unterschiedlich. Bei der Reise in den Westen ist der allegorische Bezug ganz deutlich. Bei einer Reihe von anderen Werken wie den Erzählungen über Guanyin, Bodidharma oder Lü Dongbin, die ihren Ursprung in der Kanonliteratur des Buddhismus und des Taoismus haben, stehen dagegen missionarische Anliegen im Vordergrund. Daneben gibt es der Phantastik nahestehende Werke wie Die Geschicke der Fuchsdämonen (Huli yuan), in denen man eine deutliche Freude am Erzählen spürt, während in Stücken aus der ausklingenden Qing-Dynastie wie etwa Hedian politisch-soziale Fragen stark in den Vordergrund treten. Daß die hier behandelte Thematik in mythisch verbrämter Form nicht zuletzt auch dazu dient, Probleme der kulturellen Identitätssuche zu erörtern, zeigt schließlich Li Ruzhens Blumen im Spiegel (Jinghuayuan), mit dem wir diesen Abschnitt abschließen werden.
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2. Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane Nur wenigen Gestalten in den übrigen der Vier Großen Romane der klassischen chinesischen Erzählliteratur ist es gelungen, derart Eingang in die Herzen der Leser zu finden wie jene aus der Reise in den Westen. Dies mag damit zu tun haben, daß sich die Handlung weitgehend von den historischen Bezügen gelöst hat und im Mittelpunkt nicht der geschichtsbeladene Held steht, sondern ein Tier, der Affenkönig Sun Wukong. Selbst junge und jüngste Leser der vereinfachten Romanversionen, die in der Art von Comics aufgemacht sind, finden schnell Zugang zu der quirligen, lebhaften Gestalt des Affenkönigs, der seine Gegner mit Witz und Stärke bezwingt. Doch das ist bereits Phantasie. Angelegt in der Form eines Reiseromans und unterlegt mit dem quest-Thema, ist Die Reise in den Westen natürlich alles andere als nur Lektüre für Kinder und nicht schlicht auf belustigende, unterhaltende Intentionen zu reduzieren. Der Rahmen ist wie bei den beiden anderen großen Romanen aus der Ming-Dynastie, die wir schon kennengelernt haben, historisch. Doch stehen diesmal nicht kriegerische Ereignisse oder das Bandenwesen im Vordergrund, sondern die Bemühungen eines Mönchs um die Beschaffung von Schriften des Buddhismus aus dem fernen Indien. Wer war dieser Chen Xuanzang (ca. 600–664), und vor welchem Hintergrund trat er seine Reise an?486 Chens Jugendjahre fielen in die unruhige Zeit der kurzlebigen Sui-Dynastie und der Gründungsphase der Tang-Dynastie, eine Epoche, die von starken intellektuellen Strömungen gekennzeichnet war und religiöse Traditionen wieder aufleben ließ.487 Bereits in frühem Alter traten Xuanzang und sein Bruder in das religiöse 486
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Über Chen Xuanzangs Leben und Wirken wissen wir vor allem aus einem Werk seiner Schüler Yan Cong und Huili mit dem Titel Leben des Mönchs Sanzang vom Großen Kloster der Gnade und Barmherzigkeit in der Zeit der Großen Tang-Dynastie (Da Tang Dahui'en si Sanzang fashi zhuan). Eine eindrucksvolle Lektüre ist immer noch die bereits 1929 von dem französischen Sinologen RENÉ GROUSSET vorgelegte Studie Die Reise nach Westen. Oder wie Hsüan-tsang den Buddhismus nach China holte, aus dem Französischen von PETER FISCHER, München: Diederichs 1994. An neueren Arbeiten bedeutsam vor allem A.L. MAYER: Xuanzangs Leben und Werk, 2 Teile, Wiesbaden 1991/1992 [Veröffentlichung der Societas Uralo-Altaica, Bd. 34] und SALLY HOVEY WRIGGINS: Xuanzang: A Buddhist Pilgrim on the Silk Road, Boulder 1996. Vgl. als zusammenfassende Darstellung auch DAISAKU IKEDA: Der chinesische Buddhismus, aus d. Englischen von HELGA TRIENDL, Frankfurt/M.: Ullstein 1990. Vgl. dazu u.a. ARTHUR F. WRIGHT: »The Formation of Sui Ideology, 581–604«, in: JOHN K. FAIRBANK (Hg.): Chinese Thought & Institution, Chicago: University of Chicago Press 61973; A.F. WRIGHT: »T'ang T'ai-tsung and Buddhism«, in: A.F. WRIGHT / DENNIS TWITCHETT (Hg.): Perspectives on the T'ang, New Haven 1973, S. 239–264; STANLEY WEINSTEIN: »Imperial Patronage in the Formation of T'ang Buddhism«, in: ebd., S. 265–306.
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Leben ein, wobei sie ihre Heimatregion um Luoyang verließen und Richtung Westen über die Hauptstadt Chang'an hinaus bis in die Provinz des heutigen Sichuan zogen, immer auf der Suche nach würdigen Lehrern. Offenbar war es die Vielfalt der verschiedenen Meinungen in religiösen Fragen, die Chen Xuanzang verwirrt und in ihm den Entschluß reifen ließ, sich in das Ursprungsland des buddhistischen Glaubens zu begeben und von dort die vollständige Abschrift eines Werkes zu beschaffen, das unter dem Namen »Stadien der Yoga-Praxis« (Yogatschara-bhumi) bekannt ist, bereits im 6. Jahrhundert nach China gelangte, doch nur in Teilen übersetzt worden war. Wie andere Indien-Pilger vor ihm, unter denen zuvorderst der Mönch Faxian zu nennen ist, der zwischen 399 und 414 Indien und Südostasien bereiste und der Verbreitung des Buddhismus in China wichtige Impulse gab, so war auch Xuanzang der Auffassung, daß er nur, wenn er sich persönlich nach Indien begab, vollständiges und genaues Wissen von den MahayanaLehren erhalten konnte, ohne die er nicht hoffen durfte, seinen Mitmenschen wahre Erlösung zu bringen. So edel Chens Ansinnen war, stieß er doch bei der Obrigkeit zunächst auf wenig Gegenliebe, schien man doch unter dem Eindruck der Wirren aus der Zeit der Dynastiegründung um die Grenzen zu sehr besorgt, als daß man dem Reisewilligen ohne weiteres die notwendigen Pässe ausgestellt hätte. Heimlich machte sich daher Xuanzang im Jahre 629 auf eine Reise, die ihn über Turfan, Kucha und Samarkand bis zu dem berühmten Nalanda-Kloster in der Nähe der magadhasischen Hauptstadt Rajagala führen sollte. Erst sechzehn Jahre später, im Jahre 645, traf Xuanzang mit Abschriften Hunderter buddhistischer Texte im Gepäck wieder in der chinesischen Hauptstadt ein, wo er sich den Rest seines Lebens vor allem der Übersetzung dieser Schriften widmete und Bedeutung über die Grenzen Chinas hinaus erlangte.488 Neben der von Schülern verfaßten Biographie über ihren Lehrer ist Xuanzang der Nachwelt nicht zuletzt durch eine auf ihn zurückgehende Schrift (Aufzeichnungen über die westlichen Gebiete der Großen Tang [Da Tang xiyuji]) in Erinnerung geblieben, in der Bauten, Denkmäler sowie Sitten und Bräuche im Ursprungsland des Buddhismus beschrieben werden.489 Mythen begannen sich um seine Gestalt zu ranken, die der Reise des 488
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So wird Xuanzang etwa in Japan als Gründer der Hosso-Schule verehrt, des japanischen Gegenstücks der Nur-Bewußtseins-Schule, deren Anhänger auch Xuanzang war. Für Biographen und Erzähler blieb die Gestalt des Mönchs Chen Xuanzang unabhängig von der stark prägenden Romanfassung mit ihrer inhaltlich ganz anderen Ausrichtung auch in späteren Generationen interessant. Vgl. dazu die etwa zeitgleich mit der Reise in den Westen entstandenen Werke Vollständige Beschreibung des Lebens von Sanzang (Sanzang chushen quanzhuan), zugeschrieben einem Yang Zhihe zum Ende des 16. Jh.s und in einem frühen Druck aus dem Jahre 1730 erhalten. (Der Text fand Aufnahme in die Sammlung Vier Pilgerfahrten [Siyouji], in der sich Berichte über Reisen in die vier Himmelsrichtungen finden.) Daneben liegt vor: Die Chronik der Offenbarung des Tang-Mönchs Sanzang auf seiner Reise in den Westen (Tang Sanzang xiyou shi ni), die zeitgleich von Zhu Dingchen aus Kanton verfaßt worden sein soll.
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Mönchs himmlische Bezüge unterlegten: Nach einer Version handelt es sich bei Xuanzang um eine Inkarnation der »Älteren Goldenen Zikade«, als die er Buddha im Westlichen Paradies gedient haben soll. Doch wegen Unaufmerksamkeit bei einer Predigt Buddhas sei er dann vorübergehend auf die Erde verbannt worden.490 Es blieb nicht aus, daß die Geschichte über die Reise des berühmten Mönchs, der für seine Verdienste mit dem Sanskritnamen »Tripitaka« (chin. Sanzang, d.h. »Drei heilige Schriften«) bedacht worden war, nach und nach mit allerlei Legenden angereichert wurde. Die lange Abwesenheit von der Heimat, der gefahrvolle Weg über Berge und durch Wüsten hin zu exotischen Stätten – das alles mochte selbst weniger phantasiebegabten Menschen reichlich Stoff für spannende Schilderungen bieten. Es kennzeichnet die Entwicklung dieser Art von Abenteuer- und Legendenliteratur, daß in späteren Werken meist nur ein kleiner historischer Kern bleibt, die Legenden selbst, Abenteuer und Abenteurer jedoch immer mehr in den Mittelpunkt rücken. Dies war auch im Falle des Xuanzang nicht anders. Spätestens zum Ende des ersten Jahrtausends hatte der Themenkomplex um die Reise des Mönchs Eingang in das Erzählgut gefunden, wie die Belege in den Erweiterten Aufzeichnungen aus der Taiping-Ära (Taiping guangji) zeigen, die 977/78 zusammengestellt wurden. Noch in der Süd-Song-zeitlichen Fassung der mit Versen unterlegten Erzählung von der Suche des Tripitaka der Großen Tang nach den Schriften (Da Tang Sanzang qujing shihua)491 – einem wichtigen Vorläufer der Reise in den Westen in der Erzählliteratur – nahm der Mönch eine zumindest gleichberechtigte Stellung neben dem bereits hier auftauchenden Affen-Novizen ein, verkam aber spätestens in der Romanversion aus dem Ende des 16. Jahrhunderts zur Nebenfigur und wurde zur Karikatur eines buddhistischen Geistlichen. Die Affengestalt in der Erzählung, die als Beschützer der Pilgergruppe auftritt und sie vor den Gefahren durch Dämonen und böse Geister bewahrt, ist wohlgemerkt keineswegs identisch mit der Figur des späteren Sun Wukong, ihr fehlen wesentliche Charaktermerkmale des Affenkönigs, vor allem dessen rebellische Neigungen. In seiner Beschützerfunktion scheint der Affe in der Erzählung von der Suche des Tripitaka hingegen eher dem Hanuman aus dem hinduistischen Ramayana-Mythos nachempfunden zu sein, der dem Rama mit seinen Affenhorden zu Hilfe eilt. Auch ein Vorläufer des Sha Wujing tritt auf mit Namen Shen Shashen, nur Hinweise auf den dritten Helden, Zhu Bajie, fehlen noch. Anders als die eher biographischen Berichte in den oben genannten Werken der Schüler Chen Xuanzangs ist man in 490
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Ein Hinweis auf die frühere Jüngerschaft Tripitakas unter Tathagata-Buddha findet sich auch in Kap. 81 der Reise in den Westen. Die Erzählung von der Suche des Tripitaka der Großen Tang nach den Schriften in siebzehn Kapiteln ist vom Umfang her wesentlich geringer als die spätere Romanversion und umfaßt nur etwa 2% der Textmenge. Zwei Exemplare der Erzählungen sind als KozanjiVersionen (benannt nach dem Aufbewahrungsort des gleichnamigen Klosters bei Kyoto) in Japan erhalten.
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der Erzählung kaum an der Schilderung von historischen Orten und Persönlichkeiten interessiert, sondern schenkt der Auseinandersetzung mit Geistern und Dämonen viel stärkere Beachtung. Im Gegensatz zur Reise in den Westen wird ein verhältnismäßig großer Teil der Erzählung auf die Rückkehr der Helden nach China verwandt. Kurze Einträge in enzyklopädischen Kompilationen bzw. Lehrbüchern, deren Quellen sich bis ins 14. Jahrhunderte zurückverfolgen lassen, sowie diverse Fragmente geben zu der Vermutung Anlaß, daß bereits gut zweihundert Jahre vor dem Roman eine ausführliche Erzählversion existierte.492 Parallel zur Entwicklung in der Erzählliteratur nahmen sich nach und nach auch Schauspiel und Drama der Stoffe und Motive um die Reise Tripitakas an.493 Die herausragende Rolle fällt dabei in der Zeit des Übergangs von der Yuan- zur Ming-Dynastie einem illustrierten zaju-Drama in vierundzwanzig Akten zu, das den Titel »Xiyouji« trägt und mit seiner ungewöhnlichen Länge bereits einen guten Überblick über die Reise des Mönchs und der übrigen Helden gibt. Auch Zhu Bajie taucht nun endlich in der Handlung auf.494 Neben diesen die Reise des Mönchs und seiner Begleiter als Ganzes betreffenden Vorgänge sind die einzelnen Helden des umfangreichen Mythos – allen voran Sun Wukong – selbstverständlich immer wieder gesondert Gegenstand der Erzähl- und Dramenliteratur geworden.495 Es ist bedauerlich, daß zahlreiche literarische Zeugnisse und Versionen von Die Reise in den Westen die Jahrhunderte offenbar nicht überdauert haben. Zu vielseitig zeigt sich das Werk in seinen religiösen und mythologischen Bezügen, als daß man so ohne weiteres hinnehmen würde, seine Entstehung mit einer einzelnen Person in Verbindung zu bringen. Doch wie wir im Zusammenhang mit den Drei Reichen und den Räubern bereits gesehen haben, wohnte den literaturhistorischen Arbeiten Chinas früh die Tendenz inne, das einmal vorhandene Werk mit einem einzigen Verfasser in Verbindung zu bringen. 492
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Unter den erwähnten Einträgen und Fragmenten ist zunächst ein ca. 1200 Schriftzeichen umfassender Text im Abschnitt über Träume des Yongle dadian zu nennen, eine lediglich fragmentarisch erhaltene Zusammenstellung von Texten aus der Yongle-Zeit (1403–1424). Daneben finden sich auch Hinweise auf den Tripitaka-Stoff im Pak t'ongsa ÂQKDH, einem koreanischen Leitfaden aus dem späten 14. Jahrhundert, zur chinesischen Umgangssprache. Zwei der Pak t'ongsa -Dialoge befassen sich mit der Pilgerreise des Tripitaka. Die behandelten Episoden entsprechen den Kap. 44–46 der späteren Romanfassung, nur die verwendeten Namen variieren noch. (Vgl. GLEN DUDBRIDGE: The »Hsi-yu chi«. A Study of Antecedents to the Sixteenth-Century Chinese Novel, Cambridge: Cambridge UP 1970, S. 67.) DUDBRIDGE: The »Hsi-yu chi«, S. 75f. führt sechs Bühnenstücke an, die als Vorläufer des Romans in Frage kommen. Zu diesem Drama vgl. u.a. DUDBRIDGE: The »Hsi-yu chi«, S. 84 bzw. die Einleitung zu The Journey to the West, übers. und hrsg. von ANTHONY C. YU, Chicago/London: University of Chicago Press 1977, S. 12f. So führt DUDBRIDGE: The »Hsi-yu chi«, S. 129–138 zum Beispiel eine umfangreiche zajuLiteratur über Sun Wukong auf.
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Dies war im Falle der Reise in den Westen nicht anders. Umfangreiche Untersuchungen in den letzten Jahrzehnten haben es sich zum Ziel gesetzt, die Verfasserschaft der traditionell als Autor der Reise genannten Person des Wu Cheng'en zu bestätigen, doch haben die Ergebnisse bislang nicht alle Zweifel ausräumen können.496 Dennoch ist nicht auszuschließen, daß Wu Cheng'en auf die eine oder andere Weise mit der Entstehung der Reise befaßt war, so daß wir ihm Unrecht täten, wenn wir ihn nicht einer näheren Betrachtung würdigten.497 Immerhin taucht sein Name zum Ende der Ming-Dynastie in einem lokalen Anzeiger seiner Heimatpräfektur Huai'an (Provinz Jiangsu) auf, wo Wu Cheng'en um 1506 geboren worden sein dürfte. In dem Anzeiger nennt man Wu als Verfasser einer Sammlung mit dem Titel »Manuskripte des Herrn Sonnenschuß« (Sheyang xiansheng cun'gao) sowie der Reise in den Westen.498 Außerdem taucht Wus Name gemeinsam mit dem Titel des Werks in einem zu Ende des 17. Jahrhunderts zusammengestellten Katalog mit der Bezeichnung Qianqingtang shumu auf. Wer war nun dieser Wu Cheng'en? Als Sohn eines kleinen Kaufmanns zu Beginn des 16. Jahrhunderts geboren, blieb Wu in seinem Bestreben, sich Wissen und Bildung anzueignen, vielfach auf sich selbst angewiesen. Er besuchte eine Lehranstalt in seiner Heimatstadt und beeindruckte Lehrer und Mäzene mit den eingereichten Essays und Schriften. Dabei scheint Wu früh eine starke Neigung zur umgangssprachlichen Erzählliteratur besessen zu haben, aus der er eine Sammlung mit dem Titel Aufzeichnungen über Inschriften auf dem Dreifuß des Kaisers Yu (Yu ding zhi) zusammenstellte, die allerdings verlorengegangen ist. Wenngleich sein literarisches Talent es Wu Cheng'en ermöglichte, sich die Gunst und Unterstützung einflußreicher Männer der Gegend zu sichern, indem er immer wieder Gedichte bzw. Vorworte zu den Sammlungen anderer verfaßte, so scheiterte er doch bei den Beamtenprüfungen und kam nicht über den Titel des Bakkalaureus hinaus. Erst im fortgeschrittenen Alter von sechzig Jahren sollte Wu eine Reihe kleinerer Beamtenposten erhalten. Immerhin nominierte man ihn für ein Stipendium, was ihm Mitte der vierziger Jahre die Reise nach Peking ermöglichte. Dort kam er im Kreise um Xu Zhongxing (1517–1578) und He Liangjun (1506–1573) mit einigen der bekanntesten Literaten seiner Zeit in Kontakt. Zwar ist Wu Cheng'en seinen Zeitgenossen, wie oben bereits erwähnt, als Dichter und Essayist ein Begriff gewesen, doch finden sich hier keine Hinweise, die ihn in Verbindung mit der Reise bringen. Wenn er dennoch der Verfasser bzw. Herausgeber dieses Werkes war, so ist anzunehmen, daß es um 1570 noch nicht abgeschlossen war,499 496 497
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Wus Autorenschaft wird etwa angezweifelt bei PLAKS: The Four Masterworks, S. 187f. Eine immer noch beeindruckende Arbeit zu Wu Cheng'en ist die von LIU TS'UN-YAN vorgelegte Studie »Wu Cheng'en: His Life and Career«, in: T'oung Pao, Bd. LIII, 1967, S. 1–97. Wir entnehmen diesen Hinweis dem Vorwort Y. YUs in seiner Übersetzung The Journey to the West, S. 16. Wir übernehmen diese Schlußfolgerung von LIU TS'UN-YAN: »Wu Cheng'en«, S. 59.
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was wiederum Raum für andere Vermutungen läßt, nach denen aufgrund bestimmter inhaltlicher Herleitungen aus dem Roman die Verfasserschaft für die Zeit von Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts angenommen wurde. Man bezog sich dabei auf die auffällig häufig im Roman vorkommende Kritik an Herrschern, welche unter dem Einfluß von Taoisten stehen (Kap. 27–39, 44–46, 78–79), und versuchte von hier aus eine Verbindung zu dem Ming-zeitlichen Jiajing-Kaiser (1522–1567) herzustellen, der ein Anhänger taoistischer Magie war und während dessen Herrschaft es zu einem ähnlichen Vorfall wie im Bhiksuland kam, wo tausend Jungen bei einem Ritual geopfert werden sollten (Kap. 78–79).500 Es dauerte bis ins 19. Jahrhundert, ehe Wu Cheng'en auf der Grundlage der weiter oben genannten Quellen als Autor des Romans Die Reise in den Westen in China Anerkennung erfuhr. Die letzten Jahre im Leben des Wu Cheng'en liegen im Dunkeln, doch man nimmt an, daß er nach der Aufgabe der übertragenen Beamtenposten und seiner Rückkehr in das heimatliche Huai'an um 1582 starb. Der Vergleich der zeitgenössischen Erzählwerke, die sich mit dem Stoff der Pilgerfahrt Tripitakas befaßten, mit der Reise in den Westen macht deutlich, wie sehr ein einzelner bzw. ein Kollektiv, geprägt von den Einflüssen der Zeit, ein einzigartiges Werk schuf. Daß hier eine einzelne oder nur wenige Personen am Werke waren, wird durch auftauchende Unstimmigkeiten in Details nicht widerlegt.501 Allein der schiere Umfang der Reise läßt vermuten, daß viele Jahre daran gearbeitet wurde und die eine oder andere Begebenheit nicht mehr vollständig in Erinnerung war. In seiner ganzen Anlage und dem Entwurf der Protagonisten wird der geistige Hintergrund der ausklingenden Ming-Dynastie erahnbar. Die Reise offenbart wie kein anderer Roman der Epoche die Tendenzen ikonoklastischen Denkens im China des 16. Jahrhundert. Wang Yangming mit seiner »Philosophie des Herzens« (xinxue), die die traditionellen Denkformen herausforderte und den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellte, und Li Zhi mit seiner Infragestellung der konfuzianischen Schriften und der durch sie verbreiteten Moral sind nur die wichtigsten Exponenten einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, die in ihren Ausmaßen noch gar nicht richtig erfaßt ist. Wu Cheng'en als der angenommene Verfasser dürfte in einer außerordentlichen Zeit gelebt haben, in der buchstäblich alles, was einst für sicher und gegeben galt, plötzlich in Frage gestellt und
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Vgl. dazu das Nachwort des Übersetzers in Journey to the West, übers. von W.J.F. JENNER, Peking: Foreign Languages Press 21990, Bd. 3, S. 635. Wir beziehen uns hier und im folgenden, soweit nicht anders angegeben, auf diese Ausgabe. Als chinesische Fassung lag vor WU CHENG'EN: Xiyouji, Peking: Renmin wenxue 1984. Auf einige dieser Unstimmigkeiten wird bereits im dufa-Kommentar Liu Yimings (1734– 1820) hingewiesen. So hebt Liu etwa hervor, daß Zeitangaben betreffend die Geburt Tripitakas, die Rache für den Mord an seinen Eltern und den Aufbruch zur Reise nicht stimmig sind. (Vgl. LIU YIMING: »Leseanweisungen zu den ursprünglichen Absichten der Reise in den Westen [Xiyou yuanzhi dufa], in: ROLSTON: How to Read the Chinese Novel, S. 304f.)
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angezweifelt werden konnte. Der ironische Umgang mit den Wahrheiten und die Puppenhaftigkeit der Akteure in der Reise gewähren Ausblick auf eine »karnevalistische Auffassung von der Welt«,502 die das Werk in die Nähe von Rabelais' Gargantua und Pantagruel rücken.503 Die Textgeschichte der Reise in den Westen beginnt im Jahre 1592 mit der Shidetang-Ausgabe in zwanzig Büchern und hundert Kapiteln,504 kaum neun Jahre nach dem vermutlichen Tod Wu Cheng'ens. Die eingängige Sprache und der prägnante Stil, der ab Kapitel 13 sogar ein erhebliches Maß an Homogenität aufweist, sprechen für die geschickte Überarbeitung des Verfassers bzw. der Herausgeber, wenngleich die locker gefügte Struktur des Werks das Hinzufügen von Episoden selbstverständlich erleichterte. Werfen wir einen Blick auf den Aufbau. Es fällt auf, daß die Hundert-Kapitel-Fassung sich recht deutlich in zwei Hälften unterteilen läßt, symbolisiert in Kap. 49/50 durch die Flußüberquerung. Das Motiv der Schildkröte, die sich als Transportmittel zur Verfügung stellt, wird später in Kapitel 99 wiederholt. Verschiedene Details zu Beginn der zweiten Romanhälfte weisen zudem zurück auf den Romananfang, so etwa die beiden Gottheiten Nedscha und Li Tianwang. Auf der Ebene darunter ist das Bemühen um eine innere Einteilung in jeweils zehn Kapitel umfassende Abschnitte erkennbar, die einer vorgegebenen Spannungskurve folgen, wobei bestimmte Themen des Romans regelmäßig an der gleichen Stelle innerhalb einer »Dekade« wiederholt werden: Aspekte der Sexualität finden sich z.B. häufig im dritten und vierten Kapitel eines Zehner-Zyklus.505 Die einzelnen Ereignisse und Abenteuer sind auf der untersten Stufe wiederum in Szenen von zwei bis vier Kapiteln zusammengefaßt.506 Ein besonderes Merkmal vor allem der zwei bis drei Kapitel umfassenden Szenen der Reise in den Westen ist die Einleitung durch ein vorgeschaltetes Kapitel. So ist etwa der Schilderung von den Erlebnissen im Lande der Frauen (Kap. 54–55) ein Kapitel mit dem Bericht 502
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Ursprünglich eine Wendung aus MIKHAIL BAKHTIN's Problem of Dostoyevsky's Poetics, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984, S. 158. Vgl. vom selben Autoren Rabelais and His World, übers. von HELENE ISWOLSKY, Bloomington: Indiana UP 1984. Zur Verbindung des Karnevals mit der Reise in den Westen vgl. ZUYAN ZHOU: »Carnivalization in The Journey to the West: Cultural Dialogism in Fictional Festivity«, in: CLEAR, Bd. 16, December 1994, S. 69–92. Vgl. dazu auch JAMES SHU-SHIEN: The Mythic and the Comic Aspects in ›Hsi-yu Chi‹: A Quest for Parallels, Ph.D. Indiana University 1972, wo der Roman auch mit Huckleberry Finn und Don Quixote verglichen wird. Die Zahl von hundert Kapiteln wird in den Folgeausgaben der Reise in den Westen bis in das 19. Jahrhundert hinein beibehalten, lediglich die Anzahl der Unterteilung in Bücher variiert. (Vgl. die Aufstellung im Anhang von PLAKS: The Four Masterworks, S. 525–530.) Vgl. PLAKS: The Four Masterworks, S. 204. An der Stelle werden in diesem Zusammenhang die Kap. 23, 53–55, 72–73, 82–83 und 93–95 angeführt. Zu einer genauen Aufstellung vgl. ebd., S. 207.
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über die Schwangerschaft der Pilger vorangestellt. Die hier grob beschriebene Gliederung bezieht sich wohlgemerkt auf den Hauptteil des Werks, wobei umstritten ist, ob dieser nun mit Kapitel 9, 12, 13 oder gar erst 22 beginnt, dem Zeitpunkt nämlich, da die Pilgergruppe komplett ist. Jedenfalls liegt im Falle der Reise in den Westen eine sehr ausführliche Einleitung vor, die weit über den gewöhnlichen Umfang der ruhua-Vorspanne in den Textbüchern bzw. pinghua-Erzählungen hinausgeht. Eng zusammen mit der Struktur und Einteilung des Romans hängt die Zugrundelegung von Zahlenmustern als Ordnungsprinzip. Hier spielt interessanterweise die Zahl Neun eine herausragende Rolle, die auch in Dantes Göttlicher Komödie schon von Bedeutung ist. Die Pilger um Tripitaka haben neunmal neun (= einundachtzig) Aufgaben zu erfüllen, ein Werk, das sie erst in Kapitel neunundneunzig vollenden. Daneben findet die Zahl Neun immer wieder bei der Bezeichnung einzelner Persönlichkeiten Anwendung, etwa bei dem in Kap. 89/90 auftauchenden »Ursprünglichen Heiligen der Neun Seelen« (Jiuling yuansheng) oder dem »Neunköpfigen Kaiser-Schwiegersohn« (Jiutou fuma). Es erstaunt einigermaßen, daß ein ansonsten so phantasievoll geschriebener Roman wie Die Reise in den Westen auf einen gleichbleibenden Fundus an Gestalten und Szenen zurückgreift, die im Werk durchgängig wiederholt werden. Auf die Beispiele der Göttergestalten Nedscha und Li Tianwang wurde oben bereits verwiesen. Ähnliches trifft auf den Gott Erlang zu, der als Kriegergestalt in Kap. 63 noch einmal auflebt. Man darf hinter diesen Wiederholungen im besten Falle wohl etwas wie das Bemühen um eine protagonistische Dichte im Werk vermuten. Doch gehen die Formen der Redundanz weit über die Wiederholung einzelner zentraler Figuren hinaus. Selbst dort, wo in verallgemeinernder Form auf scheinbar weniger im Mittelpunkt stehende Typen angespielt wird, ist es nicht mit der einmaligen Verwendung getan, wie etwa die immer wiederkehrenden Tiergeister in allerlei Gestalt zeigen. Wenig abwechslungsreich ist auch die Szenerie und Landschaft, durch die die Reise führt. Die angeführten Details sind allesamt auf die Grundformen geographischer Erscheinungen wie Berge, Flüsse und Höhlen reduziert, was sicherlich die »Zirkularität« des Wegs der Pilgerschaft hervorhebt, im übrigen aber auch ganz deutlich die allegorische Lesart unterstützt. Ein echter Reiseroman wäre dagegen um viel mehr wiedererkennbare Einzelheiten, Orte und Begebenheiten entlang der Route bemüht.507 Es ist ein häufiges Merkmal der frühen chinesischen Romane, daß eingangs auf Ereignisse im Himmel bzw. einer Form des Jenseits abgehoben wird, die Auswirkungen auf das Leben in der Menschenwelt haben. Die für den Menschen aus eigener Anstrengung nicht erfahrbaren Mächte und Kräfte suchen von sich aus den Menschen, um mittels irdischer Verwandlungen die Gesetze des Himmels zu erfüllen oder eigene Wünsche zu verwirklichen und die Handlung derart voran507
Vgl. zu den einzelnen Formen der Redundanzen PLAKS: The Four Masterworks, S. 216– 219.
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zutreiben. Auch Die Reise in den Westen bildet hier keine Ausnahme und führt den Leser mit einer Schilderung der Schöpfungsvorgänge direkt in die Welt der Mythen.508 Man befindet sich am Ende eines Universums-Zyklus, in dem noch alles im Dunkel liegt. Mit dem Übergang zum dem neuen, lichterfüllten Zyklus setzt die in Phasen erfolgende Schöpfung durch Pan'gu ein: zunächst des Himmels, dann der Erde und danach des Lebens mit Mensch und Tier. Mit der Schaffung der Menschen treten sodann die Drei Kaiser auf, die mit der Ordnung der Welt befaßt sind, sowie die Fünf Herrscher, welche den Moralkodex stiften. Anschließend wird die Welt in vier Kontinente eingeteilt, einen für jede Himmelsrichtung. Auf dem östlichen Kontinent nun befindet sich in einem Ozean der »Berg der Blumen und Früchte«, die Heimat eines geheimnisvollen steinernen Eis, aus dem nach der Bebrütung durch Sonne und Mond ein Affe entschlüpft. Wir sollten hier als Hinweis auf die intertextuelle Verbindung zwischen einigen großen Romanen Chinas festhalten, daß auch im Traum der Roten Kammer in der mythischen Schilderung zu Beginn ein Stein eine zentrale Rolle spielt. Der Affe wächst heran und wird zum König seiner Artgenossen gemacht, als er hinter einem Wasserfall das »Glückliche Land vom Berg der Blumen und Früchte« entdeckt, das der Herde in Zukunft eine Heimat sein wird. Als Mangel des ansonsten keinerlei Beschränkung unterliegenden Lebens im Paradies stellt der Affenkönig jedoch bald fest, daß er und die übrigen Mitglieder seines Reiches in ihrer Sterblichkeit dem Wandel der Zeit unterliegen und ihnen nur eine begrenzte Existenz zubemessen ist. Ein kundiger Affe weiß jedoch Rat. Er berichtet von Buddhas und Heiligen, die in der Welt der Menschen leben und von der Wiedergeburt erlöst sind, woraufhin sich der Affenkönig aufmacht, um das Geheimnis der ewigen Jugend zu suchen. In der Welt der Menschen auf dem südlichen Jambu-Kontinent angekommen, erlernt der Affenkönig zwar nach und nach Sprache und Gewohnheiten der Menschen, trifft jedoch auf keinen Unsterblichen. Einen solchen findet er erst auf dem Westlichen Kontinent in Gestalt des Subhuti, der dem Affen mit Hinblick auf seine Erscheinung und das Dharma den Namen Sun (Affe) Wukong (zur Leere erweckt) verleiht. Der Name ruft buddhistische Konzepte wie Sunya, Sunyata und Maya in Erinnerung, die auf die Leere und die Unwirklichkeit der Dinge sowie physischer Erscheinungen hinweisen. Es handelt sich hierbei um wichtige Elemente der Yogacara-Schule, der auch Xuanzang angehörte. Doch sind das Konzept der Leere und die damit verbundene Forderung nach der Kultivierung der Seele bzw. des Geistes (xiuxin) auch den Taoisten nicht unbekannt. Es ist seit Hu Shis bahnbrechender Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts509 viel darüber gerätselt worden, was es mit der Affengestalt des Sun Wukong auf sich hat und auf welche Quellen und Einflüsse sie zurückreicht. Hus These von 508 509
Die folgende Schilderung findet sich in Kapitel 1 des Romans. Vgl. HU SHI: »Textkritik zur Reise in den Westen« (Xiyouji kaozheng, 1923), in: Hu Shi wencun (Gesammelte Werke von Hu Shi), Taipeh: Yuandong 1953, Bd. 2, S. 354–390.
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der Gestalt des Hanuman aus dem zwischen dem vierten vorchristlichen und zweiten nachchristlichen Jahrhundert entstandenen indischen Versepos Ramayana als Vorlage für Sun Wukong ist dabei weitgehend akzeptiert.510 Das Epos handelt von der Sage vom göttlichen Helden Rama, dessen Gattin von dem Riesenkönig Ravana geraubt worden ist. Erst nach zahlreichen Kämpfen und auch nur mit Hilfe eines Heeres von Affen unter deren Anführer Hanuman gelingt es Rama, seine Gattin wiederzuerlangen. Vor allem von chinesischer Seite sind gegen Hus These jedoch immer wieder Einwände erhoben worden, wobei stets geleugnet wurde, daß sowohl Wu Cheng'en als auch die Erzähler vor ihm mit der indischen EpenLiteratur vertraut waren.511 Immerhin konnten die Kritiker Affengestalten aus autochthon chinesischen Quellen vorweisen, die weit in die Geschichte der Erzählkunst zurückreichen. Im Zentrum der Argumentation stand dabei die Gestalt des »weißen Affen«, für den sich bereits ein Beispiel im Frühling und Herbst des Herrn Lü (Lüshi chunqiu) aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. anführen läßt, dessen bescheidene »übernatürliche« Kraft darin besteht, daß er von keinem Krieger am Hof des Königs von Chu zu erlegen ist, am Ende aber dem Schützen Yang zum Opfer fällt, der die Bewegungen des Affen antizipiert und dorthin schießt, »wo der Affe noch nicht war«.512 Chantal Zheng hat unter Bezug auf die vorgenannte Stelle auf eine mögliche Verbindung des Affen-Motivs mit dem Weltenbeginn hingewiesen. Danach wird der Schütze Yang aus Chu gleichgesetzt mit dem legendären Bogenschützen Yi, der mit seinem Abschuß der neun von zehn Sonnen am Himmel die Weltordnung wiederherstellt und damit den Weltbeginn kennzeichnet.513 In der weiteren Entwicklung des weißen Affen vor allem in der Erzählliteratur seit der Han-Dynastie wird der Gestalt, die zumeist als Räuber junger Mädchen und Frauen auftritt, eine ganz deutliche sexuelle Konnotation untergeschoben,514 doch lassen sich mit dem Affen daneben auch Begriffe wie Treue und unbändige Kraft verbinden.515 Vermutlich haben hier mit Hanuman und dem weißen Affen zwei ursprünglich ganz unabhängige Strömungen in der Reise in den Westen zueinander gefunden. 510
511 512
513 514 515
Vgl. dazu etwa die auf der Grundlage dieser Annahme im Rahmen des Programms »Interkulturelle Studien über Literatur und Gesellschaft« im Mai 1995 an der Universität Leiden abgehaltene Veranstaltung, die unter dem Motto »The Exalted Monkey in China and India« stand. Vgl. die entsprechenden Hinweise bei C.T. HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 153. Vgl. zu der Szene Frühling und Herbst des Lü Bu Wei, übers. v. RICHARD WILHELM, Düsseldorf u.a.: Diederichs 1979, S. 428. Vgl. ZHENG: Mythen des alten China, S. 51. Umfassend hat sich diesem Thema DUDBRIDGE: The »Hsi-yu chi«, S. 114–128 gewidmet. Vgl. dazu die beiden von Affen handelnden Geschichten »Wie ein Affe sein Leben zum Opfer brachte« und »Der Kampf zwischen einem Affen und einem Falken« in: Altchinesische Tiergeschichten, aus dem Chinesischen von ANNA ROTTAUSCHER, Wien, Berlin u.a.: Paul Neff 1955.
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In der Tat weisen Sun Wukong und Hanuman als Beschützergestalten und bei der Ausstattung mit bestimmten Fähigkeiten einige Gemeinsamkeiten auf (Hanuman fliegt wie Sun über riesige Distanzen; er ist in der Lage, verschiedene Körpergrößen anzunehmen sowie in den Körper seiner Feinde einzudringen etc.), und auch zum weißen Affen lassen sich vom unterlegten Wesen her Ähnlichkeiten aufzeigen. Doch zumindest eine wichtige Eigenschaft unterscheidet Sun von seinem weißhaarigen Artgenossen in den Erzählungen: Während Sun trotz seines Übermuts und seiner Bösartigkeit einen Prozeß der Läuterung durchmacht und in nahezu jeder Hinsicht zu einer überlegenen Figur heranreift, bleibt der weiße Affe ein Ungeheuer, das eliminiert werden muß. Darüber hinaus weist auch der Lingyin-Tempel in den Bergen am Rande Hangzhous einen erkennbaren Bezug zum Affenmotiv der Reise in den Westen auf. Einer Legende zufolge unternahm der Tempelgründer Hui Ci (gest. ca. 330) mit einem Affen (deren Horden damals in der Umgebung der Stadt existiert haben sollen) eine Reise von Indien nach China. Hui Cis Affe war ein übernatürliches Wesen wie Sun Wukong, doch erfolgte die Reise des Mönchs im Gegensatz zu der Xuanzangs in West-Ost-Richtung. Das am Ende erreichte Ziel stimmt jedoch in beiden Versionen überein, gelangen doch auch Hui Ci und sein Gefährte auf dem Gipfel eines Berges schließlich in das Paradies von Sakyamuni-Buddha.516 Wenden wir uns nach diesen Vorbemerkungen dem Inhalt der Reise in den Westen zu. Schon im Auftakt findet sich ein Hinweis auf Suns Hybris: Das sorglose Leben auf dem Berg der Blumen und Früchte im Kreis seiner Affengemeinde genügt Affenkönig Sun Wukong bald nicht mehr. Mit der Löschung seines und der Namen weiterer Affen aus dem Totenregister, das im Unterweltreich des Fürsten Yama geführt wird, dokumentiert Sun seinen hartnäckigen Anspruch auf Unsterblichkeit, die er – und hier ist die eigentliche Ironie – nicht mehr auf friedlichem Wege und durch innere Wesensbildung, sondern mit räuberischen Mitteln erlangen soll. Im Pantheon der Götter ist Suns Treiben unterdessen nicht unbemerkt geblieben, Klagen über den Affenkönig treffen ein, auf die der Jadekaiser monoton mit dem Befehl zur Verhaftung reagiert. Allein der Gott des »Großen Weißen Planeten« (d.h. der Venus) empfiehlt Suns Begnadigung mit dem Hinweis, der Affe habe schließlich mit seiner erfolgreichen Veredelung einen erheblichen Teil seines irdischen Wesens aufgegeben und sei somit nicht mehr als einfacher Sterblicher zu behandeln. Erfreut leistet Sun der himmlischen Appeasement-Politik Folge und nimmt die Aufforderung zur Übernahme eines Postens in den himmlischen Regionen an. Sein Übermut führt jedoch regelmäßig dazu, daß er die zubemessenen Kompetenzen überschreitet und die Götter gegen sich aufbringt. 516
Vgl. MEIR SHAHAR: »The Lingyin Si Monkey Disciples and the Origins of Sun Wukong«, in: Harvard Journal of Asiatic Studies, 51,1 (1992), S. 193–224.
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Die nun einsetzenden Kämpfe gewinnen eine ganz neue Qualität. Da die himmlischen Heerscharen sich den Affenhorden und ihren Verbündeten stets als unterlegen erweisen, schickt man einzelne Heroen ins Feld. Im Moment größter Verzweiflung ruft der Jadekaiser den Tathagata-Buddha zu Hilfe, welcher – ganz der Gewaltlosigkeit zuneigend – den Sieg über Sun im Wettkampf sucht. Im Taumel der Macht, mit Blindheit gestraft, versteigt sich Sun kurz vor seinem Fall zu höchsten Ansprüchen: Ich habe verschiedene Formen entwickelt, um zu ewigem Leben zu gelangen. Die Verwandlungen, derer ich fähig bin, sind ohne Zahl. Die Welt der Sterblichen ist mir zu eng geworden, ich bin gekommen, im Jade-Himmel zu leben. Niemand kann in der Halle des Geheimnisvollen Nebels [d.h. dem Thronsaal des Himmelspalastes] ewig regieren. Zu allen Zeiten haben Herrscher ihre Macht abgeben und sich den Stärkeren beugen müssen. Nun ist es an der Zeit, daß der Jadekaiser mir weicht, aus keinem anderen Grund habe ich mich auf diesen heldenhaften 517 Kampf eingelassen.
Sun formuliert hier die gängigen Ansprüche von Dynastiegründern und »Rebellen« auf die Verfügbarkeit des Herrscherthrones. Die Probe, zu der Buddha Sun einlädt, scheint einfach: Der Affenkönig möge lediglich versuchen, aus der Hand Buddhas zu springen, in der er zuvor Platz genommen hat. Sun willigt ein und macht einen gewaltigen Satz, der ihn an fünf rosafarbene Säulen führt, an deren Sockel er, wie um seinen Übermut zu dokumentieren, sein Geschäft verrichtet. Doch wie sich bald herausstellt, sind die Säulen nichts anderes als Buddhas Finger selbst, die Wette ist somit verloren und die Verbannung unter ein Gebirge gewiß. Die knappe Zusammenfassung des Romanauftakts deutet bereits die Dimensionen des Werkes an. Interessant ist dabei die Darstellung des Himmels als eines freud- und trostlosen Ortes mit seinem ausgesprochen despotischen und – wie die verhängten Strafen zeigen – grausamen Regime. Allein der Pfirsichgarten als idyllische Enklave weist einige paradiesische Züge auf, ist dabei aber dem Berg der Blumen und Früchte ähnlicher als dem Rest seiner himmlischen Umgebung, was auch die Fluchttendenzen zahlreicher Himmelsbewohner erklärt. In der Dualität des mit taoistischen (Jadekaiser, Laotse) ebenso wie mit buddhistischen (Buddha) Heiligen bevölkerten Himmels deutet sich ein Idealbild der Ökumene an, das, wie sich im weiteren Verlaufe zeigt, auf der Erde keine Entsprechung findet. Dennoch ist keiner dieser göttlichen Führergestalten im Roman eine zentrale Rolle zugewiesen. Diese wird vielmehr von Guanyin eingenommen, der ursprünglich männlichen Gestalt des Bodhisattva Avalokiteshvara im MahayanaBuddhismus, die jedoch in den chinesischen Glaubensvorstellungen immer mehr weibliche Züge annahm. In der Reise in den Westen steht somit nicht Buddha, 517
Journey to the West, Bd. 1, S. 120.
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sondern Guanyin im Zentrum der Trinität des Göttlichen, Menschlichen und Tierischen, und als Schutzgöttin Tripitakas weist sie ähnliche Eigenschaften auf wie Athene in bezug auf Odysseus. Mit ihrer Bescheidenheit und Natürlichkeit kommt Guanyin jener Gestalt nahe, als die sie im chinesischen Volksglauben bis heute verehrt wird.518 Durch den Sieg Buddhas über den rebellischen Affenkönig rückt auch das eigentliche Anliegen der Gottgestalt in den Vordergrund. Buddha hält nämlich die moralisch-sittliche Lage auf dem südlichen Kontinent Jambu für derart bedenklich, daß er nur eine Rettung sieht, wenn ein umfangreicher Kanon buddhistischen Schrifttums beschafft wird und die entsprechenden Lehren zur Anwendung kommen: Gemeint sind die »Vinaya«, d.h. das »Gesetz«, welches sich mit dem Himmel befaßt; die »Sastra«, die sich mit der Erde auseinandersetzt, und die »Sutras«, mit denen die Geister besänftigt werden. Die Suche nach einer geeigneten Person für die Bemühung um die Schriften übernimmt Guanyin, womit man sich den Ereignissen in der Welt der Menschen zuwendet und den Blick endlich auf die Gestalt Xuanzangs richtet, der schließlich mit der Mission der Schriftenbeschaffung befaßt wird, wenngleich hier mit der Schilderung seiner Herkunft als Sohn des ermordeten Chen Guanrui und der von den Mördern entführten Mutter Yin Wenqiao mehr das spannende Hintergrundschicksal von Interesse ist als das Wesen der Person. Nach Vollstreckung der Rache durch Großvater Yin Kaishan zieht sich Xuanzang als Mönch in ein Kloster zurück, um ein Leben in Versenkung zu führen.519 Im Mittelpunkt des Abschnitts, der nun folgt, steht die Gestalt des Kaisers Taizong (626–649), mit deren Hilfe ein Übergang zu dem politisch-religiösen Hintergrund geschaffen wird, vor dem Chen Xuanzangs Reise nach Indien erfolgte. In freilich wiederum phantastisch verbrämter Form durch die berühmte Schilderung des Unterweltbesuchs von Taizong wird der Leser mit den Nöten des Herrschers und den Glaubensfragen im Reich vertraut gemacht. Aufgrund einer Nachlässigkeit hat es Taizong versäumt, sein Versprechen gegenüber dem Drachenkönig, der Herrscher über Wasser und Regen ist, zu halten und dessen Hinrichtung zu verhindern. Empört sucht der enthauptete Drache den Tang-Kaiser nachts in dessen Träumen auf und fordert, daß er mit in den Palast des Unterweltkönigs kommen möge, um die Sache auszutragen, doch wird er von der herbeigeeilten Guanyin vertrieben. Dennoch erkrankt Taizong in der Folge und stirbt. Allerdings hat ihm jemand vor seiner Reise ins Totenreich einen Brief an den diensthabenden Beamten für das 518
519
Vgl. dazu u.a. JAMES S. FU: Mythic and Comic Aspects of the Quest. Hsi-yu chi as seen through Don Quixote and Huckleberry Finn, Singapore: Singapore UP 1977, S. 28f. Das hier ausführlich die Ereignisse um Chen Guangruis Tod schildernde Kapitel 9 fehlt ursprünglich in der ersten Romanfassung von 1592 und den hiernach erschienenen Versionen, findet sich aber mit einigen Abweichungen in einer gekürzten Fassung der Reise in den Westen aus dem Jahre 1662.
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Geburten- und Totenregister mitgegeben, der dafür Sorge tragen soll, daß Taizong seine Seele und das Leben wiedererhält. Heimlich ändert der Beamte daraufhin den Eintrag, so daß dem Kaiser weitere zwanzig Jahre des Erdendaseins beschieden sind. Doch ist der Weg zurück in die Welt der Menschen alles andere als ein Kinderspiel und wird zum wahren Canossagang. Taizong muß dazu die gesamte Unterwelt durchqueren, die achtzehn Schichten der Hölle hinter sich bringen und seinen Weg über die Brücke der Bestrafung finden. Zweimal ist er bei seiner Reise tätlichen Angriffen ausgesetzt: Einmal schlagen seine beiden Brüder Li Jiancheng und Li Yuanji nach ihm und verlangen ihr Leben zurück; das andere Mal wird Taizong mit den Hungergeistern in der »Stadt der unschuldig Hingerichteten« konfrontiert, durch die er auf seinem Weg zurück in die Menschenwelt ziehen muß. Angekommen am »Rad der Sechs Pfade des Seins«, schreitet Taizong am Ende durch das »Tor der Wiedergeburt« und erwacht in einem Sarg, in dem man ihn nach dem vermeintlichen Ableben aufgebahrt hat. Dankbar für seine Wiederauferstehung von den Toten erläßt der Kaiser eine Amnestie, sichert sich die Gunst der Götter durch Spenden und ähnliche Wohltaten. In diesem Zusammenhang wird ein Tempel errichtet, in dem buddhistische Mönche Messen für die einsamen Seelen der Unterwelt lesen sollen. Damit stellt sich der Kaiser aber gegen die mächtige taoistische Strömung unter den Beamten bei Hofe, von denen in Memoranden ein Verbot des Baus von Pagoden und Tempeln mit dem Argument gefordert wird, es gebe gar keinen Buddha. An einer Stelle kommt Fu Yi (555– 639), ein Glaubenskritiker, zu Wort: Nach der westlichen Lehre [d.h. dem Buddhismus] gibt es weder Unterschiede zwischen Herrscher und Untertan noch zwischen Vater und Sohn. Mit der Leugnung vergangener Sünden und dem Versprechen zukünftiger Freuden werden die Einfältigen irregeführt. Man betet, um Vergeltung abzuwenden. Doch in Wirklichkeit sind Geburt, Tod und die Länge des Lebens von der Natur bestimmt. In der Macht der Edlen unter den Herrschern liegt es, die Menschen zu strafen oder Gnade zu gewähren sowie Maßstäbe für Wert und Moral zu setzen. Doch von den gemeinen Anhängern der Lehre aus dem Westen wird behauptet, diese Dingen stammten alle von Buddha. Im Altertum, zur Zeit der Fünf Herrscher und Drei Könige, gab es diesen Buddha noch nicht, und doch waren die Herrscher erleuchtet, verhielten sich die Untertanen loyal und herrschte überall Wohlstand. Erst als man zu Zeiten des Herrschers Ming der Han-Dynastie fremde Götter anzubeten begann, verbreiteten die Gläubigen aus dem Westen ihre Religion. In Wirklichkeit ist dieser Glaube China fremd und verdient nicht, 520 Anhänger zu finden.
Taizong setzt sich jedoch über die Einwände hinweg und macht schließlich Xuanzang zum Zeremonienmeister für die Lesung der Messen. Anders als in der 520
Journey to the West, Bd. 1, Kap. 12, S. 220f.
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historischen Wirklichkeit wird Taizong zum Förderer des Buddhismus gemacht, erhält die bevorstehende Reise Xuanzangs durch Kontakt mit der Majestät den Charakter einer Mission, was, wie wir oben gesehen haben, ebenfalls nicht den Tatsachen entspricht, kostete es den Mönch doch in Wahrheit ein erhebliches Maß an Geschicklichkeit, überhaupt über die Grenze im Westen zu gelangen. Im Roman nun ist auch Guanyin unterdessen in Chang'an eingetroffen und hat Chen Xuanzang als den würdigsten Mann ausgemacht, die Schriften aus dem Westen zu holen. Sie ist es auch, die ihm angesichts dieser Aufgabe den Namen »Sanzang« (Drei Schriftrollen) verleiht. So macht sich der Mönch mit den besten Wünschen des Kaisers auf den Weg. Doch es mangelt ihm an der Kraft, den Gefahren der Reise allein zu trotzen. Seines Reittieres und der beiden mitgeführten Begleiter durch Raub und Mord bald verlustig, ist es an der Zeit für Sun Wukong, mit dem Ruf »Mein Meister ist gekommen« sein steinernes Gefängnis unter dem Berg zu verlassen. Es sind die folgenden Ereignisse, die Sun Wukong in einigen Teilen der Welt seinen Platz im Pantheon der volkstümlichen Geisteranbetung gesichert haben und ihn sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen lassen.521 Die scheinbare Unbefangenheit, mit der Sun Wukong nach Aufnahme des gemeinsamen Weges über Leben und Tod anderer entscheidet, führt bald zu einem ersten Konflikt. Als der Affenkönig sechs Räuber bei einem Überfall ohne zu zögern tötet, muß er sich von Xuanzang vorhalten lassen, daß dies die Erlangung des Mönchstums behindere. Chens Vorwurf gipfelt in der Behauptung, der Affe habe kein bißchen Mitgefühl und Güte in sich. Sun, dem es, wie wir eingangs gesehen haben, mehr um Macht und Erfolg als um innere Vervollkommnung geht, argumentiert, er habe zur Zeit als Herrscher über den Berg der Blumen und Früchte unzählige Morde begangen, doch rechtfertige die Erlangung des Titels »Großer Heiliger, der dem Himmel gleicht« schließlich sein Tun. Beleidigt verläßt Sun den Mönch für eine Weile, kehrt aber aus freien Stücken wieder zurück. Um den Affen zu bändigen, hat Guanyin den Xuanzang allerdings in der Zwischenzeit mit einer magischen Kappe für Sun ausgestattet. Einmal auf dem Haupt des Affen, zieht sich diese Kopfbedeckung auf einen Spruch hin eng zusammen und wird zum Folterinstrument. Der teilweise sehr willkürliche Gebrauch der Kappe durch Xuanzang wirft kein gutes Licht auf den Mönch, der in der Folge immer mehr zu Karikatur eines Geistlichen wird und in keiner Weise Züge der imponierenden Persönlichkeit erkennen läßt, über die der echte Tripitaka verfügt haben dürfte, wenn man den historischen Quellen Glauben schenken darf. Danach wird Tripitaka als »frommer, mutiger und taktvoller Mann« geschildert, der mit »intellektueller Neugier« ausgestattet gewesen sein soll.522 Gerade dieses intellektuelle Moment fehlt in den volkstümlichen Darstellungen der Reise und erst recht im Roman. Doch 521
522
Vgl. dazu u.a. WOLFRAM EBERHARD: Die chinesische Novelle des 17.–19. Jahrhunderts, Supplement IX to »Artibus Asiae«, Ascona 1948, S. 125 und S. 147f. Vgl. dazu HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 145.
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auch sonst läßt es Tripitaka immer wieder vor allem an Mut und Entschlossenheit fehlen, die unabdingbar für das Gelingen des Unternehmens sind. Der Mönch zieht während seiner mühevollen Reise durch das Elend nicht den geringsten spirituellen Gewinn, wird statt dessen immer mürrischer und launischer. Anders als etwa Sun Wukong, der sich engagiert und bedingungslosen Einsatz auf der Reise zeigt, macht Tripitaka keine geistige Entwicklung durch und bleibt Sklave der Erscheinungen, unfähig, seinen Seelenfrieden zu finden. Stets klagt er über Angst und Furcht, fühlt sich ruhelos und unsicher wie etwa in dem folgenden Gedicht: Als ich Chang'an auf kaiserlichen Befehl hin verließ, War ich entschlossen, dem Buddha im Westen zu huldigen, Wo sein goldenes Antlitz über das heilige Land strahlt, Und wo das Jadehaar in der Pagode schimmert. Die namenlosen Flüsse der Welt werde ich befahren, Bergmassive überwinden Und selbst vor den mächtigen, nebelverhangenen Wellen werde ich nicht erschrecken. 523 Doch wann, oh wann werde ich endlich Ruhe finden?
Die Bedeutung der Reise für Sun Wukong ist nicht sogleich auszumachen. Als einer aus dem Götterhimmel verstoßenen, gefallenen Persönlichkeit liegt ihm natürlich daran, seinen ehemaligen Status zurückzugewinnen. Es spricht nun für die Qualität der Reise in den Westen, daß man dem Leser nicht das Bild einer vollkommen geläuterten Idealgestalt vermittelt, sondern zwischendurch immer wieder Spuren alter Schwächen aufblitzen läßt, die dem Affenkönig auch weiterhin zu schaffen machen. Sind Suns Schwächen eher atavistische Äußerungen aus der Vorzeit und insgesamt eher die Ausnahme, so behindern die Schwächen des Tripitaka dessen Läuterungsprozeß viel erheblicher. Der Mönch neigt etwa zu Oberflächlichkeit, Eitelkeit und Heuchelei, wenn er seine Begleiter unter Hinweis auf ihre häßliche Erscheinung immer wieder verleugnet, so etwa bei der Ankunft am »Schatzwaldkloster« (Kap. 36). Dabei ist er ohne die Begleiter nicht in der Lage, auch nur das Geringste zu erreichen. Xuanzangs Überheblichkeit hat meist unangenehme Folgen, so auch diesmal, als ihn der Abt des Klosters mit der Bemerkung abweist, er sehe nicht ehrlich aus. Ein Grund mehr für Sun, über den »Meister« zu spotten. Als Sanzang das Kloster verließ, war er den Tränen nahe, doch da er nicht wollte, daß der Abt sich über ihn lustig machte, trocknete er seine Augen heimlich, schluckte ein paarmal und eilte dann aus dem Kloster zu seinen Jüngern. Als Sun den wütenden Gesichtsausdruck des Meisters wahrnahm, fragte er: »Meister, hat man euch etwa geschlagen?« 523
Journey to the West, Bd. 2, Kap. 32, S. 2.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG »Nein«, erwiderte der Mönch knapp. »Es hat aber ganz den Anschein«, beharrte Sun, »wie ist es sonst möglich, daß ich ein Schluchzen vernommen habe? Hat man euch etwa abgewiesen?« »Nein«, antwortete Xuanzang erneut, »das hat man nicht.« »Warum wirkt Ihr dann so aufgebracht, wenn Ihr weder geschlagen noch abgewiesen worden seid?« fragte Sun. »Ihr wollt mir doch nicht etwa weismachen, Ihr habet Heimweh.« »Dies ist kein guter Ort«, seufzte Sanzang. »Es müssen Taoisten sein«, bemerkte Sun mit einem Grinsen. »Taoisten findet man nur in taoistischen Tempeln«, belehrte ihn Sanzang in einem ärgerlichen Ton. »In einem buddhistischen Tempel wie diesem leben nur buddhistische Mönche.« »Ihr seid ein hoffnungsloser Fall«, stöhnte Sun. »Wenn es buddhistische Mönche sind, dann sind sie wie wir. Wie heißt es doch: ›In der Gemeinde der 524 Buddhisten sind alle wie Brüder!‹«
Suns Humor ist stets ein Zeichen für seine Überlegenheit. Sun ist nicht verbissen, er hält zu allem Abstand und überwindet mittels seines Humors jedwedes menschliche Verlangen. Nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis lebt er in Einklang mit der buddhistischen Forderung nach Weltabgewandtheit und der Weisheit, daß Lachen die höchste Form der Weltsicht sei. Ohne Einsicht in die wahren Vorgänge und Zusammenhänge wirkt Tripitakas Argumentation dagegen formelhaft, klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Trotz seiner verbalen Betonung der hehren Prinzipien des Glaubens bleibt Tripitaka im Roman doch durch und durch Mensch, ganz der Sterbliche mit seinen moralischen Schwächen und intellektuellen Fehlleistungen. Dies wird gerade zu Beginn der Reise verdeutlicht, als man ein logisches Problem in den Griff bekommen muß. Bei der Ankunft an einem breiten Gewässer (Kap. 22) herrscht zunächst Ratlosigkeit über die Fortsetzung der Reise. Sun sinniert, daß es ihm angesichts seiner Fähigkeiten ein Leichtes sein sollte, den Mönch in kürzester Zeit an den gewünschten Ort zu bringen. Auf Zhu Bajies Einwand hin erkennt er am Ende selbst, daß Sanzang erst alle Länder und Hindernisse überwinden muß, bevor er von den Leiden der Welt erlöst wird. Das Thema des langen, aber notwendigen Weges wird im weiteren Verlauf immer wieder aufgegriffen mit Angaben zur Dauer der Reise bzw. zur bereits zurückgelegten Entfernung versehen, um die Bedeutung, die weit über den geographischen Aspekt hinausgeht, hervorzuheben. Besonders eindrucksvoll ist dieser Zwang zur inneren Entwicklung, der sich abspielen muß, um ans Ziel zu gelangen, in einem Gespräch zwischen den Pilgern dargestellt. Sie zogen weiter, und mit freudiger Stimme verkündete Tripitaka: »Jünger, seit meinem Aufbruch in den Westen habe ich zahlreiche tückische Hindernisse
524
Ebd., Kap. 36, S. 79.
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane unterwegs überwunden. Nie kam mir eine Gegend so herrlich vor wie diese Berge. Das Donnerkloster scheint nicht mehr fern zu sein, wir sollten uns bereit machen, Buddha gegenüberzutreten.« »Dazu ist es viel zu früh!« lachte Sun. »Wir sind noch lange nicht am Ziel!« »Bruder«, sagte Sha Wujing, »wie weit ist es denn noch bis zum Donnerkloster?« »Einhundertundachttausend Meilen«, erwiderte Sun. »Wir haben jedoch nicht einmal ein Zehntel der Entfernung zurückgelegt.« »Wie lange werden wir also noch ziehen müssen, bis wir dort sind, Bruder?« wollte nun Zhu Bajie wissen. »Wenn es nur um euch beide ginge, meine werten Brüder«, erläuterte Sun, »so möchten zehn Tage für die Reise wohl genügen. Ich für meinen Teil könnte an einem Tag wohl an die fünfzig Mal die Reise hin und zurück antreten und würde immer noch bei Tageslicht hier eintreffen. Das Problem ist der Meister, reden wir also nicht davon.« »Wukong«, hob nun der Mönch an, »sag uns, wann wir unser Ziel erreichen werden.« »Ihr könntet«, erwiderte Sun Wukong, »von Eurer Jugend bis ins hohe Alter hinein ziehen und weiter, bis Ihr wieder zur Jugend gelangt. Ihr könntet diesen Zyklus gar eintausend Mal durchlaufen und es immer noch schwierig finden, an den Ort Eures Wunsches zu gelangen. Doch wenn Ihr einmal mit der Hilfe Eures Willens die Buddha-Natur in allen Dingen begriffen habt und wenn sich alle Eure Gedanken ihrem Ursprung im Gedächtnis nähern, dann wird die Zeit ge525 kommen sein, zu der Ihr an den Seelen-Berg gelangen mögt.«
Die Statistenrolle Xuanzangs wird auch erkennbar daran, daß der Mönch zur Handlung selbst wenig beiträgt. Zwar ist es »seine« Reise, dreht sich alles irgendwie darum, ihn, der stets Angriffen und Gefahren ausgesetzt ist, sicher ans Ziel zu bringen, doch kommt er dabei selten über die Opferrolle hinaus. Suns eigentlicher Widerpart im Roman ist dagegen Zhu Bajie, die Konkurrenz zwischen den beiden ist die wichtigste Beziehung im Werk. Zhus ständige Unterlegenheit läßt bestimmte Charaktereigenschaften Suns stärker hervortreten. Als Protagonist hat Zhu Bajie erst relativ spät Aufnahme in den Reise-Stoff gefunden und dabei offenbar ursprünglich dem Affenkönig zugehörige Eigenschaften übernommen. In frühen Versionen besaß Sun Wukong noch eine Frau und war von sexuellen Gelüsten getrieben. Mit der Übertragung dieser Attribute auf Zhu Bajie wurde Sun mehr und mehr zur geistigen Gestalt, ließ sich der Geist-Körper-Gegensatz mehr zum Mittelpunkt machen. Was alle Helfer Tripitakas verbindet, ist, daß es sich um Persönlichkeiten handelt, die vom Himmel verstoßen worden sind. Im Falle Zhu Bajies handelt es sich um einen General, der nach einer Affäre mit der Mondgöttin eine Prügelstrafe erhält und aus dem Himmel verbannt wird, um in der Entstellung durch sein Schweineantlitz eine irdische Existenz zu führen. Von Tripitaka erhält der ehemalige Himmelsgeneral den Namen Zhu Bajie, der soviel bedeutet wie »Zhu der Acht Verbote«. Seine hervorstechendsten Eigenschaften sind nun von ganz anderer Art, als man sie in der Gemeinschaft erwartet. Doch wo Sun Wukong 525
The Journey to the West, übers. von ANTHONY C. YU, Bd. 1, Kap. 24, S. 463f.
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durch Weisheit und Witz besticht, bleibt Zhu dem Rohen und Sinnlichen verhaftet, ist ihm jedes religiöse Streben fremd. Neidisch auf Sun Wukongs überlegene Kräfte, gerät er oft in Konflikt mit dem Affenkönig und besitzt kaum Antrieb für größere Anstrengungen. Selbst wenn die ganze Reise gelegentlich kurz vor dem Scheitern steht, zeigt er kein Bedauern, sondern neigt mehr und mehr zur Faulheit. In seinem »schweinischen« Charakter auf Sexgier und Freßsucht beschränkt, trägt Zhu Bajie physisch und moralisch die Züge des gemeinen Mannes, der seine Erfüllung in der Verfolgung weltlicher Ziele sieht. Diese Neigung zu sinnlichen Genüssen läßt auch gegen Ende der Reise nicht nach, wie die Erlebnisse am Hofe des indischen Herrschers zeigen. Über die geringsten Kräfte unter den Begleitern Tripitakas auf dem Weg nach Indien verfügt Sha Wujing, der als letzter zu der Gruppe stößt und insgesamt nur eine Randfigur bleibt. Wie Zhu Bajie war er einst ein himmlischer General, zog sich aber wegen eines lächerlich gering anmutenden Vergehens (ihm fiel während eines Pfirsich-Gastmahls eine Tasse zu Boden) den Zorn des Jadekaisers zu, der ihn als Flußungeheuer auf die Erde verbannte, wo ihm zusätzlich ein fliegendes Schwert alle sieben Tage die Brust durchbohrt – eine wahrhaft prometheisch anmutende Strafe. Aufgrund seiner Beziehung zum nassen Element kann sich Sha Wujing zumindest bei einigen Gelegenheiten als Ratgeber und Gehilfe des Affenkönigs nützlichen machen.526 Anders als bei den übrigen beiden Begleitern bleibt Sha Wujings Bild insgesamt rätselhaft-dunkel. Von einzelnen Kommentatoren ist sein Wesen als zheng umschrieben worden, was soviel wie »redlich« bzw. »integer« bedeutet. Was freilich alle drei Begleiter Tripitakas verbindet, ist ihre Häßlichkeit, mit der sie die Menschen immer wieder erschrecken und dadurch deren Oberflächlichkeit entlarven. Denn in Wahrheit sind die Fähigkeiten und Stärken Suns, Zhus und Shas weit größer als die des Mönchs, der trotz seiner angenehmen Erscheinung ein Schwächling bleibt. Bei dem vom Umfang her festgelegten Kanon von Prüfungen und Abenteuern, die die Pilger auf ihrem Weg zu bestehen haben, ist nun zu differenzieren. Die auftretenden Dämonen und Ungeheuer verfügen über einen eigenartigen Doppelcharakter: Sie behindern einerseits den Fortschritt der Geschichte, andererseits sind sie jedoch die Voraussetzung dafür, daß die Pilger ihre Reise bestehen. Ihre Angriffe sind damit das einende Band der Reiseerzählung. Im Mittelpunkt der Prüfungen und Angriffe steht vornehmlich die Person des Mönchs. Absolut schlechte und verkommene Wesen sind eher die Ausnahme. Selten sind es ausgesprochen niedere Motive, die die Wesen zum Handeln treiben. Vielmehr scheinen auch sie – freilich auf eine naiv-plumpe Weise – mit der Selbstvervollkommnung beschäftigt und streben dabei lediglich nach einer Abkürzung, indem sie Tripitaka 526
So etwa in Kap. 41 mit dem Vorschlag, den gefährlichen Rotjungen mit Wasser zu bekämpfen, und in Kap. 43 im Kampf gegen das Ungeheuer im Schwarzen Fluß.
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verzehren oder sich mit ihm vereinigen wollen. Richtig üble Wesen treten nur in Menschennatur – etwa als Räuber und Diebe – auf, die aus Raublust morden.527 Doch werfen wir zunächst einen Blick auf die typischen Beschreibungen bei der Begegnung zwischen Ungeheuern und Pilgern.528 Bei der Vorstellung eines Ungeheuers werden zumeist erst einmal nähere Aufschlüsse über den Ort gegeben, an dem es lebt. In der Regel handelt es sich dabei um einen Ort in der Wildnis, vornehmlich in Höhlen, Gewässern und auf Bergen. Bei der ersten Begegnung erscheinen die Ungeheuer meist in falscher Verkleidung bzw. in ganz falscher Gestalt und geben sich dabei häufig als menschliche Wesen aus. Gerade Tripitaka und Zhu Bajie erliegen zumeist diesen Täuschungen. Insbesondere bei Ungeheuern in Frauengestalt ist der Mönch gerne von deren menschlichem Wesen überzeugt, doch läßt sich auch Buddha selbst gelegentlich in die Irre führen.529 Als Ziel haben die Ungeheuer nun nicht etwa schlicht die physische Vernichtung Tripitakas im Auge, sondern sind bemüht, durch totale Vereinnahmung des heiligen Pilgers auf dem einfachsten Weg Unsterblichkeit zu erlangen, womit klar Kritik an oberflächlichen Formen des Glaubens geübt wird. Die männlichen Unwesen streben durch den Genuß des »heiligen« Mönchsfleisches nach ewigem Leben, während die weiblichen Pendants den weniger grausamen, aber für Tripitaka gleichfalls unannehmbaren Weg des Geschlechtsaktes wählen, um den reinen Samen des Geistlichen zu empfangen und nicht der Sterblichkeit anheimzufallen. Das erste Mal, wo solch ein böser Geist in der Gestalt eines schönen Mädchens auftritt, ist kurz nach der Konstituierung der Pilgergruppe. Weder Tripitaka noch Zhu Bajie oder Sha Wujing ahnen etwas von der Bedrohung. Lediglich der gerade noch rechtzeitig zurückkehrende Sun Wukong durchschaut die Gefahr. Er will den Geist töten, wird jedoch von Tripitaka zurückgehalten. In seiner Ehre gekränkt, macht der Affenkönig dem Mönch Vorwürfe: »Ich durchschaue dich, Meister«, sagte Sun Wukong, »ihr hübsches Gesicht hat dich blind gemacht. Wenn das so ist, dann schickst du am besten Zhu Bajie und Sha Wujing in den Wald, damit sie dir Holz und Blätter besorgen. Ich werde dir dann eine Hütte zimmern, in der du mit deiner Angebeteten leben kannst. Wir beide sind dann jedenfalls geschiedene Leute. Sag, wäre es nicht schön, so ein Eheleben zu führen? Wozu noch so viele Mühen auf die Suche nach den heiligen 530 Schriften verwenden?«
Bei aller Grausamkeit und Aggressivität der Ungeheuer, mit deren Darstellung der Autor seine Sympathie für ihr geheimnisvolles Dasein voller unmoralischer 527 528
529 530
Etwa in Kap. 96-97. Ausführlich hat sich diesem Aspekt des Romans u.a. gewidmet: ROB CAMPANY: »Demons, Gods and Pilgrims: The Demonology of the Hsi-yu Chi«, in: CLEAR 7 (1985), S. 95–115. Z.B. in Kap. 65–66. Journey to the West, Bd. 1, Kap. 27, S. 498.
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Autonomie zu erkennen gibt, strahlen einige Gestalten immerhin eine gewisse Wärme aus. So erweckt Raksasi beinahe Mitleid, nachdem ihr Gatte, der BüffelDämonen-König sie verlassen hat und ihr der Sohn von Guanyin abgenommen wurde. Mitunter ist aus der Menschlichkeit im Erscheinungsbild der Ungeheuer geschlußfolgert worden, daß der Verfasser prominente Persönlichkeiten seiner Zeit satirisch betrachtete.531 Der Ortung der Dämonen und Ungeheuer folgen die ersten Kämpfe, denen breiter Raum in der Darstellung zur Verfügung gestellt wird. Hier kommen naturgemäß auch magische Kräfte und Waffen zum Einsatz. Der Grad der Wirksamkeit dieser Waffen, über die ein Ungeheuer verfügt, spiegelt das Stadium seiner Selbstvervollkommnung wider. Nach anfänglichen Niederlagen der Pilger wird dann unter Hinzuziehung von himmlischer Verstärkung letztendlich der Sieg errungen, bei dem das wahre Wesen der Angreifer zutage tritt. Wichtige und einflußreiche Ungeheuer werden anders als die weniger exponierten (deren vollständige Vernichtung die Folge ihrer Taten ist) meist nicht getötet. Einige der Ungeheuer erscheinen seltsam plump und wehrlos, den grausamen Streichen Suns und Zhus ausgeliefert. So stachelt das Schwein den Affenkönig in einer Szene an, die Rotgeschuppte Python zu martern, wobei die unerleuchtete Riesenschlange noch nicht einmal die menschliche Sprache beherrscht. Sun läßt sich von ihr verschlingen und beginnt mit jener »inneren Reinigung«, die er als Bekehrungsform einer ganzen Reihe von Bösewichten im Roman zuteil werden läßt. Das Schwein schlug sich auf die Brust, stampfte mit den Beinen auf und schrie: »Bruder, jetzt hat es dich erwischt!« Im Innern der Schlange hob der Affe seine Keule und rief: »Keine Sorge, Schwein. Ich mache eine Brücke aus ihr, paß auf.« Das Ungeheuer krümmte den Rücken und sah aus wie eine Brücke in der Form eines Regenbogens. Das Schwein sagte: »Es sieht zwar aus wie eine Brücke, aber niemand würde es wagen, sie zu überqueren.« Der Affe rief: »Schau her, jetzt mache ich ein Boot aus ihr.« Er stemmte seine Keule der Länge nach gegen die Bauchunterseite des Ungeheuers. Die ganze Länge seines Bauches berührte jetzt den Boden, und als es den Kopf hochwarf, sah es aus wie ein Boot mit einem hohen Schiffsschnabel. Das Schwein sagte: »Es sieht zwar aus wie ein Boot, aber es hat keine Segel und kann nicht vom Wind getrieben werden.« Der Affe erwiderte: »Mach Platz. Ich werde es unter dem Wind segeln lassen.« Und mit äußerster Kraftanstrengung – er war noch immer im Bauch – stieß er die Keule durch den Rücken hindurch, so daß sie fünfzig oder sechzig Fuß weit hervorstand und wie ein Mast aussah. Die Schlange konnte die Schmerzen kaum mehr ertragen und wand sich auf ihren alten Weg zurück. In einem vergeblichen Versuch, ihr Leben zu retten, raste sie schließlich schneller als vom Wind getrieben. Das Reptil stürzte den Berg hinab, hastete weiter über zwanzig
531
Vgl. zu dieser Deutung etwa JENNERs Nachwort in Journey to the West, Bd. 3, S. 639.
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Die der Besserung fähigen Besiegten kehren dagegen entweder auf ihren himmlischen Posten zurück, von dem sie geflohen sind, oder sie erhalten eine neue Stellung. Die Fehlbarkeit, mit der die Angehörigen der Himmelsbürokratie ihr Amt ausüben, entlarvt sie als Projektionen der irdischen Amtsschimmel. Verfehlungen im Amt oder sonstige Übel und die Furcht vor grausamer Vergeltung sind auf einer allgemein-moralischen Argumentationsebene Anlaß für die Flucht auf die Erde, wo die Himmelsgestalten zumeist als Tier-Geister bzw. als Tier-Menschen ihre Zeit zubringen. Aus buddhistischer Sicht ist das schlechte Karma, das diese Wesen im Himmel angesammelt haben, der Grund für ihre Wiedergeburt in »niederer Form«. Vorherrschend im Roman ist jedoch die taoistische Rechtfertigung, nach der mangelnde Selbstvervollkommnung zu schlechten Taten führt und das Wesen sich auf einer tieferen Ebene der kosmischen Hierarchie durch Selbstvervollkommnung wieder hocharbeiten muß.533 Mit ihren überlegenen Kräften bleiben die Wesen auf der Erde jedoch Fremdkörper und bedrohen die irdische Ordnung. Ausnahmen sind die Goldene Zikade, Tripitakas frühere Existenzform, die in der Gestalt des Mönchs positive Aspekte in sich vereint, und Tiergeister wie die Weiße Schildkröte des Himmelsflusses, die friedliche Formen der Selbstvervollkommnung gewählt haben, ohne die Ordnung zu stören. Vermutlich wird hiermit eine Übergangsphase angedeutet, bei der ein Wesen in seinen Bemühungen um Selbstvervollkommnung bereits den ersten wichtigen Schritt vom Tier zum Menschen unternommen hat. Was Sun Wukong, Zhu Bajie und Sha Wujing von den übrigen Ungeheuern unterscheidet, ist, daß sie den rechten Weg des Tao verfolgen. Tripitakas Begleiter hängen über den Mönch vom Gesetz des Buddhismus ab, um sich selbst zu vervollkommnen. Was die Pilger auf der Reise lernen, ist, daß wahre Selbstvervollkommnung in der Aufgabe des Selbst liegt. Überragt wird dieses Konzept allerdings noch von der Erkenntnis der Leere des Selbst. Des Autors Sinn für das Lächerliche ist in der buddhistischen Doktrin der Leere verankert. Er macht sich über Pilger wie Ungeheuer gleichermaßen lustig, alles ist maya (Illusion). Nur Sun scheint bis zu diesem Stadium der Wahrnehmung zu gelangen, daher sein Name: »Erwachen zur Leere«. Welche Botschaft vermittelt nun der Roman Die Reise in den Westen? Schon den aufmerksamen Lesern in China, die früh mit dem Werk konfrontiert wurden, fiel auf, daß seine Bedeutung nicht in der Titelbezeichnung des Reiseromans zu suchen war, sondern in der Annahme einer Bedeutung »jenseits der Worte« (qi yongyi 532
533
Kap. 67 der Reise in den Westen, hier zit. nach HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 176. Vgl. dazu CAMPANY: »Demons, Gods and Pilgrims«, S. 99.
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chu jin zai yan wai) eher eine allegorische Lesart (eben als yuyan) vorzuziehen war,534 doch verneinte man auch nicht den spürbar didaktischen Ton.535 Eine sehr »weltliche« Botschaft könnte man daher in der Absicht sehen, daß ein langes und schwieriges Unternehmen durch Geduld, Mut, Vorstellungskraft und die Kenntnis darüber, wie die Welt beschaffen ist, zum Erfolg gebracht werden kann. Daß der Roman trotz seines nicht zu leugnenden Wirklichkeitsbezugs dem Aspekt der Illusion (huan) breiten Raum einräumte, war bereits den ersten Lesern aufgefallen.536 Es spricht für die Komplexität und Vielschichtigkeit eines Werkes wie der Reise in den Westen, daß es sich anders als zum Beispiel der noch vorzustellende Roman Die sieben Heiligen (Qizhenzhuan) aus dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht eindeutig einer Glaubensrichtung zuordnen läßt und mithin nicht von einem religiösen Werk die Rede sein kann. Vielmehr wird durch mehr oder weniger versteckte Angriffe bzw. Ironisierungen eine deutliche Distanz gegenüber den drei in China vorherrschenden Glaubensformen des Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus geschaffen, wie im folgenden eingehender aufgezeigt werden soll. Der Einsatz von Ironie – erkennbar vor allem an den Namen für einzelne Gestalten sowie dem Wesen der Pilger – kennzeichnet Die Reise in den Westen zudem als einen typischen Gelehrtenroman im Stil seiner Zeit.537 Bei vordergründiger Betrachtung ließe sich dem Verfasser zunächst durchaus eine buddhistische Grundtendenz unterstellen. Zu auffällig sind die größtenteils von taoistischen Göttern und Himmelswesen gestellten Prüfungen auf dem Weg der Pilger. Der Rhinozeros-König vom Jindou-Berg (Kap. 50–52), gegen den selbst Prinz Nedscha nichts ausrichten kann und bei dem es sich, wie sich am Ende herausstellt, um den geflüchteten Wasserbüffel Laotses handelt, auf dem dieser einst nach Westen ritt, mutet noch geradezu harmlos an. Die taoistischen Zauberer, die im Lande die Herrschaft an sich reißen, sind da schon wesentlich grausamer, 534
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So etwa bei einem Kommentar, der Li Zhi zugeschrieben wird, oder bei Liu Yiming um die Mitte des 18. Jh.s in seinen »Bemerkungen zur ›Ursprünglichen Botschaft des Xiyouji‹« (»Xiyou yuanzhi« dufa) und bei der etwa zur selben Zeit von Zhang Shushen vorgelegten »Vollkommenen Bewertung der ›Neueren Auffassungen des Xiyouji‹« (»Xin shuo Xiyouji« zong pi). So ebenfalls nachzulesen bei Zhang Shusheng, wie er in seinen auf das Jahr 1748 datierten »Zusammenfassenden Bemerkungen zum Xiyouji« (Xiyouji zonglun) zum Ausdruck brachte, dem Roman eine deutliche didaktische Absicht zu unterlegen. So sei es das zentrale Anliegen, den Menschen zum ehrlichen Studium und Streben anzuhalten, auf daß er vor wichtigen Aufgaben nicht zurückschrecke. Die Lektüre der Reise in den Westen, so Zhang, sei ein Gewinn für die Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen. Dies hebt der nur unter seinem Pseudonym »Vorbeiziehender Gast am hängenden Pavillon« bekannte Verfasser der »Bemerkungen zum Xiyouji« (Xiyouji tici) zum Ende der MingDynastie hervor. Vgl. dazu ausführlich PLAKS: The Four Masterworks, S. 221.
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wenn sie bei der Durchführung ihrer alchimistischen Versuche hemmungslos Menschenopfer fordern (Kap. 78–80). Trotz der vordergründig immer wieder betonten Schwäche und Unterlegenheit der taoistischen Glaubensanhänger im Wettstreit mit den Buddhisten – der Sieg Tathagata-Buddhas über Sun Wukong zu Romanbeginn weist bereits in diese Richtung – ergibt sich bei einer umfassenderen Betrachtung durchaus ein ausgewogeneres Bild. Zunächst hat Sun Wukong seine Kräfte schließlich dem Erlernen taoistischer Magiepraktiken zu verdanken. Sodann fällt auf, daß Buddhas und taoistische Götter im Pantheon durchaus gleichberechtigt nebeneinanderwohnen: Der Jadekaiser und Laotse haben ihre Interessensphäre ebenso wie die Buddhas und Bodhisattvas. Zu Zusammenstößen kommt es nicht. Gemeinsam tritt man an, um Sun Wukong, die diese Ordnung bedrohende Kraft, zu besiegen. Auch der Buddhismus und seine Anhänger kommen nicht ganz ungeschoren davon. Die Grundtendenz der Reise in den Westen mag zugegeben buddhistisch sein, der Verfasser eher dieser Glaubensrichtung zuneigen. Dennoch ist der Roman alles andere als streng formal-religiös zu nennen, wie die teilweise falschen Titel und Namen der Sutras und Buddhas zeigen.538 Als eine Art »religiöser Begleiter« spielt allein das Herz-Sutra, ein zentraler Text der Weisheit des Mahayana-Buddhismus, eine herausragende Rolle. Den historischen Quellen zufolge soll Tripitaka den Text erst bei seiner Rückkehr aus Indien erhalten haben. Der Roman hingegen beschreibt, wie Tripitaka schon zu Beginn der Reise aufgefordert wird, einen ZenMeister aufzusuchen, um das Sutra zu empfangen, und in Kapitel 19 erfahren wir etwas über den überwältigenden Einfluß, den dieses Sutra auf den Mönch ausgeübt haben soll. Gleichzeitig scheint sein Verständnis des Textes aber oberflächlich zu bleiben, denn im Besitz einer so großen Wahrheit müßte er eigentlich den imaginären Charakter der Hindernisse erkennen und bedürfte auch nicht der Hilfe seiner Begleiter. Die transzendentale Lehre des Herz-Sutra »Form ist Leere und Leere selbst Form« scheint im Werk über Tripitakas Auffassungsvermögen hinauszugehen. Sun Wukong mit seinem weit größeren religiösen Verständnis ermahnt den Meister daher stets, sich an das Sutra zu halten und sich nicht von den Erscheinungen fesseln zu lassen. Das buddhistische Ideal der Erleuchtung des einzelnen mittels Meditation wird karikiert durch das Bild des stets nervösen, von Hunger und Kälte geplagten, Furcht um seine persönliche Sicherheit verspürenden Mönchs, der sich bis zuletzt seiner Heiligkeit und Buddhaschaft selbst im Wege steht. Alle Bekenntnisse bleiben floskelhaft und oberflächlich. Der Höhepunkt dieser ironischen Auseinandersetzung mit dem Buddhismus ist freilich die Infragestellung der Reise selbst, als sich die Pilger endlich am Ziel glauben: Am Fuße des Seelenberges (Lingshan) wird die Gruppe von einem Unsterblichen willkommen geheißen, der bereits seit einem Jahrzehnt auf Tripitaka 538
Vgl. JENNERs Nachwort in Journey to the West, Bd. 3, S. 643.
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wartet, nachdem ihm Guanyin dessen Ankunft angekündigt hat. Lediglich Sun Wukong erkennt in den Hindernissen während des Aufstiegs zum Geiergipfel (Lingjiu gaofeng), dem Wohnort Tathagata-Buddhas, letzte Prüfungen auf dem Weg und zögert anders als der Mönch und die beiden anderen Begleiter nicht, die schmale, glitschige Brücke aus Baumstämmen zu überqueren und in das bodenlose Boot Ratnadhvaja-Buddhas zu steigen. Selbst Tripitakas Ankunft im Paradies um das Donnerkloster – gereinigt von der Bestechlichkeit der Sinne, vom fleischlichen Erbe der verflossenen Jahre und ausgestattet mit schrankenüberflügelnder Weisheit – ist nurmehr ein Trugbild der Harmonie und Güte, denn den Pilgern soll Wesentliches vorenthalten bleiben. Da öffnete der Tathagata den Mund des Erbarmens und offenbarte das Mitleid seines Herzens: »In den weiten und volkreichen Gegenden deines Östlichen Landes herrschen seit langem Gier, Mord, Wollust und Lüge. Dort gibt es keine Ehrfurcht vor Buddhas Lehren, kein Streben nach guten Werken. So überströmend voll ist das Sündenmaß der Menschen, daß sie auf ewig in die Finsternis der Hölle hinuntermüssen, wo die einen in Mörsern zerstampft werden, die anderen die Gestalt bepelzter und gehörnter Tiere annehmen. [...] Konfuzius stand ihnen zur Seite und lehrte sie alle Tugenden; König um König versuchte umsonst, sie mit immer neuen Strafen und Leiden zu bessern. Kein Gesetz vermochte ihre rastlosen Ausschweifungen zu zügeln, kein Strahl der Weisheit ihre Blindheit zu durchdringen. Aber ich habe drei Körbe voll Schriften, die Menschheit von ihren Nöten und Qualen zu erretten. Einer enthält das Gesetz, das vom Himmel berichtet, einer enthält die Reden, die von der Erde sprechen; einer enthält die Schriften, welche die Toten erlösen [...] alles das Menschengeschlecht Betreffende ist darin zu finden. In Würdigung der Tatsache, daß ihr von so weit gekommen seid, gäbe ich sie euch gerne alle mit. Doch sind die Menschen von China töricht und ungestüm; sie würden meine Mysterien verhöhnen und den 539 verborgenen Sinn unseres Ordens nicht verstehen [...]«
Ananda und Kashyapa, zwei Jünger Buddhas, führen die Pilger daraufhin in eine Schatzkammer, wo die Schriften aufbewahrt werden. Da Tripitaka jedoch nichts zum Tausch anbieten kann – ein Brauch, den der hier zum Geschäftsmann herabgesunkene Buddha später dem klagenden Sun Wukong gegenüber ausdrücklich bestätigt – erhält er zunächst nur unbeschriebene Schriftrollen. Erst als man des Betrugs gewahr geworden ist und noch einmal vor Buddha zieht, werden 539
Zit. nach WU CHENG'EN: Monkeys Pilgerfahrt, Die phantastische Reise des Affen Monkey – ein Buch aus den Essenzen des Himmels und der Erde. Nach der englischen Übersetzung von ARTHUR WALEY übertragen von GEORGETTE BONER und MARIA NILS, München: Goldmann 1983, S. 390f. Vgl. hierzu auch eine neue Fassung: WU CHENG'EN: Monkeys Pilgerfahrt, aus dem Englischen übersetzt von NADIA JOLLOS und GEORGETTE BONER, Zürich: Werner Classen Verlag 1997.
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die Schriften überreicht, nicht ohne daß sich freilich Tripitaka zuvor gegenüber den weiterhin fordernden Jüngern mit einer goldenen Almosenschale erkenntlich gezeigt hätte. Der an sich feierliche Anlaß der Schriftenübergabe verkommt hier zu einem schäbigen Geschäft. Ist es am Ende vielleicht der Konfuzianismus, der aus diesem Wettstreit der Glaubensrichtungen als Sieger hervorgeht? Mitnichten, denn zu oft ist von fehlgeleiteten Herrschern und falschen Königen die Rede, als daß sich eine Idealgestalt ausmachen ließe.540 Sun Wukong bringt diese Zweifel am rechtmäßigen Herrscher recht gut zum Ausdruck, wenn er sich, nachdem er den ermordeten König von Wuji wieder zum Leben erweckt und den Usurpator beseitigt hat, fragt, ob dies denn rechtens und angebracht sei. Der einzige Verstoß des »falschen Königs«, der in Wahrheit ein taoistischer Zauberer ist, bestand nämlich darin, einen Herrscher vom Thron gestoßen zu haben und dessen Stellung einzunehmen. Welcher Dynastiegründer kommt schon ohne den Sturz des vorhergehenden Kaisers an die Macht? Womit sich auch der »falsche König« mit den folgenden Worten an seinen Peiniger wendet: »Sun, du Schuft! Was kümmert es dich, wenn ich den Thron eines anderen beanspruche? Weshalb bist du gekommen, vermeintliches Unrecht zu beseitigen und mein Geheimnis preiszugeben?«541 Lediglich in der Bekräftigung der Werte und Tugenden wie »Darlegung der Tugend« (mingde) und »Läuterung des Inneren« (zheng xin) wird die Verbindung zum Konfuzianismus noch stärker zum Ausdruck gebracht. Womöglich kommt man dem Grund für die ausgewogene Haltung des Verfassers gegenüber Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus am nächsten, wenn man eine Stelle im Roman berücksichtigt, wo ganz deutlich auf die Wichtigkeit der Übereinstimmungen zwischen den drei Schulen (san jiao gui yi) verwiesen wird. Wieder ist es der Affenkönig, der mit dem folgenden Ratschlag einem König gegenübertritt: Ich hoffe, du wirst die drei Lehren verbinden, indem du die buddhistische Mönchschaft sowie den Weg des Taoismus respektierst und die geeigneten Männer in der konfuzianischen Tradition erziehst. Ich kann dir versichern, daß dies dein 542 Reich für immer sicher machen wird.
Kommen wir also zu jener allegorischen Lesart der Reise in den Westen, die sich, wie wir weiter oben gesehen haben, bereits bei den frühen Kommentatoren des 540
541 542
Schon die Kommentatoren der Reise in den Westen brachten das zum Ausdruck, wenn sie etwa Kritik an der »falschen Moral« konfuzianischer Werte übten und damit nicht zuletzt auf die Figur des Tang-Herrschers Taizong abhoben. (Vgl. PLAKS: The Four Masterworks, S. 240, Anm. 168.) Journey to the West, Bd. 2, Kap. 38, S. 138. Ebd., Bd. 2, Kap. 47, S. 273.
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Werks herauskristallisierte.543 Dabei heben Art und Weise der Komposition sowie die umfassenden Erzählmuster eines Erzähltextes absichtlich auf eine Ebene ab, die nicht direkt vermittelt wird. Nur dort handelt es sich der Definition nach um eine Allegorie, wo der Autor den Leser ausdrücklich dazu bringt, über die eigentliche Erzählung hinaus eine weitere Bedeutungsebene zu erfassen.544 Neben der allegorischen Funktion der Namen angefangen mit den Pilgern bis hin zu den Begriffen für die einzelnen Dämonen und Ungeheuer (z.B. »WeißknochenDame« [baigu furen], »Rotkind« [honghai'er], »Eisenfächer-Prinzessin« [tieshan gongzhu]) geben weitere Termini Hinweise auf buddhistische und taoistische Vorstellungen.545 Hier handelt es sich sozusagen um das allegorische Rohmaterial, dessen Bedeutung sich der Leser selbst erschließen muß, weswegen Die Reise in den Westen gelegentlich als der allegorischste unter den chinesischen Gelehrtenromanen bezeichnet worden ist.546 Ein Werk in der Anlage eines Reiseromans wie Wu Cheng'ens Reise in den Westen bietet zahlreiche Aspekte, um Folgewerken einen Aufhänger zu geben. Die etwa zehn Titel umfassenden Folgeromane zur Reise nutzen die vorhandenen Spielräume auf mitunter kreative Weise aus.547 Wir wollen die wichtigsten Titel kurz vorstellen. Vor allem die Rückreise der Pilgergruppe nach China – in Wus Version auf gerade acht Tage reduziert und mit nur einem Abenteuer versehen – bot in der Regel einen bequemen Einstieg, um den Handlungsfaden beliebig weiterzuspinnen. Der früheste und aufgrund seiner psychologischen Tiefe einer der besten Romane aus dieser Reihe – die Rede ist von Dong Yues (1620–1686) Ergänzung zur Reise in den Westen (Xiyoubu) – wählt eine andere Herangehensweise.548 Hier wird nicht einfach die fiktive Rückreise der Pilger mit ähnlichen Erlebnissen und Abenteuern wie auf dem Hinweg ausgeschmückt. Vielmehr greift Dong einen 543
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Vgl. zur allegorischen Interpretation der Reise in den Westen auch ALFRED KUANG-YAO YEH: The Evolution of a Rebel: An Interpretation of Wu Cheng-en's ›Journey to the West‹, Ph.D. University of Tusla 1976. Vgl. dazu ANDREW H. PLAKS: »Allegory in Hsi-Yu Chi and Hung-Lou Meng«, in: DERS. (Hg.): Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton UP 1977, S. 165. Vgl. dazu eingehender PLAKS: The Four Masterworks, S. 224–231. Ebd., S. 224. Der Hinweis auf die Zahl der Folgewerke ist zu entnehmen der Geschichte des chinesischen Romans (Zhongguo xiaoshuoshi), hrsg. von der Chinesischabteilung der Universität Peking, Peking: Renmin wenxue 1978, S. 159. Die Bearbeitung folgt der chinesischen Ausgabe DONG YUE: Ergänzung zur Reise in den Westen (Xiyoubu), Shanghai: Shanghai guji 1983 sowie der englischen Übertragung The Tower of Myriad Mirrors, a supplement to Journey to the West, von TUNG YÜEH (1620– 1686), übers. von SHUEN-FU LIN und LARRY SCHULZ, Berkeley, Cal.: Asian Humanities Press 1988.
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der Zyklen aus der Reise heraus und entwirft im Anschluß an die Ereignisse ein eigenwilliges Szenario, in dessen Mittelpunkt Sun Wukong steht. Wir erinnern uns: In dem Zyklus von Kapitel 59–61 der Reise sind die Pilger in ein Land gekommen, in dem vor Hitze alles rotglühend ist. Sie erfahren, daß der Flammenberg, von dem die Gegend auch ihren Namen trägt, Ursache des sengenden Klimas ist. Wie sich aber bald herausstellt, ist Raksasi im Besitz eines Fächers aus Blättern einer Bananenstaude, mit dem die Flammen gelöscht werden können. Leider erweist sich Raksasi als sehr unkooperativ und verweigert die Herausgabe des Fächers, hat sie doch Sun und Guanyin den Sieg über ihren Sohn Rotjunge nicht verziehen. Es entbrennt ein Kampf zwischen dem Affenkönig und der starken Gegnerin, die Sun auch sogleich mit dem Fächer hinwegfegt. Der Affe kann sich nur halten, als ihm ein Bodhisattva »Gewichtspillen« und einen windfesten Stab verschafft. Raksasi wird zurück in ihre Höhle getrieben, wo sich Sun Wukong in ein Insekt verwandelt und in ihren Magen eindringt. Die Mutter Rotjunges wird so lange malträtiert, bis sie sich zur Herausgabe des Fächers bereiterklärt. Wie Sun aber feststellen muß, ist er einem Betrug aufgesessen, denn mit den ausgehändigten Bananenblättern flackern die Flammen nur noch um so höher. Erst nach einer Reihe weiterer Verwicklungen gelingt es Sun, das Feuer zu löschen. Dong Yue folgt in seiner Ergänzung scheinbar dem vorgegebenen Muster, indem er den zahlreichen Abenteuern der Reisenden um Tripitaka auf ihrem Weg Richtung Westen ein weiteres hinzufügt. Dabei trifft Sun Wukong nach der Abreise aus dem Land um den Flammenberg auf den Makrelengeist, den er aber schließlich besiegt und tötet. Doch allein schon ein Blick auf die Anlage des Abenteuers zeigt, was für ein Meister Dong in der inner-psychischen Gestaltung war, so daß es verlohnt, die Hintergründe seines Lebens zunächst ein wenig auszuleuchten. Dong Yue wurde 1620 vermutlich in der Stadt Nanxun der Provinz Zhejiang geboren.549 Er stammte aus einer Familie von Gelehrten, noch der Großvater und verschiedene Onkel hatten sich in den Prüfungen ausgezeichnet und mit dem Doktorgrad die höchsten akademischen Weihen erlangt. Bei Dongs Geburt hingegen schien die Familie bereits im Niedergang begriffen zu sein, doch verpflichtete die Familientradition offenbar dazu, dem jungen Dong trotz des frühen Todes seines Vaters eine gediegene Ausbildung zu gewähren. Schon in jungen Jahren wurde Dong Yue daher mit dem Sanskrit und Werken wie dem Herz-Sutra 549
Eine ausführliche Biographie zu Dong Yue liegt im Chinesischen mit LIU FUs (1891–1934) Biographie zum Verfasser des Xiyoubu, Dong Ruoyu (»Xiyoubu« zuozhe Dong Ruoyu zhuan) vor. (Abdruck u.a. in der hier verwendeten chinesischen Ausgabe Die Ergänzung zur Reise in den Westen, Shanghai guji 1983, S. 77–129) Die in westlicher Sprache bislang umfangreichste Studie zu Dongs Leben und Werk ist FREDERICK P. BRANDAUERs Tung Yüeh, Boston: Twayne 1978, die auch bei diesen Ausführungen herangezogen wurde. Eine gute Übersicht bietet neben der im folgenden zitierten Literatur auch HEGEL: The Novel in Seventeenth Century China, S. 142–166.
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bekannt. Eremitentum und eine gewisse Exzentrik, die Dong Yue später an den Tag legen sollte, waren auch einigen seiner Vorfahren eigen gewesen. Die rasche Auffassungsgabe des Jungen und seine Vertrautheit mit der Schrift gaben Anlaß zu höchsten Hoffnungen für eine Beamtenkarriere. Ob es die Wirren der Zeit oder korrupte Prüfer waren, die Dong den Einstieg in eine erfolgreiche Beamtenkarriere versagten, wissen wir nicht, jedenfalls kam er nicht über den Grad eines Bakkalaureus hinaus. Eine der wenigen überaus realistischen Darstellungen im Roman dürfte seine Empfindungen über das Prüfungssystem recht gut zum Ausdruck bringen. Die Szene schildert, wie Sun Wukong bei dem Blick in einen Spiegel des Turmes eine Verlautbarung über die erfolgreichen Kandidaten macht. In kurzer Zeit hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt. Überall drückte und stieß man sich, Rufe und Schreie ertönten allerorts, jeder wollte die Verlautbarung lesen. Zuerst waren erschreckte Stimmen der Verwirrung zu vernehmen, gefolgt von Jammern und Schluchzen. Am Ende vernahm man nur noch das Schimpfen und Fluchen, und schließlich gingen die Leute auseinander, jeder seinen eigenen Weg. Einer saß unmutig auf einem Stein; wieder einer zerschmetterte seinen Tuschestein, der mit einem Mandarinenentenpaar verziert war; ein anderer mit wirrem Haar wurde von Eltern und Lehrern geprügelt und umhergescheucht. Hier holte einer seine mit Jade verzierte Laute aus der Tasche, verbrannte sie und weinte kummervoll; dort zog jemand einen zweischneidigen Dolch unter dem Kopfkissen hervor in der Absicht, seinem Leben ein Ende zu bereiten, doch fiel ihm ein junges Mädchen in den Arm. Da drüben stand einer, den Kopf tief gebeugt in die Lektüre seiner Prüfungsaufsätze vertieft. Mit einem herzlichen Lachen schlug einer auf den Tisch und rief: »Schicksal! Schicksal!« Wieder einer stand breit über das Pflaster gebeugt und spuckte Blut. Ein paar ältere Männer hatten mit ihrem Geld Schnaps gekauft, um den Kummer eines Kandidaten zu ertränken. Einer rezitierte ein Gedicht und trat bei einer Zeile plötzlich voller Wut gegen einen Stein; wieder einer untersagte seinem Diener, anderen darüber Auskunft zu geben, daß sich sein Name nicht auf der Liste befand. Einer war zwar innerlich ruhig und gefaßt, doch nach außen zeigte er ein kummervolles Gesicht, um zum Ausdruck zu bringen, daß er glaube, mit einem Bestehen gerechter behandelt worden zu sein. Ein anderer schien richtig traurig und wütend zu sein, doch zwang er sich zu einer zufriedenen Haltung und lächelte. Dann wieder stand da eine Gruppe mit denen zusammen, die bestanden hatten. Einer von ihnen legte sich neue Kleider und Schuhe an; ein anderer zwang sich zu einem ernsten und nicht zu heiteren Gesichtsausdruck; wieder einer schrieb etwas an eine Wand; einer sah seine eigenen Prüfungspapiere durch, überflog sie ein paar tausend Mal, faltete sie zusammen und ließ sie im Ärmel verschwinden, bevor er sich umwandte und fortging. Einige brachten ihr Bedauern gegenüber Freunden zum Ausdruck. Jemand verkündete, daß die Prüfungsbeamten nur durchschnittliche Talente seien. Wieder einer ließ die anderen die Verlautbarung vorlesen, und obwohl der eine oder andere darunter sein mochte, dem nichts daran lag, dies zu tun, zwang er sich doch und las bis zum Ende. Ein weiterer
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane schließlich beteiligte sich an einer hochtrabenden Diskussion und verkündete, daß es bei den diesjährigen Prüfungen überaus fair vonstatten gegangen sei. Dann gab es noch einen, der sagte, das Ergebnis sei ihm bereits in einem Traum zu Neujahrsabend verkündet worden, und ein anderer gab zu verstehen, er sei 550 mit seinem Prüfungsaufsatz diesmal ganz und gar nicht zufrieden gewesen.
So unerfreulich Dongs akademische Karriere auch verlief, fest steht jedenfalls, daß er in diesen Jahren als heranwachsender Mann eine rege literarische Tätigkeit ausübte, so daß nicht vollkommen auszuschließen ist, daß er die Ergänzung bereits im Alter von zwanzig vorlegte.551 Die früheste Ausgabe datiert aus dem Jahre 1641. Man täte Dong jedoch Unrecht, wenn man ihn aufgrund seines umfangreichen Œuvres als reine Gelehrtengestalt bzw. Bücherwurm abqualifizierte. Sein Engagement in der Fushe, einer politisch orientierten Gesellschaft aus Literaten um Zhang Pu (1602–1641), zeigt ihn in einem anderen Licht. Sei es, daß Dong um die Zeit des Dynastiewechsels zur Mitte der vierziger Jahre alle Hoffnungen auf eine Anstellung als Beamter aufgegeben hatte, sei es, daß er Furcht verspürte, aufgrund anti-mandschurischer Tendenzen in seinen Schriften belangt zu werden – es war sicher mehr als ein exzentrischer Zug, daß er um 1643/44 sein Werk zum ersten Mal den Flammen übermachte, ein Vorgehen, daß er bei zwei weiteren Gelegenheiten (1646 und 1656) wiederholen sollte. Enttäuscht über das Ausbleiben weltlicher Erfolge, wandte sich Dong im Laufe der Zeit mehr und mehr der Gemeinschaft seiner buddhistischen Glaubensbrüder zu. Nicht zuletzt auch ein Mann der Tat, konnte er sich 1651 bei der Wiederherstellung eines geordneten Betriebs in dem berühmten Lingyan-Kloster nahe Suzhou hervortun, nachdem dessen Abt von den Qing-Truppen verhaftet worden war. Nach Dongs letzter Bücherverbrennung 1656 entschloß er sich offenbar, der irdischen Welt vollkommen zu entsagen: Er legte sich einen buddhistischen Glaubensnamen zu und trat als Mönch in das Lingyan-Kloster ein. Die folgenden dreißig Jahre bis zu seinem Tode 1686 verbrachte Dong mit ausgedehnten Reisen durch das Land, er verfaßte Gedichte und war in der buddhistischen Nomenklatura als Leiter verschiedener Klöster kein Unbekannter. Obgleich Dong Yue einen großen Teil seiner Schriften vernichtete, ist das, was erhalten blieb, von seinem Umfang und der Qualität her immer noch erstaunlich. Sein Œuvre reicht von historischen Arbeiten über die Zeit der Streitenden Reiche (ein Werk mit dem Titel Qi guo kao erschien 1641/42) über Sammlungen mit Arbeiten zu religiösen und philosophischen Themen bis hin zu den Gedichten, die in diverse Anthologien aufgenommen wurden, doch scheint sein Interesse weit über diese Bereiche hinausgegangen zu sein und sich auf Themen wie Etymologie 550 551
The Tower of Myriad Mirrors, Kap. 4, S. 57f. Der Umstand, daß ein junger Mann bereits ein derart reifes und tiefgründiges Werk vorlegt, hat immer wieder Zweifel an der Verfasserschaft Dongs hervorgerufen.
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und Phonologie ebenso erstreckt zu haben wie auf Medizin und Astrologie.552 Herausragend dürfte jedoch sein Interesse für den Traum gewesen sein, wie allein vier Essays zu diesem Thema zeigen,553 doch an erster Stelle ist hier selbstverständlich der Roman selbst zu nennen. Die Ergänzung zur Reise in den Westen hebt sich in mehr als einer Hinsicht von der übrigen Erzählliteratur ihrer Zeit ab. Schon äußerlich springt ihr geringer Umfang von nur sechzehn Kapiteln ins Auge, eher die Ausnahme im Kanon ansonsten sehr opulenter Erzählwerke. Es fehlen bis auf eine Ausnahme in Kapitel zwölf die typischen Phrasen an den Kapitelenden, die an den Modus der Geschichtenerzähler erinnern sollen: »Wenn der Leser wissen möchte, was weiterhin geschah, so mag er das nächste Kapitel lesen.« Im übrigen kommen auch die ansonsten typischen Gedichte und Prosapassagen zur Beschreibung von Natur und Kriegshandlungen nicht vor. Einzigartig ist die Struktur des Romans jedoch durch die Folge wechselnder Perspektiven, die sich den Szenenwechseln und dem changierenden Zeitgefüge innerhalb des Traums anpassen. Dabei scheint sich der Handlungsentwurf der Ergänzung zunächst nicht weiter von dem in der Reise zu unterscheiden. Die Pilger haben den Flammenden Berg zurückgelassen und ziehen weiter. Unterwegs wird die Gruppe von tanzenden Kindern geneckt, so daß Sun Wukong im Zorn seine Kleidung ablegt und einige der jungen Leute tötet. Erschüttert über die eigene Grausamkeit versucht Sun, die Tat vor dem Mönch zu verbergen, muß er doch fürchten, vertrieben zu werden. Tatsächlich kann er Tripitaka täuschen, indem er vorgibt, die Kinder seien einem menschenfressenden Ungeheuer zum Opfer gefallen. Doch schon ein Hinweis des Verfassers zu Beginn des zweiten Kapitels läßt aufhorchen: »Von da an versuchte Sun Wukong auf tausenderlei Arten, andere zu betrügen, und betrog sich dabei doch nur selbst«554 – ein untrüglicher Hinweis auf zunehmende Zersetzung der Wirklichkeitsauffassung, die Sun durchmacht, festzustellen an einer wachsenden zeitlichen und geographischen Verwirrung. Auf der Suche nach etwas Eßbarem trennt sich Sun von der Gruppe. Er gelangt in eine Stadt, über deren Mauern das Banner der Tang weht, und er bringt in Erfahrung, daß angeblich ein Nachfolger Taizongs in der achtunddreißigsten Generation des Herrscherhauses auf dem Thron sitzt. Ist es möglich, daß sie das Ziel der Reise verpaßt haben? Sun kommt zu einem bemerkenswerten Schluß: 552
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Diese Vermutung geht auf Untersuchungen Liu Fus zurück, der Dongs Arbeiten unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten betrachtet hat. (Vgl. dazu BRANDAUER: Tung Yüeh, S. 39.) Vgl. ebd. S. 95, wo folgende Titel angeführt werden: »Vorwort zu einer Geschichte der Träume aus Zhaoyang« (Zhaoyang meng shi xu), »Darstellung über das Traumland« (Mengxiang zhi), »Traumbeweise« (Zhengmeng pian) und »Vertrag der Traumgesellschaft« (Mengshe yue). The Tower of Myriad Mirrors, Kap. 2, S. 33.
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane Ich habe gehört, daß die Welt rund ist und der Himmel rund um sie herumführt. Vielleicht sind wir, ohne es zu merken, am Westlichen Paradies vorbeigelaufen und wieder im Osten am Ausgangspunkt angelangt. Nun, selbst wenn dem so wäre, besteht kein Anlaß zur Sorge. Wir können die Reise ja noch einmal be555 ginnen und werden unser Ziel nicht ein zweites Mal verfehlen.
Auch der Hinweis auf die achtunddreißigste Generation, in der sich das Haus der Tang befinden soll, ist mehr als seltsam. Besteigt denn jeden Monat ein neuer Kaiser den Thron? Sun will sich Gewißheit verschaffen, doch seine Aufforderung an die ihm dienstbaren lokalen Götter zur Aufklärung fruchtet ebensowenig wie sein Verlangen, im »Palast des Magischen Nebels« Auskunft beim Jade-Kaiser zu erlangen. Unverrichteter Dinge begibt sich Sun zurück in die vermeintliche TangStadt und belauscht im »Grünen Jadepalast« das Selbstgespräch der kaiserlichen Konkubine, die über die Vergänglichkeit philosophiert. Auf merkwürdige Nachrichten über Tripitaka hin (er soll zum General ernannt worden sein) begibt sich Sun erneut in den Himmel, stößt jedoch auf eine Ansammlung von Bauarbeitern, die mit Äxten und Meißeln Löcher in das Firmament hauen. Die folgenden Betrachtungen mögen einem Klassiker der frühen chinesischen Mythenliteratur nachempfunden sein, nämlich den »Himmelsfragen« (Tianwen), einem Bestandteil der vorchristlichen Sammlung Lieder des Südens (Chuci). Die Fragen, die Sun sich stellt, führen von der Sinnhaftigkeit eines möglichen Bauwerks zwischen Himmel und Erde hin zu Problemen des Wesens vom Himmel selbst. Sind dem Himmel womöglich Knochen gewachsen, die nun fortoperiert werden sollen? Vielleicht ist der Himmel auch zu alt geworden, daß sie ihn fortmeißeln und einen neuen errichten. [...] Kann es sein, daß die Milchstraße überschwemmt worden ist und man einen Abflußkanal anlegt? [...] Unter Umständen hat der Jadekaiser Gefallen an der Welt der Menschen gefunden und läßt eine kaiserliche Straße anlegen, auf der er die Erde künftig häufiger besuchen kommt. Ich frage mich, ob das Blut des Himmels rot oder weiß ist; ob die Haut des Himmels aus ein oder zwei Schichten besteht. Hat der Himmel womöglich ein Herz in seiner Brust? Und wenn, ist es dann krumm oder gerade? Auch wüßte ich gerne, ob der Himmel alt oder jung ist, von männlichem oder weiblichem 556 Geschlecht.
Auf Nachfrage hin erfährt der Affenkönig, daß der König der »Grüngrünen-Welt« (Qing qing shijie) mit Namen »Kleiner Mond« den Tripitaka bei sich aufgenommen habe. Empört habe der König bei dem Bericht über die zahlreichen von Sun Wukong auf seinem Weg verübten Verbrechen aus Mitleid mit den Menschen 555 556
Ebd., S. 34. Ebd., Kap. 3, S. 46f.
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den Weg nach Westen gesperrt und eine Bronzemauer bis zum Himmel errichten lassen. Der westliche und der östliche Himmel sind seitdem voneinander getrennt, das Hindernis unüberwindlich. Da Tripitaka jedoch unbedingt seine Reise fortsetzen möchte, hat man ihm geraten, ein Loch in den Himmel zu graben, damit er in den Palast des Jadekaisers eilen und um die Ausstellung von Pässen für die Weiterreise bitten könne. Doch wird an der falschen Stelle gebuddelt, woraufhin der Palast des Jadekaisers zusammenstürzt und Panik im Himmel ausbricht – ein deutlicher Hinweis auf Suns Aufruhr zu Beginn der Reise. So macht denn auch bald das Gerücht von seiner Schuld an dem Unglück die Runde, und es heißt, der Affenkönig solle erneut unter den Berg der Fünf Elemente verbannt werden. Auf der Suche nach seinem Meister gelangt Sun Wukong nun zu einer weiteren Stadt, über deren Mauern das Banner mit der Aufschrift »Grüngrünen Welt« weht. Plötzlich löst sich ein Stein aus der Mauer, und Sun stürzt in einen gläsernen Turm, dessen Wände aus unzähligen Spiegeln bestehen. Doch anstatt sein eigenes Antlitz zu erblicken, findet er in jedem Spiegel einen anderen Himmel, eine andere Erde, Sonne, Wälder etc. Eine Stimme spricht den Affenkönig an und gibt sich als Liu Boqin zu erkennen – der Mann, der sich in Begleitung Tripitakas befand, als Sun einst aus seinem Verlies unter dem Berg befreit wurde. Liu klärt den Affen nun über die Beschaffenheit des Turmes auf. Es handelt sich um den »Turm der Unzähligen Spiegel«, erbaut von König Kleinmond. Jeder Spiegel zeigt eine andere Welt und alles, was sich darin befindet. Der Turm als eine Art Schaltstelle zwischen allen Zeiten und Orten wird nun zum zentralen Bild im Prozeß der Erleuchtung. Er ist der Schlüssel zur Erfassung der verschiedenen Seinsschichten hinter der Vorstellungswelt des Affen. Aus der Sicht der modernen Traumpsychologie spielt sich die Episode des Turms in den Tiefen des Unterbewußtseins ab, wo der Affenkönig Vergangenes aufarbeitet. Der »Turm der Unzähligen Spiegel« besitzt eine Entsprechung in der Avatamsaka Sutra, wo Maitreya dem Sudhana als geistige Hilfe einen Turm errichtet, in dem der Kosmos eingeschlossen ist. In dem Turm finden sich unzählige weitere Türme, jeder mit einem eigenen Kosmos, Maitreya und Sudhana. Somit in die Lage versetzt, das gesamte Zeitenspektrum innerhalb eines einzigen Augenblicks zu erfassen, gelangt Sudhana zur Erleuchtung.557 Als Sun Wukong nun etwas über den Himmel erfahren möchte, wird er konfrontiert mit der antiken chinesischen Welt. Er vermutet dort die Gestalt des ersten Reichseinigers Qin Shi Huangdi (reg. 221–210 v. Chr.), von dem es heißt, er besitze eine Glocke, mit der man Berge versetzen könne. In der Hoffnung, mit Hilfe dieser Glocke die Reise gen Westen problemlos fortsetzen zu können, dringt Sun in den Spiegel ein. Die Suche nach der Glocke wird zum roten Faden der weiteren Ereignisse. Sun findet zunächst weder den Kaiser noch die Glocke. Vielmehr kommt er in Verbindung mit den Damen aus dem Gefolge Xiang Yus, einer adligen Gestalt 557
Vgl. dazu die Einführung ebd., S. 17.
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aus dem späten dritten vorchristlichen Jahrhundert, die dem Liu Bang (Gründer der Han-Dynastie) im Kampf um die Macht im Reiche unterlag und 202 v. Chr. starb. Im Gespräch mit Xiang Yu (Sun Wukong hat die Gestalt der Konkubine Yu angenommen) erfährt der Affenkönig von der Welt der Vergessenheit (mengtong shijie), deren Besuch er sich jetzt zur Aufgabe macht. Auf dem Weg dorthin gelangt er zunächst in die Welt der Zukunft. Als Ersatz für den verstorbenen Unterweltfürsten Yama soll Sun über eine Reihe von Personen zu Gericht sitzen. Sein wichtigster Fall wird die Verhandlung über den des Verrats beschuldigten Qin Kuai (gest. 1155), Kanzler der Südlichen Song, der um einen Ausgleich mit den Jin-Dschurdschen bemüht war und den chinesischen General Yue Fei ausschaltete. Nach der Folterung und Hinrichtung Qin Kuais trifft der Affenkönig mit Yue Fei zusammen. Sun gelangt schließlich in den Spiegelturm zurück und verfängt sich bei dem Versuch, den Turm zu verlassen, in einem Geflecht aus roten Stricken. Angesichts der Ausweglosigkeit und Schwäche wird hier der Eindruck namenloser Furcht vermittelt.558 Möglicherweise versucht der Roman, mittels der Verwirrung und Furcht, die Sun ständig verspürt, etwas von der kollektiven Furcht und den Zweifeln zu vermitteln, die chinesische Intellektuelle im 17. Jahrhundert verspürt haben.559 Erst ein alter Mann, in Wahrheit Suns Selbst, vermag, ihn zu befreien. Hier deutet sich ein Wandel in der Geschichte und dem Wesen des Affenkönigs an. Für kurze Zeit treffen das unerleuchtete und das tiefere Selbst, das sich nach der Vorstellung der Chan-Buddhisten bereits auf dem Pfade der Erleuchtung befindet, aufeinander.560 Folgerichtig dauert es auch nicht mehr lange, bis Sun aus der Gefangenschaft des Makrelengeistes befreit wird. Sun macht sich nun auf die Suche nach seinem Meister, gelangt auch häufig in dessen Nähe, ohne ihn freilich ansprechen zu können. Dann wird der zum General beförderte Tripitaka plötzlich im Kampf getötet und Sun erwacht, als man ihn anspricht. Der »Meister der Leere« erklärt Sun Wukong, er sei gekommen, ihn zu erwecken, da der Affenkönig all die Zeit über in der Aura des Makrelengeistes zugebracht habe und in der Welt der Illusion gefangen gewesen sei. Das folgende Gespräch bringt die Aufklärung der gesamten Vorgänge. »Was für ein Ungeheuer ist der Makrelengeist, daß er ein ganzes Universum schaffen kann?« fragte Sun Wukong daraufhin. 558
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Vgl. zu diesem Problem der Furcht, die den gesamten Roman durchzieht, u.a. C.T. HSIA / T.A. HSIA: »New Perspectives on Two Ming Novels: Hsi Yu Chi and Hsi Yu Pu«, in: Wenlin. Studies in the Chinese Humanities, hrsg. von CHOW TSE-TSUNG, Madison/Milwaukee: Univ. of Wisconsin Press 1968, S. 242. Vgl. zu dieser Deutung FREDERICK P. BRANDAUER: »The Hsi-Yu Pu as an Example of Myth-Making in Chinese Fiction«, in: Tamkang Review, Bd. VI, Nr. 1, 1975/76, S. 114. Zu einer ausführlichen Betrachtung der Ergänzung vor dem Hintergrund des ChanBuddhismus vgl. MARK F. ANDRES: »Ch'an Symbolism in Hsi-yu Pu: The Enlightment of Monkey«, in: Tamkang Review, Bd. XX, Nr. 1, 1989, S. 23–44.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG »Als Himmel und Erde getrennt wurden«, antwortete der Meister der Leere, »stieg der edle Geist nach oben, und das Trübe sank hinab. Das Halbreine und das Halbtrübe blieb in der Mitte, daraus wurde der Mensch. Was überwiegend rein und zu geringen Teilen trüb war, gelangte zum Berg der Blumen und Früchte. Dort kam Sun Wukong auf die Welt. Das aber, was zu großen Teilen trübe war und nur einen geringfügigen Teil an Reinheit besaß, verblieb in der Kleinen Mondhöhle, wo der Makrelengeist geboren wurde. Der Makrelengeist und Sun Wukong erblickten zur gleichen Stunde das Licht der Welt, mit dem einen Unterschied nur, daß Sun zur Welt des Guten, der Makrelengeist zur Welt des Bösen gehörte. Doch die übernatürlichen Kräfte des Makrelengeistes sind zehnmal größer als die von Sun, und sein Körper ist riesig. Wenn er das KunlunGebirge als Kissen benutzt, ruhen seine Füße im Königreich der dunklen Vergessenheit. Die Welt der Wirklichkeit ist ihm zu klein geworden, und so ist er in 561 die Welt der Illusion gekommen, die er Grüngrünen-Welt nennt.«
Auf einem Bergpfad findet der Affenkönig schließlich seinen Meister Tripitaka wieder, an seiner Seite einen kleinen Mönch. Sun erkennt in ihm die Gestalt des Makrelengeistes und erschlägt ihn. Für die Liebhaber der chinesischen Erzählkunst stellte Dong Yues Ergänzung zur Reise in den Westen sicherlich in mehrfacher Hinsicht eine ungewohnte Lektüre dar. Als formalle Aspekte sind die Kürze und das Fehlen von Erzählformeln anzuführen. Schwerer verständlich dürfte bei der allgemeinen Aufnahme des Werks durch die Leserschaft jedoch seine psychologische Tiefe gewesen sein, vor allem die durch die Anlage als Traum gegebene Sprunghaftigkeit im Wechsel der Szenen sowie die nicht immer sogleich zu durchschauenden Symbole und Anspielungen. In der Tat straften die an Stringenz und die Erläuterung aller Hintergründe gewohnten Leser diese Neuerungen lange Zeit mit Nichtachtung des Romans. Dong Yue schien diese Probleme antizipiert zu haben, denn in einem als Frage-und-Antwort-Spiel aufgezogenen Vorwort gab er Auskunft über wesentliche Intentionen seines Buches. Im Zentrum steht dabei das echte Bemühen um Erleuchtung. Um Erleuchtung zu erlangen und den Großen Weg zu erschließen, muß man sich vollkommen leer machen und die Wurzeln des Verlangens töten. Damit dies gelingt, ist es notwendig, zunächst in das Verlangen selbst einzudringen. Erst wenn das vollbracht ist und man die Leere des weltlichen Verlangens erkannt hat, wird die Wahrhaftigkeit der Wurzeln des Wegs deutlich. Die Ergänzung zur Reise in den Westen handelt von den Ungeheuern des Verlangens, die in der Gestalt des Makrelengeistes veranschaulicht sind. [Auf die Frage, warum die Ergänzung nicht wie der Ursprungsroman Reise direkt zu Beginn einer Episode erläutert, um wen es sich bei der Begegnung mit einem Ungeheuer handelt,
561
The Tower of Myriad Mirrors, Kap. 16, S. 184.
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane sondern mit der Aufklärung bis zum letzten Kapitel wartet, wird das Thema des Verlangens weiter erläutert.] Für den Menschen ist das Verlangen ein Ungeheuer ohne Form und Laut, das nicht bewußt wahrgenommen wird. Es dringt über den Kummer, die Zügellosigkeit, einen einzigen Gedanken des Zweifelns und Schwankens oder über die Sinneswahrnehmungen in uns ein. Dabei hat es den Anschein, als ob das Verlangen, das Zugang zu unseren Gedanken findet, weder aufgehalten noch umgewandelt oder gar ignoriert werden kann. Einmal vorhanden, läßt es uns nicht mehr los. Das Verlangen als Dämon und Ungeheuer zu erkennen, ist schon ein Erfolg. Als der Affenkönig sich daher im Bauch des Makrelengeistes befand, wußte er nicht, daß es sich um den Makrelengeist handelte. Auch ahnte er nicht, als er aus dem Bauch des Makrelengeistes sprang, daß er selbst es sein würde, der den Geist kurz darauf tötete. Der der Illusion und Täuschung Verhaf562 tete und der Erleuchtete waren ein und dieselbe Person.
In den Erläuterungen, die der Verfasser auf die fiktiven Fragen hin gibt, wird die ganze Anlage des Buches erkennbar. Stets nämlich – und die Episode am Flammenden Berg hat das wiederum deutlich gemacht – verläßt sich der Affenkönig auf seine physischen Kräfte. In mechanischer Weise kommt er immer nur mit dem oberflächlichen, sofort greifbaren Wesen der Dinge in Berührung. Der Läuterungsprozeß, den er als Begleiter des Pilgermönchs bei den Abenteuern durchmacht, ist auf seine Unterwerfung zurückzuführen, aber nur schwer an einem echten inneren Wandel festzumachen. Nahezu die gesamte Handlung ist in die Form eines Traumes gebettet. Es dürfte sich daher bei der Ergänzung neben frühen Tang-zeitlichen Erzählungen wie »Die Welt im Kissen« (Zhenzhong ji) und »Die Geschichte des Gouverneurs aus dem Südbezirk« (Nanke taishou zhuan) um eines der längsten Werke in der chinesischen Erzählliteratur über den Traum handeln. Doch Dong Yue beschritt in seinem Werk vollkommen neue Wege. Traditionell benutzten chinesische Verfasser den Traum immer wieder, um eine Ebene zwischen der Welt der Menschen und des Übernatürlichen anzudeuten: Schicksalhaftes wird erkennbar, Lösungen für ein Verbrechen tauchen auf, verschlüsselt mitunter nur in einfacher Symbolik. Stets jedoch wird die Logik des wachen Lebens beibehalten, meist findet nur ein Ortswechsel der Träume statt, allerhöchstens stellt der Träumende nach dem Erwachen am Ende fest, daß sich die Vorgänge innerhalb kürzester Zeit abgespielt haben. Anders dagegen bei Dong Yue. Hier wird an keiner Stelle formal deutlich gemacht, daß Sun Wukong dabei ist, in einen Traum zu versinken. Vielmehr bedient sich der Autor einer eigenen, dem Traum inhärenten Logik: Zeit- und Ortssprünge deuten sich an sowie vom Unterbewußtsein gesteuerte Verknüpfungen. So stößt Sun etwa im Anschluß an seine Suche nach dem ersten Kaiser Qin Shi Huangdi, gleichzeitig Erbauer der Großen Mauer, auf die himmelhohe Mauer, die 562
Ebd., S. 192f.
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den Ost- vom Westhimmel trennt, womit nur einer der zahlreichen feinen Bezüge innerhalb des Werks genannt werden soll. Dong Yues Roman Die Ergänzung zur Reise in den Westen ist sicherlich für mehr als eine Interpretation offen. Vor allem Literaturkritiker aus der heutigen Zeit wie etwa Liu Dajie oder Han Jue haben in dem Werk einen versteckten Angriff auf die Fremdherrschaft der Mandschus gesehen. Danach bezieht sich der Makrelengeist (qingyu) auf das homophone »Qing« der Mandschuren-Dynastie, die 1644 ausgerufen wurde, also vier Jahre nach dem Datum der anzunehmenden Niederschrift des Romans. Die Ergänzung läßt sich also keineswegs als Rückblick auf bereits vorgefallene Ereignisse verstehen, sondern ist nach Lage der Dinge nur als Warnung vor dem aufstrebenden Mandschus im Nordosten des chinesischen Reiches zu verstehen.563 Ebenfalls ein Anschlußwerk zur Reise, doch ganz anders angelegt als die Ergänzung ist der anonym verfaßte Roman Die spätere Reise in den Westen (Hou Xiyouji) in vierzig Kapiteln, der zum ersten Mal in Liu Tingjis Marginalien des Zaiyuan (Zaiyuan zazhi) aus dem Jahre 1715 genannt wird.564 Die Angaben für die mögliche Entstehungszeit schwanken, doch es ist anzunehmen, daß Die spätere Reise wohl noch in der späten Ming-Zeit, spätestens jedoch zur Regierung des Kangxi-Kaisers in den ersten Jahrzehnten der Qing-Dynastie verfaßt wurde. Es ist viel darüber gerätselt worden, um wen es sich bei dem anonymen Verfasser handelt.565 Nach der Verwerfung einer Autorenschaft durch Wu Cheng'en konzentrierte sich die Forschung auf die Identität des Kommentatoren, dessen Pseudonym »Talent der Himmelsblumen« (Tianhua caizi) auf der Titelseite des Romans vermerkt ist. Wahrscheinlich handelt es sich um ein und dieselbe Person wie jener sehr schöpferische Verfasser und Herausgeber von Erzählliteratur aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, der unter den Pseudonymen »Meister Himmelsblume« (Tianhua zhuren) bzw. »Meister der Himmelsblumen-Sutra« (Tianhua zang zhuren) bekannt ist.566 In seiner Herangehensweise an das Thema hält sich Die spätere Reise bis in einzelne Details hinein stark an den Vorläuferroman. In den ersten Szenen wird der Leser zum Berg der Blumen und Früchte geführt, der einstigen Heimstatt Sun 563
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Daß solch eine Deutung nicht auszuschließen ist, belegt die Tatsache, daß die mandschurischen Machthaber unter Abahai ihrer Nation bereits im Jahre 1636 den Namen »Da Qing« (Große Klare) gaben. Für die Bearbeitung des Werks lag die Ausgabe Hou Xiyouji, Shenyang: Chunfeng wenyi 1985 zugrunde. Zu der Späteren Reise gibt es bereits eine umfangreiche Studie, die hier ebenfalls herangezogen wurde (LIU XIAOLIN: The Odyssey of the Buddhist Mind: The Allegory of the Later Journey to the West, Lanham u.a.: University Press of America 1994). LIU: The Odyssey of the Buddhist Mind, S. 275–284 ist der Frage des möglichen Verfassers ausführlich nachgegangen. Dem »Meister Himmelsblume« werden als Verfasser zwei und als Herausgeber bzw. Kommentator fünfzehn weitere Werke zugeschrieben.
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane
Wukongs. Dieser ist gemeinsam mit Tripitaka nach Beendigung der Reise ins Paradies eingegangen, nur die Affengemeinde wohnt noch am Berg. Wieder entschlüpft einem steinernen Ei ein Affe, der damit wie Sun zur Manifestation der kreativen Macht und des Fortschritts im kosmischen Zyklus wird. Die übrigen Affen zeigen sich über das Ereignis sowohl erfreut als befremdet, nur eines der älteren Tiere, das bereits zu Zeiten Suns lebte, erinnert sich an Erzählungen von einer ähnlichen Geburt des früheren Affenkönigs. Konfrontiert mit dem Phänomen der Sterblichkeit, erwächst auch in dem jungen Affenführer der Wunsch nach ewigem Leben. Eines Tages starb ganz plötzlich einer der älteren Affen. Den jungen Steinaffen, der Zeuge des Todes geworden war, überkam bei diesem Anblick großer Kummer. Er wandte sich an die übrigen Affen und fragte: »Gestern hat er noch mit uns gespeist, ist mit uns gewandert. Wie kommt es, daß er heute ohne Bewußtsein ist und sich nicht mehr bewegt?« »Er ist gestorben«, erklärten die anderen ihm, »denn er war schon alt, sein Körper nur noch schwach und gebrechlich.« »Wenn das wahr ist«, sagte der junge Steinaffe, »dann werden wir alle früher oder später sterben und unser Leben verlieren.« »Das ist ganz natürlich«, gaben die anderen zu verstehen. Von diesem Tag an fühlte sich der Steinaffe niedergeschlagen und unglücklich. Immer wieder fragte er die übrigen Affen: »Gibt es einen Weg, dem Tod zu entgehen?«, und sie antworteten ihm: »Wenn du nicht sterben magst, dann ist der einzige Weg dorthin, ein Unsterblicher zu werden, nur so ist dir ewiges Leben beschert.« »Und wie wird man zu einem Unsterblichen?« wollte der junge Steinaffe wissen. »Das ist leichter gesagt als getan«, war die Antwort. »Man muß dafür sowohl von Geburt an bestimmte Anlagen mitbringen wie vom Schicksal auserkoren werden. Außerdem ist es notwendig, einem Unsterblichen zu begegnen, der einem den Weg zum ewigen Leben erläutert. All das ist mit viel Mühe verbunden, denn wenn nicht, dann könnte schließlich jeder ein Unsterblicher werden.« Schweigend lauschte der junge Steinaffe diesen Worten, 567 und innerlich faßte er den Entschluß, ein Unsterblicher zu werden.
Der junge Steinaffe beschließt, seinen Vorgänger nachzuahmen, und wählt sich vor dem Beginn seiner Suche den Namen Sun Lüzhen, was soviel heißt wie »Sun, der die Wahrheit ausführt«. Lüzhen ahnt, daß er sich wie einst Wukong vervollkommnen muß, um ein Unsterblicher zu werden. Nach einigen ersten Abenteuern, bei denen sich Sun Lüzhen bewähren muß, folgt die Episode des Besuchs in der Unterwelt bei den zehn Fürsten, die über die zyklische Folge von Leben und Tod entscheiden. Indem er seinen und die Namen der Affen aus dem Totenregister strich, hatte Sun Wukong sich einst der Verfügung durch die Unterweltfürsten entziehen und dem Zwang zur Wiedergeburt 567
Die spätere Reise in den Westen, Kap. 1, S. 4.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG
entgehen wollen. Sun Lüzhen unternimmt nun eine ähnliche Reise, doch da ihm von seinen Beratern gesagt wird, daß es für einen echten Unsterblichen unabdingbar sei, Geburt und Tod, Gut und Böse zu verstehen, läßt er sich auf eine Diskussion mit den Unterweltfürsten ein, in der er die Richtigkeit ihrer Urteile anzweifelt. Er macht seine Kritik am Tod des Alten Drachen vom Jing-Fluß fest, einer Gestalt, die bereits zu Beginn der Reise eine Rolle spielt. »Soweit ich das beurteilen kann, war die Entscheidung damals [über den Tod des Drachen] verständlich. Etwas anderes ist mir dagegen weniger verständlich.« »Was denn?« wollten die zehn Fürsten wissen. »Mir ist bekannt«, erläuterte Lüzhen sein Anliegen, »daß Gut und Böse im Wesen unserer Seele verankert sind. Vor der Geburt des Drachen war noch nicht über Gut und Böse in ihm entschieden. Wie kam dann der Fürst des Nördlichen Kriegssterns dazu, über seinen Tod zu befinden? Wenn der Drache später ein todeswürdiges Verbrechen beging, dann war dies vom Fürsten des Nördlichen Kriegssterns so festgelegt, und er konnte gar nicht anders. Die Oberste Gottheit Shangdi liebt das Lebendige. Was für ein Recht besaß der Fürst, den Alten Drachen in den Tod zu treiben? Das ist es, was ich nicht einsichtig finde.« Eifrig bemühten sich die zehn Fürsten um eine Erwiderung und antworteten schließlich: »Vermutlich hat sich der Alte Drache bereits in einem früheren Leben etwas zuschulden kommen lassen, so daß er nun von dem Fürsten des Nördlichen Kriegssterns dieses Schicksal zugemessen bekam.« »Wenn ich mir in diesem Leben nichts habe zuschulden kommen lassen«, hob wiederum Sun Lüzhen an, »dann kann ich damit die begangenen Übel aus einem früheren Leben beseitigen. Wie soll man denn die Übel aus dem früheren Leben tilgen, wenn man dazu bestimmt ist, in diesem Leben erneut Übel zu verrichten? Das Leben reicht über viele Generationen in die Vergangenheit zurück und genausoweit in die Zukunft voraus. Sollte etwa ein edler Nachgeborener stets von den Übeln eines Vorfahren bestimmt werden? Oder wäre es andererseits recht, wenn ein schäbiger Nachfahre von dem Edelmut eines Frühergeborenen profitierte? Gut und Böse in Vergangenheit und Zukunft wären gleichermaßen unbeeinflußbar, könnte man sie nicht durch das Verhalten in der Gegenwart 568 steuern. Dann bliebe alles willkürlich!«
Die zehn Fürsten können auf diese scharfsinnige Argumentation nichts erwidern. Anders als Wukong erringt Lüzhen seinen Sieg nicht mit brachialer Gewalt, sondern mit rhetorischer Brillanz. Die kurze, einführende Reise Sun Lüzhens, bei der er seine Fähigkeiten entwickelt und seine übernatürlichen Kräfte ausbildet, wird abgeschlossen durch die Erlebnisse in den himmlischen Regionen, wo er von der Königinmutter des Westens Pfirsiche der Unsterblichkeit fordert (die aber nach dem Diebstahl durch Sun Wukong noch nicht nachgewachsen sind) und am Ende mit ein paar gekochten 568
Ebd., Kap. 3, S. 28f.
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane
Früchten sowie Wein abgespeist wird. Mit den Abenteuern, die der junge Steinaffe hinter sich gebracht hat – einer Allegorie auf die innere Alchemie der Taoisten –, gewinnt auch der kurze Vers zu Beginn des Romans, abgefaßt in der Form eines Rätsels, seine volle Bedeutung: Ich habe einen Buddha, den niemand kennt; Er wird weder mit den Händen geformt noch gemeißelt; Ist auch nicht aus Lehm und ganz ohne Farbe; Niemand, der ihn malen oder gar stehlen könnte; Von ganz natürlicher Erscheinung, sind sein Glanz und seine Reinheit nicht Folge einer Reinigung; / Obgleich nur in einer Gestalt, kann er sich doch in unzählige Formen 569 verwandeln.
Das Rätsel deutet die zwei Ebenen der Existenz an: zum einen die physische Welt, wie die bemalte Buddhastatue aus Lehm sie vermittelt, zum anderen die geistige Welt des Buddhas in uns. Während die Buddhastatue schnell erkannt wird, bleibt der Buddha im Menschen oftmals unterdrückt und vernachlässigt. Der Kontrast dieser beiden Ebenen der Wirklichkeit zieht sich als Thema über weite Strecken des Romans. Unermüdlich strebt der Steinaffe nach Erlangung der Unsterblichkeit, doch am Ende findet er die Wahrheit in sich selbst. Erst an dieser Stelle, nach Sun Lüzhens Reinigung und Erleuchtung, wird in der Späteren Reise der historische Rahmen verdeutlicht, vor dem sich die gesamte Handlung abspielt. Fast zweihundert Jahre sind seit der Reise Tripitakas in den Westen vergangen. Nach der erfolgreichen Unterwerfung des Steinaffen begibt sich Sun Wukong zu Tripitaka. Die beiden beschließen, sich in Chang'an ein Bild davon zu machen, was die buddhistischen Schriften, die sie einst aus Indien ins Reich der Mitte gebracht haben, bewirkt haben. Im Jahre 819, dem 14. Jahr der Regierung Kaiser Xianzongs (reg. 806–820), gelangen sie zum Famen-Tempel, dem Ort, von dem es heißt, daß einst Tripitaka hier während einer Meditation gestorben sei. Die vermeintlichen Fingerknochen und Zähne des Toten werden als Reliquien in einer Pagode aufbewahrt und bei einer Zeremonie alle dreißig Jahre hervorgeholt, um dem Land Reichtum und Segen zu bringen. Der Zufall will es, daß die Zeit der Pagodenöffnung wieder einmal herangerückt ist und Kaiser Xianzong befohlen hat, die Reliquien in die Hauptstadt zu bringen. Tripitaka protestiert zwar gegen dieses Vorgehen und leugnet alle Zusammenhänge mit seiner Person, wird aber abgewiesen. Mehr und mehr kristallisiert sich die Kritik an den in Kulthandlungen erstarrten Glaubensformen mit dem Kaiser an der Spitze heraus. Kaiser Xianzong galt als einer der herausragenden Herrscher der Tang-Dynastie. Sein Fehler war nur, daß er auf üble Einflüsterungen hörte, Götter und Heilige 569
Ebd., Kap. 1, S. 1.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG verehrte und dabei ein glühender Anhänger des buddhistischen Glaubens war. Allerdings folgte er dabei nicht dem Weg der reinen, erhabenen Lehre, bei der man mit Güte das Volk lenkt. Vielmehr betonte er die Vergeltung durch Lohn und Strafen, trat für gewaltsame Bereicherungen ein, legte starken Wert auf 570 Äußerlichkeiten und betrog das Volk.
In der Tat ist aus der Regierungszeit Xianzongs ein Fall der Reliquienverehrung bekannt, der in den Kreisen der Konfuzianer hohe Wellen schlug und als Anknüpfungspunkt für die Darstellungen im Roman gedient haben dürfte. Als gläubiger Anhänger des Buddhismus war Xianzong regelmäßiger Besucher in den Tempeln der Hauptstadt und wohnte den Zeremonien bei. In seiner Anbetung Buddhas ging er dabei so weit, daß er den »Finger Buddhas« zur Verehrung in seinen Palast schaffen ließ. Zum Eklat kam es, als der stellvertretende Minister des Justizministeriums, Han Yu (768–824), den Kaiser in einer Eingabe der unwürdigen Verehrung eines »verfaulten Knochens« zieh und den Buddhismus als eine für China fremde Religion schlechthin abtat. Erbost verurteilte Xianzong den Mahner zunächst zum Tode, milderte das Urteil dann jedoch zu einer Verbannungsstrafe ab. Allein der Reliquienkult des Kaisers reicht in der Späteren Reise freilich nicht als Anlaß für eine neue Pilgerfahrt, und so machen sich Sun Wukong und Tripitaka bei Tempelbesuchen ein umfassenderes Bild. Voller Entsetzen müssen sie während einer Predigt feststellen, zu was für einer materialistischen Lehre der Buddhismus umgedeutet worden ist: Glück und Elend in der Welt der Menschen hängen ganz von ihrem Verhalten ab. Was heißt es etwa, Gutes zu tun? Die Spende von Almosen ist die Wurzel des Guten. Was es bedeutet, nach der Lehre zu leben? Nun, nichts anderes als der Glaube an Buddha ist damit gemeint. Edle und gütige Männer und Frauen, die fest im Glauben sind, Almosen spenden und Buddha verehren, dürfen Amt und Macht, Glück und ein langes Leben erwarten. Wer heute arm ist und in Elend lebt, hat dies allein seinem Unglauben und der Verweigerung von Almosen 571 zuzuschreiben.
Nach der Rückkehr zum Seelenberg heißt Buddha die beiden nach seiner Unterrichtung dafür zu sorgen, daß auf einer neuen Pilgerreise weitere Schriften aus Indien herbeigeschafft werden müssen, mit deren Hilfe man zu einem rechten Verständnis des ursprünglich von Tripitaka besorgten Kanons gelangt. Wie in der tatsächlichen historischen Wirklichkeit reicht Han Yu sein Memorandum bei Hofe ein und wird in die Verbannung geschickt. Dort lernt er den Chan-Mönch Dadian kennen, womit die Gestalt des Nachfolgers Tripitakas für die neue Reise gen Westen gefunden ist. Wie bei Xuanzang, so handelt es sich auch 570 571
Ebd., Kap. 5, S. 47. Ebd., S. 50.
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im Falle Dadians keineswegs um eine fiktive Figur, sondern um eine historische Persönlichkeit aus dem Schülerkreis um den Chan-Patriarchen Huineng mit dem bürgerlichen Namen Chen Baotong (geb. 741), die 819 mit Han Yu zusammentraf.572 In Begleitung des Sun Lüzhen tritt Dadian gemeinsam mit den nach und nach rekrutierten Zhu Yijie und Sha Mi – eben den Nachfolgern Bajies und Wujings – die Pilgerreise an, während der die Reisenden quasi in allegorischer Form alle Hindernisse überwinden, die sie auf dem Weg zur Erleuchtung behindern. Schon die Zusammensetzung der Gruppe zielt auf mehr als nur vier Pilger ab. Da die Reise als Symbol für das Streben des Menschen nach geistiger Wahrheit und Vollkommenheit verstanden wird, weist der Autor den einzelnen Mitgliedern in ihrer Funktion die Rolle von Teilen eines größeren Ganzen zu und markiert damit die gegenseitigen Abhängigkeiten. Darauf hebt der Steinaffe ganz deutlich ab, wenn er nach der Konstituierung der Pilger als einer geschlossenen Gruppe sich folgendermaßen gegenüber Dadian äußert: »Wir haben alle einen verschiedenen Hintergrund«, sagte Sun Lüzhen, »es hat den Anschein, als habe das Schicksal uns zusammengeführt, doch in Wahrheit ist alles ganz natürlich.« »Wie mag das sein?« wollte Dadian wissen. »Es ist wie beim menschlichen Körper«, erläuterte der Affe, »dort ist jeder natürlicherweise auf das 573 ordentliche Zusammenspiel von Verstand, Armen und Beinen angewiesen.«
Der Verstand zielt hier ohne Zweifel auf Lüzhen, der Körper auf Dadian. Zhu Yujie und Sha Mi, die mit ähnlichen Eigenschaften wie in der Reise ausgestattet sind, kommt die Funktion von unverzichtbaren Gliedern eines kollektiven Ganzen zu. Der Roman hebt an verschiedenen Stellen auf diese Geist-Körper-Thematik ab, etwa bei den verschiedenen Bedrohungen Dadians durch Dämonen und der Wiedervereinigung mit der Gruppe nach dem Sieg Suns. Verstand und Körper können nicht ohne einander existieren, jede Disharmonie führt zu Kummer und Unglück. Streit und Zwist zwischen den vier Reisenden sind Hindernisse, die erst überwunden werden müssen, bevor das gemeinsame Ziel erreicht werden kann. Immer wieder verweist der Verfasser in diesem Zusammenhang auf »den einen Geist« (yi xin) bzw. den »einen Körper« (yi ti), der der Erlangung von Erleuchtung vorausgeht. Entsprechend den Notwendigkeiten in diesem Erleuchtungsprozeß sind die zu bestehenden Abenteuer und Prüfungen auch auf die Reisenden zugeschnitten. Die gegnerischen Kräfte lassen sich dabei grundlegend in zwei Kategorien unterteilen, nämlich mimetische und symbolische Gestalten. Während die mimetischen Gestalten zumeist menschliche Züge tragen und in der Wirklichkeit nachgebildeten 572 573
S. zu diesen Hintergründen ausführlich LIU: The Odyssey of the Buddhist Mind, S. 119–123. Die spätere Reise in den Westen, Kap. 16, S. 160.
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Umgebungen wie Tempeln, Städten und Dörfern auftreten und dabei überwiegend soziale bzw. religiöse Übel verkörpern, sind die Dämonen und Ungeheuer mehr der Natur und symbolischen Orten wie Höhlen, Bergen und Flüssen verhaftet und stehen sinnbildlich für die innere psychische Welt der menschlichen Wünsche und Emotionen. So sind im Reich des »Erlöserkönigs« (jietuowang) sechsunddreißig Tiefen und zweiundsiebzig Schluchten zu überwinden – Anspielungen auf die verschiedenen Schichten der Hölle sowie die dort praktizierten Strafen ebenso wie die Arten der Wünsche und Leidenschaften, des Kummers und der Freude, nicht zu vergessen die vier Übel Wein, Geld, Sex und Zorn. Der Erlöserkönig und seine Dämonen repräsentieren all die Kräfte des Bösen, welche ihre Opfer durch das eigene Verlangen von innen zerstören.574 Ein ganz anderes Abenteuer erwartet die Pilger im »Dorf der Saiten und Lieder« (xian'gecun) mit seiner von konfuzianischer Ethik und Traditionen geprägten Gemeinschaft. Die Bewohner behandeln die Pilger nicht nur mit Verachtung, sie lehren ihre Kinder gar, daß Buddha ein fremdländischer Dämon ist. In ihrem Bemühen, die Gemeinde zu bekehren, erfahren Dadian und die anderen, daß das Dorf einst aufgrund der unverschämten Almosenforderungen der buddhistischen Mönche zugrunde gerichtet wurde. Das Dorf der Saiten und Lieder sowie weitere Ortschaften in der Umgebung werden von einem Dämonenkönig regiert, der den Namen »Himmlischer König der Kultur« (wenming tianwang) trägt. Als Waffe benutzt er einen riesigen Pinsel und wird im Kampf attestiert von seinen Generälen Stein (hier für den Tuschestein stehend) und Schwarz (also der Tusche) – Schreibutensilien und unverzichtbare Schätze konfuzianischer Gelehrsamkeit demnach. Die Kritik an der konfuzianischen Morallehre ist unverkennbar, womit der Verfasser, der unzweifelbar dem Chan-buddhistischen Glauben nahesteht, ähnlich wie schon in der Reise seine Distanz zu den Religionen zum Ausdruck bringt.575 Ausführlich wird schließlich nach dem Bestehen aller Abenteuer der mühevolle Aufstieg zum Seelenberg und die Ankunft im Donnerkloster, dem Wohnort Buddhas, beschrieben. In den zahlreichen Irrwegen, die die Wanderer immer wieder nehmen, deuten sich die Schwierigkeiten bei der Erlangung der Erleuchtung an. Was Dadian und die anderen zunächst vorfinden, ist die leere Erscheinung Buddhas – impliziert durch das menschenleere Buddha-Kloster. Doch Lüzhen wartet mit einer Erklärung auf: Für mein Empfinden ist der Buddhismus eine Schule der Leere. Es werden viele Abbilder Buddhas geschaffen, denen die unwissenden Menschen dann huldigen. Sie nehmen das Falsche für das Wahre und glauben, daß der goldene Leib und die Erscheinung Buddhas sich in nichts von der Erscheinung des gemeinen 574 575
Die Episode findet sich in Kap. 16–18 des Romans. Die Episode der Konfuzianismus-Kritik findet sich in Kap. 22–24.
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane Mannes unterscheidet. Heute, Meister, wirst du im Zustand der Erleuchtung zum wahren Verständnis gelangen. Der Buddha ist gnädig und wird dich nicht 576 betrügen. Hier zeigt er dir durch Frieden und Ruhe die wahrhaftige Leere.
Doch diese Erkenntnis genügt Dadian noch nicht. Er ist im Auftrage des Kaisers gekommen und möchte daher Buddha sehen, um von ihm die Auslegungen der Schriften zu erlangen. Zuversichtlich verkündet Sun: »Dank meiner Anwesenheit wird es nicht schwierig sein, Buddha zu sehen.« »Bruder, hüte deine Zunge!« unterbrach ihn Zhu Yijie. »Werde nicht schamlos – nicht, daß die Leute über dich lachen. Du bist schließlich nicht Buddha, wie kannst du dann behaupten, es sei nicht schwer, Buddha zu sehen.« Lachend erwiderte Sun: »Du bist ein Dummkopf, Bruder. Die Menschen suchen das Naheliegende stets in der Ferne. Du und ich, wir sind Tag für Tag beisammen, in der Vertrautheit geht der Blick für das wahre Wesen verloren. Du ahnst gar nicht, wie gewöhnlich Buddha ist, er ist noch viel schwächer als ich.« Als Zhu Yijie dies hörte, mochte er ein Lachen nicht unterdrücken: »Schäm dich, du Sünder! Sag, wie kommst du dazu, dich mit Buddha zu vergleichen?« »So höre«, sprach Sun Lüzhen, »Buddha ist gnädig. Bin ich etwa nicht auch gnädig? Buddha ist weise. Bin ich etwa nicht auch weise? Buddha ist weit und mächtig. Bin ich etwa nicht auch weit und mächtig? Buddha ist göttlich. Bin ich etwa weniger göttlich? Gleich Buddha, so bin auch ich bar der fünf geistigen und körperlichen Qualitäten der Menschen [Sanskrit skandhas]. Buddha benötigte zu seiner Vervollkommnung zehntausend Zeitalter, doch ich bringe das innerhalb eines kurzen Moments fertig. Auf eine knappe Formel gebracht: Ich kann ohne Buddha leben, aber Buddha nicht ohne mich. Denk über das nach, was ich dir gesagt habe, und 577 dann sage mir, in welcher Hinsicht ich Buddha unterlegen sein soll.«
Was hier durch den Mund Sun Lüzhens kundgetan wird, ist die zentrale Aussage des Romans, daß nämlich dem Chan-Buddhismus zufolge Buddha in jedem inhärent ist (also jeder Buddhanatur besitzt) und daß jeder durch Selbstvervollkommnung zu Buddha werden kann. Geführt von dem lachenden Mönch, treffen die Pilger am Ende im Senfgarten des Sumeru-Tempels auf Buddha. Dadian erhält Kommentare zu den Schriften, die Tripitaka einst nach China brachte, so daß man nach fünfjähriger Reise im Jahre 824 wieder in Chang'an eintrifft, wo mittlerweile Kaiser Muzong herrscht. Nach einer Weile am Kaiserhof führt Sun Lüzhen die Pilger zum Seelenberg, wo sie die Buddhaschaft erlangen. Bei dem letzten der drei bekannteren Folgewerke der Reise, die hier vorgestellt werden sollen, handelt es sich um den einhundert Kapitel umfassenden Roman 576 577
Ebd., Kap. 39, S. 468. Ebd., S. 469.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG
Fortsetzung zur Reise in den Westen (Xu Xiyouji).578 Frühe chinesische Quellen lassen auf eine Abfassung des Werks im 17. Jahrhundert schließen, wie der Hinweis in Liu Tingjis Marginalien des Zaiyuan (Zaiyuan zazhi) belegt, wo die Fortsetzung in einem Atemzug mit der Späteren Reise genannt wird. Erste erhaltene Ausgaben liegen allerdings erst für die Mitte des 19. Jahrhunderts vor. Von den drei Hypothesen betreffend die Autorenschaft der Fortsetzung dürfte am ehesten die zu Ji Gui zutreffen, von dem man annimmt, daß er das Folgewerk zur Reise in den Westen zwischen 1642 und 1716 niederschrieb. Ji war ein Freund des Mao Qiling (1623–1716) und wird in dessen »Überblick über Miszellen des Ji Gui« (Ji Gui xiaopin zhiwen yin) als Verfasser genannt. Weniger wahrscheinlich ist dagegen, daß der Roman bereits in der frühen Ming-Dynastie verfaßt wurde oder gar aus der Feder Wu Cheng'ens selbst stammt, was schon die stilistischen Unterschiede zwischen der Reise und der Fortsetzung belegen.579 Wie wir sehen werden, beschreitet die Fortsetzung nicht nur in der Darstellung des Inhalts andere Wege als die bereits vorgestellten beiden Werke. Weder wird an eine bestimmte Episode angeknüpft noch läßt der Autor eine neue Generation von Pilgern die Reise noch einmal antreten. Vielmehr nutzt die Fortsetzung zur Reise in den Westen den Umstand, daß der Rückreise der Pilger nach China in dem Ausgangswerk nur ein sehr geringer Raum zugestanden wurde – nämlich nur ein Kapitel. Auch dies dürfte wohl nur der Tatsache zu verdanken sein, daß der historische Tripitaka auf der Heimreise einen Teil der Schriften verlor und für das literarische Alter ego daraus die letzte der einundachtzig Prüfungen geworden ist, als nämlich die Weiße Schildkröte den Pilger samt seinen Sutren in den Fluß wirft. Die Fortsetzung beginnt mit einer Szene in Buddhas Westlichem Paradies, wo man die Ankunft der Pilger aus China erwartet. Da Tathagata zu Recht davon ausgeht, daß Tripitaka und seine Mitstreiter auf ihrer Rückreise eines besonderen Schutzes bedürfen, gibt er ihnen aus seinem Gefolge den Mönch Biqiu und den Gläubigen Lingxuzi als Berater und Gehilfen mit auf den Weg. Zwischen den Kapiteln drei bis neunundneunzig beschreibt der Roman sodann in dreiunddreißig Episoden die Reise ostwärts zurück nach China. Immer wieder treffen die Pilger dabei auf Gestalten und Ungeheuer, die ihnen bereits auf dem Hinweg begegnet sind. Der Unterschied zu den Abenteuern, die sie auf der Reise gen Westen erlebten, ist, daß sich die Angriffe auf die mitgeführten Schriften und nicht auf 578
579
Hier nach der Ausgabe Xu Xiyouji, Shanghai: Shanghai guji 1993. Eine erste knappe Bearbeitung des Werks in westlichen Sprachen liegt vor mit FREDERICK P. BRANDAUER: »The Significance of a Dog's Tail: Comments on the Xu Xiyou ji«, in: Journal of the American Oriental Society 113.3 (1993), S. 418–422. BRANDAUER: »The Significance of a Dog's Tail«, S. 420 führt alle drei Thesen ohne Angaben einer Präferenz an. Die Herausgeber der o.g. Xu Xiyouji-Ausgabe hingegen favorisieren eindeutig Ji Gui als Verfasser (vgl. Einleitung S. 1f.).
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane
Tripitaka richten, wodurch Sun Wukong, Zhu Bajie und Sha Wujing eine neue Rolle zuwächst: Nun sind es die Sutren, die des Schutzes bedürfen, nicht der Mönch. Im letzten Romankapitel schließen die Pilger endlich ihre Reise mit der Ankunft in Chang'an erfolgreich ab und händigen die mitgeführten Schriften an Kaiser Taizong aus. Der Roman endet wie bereits die Reise in den Westen mit der Rückkehr an den Seelenberg, wo Buddha die einzelnen Teilnehmer der Reise belohnt. Es fällt bei genauerer Lektüre auf, daß der Verfasser trotz der Beschränkungen, die ihm durch den Charakter eines Folgewerkes auferlegt sind, dennoch ein individuelles Werk mit einer eigenen Sichtweise geschaffen hat. Vor allem bei der Charakterisierung des Affenkönigs werden neue Akzente gesetzt. Eine Schlüsselszene ist die Befragung der Pilger nach ihrem Eintreffen im Westlichen Paradies durch Buddha. Tripitaka läßt mit seinen Antworten etwas von der Aufrichtigkeit und Reinheit erkennen, die er bis zum Eintreffen im Lande Buddhas erworben hat, und auch an Zhu Bajie sowie Sha Wujing findet der Buddha Gefallen. Lediglich in bezug auf Sun Wukong bleiben Zweifel, antwortet dieser auf die Frage, weshalb er um die heiligen Schriften bitte, doch folgendermaßen: »Ich, dein ergebener Jünger, wurde einst am Berg der Blumen und Früchte aus einem Stein geboren, genährt von der Wahrheit und der Schönheit des Himmels und der Erde, unter dem Einfluß von Sonne und Mond. Mit der Erlangung der Schriften möchte ich für die Güte, mit der man mir begegnet ist, danken. Wenn du nach meinen Absichten fragst, so darf ich dir sagen, daß ich meinem Meister den ganzen Weg bis hier gefolgt bin und dabei unzählige Dämonen unterworfen und Ungeheuer vernichtet habe. Dies gelang mir vor allem wegen meiner wendigen und schlauen Natur [xin]. Aufgrund dieser Natur bin ich gekommen, um 580 um die Schriften zu bitten.«
Buddha lobt die Absicht Suns, sich für die empfangene Güte dankbar zu zeigen. Doch in dem Eingeständnis des Affen, voller Wendigkeit und Schläue zu sein, ahnt Tathagata Gefahr, ist doch eine weitere Betrügerei damit nicht ausgeschlossen. Empört über die falsche Einschätzung, mit der man ihm begegnet, verteidigt sich Sun Wukong. Er gesteht, womöglich schlau und trickreich zu sein, doch immer nur vorübergehend, im übrigen finde sich in seinem Herzen nicht die Spur von Diebischkeit, Ausschweifung, Gemeinheit, Tücke, Betrug, Habgier, Haß, Brutalität, Zweifel, Wildheit, Stolz, Faulheit etc., wobei er achtundvierzig charakterliche Mängel aufführt. Doch Buddhas Zweifel sind damit nicht ausgeräumt, im Gegenteil. Er gibt Sun Wukong zu verstehen, daß allein die namentliche Nennung jedes der Übel die Existenz eines Keims davon im Herzen bedeute. Sun Wukong wird also von Beginn an als erleuchtungsbedürftig angesehen. Der Roman läßt sich in diesem 580
Fortsetzung zur Reise in den Westen, Kap. 3, S. 16.
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Zusammenhang als Bericht über den allmählichen Wandel Suns verstehen, wie er langsam jenes Wesen erlangt, das aus der Sicht des Verfassers einen guten Buddhisten auszeichnet. Die Zähmung, die freilich die gesamte Pilgergruppe betrifft, wird zunächst dadurch dokumentiert, daß man den drei Begleitern Tripitakas ihre Waffen abnimmt und siegegen schlichte Wanderstöcke eintauscht. Als Waffe im Kampf gegen Dämonen und Ungeheuer dienen ihnen nur noch die mitgeführten Schriften. Sun Wukong mag sich mit dieser Entwaffnung freilich nicht abfinden, und die Uneinsichtigkeit, mit der er sein mangelndes Verständnis für die wahre buddhistische Glaubensdoktrin immer wieder äußert, macht seine Gestalt zum ersten Mal in den verschiedenen Büchern zum Stoff der Reise in den Westen zum Gegenstand der Satire. Zwar wurde schon in den übrigen Werken – angefangen bei der Reise in den Westen aus der Feder Wu Cheng'ens – die Notwendigkeit Suns für die Erleuchtung erkennbar, doch niemals geriet er dabei ins Schlaglicht der Satire selbst. Der Affenkönig wird hier kritisiert für sein Verhalten, die Gegner immer nur mit brachialer Gewalt aus dem Weg zu räumen, anstatt sie mit Hilfe der mitgeführten Schriften zu bekehren. Dreimal kehrt Sun Wukong zurück zum Seelenberg, um seinen goldumwickelten Stab zurückzuerlangen, doch jedesmal scheitert er. Im Mittelpunkt der hier zum Ausdruck gebrachten Botschaft steht die Gewaltlosigkeit der buddhistischen Lehre. Mit seiner Forderung nach Vergebung und Bekehrung der Ungeheuer schlägt der Roman einen für die chinesische Erzählkunst dieser Zeit ganz ungewöhnlichen Ton an, wo im Rahmen der Vergeltung von Taten stets mit gleicher Münze zurückgezahlt wird. Die Spirale der Gewalt soll zurückgedreht werden, empfohlen wird Mäßigung. Entsprechend der neuen Thematik im Werk kommt auch dem Mönch eine neue Rolle zu. Er wirkt viel weiser und überlegener als noch in der Reise. Ein knapper Wortwechsel zwischen ihm und Zhu Bajie, der angesichts einer neuen Gefahr von Ungeheuern über den Verlust seiner Waffe – einer Harke – lamentiert, mag diesen neuen Tenor belegen. »Und du glaubst, in der Tat nichts ohne deine Waffe ausrichten zu können?« wollte Tripitaka wissen. »Ja«, erwiderte Zhu Bajie, »und all das nur, weil man uns vor der Aushändigung der Schriften unsere Waffen abgenommen hat. Ich fühle mich richtig wehrlos ohne meine Harke, wenn ich den Ungeheuern gegenüberstehe.« »Sprich nicht von der Harke«, ermahnte ihn Tripitaka, »es liegt ganz im Ermessen des Himmels, ob du sie womöglich eines Tages zurückerhältst. Sei gewiß, daß die Ungeheuer und Dämonen auch dir nach dem Leben trachten werden, wenn du sie damit angreifst. Aber einmal ganz abgesehen von einer fürchterlichen Waffe wie deiner Harke, die du nie gegen ein Lebewesen richten solltest – selbst mit deinem Mönchsstab schlägt man nicht einfach drauflos. Als ihr vor ein paar Tagen den Fuchsgeist gebunden und festgenommen habt, habt ihr ihm noch mit dem Stab eine üble Tracht Prügel versetzt. Voller Haß ist er davongezogen. Ich fürchte nur, ihr habt damit viel Unheil heraufbeschworen, und die Ungeheuer werden ebenfalls bemüht sein, euch zu fangen und zu schlagen.«
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Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane »Das ist alles nur auf Betreiben des Affen geschehen«, versuchte Zhu Bajie abzuwiegeln, doch Tripitaka hieß ihn, nicht einfach seine Verantwortung zu leugnen und sich besser auf den Weg zu machen, um den Aufenthaltsort Sun Wukongs 581 herauszufinden.
Steter Tropfen höhlt den Sein, das ist auch bei Sun Wukong nicht anders. Nachdem der Affenkönig für sich und seine beiden Mitkämpfer noch einmal Äxte gefertigt hat, mit denen man die Gegner bekämpfen will, wird er ein letztes Mal von Tripitaka zurechtgewiesen, der ihm die Mitnahme der Geräte untersagt, verträgt sich doch das blutige Werkzeug nicht mit der Heiligkeit der Schriften.582 Endlich scheint auch der Affe zur Einsicht zu gelangen. Er verwendet keine Waffen mehr, sondern vernichtet die Ungeheuer, indem er aus den Schriften zitiert. Mit dem neuen Ton bedient sich der Autor im Roman auch einer anderen Glaubensrichtung. Hier ist nicht mehr vom Chan-Buddhismus mit seiner Betonung plötzlicher Erleuchtung die Rede. Vielmehr ist es ein stetiger, langwieriger Prozeß, in dem Sun Wukong am Ende Erleuchtung erlangt.
581 582
Ebd., Kap. 43, S. 248. Der entsprechende Wortwechsel findet sich am Ende von Kap. 84, ebd., S. 474.
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3. Der Seeweg nach Westen und die Mythologisierung der Ferne Eine literarische Bearbeitung der zu Beginn des 15. Jahrhunderts von Zheng He geleiteten maritimen Expeditionen nach Südostasien, Indien bis hin nach Arabien und Ostafrika mag wenig mythisch anmuten. Tatsächlich stellt sich jedoch bei der Lektüre derVolkstümlichen Erzählung über die Seereise des Eunuchen Zheng He in den Westen583 bald heraus, daß die Bezüge zur Reise in den Westen aus der Feder Wu Cheng'ens überaus stark sind und daß trotz des angedeuteten konkrethistorischen Hintergrundes keinesfalls ein historischer Roman vorliegt, der ohne weiteres der yanyi-Literatur zuzuordnen wäre. Doch wollen wir diesen Fragen nicht vorgreifen und vielmehr zunächst einen kurzen Blick auf die geschichtlichen Ereignisse werfen, die dem späteren Erzählwerk zugrundeliegen. Wer war dieser Mann, der der bekannteste unter den wenigen großen chinesischen Seefahrern werden sollte und in bezug auf die Erweiterung des kulturellen Horizontes in seinem Heimatland mitunter in einem Atemzug mit abendländischen Seefahrern wie Kolumbus, Vasco da Gama oder Magellan genannt wird?584 Nach allem, was man heute weiß, war Zhengs ursprünglicher Familienname Ma. Er stammte aus der südchinesischen Provinz Yunnan und gehörte der islamischen Glaubensgemeinschaft an. Vermutlich waren Zhengs Vorfahren Angehörige des zentralasiatischen Hui-Volkes. Noch der Großvater und Vater des späteren Seefahrers trugen den Titel eines Haji im Namen und dürften demnach Mekka-Pilger gewesen sein. Es ist bedauerlich, daß die biographischen Daten für einen Mann von der Bedeutung Zhengs nur sehr spärlich und zum Teil ungenau sind. Wahrscheinlich wurde er um 1370 geboren und im Alter von ca. elf Jahren für den Eunuchendienst ausgewählt. Während der Zeit innenpolitischer Machtkämpfe unterstützte Zheng He die Sache des späteren Yongle-Kaisers und stieg nach dessen Inthronisierung im Jahre 1403 schnell zum Obereunuchen und Leiter des Eunuchenamtes auf. In Anerkennung seiner Verdienste verlieh der Kaiser ihm kurz darauf den Namen Zheng. Wohl aufgrund seiner Vertrautheit mit dem Islam erhielt er im Jahre 1405 den Auftrag zu einer maritimen Expedition, die den frisch gekürten Admiral mit einer riesigen Flotte von zweiundsechzig großen und zweihundertfünfundfünfzig kleineren Schiffen sowie einer Besatzung von über siebenundzwanzigtausend Mann über die Route Java, Sumatra und Ceylon bis nach 583
584
Hier bearbeitet nach der Ausgabe San Bao taijian Xiyangji tongsu yanyi, Shanghai: Shanghai guji 1985 (2 Bde.). Neben der im folgenden zitierten Literatur s. zu umfassenderen Darstellungen von Zheng Hes Expeditionen vor allem GABRIELE FOCCARDI: The Chinese Travellers of the Ming Period, Wiesbaden: Harrassowitz 1986, S. 25–92.
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Der Seeweg nach Westen und die Mythologisierung der Ferne
Südindien führte. Daß dabei nicht nur diplomatische bzw. hegemoniale Aspekte eine Rolle spielten, sondern ordnungspolitische Fragen ebenso berücksichtigt wurden, belegt der Umstand, daß Zheng He auf der Rückreise von Sumatra dem Piratenhauptmann Chen Zuyi den Garaus machte und diesen nach Zerstörung seiner Flotte zur Hinrichtung nach Nanking beförderte. Der ersten, zwei Jahre andauernden Expedition folgten bis in die dreißiger Jahre hinein sechs weitere unter Zhengs Leitung, wobei mit der vierten Reise (1413–1415) der Höhepunkt chinesischer Macht im Ausland erreicht worden sein dürfte. Es hat den Anschein, als seien die maritimen Unternehmungen Chinas, die in einem bis dahin unbekanntem Umfang vorgenommen wurden (abgesehen vielleicht von den Anstrengungen zur Invasion Japans in der Yuan-Dynastie) zur damaligen Zeit in starkem Maße an die Person Zheng Hes gebunden gewesen. Nach seinem Tod fanden zumindest keine Seefahrten mehr von vergleichbarer Bedeutung statt. Die aufwendig ausgerüsteten Expeditionen, denen selbst die europäischen Seemächte des 15. und 16. Jahrhunderts nichts in vergleichbarer Größenordnung entgegenzusetzen hatten, brachten für China wertvolle neue Erkenntnisse über die Seewege nach Indien, Arabien und Afrika. Trotz Größe und Umfang der chinesischen Armada ging es anders als bei den Europäern nicht vordergründig um territoriale Expeditionen in Süd- und Südostasien. Der Gedanke, fremde Hafenstädte als Stützpunkte bzw. Kolonien auszubauen, lag den Chinesen fern. Viel eher mögen schon die Aussichten auf Gewinne durch einen Ausbau der Handelsbeziehungen eine Rolle gespielt haben. Auch religiöse Erwägungen lagen den Chinesen fern. Ganz auszuschließen ist ein aggressiver Charakter der Unternehmungen dennoch nicht, es wäre naiv anzunehmen, die betreffenden Länder hätten die Anwesenheit der chinesischen Flotte vor ihrer Küste nicht als Bedrohung aufgefaßt.585 Der Anspruch, als überlegene Kulturnation die eigene Macht zu demonstrieren, klingt auch im Roman an mehreren Stellen an, wie wir sehen werden. Vermutlich kommt man der Wahrheit bei der Suche nach den möglichen Gründen für die Seereisen unter Zheng He am nächsten, wenn man ganz praktische Vermutungen anstellt. Da sind zum einen die Großmachtbestrebungen des neuen Kaisers Yongle, der China zu einer beherrschenden Macht in Ostasien machen wollte. Die Überlegungen reichen hier von Annahmen, Yongle habe lediglich den indochinesischen Raum beherrschen wollen, bis hin zu Erwägungen, Kaiser Yongle habe durch Kontakte mit dem arabischen Raum versucht, im Rücken seines Gegners Tamerlan in Innerasien Verbündete zu finden.586 Wenigstens sind die hier angeführten Gründe wahrscheinlicher als eine Legende, der dem Kaiser Yongle ganz persönliche Gründe unterstellte. Danach galten die aufwendigen Expeditionen keinem anderem 585
586
RODERICH PTAK: Cheng Hos Abenteuer im Drama und Roman der Ming-Zeit. Hsia HsiYang: Eine Übersetzung und Untersuchung; Hsi-Yang Chi: Ein Deutungsversuch, Stuttgart: Franz Steiner 1986 (= Münchener Ostasiatische Studien Bd. 41), S. 19. S. ebd., S. 15.
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Ziel als der Suche nach dem gewaltsam von der Macht verdrängten Vorgänger Zhu Yunwen, der nach seiner Absetzung an einen geheimen Aufenthaltsort geflohen war. Zumindest klingt in dieser Version etwas von dem Thema der Suche an, wie es sich als roter Faden auch durch den Roman zieht. Das kaiserliche Siegel, nach dem man vergeblich sucht, ist durchaus als Symbol für einen verdrängten Herrscher aufzufassen. Zu Lebzeiten und auch in den Jahrzehnten nach seinem Tod dürfte Zheng He eine berühmte Persönlichkeit gewesen sein. Bis weit in die Ming-Zeit hinein wurde die Kunde von seinen Seefahrten in Form volkstümlicher Literatur verbreitet. Einen Anfang dazu bildete das bereits um 1522 entstandene Drama eines anonymen Verfassers mit dem Titel »Sanbao [d.h. Zheng He] sticht auf kaiserlichen Befehl hin mit dem Ziel des Westlichen Ozeans in See« (Feng Tianming Sanbao xia Xiyang). Während Zheng He jedoch mit der Zeit in China mehr und mehr in Vergessenheit geriet, entwickelten gerade die Überseechinesen in Südostasien einen regelrechten Kult um den Seefahrer.587 Die zeitliche Einordnung der Erzählung über die Seereise des Eunuchen Zheng He in den Westen588 allein gibt noch keinen weiteren Aufschluß über die Besonderheiten dieses Werks. Man nimmt an, daß es sich bei dem Verfasser des auf das Jahr 1597 datierbaren Vorworts namens Luo Maodeng auch um den Autoren des Buches handelt, doch ist über Luo weiter keine biographische Information zu erhalten. Die Absicht, die Luo in seinem Vorwort zum Ausdruck bringt, ordnet sich gut in die Wahrnehmungsperspektive der Intellektuellen zur Wanli-Zeit um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert ein. So schildert Luo sein Bedauern über den drohenden Niedergang des Reiches, wie er sich nach dem Verlust von Ansehen und Macht Chinas in den Auseinandersetzungen mit Korea sowie der Einsicht in die überlegene Militärtechnologie der Portugiesen in Südchina darstellt. Mit dem Roman soll den Zeitgenossen quasi ein Spiegel vorgehalten werden, um ihnen angesichts vergangener Größe neuen Ansporn zu geben. Kritik wird nicht offen, allenfalls versteckt geäußert. So ist der Verlust des Siegels nur im übertragenen Sinne zu verstehen und wird zum Symbol für die bedrohte konfuzianische Ordnung. Die Seereise selbst wirkt wenig eigenständig und läßt in mehrfacher Hinsicht die Anlehnung an literarische Vorgänger erkennen, wobei Die Reise in den Westen eine herausragende Rolle spielt.589 So liegt beiden Werken das Thema der abenteuerlichen Suche zugrunde. Im Falle des Romans um Zheng He ist das Ziel 587 588 589
S. ebd., S. 14, Anm. 10. Der Roman liegt in einer Einteilung von zwanzig Büchern und Kapiteln vor. Die Beziehungen zwischen den beiden Romanen hat insbesondere PTAK deutlich herausgearbeitet. Vgl. seinen Aufsatz »Hsi-Yang Chi – An Interpretation and Some Comparisons with Hsi-Yu Chi«, in: CLEAR 7(1985), S. 117–141. S. daneben auch WALTER GOODE: On the Sanbao taijian xia xiyang-ji and some of its sources, Ph.D. an der Australian University in Canberra, 1976.
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ein kaiserliches Siegel. Zwar werden auf der Reise eine Reihe von Ländern unterworfen, doch bleibt die Suche anders als in der Reise erfolglos, kann das Siegel in keinem der bereisten Orte aufgefunden werden. Dies ist jedoch insofern erklärlich, als die Suche ursprünglich von der negativen Figur des Verführers Zhang Tianshi angeregt wird und in ihrer Logik nicht zum Erfolg führen darf, würden doch ansonsten »böse Kräfte« obsiegen. Auch in der Anlage der Protagonisten ist die Seereise ganz deutlich vom Werk Wu Cheng'ens beeinflußt worden. So wird die Handlung in beiden Romanen vornehmlich von vier Protagonisten bestimmt. Im Falle der Seereise sind dies eben die beiden weltlichen Gestalten und nominellen Kommandeure der Flotte, Zheng He und Wang Jinghong, sowie der buddhistische Mönch Jin Bifeng und der Taoist Zhang Tianshi, womit die wichtigsten Repräsentanten der drei vorherrschenden Glaubensrichtungen genannt sind. Sowohl in der Reise wie in der Seereise sind die Anführer (Zheng He und Tripitaka) eher schwach und für die erfolgreiche Durchführung der Unternehmung auf fremde Hilfe angewiesen. Selbst in ihrem Aufbau weisen die Werke Übereinstimmungen auf. In einem einleitenden, jeweils sieben Kapitel umfassenden Teil folgt der kurzen Welterklärung der Hinweis auf den Harmoniegedanken als Grund für die Unternehmung der anzutretenden Reise. Im Falle der Reise in den Westen verkündet Tathagata, daß der südliche Kontinent Jambudvipa, auf dem auch China liegt, in Unordnung geraten sei und Tripitaka mit der Beschaffung der buddhistischen Schriften Abhilfe schaffen möge. In der Seereise dagegen wird die Unordnung erst für die Zukunft prophezeiht, wenn nämlich der fehlgeleitete Kaiser in fünfzig Jahren Anweisung zur Verfolgung der Buddhisten geben wird. Der nächste größere Abschnitt (Kapitel 8–12 im Falle der Reise bzw. Kapitel 8–14 im Falle der Seereise) variiert in den Romanen. Im Falle der Darstellung um Zheng He steht hier die Auseinandersetzung zwischen Jin Bifeng und seinem Gegner Zhang Tianshi im Mittelpunkt. Der Rest bildet in beiden Werken eine hybride Mischung aus sowohl hochmimetischer als auch mythischer bzw. abenteuerhafter Darstellung. Vorgegeben durch die historischen Tatsachen sowohl des Tang-Mönchs als auch des Ming-Seefahrers ist die geographische Ausrichtung der Romane, beide stimmen in der grundsätzlichen Westbewegung überein. Trotz der geographischen Vielfalt, die durch die zahlreichen See-Expeditionen gegeben ist, wie sie in zeitgenössischen Darstellungen von Teilnehmern der Reise niedergeschrieben wurden, schweift auch die Seereise immer wieder ins Phantastische ab, z.B. wenn nach Antritt der Reise zunächst der Weichwasserozean und der Magnetfelsengipfel überwunden werden müssen, beides analog zu den Flüssen und Bergen in der Reise entworfene Grenzen, die quasi die zivilisierte Welt (Chinas) von der »Wildnis« dahinter trennen.590 Die einzelnen Abenteuer ähneln denen in der Reise, vor allem, 590
Im Falle der Durchquerung des Weichwasserozeans bietet der Ostmeerdrache in einem Meditationsgespräch seine Hilfe an. Lang und breit führt der Drache die Geschichte aus
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wenn hinter den mit durchschnittlichen Kräften begabten Feinden immer wieder höhere Mächte auftreten. Neben den mythischen Ländern wie dem »Reich der Frauen« (Nüerguo, Kap. 46–50) oder dem »Land der Wirrhaarigen« (Sanfaguo, Kap. 51–61) finden sich mit Java, Aden, Mogadischu etc. eine ganze Reihe tatsächlicher geographischer Orte,591 deren Beschreibung oftmals wörtlich aus den vorliegenden Quellen übernommen wurde. In den mitunter sehr realistischen Schilderungen lassen sich Spuren von Ma Huans »Überragenden Betrachtungen zum endlosen Ozean« (Yingya shenglan) bzw. Fei Xins »Überragenden Betrachtungen vom Sternenfloß« (Xingcha shenglan) erkennen, bei denen es sich um Eindrücke der Teilnehmer an Zhengs Seereisen handelt. Heute verloren, jedoch zur Zeit der Abfassung des Romans u.U. noch greifbar waren die »Aufzeichnungen über die fremden Länder im Westmeer« (Xiyang fan'guo zhi) von Gong Zhen, einem Teilnehmer der Expedition 1431–1433. Vermutlich standen Luo Maodeng darüber hinaus noch weitere Quellen zur Verfügung, denn einige der Namen und Orte finden sich wohl in der offiziellen Geschichte der Ming, nicht aber in den eben genannten Quellen.592 Wenden wir uns nun dem Inhalt des Werkes zu. Auftakt der Seereise ist die kosmogonische Beschreibung der Mechanismen des Himmels. Sodann wird zu der Geschichte der Ming übergeleitet. Der Yongle-Kaiser ist auf den Thron gelangt. Im ganzen Reich herrschen Frieden und Ordnung, Gesandte aus aller Herren Länder erscheinen bei Hofe, um dem Kaiser zu huldigen. Nach einer dieser Audienzen bleibt der einflußreiche Taoist Zhang Tianshi im Thronsaal zurück und lenkt mit mehreren »Zehntausend–Leben!«-Rufen die Aufmerksamkeit der Majestät auf sich. Er macht dem Kaiser klar, daß es sich bei den von allen Seiten dargebrachten Schätzen um gar nicht so wertvolle Dinge handelt, vielmehr fehlt dem Kaiser als Vertreter des Himmels auf Erden noch eine entscheidende Sache,
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dem »Xiyouji« an, in der der Kaiser Taizong aus der Tang-Dynastie nach der Nichteinlösung des Versprechens zur Rettung eines Drachen, der eine Wette um das Zählen von Regentropfen beeinflußt hat, sich in die Unterwelt begab. Laut Angaben des Ostmeerdrachen besitzen die Drachen nach der erfolgreichen Beschaffung der Sutren durch Tripitaka und seine Truppe (die der Kaiser zur »Rettung« der Seelen nach dem Unterweltbesuch anordnete) aufgrund der Verfügungen Buddhas die Macht, das gefährliche weiche Wasser zu beseitigen und für hartes Wasser zu sorgen. Doch Jin verzichtet darauf, die Drachen in der Sache zu behelligen, und befestigt die Almosenschale am Bug, wodurch ebenfalls die Passage ermöglicht wird. Insgesamt gelangt Zheng Hes Flotte im Roman an über fünfzig Orte in neun Hauptländern teils wirklicher, teils phantastischer Natur. Die Beschreibung der Reise (Kap. 15–100) macht den Hauptteil der Seereise aus und läßt sich noch in weitere Abschnitte unterteilen, wobei die Vorbereitung der Expedition und der Aufbruch (Kap. 15–22) sowie die Darstellung der Rückreise (Kap. 94–100) analog aufgebaut sind. Vgl. zu diesem Problemkomplex J.J.L. DUYVENDAK: »Desultory Notes on the Hsi-Yang Chi«, in: T'oung Pao, Bd. XLII, 1954, S. 1–35.
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nämlich das kaiserliche Siegel, dessen Besitz nach der Tradition die Legitimität der Macht des Herrschers versinnbildlicht. Mit der Flucht des letzten Herrschers sei dieses Siegel, so Zhang Tianshi, im Westen verschwunden. Ausführlicher wird die Legende vom Siegel erzählt, welches sich seit Urzeiten im Besitz der Kaiser befindet. Zu Zeiten des Königs Wu von Chu gab es einmal einen Mann, der mit Namen Bian He hieß und die Jing-Berge bereiste. Wie er so des Weges kam, sah er auf einmal vor sich einen Phönix auf einem Felsen hocken und dachte bei sich: »In dem Felsen befindet sich bestimmt ein Jadekern, hier habe ich einen Schatz gefunden. Ich werde den Stein mit heimnehmen und dem König Wu schenken.« Als der Mann schließlich mit dem vermeintlichen Schatz vor König Wu trat, fragte dieser seinen Jadeschleifer, was er da bringe, und der Mann antwortete: »Einen Felsen«. Da der König annahm, Bian He wolle ihn verspotten, hieß er den Scharfrichter sogleich, ihm das rechte Bein abzuhacken. Nach einer Weile nun bestieg König Wen den Thron, und Bian He wollte ihm nun den Stein zum Geschenk machen. Wieder ließ der König seinen Jadeschleifer einen Blick auf den Stein werfen, und wieder sagte der Jadeschleifer, daß er nur einen Stein sehe. Da glaubte auch König Wen, Bian He wolle ihn nur verspotten, und er hieß seinen Scharfrichter, ihm das linke Bein abzuhacken. Voller Schmerz klammerte sich der grausam Verstümmelte an seinen Stein und weinte bitterlich. Als seine Tränen versiegt waren, quoll ihm Blut aus den Augen. Die Geschichte von Bian He rührte jeden, der davon hörte, ans Herz. Erst jetzt erweckte das Schicksal Bian Hes auch das Mitleid des Königs, und er beschloß, den Felsen zerschlagen zu lassen, woraufhin man tatsächlich einen herrlichen Jadestein ganz ohne Makel fand. Als später der Kaiser Qin Shihuang die sechs Königreiche überrannte und das Reiche einte, da gelangte auch der Jadestein in seinen Besitz, und in seinem sechsundzwanzigsten Regierungsjahr hieß er einen berühmten Handwerker, den Stein in drei Teile zu zerlegen. Aus dem mittleren Stück ließ er ein rechteckiges kaiserliches Siegel mit einer Seitenlänge von gut fünfzehn Zentimetern fertigen. Auf der Oberseite zierten fünf ineinander verschlungene Drachen das Siegel; die acht Zeichen auf der Siegelseite lauteten: »Vom Himmel eingesetzt, langes Leben und ewige Blüte«. Die übrigen beiden Teile erhielten keine Gravur und behielten eine glänzende Oberfläche, der Kaiser ließ daraus einen liegenden und einen stehenden Stempel fertigen. Als der Kaiser im achtundzwanzigsten Jahr seiner Herrschaft dann bei einer Reise Richtung Osten den Dongting-See überquerte, kamen plötzlich hohe Wellen auf, das Boot drohte zu kentern. Aus Furcht zu ertrinken, befahl der Kaiser, nacheinander die beiden aus den Seitenteilen gefertigten Stempel in die Fluten zu werfen, und tatsächlich beruhigte sich das Wasser daraufhin, doch erst, als Qin Shihuang auch das kaiserliche Siegel den Fluten opferte, glätteten sich die Wogen, und die Reise konnte gefahrlos fortgesetzt werden. Als Kaiser Qin Shihuang schließlich im sechsunddreißigsten Jahr auf dem Thron während eines Feldzugs nach Huayin gelangte, trat ein Mann mit einem Gegenstand in der Hand an die Gruppe heran. Jemand aus dem Gefolge des Qin Shihuang fragte, was er wolle, und der Mann antwortete:
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG »Ich habe hier etwas, das ich dem Ahnen der Drachen (Kaiser) zurückerstatten möchte. Der Gefolgsmann nahm das Bündel an und überreichte es dem Kaiser. Als dieser es öffnete, fand er darin das kaiserliche Siegel. »Wo sind die beiden anderen Stempel?« erkundigte sich Qin Shihuang sogleich, doch als sich der Gefolgsmann noch einmal zu dem Überbringer des Siegels begab, war dieser bereits spurlos verschwunden. Auf diese Weise gelangte das Siegel also wieder in die Hände von Qin Shihuang. Als dieser starb, sorgte Zi Ying, der letzte Kaiser der Qin, dafür, daß das Siegel an den Gründer der Han-Dynastie weitergegeben wurde. Von da an gab der eine Kaiser es stets an den nächsten weiter. [...] »Wo befindet sich das Siegel heute?« wollte Kaiser Yongle wissen. »Das Siegel befand sich in den Händen des letzten Yuan-Herrschers Shundi«, erklärte Zhang Tianshi, »als der erlauchte Gründerkaiser unserer Dynastie die beiden Fürsten Xu und Chang mit der Verfolgung des flüchtenden Shundi beauftragte. Unter hohen Verlusten wurde Shundi immer weiter zurückgetrieben, wobei ihm Xu und Chang stets hart auf den Fersen blieben. Sie setzten ihm schließlich nach bis zum Berg Hongluo in den äußersten westlichen Gebieten. Hinter dem Berg befand sich das große Westliche Meer. Shundi war in einer verzweifelten Lage, ihm verblieben nur noch sieben Reiter und sieben Mann Fußvolk. Nun würden sie das Übel mit Stumpf und Stiel ausrotten, dessen waren sich Xu und Chang sicher, und auch Shundi sah sein Ende nahen. Doch wer hätte gedacht, daß der Himmel anders verfügen würde: Auf dem Meer tat sich mit einem Mal eine bronzene Brücke auf, die sich rötlich schimmernd über das Wasser spannte. Shundi zögerte nicht lang, sondern trieb seinen weißen Elefanten, das Siegel bei sich tragend, über die Brücke hin zu den Ländern der Westbarbaren. Als die beiden Fürsten Xu und Chang schließlich am Gestade des Westmeeres anlangten, war von der Brücke keine Spur mehr zu sehen. Sie kehrten also zurück bis zum Hongluo-Berg, dem entlegensten Winkel des Reiches, in Gebiete, wo man bereits nicht mehr unsere Sprache spricht. Dann zogen Xu und Chang mit ihren Truppen zurück ins Reichsgebiet. Das seit vielen Generationen von Kaiser auf Kaiser überkommene Siegel ist damit in den Ländern der Westbarbaren verloren, selbst unter den Schätzen, die gestern von den Barbaren als Tribut dargebracht 593 wurden, befindet es sich nicht, ist das nicht ein Jammer?
Da Kaiser Yongle auf den Erwerb des Siegels fixiert ist, ordnet er an, Truppen auszuheben, um die fraglichen Länder zu erobern und in den Besitz des Kaisersiegels zu gelangen. Kurzfristig nimmt er noch einmal von seinen Plänen Abstand, als man ihm die Gefahren des Unternehmens schildert. Zhang Tianshi wittert eine Chance, etwas für die eigenen Glaubensbrüder auszurichten: Er sagt dem Kaiser seine Hilfe für eine Expedition in die Westmeerregion zu, sofern nur der Herrscher die buddhistischen Aktivitäten im Reiche unterdrückt. Damit will er sich an Präzeptor Yao rächen, der Buddhist ist und ihm vor dem Kaiser mehrere Male übers Maul fuhr. Geblendet von der Vorstellung, in den Besitz des Siegels zu gelangen, willigt der Kaiser in alles ein und verfügt die sofortige Schließung der 593
Die Seereise des Eunuchen Zhneghe in den Westen, Kap. 9, S. 110ff.
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Buddhistenklöster. Die Mönche sind in den Laienstand zu überführen. Damit ruft er jedoch den Buddhisten Jin Bifeng auf den Plan, der sich sogleich in die Hauptstadt begibt und trotz der bereits gültigen Verbote eine Audienz beim Kaiser erhält. In einem Wettbewerb mit Zhang Tianshi, der der schon in dem Tangzeitlichen Wechseltext beschriebenen Auseinandersetzung zwischen Sariputra und Raudraksa ähnelt, fügt Bifeng dem taoistischen Gegner mehrere Niederlagen zu. Als Strafe befiehlt die Majestät die Teilnahme Zhangs an der Expedition in den Westen, für die am Ende auch Bifeng gewonnen werden kann. Nach Verkündung des Beschlusses zur Reise und der Festlegung ihrer Führer kann Bifeng am Ende letzte Zweifel Yongles beseitigen, indem er auf die frühere Existenz Admiral Zheng Hes und seines Vize Wang Jinghong hinweist. Danach handelt es sich bei Zheng um die Inkarnation eines Froschgeistes aus der Milchstraße, der mit dem nassen Element sehr wohl vertraut ist. Auch Wang bringt als Wiedergeburt des weißen Tigersterns die rechte Eignung mit. Die Verbindung zu den positiven Kräften des Himmels geht soweit, daß die gesamte Materialbeschaffung und der Bau der Schiffe bis hin zum Guß der Anker unter dem Schutz der höheren Mächte stehen. Zu der ersten Auseinandersetzung mit den Bewohnern fremder Länder kommt es in der Gegend von Champas, dem heutigen Vietnam. Kundschafter werden ausgeschickt, um Informationen über das Land einzuziehen. Dies ist ein Vorgang, der sich auch bei den Besuchen in den folgenden Ländern wiederholt. Die Kundschafter machen bei ihrer Rückkehr Angaben über die vorgefundene Bevölkerung, Sitten und Bräuche etc. Man erzählt von einem Schild oberhalb des Stadttores, auf dem das Gebiet als »Land des Goldlotus und Schatzelefanten« (Jinlian baoxiangguo) ausgegeben wird. Dem Landeskönig Sri Maharaja wird von den Fremden berichtet. Der König zeigt sich beeindruckt von den Fähigkeiten der Chinesen und ihrer Anführer. Sein Kanzler rät zur Kapitulation, doch der stolze Kronprinz San spricht sich dagegen aus und verweist auf die großen militärischen Kapazitäten der eigenen Truppen. Der König entschließt sich daraufhin zum Kampf. Nach einer Reihe von Kämpfen, die zugunsten der Chinesen ausgehen, tritt die junge Amazone Jiang Jinding in den Kampf ein und setzt die chinesischen Generäle mit Hilfe von Zauberwimpeln außer Gefecht. Damit ist die Lage für Zheng He derart kritisch, daß Zhang Tanshi in die Auseinandersetzungen eingreift. Es gelingt ihm zwar, die festgesetzten Heerführer zu befreien, doch einen endgültigen Sieg über Jiang Jinding erringt er nicht. Während der König bereits gemeinsam mit seinen Heerführern und Beratern die Kapitulation erwägt, lechzt die junge Kämpferin nach Rache für den Tod ihrer Verwandten. In einer leidenschaftlichen Rede überzeugt sie den König von der Notwendigkeit des Widerstands, patriotische Sentiments kochen hoch. »Majestät, hört nicht auf dieses Geschwätz und laßt Euch nicht dazu überreden, Euer Land so einfach zu verraten«, sagte Jiang Jinding. »Was meinst du mit Verrat?« wollte der König daraufhin wissen. »Das Land«, hob Jiang Jinding an,
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG »habt Ihr von den Ahnen und Vorfahren bekommen, und es ist Eure Aufgabe, es unversehrt an die Nachwelt weiterzugeben. Wir sind die führende Nation unter den Ländern des Westmeeres, doch wenn wir heute eine Kapitulationsurkunde unterzeichnen, dann müssen wir uns China unterwerfen, und Ihr, Majestät, werdet vom König zum Fürsten degradiert. Dann werdet Ihr Befehle empfangen, und wenn man Euch heißt, nach Osten zu ziehen, dann werdet Ihr es nicht wagen, nach Westen zu gehen; schreibt man Euch vor, Euch nach Norden zu begeben, so werdet Ihr nicht nach Süden ziehen. Zitiert man Euch in Zukunft nach China, so habt Ihr keine andere Wahl, als Euch dorthin zu begeben. Ihr werdet jeder Form von Schmähungen und Beleidigungen ausgesetzt sein, und man wird willkürlich über Leben und Tod von Euch entscheiden. Beugt Ihr Euch dem Rat der Minister und kapituliert, dann verkauft Ihr Eure Herrscherwürde an China und macht Euch zum gemeinen Manne. Wie anders als Verrat an Eurem Lande 594 soll man das bezeichnen?«
Die hier geäußerte Haltung ist typisch für Situationen vor dem Ausbruch militärischer Konflikte mit den Ländern, in die die Reisenden gelangen. Der von Jinding mobilisierte Magier »Widderhorn« erringt im weiteren einen Sieg über Bifeng, unterliegt jedoch am Ende, als Bifeng bei einem Himmelsbesuch die Hintergründe zu seiner Existenz herausfindet und die Mittel in die Hand bekommt, ihn zu bezwingen. Wie im Falle der Reise werden die hochrangigen Gegner der Reisenden nicht vernichtet, sondern vor ihre himmlischen Vorgesetzten geführt, um sich läutern zu lassen. Nicht bei allen Auseinandersetzungen mit feindlich gesinnten Ländern ist es mit Duellen der Anführer getan. Der Roman beschönigt hier nichts und trägt dem kriegerischen Charakter der Reisen Zheng Hes Rechnung, wenn er etwa eingehend die Ereignisse in Java schildert. Wie erwartet werden die chinesischen Ankömmlinge dort nicht sonderlich freundlich empfangen und bekommen es mit den gefährlichen Kampfschwimmern unter der Führung des Yaohaigan zu tun, die in der Lage sind, mehrere Tage unter Wasser zu verbringen. Nachdem die Männer unter dem Kommando der chinesischen Admiralität mehrere Siege davongetragen haben, versucht Yaohaigan, das Kriegsglück noch einmal zu wenden. Doch durch die Voraussicht Zhang Tianshis sind die Chinesen vorbereitet. Sie setzen gegen die angreifenden Taucher Wasserbomben ein und richten ein Blutbad an. Tausende javanischer Soldaten gehen in Gefangenschaft. Auf seiten des Expeditionskorps beabsichtigt man nun, ein Exempel zu statuieren, ist doch vor allem der militärische Leiter Wang Jinghong empört über den kriegerischen Empfang und die zahlreichen eigenen Verluste. Nach seinem Dafürhalten ist es an der Zeit, sich Respekt zu verschaffen, sonst droht das Ansehen Chinas in der Region dahinzuschwinden. Zheng He stimmt dieser Einschätzung zu und fragt, wie denn jetzt mit den Gefangenen zu verfahren sei, woraufhin Wang vorschlägt: »Laßt sie 594
Ebd., Kap. 26, S. 335f.
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enthaupten, zieht ihnen die Haut ab, schneidet ihnen das Fleisch von den Knochen und kocht sie dann, damit wir sie verspeisen können.« Zheng He nickt, man macht sich ans Werk, so daß auf diese Weise dreitausend Javaner ihr Leben verlieren. Als das Fleisch gargekocht ist, geht man ans Essen. Zheng He verspeist zunächst ein Paar Augen, geht dann zum Fleisch über. Es sei diese Begebenheit, so der Autor, die China in Java in den Ruf habe kommen lassen, man speise im Reich der Mitte Menschenfleisch. Indirekt wird hier auch Kritik an Jin Bifeng spürbar, der dem Gemetzel nicht Einhalt gebietet.595 Es ist erstaunlich, wie unverändert die chinesische Seite ihre Haltung ein ums andere mal wiederholt. Wie bei der Reise ist der Weg an sich das Ziel, hat man zu keiner Zeit den Eindruck, daß das Gesehene und Erlebte Veränderungen in der auf die eigene Kultur fixierten Haltung hervorruft. Nach der Ankunft der Flotte in Bengalen wird Zheng He im Anschluß an einiges Geplänkel am Ende freundlich empfangen. Bevor es jedoch so weit ist, erkundet Lei Yingchun mit dreißig Mann die Gegend an der Küste. Am Stadttor verweigert man dem chinesischen Stoßtrupp zunächst den Zugang, und es entspannt sich ein interessanter Dialog zwischen Lei und dem Torwächter. »Halt, woher kommt Ihr?« stellte sich der Torwächter Lei Yingchun in den Weg. »Wir sind Gesandte des Yongle-Kaisers der Ming, Herrscher über China!« entgegnete Lei. »Was bringt euch hierher?« wollte nun der Torwächter wissen, und Lei Yingchun erwiderte, daß er wünsche, zum König vorgelassen zu werden. »Ist euer Reich der Ming ein Teil unserer Westmeergegend?« fragte der Torwächter nun. »Mitnichten«, entgegnete Lei Yingchun nun entrüstet. »Unser Reich der Ming ist das größte Reich unter dem Himmel, es liegt keineswegs in der Gegend des Westmeers.« »Seltsam«, entgegnete der Torwächter, »wo sollte es denn außerhalb unserer Westmeergegend noch ein Reich der Ming geben! Davon ist mir nichts bekannt.« »Ist dir bekannt«, hob Lei Yingchun nun an, »daß es am Himmel die Sonne gibt?« »Gewiß, am Himmel gibt es die Sonne«, nickte der Torwächter. »Nun, wenn du weißt, daß es am Himmel die Sonne gibt, dann solltest du wissen, daß auf der Welt das Reich der Ming existiert, über das unser Herrscher regiert.« »In unserer Westmeergegend gibt es Hunderte von Ländern«, sagte der Wächter, »nicht nur euer Reich der Ming.« »Gemach«, hob Lei Yingchun erneut an. »Sage mir zunächst, wieviele Sonnen du am Himmel kennst?« »Was redet Ihr da von mehreren Sonnen, eine Sonne gibt es, mehr nicht!« 595
Die Episode findet sich in Kap. 36, hier S. 465f.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG »Gut, wenn du schon weißt, daß es am Himmel nur eine Sonne gibt, dann müßte dir auch bekannt sein, daß es auf der Welt nur ein Land gibt, das so einzigartig ist wie unser Reich der Ming.« »Fremder, redet nicht so geschwollen und groß daher«, erwiderte der Wächter. »Hast du etwa gehört, daß man sagt, am Himmel gebe es genausowenig zwei Sonnen, wie es im Volke zwei Herrscher geben könne?« »Ich verstehe schon«, erwiderte der Wächter. »Doch wenn es am Himmel keine zwei Sonnen geben kann, wo bleibt dann der Herrscher unseres Reiches Bengalen?« »Dummkopf, du scheinst auch nichts zu begreifen«, sagte Lei Yingchun. »Ich erkläre es dir noch einmal: Es ist wie in der Familie, wo es den Vater und die Söhne gibt. Unser Reich der Ming nimmt die Stellung des Vaters ein, während es sich bei euren Ländern in der Westmeergegend um die Söhne handelt.« »Heißt das, Ihr seid der Meinung, euer Reich der Ming könne uns Bengalen behandeln wie der Vater den Sohn?« »Genau das heißt es!« bestätigte Lei Yingchun. Nun war es so, daß die Menschen in Bengalen zwar nicht gerne studierten, alles in allem aber freundlich und zuvorkommend waren. Der Torwächter eilte also zurück in die Stadt und berichtete dem Kommandanten. Nicht wissend, daß es sich um einen Vergleich handelte, und in der Annahme, Lei Yingchun habe wörtlich alles so gemeint, was er da sagte, rief der Torwächter aufgeregt: »Der Vater unseres Königs hat einen Vater, der sich Kaiser Zhu aus dem Reich der Ming nennt. Er hat eine Gesandtschaft hierher geschickt, die verlangt, zum König vorgelassen zu werden.« »Was für eine wunderbare Fügung«, rief nun auch der Kommandant aus. »Stets hat es geheißen, der verehrte Vater unseres Königs sei bereits lange tot. 596 Wer hätte gedacht, daß er im Reich der Ming lebt.«
Die Geschichte wird nun von einer Station zur nächsten noch eine Weile weitergesponnen, auch dem König kommt die Sache seltsam vor, als man ihm davon berichtet. Erst dem Kanzler der Bengalen gelingt es schließlich, den Sachverhalt zu klären. Noch eine ganze Reihe weiterer Abenteuer hat die Flotte hinter sich zu bringen, bevor sie im Lande Aden eintrifft und sich ein Wechsel in mehrerer Hinsicht ankündigt. Nicht nur erfolgen zur Einnahme des Ortes keine Kämpfe bzw. Auseinandersetzungen mit Zauberern und Magiern (Aden wird im Handstreich genommen), vielmehr ist das Land als Grenze zur Unterwelt gedacht. Nach der Beschaffung neuer Geldmittel für die Weiterreise kommt die Flotte nach Mekka, das im Roman den Paradiesnamen Sukhavati hat. Zheng He besucht die heiligen Stätten des Islam und erfüllt damit als Muslim eine Mission, die ihm sein Glaube vorschreibt. Der örtliche Herrscher von Mekka erklärt, sein Reich sei das am weitesten im Westen gelegene Land überhaupt, dennoch befiehlt Zheng He die Weiterreise, da auch von dem Siegel immer noch jede Spur fehlt. Es folgt eine 596
Ebd., Kap. 72, S. 923f.
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monatelange Fahrt durch Nebelbänke, bis man schließlich Land sichtet, das wiederum von Wang Ming erkundet wird. Er trifft auf seltsame Wesen mit Ochsenköpfen und Pferdegesichtern – die typischen Merkmale für Gestalten aus der Unterwelt. Bei der sich anschließenden Reise durch »Fengdu, das Land der Dämonen« (Fengdu guiguo),597 ist es jedoch ein gewisser Cui Jue, ein Gehilfe des Unterweltfürsten Yama, der Wang Ming zu den einzelnen Orten geleitet. Der insgesamt sieben Kapitel umfassende Höllenbesuch gehört neben der Beschreibung im Rahmen des Mulian–(Maudgalyayana)-Stoffes und volkstümlichen Darstellungen über den Unterweltaufenthalt der Guanyin in Werken wie der Vollständigen Erzählung über Guanyin aus dem Südmeer (Nanhai Guanyin quanzhuan) zu den umfassendsten Beschreibungen dieser Art in der chinesischen Literatur. Cui Jue erklärt nun auf Wangs Hinweis, zufällig in die Gegend geraten zu sein, daß zahlreiche Klagen von den Menschen vorliegen, die unterwegs von den Chinesen auf ihrer Reise getötet wurden und nun Vergeltung verlangen. Auch diese Begebenheit ist deutlich dem Höllenbesuch des Kaisers Taizong in der Reise nachempfunden, wo die Majestät den Geistern der von ihr getöteten Brüder und jener Menschen begegnet, die auf Feldzügen umkamen. Der Besuch in der Seereise endet mit einer verschlüsselten Botschaft Yamas an Jin Bifeng, in der dieser aufgefordert wird, die klagenden Toten zu erlösen, um sich und Zheng He von der Schuld reinzuwaschen, so zahlreiches Morden zugelassen zu haben. Bifeng führt daraufhin eine neunundvierzig Tage dauernde Läuterungszeremonie durch und verkündet in deren Anschluß den Aufbruch zur Rückfahrt. Die ganze Episode ist auch in komparatistischer Hinsicht nicht uninteressant und zeigt eine Reihe Gemeinsamkeiten zu Darstellungen in der abendländischen Literatur von Besuchen in der Unterwelt etwa bei Vergils Aeneas und Dantes Göttlicher Komödie.598 Nach einer recht problemlosen Rückreise, auf der die meisten Hindernisse des Hinwegs nun ohne viele Schwierigkeiten überwunden werden, gelangt man nach sieben Jahren zurück an den Kaiserhof.599 Die erwähnenswerteste Episode aus diesem Abschnitt, der Empfang durch die fünf Rattengeister (Kap. 95), läßt auf einen weiteren literarischen Vorläufer schließen, dessen sich Luo Maodeng bei der Abfassung bediente.600 Das Motiv der Rattengeister ist aus einer Geschichte des Zyklus um Richter Bao entlehnt. Erst dieser ist in der Lage, dem Unwesen der 597
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Der taoistischen Mythologie zufolge liegt Fengdu anders als hier angegeben nicht am Rande der erfaßbaren Welt, sondern am Rande des eigentlichen chinesischen Zivilisationsgebietes, nämlich der Provinz Sichuan. (Vgl. J.J.L. DUYVENDAK: »A Chinese Divina Commedia«, in: T'oung Pao 41 [1952], S. 265, Anm. 2.) Zu diesem Problemkomplex vgl. YU-LING RU: »The Role of the Guide in Catabatic Journeys: Virgil's Aeneid, Dante's Divine Comedy and Lo Mou-tengs's The Voyage to the Western Sea of the Chief Eunuch San-pao, in: Tamkang Review, Bd. XX, Nr. 1, 1989, S. 67–75. Nach den im Text gemachten Angaben sollten es die zehn Jahre 1406–1416 sein. S. Die Seereise des Eunuchen Zhenghe in den Westen, S. 1223–1229 sowie die im Anhang S. 1322 gemachten Angaben.
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Geister, das sie nach ihrer Ankunft in der Östlichen Hauptstadt treiben, ein Ende zu bereiten. Dem gerade in Nanking weilenden Kaiser Yongle werden von Zheng He die Kapitulationsurkunden verlesen und Tribute aus neununddreißig Ländern überreicht. Man erwähnt nur kurz, daß das Siegel nicht gefunden werden konnte, und auch der Kaiser berührt die Angelegenheit nur beiläufig. Mit der Zusage verschiedener Belohnungen und Ernennungen endet das Werk. Wie fern man den Menschen selbst im eigenen Reich bleiben kann also auch ohne den Entwurf großer räumlicher Distanzen, belegt der kurze mythisch-historische Roman Tu Shens (1744–1801) mit dem Titel Die Geschichte der Motte (Yinshi).601 In Anlehnung an das gleichnamige Werk des Ming-zeitlichen Verfassers Mu Xiwen, in dem über zahlreiche Vögel, Insekten und Schalentiere Auskunft gegeben wird, entwirft Tu Shen das Bild seltsamer mythischer Bewohner, die die Grenzgebiete des chinesischen Reiches bevölkern. Dies ist umso bemerkenswerter, als Tu Shen, der aus der Provinz Jiangsu stammte und bereits im Alter von zwanzig Jahren den akademischen Doktortitel innehatte, während seiner Amtsjahre verschiedene Posten bekleidete, die ihn weit an die Grenzen des Reiches führten. So nahm er u.a. zunächst den Posten eines Magistrats von Shizong in der südchinesischen Provinz Yunnan ein und brachte es später bis zum Vizeverwaltungschef von Kanton. Die Geschichte der Motte erschien kurz vor Tus Tod in einer bebilderten und mit einem Vorwort versehenen Ausgabe im Jahre 1800. Der Roman handelt von einem Gelehrten namens Sang Zhusheng aus Fujian, dessen Schiff auf einer Reise in den Süden Schiffbruch erleidet, woraufhin Sang von Fischern aus Guangdong gerettet wird. Er wird mit General Gan Ding bekannt, der im Süden von Guangdong sowie in der Gegend des heutigen Sichuan in Westchina Kämpfe ausficht. Gans Gestalt ist dem chinesischen Feldherrn Fu Nai nachempfunden, der das Miao-Volk im Jahre 1795 unterwarf.602 Sang Zhusheng steht Gan Ding mit seinem Rat beiseite und ermöglicht den Sieg gegen den Piraten Lao Lu. Als der König der Weißen Miao (einer Minderheit, beheimatet in Guizhou, Hu'nan, Yunnan, Guangxi, Sichuan und Guangdong) einen Aufstand anzettelt, zieht Sang mit Gan nach Sichuan, um die Stämme der Weißen und der Schwarzen Miao niederzuringen. Zurück in Fujian befriedet Gan Ding mit Unterstützung der in Zauberkünsten bewanderten Heldin Mulan, die hier als eine Art Himmelsfee (tiannü) auftritt, die Küstenregionen. Mulan ist es auch, die Gan Ding rettet, nachdem er im Anschluß an den Sieg über die Weißen Miao von einem bösen 601
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Hier bearbeitet nach der Zwanzig-Kapitel-Ausgabe, die im Zhongguo-Xiju-Verlag, Peking 1993 erschien. Der Roman war ursprünglich in der klassischen chinesischen Schriftsprache wenyan verfaßt, liegt hier aber in der an die moderne chinesische Umgangssprache angelehnten baihua-Fassung vor. Vgl. dazu auch die Anmerkungen bei ZHAO JINGSHEN: Gesammelte Aufsätze zur chinesischen Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuo congkao), Ji'nan: Qilu shushe 1980, S. 452f.
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Odem (yao qi) seiner Kräfte beraubt worden ist.603 Tu Shens Roman war jedoch nicht zuletzt wegen einiger schlüpfriger Szenen beliebt. Auch hier sind die Szenen mythisch-phantastisch verbrämt. Hintergrund ist der Kampf Mulans gegen eine Horde wilder Frauen, die von einer mannstollen Amazone angeführt wird. Bauern im Kreis Lichuan finden eines Tages Schlüsselbeinknochen einer Frau und fliehen. Als sie am nächsten Tag wiederkommen, sind die Knochen fort, doch eine wunderbare überirdische Schöne erscheint in der Luft und spricht zu den Menschen. Sie nennt sich »Schlüsselbeinbuddha« (suogu pusa), gibt sich als eine Frau aus der Tang-Zeit aus und erklärt, es nach dem Tode mittels sexuellen Kontaktes zu einundachtzig Männern zur Buddhaschaft gebracht zu haben. Noch einmal sei ihr die Wiedergeburt bestimmt, nur wenn sie vier blühende Talente und fünf Doktoren töte sowie mit sechzehn Jünglingen verkehre (um somit die Anforderungen an Zahlenorakel zu erfüllen), bleibe ihr eine weitere Erdenexistenz erspart. Weiter heißt es von der Frau, Vögel und Fische seien bei ihrem Anblick geflohen, sie habe mit einer Reihe weiterer Frauen und Mädchen einen liederlichen Haushalt begonnen. Alle Männer und schönen Jünglinge der Gegend suchten ihre Gesellschaft, auf diese Weise habe sie sich mit der Zeit ein umfangreiches höriges Gefolge geschaffen. Mulan nimmt den Kampf auf, unterliegt aber und schmiedet einen Plan: Soldaten in Gestalt schöner Jünglinge sollen die Frau auf dem Bett besiegen.604 Aus ganz offensichtlichen Han-chauvinistischen Ressentiments gegen die nationalen Minderheiten im Reich setzt Tu Shen die verschiedenen Stämme in direkte Beziehung zu den Ungeziefern, Schädlingen und Raubtieren wie den Mücken, Kröten und Krokodilen, von denen zu Beginn des Werks die Rede ist, machen sie doch den Menschen in der Gegend um Macao zu schaffen. Erst nach mehrjährigem Kampf gelingt es, die Plage zu vernichten – ein Vorausgriff auf die Plagen der Minderheitenstämme, die die Sicherheit des Reiches bedrohen. Mythisch verbrämt schildert Wang Yueban, der Anführer des Stammes der Weißen Miao, nach seiner Niederlage die Herkunft der verschiedenen Miao-Stämme. »Ich habe mit dir nie über unsere Herkunft gesprochen«, sagte Wang Yueban, »wie solltest du also etwas über die fünf Miao-Stämme wissen. Unsere Linie reicht bis in die Zeit der Frühlings- und Herbstperiode zurück, zur Zeit der Sieben Reiche sind wir geadelt worden, Tugend haben wir auf uns versammelt und große Wohltaten vollbracht, wir sind die Schöpfer einer eigenen Literatur im Weststromland [xichuan]. Wir sind nicht Nachfolger irgendeines Stammes, der sich Weiße Miao nennt. Die Gelben Miao waren es, die einst einen toten Hirsch unter der Wurzel des Dschungelgrases begruben. Nach einigen Jahren wurde 603
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Vgl. zu den Verbindungen zwischen den Schilderungen im Roman und den Minderheitenaufständen, die China im 18. Jahrhundert zusetzten, die Angaben in der Geschichte der chinesischen Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuoshi), hrsg. von der Chinesischabteilung der Universität Peking, Peking: Renmin wenxue 1978, S. 307. Die Szenen finden sich in der Geschichte der Motte, Kap. 7.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG der Hirsch wieder zum Leben erweckt und vereinigte sich mit dem Wassergeist. Aus dieser Verbindung erst gingen die Menschen und ersten Mitglieder dieses Stammes hervor, wobei die Frauen früh sterben und nur die Männer ein hohes Alter erreichen. Man sagt, daß die Familien der Gelben Miao alle den Hirsch zum Ahnentier erhoben haben, das sie anbeten. Was nun den Stamm der Grünen Miao betrifft, so sind seine Angehörigen alle Abkömmlinge aus der Vereinigung der Gräser und Hölzer mit dem Erdhund. Seit Generationen treten ihre bösen Geister in Gestalt des Zyperhuhns oder der Grille auf, entsprechend haben sich die Namen der Menschen des Stammes geändert. Die Angehörigen des Stammes der Roten Miao nun sind menschgewordene Abkömmlinge aus der Verbindung der roten Kröte mit dem Rochengeist. Als damals der erste Sproß das Licht der Welt erblickte, fesselte der Rochengeist die Kröte mit seiner Zauberkraft an den Boden eines Brunnens. Erst nach vielen Generationen hatte man sich bis zum Vater des Bösen Grünen Odems vermehrt. Dieser Vater fiel durch die Hand eines Wilden, doch rächte sich Grünodem, als er zehn war, und die Roten Miao schlossen sich ihm an. Ahne der Schwarzen Miao nun war eine Schlange im Dongting-See zur Zeit des mythischen Kaisers Yao. Nach ihrem Tode verwandelten sich ihre Knochen in einen Hügel, ihr Seele gelangte an den Rand eines Moores, nicht weit von dem Bau eines geilen Fuchses, der die Seele der Schlange zur Vereinigung zwang. Seither ist es bei den Angehörigen dieses Stammes so, daß die, die unter dreißig Jahren alt sind, menschliche Gestalt besitzen, die über dreißig aber Schlangengestalt haben. Wer in der Hexerei und Magie bewandert ist, der nimmt oft die Gestalt einer Schlange an und lebt in einem verlassenen Kloster, wo die Menschen der Umgegend ihnen Schweinshaxen opfern, um Unglück durch Feuer, Unwetter oder Raub von daheim fernzuhalten. Haben die Angehörigen der Schwarzen Miao einmal über fünf Generationen hinweg menschliche Gestalt besessen, so werden sie nicht wieder zu Schlangen. Nach und nach lassen sie sich in den Dörfern und Weilern nieder und bringen den Grund und Boden dort in ihren Besitz. In Chu nennt man sie die ›schwarzen Ungeheuer‹, in ihren Tempeln beten sie den Schlangenahnen an. Auf eben diese Wesen hat auch Du Fu angespielt, als er in einem seiner Gedichte schrieb: ›In allen Familien leben schwarze Ungeheuer‹. Ein Zweig dieses Stammes lebt unter der Bezeichnung ›Eiermenschen‹ in der Provinz Fujian, was auf ihre deutliche Herkunft aus den Schlangeneiern hinweist. In Yunnan wiederum gibt es den Zweig der ›Schwarzofenmenschen‹, von denen es einer gar während der Zeit der Jin-Dynastie zu Ministerwürden gebracht hat, was zu einer enormen Stärkung des Clans führte. Ihr Anführer soll es in der Zauberkunst heute gar fertigbringen, die Fliegenmade in einem Schlangenknochen in ein riesiges Ungeheuer zu ver605 wandeln. Sagen Sie selbst, Marschall Gan, ist das nicht furchterregend?«
Nach einer Reihe von Siegen über die aufständischen Minderheiten zieht sich General Gan Ding von den Amtsgeschäften zurück, das Ende bleibt offen. Es ist, als hätten die pazifistischen Worte Chi Yous ihre Wirkung gezeigt, die er dem 605
Geschichte der Motte, Bd. 1, Kap. 10, S. 276f.
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Militär in einer Traumszene mitteilt und die Zweifel in Gan über seine Tätigkeit aufkommen lassen: Auf dem Weg von der Audienz beim Kaiser nach Sichuan, wo er gegen Zauberer kämpfen soll, stürzt Gan Ding in ein Loch und beginnt unverletzt eine Traumreise, auf der er in eine geisterhafte Gegend gelangt. Empfangen wird Gan von einer Gestalt in uralten Kleidern, man führt ihn in einen Palast, wo sich der Fürst seiner annimmt. Dieser Fürst offenbart Gan Ding, daß sie beide zu Zeiten des mythischen Gelben Kaisers hohe Generäle gewesen seien und versucht hätten, einander mit Zauber zu bekämpfen. Gan als früherer Feng Hou habe damals den Zauber des Chi You gebrochen und ihn getötet. Noch als Toter hätte der Fürst versucht, die Welt mit Krieg zu überziehen, und sei dafür hart bestraft worden. Nur mit Hilfe einiger taoistischer Heiliger sei es ihm gelungen, zu bereuen, sich zu vervollkommnen und seine Tugend zu pflegen. Und so soll auch General Gan überzeugt werden. »Mit Waffen bringt man nur Haß und Bösartigkeit hervor«, sagte Chi You, »daher ist es heute mein Wunsch, die Waffen zu vernichten und gegen die Mordlust unter den Menschen anzugehen.« »Wie willst du das anstellen?« wollte Gan Ding mit einer Verbeugung wissen. »Im Garten befindet sich ein kleiner Teich«, erläuterte Chi You. »Unterhalb des Teiches ist ein Orgel installiert, die von vier himmlischen Maiden bedient wird. Wirft man die Waffen und Klingen in die Orgel, so verwandeln sie sich in Luftblasen. Auf diese Art und Weise haben wir bereits die Ausrüstung von zwölf Arsenalen in Zentralchina vernichtet.« »Das bedeutet, daß man also ganz auf die Anwendung jeglicher Waffengewalt verzichtet?« fragte Gan Ding. »Selbstverständlich wird der Kaiser seine Truppen auch weiterhin mit Waffen ausrüsten«, antwortete Chi You. »Ich vernichte nur solche Waffen, die rücksichtslos zum Morden eingesetzt werden und die Schrecken des Krieges verbreiten.« »Wie lange wird es dauern, bis alle diese üblen Kriegswerkzeuge vollkommen vernichtet sind?« fragte Gan Ding, und mit einem Stirnrunzeln antwortete Chi You: »Sechs Jahre lang währen Elend und Aufruhr nun bereits. Noch dreimal so lange wird es dauern, bis Elend und Aufruhr wieder beseitigt sind, so daß also vor Ablauf von insgesamt vierundzwanzig Jahren mit keiner Änderung zu rechnen ist.« »Was für ein Ausbund an Tugend!« lobte Gan Ding. »Mit deinem Vorgehen gegen Gewalt und Mord wirst du den Himmel für dich einnehmen und zu einer heiligen Gottheit aufsteigen, die die Welt von Grund auf verändert hat.« »Am Tage, an dem die neunköpfige Schlange in den Fluten ertrinkt«, prophezeite Chi You dunkel mit einer abwehrenden Handbewegung, »wird die Zeit gekommen sein, da die üblen Waffen in Gänze vernichtet werden. Wie könnte ich, der ich der Vergänglichkeit unterworfen bin, je positiv Einfluß auf den Lauf 606 der Welt nehmen.«
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Ebd., Bd. 1, Kap. 3, S. 76f.
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4. Die Welt der Herrscher in mythischer Zeit – Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi) An mehreren Stellen wurde in der Seereise deutlich, wie sehr man sich in diesem Werk auf eine Anzahl von Vorgängerwerken bezog. Wir wollen nun einen Blick auf die Investitur der Götter tun,607 die ähnlich wie die Reise einen Kosmos mythischer Gestalten und Ereignisse geschaffen hat und dabei auch die historischen Bezüge nicht aus den Augen verlor, wie schon die Bezeichnung als yanyi-Stoff zu erkennen gab. Der hundert Kapitel umfassende Roman Investitur steht mit seinen zahlreichen mythisch-phantastischen Begebenheiten der Reise in den Westen in nichts nach und ist bis in unsere Zeit hinein wohl nicht zuletzt aufgrund der ausführlichen Kampfszenen immer noch einer der beliebtesten Stoffe des chinesischen Schattenspiels bzw. des modernen Tanztheaters.608 Die zeitliche Bestimmung des Werkes hat lange Zeit erhebliche Probleme bereitet, was u.a. in der Tatsache zu suchen war, daß Investitur anders als etwa Reise mit dem Hintergrund der Tang-Dynastie bis weit in die chinesische Geschichte an die Grenzen historischer Faßbarkeit zurückreicht. Immer wieder hat man sich bemüht, die zahlreichen Mythen und Erzählkomplexe aus einem historischen Zusammenhang heraus zu erklären. So gab es u.a. den Versuch, einen Vergleich zwischen der Investitur und dem persischen Epos Shahnamah (verfaßt zwischen 990 und 1001) des Firdausi anzustellen in der Annahme, das in der Vergangenheit zwischen Persien und China siedelnde Volk der Saka habe evtl. eine Mittlerrolle bei der Übernahme des Stoffes gespielt.609 Erst im Jahre 1931 fand der chinesi607
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Bei der Bearbeitung konnte auf eine Reihe von Arbeiten und Ausgaben zurückgegriffen werden. Ganz maßgeblich ist dabei die frühe Übertragung der Kap. 1–46 von WILHELM GRUBE ins Deutsche gewesen, die 1912 unter dem Titel Die Metamorphosen der Götter erschien (Leiden: Brill, die Ausgabe wird vervollständigt durch eine Inhaltsangabe der Kapitel 47–100, beigefügt ist eine Gesamteinleitung des Herausgebers HERBERT MÜLLER). Vgl. dazu außerdem HELMUT MARTIN: »Zur deutschen Übertragung des Romans Metamorphosen der Götter« in: ders.: Traditionelle Literatur Chinas und der Aufbruch in die Moderne. Chinabilder I: Traditionelle Literatur, Späte Qing- und Republikliteratur, Dortmund: projekt verlag 1996, S. 183 ff. Neben der hier zu Rate gezogenen chinesischen Ausgabe Fengshen yanyi, Hangzhou: Zhejiang wenyi 1985 (2 Bde.) sei auch auf die vollständige Übersetzung ins Englische verwiesen. (Creation of the Gods, übers. von GU ZHIZHONG, Peking: New World Press 1992 [2 Bde.]) Zu dieser Einschätzung bzw. zur Rezeption des Werks überhaupt vgl. YLVA MONSCHEIN: Der Zauber der Fuchsfee. Entstehung und Wandel eines »Femme-fatale«-Motives in der chinesischen Literatur, Frankfurt/M.: Haag und Herchen 1988 (= Heidelberger Schriften zur Ostasienkunde Bd. 10), S. 219f. Vgl. dazu die Studie von SIR J.C. COYAJEE: Cults and Legends of Ancient Iran and China, Bombay: Jehangis B. Karam's Sons 1936.
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Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi)
sche Literaturwissenschaftler Sun Kaidi in Japan eine Ming-zeitliche Ausgabe der Investitur, für die ein gewisser Xu Zhonglin als Herausgeber angegeben wurde, dem man im weiteren auch die Autorenschaft am Roman zuschrieb. Die Annahme Suns stieß jedoch bald auf Widerstand, und es ist den Arbeiten Liu Ts'un-yans seit den 30er Jahren zu verdanken, daß wir nunmehr recht viel über die Entstehung und Entwicklung dieses Romans wissen.610 In der Frage der Autorenschaft ist Liu zu dem Ergebnis gekommen, daß wohl nicht Xu Zhonglin, sondern ein gewisser Lu Xixing (1520– ca. 1601) der Verfasser der Investitur war, und er stützt diese Annahme u.a. auf den Umstand, daß Lus Name in einer zu Ende des 18. Jahrhunderts auf Anweisung des staatlichen Zensurbüros zusammengestellten Bibliographie von »yuefu«-Dramen (Yuefu kaolüe) als Verfasser einer »Erzählung über die Investitur der Götter« (Fengshen zhuan) genannt wird.611 Auch aus dem Inhalt der Investitur ergeben sich diverse Hinweise darauf, daß nur ein aktiver Anhänger des taoistischen Glaubens mit den zahlreichen Details im Werk vertraut sein konnte. Lu war ursprünglich ein taoistischer Priester im Xinghua-Distrikt von Yangzhou und trat später zum Buddhismus über. Darüber hinaus stimmen eine Reihe von Einzelheiten aus der Investitur mit solchen in Schriften aus Lus eigener Feder überein.612 Wie wir im folgenden sehen werden, liegen der Investitur eine ganze Anzahl von Erzählwerken zugrunde, auf die mehr oder weniger stark Bezug genommen wurde. Konzeptionell dürfte der Roman auf Entwürfe zur Mitte der Jiajing-Zeit (1522–1567) zurückgehen, doch lassen sich aus dem Kontext auch starke Bezüge zur Herrschaft des Wanli-Kaisers gegen Ende des 16. Jahrhunderts herstellen. Aus dieser Periode, spätestens jedoch aus den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts, dürften auch die ersten Drucke erhalten sein.613 Die Investitur reicht in ihren geschichtlichen Bezügen zurück bis in das 12. vorchristliche Jahrhundert, als die Dynastie der Shang-Kaiser (1766 v. Chr.–1122 610
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LIU TS'UN-YAN hat seine Ergebnisse in einer umfassenden Studie zusammengefaßt: The Authorship of the Feng Shen Yen I, Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1962. In der Bibliographie wird in Lu freilich ein Yuan-zeitlicher Taoist gesehen, doch ist es Liu Ts'un-yan mit Hilfe von Lokalchroniken und weiteren Quellen gelungen, in dem genannten Lu Zhanggeng eben den Lu Xixing auszumachen. (Vgl. ebd., S. 118–123) Vgl. zu diesen Schlußfolgerungen ebd., S. 290–293. Wie unsicher die Frage der Autorenschaft weiterhin ist, belegt der Umstand, daß die Herausgeber der o.g. chinesischen Ausgabe von 1985 in diesem Zusammenhang weiterhin Xu Zhonglin nennen, während in der taiwanesischen Ausgabe (Taipeh: Shijie shuju 1983) Lu Xixing als Verfasser favorisiert wird. SUN KAIDI nennt in seiner 1932 zusammengestellten und seither immer wieder aufgelegten Bibliographie der populären Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo shumu) drei erhaltene Fassungen der Investitur. Die beiden Fassungen aus der Ming-Zeit befanden sich seiner Zeit in der Japanischen Kabinettsbibliothek (Naigako bunko) in Tokio. Die hier ebenfalls zitierte Qing-Ausgabe aus dem Jahre 1695, welche sich in der Pekinger Nationalbibliothek befindet, ist für die meisten späteren Nachdrucke herangezogen worden. (Vgl. Suns Bibliographie i.d. Ausgabe Peking: Renmin wenxue 1982, S. 196ff.)
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v. Chr.) den nachfolgenden Zhou (1112–255) weichen mußte. Unser Roman, dessen Handlung zwischen den Jahren 1148 und 1122 v. Chr. anzusiedeln ist, widmet sich nun ausführlich dem Niedergang der Shang sowie den Kämpfen der unter dem Zhou-Gründer Wu rebellierenden Fürsten gegen den Herrscher Zhou. Wie wir weiter oben im Kapitel über den historischen Roman bereits gesehen haben, wurde ein wesentlicher Teil der geschichtlichen Ereignisse in der Zeit des ersten vorchristlichen Jahrtausends von Werken wie der Geschichte der Staaten (Lieguo zhizhuan) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts abgedeckt. Auf die sich dort im ersten Kapitel zu findende Beschreibung des Feldzugs von Fürst Wu gegen König Zhou hat Lu Xixing bei der Abfassung ganz deutlich zurückgegriffen, wie die mitunter wörtliche Übernahme ganzer Gedichte belegt.614 Von weit größerem Einfluß war aber mit Sicherheit eine noch frühere literarische Quelle, nämlich das auf die Yuan-Zeit und dort die Jahre 1321–1323 datierbare »Volksbuch über den Feldzug des König Wu gegen die Zhou« (Wuwang fa Zhou pinghua).615 Diese in eher historisch-sachlichem Ton gehaltene Urfassung der Investitur, die den geschichtlichen Inhalt in knappen Zügen wiedergibt, entbehrt naturgemäß freilich weitgehend der mythologischen Elemente des späteren Romans. So fehlt insbesondere der Eingriff der Götter und Unsterblichen in den Kampf zwischen den aufkommenden Zhou und den Shang vollkommen. Die Götterernennungen, die in Investitur ganz in den Mittelpunkt treten, sind in der kürzeren Version aus der Yuan-Zeit nur am Rande erwähnt. Auch der Ablauf des Geschehens ist hier anders: Im Unterschied zur Investitur, wo König Zhou den Feldzug gegen die abtrünnigen Vasallen um Fürst Ji Chang bzw. dessen Nachfolger Ji Fa (d.h. der spätere König Wu) anordnet, ist es hier Jiang Ziya, der nach drei Jahren in West-Qi den untätigen Fürsten zum Kampf gegen den Tyrannen in Zhaoge ermahnt. Die Grausamkeit der königlichen Konkubine Su Daji wird im Volksbuch freilich ebensowenig wie in der Investitur alleine aus ihrem Wesen als Mensch abgeleitet. In beiden Werken ist es ein Fuchsgeist, der die junge Frau auf ihrem Weg in die Hauptstadt tötet und ihre Gestalt annimmt. Auch der fatalistische Zug, der mit der göttlichen Bestimmung vom Niedergang der Shang durch Nüwa in der Investitur gegeben ist, fehlt in dieser Ausgeprägtheit in der Volksbuchfassung. Lediglich das sexuelle Motiv klingt an, wenn diesmal die Jadefrau dem König Zhou im Schlaf erscheint und ihm verspricht, innerhalb von hundert Tagen auf seinen Antrag zu antworten. Als Pfand hinterläßt die Jadefrau zwar eine Schärpe, doch taucht sie nach Ablauf der angegebenen Zeit nicht mehr auf, so daß König Zhou unter den Schönen des Reiches eine Konkubine suchen läßt, womit ebenfalls die Überleitung zur Gestalt der Daji gegeben ist. Gut vereinbar mit der »weltlicheren« Ausrichtung des Volksbuches ist auch die Tatsache, daß sich hier kein Hinweis auf die himmlische Mission 614 615
Vgl. die bei LIU: The Authorship of the Feng Shen Yen I, S. 90–94 angeführten Beispiele. Eine vollständige Übersetzung des Volksbuchs ins Englische findet sich bei LIU ebd., S. 10–75.
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Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi)
Jiang Ziyas findet. Als Sterblicher nimmt Jiang Ziya vor seiner Flucht Abschied von der Mutter. Anders als in Investitur, wo sein Entkommen vornehmlich auf die Ausstattung mit übernatürlichen Kräften zurückzuführen ist, verdankt er dies in der Volksbuchfassung überwiegend seiner Listigkeit. In dieser Übersicht kann nur auf die wichtigsten der verwendeten Vorgänger der Investitur in Dichtung und Erzählkunst eingegangen werden. Die Farbigkeit des Werkes legt es nahe, daß bei der Niederschrift auf eine ganze Reihe von Darstellungen in Dramen- und Erzählkunst zurückgegriffen wurde.616 Bei den Werken aus dem Kanon der »Vier großen Romane« springen bei eingehender Lektüre zunächst Die Räuber und Drei Reiche als Bezüge ins Auge. Besonders aus den Drei Reichen sind die motivischen und szenischen Übernahmen recht deutlich. So ähnelt die Suche des Ji Chang nach einem fähigen Ratgeber (den er schließlich in Jiang Ziya findet) der des Liu Bei nach Zhuge Liang.617 Als Beratergestalten eines aufstrebenden Machthabers ähneln sich die beiden Figuren ohnehin sehr stark. An anderer Stelle (Kap. 29) dankt Jiang dem sterbenden König Wu für die Übertragung der Staatsgeschäfte, wobei der Verfasser ihm die Worte Zhuge Liangs aus den Drei Reichen (Kap. 85) in den Mund legt. Für Die Räuber sind die Übernahme von Gedichtzeilen (Kap. 13 der Investitur über die Beschreibung der Hitze aus Kap. 16 der Räuber) sowie die Verwendung bestimmter Örtlichkeiten anzumerken. Der »Zweidrachenberg« (Erlongshan) in Investitur, an dem Yin Hong vier Generäle besiegt, entspricht exakt dem Ort, an dem Lu Zhishen und Yang Zhi in den Räubern ihren Sieg über Regierungssoldaten feiern.618 Schwieriger als zu den beiden vorstehend genannten Romanen sind die Verbindungen der Investitur mit der Reise in den Westen. Dabei legt gerade der Charakter als mythisch-phantastische Werke eine sehr enge Beziehung nahe, und in der Tat stimmt gerade ein erheblicher Teil der Protagonisten, angefangen bei Nedscha und Yang Jian bis hin zu dem Taoisten Ci Hang in beiden Romanen überein. Dies hat mitunter zu der Annahme geführt, daß Investitur und Reise unabhängig von ihren eigenen Quellen in der Erzählliteratur u.U. auf eine beiden gemeinsame Textbuchfassung aus dem Umfeld der Geschichtenerzähler hervorgegangen sind.619 Doch Liu Ts'un-yan ging in seinen Thesen weiter und führt nach eingehender Untersuchung eine Reihe von Gründen an, die den Schluß zulassen, daß Investitur der Reise Wu Cheng'ens vorausging. Gerade die Gestalt Nedschas (Sanskritname Nata), dessen Genesis in Investitur (Kap. 12–14) ausführlich beschrieben wird, legt den Verdacht nahe, daß sich der Verfasser der Reise dieser 616 617 618
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S. die Angaben dazu ebd., S. 201–212. Die Szene findet sich in Kap. 24 der Investitur. Zu diesen und weiteren Bezügen siehe LIU: Authorship, S. 213–216. Auf weitere Ähnlichkeiten werden wir im Verlauf der inhaltlichen Untersuchung zu sprechen kommen. Ebd., S. 2f. Liu bezieht sich auf Bemerkungen des Literaten Zhang Henshui, die dieser 1935 in einem Brief zu den klassischen chinesischen Romanen machte.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG
Vorlage bediente. Nedscha gilt als einer der am häufigsten genannten Helden in der chinesischen Mythologie und wird mitunter auch als eine der höchsten Himmelsgottheiten im taoistischen Glauben beschrieben. Von der Anlage her eine zur Ordnung rufende Gestalt, deren Pflicht darin bestand, alle Dämonen zur Raison zubringen, welche Schaden in der Welt anrichten (in dieser Funktion ist er uns auch aus der Reise bekannt), soll er nach dem Volksglauben eine imponierende Gestalt von sechzig Fuß Höhe besessen haben, ausgestattet mit drei Köpfen, neun Augen und acht Händen.620 In Investitur kommt er als Inkarnation des PerlenGeistes, versehen mit seinen späteren Waffen (dem goldenen »Ring des Universums« und dem roten »Band zur Verwirrung des Himmels«) zur Welt, nachdem seine Mutter dreieinhalb Jahre mit ihm schwanger ging. Schon der Geburtsvorgang läßt womöglich Beziehungen zu dem aus einem Steinei geschlüpften Sun Wukong erahnen. Als kugelförmiger Fleischklumpen verläßt Nedscha den Schoß der Mutter, doch erst als der Vater Li Jing – hier in seiner weltlichen Funktion des Kommandanten vom Chentang-Paß eingeführt – den Fleischklumpen entzweihaut, kommt der Knabe zum Vorschein.621 Eingeleitet quasi durch diesen brutalen Vorgang, ist Nedschas weitere Entwicklungsgeschichte und die letztendliche Dienstbarmachung für die himmlischen Aufgaben bestimmt durch Auseinandersetzungen mit Göttergestalten wie dem Drachenkönig Ao Guang bzw. der »Felsendame« (Shiji niangniang) sowie durch einen Vater-Sohn-Konflikt, der entfernt an das Rebellentum des Affenkönigs in der Reise erinnert. Seine himmlische Vatergestalt ist »Taiyi der Vollkommene« (Taiyi zhenren), der erste unter den himmlischen Göttern, zuweilen auch als Gott des Polarsterns bzw. Herrscher der Fünf Himmlischen Könige auftretend. In der Funktion eines Unruhestifter leitet Nedscha auch zum ersten Konflikt zwischen den Taoistenschulen über. Als der junge Held versehentlich einen Schüler der Felsendame tötet, die dem Jie-Taoismus nahesteht, kommt es zur Auseinandersetzung mit Taiyi, der der anderen Richtung der Chan-Taoisten anhängt. Bei dem Versuch, herauszufinden, welche die stärkere Glaubensrichtung ist, scheitert Felsendame und wird dazu verurteilt, wieder ihre ursprüngliche Form als Felsen anzunehmen. Aus Scham über das angerichtete Unglück, bringt sich Nedscha um und kehrt an den Qianyuan-Berg seines Herrn Taiyi zurück, kommt auf dessen Wunsch jedoch später noch einmal auf die Welt zurück. Nedscha kündigt alle familiären Bande mit Li Jing auf und kämpft u.a. gegen seine Brüder Muzha und Jinzha. Der Sieg über den ungestümen Mann ist nur mittels einer wundersamen Pagode zu erringen, aus der Nedscha erst wieder freikommt, nachdem er seine Schuld gegenüber dem Vater anerkennt und ihn um Verzeihung bittet. 620 621
WERNER: Myths and Legends, S. 305. Li Jing, hier als Vater des Nedscha, ist ein historischer Held aus dem Beginn der TangDynastie und dem himmlischen König Vaisravana im Buddhismus nachempfunden. Dem taoistischen Pantheon gehört er seit dem Jahre 760 an.
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Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi)
Doch die Bezüge zwischen den beiden Werken Reise und Investitur gehen weiter. Bis in Details hinein – etwa was die geographischen Hindernisse auf der Reise Tripitakas angeht – dürfte sich Wu Cheng'en demnach des Stoffangebots aus der Investitur bedient haben.622 Daß dessen Verfasser wiederum auf Stoffe aus dem Tripitaka-Zyklus zurückgriff, ist angesichts von dessen bereits jahrhundertelangen Verbreitung kein Wunder. In nurmehr zarten Andeutungen sind die Gestalten des Affenkönigs Sun Wukongs und Zhu Bajies anzutreffen. Auf beide stoßen wir am Ende des Romans (Kap. 92, 93), wo Yuan Hong, ein weißer Affe in Menschengestalt und Zhu Zishen, ein Schweinegeist, das Pandämonium bereichern, das sich auf Seiten der Shang herausgebildet hat. Yuan beherrscht wie Sun Wukong die Kunst der zweiundsiebzig Verwandlungen, und auch die gemeinsame Heimat der beiden Tiergeister in Investitur – »Pflaumenberg« genannt – weist auf den Berg der Blumen und Früchte der Affengemeinde in Reise in den Westen hin. Selbst eine thematische Miniatur der Reise in den Westen und einer deren Inspiratoren – die Rede ist von der Westreise (Xiyouji), die wohl um 1602 niedergeschrieben wurde und seither Bestandteil der Aufzeichnungen von den vier Reisen (Siyouji) ist – weist einen Bezug zum zentralen Thema der Investitur auf. So findet sich im vorletzten der vierundzwanzig Kapitel ebenfalls das Motiv der Götterernennungen.623 Dort ernennt der Jadekaiser den Zhen Wu zum »Patriarchen des Zehntausendfachen Gesetzes im Neunten Himmel des Chaos und der Einheit«, womit er der Herr über sechsunddreißig Generäle des Himmels wird, die jeweils am fünfundzwanzigsten Tag des zwölften Monats im Jahr auf die Erde kommen, um eine Inspektion vorzunehmen. Wir wollen uns im folgenden einer stärkeren inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Investitur zuwenden und dabei versuchen, den mythischen Bereich vom historischen Kern bzw. Anliegen des Werkes zu trennen. Im Mittelpunkt steht hier ohne Zweifel die Gestalt des letzten Shang-Herrschers, der unter dem Namen Zhou Xin im Jahre 1154 auf den Thron gelangte. Als »schlechter letzter Herrscher« seiner Dynastie scheint er wohl in hohem Maße erst vor dem zeitlichen Hintergrund der erzählerischen Bearbeitung sowie der Abfassung des Romans in das Bewußtsein der Menschen getreten zu sein, gibt doch Sima Qian in seinen Aufzeichnungen durchaus noch ein differenziertes Bild des Mannes. Wenigstens für den Beginn seiner Herrschaft wird dort von ihm noch der Eindruck des starken und intelligenten Königs entworfen, der erst nach und nach dem Bösen verfiel und den Rat anderer zurückwies.624 Der zu Beginn des Romans aufgezeigten goldenen Ära, 622 623
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Vgl. dazu ausführlich LIU: Authorship, S. 240ff. Der Roman liegt in einer neueren Übersetzung von GARY SEAMAN vor: Journey to the North. An ethnohistorical Analysis and annotated Translation of the Chinese Folk Noel Pei-Yu Chi, Berkeley u.a.: University of California Press 1987. Vgl. dazu BIRRELL: Chinese Mythology, S. 110f.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG
wie sie unter den mythischen Kaisern Yao und Shun herrschte, wird König Zhou bald nicht mehr gerecht. Yao und Shun freuten sich gemeinsam mit dem Volke, durch Menschlichkeit und Tugend gestalteten sie das Reich um, sie widmeten sich nicht dem Kriegshandwerk, noch übten sie Mord und Totschlag; leuchtende Sterne glänzten am Himmel, Ambrosia kam herab, der männliche und der weibliche Phönix nisteten auf ihrem Palast, das Kraut der Unsterblichkeit wuchs auf den Feldern, das Volk lebte in Wohlstand und alle Dinge waren in Fülle vorhanden; die Wanderer wichen einander auf den Straßen aus, die Hunde bellten nicht, es regnete bei Nacht, und tagsüber war Sonnenschein, und der Reis trug doppelt Ähren: das 625 waren die Zeichen der Pflichttreue und der Blüte.
Nur ganz zu Beginn seiner Herrschaft lebt der König mit seinen Gemahlinnen im Palast ohne Hader und Zwist beisammen, herrschen im ganzen Land noch Friede und Eintracht. Dies ändert sich, als König Zhou sich bei einem Tempelbesuch in das Bildnis der Bildnis der Göttin Nüwa verliebt und mit einem gotteslästerlichen Spruch an der Wand Nüwas Zorn heraufbeschwört. Nüwa ist nach dem chinesischen Volksglauben eine Göttin des hohen Altertums. Ihr Verdienst (auf das auch im Roman hingewiesen wird) besteht darin, den Himmel gestützt zu haben, nachdem Gong Gong mit seinem Haupt den Berg Buzhou umrannte, woraufhin der Himmel im Nordwesten einstürzte, und die Erde im Südosten versank. Daneben schreibt man der Göttin mitunter die Mitwirkung bei der Schöpfung des Menschen zu, den sie aus Lehm geformt haben soll.626 Aus Rache für die ihr zugefügte Beleidigung beschließt Nüwa den Untergang der Shang-Dynastie, doch sind dem König Zhou zuvor noch achtundzwanzig Jahre der Herrschaft zubemessen. Um dennoch ihr Anliegen nicht unerledigt zu lassen, ruft die Göttin aus dem Grab des Herrschers Xuan Wen drei Dämonen herbei: den tausendjährigen Fuchsgeist, den neunköpfigen Fasanengeist und den nephritenen Skorpiongeist. Ihnen wird der Auftrag erteilt, in menschlicher Gestalt die Aufnahme in den Palast König Zhous anzustreben und den Herrscher von seinen Staatsgeschäften abzulenken, damit irgendwann einmal König Zhou das Land mit Krieg überzieht und so den Prozeß um die Herrschernachfolge in Gang setzt. In der Tat beginnt nun König Zhous moralischer Verfall: Noch immer brennt ihm das Bild Nüwas in der Seele, auf der Suche nach einer Schönen, befiehlt er den vier Großfürsten des Reiches, je hundert junge Mädchen in den Palast bringen zu lassen. Die ersten Zeichen eines »verwirrten Herrschers« (hunjun) kündigen sich an: König Zhou schlägt die Ermahnungen Kanzler Shang Rongs in den Wind, der Wollust zu entsagen, zeigt sich ungerührt angesichts der Dürre und Not im Reich. Vielmehr umgibt er sich mit 625 626
Die Metamorphosen der Götter, Kap. 2, S. 10f. Vgl. WERNER: Myths and Legends, S. 82.
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zwielichtigen Gestalten wie Fei Zhong (dem »Untreuen«) und zieht sich den Zorn der Großfürsten zu, die über sein Ansinnen der Mädchenbeschaffung empört sind. Der aufgebrachte Vasall Su Hu, dessen schöne Tochter Daji der König für seinen Harem fordert, sagt seine Gefolgschaft auf und schwört damit einen Feldzug gegen sein Lehen herauf. Alleine Ji Chang, dem beliebten und gerechten Großfürsten aus dem Westgebiet, gelingt es, die Wogen zu glätten und Su Hu zur Vermählung der Tochter mit dem Herrscher zu raten. Ji Chang, der im weiteren Verlauf des Romans mehr und mehr unter seinem historischen Titel »König Wen der Zhou« (Zhou Wenwang) genannt wird, gehört anders als die mythischen Dynastiegründer vor ihm bereits zu einer historischen Ära. In den Legenden um König Wen werden seine Weisheit und Tugend hervorgehoben.627 Herausragendes Merkmal in Investitur ist Ji Changs Loyalität gegenüber König Zhou, auch nachdem dieser ihn sieben Jahre in die Verbannung geschickt und seinen Sohn getötet hat. Wie auch schon in der Volksbuch-Version überfällt nun der tausendjährige Fuchsgeist in Erfüllung seiner Mission die Daji auf ihrer Reise in der Herberge, tötet sie und nimmt ihre Gestalt an. Die erotisch-sexuelle Komponente, die den meisten Fuchsgeist-Gestalten in der chinesischen Erzählkunst zu eigen ist,628 dazu ihr Charaktermerkmal als Verführergestalten, all das deutet sich auch in der Erscheinung Dajis bei ihrem Eintreffen am Königshof an: Schwarzen Wolken glich ihr aufgebauschtes Schläfenhaar, aprikosenfarben war ihr Antlitz, pfirsichfarben ihre Wangen; sie war von zarter Gestalt und schlanker Taille, gleich den Birnenblüten nach labendem Regen [...] Nichts unterschied sie von der Chang'e im Monde, wenn diese ihren Jadepalast verließ. Die geöffneten roten Lippen waren wie Kirschen, und wenn sie die Spitze ihrer Zunge zeigte, 629 so war das ein Anblick von unvergleichlicher Lieblichkeit.
Wie erwartet, beginnt Daji den König bald von den Regierungsgeschäften abzulenken, mehrere Monate hält er keine Audienzen mehr ab. Es ist in Hinweisen wie diesen, daß sich am ehesten Kritik an zeitgenössischen Erscheinungen andeutet. Nun gibt es zwar mehr als einen chinesischen Kaiser, der als notorischer Verweigerer einer Zusammenarbeit mit seinen Ministern bekannt war. Bekannt ist z.B. der Ming-Herrscher Xianzong, der seinen Ministern zwischen 1471 und 1486 keine Audienz gewährte. Doch viel stärker noch wird hier das Bild des letzten großen Ming-Kaisers Wanli erkennbar, in dessen Herrschaftszeit sich der Niedergang der Dynastie abzuzeichnen begann und von dem es heißt, er habe seine Minister in dem Vierteljahrhundert zwischen 1590 und 1615 nur bei zwei Gelegenheiten zu einer Audienz zugelassen. 627 628 629
Vgl. BIRRELL: Chinese Mythology, S. 260. Vgl. dazu ausführlich die o.g. Untersuchung von MONSCHEIN: Zauber der Fuchsfee. Die Metamorphosen der Götter, Kap. 4, S. 53.
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Sein Desinteresse an den Regierungsgeschäften bleibt dabei noch König Zhous geringstes Vergehen. Vielmehr läßt er sich von Daji zu einer Reihe von Greueltaten an seinen Mahnern und Kritikern verführen, ruft damit Ablehnung unter den Ministern sowie Furcht im Volk hervor. Keine Spur mehr vom edlen Herrscher, der wie »Vater und Mutter« über das Wohl des Volkes wacht. Immer aufs neue erfindet Daji, eine der in ihrer erzählerischen Ausgestaltung interessantesten Frauengestalten an der Seite des Herrschers grausame Strafen und Foltermethoden. Als einer der ersten fällt ihren Machenschaften Großwürdenträger Mei Bo zum Opfer, der an einer eigens entworfenen, auf drei Ebenen bis zur Glut beheizbaren Messingsäule verbrennt (Kap. 6). Nachdem ihre Position als Konkubine des Königs gefestigt ist, wendet sich Daji gegen dessen persönliche Umgebung: Königin Jiang wird beschuldigt, ein Attentat gegen ihren Gatten angezettelt zu haben und in der Folge auf einem Auge geblendet. Kronprinz Yin Jiao und Prinz Yin Hong wollen im Auftrag der Mutter Rache an Daji üben, scheitern jedoch und müssen angesichts der Todesdrohungen durch den Vater fliehen. Von General Huang Feihu auf seinem göttlichen Reitstier bald eingeholt, gelingt es den PrinzenBrüdern doch noch, Gnade zu erlangen. Die beiden sollen zu ihrem Großvater Jiang Huanchu gebracht werden, gehen jedoch weiteren Häschern des Königs in die Falle. Es kommt zu einer wunderbaren Rettung: Da sich die Namen der Prinzen auf der »Liste der zu ernennenden Götter« (fengshenbang) befinden, werden sie in einem Sturm von zwei Unsterblichen davongetragen. Daji steigert ihre Grausamkeit gegenüber der Umgebung Königin Jiangs in der Folge noch, als sie nämlich Rache an den siebzig Palastdamen der ehemaligen Herrschergattin nimmt, nachdem diese ihr nach einer Tanzaufführung nicht zujubeln. Daji läßt die Frauen daraufhin in eine eigens ausgehobene Schlangengrube stürzen. Die Reaktion des Königs ist bezeichnend für seine Verblendung: König Zhou sah zu, wie die Palastdamen in den Pfuhl geworfen wurden, wie die hungrigen Schlangen sie umringelten, wie sie Haut und Muskeln benagten und sich in die Eingeweide hineinbohrten – es waren Qualen unmenschlicher Art. Daji aber sagte: »Wie hätte man ohne diese Strafe das Unwesen im Frauenpalast ausrotten sollen?« König Zhou klopfte Daji auf den Rücken und sprach: »Ich beglückwünsche dich zu diesem so außerordentlichen Verfahren – es ist unaussprechlich wunder630 bar!«
Zu der Grausamkeit – weitere »Erfindungen« Dajis werden der »Fleischwald« und der »Weinteich« sein – gesellen sich bald Verschwendung: Die FuchsgeistFrau entwirft Pläne für den Bau eines teueren und extravaganten »Hirschpavillons«, der mit Edelsteinen und Jade geschmückt ist und sich mit den Bauwerken in den 630
Ebd., Kap. 17, S. 225f.
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Gärten der Götter und Unsterblichen messen soll. Große Opfer durch das Volk sind die Folge. Die Gestalt Dajis ist deshalb so interessant, weil unter der menschlichen Hülle immer wieder die grausame Fuchsnatur zum Vorschein kommt. Man darf sich fragen, ob angesichts der Regelmäßigkeit, mit der der verführerischen Gestalt einer schönen Frau in der chinesischen Erzählkunst das Wesen eines Fuchsgeistes unterstellt wird, hier nicht eine Parallele zu der schönen Frau im europäischen Mittelalter zu sehen ist, die nicht selten als Hexe auf dem Scheiterhaufen landete. In einer weiteren Offenbarung ihrer sexgierigen Fuchsnatur schwört die Daji in der Investitur jedenfalls das nächste Unglück herauf. Sieben Jahre sind seit der Verbannung Fürst Ji Changs vergangen, und sein Sohn Yikao macht sich auf den Weg nach Zhaoge, um die Freilassung zu bewirken. Mit wertvollen Geschenken trifft er in der Hauptstadt des Königs ein, so etwa einem Wagen, der sich durch den Willen des Fahrers steuern läßt sowie einem Affen mit weißem Antlitz, der Tausende von Liedern beherrscht und tanzen kann. Yikaos Erscheinung erweckt die Begierde der Daji, die ihn attraktiver als König Zhou findet. Unter dem Vorwand, bei ihm musikalischen Unterricht zu nehmen, behält Daji den jungen Mann in ihrer Nähe. Empört weist Yikao ihre Annäherungsversuche zurück, als Daji auf seinem Schoß Platz nehmen möchte, »um besser von ihm lernen zu können«. Seine Ermahnungen lassen ihre Gefühle in Haß umschlagen, die gegenüber dem König gemachten Anschuldigungen weiß Yikao zunächst zurückzuweisen. Erst der Affe, wohl mit seinem tierischen Instinkt, beginnt die Gefahr, die von Daji ausgeht, zu ahnen und reagiert entsprechend. Sein Gesang betört zunächst alle: Daji geriet förmlich von Sinnen, sie ward wie trunken, wie irrsinnig und wußte sich nicht mehr zu beherrschen, so daß durch den Gesang ihre ursprüngliche Gestalt zum Vorschein kam. Nun war aber der Affe ein Affe, der tausend Jahre lang das Tao in sich aufgenommen hatte [...] Er verstand aber auch, Feueraugen zu bilden und vermochte dadurch etwaige Gespenster unter den Menschen herauszufinden. Als nun die ursprüngliche Gestalt der Daji zum Vorschein kam und der Affe einen Fuchs auf ihr sitzen sah, [...] da [...] setzte er über den Tisch 631 hinweg und fuhr der Daji mit den Krallen ins Gesicht.
Auch im weiteren Verlauf sind es immer wieder Tiere, die die bestialische Natur der Konkubine erkennen. So stürzt sich in Kapitel 28 Huang Feihus Jagdfalke auf Daji, als diese eines Tages in ihrer Fuchsgestalt auf der Suche nach Menschenfleisch durch den Palast streift. Daji rächt sich nun für die ihr angetane Schmach auf furchtbare Weise: Sie läßt Yikao in ihre Gemächer bringen, auf ein Brett nageln und zerstückeln. Um Ji Changs übersinnlichen Kräfte zu testen, läßt sie aus dem Fleisch des Toten 631
Ebd., Kap. 19, S. 254.
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Pasteten zubereiten und dem Vater vorsetzen. Ji Chang erkennt die Gefahr, die ihm droht, wenn er das abscheuliche Gericht nicht zu sich nimmt und ißt das Fleisch Yikaos, das er jedoch bei der Rückkehr in seinen Palast und nach dem Gesang eines Trauerliedes unter spektakulären Umständen wieder erbricht. Kaum hatte er sein Lied beendet, als er mit dem Ausruf: »Der Schmerz tötet mich!« vom Pferde sank. Sein Antlitz ward bleich wie weißes Papier. Bestürzt umringten ihn die Prinzen, die Beamten und die ganze Menschenmasse. Während sie ihn aufrichteten und ihm einige Mundvoll Tee einflößten, machte sich allmählich ein Geräusch in seinem Magen hörbar. Er erbrach einen Klumpen Fleisch mit Brühe, und während jene Fleischpastete auf der Erde dahinrollte, wuchsen ihr plötzlich vier Beine und ein Paar Ohren, und sie lief in westlicher Richtung davon. Dreimal erbrach er sich, und jedes Mal entstanden daraus Hasen, 632 die in der gleichen Richtung verschwanden.
Der Verfasser des Romans könnte sich an der Stelle auf eine Szene in einem Werk der Volksbuchliteratur beziehen. Aus dem »Volksbuch zu den Früheren Han« (Qian Hanshu pinghua) findet sich im zweiten Buch eine Szene, in der Kaiser Liu Bang das Fleisch des getöteten Peng Yue dem Ying Bu vorsetzen läßt. Ying bricht das Fleisch wieder hervor und speit es in einen Fluß, woraufhin sich die Klumpen in Krabben verwandeln. Nicht alle Greueltaten der Daji sollen hier aufgeführt werden, obgleich es im Zusammenhang mit den Menschen, die sie in den Tod treibt noch eine ganze Reihe eindrucksvoller Szenen gibt, wie etwa die »Herz-Geschichte« um Bi Gan.633 Der Mißbrauch des Himmlischen Mandats, dessen sich König Zhou schuldig macht, hat schließlich auch weitergehende Auswirkungen, immer wieder brechen Unruhen aus, die niedergeschlagen werden müssen. Es kommt zum Ausbruch der Kämpfe gegen die Reichsvasallen (Kap. 36–66). Während die sich um West-Qi gruppierenden Vasallen in diesem Abschnitt überwiegend durch ihre Verteidigungsanstrengungen glänzen, dauert es noch geraume Zeit, bis man unter der Führung des Zhou-Königs Wu (Zhou Wuwang) in der Lage ist, den letzten Shang-Herrscher durch Aufnahme von Gegenangriffen endgültig niederzuzwingen. Die militärische Katastrophe wird begleitet von weiteren Grausamkeiten der Daji, mit denen sie schließlich den Himmel gegen sich aufbringt (»Sonne und Mond verloren ihr Licht«). Während aufrechte Mahner den Hof von Zhaoge verlassen, treffen dort mehr und mehr Freunde und Artgenossen der Daji ein, so etwa der Affengeist Yuan Hong,634 die Pflanzengeister oder der Riese Wu Wenhua (»Ohne Bildung«). Dieser 632 633 634
Ebd., Kap. 22, S. 288. Kap. 26, 27 des Romans. Yuan Hong (Kap. 91) erinnert stark an Sun Wukong. Wie dieser beherrscht er zweiundsiebzig Formen der Verwandlung, wird ihm der Genuß von Pfirsichen zum Verhängnis. Vollkommen entkräftet läßt er sich am Ende überwältigen und wird enthauptet.
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gesamte Abschnitt umfaßt die Kapitel bis Kap. 95. Erst dann wird die Stadt an die siegreichen Truppen der Zhou übergeben, König Zhou von den versammelten Fürsten und Vasallen zahlreicher Verbrechen angeklagt: So habe er keine Zuneigung gegenüber dem Volk gezeigt und die Gebote des Himmels mißachtet; er habe den Tod der Königin verursacht und Mordpläne gegen sein eigen Fleisch und Blut gehegt; zu seinen Lasten gehe auch die willkürliche Anwendung des Rechts sowie die Verhängung grausamer Folterstrafen, nicht zu vergessen die Verschwendung wertvoller Ressourcen durch den Bau aufwendiger Gebäude. Nach Nüwas zweiter Erscheinung, womit die Brücke zum Romanbeginn hergestellt ist, und ihrer Zurechtweisung der Dämonen, die bei ihren »Bemühungen«, den Sturz der Shang zu beschleunigen, zu vielen Menschen geschadet haben, gelingt es endlich, Daji zu enthaupten. Kurze Zeit darauf kommt auch König Zhou in den Flammen eines Turms um. Wenden wir uns nach der Darstellung der historischen Kernaussagen des Romans, die selbst an zahlreichen Stellen immer wieder von mythisch-phantastischen Elementen durchzogen waren, diesem letzteren Bereich näher zu. Die schon im Romantitel angekündigte »Belehnung mit der Götterwürde« (fengshen) ist dabei keine Erfindung des Autors selber, sondern taucht bereits in einer ganzen Reihe von frühen Erzählwerken auf. Auch handelt es sich nicht um ein fiktives Ereignis, sondern um einen historisch verbürgten Vorgang, der auf den offenbar uralten Brauch in China zurückgeht, Menschen, die sich um das Wohl des Volkes verdient gemacht haben, einer allgemeinen Verehrung zugänglich zu machen.635 Das Verfahren scheint der Selig- bzw. Heiligsprechung in der katholischen Kirche nicht unähnlich zu sein, womit auch der Begriff der »Götter«, mit dem wir hier die ganze Zeit operieren, etwas an Gewicht verliert, nehmen doch die im Chinesischen mit shen umschriebenen überirdischen Wesen gegenüber dem Himmel (tian) bzw. der Gottgestalt des shangdi nur eine untergeordnete Rolle ein. Von der Kraft und Stellung, die den shen zu eigen ist, wäre mitunter auch die Bezeichnung »Heiliger« angebracht. Drei große Götterernennungen werden in der chinesischen Geschichte unterschieden: die erste unter dem mythischen Kaiser Huangdi (eben dem Xuanyuan, unter dessen Grabhügel die Fuchsgeister hausen), sodann die nächste zum Beginn der Zhou-Dynastie 1122 v. Chr. durch Jiang Shang (= Jiang Ziya) und die letzte wichtige während den ersten Jahren der Ming-Dynastie im 14. Jahrhundert, in der der Kaiser selber über die Ernennungen entschied. Die Götternennung in Investitur nun findet erst unmittelbar am Ende des Romans statt. Jiang Ziya begibt sich zum Himmelsbeherrscher im Jade-Leere-Palast am Berg Kunlun und bittet um Aushändigung der Jadetafeln mit den Dekreten zur Götterernennung. Damit sind die neuen Götter erlöst vom Kreislauf aus Geburt 635
Bei den folgenden Ausführungen beziehen wir uns auf HERBERT MÜLLERs Einleitung zu Metamorphosen der Götter, S. XX–XXII.
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und Tod und werden innerhalb der Götterhierarchie entsprechend ihren Verdiensten befördert, wobei man zwischen je vier oberen und unteren Klassen unterscheidet. Da es umständlich ist, das Schicksal von jedem der insgesamt dreihundertfünfundsechzig zu ernennenden Göttern zu schildern, bedient sich der Verfasser der Investitur der Darstellung einer literarischen Vorlage. Mit den Klassen der sechsunddreißig himmlischen und zweiundsiebzig irdischen Sterne erfolgt ein klarer Rückgriff auf den Roman der Räuber. Doch während die Sterne dort allesamt auf aktive Helden zurückgehen, tauchen die entsprechenden Gestalten in Investitur lediglich bei den Götterernennungen auf mit dem knappen Hinweis, daß die Helden dieser Gruppen »im Kampf der zehntausend Unsterblichen« ihr Leben ließen. Ansonsten stimmt die Ordnung der Sterne in beiden Romanen abgesehen von einigen unterschiedlichen Namen überein. Von den Göttergestalten außerhalb dieses Kollektivs tauchen eine ganze Reiche bereits in der Westreise auf.636 Interessant ist zudem, daß bei den Ernennungen keine Bewertung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem der beiden gegnerischen Lager vorgenommen wird, sondern daß die Seelen der toten Kämpfer aus beiden Lagern als Zeichen des »wahren Wegs« zum »Turm der Götternennungen« aufsteigen. Auf die Besetzung des Pantheon in Investitur treffen ähnliche Merkmale zu, wie wir sie weiter oben bereits in bezug auf Reise festgestellt haben. Auch hier finden sich wieder Hinweise auf die »Drei Lehren« (Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus), jedoch in anderer Zusammensetzung (nämlich die beiden Taoistenschulen und die »Lehre aus dem Westen«, d.h. den Buddhismus). In einer Unterredung des »Herrn der Wolken« (Yunzhongzi) mit König Zhou gibt der Verfasser womöglich seine Bevorzugung für den Chan-Taoismus zu erkennen. Die Konfuzianer werden darin als machthungrig angeprangert, versessen auf hohe Stellungen und Auszeichnungen, während die Jie-Taoisten der Hexerei anhingen (Kap. 5). Im Pantheon der Investitur läßt sich recht deutlich zwischen zwei Kategorien unterscheiden. Da sind zum einen die Götter und Dämonen im eigentlichen Sinne, Gestalten also wie Nüwa, die Tierdämonen Fuchs und Fasan sowie die Pflanzengeister. Zum anderen tauchen die Vertreter des taoistischen Dreigestirns auf. Im einzelnen ist hier zunächst Laotse zu nennen, der als Patriarch lediglich über einen Begleiter verfügt, welcher sein Reittier leitet. Außerdem ist da die Gestalt des »Himmelsbeherrschers« (yuanshi tianzun), seines Zeichens der Führer des Chan-Buddhismus mit Domizil auf dem Berge Kunlun im »Jade-Leere-Palast«. Nach einer Legende überstand diese führende taoistische Gottheit einst die Zerstörung und Neuschaffung des Universums, indem sie sich in einen unbeweglichen Felsen inmitten der stürmischen See verwandelte.637 Die Nähe zum Buddhismus 636 637
Vgl. dazu LIU: The Authorship of the Feng Shen Yen I, S. 153f. Vgl. WERNER: Myths and Legends, S. 128. Die literarischen Ursprünge der Gestalt gehen offenbar auf das Buch der Sui (Sui shu) zurück, wo es heißt, der Himmelsbeherrscher habe
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deutet sich gerade in der Gestalt des Himmelsbeherrschers an. Der Verfasser des Romans war sich dabei wohl des bestehenden Zeit-Problems bewußt: Obwohl die Handlung der Investitur zeitlich mehrere Jahrhunderte vor dem Aufkommen des Buddhismus angesiedelt ist, wollte er nicht ganz auf Gestalten aus dem reich bestückten Pantheon dieses Glaubens verzichten. So befinden sich unter seinen Schülern vier aus der buddhistischen Götterwelt: Krakucchanda-Buddha, der vierte der sieben alten Buddhas, dessen Geschichten sich u.a. in den Sutren »Mahapadhana« und »Dirghagama« findet sowie die Bodhisattva-Gestalten Manjusri, Samantabhandra und Avalokitesvara. Daneben gibt der Verfasser durch verschiedene termini technici seine Vertrautheit mit dem Buddhismus zu erkennen. Verstreut über das ganze Werk finden sich die entsprechenden chinesischen Vokabeln für Begriffe wie bodhi (Weisheit), karama (Vergeltung) oder samsara (Wiedergeburt).638 Bei der letzten der drei Führergestalten handelt es sich um den »Großen Himmelsherrn« (tongtian jiaozhu), den obersten Herrscher der Jie-Taoisten, welcher im »Palast des Grünen Flusses« residiert. Die Herkunft dieser Gestalt ist unbekannt. Allerdings ist bereits in den Aufzeichnungen des Großhistorikers von Sima Qian die Rede von einem »Himmelsturm« (tongtiantai), der für die Unsterblichen erbaut wurde. Nachdem auch der Ming-Kaiser Shizong (1522–1566) sich offenbar im Sommerpalast bei Peking einen »Himmelsturm« errichten ließ, um mit den Sternen in Verbindung zu treten, und da es weiterhin nicht unüblich war, daß sich Kaiser den Titel eines »Patriarchen« (jiaozhu) zulegten, scheint es durchaus möglich, daß mit dem tongtian jiaozhu der Kaiser selbst gemeint ist.639 In der Investitur ist der Große Himmelsherr jedenfalls eine negative Gestalt. So wird er bei der Zerstörung seiner Zauberfalle durch Laotse verwundet und zieht sich nach seiner Niederlage zurück, aus Furcht, den Jüngern unter die Augen zu treten. Auf Rache sinnend, schreibt er die Namen seiner Feinde auf eine Stele (Kap. 78). Dem Anspruch gerecht werdend, daß auch die göttliche Hierarchie mit ihren Rangunterschieden Strukturen einer wohlorganisierten Bürokratie erkennen lassen muß – ein typisches Merkmal übrigens für den chinesischen Pantheon640 – sind die drei Taoistenführer einem gemeinsamen Oberhaupt namens »Taoist Hongjun« (Hongjun daoren) unterstellt, der das vitale Prinzip in der Natur vor der Schöpfung verkörpert und im Purpurwolken-Palast lebt, ansonsten aber eine vollkommene Erfindung des Autors von Investitur ist. Dem weltlichen Antagonismus in Investitur zwischen den Reichen Shang und Zhou entspricht die religiöse Auseinandersetzung zwischen den taoistischen Sekten
638 639 640
bereits vor der uranfänglichen Leere existiert und Jahrmillionen ohne Veränderung überstanden. Vgl. dazu die Aufstellung bei LIU: The Authorship of the Feng Shen Yen I, S. 166–173. Vgl. dazu LIU: The Authorship of the Feng Shen Yen I, S. 141. Vgl. dazu ANTHONY CHRISTIE: Chinesische Mythologie, ins Deutsche übertragen von ERIKA SCHINDEL, Wiesbaden: Emil Vollmer 1968, S. 104.
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chan (von chanjiao, d.h. der »verkündenden Sekte«) – angeführt von Laotse und dem Himmelsbeherrscher – und jie (von jiejiao, d.h. der »hemmenden Sekte«), der der Große Himmelsherr vorsteht. Ähnlich wie bei den »Drei Lehren« stets auf die gemeinsamen Ursprünge hingewiesen wird (san jiao gui yi), so betont auch der Verfasser von Investitur immer wieder die gemeinsamen Wurzeln von chan und jie. Die beiden Begriffe hat es wohlgemerkt als formelle Bezeichnungen für Sekten in China so nicht gegeben, wenngleich der Terminus »chan« immerhin seit der Ming-Zeit als Bezeichnung für einen mit religiösen Fragen befaßten Beamten Verwendung fand. Darüber hinaus stellte der Begriff des »Königs zur Verbreitung der Lehre« (chanjiaowang) einen Ehrentitel für die politischen und religiösen Führer Tibets durch die Kaiser der Ming-Dynastie dar. Trotz der sich hier andeutenden Fiktionalisierung kommen mit chan und jie zwei konkrete Sekten des Taoismus zum Ausdruck, zwischen denen seit der Yuan-Dynastie unterschieden wurde: Zum einen die Zhengyi-Sekte (der »Aufrechte Eine«), die auf Zhang Ling aus der Späteren Han-Dynastie zurückzuführen ist und von dem es heißt, daß er ein Mittel zur Erlangung der Unsterblichkeit gefunden habe. Die Anhänger der Zhengyi-Sekte beriefen sich überwiegend auf Zauberformeln (fu) und magische Siegel (yin), von denen man annahm, daß sie Macht über Geister und böse Einflüsse besaßen. Zum anderen die Quanzhen-Sekte (der »Vollkommenen Wahrheit«), die auf den Gründer Wang Zhe aus der Song-Dynastie zurückgeht und sich intensiv mit dem Studium zur Anfertigung lebensverlängernder Elixiere, Atemübungen etc. beschäftigte. Die entscheidende Gestalt bei der Ernennung der Götter ist Jiang Ziya, ebenso wie König Zhou eine historische Figur. Im Roman wird berichtet, daß er sich vierzig Jahre lang zum Zwecke der Vervollkommnung auf dem Berge Kunlun aufgehalten hat und mittlerweile zweiundsiebzig Jahre zählt. Nach dem Beschluß zum Untergang der Shang durch Nüwa gibt ihm der Himmelsbeherrscher zu verstehen, daß ihm von Geburt an nur ein dürftiges Los zubemessen sei und keine Hoffnung bestehe, jemals Unsterblicher zu werden. Er soll daher anstelle des Himmelsbeherrschers die Götterernennungen vornehmen und dem Haus der Zhou zur Blüte verhelfen. Dieser Beschluß wird von den Führern des Chan- und des Jie-Taoismus sowie des Konfuzianismus gefaßt. Der Verkünder der Taolehre, der Himmelsbeherrscher im Palast der Jade-Leere auf dem Berge Kunlun hatte, da sich seine zwölf Jünger gegen die Gebote dieser Welt aufgelehnt hatten und die Strafe wegen Tötens über sich ergehen lassen mußten, den Palast geschlossen und seine Belehrungen eingestellt. Da ferner der höchste Herrscher des erhabenen Himmels befohlen hatte, daß die zwölf Häupter der Unsterblichen als Vasallen dienen sollten, verhandelten diese gemeinsam über die drei Lehren. Aus den drei Klassen der orthodoxen Lehre, der heterodoxen Lehre und der Menschenlehre verzeichneten sie gemeinsam dreihundertfünfundsechzig Götter, welche sie in acht Klassen teilten. Die vier oberen Klassen waren die des Donners, des Feuers, der Seuchen und des Dou-Gestirns; die vier
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Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi) unteren Klassen waren: erstens die Klasse der Sterne und Mondhäuser, zweitens die der drei Berge und der fünf heiligen Berge, drittens die der regenerzeugenden 641 und wolkensammelnden Götter und viertens die der guten und bösen Götter.
Bis das Ziel der Götterernennungen erreicht ist, hat Jiang Ziya jedoch einen schwierigen Weg zu gehen. Er flüchtet aus Zhaoge, wo der letzte Shang-König keine Verwendung für ihn hat. Erst als er in die Dienste Fürst Ji Changs tritt, der in dem geraume Zeit als Fischer lebenden Jiang das gesuchte Talent erkennt, beginnt sein Aufstieg zum Premierminister. Siebenmal wird Jiang Ziya in der Folge sterben, bevor er seine Mission beendet. Trotz der zentralen Bedeutung, die ihm im Werk zukommt, führt er doch nur das aus, was bereits festgelegt ist. »Der Niedergang der Shang und der Aufstieg der Zhou, die Übertretung des Tötungsverbots durch Unsterbliche sowie die Schaffung von Göttern durch den Himmelsbeherrscher – all das war vorherbestimmt und nicht zufällig.«642 Es ist erstaunlich, wie sich hier, wohl zurückgehend auf die Formen des chinesischen Volksglaubens, die Konzepte persönlicher Gottheiten mit solchen von unpersönlichen Mächten verbinden, wie Jiangs Hinweis auf die Wirkungsmacht des »Himmels« (tian) zeigt, nachdem er an dem von Han Rong gehaltenen Sishui-Paß eingetroffen ist.643 Als Han Rong herbeigeritten kam, erblickte er Jiang Ziya und rief: »Ich entbiete ihnen Grüße, General Jiang! Erinnert Ihr Euch nicht, wie es heißt: ›Du bist stets der Untertan des Herrschers!‹ Es ist demnach nicht recht, mit Truppen gegen die Shang zu ziehen und ihren Sturz herbeiführen zu wollen!« Jiang Ziya lächelte und sagte: »Ihr irrt, General! Nur ein aufrechter und tugendhafter Herrscher ist des Thrones würdig. Ein Herrscher ohne Tugend taugt nicht halb soviel wie ein gemeiner Stallmeister. Nur die Tugendhaften finden die Gnade des Himmels. Ist nicht König Jie aus der Xia-Dynastie von König Tang der aufstrebenden Shang angegriffen worden, als er zum Tyrannen wurde? Die Verbrechen von König Zhou sind noch viel schlimmer als die von König Jie. Alle Fürsten und Vasallen im Reich haben sich gegen ihn gestellt. Auf Befehl des Himmels sind die Angehörigen des Hauses der Zhou ausgezogen, um den Herrscher der Shang für seine Verbrechen zu strafen. Wie sollte ich mich dem 644 Befehl des Himmels entziehen?«
Die Ernennung selbst ist verbunden mit einem kultischen Ereignis. Nachdem der Himmelsbeherrscher dem Jiang Ziya die Tafel mit den Götterernennungen ausge641 642 643
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Metamorphosen der Götter, Kap. 15, S. 196. Investitur der Götter, Kap. 15, S. 126. Zu den unpersönlichen Mächten gehören ebenfalls »Glück« (fu) und »Schicksal« (ming). Lediglich die ungreifbaren Naturkräfte Wind und Wasser, die auf die häusliche Umgebung wirken und in der Geomantie von einem Wahrsager erkundet werden, scheinen vollkommen außerhalb der Göttersphäre zu stehen. (Vgl. CHRISTIE: Chinesische Mythologie, S. 106) Investitur der Götter, Kap. 74, S. 648.
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händigt hat, soll dieser auf dem Berg Qi die Errichtung des »Turms der Götterernennungen« veranlassen und die Tafel dort anbringen (Kap. 37). Auch wer am Ende zum Gott erhoben wird, ist schon festgelegt. Die meisten der berufenen Gestalten tragen die Wurzeln des Göttertums bereits in sich. Nur weil sie von minderer Erhabenheit sind, müssen sie erneut Anstrengungen übernehmen, um sich vor Erlangung der Göttlichkeit und Unsterblichkeit weiter zu vervollkommnen (Kap. 38). Der Überreichung der Tafel mit den Götterernennungen schließt sich – ebenfalls mythisch überhöht – unmittelbar die Begebenheit an, welche zu den sechsunddreißig Feldzügen führt, mit denen König Zhou West-Qi überzieht. Auf dem Weg zurück vom Palast des Himmelsbeherrschers mißachtet Jiang Ziya die Warnung, sich nicht umzuwenden, falls er von jemandem angerufen wird. Er schwört damit auf die gleiche Weise ein Unglück herauf wie Lots Frau in der Bibel (1. Mose 19.19), die sich Gottes Befehl widersetzt und noch einmal nach dem zerstörten Sodom umdreht, woraufhin sie zur Salzsäule erstarrt. Es ist Shen Gongbao, der den verhängnisvollen Ruf tut, wie Jiang Ziya ein ehemaliger Jünger des Himmelsbeherrschers und bemüht, Jiang zum Kampf auf die Seite der Shang zu ziehen. Mit der Weigerung Jiangs wird die folgende Bipolarität der verschiedenen Ebenen aufgebaut, wie sie sich in den Gegensätzen Shang-Zhou, Shen Gongbao-JiangZiya, Jie-Taoismus vs. Chan-Taoismus etc. äußert. Erst viel später (Kap. 72) gelingt es Krakucchanda, Shen festzunehmen und nur gegen das Versprechen freizulassen, den Jiang nicht weiter zu behelligen. Wir haben den umfangreichen Abschnitt mit der etwas monotonen Beschreibung der Kämpfe zwischen Shang und Zhou bisher bewußt ausgeklammert. Meist liegen Duelle zwischen mit überirdischen Kräften begabten Wesen auf beiden Seiten zugrunde, die magische Fallen errichten oder den Gegner mittels ihrer Zauberausrüstung bezwingen wollen. Eroberungen werden mit der Einnahme strategisch wichtiger Posten wie den Bergpässen (guan) vorgenommen. Eine der interessanteren Kriegergestalten in Investitur ist »Erdenwanderer Sun« (Tuxing Sun), mit der wir dies Übersicht über den Roman abschließen wollen. Weitgehend eine Erfindung des Autors, der sich jedoch Schilderungen über den lokalen Erdgott »Tudi« bedient haben dürfte, tritt Sun zum ersten Mal in Kapitel 52 in Erscheinung, wo er von Shen Gengbao entdeckt wird, als er sich zur Höhle des Fliegenden Drachens begibt. Mit seiner Zwergengestalt ist Sun in der Lage, unter der Erde zu laufen, ausgestattet ist er mit dem »götterwickelnden Strick« als Waffe. Nach seiner Aufnahme in die Armee des Deng Jiugong auf Seiten der Shang besiegt er eine Reihe prominenter Gegner wie Nedscha und Huang Tianhua. Zuversichtlich verspricht ihm Deng die Hand seiner Tochter Deng Chanyu für den Fall des Sieges über West-Qi. Dies ist auch sein wesentlicher Antrieb, als er sich eines Nachts unterirdisch in die Stadt der Feinde bis zum Palast König Wus begibt, in der Absicht, diesen zu töten. Mit einem wuchtigen Schlag trennt er dem Herrscher das Haupt vom Rumpf.
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Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi) Als er das Haupt des Königs vom Bett warf, fiel Suns Blick auf die Konkubine, die sanft schlummernd neben dem König ruhte. Der Anblick ihrer lieblichen Züge und der süße Duft, der ihrem Körper entströmte, erfüllten ihn mit Lust. »Wach auf, was schläfst du noch so fest?« rief Sun. Erschrocken fuhr die Konkubine aus dem Schlaf. »Wer bist du, daß du es wagst, hier nachts einzudringen?« »Ich bin kein anderer als der Erdenwanderer Sun, General der Armee der Shang. König Wu ist meinem Schwert bereits zum Opfer gefallen. Entscheide dich: willst du leben oder sterben?« »Ich bin nur eine schwache Frau. Was hättest du davon, wenn du mich tötest? Verschone mich, wenn du mich nicht als zu häßlich verschmähst, so will ich dir gerne dienen und dir deine Großmut ewig danken.« Sun mochte seine Begierde kaum noch zu unterdrücken. »In Ordnung«, sagte er, »wenn du mir hier und jetzt willens bist, dann will ich dich verschonen.« Die junge Frau lächelte und versprach alles zu tun, was Sun wünschte. Sun mochte sich kaum noch beherrschen, eilig entledigte er sich seiner Kleider, stieg ins Bett und wollte sie soeben umarmen, als die Frau ihn mit starkem Griff packte und ihm nahezu den Atem abdrückte. »Mein Liebling, nicht so feste!« rief Sun. »Du Schuft!« rief die Frau, »was denkst du, wer ich bin. Wachen, ergreift ihn!« Drei Wachen stürmten ins Zimmer und packten Sun, der nackt und wehrlos war. Als Sun nach der Konkubine blickte, sah er statt ihr Yang Jian vor 645 sich.
In der Erwartung von Sun Tuxings Besuch, hat man dem Erdenwanderer eine Falle gestellt, bei der gerade die Enthauptung des Königs eine von vielen Fingierungen war. Hauptinitiator ist der Taopriester Yang Jian, der unter Jiang Ziya kämpft und – wie hier auch deutlich wird – ähnlich wie Sun Wukong in der Lage ist, andere Menschen nachzuahmen bzw. sich von Wesen fressen zu lassen und sie dann von innen zu zerstören. Gelingt es in der soeben geschilderten Szene Sun Tuxing noch zu fliehen, so ist sein Schicksal spätestens besiegelt, als er auf Zhang Kui trifft, der wie Sun unter der Erde wandern kann, ihn gefangen nimmt und enthauptet (Kap. 87). In etwas abgewandelter Form stoßen wir bei einem umfangreichen Werk aus der Mitte des 19. Jahrhunderts noch einmal auf das Thema der Götter, die sich nach Bewältigung der irdischen Unbill versammeln. Sie tun dies am Pavillon der Gestickten Wolken (Xiuyun'ge), eben der Titel des Romans, den ein ansonsten nicht weiter bekannter Verfasser namens Wei Wenzhong im Jahre 1854 vorlegte. Es ist eines der wenigen längeren Bücher dieses Genres zum Ende der Qing-Zeit.646 Erzählt wird darin von dem »Wahrhaftigen des Dunklen Abendrots«, der auf Anordnung des obersten Taoisten-Gottes hin den Jünger Xu Wuzi auf die Erde 645 646
Investitur der Götter, Kap. 54, S. 462f. Pavillon der bestickten Wolke, Shenyang: Liao Shen-Verlag 1992, Ausgabe in 143 Kapiteln.
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entsendet, damit ein Pavillon errichtet werde, in dem die Anhänger des vervollkommneten Taoisten sich einst versammeln mögen. Als Li Sanjian inkarniert, ist der Jünger zahlreichen irdischen Widrigkeiten und Angriffen der Dämonen ausgesetzt und muß eine Reihe von Abenteuern bestehen, doch nimmt der Wahrhaftige seine schützende Hand nicht von ihm. Li Sanjian entsagt dem weltlichen Streben, um sich ganz dem Tao zu widmen. Nach dem Tode der Eltern und dem Ablauf der Trauerzeit reist er auf einer Wolke durch das Land, vernichtet Dämonen und vollbringt gute Taten. Mit der Schar der Jünger, die er um sich gesammelt hat, zieht er dann endlich zum Pavillon der Gestickten Wolken, wo alle zu Unsterblichen werden.
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5. Von der Diskussion über die Glaubensrichtungen zur religiösen Missionierung Die bisher behandelten Romane aus der späten Ming-Dynastie sind in ihren religiösen Aussagen oftmals nicht eindeutig festzulegen und spielen jedenfalls immer wieder mit den unterschiedlichen Denk- und Glaubensrichtungen. Mit mehr oder weniger verhüllter Ironie werden die Unsicherheit und Distanz der Gelehrten in ihrer Zeit betont und Brüche in der Tradition erkennbar. Reflektieren Werke wie Die Reise in den Westen also eher den Zeitgeist einer Epoche, so kommt es Autoren wie im Falle einiger zumeist kürzerer Bücher, die etwa zeitgleich mit Reise um die Wende des 16./17. Jahrhunderts entstanden und wegen ihres strukturellen Aufbaus nicht immer den Anforderungen eines Romans entsprechen, vielfach darauf an, eine konkrete religiöse Botschaft in ernsthafter Form zu vermitteln. Zwar liefert die inhaltliche Konzentration auf bestimmte zentrale Gestalten des Buddhismus und des Taoismus einen Hinweis auf die Volkstümlichkeit dieser Figuren, doch werden die Möglichkeiten der xiaoshuo zu einer erzählerischen Vertiefung der Berichte über Schicksale und Glaubensfindung der Protagonisten nur in seltenen Fällen genutzt, bleiben die Werke in der Regel eine Aneinanderreihung von Legendenmaterial, vermischt mit Inhalten aus entsprechenden Traktaten, Sutren und anderem religiösen Schriftgut. Die uns hier zunächst interessierende Erzählung von der Herkunft und der religiösen Vervollkommnung der Buddhagestalt Guanyin aus dem Südmeer (Nanhai Guanshiyin Pusa chushen xiuxing zhuan) über die äußerst beliebte buddhistische Erlösergestalt Guanyin, auf die wir weiter oben bereits im Zusammenhang mit Reise in den Westen zu sprechen gekommen sind, ist dabei noch eines der ausgefeiltesten Werke.647 Der fünfundzwanzig Kapitel umfassende Text, der in seiner frühesten Fassung wohl um 1600 angefertigt worden ist, nennt als Herausgeber einen gewissen Zhu Dingchen und bezieht sich mit dem Pseudonym »Xidawuzhen zouren aus Nanzhou« (Nanzhou Xidawuzhen zouren) auf einen anonymen Autoren. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, versteht sich das Buch als buddhistische Glaubensschrift mit dem Ziel, »zum Guten anzuleiten und das Böse auszumerzen«. Der Roman selbst ist in zwei größere Teile unterteilt. Der erste Komplex, welcher weitgehend mit den Schilderungen des Chan-Meisters Puming aus der Song-Dynastie in dessen »Schatzrollen vom Duftberg« (Xiangshan baojuan) übereinstimmt, berichtet darüber, wie König Miaozhuang, der ursprünglich Pojia hieß, aus dem Lande Xinglin mit seiner über vierzigjährigen Gattin Boya drei Töchtern bekommt namens Miaoqing, Miaoyin und Miaoshan. Da kein männlicher 647
Hier bearbeitet nach einem Druck in der Reihe Bekannte klassische Romane Chinas in hundert Bänden (Zhongguo gudian xiaoshuo mingshu baibu), Peking: Huaxia 1995.
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Thronfolger vorhanden ist, sucht der König bald nach passenden Gatten für die Mädchen. Während mit den Männern Zhao Kui und He Feng bald die geeigneten Kandidaten für Miaoqing und Miaoyin gefunden sind, lehnt Miaoshan eine Heirat ab und erklärt, Nonne werden zu wollen. Die zweite Romanhälfte erzählt, wie der Grüne Löwe und der Weiße Elefant sich zur Zeit, als man im Himmel mit dem Pfirsichfest der Königinmutter des Westens beschäftigt ist, auf die Erde begeben, um die Prinzessinnen Miaoqing und Miaoyin zu verführen und diese, als das nicht gelingt, in einem Felsgemach einsperren. Miaoshan rettet die Eltern und die beiden Schwestern. Alle finden schließlich zum Buddhismus. Sakyamuni befiehlt Nedscha, Löwe und Elefant in die Unterwelt zu bringen, doch Miaoshan setzt sich für die beiden ein und führt sie mit auf ihre Insel Putoraka, wo sie selbst später vom Jadekaiser zur gnadenbringenden Guanyin-Buddha ernannt wird. Auch die Schwestern Miaoqing und Miaoyin werden zu Buddhas erhoben und erhalten Löwen und Elefanten als Reittiere. Hatte die Erzählung über Guanyin trotz unbefriedigender erzählerischer Umsetzung durchaus noch etwas Romanhaftes, so läßt sich dieser Bezug bei der etwa gleichzeitig dazu von einem gewissen Zhu Kaitai angefertigten Erzählung über die Geburt und das missionarische Wirken des Bodhidarma (Damo chushen chuandeng zhuan) allenfalls noch im Titel feststellen.648 In den siebzig zumeist nur einige Zeilen umfassenden Textabschnitten rekurriert der Verfasser nahezu ausschließlich auf religiöses Schriftgut und diverse Legenden zu Bodhidarma, dem Begründer der buddhistischen Chan-Sekte, so daß von einer zusammenhängenden Erzählung kaum noch die Rede sein kann.649 Der Inhalt beschränkt sich darauf, in knappster Form Auskunft darüber zu geben, wie Bodhidarma als dritter Sohn des indischen Königs vom Xiangzhi-Land ein Anhänger der Lehre Sakyamunis wird, zunächst den Vater bekehrt und schließlich als Sektengründer mehrere Jahrzehnte lang im ganzen Lande missionarisch tätig ist, bevor er auf dem Seeweg nach China gelangt (ein Ereignis, das sich im Jahre 479 oder 520 zugetragen hat). Es kommt zu Konflikten mit den Konfuzianern, Bodhidarma ist bei seiner Missionsarbeit Verfolgungen durch Neider ausgesetzt, man richtet mehrere Giftanschläge gegen ihn, denen er jedoch entgeht. Schließlich stirbt Bodhidarma während einer Meditation. Shenguang führt die Arbeit des Meisters fort und steigt wie dieser am Ende in das Himmelreich Sakyamunis auf. Ähnlich wie die vorstehende »Erzählung« über Bodhidarma ist auch die in einem Druck aus 1604 vorliegende Erzählung über die vierundzwanzig Arhate, die die 648
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Ebenfalls bearbeitet nach einem Druck in der Reihe Bekannte klassische Romane Chinas in hundert Bänden (Zhongguo gudian xiaoshuo mingshu baibu), Peking: Huaxia 1995. Zur Gestalt Bodhidarmas, über den wenig gesichertes historisches Wissen vorhanden ist vgl. u.a. D. HOWARD SMITH: Chinese Religions, New York u.a.: Holt, Rinehart and Winston 1968, S. 128ff.
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Erleuchtung erlangen (Ershisi zun dedao Luohan zhuan) von einem Zhu Xingzuo nur eine lockere und wenig kohärente Zusammenfügung von kürzeren Berichten.650 Das auffälligste Merkmal an diesem Elaborat ist noch der formale Umstand, daß trotz der im Titel angekündigten vierundzwazig Arhat-Gestalten nur dreiundzwanzig wirklich ausgeführt werden. Sind die vorstehenden Werke inhaltlich mit populären Gestalten des Buddhismus befaßt, so wird mit dem ebenfalls zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfaßten Roman Das fliegende Schwert (Feijianji) aus der Feder des Deng Zhimo Material um Lü Dongbin (geb. 798), einen der Acht Unsterblichen (baxian) aus der taoistischen Glaubensrichtung verarbeitet, der auch in weiteren Romanen Berücksichtigung fand, wie wir weiter unten noch sehen werden.651 Die hier in dreißig Kapiteln vorgetragenen Legenden, welche u.U. nicht früher als zur Song-Dynastie im 12. Jahrhundert in eine Form gegossen wurden (möglicherweise zurückgehend auf den Umstand, daß Kaiser Huizong dem Lü Dongbin im Jahre 1115 den Titel eines Helden der überragenden Weisheit verlieh), decken sich zum Teil mit Darstellungen in Feng Menglongs Erzählsammlung Eindringliche Worte zur Ernüchterung der Welt (Xingshi hengyan). Um Lü existieren eine Reihe von Geschichten, der Titel des Romans geht zurück auf die ihm verliehene Waffe, die als das »Dämonen besiegende Schwert« (zhanyaokuai) bekannt ist. In volkstümlichen Darstellungen ist Lü dazu mit einem »Wolkenbesen« (yunzhou) ausgestattet, ein taoistisches Symbol mit Hinweis auf die Fähigkeit, zu fliegen und auf den Wolken laufen zu können. Geschildert wird nun in dem Buch, wie Lü mit zwanzig Jahren eine Reise zum Lu-Berg unternimmt, wo er auf den Feuerdrachen trifft, der ihn mit einem magischen Schwert ausstattet, welches es ihm erlaubt, sich in himmlischen Regionen zu verstecken. Während seines Besuches in der Hauptstadt Chang'an kommt Lü mit dem Unsterblichen Han Zhongli zusammen, der ihn in die alchemistischen Praktiken einführt und ihn die Herstellung lebensverlängernder Elixiere lehrt. Lü erklärt bald darauf, unter den Menschen die Wahrheit verbreiten zu wollen, doch wird er zuerst zehn Versuchungen ausgesetzt. Als er diese überstanden hat, wer650
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Bearbeitet wie die vorstehenden Werke nach einem Druck in der Reihe Bekannte klassische Romane Chinas in hundert Bänden (Zhongguo gudian xiaoshuo mingshu baibu), Peking: Huaxia 1995. Das fliegende Schwert liegt hier wie im Falle der anderen vorgenannten Werke in einer Ausgabe der Reihe Bekannte klassische Romane Chinas in hundert Bänden (Zhongguo gudian xiaoshuo mingshu baibu), Peking: Huaxia 1995 vor. Neben dem weiter unten ausführlicher besprochenen Roman Geschicke der Fuchsdämonen (Huliyuan) spielt Lü Dongbin auch in dem auf das Jahr 1623 datierbaren und dreißig Kapitel langen Roman Vollständige Erzählung von Han Xiangzi (Han Xiangzi quanzhuan) eine herausragende Rolle, der aus der Feder eines unter dem Pseudonym »Mann vom Zhiheng-Berg« (Zhiheng shan ren) bekannten Verfassers stammt, hinter dem sich ein gewisser Yang Erceng verbirgt.
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den ihm übernatürliche Kräfte verliehen gemeinsam mit magischen Waffen. Lü begibt sich auf Reisen durch das Reich, erschlägt Drachen und befreit die Erde von bösen Wesen. Einer anderen, hier nicht weiter ausgeführten Version zufolge trifft Lü den Han Zhongli in einer Wirtschaft beim Genuß von Reiswein. Nachdem er sich zu Han gesellt und mit dem Trinken begonnen hat, überfällt ihn alsbald der Schlaf, und er träumt, wie man ihn mit einem hohen Amt bedenkt, in dem er großen Reichtum erwirbt und fünfzig Jahre in Wohlstand verbringt. Eine Unachtsamkeit jedoch läßt ihn die Gunst des Herrschers verlieren, woraufhin man ihn ins Exil sendet und seine Familie hinrichtet. Allein in der Welt beginnt er, bitterlich zu weinen und wird dabei wach. Alles hat sich in einem kurzen Traum abgespielt. Die Szene ist in der chinesischen Literatur als der »Reiswein-Traum« bekannt. Von Deng Zhimo liegt ein weiteres religiöses Erzählwerk mit dem Titel Der eiserne Baum (Tieshuji) in fünfzehn Kapiteln vor, das sich auf das Jahr 1603 datieren läßt und die Kämpfe Zhenjuns gegen eine Reihe von Dämonen und bösen Geistern zum Inhalt hat.652 Wir wollen es bei diesen frühen um Vermittlung von Schicksal und Wirken diverser Figuren aus den in China verbreiteten Religionen bemühten Werken belassen und vielmehr am Beispiel des recht gut dokumentierten Romans Sieben Meister (Qizhenzhuan) zeigen, wie produktiv dieses Genre auch noch zum Ende der QingDynastie gewesen ist.653 Den geistlichen Bezug der Sieben Meister bildet die Heilslehre des Quanzhen-Taoismus. Das Werk gilt als religiöser Lehrroman und wird nur selten in die einschlägigen chinesischen Literaturgeschichten aufgenommen. Dabei liegt anders als der Titel nahelegt keine Biographie im historischen Sinne, sondern durchaus eine literarische Bearbeitung früherer Anekdoten und Hagiographien der Heiligen vor, wobei der Stoff bereits durch Yuan-zeitliche Dramen 652
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Gleichfalls veröffentlicht in der Sammlung Bekannte klassische Romane Chinas in hundert Bänden (Zhongguo gudian xiaoshuo mingshu baibu), Peking: Huaxia 1995. Eine chinesische Ausgabe stand für diese Bearbeitung nicht zur Verfügung, doch ist der neunundzwanzig Kapitel umfassende Roman, der unter verschiedenen Titeln bekannt ist, durch Übersetzungen gut dokumentiert. Hier wurde vor allem herangezogen GÜNTHER ENDRES: Die Sieben Meister der Vollkommenen Verwirklichung. Der taoistische Lehrroman Ch'i-chen chuan in Übersetzung und im Spiegel seiner Quellen, Frankfurt/M.: Peter Lang 1985 (Würzburger Sino-Japonica Bd. 13). Desweiteren lag eine englische Übertragung vor mit Seven Taoist Masters. A Folk Novel of China, übers. von EVA WONG, Boston & London: Shambala 1990. An wissenschaftlichen Arbeiten über das Werk seien neben der Untersuchung von Endes noch genannt WERNER EICHHORN: »Bemerkungen über einen taoistischen Roman«, in: Studia Sino-Mongolica. Festschrift für Herbert Franke, hrsg. v. WOLFGANG BAUER, Wiesbaden: Franz Steiner 1979, S. 353–361; außerdem eine neuere chinesische Analyse: »Untersuchung zur ›Erzählung über die sieben Meister und Heiligen‹« (»Qi zhen zushi liexian zhuan« kaozheng), in: ZHANG YING / CHEN SHU: Neue Untersuchungen zum chinesischen Kapitelroman (Zhongguo zhanghui xiaoshuo xinkao), Zhengzhou: Zhongzhou guji 1991, S. 107–135.
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vorgeprägt worden ist. Wie das Vorwort des Verfassers Huang Yongliang aus dem Jahre 1893 nahelegt, ist der Roman zum Ende der Qing-Dynastie entstanden. Die Neuerscheinungen bis in die Gegenwart hinein sind ein Zeichen für die anhaltende Popularität des verarbeiteten Stoffes. Der Vollständigkeit sei hier ein weiteres Erzählwerk mit ähnlichem Inhalt genannt, das gegen 1909 ebenfalls in der Umgangssprache verfaßt wurde. Die Rede ist von der Geschichte der Heiligen vom Goldenen Lotos (Jinlian xianshi) in vierundzwanzig Kapiteln, in der anders als im Falle der Sieben Meister mehr Wert auf den Niedergang der Jin (1115–1234) gelegt wird. Im Mittelpunkt des Romans von Huang Yongliang steht dagegen die historische Figur des Wang Zhe (1112–1170), dem Gründer des QuanzhenTaoismus. Zunächst im Militärdienst tätig, gründete Wang 1169 im Norden Shandongs mehrere religiöse Vereinigungen. Das eindeutige Anliegen des Autors und die Zielrichtung des Textes – nämlich zu überzeugen und eine Botschaft zu übermitteln – lassen den Verfasser auf erzählerische Ausschmückungen und Abschweifungen weitgehend verzichten. Das eigentliche Thema ist anders etwa als bei der Reise nicht in einer riesigen Textmenge interpretativ zu erschließen, sondern zieht sich in den verschiedensten Formen durch jede Szene des Buches, wodurch freilich nicht selten eine Art Predigtstil entsteht, wenn in die Grundlegenden Begriffe des Quanzhen-Taoismus wie »Reinheit« und »Vollkommenheit« eingeführt wird. Nun das geheimnisvolle Prinzip der vollkommenen Verwirklichung: »Vollkommen verwirklicht«, »vollkommen wahr« bedeutet ganz rein und echt und unverfälscht. Wer hat kein wahres Bewußtsein. Einmal verdreht und schon ist es vorbei! Wer hat kein wahres Denken? Einmal verwirrt und schon verloren! [...] Das ursprüngliche Bewußtsein ist wahr. Wenn es Trug wird, ist es das falsche Bewußtsein! Das Denken im Keim ist wahr. Wenn man plant, ist es falsches Denken! Die innersten Gefühle sind wahr. Wenn sie eigensinnig sind, sind es 654 falsche Gefühle.
Ähnlich, nur mit einem stärkeren moralischen Anspruch heißt es an anderer Stelle: Wenn man Unsterblicher, Buddha, Weiser oder Heiliger werden will, muß man seine Fähigkeiten in dem eigenen Bewußtsein gebrauchen. Wenn das Bewußtsein recht ist, ist auch die Person aufrecht, und dann sind auch alle Handlungen aufrecht. Wenn das Bewußtsein verderbt ist, ist auch die Person verderbt, und dann sind auch alle Handlungen verderbt. Deshalb muß, wer guten Wandel pflegt, zuerst sein Bewußtsein und dann sein Denken aufrecht machen. [...] Ist das Denken nicht aufrichtig, dann verwirren hundert leere Phantasien den Kopf und 655 das wahre Tao ist für ewig verloren. 654 655
ENDRES: Die Sieben Meister, S. 108. Ebd., S. 131.
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Die einzelnen Jünger, die Wang Zhe nach und nach zu sich nimmt, sind in der Erzählfassung der Sieben Meister nicht alle im gleichen Maße ausführlich behandelt. Im Roman repräsentieren sie die verschiedenen Möglichkeiten zur Erlangung des Tao.
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6. Der Wandel des Fuchsdämons – Romane zum Thema der religiös-ethischen Selbstvervollkommnung Es fällt bei der Lektüre der Romane aus der Ming- wie der Qing-Zeit auf, daß das Schlechte und Böse selten als abstraktes, beherrschendes Prinzip aufgefaßt werden, sondern viel eher im Zustand der mangelnden Erleuchtung und Selbstvervollkommnung auftauchen. Es geht um ein »verwirrt sein« bzw. ein »noch nicht wissen«. Die regulierende Kraft ist nicht das Gewissen, sondern das Gute, personifiziert in einer mit zerstörerischen Kräften begabten Gottheit, die seltener belehrt und gefügig macht als grausam straft bis hin zur physischen Vernichtung. Je unerleuchteter sich ein Wesen zeigt, desto grausamer ist die Strafe. Doch gilt es, hier mehrere Ebenen zu unterscheiden. Die Python, gegen die Sun Wukong – selber ein Wesen auf dem Wege zur Vollkommenheit – in der Reise in einem für das Reptil aussichtslosen Kampf antritt, ist noch ganz Tier. Daji, trotz langer Bemühungen der bösen Natur noch nicht ganz ledig, hat zumindest schon ein höheres Stadium erlangt und dürfte beispielgebend am ehesten jenen Typus des Menschen im chinesischen Weltbild repräsentieren, der ungeachtet aller Anstrengungen nicht fähig oder nicht willens ist, ein höheres Bewußtseinsstadium zu erlangen. In der Verkleidung des Tieres wird der Umstand des »Unerleuchtetseins« besonders deutlich, denn das Tier entbehrt mit seiner Instinkthaftigkeit anders als der Mensch die »Fähigkeit zum Bösen«, d.h. der willentlichen Zerstörung, der Freude am Töten etc. Hier handelt es sich also um etwas anderes als die Fabelwelt etwa bei La Fontaine, die mit lauter Tieren bevölkert ist, welche durch ihre Rede und ihr Verhalten aber ganz deutlich den Typen, ja nicht selten auch eine ganz bestimmte historische Person erkennen lassen. Die abendländische Literatur hat sich ohnehin immer gerne der Tier-Metaphern bedient, um noch deutlicher auf das Menschliche abzuheben, wie die Beispiele Anatole Frances (L’île des Pingouins) oder George Orwells (Animal Farm) belegen. In der chinesischen Tier-Gestalt, die nicht selten ein Zwitterwesen ist, wird hingegen eine ontologische Variante schlechthin angeboten. Tier und Mensch, das menschlich Gute und das tierisch Unerleuchtete, halb Mensch halb Tier – hier deuten sich Gegensätze an, die die Wege zur Erlangung der Vollkommenheit nach allen Seiten offenlassen und mit denen über Geburt und Reinkarnation weit größere Zeiträume als solche eines einzelnen Menschenlebens angedeutet werden. Das Menschentum selber wird relativiert. Was ist der Mensch anderes als ein Wesen, das sich auf dem Weg vom unerleuchteten Tierwesen zur übermenschlichen Göttergestalt befindet? Wir müssen es dahingestellt lassen, hinter den einzelnen Tiergestalten in der chinesischen Erzählkunst, denen vor allem in den vom Taoismus bzw. Buddhis-
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mus geprägten Texten breiter Raum für Zauberei und Verwandlungen eingeräumt wird, jeweils die entsprechenden Typen von Wesen bzw. Menschen ausfindig zu machen. Zweifelsohne deutet sich im Bild des Affen etwas von der ohnehin evolutionär deutlich gewordenen Ähnlichkeit zum Menschen an. Der Affe erscheint unter den Tierwesen als am wenigsten schlecht und grausam und mittels weiterer Anstrengungen am ehesten fähig, einen Schritt hin zur Vollkommenheit zu tun. Anders dagegen der Fuchs. Er verhaftet noch stark dem Bereich des Tierischen, macht jedoch als menschlich-tierisches Mischwesen (z.B. als schöne Frau) die unerleuchtete Natur besonders deutlich, wie ein Zitat aus dem ersten der hier zu untersuchenden Romane belegt: Nun sind zwar unter allen Tieren die Affen die klügsten und gelehrigsten. An Verstellung und täuschendem Zauber indes werden sie noch von den Füchsen übertroffen, deren Umtriebe vielschichtig und undurchsichtig sind. [...] Wenn in der Welt eine Füchsin einen Mann verführen will, dann verwandelt sie sich in eine anmutige Frau. Wenn ein Fuchs eine Frau verführen will, dann verwandelt er sich in einen schönen Mann. Dies geschieht jeweils, indem diese Tiere die Samenpotenzen oder die Kraft des Blutes eines Menschen an sich ziehen und durch lange Askese verwandeln. Wie vollziehen sie diese Verwandlung dann? – Voraussetzung ist natürlich, daß ihnen ein solches Schicksal vorherbestimmt ist. Wenn dann eine Füchsin sich in eine Frau verwandeln will, bringt sie zunächst die Schädelkalotte einer verstorbenen Frau, und wenn ein Fuchs sich in einen Mann verwandeln will, die Schädelkalotte eines verstorbenen Mannes an sich. Diese stülpen sie oder er über den eigenen Kopf und senden dabei ein Gebet an den Mond empor. Wenn der rechte Augenblick für eine täuschende Verwandlung noch nicht gekommen ist, dann fällt dieser Schädelknochen dabei sogleich wieder von ihrem Kopf herunter. Andernfalls aber haftet er wie angegossen auf diesem. Dann verbeugen sie sich nochmals siebenmal sieben, das ist neunundvierzig mal gegenüber dem Mond – und schon haben sie die Gestalt eines Mannes oder einer Frau. Schließlich brauchen sie nur noch einiges Laub oder einige Pflanzenblätter abzupflücken und sich damit den Körper zu bedecken, und im 656 Handumdrehen wird daraus ein farbiges neues Kleid.
Der Roman Niederschlagung der Dämonen (Ping yao zhuan) offenbart mit seinen Tier- und Fuchsgestalten ein recht umfangreiches Spektrum an Wesen, die mit unterschiedlichem Erfolg auf dem Wege zur Erleuchtung sind. Doch die Hybris, sich in den Ablauf historischer Vorgänge einzumischen, wird den Wesen zum Verhängnis und führt zu ihrer Vernichtung. Eine frühe und kürzere Fassung des Romans wohl aus dem Ende des 14. Jahrhunderts mit dem Titel Die drei Sui 656
LUO GUANZHONG: Der Aufstand der Zauberer. Ein Roman aus der Ming-Zeit in der Fassung von Feng Menglong, aus dem Chinesischen und mit einem Vorwort von MANFRED PORKERT, Frankfurt/M.: Insel 1986, Kap. 3, S. 49f.
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Romane zum Thema der religiös-ethischen Selbstvervollkommnung
bezwingen die Dämonen (San Sui ping yao zhuan)657 hebt noch stark auf die geschichtlichen Zusammenhänge ab, was bei dem als Verfasser genannten Luo Guanzhong auch nicht wundert, ist er uns doch als Autor bzw. möglicher Inspirator einer Reihe von historischen Romanen im Gedächtnis. Die gesamte FuchsGenese fällt in dieser Fassung fort, so daß der Roman erst mit einer Szene aus dem sechzehnten Kapitel des jüngeren und umfangreicheren Werks einsetzt, wie es aus der Bearbeitung durch Feng Menglong (1574–1646) vorliegt.658 Für Feng, der sich ansonsten vor allem als Herausgeber und Verfasser von Erzählungen hervorgetan hat, war die Niederschlagung der Dämonen der einzige romanhafte Stoff, den er vermutlich zum Ende des 16. Jahrhunderts gestaltet hat.659 Der historische Hintergrund des Romans ist schnell erzählt und geht auf eine Begebenheit aus der Zeit der Nördlichen Song (960–1127) zurück. Ein untergeordneter Offizier namens Wang Ze (?–1048) wiegelte damals im Jahre 1047 die Angehörigen einer Garnison und schließlich die gesamte Bevölkerung der Gegend gegen die Übergriffe eines korrupten Beamten auf und machte sich für sechsundsechzig Tage zum Herrn über die Bezirkshauptstadt und die Provinz.660 Im Roman ist Wang Sohn eines reichen Grundbesitzers und bekleidet in der Präfektur Beizhou einen Beamtenposten. Mit den Dämonen gerät er aufgrund der Verknüpfung der Schicksalsfäden in Verbindung, ist er doch eine Inkarnation der Tang-Kaiserin Wu Zetian (624–705), die im Jahre 690 eineinhalb Jahrzehnte lang die Macht an sich riß. Einen aufwendigen, verschwenderischen Lebensstil pflegend und der Weiblichkeit ohnehin zugetan, lernt Wang Ze auf dem Marktplatz der Stadt eines Tages Bleibchen Hu (Hu Yong'er) kennen, die im Roman (Kap. 16) bereits eine Wiedergeburt als ehemalige Fuchsgeist-Frau Liebäugelchen (Hu Mei'er) durchgemacht hat, ursprünglich aber in einem früheren Leben als Zhang Changzong (eine berühmte Literatengestalt) der Kaiserin Wu Zetian zugetan war. Auf das einst gegebene Versprechen der beiden, sich in allen künftigen Leben und Wiedergeburten stets als Mann und Frau verbunden zu bleiben, geht der Geschlechtertausch zurück, den sie während der Ereignisse im Roman durchmachen. Auch die Richtergestalt in Form des »Sterns des natürlichen Alters«, die die beiden ihrer Strafe zuführt, geht auf einen historischen Vorläufer zurück. Es ist niemand anders als der betagte Wen Yanbo, die Inkarnation des Tang-Gelehrten Zhang 657
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Hier in der Fassung nach einem Ming-zeitlichen Manuskript in zwanzig Kapiteln, hrsg. vom Beijing daxue-Verlag 1983 in Peking. Die Handlung von Drei Sui und Niederschlagung ist ab Kapitel 16 weitgehend identisch, abgesehen von der Tatsache, daß Feng die meisten Szenen weit ausführlicher beschreibt und daneben Stoffe aufgenommen hat, für die sich bei Luo kein Beispiel findet. Der Roman wurde hier in der Fassung Ping yao zhuan, Shanghai: Shanghai guji 1981 und nach der deutschen Übersetzung LUO GUANZHONG: Der Aufstand der Zauberer bearbeitet. Festgehalten sind die Zusammenhänge über den von Wang Ze angezettelten Aufstand in den Annalen der Song (Songshi), juan 292, Abschnitt über die »Biographie des Ming Gao« (Ming Gao zhuan).
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Dianzhi, der im hohen Alter von achtzig Jahren das Amt des Kanzlers erhielt, die kaiserliche Leibgarde gegen den Clan der Wu Zetian einsetzte, in der Folge jedoch abgesetzt und zu Unrecht getötet wurde. Aus Erbarmen berufen ihn die himmlischen Instanzen auf den Posten des »Sterns des natürlichen Alters« und lassen ihn als Wen Yanbo in der Song-Zeit Gestalt annehmen. Die Niederschlagung der Dämonen hebt an mit der Schilderung der Vorgänge um die Fuchsmutter »Vorbildhafte Frau« (Sheng gugu) und ihre beiden Jungen Brestling Hu (Hu Chu'er) und »Liebäugelchen« (Hu Mei'er). Unter den Tierwesen im Roman ist die »Vorbildhafte Frau« sicherlich die eindrucksvollste Gestalt. Sie besticht durch ihre Moralität und steigt als einziges der Tiere bis in die Region der himmlischen Gottheiten auf. Ihr Weg zur Erlangung der Vollkommenheit wird im ganzen Werk über nicht aus dem Blick verloren. In einer Vorstufe der Erleuchtung, freilich schon mit einer Reihe übernatürlicher Fähigkeiten begabt, beeindruckt sie den Beamten Yang Chun in Kaifeng, bei dem sie Aufnahme findet. Indem sie mit Blendwerk übersinnliche Erscheinungen im Hause des Yang hervorruft, wird sie fortan als »lebender Buddha« verehrt. Gerade mit Hilfe der Texte von der Wand der Grotte der Weißen Wolken, die ihr später gezeigt werden, gelangt sie zu einem tieferen Verständnis ihrer eigenen Existenz im Gefüge des Kosmos. Der Himmel ist Yang, die Erde Yin; der Himmel ist unbestimmbar, die Erde ist fest; der Himmel ist geehrt, die Erde ihm untergeordnet; der Himmel ist einfach, die Erde kompliziert. Wenn jemand über die Methoden der irdischen Dämonen verfügt, so vermag er nur allen gefühlsbegabten, körperlichen Wesen zu gebieten und in der Menschenwelt Verwandlungen hervorzurufen. All diese aber sind ihrerseits der himmlischen Zahl unterworfen. Wenn jemand die Methoden der himmlischen Gottheiten vollendete, könnte er wie ein Genius sich im Himmel ergehen, den Unsterblichen befehlen, und selbst der Höchste Kaiser vermöchte 661 ihn zu nichts zu zwingen.
Da die Füchsin jedoch die Fähigkeit zum Tao in sich trägt, macht sie mit der Zeit einen Wandel durch, der sich auch äußerlich ankündigt: Mit bemooster Gestalt, verwittertem Gesicht, schneeigem Schläfenhaar und mächtigen Augenbrauen, auf dem Kopf einen Sternenhut, in einem Kleid aus gewebten Kranichdaunen war sie wahrlich eine achtungsgebietende Erscheinung, die den 662 Staub der Welt hinter sich gelassen zu haben schien.
Obgleich sich die Füchsin auf die Seite der Zauberer um Wang Ze stellt und an ihrer Seite kämpft, hat sie sich doch bereits in einem solchen Maße vervoll661 662
Der Aufstand der Zauberer, Kap. 12, S. 215. Ebd., Kap. 18, S. 334.
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Romane zum Thema der religiös-ethischen Selbstvervollkommnung
kommnet, daß ihr die am Ende von dem Affenfürsten und der Geheimnisvollen Jungfrau des Neunten Himmels drohenden Strafen nichts anhaben können. Früher noch als die Füchsin zieht sich der Ei-Mönch von dem mörderischen Treiben des Wang Ze zurück und begibt sich ins Kloster der Süßen Quelle vor den Toren Beizhous. Weder Brestling Hu noch Liebäugelchen, die Kinder der Füchsin, können es ihr gleichtun. Sein langer Aufenthalt in einem taoistischen Kloster bleibt für Brestling Hu geistig-moralisch ohne Folgen. Seine Fähigkeiten entfaltet er erst in der Umgebung des Wang Ze, als er mit Zauberkräften begabte Kämpfer rekrutiert und mittels seiner Zauberkünste mit Scharen von Tigern, Wölfen, Leoparden etc. über die gegnerischen Truppen herfällt, ein Weg, der nur mittels eines Gegenzaubers wirkungslos gemacht werden kann. Als Zauberer an der Seite des Wang Ze findet Brestling Hu schließlich den Tod, nachdem er den Göttern durch einen Blick in den Spiegel seine wahre Existenz preisgeben muß. Liebäugelchen, die dritte der drei zentralen Fuchsgestalten, steht ganz im Bann der himmlischen Verfügungen und in einer schicksalhaften Verbindung mit der Tang-Kaiserin Wu Zetian. Ihr Vergehen besteht vor allem darin, den ihr durch die Fuchsnatur mitgegebenen verführerischen Charakter nicht abgelegt zu haben. Mit ihren betörenden Kräften führt sie verschiedene Männer in den Ruin. Die Niederschlagung der Dämonen in der Fassung des Feng Menglong ordnet sich mit ihrer distanzierenden Haltung gegenüber den Religionen noch recht gut in den geistigen Hintergrund der späten Ming- bzw. frühen Qing-Zeit ein. Das Thema der Vervollkommnung der Fuchswesen ist in der Folge noch vielfach übernommen worden. So liegt etwa aus dem frühen 19. Jahrhundert ein zweiundvierzig Kapitel umfassendes Werk mit dem Titel Die Erzählung über Yaohua vor, das aus der Feder eines gewissen Ding Bingren aus Suzhou stammt.663 Berichtet wird darin von einem Fuchs aus Haozhou, der bestrebt ist, Unsterblicher zu werden. Doch nicht durch Reinheit und Askese, sondern mit Sex-Praktiken und die Erlangung der weiblichen Yin-Kraft will er an sein Ziel gelangen. Für die zahlreichen Opfer unter den Mädchen, die sich mit ihm eingelassen haben, wird er vom Schwert-Gott mit dem Tode bestraft. Wie variabel das Fuchsdämonen-Motiv literarisch einzusetzen war und wie stark dabei prägende Stoffe aus anderen Genres der chinesischen Erzählkunst zur Anwendung kamen, zeigt das folgende Beispiel, mit dem wir diesen TierdämonenBereich innerhalb des Komplexes vom mythisch-religiös-phantastischen Roman verlassen wollen. Zu Beginn der Guangxu-Ära (1875–1908) erschien ein kurzer Roman mit dem bezeichnenden Titel Die Geschicke der Fuchsdämonen (Huli 663
Der Roman dürfte um 1803 entstanden sein und liegt in einer Fassung Yaohua zhuan, Shenyang: Liao Shen-Verlag 1992 vor.
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yuan),664 der sich bereits deutlich von dem religiösen Motiv abwendet und vielmehr Einflüsse aus dem Genre des Liebesromans, insbesondere denen über »Talente und Schönheiten«, aufweist. Durch seine Reduzierung auf die Ebene des Menschlichen bringt der Roman auf einer psychologischen Ebene etwas vom Charakter des Bösen in der Natur des Menschen zum Ausdruck und dokumentiert dazu eindrucksvoll die unterschwellige Furcht des Mannes vor der schönen Frau. Der anonyme Verfasser, der uns lediglich unter dem Pseudonym »Trunkener Einsiedler unter dem Mond« (Zuiyue shanren) bekannt ist,665 bediente sich bei der Abfassung von Die Geschicke der Fuchsdämonen der Vorlage einer rhythmisch vorgetragenen Erzählung (tanci) des Titels »Grünsteinberg« (Qingshishan), mit dem der Ort der Handlung westlich von Ningbo in der Provinz Zhejiang bezeichnet ist, eine Gegend, die im Roman von Beginn an sehr geheimnisvoll anmutet: Schon immer hat es geheißen, daß sich seit alters her tief in den Bergen oftmals Höhlen befänden, in denen Geister und Dämonen hausten. Der Grünsteinberg gehörte zwar nicht zu den landschaftlich schönsten Orten des Reiches, doch stellte er im Westen Zhejiangs durchaus einen malerischen Ort dar: Steil in den Himmel ragend, war der Gipfel des Berges die meiste Zeit in dichten Nebel gehüllt. Es hieß, an einer Stelle des Berges befinde sich eine alte Grotte mit Namen Chaya, in der eine Rotte von Fuchsdämonen ihren Bau besaß, nachdem kein Wahrhaftiger darauf Ansprüche angemeldet hatte, um die Höhle als Ort für seine Bemühungen um die Erlangung reiner Geistigkeit zu nutzen. Angeführt wurde die Rotte von einer Füchsin mit neungliedrigem Schwanz, die von den übrigen Mitgliedern der Fuchsgemeinde auch »Göttin Jadegesicht« genannt wurde. Gewöhnlich haben die Füchse ein helles, oftmals geflecktes Fell, das von Kürschnern zurechtgeschnitten und zu den verschiedensten Pelzkleidern verarbeitet wird. Nur das Fell der ältesten Füchse ist ganz schwarz und daher auch am teuersten. Auch das Fell der Füchsin Jadegesicht in der Chaya-Höhle war ganz schwarz, und ihr neungliedriger Schwanz war Ausdruck dafür, daß sie bereits seit neuntausend Jahre auf dem Wege des Tao wandelte. Jeweils nach
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Huli yuan liegt hier in einer Ausgabe von zweiundzwanzig Kapiteln, erschienen in Peking: Beijing Shifan daxue 1992 vor. Für die Popularität des Werkes spricht die Ankündigung eines Folgewerks am Ende des letzten Kapitels mit dem Titel Die spätere Erzählung von den Geschicken der Fuchsdämonen (Xu huli yuan hou zhuan). Der tatsächliche Name des ursprünglichen Verfassers des in vier Textvarianten erhaltenen Romans ist nicht auszumachen. Wie aus Bemerkungen im Vorwort zu entnehmen ist, stammte er aus Ningbo. Etwas besser ist es um die Identität des Herausgebers dieses Werkes aus der frühen Republikzeit bestellt, bei dem es sich um Jiang Dielu handelt. Zu den genaueren Lebensumständen Jiangs ist auch hier nichts bekannt, doch trat er zumindest als Verfasser mehrerer wuxia-Romane und Erzählungen in Erscheinung, darunter Titel wie Die weiße Braue (Bai meimao), Wen Ruyu u.a. Vgl. ZHANG YING / CHEN SU: Neue Untersuchungen zum chinesischen Roman (Zhongguo zhanghui xiaoshuo xin kao), Zhengzhou: Zhongzhou guji 1991, S. 246–251.
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Romane zum Thema der religiös-ethischen Selbstvervollkommnung zehntausend Jahren erst nehmen die Füchse ein weißes Fell an, was ihnen dann den Namen »Jadegesicht« gibt, da das Fell zunächst vom Kopf her die Farbe 666 wechselt.
Ganz in der Nähe des Grünsteinberges lebt nun der betagte Beamte Zhou Bin mit seinem Sohn Zhou Xin, dem Knecht Li Zhong (Spitzname »Graukopf«) sowie dessen Sohn Yanshou. Nach seinem Tod findet Zhou Bin in einem Wald an den Hängen des Grünsteinberges seine letzte Ruhestätte, und genau dort ist es auch, wo Zhou Xin eines Tages zur Zeit des Allerseelenfestes im Frühling auf die Füchsin Jadegesicht trifft, die in Gestalt einer schönen jungen Frau in der Gegend lustwandelt. Blicke zwischen den jungen Leuten werden ausgetauscht, vergessen sind die vieltausendjährigen Bemühungen der Füchsin um das Tao, Sehnsucht und Lust überkommen sie. Jadegesicht, die sich für eine gewisse Hu (homophon für die chinesische Bezeichnung »Fuchs«) Yunxiang ausgibt, verspricht Zhou Xin, ihn nachts in seiner Bibliothek zu besuchen. Verdacht über die geheimnisvolle junge Frau, die nicht vom Ort stammen kann, kommt lediglich dem alten Graukopf, kennt er doch alle Anwohner. Zurück in ihrem Bau am Grünsteinberg, legt die Füchsin ihrer Gemeinde die Pläne dar. Die übrigen Füchse unterstützen sie in dem Bestreben, Zhou Xins Lebenskraft zu rauben und schließlich als Gottheit in den »Daluo«-Himmel, das heißt den höchsten der sechsunddreißig taoistischen Himmel aufzusteigen Es beginnt nun ein heimliches Techtelmechtel mit regelmäßigen nächtlichen Besuchen der Füchsin im Hause des Zhou Xin, der sich unter dem Vorwand, fleißig zu lernen, seiner Dienerschaft mehr und mehr entzieht. Doch das Vergnügen des Pärchens aus Mensch und Tier bleibt nicht ohne Folgen, Zhou Xins Kräfte sind dem intensiven Verlangen der Füchsin nicht gewachsen, und er verfällt immer mehr. Auch Jadegesicht stößt mit ihrem Drängen nach Lust auf Kritik und muß sich von einer zu Besuch weilenden Freundin namens Phönixflöte ermahnen lassen, sich aus dem »Netz der Triebe« (yuwang) zu befreien und sich aufrecht um das Tao zu bemühen. Angesichts der körperlichen Schwäche ihres Gespielen sieht die Fuchsfrau ihren Plan, Zhou Xin so viel von seiner Lebenskraft zu rauben, daß sie in die Lage versetzt wird, Unsterblichkeitspillen herzustellen, bedroht. Sie beschließt daher, sich die fehlenden Essenzen durch den Genuß eines jungen Mannes zu verschaffen, und ihr Blick fällt also eines Tages auf den Yanshou, der heimlich über den Gartenzaun geklettert ist, um das reife Obst an den Bäumen zu stehlen. Yanshou macht der schönen Frau Vorwürfe wegen ihres Verhältnisses zu Zhou Xin, Haß wallt in der Füchsin auf, sie nimmt ihre ursprüngliche Gestalt an, beißt ihn tot und beginnt, ihn genüßlich zu verspeisen.
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Geschicke der Fuchsdämonen, Kap. 1, S. 2.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG Als die Fuchsdämonin sah, daß der Knabe tot war, riß sie ihm eilig die Kleider vom Leibe und öffnete mit scharfen Krallen seinen Brustkasten. Dann klaubte sie zwischen Muskeln und Knochen, bis sie auf seine Eingeweide stieß. Überglücklich steckte sie ihre spitze Schnauze in die zertrümmerte Brust und soff zunächst das ganze Blut. Anschließend griff sie mit ihren Pfoten gierig nach den Eingeweiden und biß genüßlich auf ihnen herum, bis sie schön weich waren. Sodann pulte sie noch die Augen aus den Höhlen und schluckte sie hinunter. Es wurde ein herrlicher Schmaus für die Füchsdämonin. Nach einer Weile waren vom Oberkörper nur noch die Knochen übrig. Sie klemmte die beiden Beine des Toten zwischen ihre Läufe und eilte davon zu ihrer Höhle, um sie dort zu ver667 speisen.
Erschüttert findet schließlich Graukopf die jämmerlichen Überreste seines Sohnes, sein Verdacht, Zhou Xin, sein Herr, könne von einem Fuchsdämonen besessen sein, erhärtet sich. Ermahnungen des Knechts bleiben jedoch unerhört. Erst als Li Yuxiang nimmt die Füchsin später wieder menschliche Gestalt an und heiratet Zhou Xin, der dennoch nicht der Strafe für seine Ausschweifungen entgeht und seine späten Jahre in geistiger Umnachtung verbringt.
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Ebd., Kap. 4, S. 28.
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7. Sonderlinge aus höheren und niederen Welten Eng verbunden mit dem Bereich des mythisch-Phantastischen in der frühen chinesischen Erzählkunst ist die Gestalt des Sonderlings. Begabt mit übernatürlichen Kräften von der Art, wie wir sie bereits bei dem Affenkönig Sun Wukong kennengelernt haben, ist der Wirkungskreis des Sonderlings in unserem Genre oftmals fließend und kann ebenso im Diesseits wie im Jenseits liegen. Das dem Sonderling eigene Verhalten ist ihm dabei zumeist aufgrund eines höheren Auftrages mitgegeben und beruht auf der Tatsache, daß sein Wirken zumal in der Umgebung der Menschen, die ihn oftmals nicht als mit der Götterwelt in Verbindung stehende Gestalt erkennen, befremdlich und vom Durchschnittlichen abweichend wirkt. Die Rolle, die der Sonderling in der konkret-menschlichen Umgebung einnimmt, offenbart deren Mängel und Schwächen um so stärker und verleiht dem Werk einen satirischen Charakter. Die Schaffung eines Handlungsrahmens mit Bezügen zu ferneren Epochen der Vergangenheit kann dabei nicht über die gegenwartsnahe Zeitkritik hinwegtäuschen.668 Gerade dort, wo die gesellschaftlichen Normen nicht mehr als einzig gültig anerkannt werden, bekommt der Sonderling seine positiven Akzente im Zuge einer Sozialkritik, die ihm die Rolle des Mahners zumißt. Einer der frühesten Sonderlinge, deren Gestalt Eingang in die Erzählkunst fand, war die des Mönchs Ji Dian, der möglicherweise sogar eine historische Persönlichkeit zugrunde liegt. Darüber, in welcher Zeit diese Person gelebt hat, bestehen allerdings Zweifel. Nach einigen Quellen zu urteilen, lebte Ji Dian in der SongDynastie und wirkte in dem berühmten Lingyin-Tempel am Westsee in Hangzhou. Die Mönchsregeln soll er durch den Genuß von Fleisch und Alkohol stets verletzt haben, und sein sonderbares Betragen hat ihm angeblich den Namen »Der verrückte Ji« eingetragen. Einer Legende zufolge spendete Ji Dian auf wunderbare Weise Holz für den abgebrannten Lingyin-Tempel und starb im Jahre 1208.669 Einer anderen Quelle zufolge gab es in der Song-Dynastie keinen Mönch 668
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Vgl. zu dem Komplex u.a. HERMAN MEYER: Der Sonderling in der deutschen Dichtung, Frankfurt/M. u.a.: Ullstein 1984, S. 25. Vgl. zu diesen Angaben u.a. die Ausgabe Der Heilige als Eulenspiegel, zwölf Abenteuer eines Zenmeisters, aus dem Chinesischen von LIU GUANYING, Basel/Stuttgart: Benno Schwabe 1958, S. 5f. (Übertragung von zwölf Geschichten der zweihundertvierzig Kapitel umfassenden Ausgabe des Chinesischen). Weitere zwölf Geschichten über Ji Dian in einer westlichen Sprache, die IAN FAIRWEATHER in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ins Englische übertrug, erschienen unter dem Titel The Drunken Buddha, Brisbane: University of Queensland Press 1965. Daß es sich bei Ji Dian um mehr als eine fiktive Gestalt gehandelt haben könnte, belegt auch eine Schrift mit dem Titel Berichte über Reisen am Westsee (Xihuzhi you) aus der Feder des Ming-zeitlichen Verfassers TIAN RUCHENG, wo es
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namens Ji Dian. Die sich um seine Person rankenden Geschichten sollen vielmehr auf eine Mönchsgestalt namens Shi Baozhi zurückgehen, die in der Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien zwischen 420 und 477 gelebt hat und wie unser »Unikum unter den Heiligen« Wundertaten vollbrachte sowie Wein und Fleisch genoß.670 Die lockere Episodenstruktur, die auch in den späteren Fassungen zum Ende der Qing-Zeit noch erkennbar ist, die Betonung der Dialog-Handlung, in die nur selten einmal längere Erzählpassagen eingeflochten sind sowie die zahlreichen Erzählvorlagen des Stoffes verdeutlichen die lange zurückreichende Erzähltradition des Werkes. In seiner frühesten erhaltenen Fassung gehen die Erzählungen um den Mönch Ji Dian auf ein Manuskript aus der Ming-Dynastie des Jahres 1569 zurück, das den Titel trägt »Worte des buddhistischen Mönchs Ji Dian aus dem Linying-Tempel in Qianang« (Qiantang Lingyin Ji Dian chanshi yulu). Im wesentlichen nur eine Sammlung von Sprüchen, entbehrt das Werk mit der Einteilung in Kapitel noch ein ganz wesentliches Merkmal der Erzählliteratur. Gut hundert Jahre später zur Zeit des Kangxi-Kaisers (1662–1723) erschienen die Vollständigen Aufzeichnungen über den Mönch Ji Dian (Ji Gong quan zhuan) in sechsunddreißig Heften von einem gewissen Wang Mengji. Im Gegensatz zu der Ming-Fassung finden sich hier einige Erzählungen über die beiden Kaiser der Südlichen Song, Gaozong (1127–1163) und Xiaozong (1163–1190) sowie ein Abschnitt über die Zeit nach Ji Dians Eingang ins Nirvana. Die weiteste Verbreitung des Ji DianStoffes fand dagegen eine auf zweihundertvierzig Kapitel erweiterte Vollständige Ausgabe mit Bemerkungen über den Mönch Ji Dian (Quan cheng pingyan Ji gong zhuan), die Guo Xiaoting zum Ende der Qing-Dynastie zusammenstellte.671 Die meisten der Ereignisse, von denen in Mönch Ji Dian berichtet wird, spielen im 12. Jahrhundert zur Zeit der Südlichen Song-Dynastie in der damaligen Hauptstadt Hangzhou sowie deren Umgebung. Mit seinem Verzicht auf jede Äußerlichkeit, ohne Körperpflege, nachlässig gekleidet, daherwandelnd mit meist wankendem Schritt, die Augen vom Alkoholgenuß verquollen, macht der Mönch sich in den Augen der Philister verächtlich und beschämt sie am Ende gleichwohl aufgrund ihrer Engstirnigkeit. Als einer reifen Gestalt aus dem Reiche Buddhas ist Ji Dian die Nichtigkeit der Welt und ihrer Leerheit stets bewußt, entspricht er mit seiner Spontaneität, der Ablehnung gegenüber Regelzwang und feierlichem Gehabe sowie der Freude an paradoxem Tun recht gut dem »Idealtyp« des volkstümlichen
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heißt, der Mönch sei wegen seiner sonderbaren Art aus dem Lingying-Tempel verstoßen worden und man habe ihn in dem Jingzi-Kloster aufgenommen. Vgl. ZHAO JINGSHEN: Gesammelte Aufsätze zur chinesischen Erzählkunst, S. 523. Vgl. Der Heilige als Eulenspiegel, S. 6f. Diese Ausgabe (veröffentlicht 1905 in Shanghai mit zweihundertachtzig Kapiteln) liegt auch der hier verwendeten Fassung Vollständige Erzählung über den Mönch Ji Dian (Ji gong quan zhuan), Chengdu: Sichuan sheng shehui kexueyuan 1985 zugrunde.
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Zen-Buddhisten. Ji Dians Credo kommt in einem »Lied der Leere« zum Ausdruck, das er an einer Stelle auf dem Weg zu neuen Abenteuern dahersummt. Ich komme aus dem Süden und wandere nach Norden, ich habe die Gegenden in Ost und West bereist, doch überall ist das Leben gleichermaßen leer. Der Himmel ist leer, die Erde ist leer, und der Mensch lebt genau dazwischen, ohne je Spuren zu hinterlassen. Die Sonne ist leer, der Mond ist leer, was für einen Zweck erfüllt ihr täglicher Lauf? Die Felder sind leer, der Boden ist leer, wie oft haben beide bereits den Eigentümer gewechselt? Gold ist leer, Silber ist leer, wie viel davon kann man wohl nach dem Tode mit sich nehmen? Frauen und Kinder sind leer, auf dem Weg zu den Gelben Quellen hinab in die Unterwelt wird man sie nicht wiedertreffen. Amt und Beruf sind gleichermaßen leer, sie bilden nur eine Quelle von Sünde und Streit. Tagein tagaus gleicht das Leben der Menschen den Bienen beim Nektarsammeln. Der Nektar aus hundert Blüten mag zum Honig werden, doch am Ende ist alle Mühe nur Leere. Nachts lausche ich und höre Trommeln die mitternächtliche Stunde verkünden, ich wende mich 672 um auf dem Lager, und schon graut der Morgen, alles war nur Illusion.
Der Mönch Ji Dian führt die Menschen mit ihren Schwächen in zahlreichen kleinen Szenen vor, überhöht und in den Bereich des Phantastischen entrückt wird seine Gestalt jedoch durch die Siege, die er über eine Reihe »charakterloser« und weitgehend wesenloser Geister und Dämonen erringt. Anders dagegen in den beiden folgenden Werken, in denen die bekämpften Geister kollektiv bestimmte menschliche Typen und Schwächen verkörpern. Im Zentrum des ersten dieser kurzen Romane steht mit Zhong Kui eine weitere volkstümliche Gestalt, die sogar im Volksglauben ihre Spuren hinterlassen hat. Seit der Kult um Zhong Kui während der Tang-Dynastie Form annahm, wurde er etwa als Schutzgottheit der Familie bzw. des Hauses oder als Teufelsaustreiber bei Unglück oder Krankheiten verehrt, wobei sein Bildnis ebenso im Mittelpunkt der Verehrung stand wie die Gestalt selbst, wenn etwa Tänzer in der Verkleidung des Zhong am ersten Tag des zwölften Monats von Tür zu Tür tanzten, um Dämonen zu vertreiben. Dies beschreibt recht gut den Wirkungsbereich, auf den man Zhong Kui bezog. Innerhalb des chinesischen Kulturkreises wurde er zwar nicht in einem eigenen Tempel, sondern im häuslichen Rahmen verehrt, stieg aber dagegen in Japan zur Gottheit Shoki auf.673 Ist uns die Gestalt Zhong Kuis und der sich mit ihr befassende Kult aus einer Reihe von Dramen und aus frühen Schriften und Werken wie Shen Guas (1030–1094) »Aufzeichnungen mit neuem Pinsel« (Bu bi tan) bzw. der Verlorenen Geschichte der Tang (Tang yishi) aus dem Ende des 13. Jahrhunderts oder Chen Yaowens 672 673
Vollständige Erzählung über den Mönch Ji Dian, Kap. 83, S. 343. Vgl. zum Kult um Zhong Kui die Studie von DANIELLE ÉLIASBERG: Le Roman du Pourfendeur de Démons, Übersetzung mit Anmerkungen und Kommentaren, Paris: Collège de France, Institut des Hautes Études Chinoises 1976, S. 24–41.
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um 1550 verfaßten »Notizen aus dem Himmel« (Tianzhongji) bekannt,674 so dürfte der Stoff nicht vor Ende der Ming-Zeit seine erzählerische Form gefunden haben,675 wurde jedoch stets weiter bearbeitet.676 Die verschiedenen Titel,677 unter denen die Geschichte als Erzählung bzw. Roman erschien, deuten auf eine reiche Erzähltradition hin, wobei der Brisanz des Inhalts, welcher weit über das reine Unterhaltungsbedürfnis hinausgeht, zudem dadurch Ausdruck verliehen wurde, daß man den Roman als »Neuntes Meisterwerk« (dijiu caizishu) dem Kanon der zehn Meisterwerke der chinesischen Unterhaltungsliteratur einverleibte.678 Die Zielsetzung des Zhong Kui Bezwinger der Teufel kommt bereits in dem Vorwort zum Ausdruck, das Huang Yue um 1720 dem Roman beigefügt hat.679 Darin wird auf die Tradition der wundersamen Erzählungen hingewiesen, in der auch Zhong Kui steht, doch sei der Kampf Zhong Kuis gegen die Teufel und Dämonen keineswegs als »unwirklich« zu verstehen, vielmehr wird die ganze Thematik in den Komplex der himmlischen Belohnung der Guten bzw. Bestrafung der Bösen eingeordnet, mit Zhong Kui als dem Vollstrecker. Trotz des Tang-zeitlichen Rahmens werden aktuelle Bezüge deutlich. In einem Gewebe aus phantastischer Fiktion finden sich Spuren der bedrängenden Wirklichkeit der Zeit mit ihren vielschichtigen Problemen. Ins Groteske und Komische verzerrt, werden die von jedem erfahrenen und erfahrbaren Verhaltensweisen hervorgehoben und dem gesunden Menschenverstand zugänglich gemacht.680 674
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In den »Notizen aus dem Himmel« trägt Zhong Kui bereits die Züge eines Heilers und Teufelsaustreibers. Darin wird berichtet, wie er Kaiser Xuanzong (713–755) von einer Erkrankung heilt, indem er einen kleinen Dämonen verschlingt. Möglicherweise geht Zhong Kui in der einen oder anderen Form bereits auf viel frühere Schriften aus vorchristlicher Zeit wie das Zuozhuan, das Buch der Riten (Liji) u.ä. zurück, wobei aufgrund der unterschiedlichen Schreibung des Namens nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, daß es sich um ein und dieselbe Gestalt handelt. Es liegt eine auf die Ming-Dynastie datierbare Ausgabe in fünfunddreißig Abschnitten (ze) vor. Die heute gängigen Fassungen gehen weitgehend zurück auf die Ausgabe Erzählung über Zhong Kui aus der Tang-Zeit, der die Teufel bezwingt (Tang Zhong Kui ping gui zhuan) in sechzehn Kapiteln und wohl um 1785 erschienen. ÉLIASBERG: Le Roman du Pourfendeur de Démons, S. 84 führt fünf verschiedene Titel an. Der Kanon umfaßt neben dem Werk um Zhong Kui folgende Werke: Die beiden großen historischen bzw. halb historischen Werke Die Drei Reiche (Sanguozhi) und Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan); drei Werke aus dem Genre über »Talente und Schönheiten«: Haoqiuzhuan, Yu Jiao Li und Pingshan lengyan; zwei Dramen: Das Westzimmer (Xixiangji) und Die Laute (Pipaji) sowie die Werke Huajianji und Sanhejian. So der Titel der deutschen Übersetzung nach CLEMENS DU BOIS-REYMONDs Übertragung aus dem Chinesischen (Erstausgabe 1923), Leipzig u.a.: Gustav Kiepenheuer 1987, die hier zur Bearbeitung herangezogen wurde. Vgl. dazu das Nachwort ebd. von R. BEER: »Das Volksbuch vom Teufelsbezwinger Zhong Kui«, S. 267.
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Von Yama, dem Herrscher der Unterwelt, erhält Zhong Kui den Auftrag in der Welt nach Teufeln zu suchen. Dazu erhält er ein Verzeichnis der zu jagenden Dämonen an die Hand. Zur Bewältigung seiner Aufgabe bekommt Zhong Kui neben einer Truppe von Unterweltsoldaten zwei Helfer und ein Reittier, womit die Zusammensetzung dieser Kerngruppe Anklänge an die Reise in den Westen erkennen läßt. Im Laufe der Zeit werden Übeltäter wie der Hochstaplerteufel, der Geringschätzige Teufel, der Teufel der Saumseligen, der Umgarnerteufel, der Eisenstirnteufel, der Rafferteufel, der Schmutzteufel, der Knickerteufel, der Stromerteufel, der Frivole Teufel, der Tobsüchtige Teufel, der Grübelteufel, der Lustgierteufel etc. zur Strecke gebracht, die in den meisten Fällen auf die eine oder andere Art miteinander verwandt sind, über die wir aber abgesehen von den ihnen zukommenden Kräften meist nichts Genaueres erfahren. Die einzelnen Figuren bleiben Träger bestimmter Eigenschaften und stellen keine ausgearbeiteten Charaktere dar. Details aus dem täglichen Leben fehlen nahezu vollkommen. Die zahlreichen Teufel bilden dabei eine Galerie grotesker Personifikationen übler Charaktereigenschaften, wobei nicht nur allgemein-menschliche Schwächen gegeißelt werden, sondern ebenso die Käuflichkeit des Beamtenranges, Prunksucht, Verschwendung, Formalismus des Prüfungssystems und das sittenlose, lüsterne Treiben der Mönche. In seiner Phantastik und der grotesken Überhöhung der menschlichen Schwächen läßt sich Zhong Kui in die Nähe von Werken wie Simplicissimus oder Gargantua rücken. In einem ähnlichen Ambiente, jedoch von der Tonlage her viel pessimistischer, liegt aus dem Ende des 19. Jahrhunderts ein kurzer Roman in zehn Kapiteln mit dem Titel Hedian vor,681 der nahezu vollständig in der Variante des Wu-Dialekts abgefaßt ist. Schon von der Zuordnung her mit der Bezeichnung als »Elftes Meisterwerk« läßt der Roman die Nähe zum Zhong Kui spüren. Anders als jedoch der Kommentator Huang Yue im Werk über den Teufelsaustreiber, der den Leser ausdrücklich auf den Bezug zur Wirklichkeit hinweist, tut der aus Shanghai stammende Verfasser des Hedian, Zhang Nanzhuang, der unter der dem Pseudonym »Der Vorbeigehende« schreibt, sein Werk im Untertitel als »Aufzeichnungen eines Berges von Lügen« (guihua lianpianlu) ab. Die oberflächlich als Familienroman bzw. Liebesroman in der Form der Bücher über Talente und Schönheiten aufgemachte Handlung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Zweifel und Hoffnungslosigkeit angesichts der Erscheinungen einer verrotteten, überkommenen Gesellschaft auch weiterhin bestehen. Im Mittelpunkt befinden sich nicht mehr die konkreten am Unheil und der Verkommenheit beteiligten Menschentypen wie 681
Hier in der Ausgabe ZHANG NANZHUANG: Hedian, Tianjin: Tianjin guji 1994. Eine wegen der Dialektbegriffe zum Verständnis hilfreiche annotierte Ausgabe liegt aus dem Renmin wenxue-Verlag in Peking (1992) vor. Der Roman erschien erstmals 1879 im Druck, ein Kommentar zum Werk liegt von dem aus Suzhou stammenden CHEN DEREN vor.
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im Zhong Kui, durch deren Beseitigung man eine Besserung der Lage herbeizuführen hofft, sondern die bereits im Endstadium des Zerfalls angelangten Wesen, die das Unterweltreich daher auch gar nicht mehr zu verlassen brauchen. Nach dem Bericht von der Einteilung der Welt in Himmel, Mittelwelt der Menschen und Unterwelt hebt Hedian an mit der Schilderung der trügerischen Idylle im Dorfe »Dreifamilien«, das in der Teufelsschlucht liegt. Dort lebt der Geldsack Lebeteufel gemeinsam mit seiner Frau Teufelin. Dem vollkommenen Glück der beiden fehlt nur der Nachwuchs. Als das Ehepaar dem zu Besuch weilenden Formteufel sein Leid klagt, rät dieser, Gebete im Organtempel zu verrichten, die sicher erhört würden. Im Traum wird der Teufelin nach ihrer Rückkehr ein Fötus in den Bauch gestoßen, so daß sie nach Ablauf von neun Monaten in der Tat ein Kind zur Welt bringt, welches den Namen »Lebendiger Toter« erhält. Während der Feier in dem vom Lebeteufel aus Dank gestifteten Tempel bricht jedoch eine Schlägerei aus, in deren Verlauf der »Teufel mit dem zerschnittenen Gesicht« einen Mann erschlägt. Neider machen Lebeteufel für das Unglück verantwortlich, der darüber vor Gram stirbt. Eine Weile nimmt sich die Teufelin die Mahnungen von Freunden zur Wahrung der Treue gegenüber dem toten Gatten zu Herzen, doch die drohende Verarmung, die Sorge um den Sohn und die Sehnsucht nach Liebe lassen sie nach und nach ihre Prinzipien vergessen. Ein eindrucksvoller Ausschnitt mag diesen Prozeß der »inneren Fäulnis« dokumentieren. Die Teufelin war eines Tages gerade dabei, ihr Deckbett mit Baumwolle auszustopfen, als sie plötzlich zwischen den Beinen ein heftiges Jucken verspürte, das sich anfühlte, als würden Ameisen an ihrem Körper emporkrabbeln. Hastig streifte sie die Hosen ab und stellte mit Schrecken fest, wie sich ein Haufen ekliger Würmer an ihrem Unterleib zu schaffen machte. Sie wollte das Ungeziefer entfernen, zog die Hand jedoch zurück, als sie von einem der Würmer schmerzhaft in die Hand gebissen wurde. Starr vor Schreck stand sie da und blickte an sich hinunter. Zufällig war der Draufgängerteufel gerade in der Nähe. Als er sah, wie die Teufelin dort breitbeinig, mit zitternden Knien vor ihm stand, warf er ihr einen verstohlenen Blick zu. »Was, macht dir dieses Ungeziefer etwa auch zu schaffen?« rief er bestürzt aus, als er sah, in was für einem Zustand sich die Frau befand. Erschrocken fuhr die Teufelin bei diesen Worten zusammen, zog eilig ihre Hosen hoch und sagte: »Ich habe dich gar nicht kommen hören, was starrst du mich denn so an?« »Bei diesem Ungeziefer handelt es sich um eine bösartige Milbenart«, erklärte der Draufgängerteufel. »Das nächste Stadium sind eitrige Geschwüre, das ganze Fleisch verfault. Meine Großmutter litt damals auch daran und wäre beinahe gestorben. Eine allmähliche Heilung ist nur zu erreichen, wenn man Kulturen der Springlaus aus den Eizellenhaaren auf das Ungeziefer ansetzt.«
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Sonderlinge aus höheren und niederen Welten »Hast du von den Läusen welche bei dir?« fragte die Teufelin eilig. »Unsinn«, entgegnete der Draufgängerteufel. »Mit so etwas kann unsereins 682 nicht dienen. Über reinigende Springläuse verfügt nur die Geistlichkeit.«
Die drohende Verrottung kann also nur durch einen Bruch des Keuschheitgelübdes verhindert werden. Denn auf nichts anderes als den heilenden Geschlechtsakt mit einem Mönch spielt die Szene an. Vermeintlich gereinigt und wiederhergestellt, sucht die Teufelin nach der Vermittlung durch den Draufgängerteufel die Ehe mit dem Schlageteufel Liu, geht jedoch bald an Kummer und Armut zugrunde. Mit dieser Szene endet der erste Teil des kurzen Romans. Im zweiten Abschnitt wird sodann das Schicksal des Sohnes von der Teufelin und dem Lebeteufel geschildert, der als Ziehkind in die Familie des Formteufels kommt. Nach Auseinandersetzungen mit der Stiefmutter flieht der junge Knabe und begibt sich auf die Suche nach einem taoistischen Mönch, bei dem er in die Lehre gehen kann. Im Dorf der Zärtlichkeit findet der Lebendige Tote Aufnahme bei der Familie des Stinketeufels und verlobt sich vor seiner Weiterreise mit der schönen Tochter Stinkeblume. Seinen Aufstieg in hohe Ämter verdankt der Lebendige Tote den Unruhen, die von zwei Großkopfteufeln im Reich verursacht werden. Gemeinsam mit der in den Wirren zur Amazone gewordenen Stinkeblume erringt der Lebendige Tote einen glänzenden Sieg über die Feinde, was dem Paar für die Zukunft Reichtum und hohe Ämter einbringt. Der zweite Teil des Romans entbehrt weitgehend die krasse Symbolik, mit der Zhang Nanzhuang zuvor auf die Übel seiner Zeit abhob.
682
Hedian, Kap. 4, S. 50f.
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8. Die mythisch verbrämte Suche nach kultureller Identität In seinem Ursprung eher durch die Verfassung unter der Fremdherrschaft der Mandschuren als durch die überlieferten Erzählstoffe motiviert, gibt es neben den bislang behandelten Motiven des mythisch-Phantastischen eine Reihe von Romanen, in denen das eigentliche Mythische zum Rahmen wird und andere Inhalte in den Mittelpunkt treten. In mehr oder weniger einfach zu durchschauender Form wird in diesen Werken auf eine Zeit abgehoben, die es gerade für die Schicht der Gelehrten zur Notwendigkeit machte, sich angesichts der politischen Fremdbestimmung die historische Perspektive auf die Han-chinesische Geschichte sowie die kulturellen Bezüge zur Han-chinesischen Kultur zu bewahren. Der mythische Rahmen ist dazu besonders geeignet, entrückt er doch ein Werk dem direkten zeitlichen Bezug und der unter Umständen drohenden Zensur. Dies ist aufgrund seiner Brisanz im ersten der nun untersuchten Romane noch gravierender als in dem zweiten, wo weniger die Herrschergestalt als allgemeinere kulturelle Erscheinungen im Mittelpunkt stehen. Die Inoffizielle Geschichte der Unsterblichen (Nüxian waishi) aus der Feder Lü Xiongs (ca. 1633–ca. 1716) ist oberflächlich betrachtet ein wenig verfängliches Werk aus der frühen Zeit der Qing.683 Lüs Roman erschien im Jahre 1712 und erzählt von Chang'E aus dem Mondpalast, die als Tang Sai'er auf die Welt gelangt, um dem abgesetzten Kaiser Jianwen über zwanzig Jahre zu dienen. Chang'E kommt in Ji'nan im Hause des Tang Kui zur Welt, die lange Schwangerschaft von fünfzehn Monaten sowie die Umstände der Geburt deuten auf die überirdische Herkunft des Mädchens hin, das den Namen Sai'er erhält. Bei der zhuafuZeremonie anläßlich des ersten Geburtstages – das Kind soll aus dargebotenen Gegenständen einen ergreifen – packt Sai'er nach dem Schwert, was ihre kriegerische Natur offenbart. Zum Schutz des Kindes ist als Amme Bao eine weitere Göttin auf die Erde gelangt, die Sai'er auch in der Zukunft nicht verlassen wird und ihr Schicksal lenkt. Denn die unglückliche Ehe des Mädchens mit dem lüsternen Lin Youfang ist ebenso vorherbestimmt wie die Begegnung mit der Dämonin Mantuoni, die vom »Großen Meister des Südmeeres« das Himmelsbuch und das Jadeschwert erhalten hat, Gegenstände, die der Mondfürstin dargebracht werden sollen. Die Unterweisung in den Lehren des Himmelsbuchs,684 mit deren Hilfe man Macht über die Naturgewalten ebenso gewinnt wie die Fähigkeiten zu 683
684
Hier nach der hundert-Kapitel-Ausgabe Nüxian waishi, Shanghai: Shanghai guji 1991. Lü Xiong stammte aus der Ortschaft Kunshan zwischen dem heutigen Suzhou und Shanghai. Der Roman ist auch unter dem Titel Die Steinseele (Shitou hun) bekannt geworden. Der Inhalt wird in Kap. 8 dargelegt, vgl. Inoffizielle Geschichte der Unsterblichen, S. 80ff.
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Die mythisch verbrämte Suche nach kultureller Identität
Verwandlungen, wird von der »Geheimnisvollen Jungfrau des Neunten Himmels« (Jiutian xuannü) vorgenommen, wie der »Große Unsterbliche mit den nackten Füßen« eine Gestalt, die wir bereits aus der Niederschlagung der Dämonen kennen. Nach Beendigung der Unterweisung nimmt Sai'er den Namen »Mondfürstin« (Yuejun) an. Insektenplagen und Naturkatastrophen sind Zeichen für Unordnung im Reich. Der Roman endet mit dem Tod Yongles, der wie angekündigt im Jahre 1424 in der mongolischen Ortschaft Yumuchuan nach der Rückkehr von einem Feldzug stirbt. Die Mission Chang'Es ist damit ebenfalls erledigt, gibt ihr doch Amme Bao zu verstehen, daß sie den Sproß des Himmelswolfes bereits vernichtet hat und dieser keine Wiedergeburt mehr erwarten dürfe. Kaum einer der bekannteren chinesischen Romane ist gleichzeitig ebenso mit Lob und Tadel bedacht worden wie Li Ruzhens Blumen im Spiegel (Jinghuayuan) aus dem frühen 19. Jahrhundert.685 Immer wieder haben Kritiker die Vielfalt der inhaltreichen Darstellung bemängelt, die die Zuordnung zu einem bestimmten Romangenre erschwert. Blumen im Spiegel ist ebensowenig ein rein allegorisches Werk wie ein Abenteuerroman. Es handelt sich um ein Sammelsurium von Traditionen, Phantasien, Philosophien und Ideologien mit denen wie bei dem Werk Die Gelehrten (Rulin waishi) von Li Ruzhens Vorgänger Wu Jingzi die gesamte chinesische Kultur auf den Prüfstand gehoben wird. Trotz der vielen utopischen Anklänge, dem unüberhörbaren Eintreten für die Sache der Feministen, der geübten Sozialkritik und der nicht von der Hand zu weisenden Forderung nach politischen Reformen scheint keines der Themen eindeutig dominant, so daß bereits die Einstufung als »Roman des Verschiedenen« vorgenommen worden ist, um überhaupt zu einer Zuordnung zu kommen.686 Wie wir im weiteren jedoch sehen werden, bietet vor allem die Rahmenhandlung erneut genügend Ansätze, um Bezüge zu den großen Vorbildern des mythisch-phantastischen Romans herzustellen, wenngleich nicht geleugnet werden soll, daß Blumen im Spiegel bereits einen vollkommen anderen Geist atmet. Li Ruzhen (ca. 1763–1830) lebte in dem relativ kurzen Abschnitt der neueren chinesischen Geschichte, in dem die Mandschus ihre Macht stabilisiert hatten und eine nachlassende Zensur den Genuß Han-chinesischer Bildungsgüter ermöglichte, bevor diese in der Folge des Opium-Krieges von grundauf in Frage gestellt 685
686
Die Bearbeitung erfolgte hier nach der Ausgabe LI RUZHEN: Jing hua yuan, Hongkong: Guangzhi shuju o.J. Einzelne Abschnitte des Werks liegen in Übersetzung vor, so etwa LI JU-CHEN: Flowers in the Mirror, übers. und hrsg. von LIN TAI-YI, Berkeley u.a.: University of California Press 1965 sowie Im Land der Frauen, aus dem Chinesischen von F.K. ENGLER, Zürich: Die Waage 1970. Vgl. den Hinweis bei AN-CHI WANG: »Gulliver's Travels« and »Ching-hua yuan« Revisited. A Menippean Approach, New York u.a.: Peter Lang 1995, S. 97 unter Bezug auf die chinesische Bezeichnung »zajia xiaoshuo«.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG
wurden.687 Trotz seiner umfassenden Bildung kam Li über die unterste akademische Stufe des »Blühenden Talents« nicht hinaus, ein Umstand, der ihn 1782 zwang, das heimatliche Daxing in der Nähe von Peking zu verlassen und Zuflucht bei seinem Bruder Li Ruhuang zu suchen, der in Haizhou (im Norden der heutigen Provinz Jiangsu) das Amt eines Steuereinnehmers für das staatliche Salzmonopol bekleidete. Während seiner nahezu zwanzig Jahre an der Seite des Bruders widmete sich Li Ruzhen intensiv dem Studium der damals gerade in Mode befindlichen Wissenschaften der Phonetik und der Prosodie, wobei er stark von dem bekannten Philologen Ling Tingkan (1757–1809) beeinflußt wurde.688 In seiner 1805 fertiggestellten Studie zum System der Phonetik (Yinjian) legte Li etwa die Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen den Dialekten in Nord- und Südchina dar und formulierte das phonetische System des Chinesischen neu. Die Fragen nach der etymologischen Herleitung von Begriffen, Zeichenlesungen etc. tauchen auch im Roman immer wieder auf. Nachdem Li Ruhuang 1799 Haizhou verlassen hatte, nahm der jüngere Ruzhen im Jahre 1801 die Stelle eines stellvertretenden Präfekten in der Provinz He'nan an, einen Posten, den er wenigstens bis 1807 bekleidete. Wie der spätere Roman ebenfalls zeigt, gingen auch Li Ruzhens Auseinandersetzungen mit traditionellen chinesischen Bildungsgütern in sein Werk ein. Als eines dieser Ergebnisse legte er 1817 sein Handbuch des Schach (Shouzipu) vor. Neben den akademischen Aspekten flossen auch die Erfahrungen und Aufgaben, mit denen Li Ruzhen täglich bei der Verrichtung der Amtsgeschäfte konfrontiert wurde in sein Werk Blumen im Spiegel ein, wie etwa ein Abschnitt über die Probleme der Flußregulierung erkennen läßt. Überhaupt spürt man in Lis Werk die Freude auch an technischen Dingen. Details über hydrotechnische Angelegenheiten gehörten für den Literatenbeamten in bestimmten Regionen zum Bereich seiner Tätigkeit und konnten angesichts der Wichtigkeit für das Wohl und Wehe der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung für die berufliche Laufbahn sein. Entsprechende Darstellungen finden sich auch in anderen frühen chinesischen Romanen. Doch Li Ruzhens Blumen im Spiegel geht hier weiter. Die primitive Form von Maschinengewehren, mit denen die Krieger bei der Einnahme der Hauptstadt kämpfen (Kap. 95), mag angesichts der chinesischen Tradition bei der Anwendung von Kanonen und Feuerwerk noch vor einem autochthonen Hintergrund zu erklären sein. Das eigenartige Windfahrzeug aber, mit dem Yin Ruohua geschwind in ihre Heimat zurückkehrt, ist, will man nicht alles als reine Phantasie abtun, womöglich in Anlehnung an Wissen um die ersten Flugversuche der Montgolfiers zu erklären, nimmt aber gewiß die ersten luftfahrerischen Unternehmungen der Gebrüder Wright vorweg. 687
688
Die knappen Ausführungen zur Biographie Li Ruzhens folgen hier weitgehend der Darstellung in HSIN-SHENG C. KAO: Li Ju-Chen, Boston: Twayne Publishers 1981. An wichtigen philologischen Arbeiten entstanden zu jener Zeit etwa das Zeichenlexikon Wörterbuch des Kangxi (Kangxi cidian) bzw. das Reimwörterbuch Peiwen yunfu.
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Die mythisch verbrämte Suche nach kultureller Identität Die Piloten drehten an den Schlüsseln und setzten den Mechanismus in Bewegung. Alles, was man sehen konnte, waren wild rotierende Kupferräder, von denen manche senkrecht standen, andere wiederum horizontal angebracht waren. Einige hatten die Größe von Mühlsteinen, andere dagegen waren nicht größer als Rollen eines Flaschenzugs. Die Wagen schienen Windrädchen zu gleichen und erhoben sich kreiselnd in die Luft. Für kurze Zeit schwebten sie über dem Boden, schossen dann aber auf eine Höhe von mehr als hundert Fuß und wand689 ten sich nach Westen.
Der Roman ist damit ein Beispiel für die in der Entwicklung und zunehmenden Akzeptanz des Erzählgenres aufkommende Neigung, aus der der Autor mittels der Erzählkunst seine Gelehrsamkeit zur Schau stellen möchte (yi xiaoshuo jian cai). Lis berufliches Scheitern als ein Beamter, der stets nur in untergeordneten Stellungen tätig war, dürfte sein kritisches Weltbild ganz wesentlich mitgeprägt haben. Nach der Aufgabe seines Postens und der erneuten Übersiedlung zu dem Bruder, begann Li Ruzhen um 1810 mit der Arbeit an dem Romanwerk Blumen im Spiegel, eine Tätigkeit, die ihn nach Aussagen von Freunden wenigstens zehn Jahre lang in Anspruch genommen haben dürfte, bevor das Buch 1828 mit der Drucklegung endlich einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Blumen im Spiegel weist mit seinen hundert Kapiteln und einer nur locker gefügten Struktur ähnliche Probleme auf wie die anderen großen Romane des Genres. Mittels eines auf die Bestimmung durch himmlische Vorgänge angelegten mythischen Gerüsts schafft Li Ruzhen jedoch schon zu Beginn einen Rahmen, in dem er die vielen kleinen Episoden zusammenzuhalten versucht. Erzählt wird von der Blumenfürstin (Baihua xianzi), einer Unsterblichen, die in einer Höhle auf dem Penglai-Berg lebt und dort über die Blumen und Pflanzen herrscht. Mit der allegorischen Ausrichtung über das Problem der Vergänglichkeit entgeht dem Roman freilich viel von dem satirischen Charakter, den er hätte gewinnen können. Das Konzept von hundert Mensch gewordenen Blumengeistern ist wie in den meisten der großen klassischen Romane Chinas (man erinnere sich an die einhundertundacht Sternengeister in den Räubern) viel zu weit gespannt. Protagonist des zusammenhängenden Romansegments am Romanbeginn ist Tang Ao. Nachdem er aus seinem Offenbarungstraum erwacht ist, begibt sich Tang Ao zu dem Schwager Lin Zhiyang, einem Geschäftsmann und Händler, der im Begriff steht, zur Abwicklung neuer Geschäfte ein weiteres Mal in See zu stechen. Unter dem Vorwand, Zerstreuung zu suchen, bittet Tang Ao den Lin eingedenk seines Traums, ihn und seine Familie begleiten zu dürfen und bricht auf, ohne selbst noch einmal heimzukehren. In den folgenden dreiunddreißig Kapiteln (Kap. 7–40), die zumeist als der zentrale Teil des Romans betrachtet werden und in denen von der Reise Tangs in zweiundvierzig Länder berichtet wird, ändert 689
Spiegel und Blumen, Kap. 94, S. 722.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG
sich der Ton des Werks. Ansatzweise bringt Li Ruzhen sozialreformerische Anliegen zum Ausdruck, indem er mit der Anführung der eigenartigsten Länder – deren Bezeichnungen und Gestalten allesamt auf frühe mythisch-geographische Werke Chinas wie den Klassiker der Berge und Meere (Shanhaijing), das Verzeichnis von Kuriositäten (Bowuzhi) und das Verzeichnis von Geheimnissen (Xuanzhongji) zurückgehen – ähnlich wie Jonathan Swift (1667–1745) in Gullivers Reisen eine Reihe von Gegenbildern entwirft, die Kontraste zu den aktuellen Verhältnisse in China deutlich machen sollen. Doch anders als Swift, der in seinem 1726 nahezu genau hundert Jahre vor Blumen im Spiegel erschienen Werk eine satirische Allegorie in der Form des Reisebuchs vorlegt, um »wahrheitsgemäß« Auskunft über die Abenteuer des Lemuel Gulliver zu geben, folgt in Blumen im Spiegel eine Unwahrscheinlichkeit der nächsten. Li Ruzhen wird mit seinen Bezügen und Anspielungen nie sonderlich konkret. Li Ruzhen handelt die meisten Länder nur in knappen Sätzen ab (hier gleicht er ebenfalls dem Vorbild des Klassikers der Berge und Meere), erscheint weniger an den sozialen Fragen interessiert als an den Schwächen, wie sie allen Menschen eigen sind, was allgemein den Schluß zuläßt, daß die menschlichen Übel mit ihrer äußeren Erscheinung korrespondieren.690 Eine Ausnahme bildet lediglich das Thema der Frauen, deren Angelegenheiten und Befindlichkeit in der feudalistischen Gesellschaft dem Verfasser von Blumen im Spiegel offensichtlich stark am Herzen liegt. Wie ein roter Faden ziehen sich Aspekte der weiblichen Bildung, des Füßeeinbindens etc. durch den Roman, alles eingebettet in den historischen Kontext der Herrschaft von Kaiserin Wu Zetian, die hier angesichts der Betonung ihrer bildungspolitischen Anstrengungen für die Förderung ihrer Geschlechtsgenossinnen ein weit angenehmeres Bild bietet als in vielen anderen erzählerischen Werken mit der Hervorhebung ihrer angeblichen Verruchtheit und Sexbesessenheit.691 So findet sich zu Beginn von Kapitel 8 der Hinweis auf die Vorzüge des Studiums auch für Frauen. Kaiserin Wu hat nach der Feststellung von außergewöhnlichen Dichterqualitäten bei Palastdamen im Wettstreit mit den Ministern der gebildeten Weiblichkeit mehr Beachtung geschenkt und damit den Lerneifer der Mädchen in allen Familien angestachelt. Die wiedergefundene Gemeinschaft der hundert Blumengeister, die sich in Gestalt junger und talentierter Frauen zu den Prüfungen in der Hauptstadt einfinden, veranstaltet unter der Leitung ihrer Anführerin Xiaoshan in den Gärten 690
691
Vgl. dazu LEO TAK-HUNG CHAN: »Religion and Structure in the Ching-Hua Yuan«, in: Tamkang Review, Bd. XX, Nr. 1, 1989, S. 63, Anm. 23. Es zeichnet einen Verfasser wie Li Ruzhen aus, daß er bei aller Anklage den humoristischen Ton nicht vergißt, etwa wenn er in einem Abschnitt der »Festkapitel« (vor allem die Abschnitte Kap. 80–87) das Thema der Frauenfüße zum Gegenstand der Belustigung macht. (Vgl. dazu u.a. MARK ELVIN: »The Spectrum of Accessibility: Types of Humor in The Destinies of the Flowers in the Mirror«, in: Interpreting Culture Through Translation, hrsg. von ROGER T. AMES, CHAN SIN-WAI u.a., Hongkong: Chinese UP 1991, S. 106)
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Die mythisch verbrämte Suche nach kultureller Identität
der Kaiserin Wu eine ausgiebige Feier, die zum vorübergehenden Paradies auf Erden wird. In dem umfangreichen Abschnitt der »Festkapitel« (Kap. 67–94), nutzt Li Ruzhen später den sich bietenden breiten Raum, um Inhalte der klassischen chinesischen Kultur und Bildung am Beispiel der Frauen darzulegen. Kaum ein Romanwerk zuvor »hat so viele unzusammenhängende Dinge in bezug auf die Handlung erzählt«,692 die die Lektüre des Buches erheblich erschweren, ihm aber zumindest den Titel eines »Gelehrtenromans« eingetragen haben, eine Bezeichnung übrigens, die es mit anderen Werken seiner Zeit wie Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan) teilt. Immer wieder ist Li Ruzhen bemüht, Beweise weiblicher Schöpferkraft zu liefern, etwa mit Su Huis kompliziertem »Xuanjitu«Palindrom, einem Quadratmuster von achthunderteinundvierzig Zeichen in Reihen aus neunundzwanzig Zeichen, welche vorwärts, rückwärts, nach oben, unten und diagonal gelesen über zweihundert Gedichte ergeben.693 Das Thema der Befindlichkeit der Frauen kulminiert dann schließlich in der Schilderung der Vorgänge im Lande der Frauen, in das Tang Ao und seine Begleiter gelangen.694 Die Reise, die Tang Ao zusammen mit Lin Zhiyang und dessen Familie unternimmt, verläuft über zahlreiche Stationen und spielt sich meist nach demselben Muster ab. An dem ersten Ort, der in der Fremde angesteuert wird, tritt zum ersten Mal der achtzigjährige Steuermann »Der neunte Duo« (Duo jiugong) in den Vordergrund, der hier und im folgenden immer wieder Aufschluß über die fernen Länder und die dort lebenden Wesen gibt. Die Mädchen, die Tang Ao nach und nach aufspürt und bei denen es sich um die Gestalten der fleischgewordenen Pflanzengottheiten handelt, verhalten sich meist ähnlich. Viele von denen, die mit einem »chinesischen Hintergrund« in ihrem Schicksal ausgestattet sind, erklären, Tang Ao zu kennen, damit er sie in die »Heimat« begleitet. Geläufigere und weniger geläufigere Gebiete tun sich auf, wobei sich die Anzahl der Länder, die sich durch ihre moralisch-ethischen Qualitäten hervortun im Vergleich zu denen, in denen eher die exotische äußerliche Erscheinung im Vordergrund steht durchaus die Waage hält. Beim »Land der Edlen« (Kap. 11) bzw. beim »Land der Guten« (Kap. 13) sind die Eigenschaften nicht sonderlich verbrämt, und auch im »Land der durchstoßenen Brust« liegt die Kritik auf der Hand: Nach einigen Tagen der Wanderung kamen sie ins Land der Menschen mit durchstoßener Brust. Lin Zhiyang sagte: »Für gewöhnlich haben die Menschen in der Mitte der Brust das Herz. Wo sitzt denn das Herz bei den Menschen mit durchstoßener Brust?« 692
693 694
C.T. HSIA: »The Scholar-Novelist and Chinese Culture: A Reappraisal of Ching-Hua Yuan«, in: ANDREW H. PLAKS (Hg.): Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton UP 1977, S. 291. Das Quadrat findet sich in Kapitel 41 des Romans. Vgl. zu dem Komplex auch PING PING LEE: Representations of Women and Satire: ›Gulliver's Travels‹ and ›Flowers in the Mirror‹, Ph.D. University of Alberta, Kanada 1993.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG »Es heißt«, hob Steuermann Duo an, »daß die Brust der Menschen, die hier leben, in alter Zeit noch vollkommen intakt gewesen sei. Doch weil später jeder anfing Böses zu tun, Lug und Trug zur Regel wurden, rückte das Herz mit der Zeit von seinem rechten Platz und bald befand sich in der Brust nichts mehr dort, wo es hingehörte. An der Vorderseite der Herzen wuchsen Furunkel mit der Bezeichnung ›Furunkel des unrechten Herzens‹, an der Rückseite fanden sich tiefe ›Geschwüre des Betrügers‹. Es kam zu Entzündungen. Die Geschwüre wuchsen aufeinander zu, zerstörten das Herz, es gab keine Heilung. Für kurze Zeit glaubte man, aus dem Herzen des Wolfs vom Zhongshan-Berg sowie dem eines Perserhundes unter Zuhilfenahme von allerlei Magie ein Mittel gefunden zu haben, mit dem die Krankheit zu stoppen sei. Allein, die Krankheit brach nach einer Weile erneut aus, waren doch die Herzen der beiden Tiere ebenso betrügerisch wie die der Menschen, so daß den Bewohnern am Ende dort ein 695 tiefes Loch in der Brust klaffte, wo früher das Herz gesessen hatte.
Neben den Ländern, die sich durch ethisch-moralische Eigenschaften auszeichnen, sind da noch die, in denen die Qualitäten im Erscheinungsbild im Vordergrund stehen, so etwa das »Land der Langohren« oder die Länder der »Ohnemagen«, der »Hundekopfmenschen«, der »Fellmenschen« etc. Li Ruzhen entgeht der Gefahr einer Aneinanderreihung von Vordergründigkeiten, indem er zwischenzeitlich immer wieder einmal auf die Situation in der Heimat der Reisenden abhebt. So wird betont, daß man im »Land der Schwarzzähne« die führende Stellung Chinas in Fragen der Erziehung und Bildung anerkennt, was aber dann zu Seltsamkeiten wie der führt, daß Männer und Frauen auf verschiedenen Straßenseiten laufen. Das Schwarzzahnland ist offensichtlich Li Ruzhens Beispiel für eine ideale Gesellschaft, in der jede Person frei ist, sich gemäß ihrer Möglichkeiten zu entfalten, obwohl, wie Steuermann Duo an einer Stelle betont, der Widerspruch zwischen Erscheinung und Wesen den Menschen verwirre. Die Nation der Schwarzzähne ist ein rein intellektuelles Utopia, die häßliche Erscheinung der Bewohner mit der dunklen Haut und den schwarzen Zähnen tut dem klaren Denken der Menschen keinen Abbruch. Das Land der Schwarzzähne ist übrigens das erste, in dem das »Problem« einer überlegenen Bildung bei den Frauen aufkommt. Deren eigentliche Heimat – eben das »Land der Frauen – ist Gegenstand der längsten zusammenhängenden Beschreibung vom Aufenthalt in der Fremde (Kap. 32–37). Das Besondere im Land der Frauen ist, wie Tang Ao und seine Begleiter bald erfahren, daß hier alles umgekehrt ist im Vergleich zu China, wobei ein einfacher Rollentausch angenommen wird: Männer tragen Frauenkleider, Frauen die von Männern, und die Frauen sind es auch, die den spezifischen Männerberufen nachgehen. Die Kritik an den patriarchalischen Verhältnissen wird dadurch besonders deutlich, denn ein Rollen695
Spiegel und Blumen, Kap. 26, S. 184.
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Die mythisch verbrämte Suche nach kultureller Identität
tausch belegt die Zufälligkeit und Willkür, auf deren Grundlage der Zugang zu Bildungsangeboten erfolgt bzw. grausame Bräuche wie das Füßeeinbinden entstehen. Kaufmann Lin Zhiyang wird beim Besuch der Stadt entführt und soll in den Harem aufgenommenwerden. Beim ersten Besuch der Herrscherin hat Lin seine neue Rolle dann auch so weit internalisiert, daß er tatsächlich das Verhalten einer neuen Geliebten im Harem zeigt. Ein Gefühl der Beschämung überkam Lin Zhiyang, als er sah, wie der König herbeikam und ihn mit seinen Blicken maß. Der Herrscher nahm dicht neben ihm Platz und begann, lüsterne Blicke auf die eingebundenen Füße Lins zu werfen, bevor er zärtlich mit der Hand darüberstrich. Dann rückte er noch ein wenig näher und schnupperte interessiert an Lins Kopf, dem Körper, dem Gesicht, daß 696 der Kaufmann am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre.
Nach einer Reihe von Verwicklungen gelingt Lin Zhiyang zusammen mit dem »Prinzen« Yin Ruohua – der Name weist auf eine Blumengestalt hin – die Flucht aus dem Palast. Die junge Yin flüchtet vor den Nachstellungen durch den neuen Mann an der Seite der Herrscherin, der ihr nach dem Leben trachtet. Es ist aufschlußreich, wie sehr Li Ruzhen seinen kritischen Blick auf die Rollen der Geschlechter richtet und mit den Äußerungsformen im Umgang mit den Frauen in der Gesellschaft vornehmlich und in nüchterner Weise die konkreten Symptome angreift, ohne der Gefahr zu erliegen, das »schwache Geschlecht« von vornherein zu idealisieren. Blumen im Spiegel ist demnach keineswegs ein reiner feministischer Roman gemessen an modernen Maßstäben. Dennoch handelt es sich um das erste literarische Werk Chinas überhaupt, in dem die Frauen als gleichwertige menschliche Wesen angesehen werden. Die Offenheit, mit der Li Ruzhen sein Anliegen vorträgt, dürfte daher beispielgebend für spätere Generationen gewesen sein. Eineinhalb Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Romans wurde von der QingRegierung der Brauch des Füßeeinbindens abgeschafft, und wieder wenige Jahre später richtete ein britischer Priester die erste Schule für Mädchen ein. Li Ruzhens Feminismus ist das Resultat einer eigenen denkerischen Leistung und der gründlichen Auseinandersetzung mit der traditionellen chinesischen Ethik. Mit der Ankunft auf der Paradies-Insel »Klein Penglai« endet schließlich die Reise durch die exotische Ferne. Ergriffen von der Schönheit des Eilands verkündet Tang Ao gegenüber dem Steuermann, der angesichts des krank auf dem Schiff zurückgelassenen Lin Zhiyang zum Aufbruch mahnt, seinen Entschluß, die vergängliche Welt hinter sich zu lassen. Ich will ganz offen mit dir sein, Alter Duo. Seit wir diesen Berg erklommen haben, ist all mein Streben und Wünschen in mir erloschen. Darum gehe ich so 696
Ebd., Kap. 34, S. 241.
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DIE WELTEN HINTER DER WELT – IMAGINATION UND DASEINSERKLÄRUNG bedächtig, denn es widerstrebt mir, mich weiterhin mit den weltlichen Dingen 697 abzugeben.
Die letzten Romankapitel handeln in ihrem historischen Kern von den Kämpfen in Chang'an, wo die alte und kranke Kaiserin Wu Zetian abdankt und dem Zhongzong Platz machen muß, was einer Restauration der Tang-Herrschaft gleichkommt. Dennoch ist auch der Schluß weit mehr als nur historische Schilderung und hebt mit zentralen Symbolen der Welt des Scheins ein weiteres Mal auf die allegorische Aussage des Romans ab. Die loyalen Tang-Krieger sind allesamt mit den Blumengeistern vermählt. Bei ihrem Vormarsch gegen die Hauptstadt müssen sie die vier »Tore der Selbstzerstörung« erobern – das Tor des Weines, des Zorns, der Lust und des Reichtums. Die meisten Krieger sind nicht in der Lage, den Versuchungen zu widerstehen und sterben daher. Als zum Beispiel der heldenhafte Lin plötzlich Zorn gegen einen frechen Kellner empfindet, der dort eben zu diesem Zwecke von höheren Mächten hinbefohlen worden ist, »begann augenblicklich ein loderndes Feuer in seinem Inneren das Übel der Versuchung zu verzehren [...] Er wankte, stürzte nieder und verlor das Bewußtsein.«698 Am Tor des Reichtums dagegen erwartet die Angreifer als Versuchung eine riesige goldene Münze, die in der Luft hängt. Gierig drängen die Menschen näher in der Hoffnung, den Schatz zu ergattern, viele kommen in dem Chaos um, Leichen türmen sich auf. Doch auch hier ist nur täuschende Illusion am Werk, die Rettung kommt allein aus der eigenen aufrechten moralischen Gesinnung bzw. aus der plötzlich einsetzenden Erleuchtung. Illusion und Irrglaube sind die vornehmlichen Ursachen für das Böse, und so verkündet die taoistische Nonne den jungen Frauen bei ihrer Feier: Das Leben des Menschen auf der Welt besteht aus tausend Nöten und Sorgen. Man spielt um den Sieg und kämpft darum, der Stärkste zu sein. Mit Tod und Wiedergeburt folgt eine Illusion der nächsten. Es ist nicht mehr als ein Schachspiel, doch da der Mensch stets in diesem Seelen-lullenden Zauber gefangen 699 bleibt, erliegt er stets der Illusion.
Mit seinen Ermahnungen trifft Li Ruzhen den Ton, der vielen anderen Werken der Philosophie und der Erzählkunst in ihrem Streben nach Anleitung und Besserung des Menschen ebenfalls zu eigen ist. Auch Li Ruzhen entläßt den Menschen trotz der starken Kräfte der Vorherbestimmung, die er in vielen Aspekten im Roman anspricht, nicht aus seiner Verantwortung und der Möglichkeit des Willens zum Guten. Wie er zeigt, verfügt das Konzept der Vorherbestimmung durch den Begriff yuan, der mit »Schicksal« wohl nur ungenügend wiedergegeben ist und 697 698 699
Ebd., Kap. 40, S. 280. Ebd., Kap. 98, S. 752. Ebd., Kap. 90, S. 689.
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eher dem indischen karma ähnelt,700 über die Kraft der Festlegung von Verhältnissen in der Welt der irdischen Erscheinungen, selbst aber weit über dieser Erscheinungswelt steht, so daß sich der gesamte Titel des Werks Jinghuayuan auch als »Ursache der Täuschung« deuten läßt.701 Li Ruzhen kündigte im Roman verschiedentlich eine Fortsetzung zu Blumen im Spiegel an, zum einen, weil er, wie er sagte, nur vom Schicksal der Hälfte der himmlischen Blumenfrauen berichtet hatte, zum anderen, um weitere Illusionen des Spiegels aufzuweisen, wie er im Schlußvers des Buches hervorhebt: Der Glanz des Spiegels reflektiert den wahrhaft talentierten Mann Von dem sich Beispiele durch die ganze Historie finden Wenn du von allen Reflexionen des Spiegels wissen möchtest, so mußt du auf 702 die Fortsetzung warten.
Das Folgewerk zum Roman Li Ruzhens sollte erst viel später zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erscheinen. Kurz vor der Ausrufung der Chinesischen Republik, genauer gesagt im Jahre 1910, veröffentlichte Hua Qinshan sein Fortsetzung zu Blumen im Spiegel (Xu jinghuayuan) in vierzig Kapiteln.703 Wie der Verfasser in dem Vorwort und den Anmerkungen zum ersten Romankapitel hervorhebt, war es dabei sein Anliegen, die in Blumen im Spiegel angefangenen Fäden zu Ende zu spinnen. So greift Hua Qinshan das Schicksal der Yin Ruohua wieder auf, die nach der Feier im Kreise ihrer Freundinnen in die Heimat zurückgekehrt ist, um dort nach dem Tod der Königin den Thron zu besteigen. Mit von der Partie sind ihre Mitstreiterinnen Lanyin, Honghong und Tingting, die allesamt Ministerposten erhalten. Die Fortsetzung schildert nun von dem weiteren Schicksal der neuen Königin, etwa wie sie heiratet (Kap. 10) oder den Sieg über das Land der schönen Frauen davonträgt. So verwickelt das Befinden der einzelnen Heldinnen zunächst noch sein mag, finden in der Fortsetzung alle Blumengeister am Ende den Weg in den Himmel und bringen die gesamte Erzählung damit tatsächlich zu einem Abschluß.
700 701 702 703
Vgl. KAO: Li Ju-Chen, S. 60. Zu dieser Deutung ebd. Spiegel und Blumen, Kap. 100, S. 772. Hier nach dem Abdruck eines Manuskripts aus der Nationalbibliothek in Peking, herausgegeben vom Verlag Shumu wenxian, Peking 1992.
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Geschichte der chinesischen Literatur Herausgegeben von Wolfgang Kubin Band 1
Wolfgang Kubin Die chinesische Dichtkunst Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit Band 2
Thomas Zimmer Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit Band 3
Monika Motsch Die chinesische Erzählung Vom Altertum bis zur Neuzeit Band 4
Marion Eggert, Wolfgang Kubin, Rolf Trauzettel Die klassische chinesische Prosa Essay, Reisebericht, Skizzen Band 5
Karl-Heinz Pohl Ästhetik und Literaturtheorie in China Von der Tradition bis zur Moderne Band 6
Wolfgang Kubin, Dietrich Tschanz Das traditionelle chinesische Theater Band 7
Wolfgang Kubin Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert Band 8
Lutz Bieg Bibliographie zur chinesischen Literatur in deutscher Sprache Band 9
Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller Leben und Werke Band 10
Register
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Geschichte der chinesischen Literatur Band 2
Thomas Zimmer
Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit Band 2 / 2
K · G · Saur München 2002
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Gedruckt mit Unterstützung der DFG
Für Peiqing
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zimmer, Thomas: Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit / Thomas Zimmer. - München : Saur (Geschichte der chinesischen Literatur ; Bd. 2) ISBN 3-598-24544-0 2. - (2002) U Gedruckt auf säurefreiem Papier © 2002 by K . G . Saur Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig. Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck & Bindung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 3-598-24541-6
Inhalt Teilband 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I
1 3 3 7 9
1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 3. 4.
Teil II 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 2. 3. 4.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Stellung der frühen chinesischen Erzählkunst . . . . . . . . Definitorische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umgang mit der frühen Erzählkunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen und Ausformulierung einer Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Versuch der Bestimmung des klassischen chinesischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Entwicklung des klassischen chinesischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der geistig-kulturelle Nährboden der xiaoshuo . . . . . . . . . . . . . . . . Die Protagonisten der Romanliteratur: Literatenwelt und »Subkultur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und Methode der Auseinandersetzung mit dem klassischen Roman Chinas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Problematik der Quellen klassischer chinesischer Romanliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Welt der Mächtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Last der Geschichte – Der frühe historische Roman Chinas . . . . Die geteilte Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der kriegerische Clan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der betrogene General . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerungen an den Dynastiegründer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Blick zurück. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild des letzten Herrschers als Tyrann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein mächtiger Eunuch am Ende der Ming-Dynastie. . . . . . . . . . . . . Die Auflösung der Geschichte – Der historische Roman Chinas zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leiden an der Geschichte – Der historische Roman zum Ende der Qing-Dynastie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Räuberpistolen« – Der Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und seine Folgewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Märchen für Erwachsene« – Frühe chinesische Romane über Helden, Ritter und Abenteurer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Annalen menschlicher Verirrungen« – Der frühe chinesische Kriminal- und Detektivroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
v
26 33 35 40 50 67 71 73 82 106 110 118 123 129 153 161 179 189 224 254
Inhalt
Teil III: Die Welten hinter der Welt – Imagination und Daseinserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Der Komplex des Mythisch-Religiös-Phantastischen im frühen Roman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reise in den Westen (Xiyouji) und die Folgeromane . . . . . . . . . Der Seeweg nach Westen und die Mythologisierung der Ferne . . . . . Die Welt der Herrscher in mythischer Zeit – Der Roman Die Investitur der Götter (Fengshen yanyi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Diskussion über die Glaubensrichtungen zur religiösen Missionierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wandel des Fuchsdämons – Romane zum Thema der religiösethischen Selbstvervollkommnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderlinge aus höheren und niederen Welten . . . . . . . . . . . . . . . . Die mythisch verbrämte Suche nach kultureller Identität . . . . . . . . .
283 285 290 338 354 373 379 387 394
Teilband 2 Teil IV: Die Welt der Gefühle – Das Band, das zehntausend Wesen zusammenhält . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erotik, Liebe, Familie und autobiographische Sensibilität im chinesischen Roman seit dem Ende der Ming-Dynastie . . . . . . . . . . 2. Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall – Erotik im historischen Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der verkommene Klerus – Handlungen wider das Keuschheitsgelübde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausgebrannt – Ximen Qing und seine sechs Frauen im Roman Jin Ping Mei sowie die Folgewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schwanzlos: Die perfekte (Er)Lösung – Li Yu und sein Werk Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vom Frauenhelden zum Pantoffelhelden – Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die vollkommene Liebe: Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Frau als Dichter – Kurze Bemerkungen zum tanci. . . . . . . . . . . 10. Bastionen – Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Ein Kordon von Frauen – Der Roman Lin Lan Xiang. . . . . . . . . . . . 10.2 Die multiple Persönlichkeit – Der Roman Traum der Roten Kammer und die Folgewerke . . . . . . .
405
1.
vi
407 415 431 443 455 473 482 508 533 543 547 561
Inhalt
10.3 Die Rückkehr des verlorenen Sohnes – Der Roman Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng). . . . . . . . . . . . 10.4 Ein Sohn aus merkantiler Welt – Der Roman Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi) . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Suche nach Vollkommenheit – Die beiden Romane Spuren von Unsterblichen in der Wildnis (Luye xianzong) und Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan) . . . . . . . . . . . . . . 12. Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema und Sexualität in Zeiten des Umbruchs – Das 19. und frühe 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Vollkommene Männerliebe – Der Roman Spiegel der Augenweide an Blumen (Pinhua baojian) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Von unglücklichen Freiern und Dirnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Shanghai – Sittenbild vom Bordellmilieu im »Paris des Ostens«. . . .
Teil V:
Schmerzvolle Begegnung mit der Welt – Infragestellungen der Traditionen und Suche . . . . . . . . . . . . . .
1.
Der kritische Roman Chinas vom 18. Jahrhundert bis zum frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Falsche Gelehrte und korrupte Beamte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satirische Bestandsaufnahme – Wu Jingzis Inoffizielle Geschichte des Gelehrtenwaldes (Rulin waishi) . . . . . . . Vom Beamten zum schonungslosen Kritiker seiner Zeit – Li Boyuan und sein Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Schlüsselroman über die Diplomatie und Nomenklatura – Zeng Pus Roman Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Romane zum Problemkomplex des chinesischen Beamtentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Panoramablick auf die Misere Chinas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der allegorische Abschied vom alten China – Liu Es Roman Die Reisen des Lao Can (Lao Can youji) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literat und Provokateur – Das gesellschaftliche Hauptwerk des Wu Woyao . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reform oder Revolution? Ein politischer Streit und seine Reflexion in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Spielern, Zockern und Tycoons – Die Geschäftswelt im Roman zum Ende der Qing-Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugvögel – Vom Schicksal der Auslandschinesen . . . . . . . . . . . . . . Die Romanliteratur zur Emanzipation der Frauen . . . . . . . . . . . . . .
2. 2.1 2.2 2.3
2.4 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 4.4
Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
vii
603 621
628
671 671 691 704
733 735 745 745 757
777 787 798 798 808 825 825 834 847 857 903
Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monographien, Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographien, Hilfsmittel und Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Originalliteratur und Übersetzungen der untersuchten Romane . . . . . . . . .
911 911 939 941
Index der wichtigsten Namen, Titel, Begriffe und Zeichen. . . . . . . . . . . .
949
viii
Teil IV Die Welt der Gefühle – Das Band, das zehntausend Wesen zusammenhält
1. Erotik, Liebe, Familie und autobiographische Sensibilität im chinesischen Roman seit dem Ende der Ming-Dynastie
»Zu trinken ohne Durst und allezeit zu lieben, das allein ist es, Madame, was uns von anderen Tieren unterscheidet.« Figaro
Wir kommen noch einmal auf die ausklingende Ming-Dynastie zurück, wollen uns aber nicht, wie im Falle des im Abschnitt über den historischen Roman beschriebenen politischen Verfalls auf die Herrschaftsverhältnisse im Reich beziehen, sondern uns vielmehr verstärkt auf die geistigen Strömungen konzentrieren, welche den Aufschwung der Erzählliteratur im allgemeinen und die Hervorhebung bestimmter Inhalte im besonderen in ganz erheblichem Umfange mitbestimmten.704 Die Lektüre der konfuzianischen Schriften, beliebtes Lesematerial der klassischen Gelehrten, wurde mit einem Mal in Frage gestellt, man sollte sich »freimachen von dem was einen beschränkte und einem lieb geworden ist«, so die Forderung, die Lü Nan (1479–1552) an seine Zeitgenossen stellte. Doch dabei blieb es nicht. Der Mensch war im Leben gezwungen, auf Situationen zu reagieren, sich zu entscheiden, aber nur, wer dies im Einklang mit dem ihm angeborenen moralischen Wissen tat, blieb wahrhaftig. »Du bist wie ein reiner Spiegel im leeren Raum: das Schöne und das Häßliche sind aus sich heraus von selbst erkennbar«, so Wang Ji (1498–1583). In Ruhe zu reflektieren und die Dinge auf sich wirken zu lassen, sich nicht am hastigen Treiben der anderen zu beteiligen, wieder zu werden wie ein neugeborenes Kind, um in einer plötzlichen Erkenntnis das wahre Wesen der Dinge zu schauen, das war es, was Luo Rufang (1515–1588) sich in seinem Beitrag zum Zeitgeist wünschte, denn Wer ruhig dasitzt, der hat einen klaren Spiegel in seiner Brust. Ich bitte euch alle, euer eigenes Antlitz im Spiegel zu betrachten. Wenn ihr innerlich aufrecht und stark seid, dann werdet ihr euch wohlgekleidet sehen, und eure Haltung wird rein und glänzend sein. Doch wenn eure Gedanken sinnlichen Gelüsten und gemeinen Plänen nachhängen, dann werdet ihr nur ein schmutziges Gesicht mit wirrem, ungekämmten Haar erblicken. Nicht nur die anderen werden euch
704
Vgl. zur Lage Chinas am Ende der Ming-Dynastie ausführlich etwa JACQUES GERNET: Die chinesische Welt. Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit, aus dem Französischen von REGINE KAPPELER, Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 359–370.
407
Die WELT DER GEFÜHLE darob verlachen und sich für euch schämen, ihr selbst und euer ganzes Inneres werden dabei unruhig und ängstlich sein. Könntet ihr dann jemals zur Ruhe 705 kommen?
Es sind hohe Ansprüche, die hier an den Menschen gestellt werden, doch sie erklären sich aus der Empfindung über die bedrohte Moral zum Ende der Ming sowie der Ungenügsamkeit des starren überlieferten Sittenkodexes, mit den Problemen fertigzuwerden. Zudem bieten sie einen wichtigen Ansatz gerade für das zu dieser Zeit aufblühende Genre des erotischen Romans, denn was, um im Bild des soeben angeführten Spiegels zu bleiben, vermag deutlicher als der nackte, triebhafte Mensch diesem und der Epoche sein verkommenes Bild entgegenzuhalten? Man darf freilich bezweifeln, daß die erotische Literatur ausschließlich unter diesem Aspekt verfaßt und rezipiert wurde, und die bevorzugte Anonymität der Autoren sowie die schnell greifende Zensur durch die Behörden kennzeichnet deutlich die Bedenken, die man auf beiden Seiten darüber hegte, ob die Menschen mittels der Lektüre dieser Werke zur Erkenntnis der wahren Moral gelangen konnten. Vielmehr hat es den Anschein, daß man in der sozialen Orientierung, bei der die überlieferte chinesische Kultur den Gefühlen und privaten Wünschen stets mit erheblichem Mißtrauen begegnet war, durchaus der neokonfuzianischen Tradition verhaftet blieb: daß die menschliche Natur zwar vom Himmel verliehen war, die damit vorhandene Fähigkeit zur Tugend aber von selbstsüchtigen Wünschen bedroht wurde, welche es auszumerzen galt, da sie Harmonie und soziale Ordnung gefährdeten. Die Mittel, mit denen man diese Ordnung aufrechterhielt, waren Zensur sowie die strikte Anwendung der Normen und Sitten. In der chinesischen Erzählliteratur jener Zeit fehlt daher der leidenschaftliche Menschentypus dionysischer Natur, der unter Beharren auf der eigenen Emotionalität den Konflikt mit der Gesellschaft bis auf die Spitze treibt. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf dem Ausgleich zwischen der Befriedigung der individuellen Wünsche und den Gefahren, die ein Übertreten der gesellschaftlichen Normen mit sich bringt. Nirgendwo findet sich ein eindeutig positives Beispiel, das den Helden in seinem Widerstand gegen die herrschende Moralauffassung siegen läßt. Wohl wird nicht selten die starke Sympathie des Erzählers mit seinem verkommenen Protagonisten sichtbar, doch am Ende wartet auf ihn immer die Strafe für seine Vergehen. Jede noch so ausschweifende Form der Leidenschaft muß zum Schluß mit den Auffassungen in der Gesellschaft in Einklang gebracht werden. Das klingt im Bedauern der Ana, die in der Erzählung der verrückten Frau (Chi pozizhuan) Rückschau auf ihr liederliches Leben hält ebenso an wie im Tod des Ximen Qing im Jin Ping Mei. Der Genuß sexueller Freuden ist zwar berechtigt und darf keinerlei Zwängen unterworfen sein – so die Botschaft, die uns in zahlreichen erotischen 705
Zit. nach J.C. CLEARLY: Worldly Wisdom. Confucian Teachings of the Ming Dynasty, Boston u.a.: Shambala 1991, S. 119.
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Erotik, Liebe, Familie und autobiographische Sensibilität
Werken vermittelt wird, doch Exzesse und Wüsteneien sind abzulehnen.706 Aber der Blick auf das innere, ursprüngliche Wesen des Menschen war damit freigegeben und sollte noch für geraume Zeit »Studienmaterial« in beträchtlichem Umfang bereitstellen. Die sprachliche Derbheit einiger der frühen Werke erotischer Literatur aus der Mitte des 16. Jahrhunderts legt zumindest eine gewisse Nähe zu mündlichen Quellen nahe und enthebt sie damit dem Verdacht, lediglich Kopfgeburten moralisierender Gelehrter zu sein. Vor allem an der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert fand der nackte Mensch einen freien Ausdruck, besonders wenn man bedenkt, wie unerotisch die chinesische Hochkultur in weiten Teilen ihrer Entwicklung war.707 Dabei sind in der erotischen Literatur Chinas ganz deutlich Bezüge zur Medizin aufzuzeigen, wie bereits die ältesten erhaltenen Werke aus der Zeit der Westlichen Han (206 v. Chr.–25 n. Chr.) belegen. Es handelt sich um kurze Traktate, die unter Titeln wie Die Verbindung von Yin und Yang (He yin yang) oder Gespräche über das höchste Tao unter dem Himmel (Tianxia zhidao) verfaßt wurden. Dennoch darf man sich die chinesischen Hand- und Lehrbücher zur Erotik und Sexualität nicht einfach als körperbezogene Werke zur Ehehygiene vorstellen. Obwohl vergleichbare in der Liebeskunst bewanderte Göttergestalten wie Eros, Amor, Venus oder Aphrodite in der chinesischen Mythologie weitgehend unbekannt sind,708 ist die Vereinigung von Mann und Frau als kosmischer Geschlechtsakt ganz deutlich in dem Schöpfungsvorgang mit der Verbindung von qian (dem Kreativen) und kun (dem Empfangenden) als den Entsprechungen für Himmel und Erde festgehalten. Entsprechende Angaben macht bereits das Buch der Wandlungen (Yijing).709 Folglich war der Inhalt der meisten chinesischen Erotikhandbücher um den Erhalt der körperlichen Kraft mit dem Ziel der Erlangung von Unsterblichkeit angesiedelt, wobei es weitgehend nebensächlich blieb, aus welcher geistesgeschichtlichen Sicht heraus man argumentierte. Nur die Bezüge waren anders. Für den praktizierenden Taoisten stellte der eigene Körper als Wirkungsgebiet der Kräfte von 706
707
708 709
Vgl. hierzu den erhellenden Aufsatz von Paolo Santangelo: »Emotions in Late Imperial China. Evolution and Continuity in Ming-Qing Perception of Passions«, in: Notions et Perceptions du Changement en Chine. Textes Présentés aux IX e Congrès de l'Association Européenne d'Études Chinoises, hrsg. von VIVIANE ALLETON und ALEXEÏ VOLKOV, Paris: Collège de France, Institut des Hautes Études Chinoises 1994, S. 177f. Vgl. hierzu die Anmerkungen von HERBERT FRANKE: »Chinesische erotische Literatur«, in: GÜNTHER DEBON: Ostasiatische Literaturen, Bd. 23 in Handbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. v. KLAUS V. SEE, Wiesbaden: Aula-Verlag 1984, S. 99. Zum Thema der Erotik in der bildenden Kunst vgl. die auch ansonsten zum chinesischen Sexualleben immer noch hervorragende Studie R. H. VAN GULIK: Sexual Life in Ancient China, Leiden: E. J. Brill 1974, S. 317–332. Vgl. HERBERT FRANKE: »Chinesische erotische Literatur«, S. 99. Vgl. DOUGLAS WILE: Art of the Bedchamber. The Chinese Sexual Yoga Classics including Women’s Solo Meditation Texts, Albany: State University of New York Press 1992, S. 11.
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Die WELT DER GEFÜHLE Himmel und Erde Mittel und Ziel seiner geistigen Tätigkeit dar. Der Konfuzianer hingegen verehrte den Körper als das Erbe, das einem von den Ahnen geschenkt worden war. Beide Geistesrichtungen hegten in bezug auf das Geschlechtliche eine eher rationale als romantische Anschauungsweise. Die Konfuzianer kamen zu diesem Schluß, indem sie die Heirat als eine wichtige soziale Institution betrachteten, welche durch Wahrnehmung des Auftrags der Ahnen – nämlich für Nachwuchs zu sorgen – die Unsterblichkeit des Clans garantierte und ihrer Bedeutung zufolge nicht mit reinen Liebesangelegenheiten belastet werden durfte. Die Verehrung durch spätere Generationen genügte vor diesem Hintergrund als transzendenter Bezug. Nicht so dagegen bei den Taoisten, die mit Hilfe sexueller und alchimistischer Methoden bereits ihrer jetzt-körperlichen Existenz einen Weg zur Unsterblichkeit auftun wollten.710 Es würde den Rahmen dieser Einführung sprengen, wollte man hier auf die Texte der einzelnen Handbücher in aller Ausführlichkeit eingehen.711 Wir wollen allerdings die wesentlichen Inhalte kurz anführen, um damit den theoretischen Hintergrund der erotischen Literatur seit der Ming-Zeit zu verdeutlichen. Die meisten der fraglichen Werke befürworten den Genuß der Sexualität, raten dabei aber zu einem Maßhalten. Alle Formen von Ausschweifungen sind dagegen gefährlich und ungesund.712 Dem liegt die Annahme zugrunde, daß die sexuelle Potenz mit zunehmendem Alter abnimmt bzw. daß das Altern überhaupt auf ein unangepaßtes Sexualleben zurückzuführen ist. Alleine die Einnahme von heilenden Kräutern sowie das Praktizieren des coitus reservatus verhüten hier Schlimmeres. Es sind vor allem die um die Erotikhandbücher angesiedelten Rezepturen zur Herstellung von Kräutertränken, die die Nähe zur chinesischen Heilmedizin erkennen lassen. Extreme wie zum Beispiel die vollkommene sexuelle Enthaltsamkeit sind jedoch ebenso zu vermeiden bzw. nur im hohen Alter ratsam, denn, so läßt uns der Klassiker der Su nü wissen, damit werde der Austausch von yin und yang unterbunden und besitze der Geist keine Möglichkeit, sich auszuweiten. Die insgesamt androgene Sicht vom Nutzen und Schaden des Geschlechtsaktes findet weitere Ent710 711
712
Vgl. dazu die Ausführungen ebd., S. 12. Als Einführung in die Materie soll uns hier die bereits mehrfach angeführte und gut kommentierte Anthologie von WILE: Art of the Bedchamber genügen. Daneben findet sich eine recht brauchbare Zusammenstellung wichtiger Passagen über die chinesische Liebeskunst bei Fang-chung-shu. Die chinesische Liebeskunst, hrsg. von WERNER HEILMANN, München: Wilhelm Heyne 1990. Einen knappen Überblick über die Probleme der Erotik in Chinas Gesellschaft und Literatur bietet HELMUT MARTIN im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Sammlung Zhang und die Nonne vom Qiyun-Kloster. Erotische Erzählungen aus dem alten China, aus d. Chinesischen von STEFAN M. RUMMEL, München: Heyne 1993, S. 206–219. Vgl. zu dieser allgemeinen Feststellung auch KEITH MCMAHON: »Eroticism in Late Ming, Early Qing Fiction: the Beauteous Realm and the Sexual Battlefield«, in: T'oung Pao LXXIII (1987), S. 218.
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Erotik, Liebe, Familie und autobiographische Sensibilität
sprechungen in dem Glauben, daß sexuelle Energie von einem auf den anderen Organismus übertragen werden kann, eine schale Rechtfertigung für die praktizierte Polygamie in der chinesischen Feudalgesellschaft. Recht unverblümt lautet die entsprechende Devise in den Nützlichen Gesundheitsanweisungen für das Schlafgemach (Fangzhong buyi): Bei der Wahl einer Frau ist nicht entscheidend, ob sie wohlansehnlich oder schön ist. Vielmehr sollte sie jung sein, noch kein Kind zur Welt gebracht haben und gut im Fleische sein. Eine solche Partnerin ist der eigenen Gesundheit zuträglich. Wenn es die finanziellen Mittel erlauben, möchte man bei der Wahl darauf achten, daß die Frau über schönes Haar, weiße Pupillen, einen fülligen Körper sowie weiche Knochen verfügt. Ihre Haut sollte zart, die Stimme wohlklingend sein. [...] Der häufige Wechsel von Partnern steigert den Nutzen noch. Der regelmäßige Verkehr mit ein und derselben Frau schwächt ihr yinqi und bringt wenig Vorteil. Das Tao des yang bildet Feuer, das des yin Wasser. Ausschließlich mit einer Frau zu verkehren, läßt ihr yinqi an yang-Kraft gewinnen und das eigene yang an Stärke verlieren. Der Mann büßt dabei mehr ein als er gewinnt. Dagegen wird der, dem es gelingt, mit zwölf Frauen zu schlafen ohne zu ejakulieren seine Jugendlichkeit und Schönheit nur steigern. Ein Leben von zehntausend Jahren hat der zu erwarten, der mit dreiundneunzig Frauen geschla713 fen hat und trotzdem durch inneren Verschluß keinen Samen verlor.
Die intensivste Form der Aufnahme sexueller Kräfte beim Mann findet durch das passive, beherrschte Glied statt, das die beim weiblichen Orgasmus freigesetzten Essenzen »trinkend« in sich aufnimmt. Weniger energiespendend, aber dennoch nicht wertlos, sind der weibliche Atem, der Speichel, Sekretionen aus den Brüsten u.ä. Je jünger und sexuell unbedarfter eine Partnerin, desto größer die ihr innewohnende Kraft, welche genutzt werden kann. Mit der Geburt von Kindern büßt eine Frau dagegen wesentliche Elemente ihres yinqi ein und wird für den Mann als Kraftspenderin uninteressant. Diese einseitige Darstellung in den Quellen verhindert freilich nicht, daß sich die Geschlechter im Kampf um die lebensverlängernde Energie des anderen – der Prozeß wird wertungsfrei in der Literatur als caibu beschrieben – als potentiell gleichwertige Gegner gegenüberstehen. Denn der Mann zieht nur aus dem coitus reservatus einen Vorteil, indem nämlich, so die Vorstellung, der Samen über die Wirbelsäule zum Gehirn aufsteigt.714 Veranlaßt 713 714
Vgl. WILE: Art of the Bedchamber, S. 116. Es sind um diesen Glauben eine Reihe von orthodoxen Praktiken entstanden, die neben der Zurückhaltung des Spermas auch die Einnahme von Körpersubstanzen wie Urin, Menstruationsflüssigkeit oder Placenta umfassen, d.h. Stoffen, die über eine uranfängliche Kraft verfügen und die eigenen Energien bereichern. Vgl. dazu Das Spiel von Wolken und Regen. Die Liebeskunst in China, hrsg. von MICHEL BEURDELEY, München: Keysersche Verlagsbuchhandlung 1969, S. 30.
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Die WELT DER GEFÜHLE die Frau ihren Partner dagegen zur Ejakulation, so geht zweifellos sie als Siegerin vom Felde, und so werden die Handbücher nicht müde, die sexuelle Überlegenheit der Frauen anzuprangern, ziehen sie doch zumeist den größeren Nutzen aus der Vereinigung. Wir haben mit der Fuchsdämonin Daji in den Metamorphosen der Götter bzw. der Kaiserin Wu Zetian bereits eindrucksvolle literarische Gestalten dieser femme fatale kennengelernt und werden in diesem Kapitel mit Pan Jinlian und Su'e auf weitere treffen. Sie alle zeichnen sich durch Gerissenheit, Machthunger sowie eine zerstörerische sexuelle Kraft aus. Hier werden gleichsam unterschiedliche Anliegen in den als medizinische Präskriptionen verstandenen Handbüchern zur Erotik und der Erzählliteratur sichtbar. Bleiben die ersteren im Ton sachlich und nüchtern, so greifen die letzteren Extreme auf: Mann und Frau als ewige Antagonisten, hier sexuelle Unersättlichkeit, dort Erschöpfung und Kraftlosigkeit, zu finden in beiderlei Geschlecht. Nur der Tod kann am Ende die Lösung bringen. Mahnung zum sexuellen Maßhalten schwingt zwar unterschwellig mit, wird aber stets in übertreibenden Bildern vermittelt. Zu gezielt ekelerregenden Darstellungen, für die sich mit dem Œuvre de Sades oder mit de Mussets Gamiani eine ganze Reihe von Beispielen in der abendländischen Literatur anführen lassen, ist es in China allerdings weitgehend nicht gekommen.715 Die Ausnahme bildet unter den hier behandelten Romanen lediglich das Werk Yu Gui Hong. Vielmehr war eine harmonische Sicht des Austausches der Geschlechter bereits den Erotikhandbüchern durchaus nicht fremd, ja sogar die Voraussetzung für das Wohlergehen von Familie und Staat. 716 Die erotische Erzählliteratur seit der Ming-Dynastie hat von den hier in geraffter Form beschriebenen Regeln der Liebeskunst in unterschiedlichem Maße Gebrauch gemacht. Der Zeitraum, in dem die erotisch-pornographischen Werke der chinesischen Erzählliteratur mit unverhüllten Darstellungen eine große Leserschaft erfreuten, war mit etwa eineinhalb Jahrhunderten bis weit in die ersten Jahrzehnte der QingHerrschaft nicht allzu knapp bemessen, konnte sich aber gegen die in den in der Tradition von mitunter mehr als tausend Jahre alten Liebesgeschichten verfaßten Romane aufgrund eines zunehmenden Rigorismus und der erneuten Hervorhebung moralischer Grundsätze im Konfuzianismus nicht behaupten. So finden sich in den späteren Liebesromanen, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts aufkamen, nur noch spärliche Andeutungen des erotischen Themas. In den Mittelpunkt rückt 715
716
Vgl. dazu auch die Bemerkungen bei JACQUES PIMPANEAU: Histoire de la Litterature Chinoise, Paris: Editions Philippe Picquier 1989, S. 388, der die Gedanken von van Gulik weiterentwickelt. Nützliche Gesundheitsanweisungen für das Schlafgemach, s. WILE: Art of the Bedchamber, S. 118.
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Erotik, Liebe, Familie und autobiographische Sensibilität
vielmehr das Problem der Liebe selbst und ihre Idealisierung, wie die zahlreichen Werke über Talente und Schönheiten (caizi jiaren) zeigen werden. Auch hier orientierte man sich an einer Reihe gängiger Topoi. Die Vorstellungen von der Bedeutung der Emotionalität sind dabei mit dem Begriff qing konzeptualisiert worden. Qing wird zur empfindsamen Kraft im Menschen, die ihn in Verbindung mit anderen Menschen und Dingen um sich herum treten läßt. Um den Begriff ist eine breite Palette von Literatur entstanden, und qing wird uns in einigen den Romanen vorangestellten Traktaten als Hinweis darauf, wie ein Verfasser sein Werk verstanden haben will des öfteren begegnen. Es war Feng Menglong (1574–1646), dem Verfasser und Publizisten mehrerer Novellensammlungen zum Ende der Ming-Dynastie vorbehalten, mit seiner Geschichte des Gefühls (Qingshi), einer thematisch gegliederten Sammlung von mehr als achthundertfünfzig Liebesgeschichten und Anekdoten, eine erste Systematik vorzulegen. Als Motto heißt es dazu in einem dem Werk vorangestellten Preisgedicht: Ich will die Lehre des qing begründen / Und alle Lebewesen darin unterrichten. / Der Sohn zeigt es gegenüber dem Vater, / Der Untertan zeigt es gegenüber dem Fürsten. / Auf die verschiedensten Erscheinungen bezogen, / Bietet sich stets folgender Anblick: / Die zehntausend Wesen gleichen verstreuten Münzen, / Qing ist die Schnur dazu. / Sind die Münzen einmal aufgereiht, / Werden alle auf Erden eine große Familie. / Wenn jemand andere schädigt, / Schadet er dem eigenen qing. / Die Blumen im Frühling zu betrachten, / Erzeugt Freude bei allen Lebewesen [...] Leider ist mein qing so riesig / Und das der anderen so gering, / Ich wünsche mir einen Menschen voller qing, / Um gemeinsam die Lehre zu prakti717 zieren.
Feng Menglong kommt in seinen zahlreichen kategorischen Zuordnungen wie der »Geschlechtlichen Liebe« (qing'ai), der »Ritterlichen Liebe« (qingxia), der »Zweifelnden Liebe« (qingyi) etc. zwar zu keiner präzisen Definition des Begriffs, doch wird dahinter das dynamische Konzept der Beziehungen zwischen Mann und Frau erkennbar. Das in diesen einführenden Bemerkungen bereits mehrfach genannte Jin Ping Mei ist mit seinem Reichtum an Szenen und Problemen ein Meilenstein in der chinesischen Literatur und hat als Sittengemälde Maßstäbe gesetzt. Zu einer Einordnung ist es jedoch notwendig, einen Blick auf die zahlreichen frühen Formen des erotischen Romans ebenso zu werfen wie auf die Ausläufer dieses Genres. Parallel zum Jin Ping Mei kam um die Mitte des 17. Jahrhunderts eine Reihe von Werken auf, in deren Mittelpunkt das Thema von Ehe und Familie stand, das dann noch einmal in großen Romanen wie dem Traum der Roten Kammer bzw. 717
Zit. nach KAI NIEPER: Neun Tode, ein Leben. Wu Woyao (1866–1910). Ein Erzähler der späten Qing-Zeit, Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1995, S. 220.
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Die WELT DER GEFÜHLE Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng) hundert Jahre später aufgegriffen wurde. Von erheblichem Einfluß waren auch die wenige Jahrzehnte zuvor entstandenen Erzählwerke über Talente und Schönheiten, denen wir in einem weiteren Abschnitt unsere Aufmerksamkeit widmen wollen. Die oben skizzierten Denkrichtungen zum Ende der Ming-Dynastie leiteten in Chinas Literatur eine Phase ein, in der autobiographische Schriften bis in die ersten Jahrzehnte der Qing-Zeit hinein eine eminent wichtige Rolle spielten. Angesichts der verschärften Zensur wurde den offenen und unverhüllten Selbstbekenntnissen und Selbstdarstellungen jedoch nach und nach ein Ende bereitet. Damit war das Bedürfnis nach Selbstäußerung freilich keineswegs verschwunden, man suchte nur nach neuen Formen und Wegen und fand diese in eben der Erzählkunst, wobei frühe Romane wie Jin Ping Mei und Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt (Xingshi yinyuanzhuan) mit ihrem auf das Private gerichteten Ambiente bereits den Rahmen vorgaben, dessen man sich dann vor allem im 18. Jahrhundert bediente. Den Abschluß dieses umfangreichen Kapitels bilden sodann mehrere Romane über das gesellschaftliche Treiben im Rotlichtmilieu der Metropole Shanghai zum Ende des 19. Jahrhunderts, wo Erotik und Liebe nur noch am Rande eine Rolle spielen und bereits deutliche Bezüge zu der wenige Jahre später aufkommenden sozialkritischen Literatur zu erkennen sind.
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2. Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall – Erotik im historischen Bezug Unter der frühen erotischen Literatur kristallisieren sich mehrere Themenbereiche heraus, die deutlich auf die maroden Zeiten zum Ende der Ming-Dynastie abheben. Da ist zunächst die Geschichte mit ihren tragenden Gestalten selbst. Im Mittelpunkt steht das ausschweifende Treiben der Kaiser oder hoher Beamter, Ausnahmefiguren, die am Ende des Herrscherhauses oder in Krisenzeiten leben und mit ihrem zügellosen Betragen den drohenden Untergang symbolisieren. Wir haben mit dem Sui-Kaiser Yangdi im Kapitel über den historischen Roman bereits einen herausragenden Vertreter dieses Genres kennengelernt. Die Handlung selbst mag in einer viel früheren Epoche angesiedelt sein, läßt aber deutliche Hinweise auf die Situation zur Zeit der Abfassung in der Ming-Dynastie erkennen. Hier wird die Botschaft vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Sittenideals vor allem symbolisch faßbar: Der Kaiser als »Sohn des Himmels« und damit höchster Sittenwächter im Reich bedroht die Ordnung, beschwört mit seinem Verhalten Chaos und Unglück herauf. Wo dieser mahnende Ton nicht mehr reichte, Reich und Dynastie sich in hoffnungsloser Auflösung befanden, behalf man sich mit einer aus unserer heutigen Sicht weit eindrucksvolleren Darstellungsweise. Kaiser und Minister spielten nur noch am Rande eine Rolle, der aktuelle zeitliche Rahmen diente lediglich als Setting für die realistische Schilderung des verkommenen Treibens in der Gesellschaft, die ohne die sittenlosen Zustände bei Hofe freilich nicht denkbar wären. Wir werden hier mit dem kleinen Werk Yu Gui Hong ein hervorragendes Beispiel antreffen. Das früheste Werk der in diesem Abschnitt behandelten historisch-erotischen Romane bringt uns noch einmal mit einer alten Bekannten zusammen, die wir bereits in dem chinesischen Kriminalroman kennengelernt haben. Die Rede ist von Wu Zetian (625–705), die sich während der Tang-Dynastie kurzfristig zur Kaiserin aufschwang und deren Bild in der seitdem überlieferten Erzählliteratur vor allem durch ihr zuchtloses Treiben am Hofe bestimmt war. Hier bildet auch der kurze Roman Die Erzählung vom Kavalier nach Wunsch (Ruyijun zhuan) keine Ausnahme, ein kleines Werk, das noch die später gebräuchliche Kapiteleinteilung entbehrt und in der schriftsprachlichen Variante des wenyan abgefaßt ist.718 Verfasser und Zeit der Entstehung sind unbekannt, doch läßt sich zumindest 718
Die Bearbeitung erfolgte hier nach der französischen Übertragung in: Vie d'une Amoureuse. Übersetzt aus dem Chinesischen von HUANG SAN und LIONEL EPSTEIN, Arles: Éditions Philippe Picquier 1994, S. 95–158. – Aus der Qing-Dynastie (Vorwort datiert auf das Jahr 1833) liegt ein zweiundsiebzig Kapitel umfassender Roman gleichen Titels vor, in dem vor einem Ming-zeitlichen Hintergrund die Geschichte der himmlischen Genien Goldjunge
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Die WELT DER GEFÜHLE letztere durch Erwähnung des Buches in anderen schriftlichen Quellen mit einiger Sicherheit bestimmen. So wird Kavalier nach Wunsch etwa in einem 1572 edierten Werk des Titels Bemerkungen zu einer nützlichen Lektüre (Dushu yide) aus der Feder Huang Xuns (1490–ca. 1540) erwähnt, deren betreffender Abschnitt allerdings schon vor 1525 abgefaßt worden sein dürfte und somit gemeinsam mit den im Romanvorwort angegebenen Jahreszyklenangaben eine Entstehungszeit zwischen 1514 und 1520 nahelegt.719 Wie einflußreich Kavalier nach Wunsch auf die folgenden Romane der Erotik war, belegen die Anspielungen, die sich etwa im Jin Ping Mei dazu finden.720 Anders als im Kriminalroman, wo die Ausschweifungen der Kaiserin nicht in aller Deutlichkeit beschrieben werden, widmet Kavalier nach Wunsch diesem Aspekt breiten Raum, so daß etwa zwei Drittel des Werkes allein von erotischen Szenen beansprucht werden. In knappen Zügen schildert der Verfasser zunächst den Aufstieg der Wu Zetian, die als Tochter des Präfekten von Jingzhou im Alter von vierzehn Jahren Aufnahme in den Harem des betagten Kaisers Taizong findet. Schon der Hinweis auf die Verführung des Kronprinzen Gaozong, ein verdammungswürdiger inzestuöser Akt, deutet die ganze Schlechtigkeit der kommenden Reichsherrin an. Nachdem Xue Aocao in den Kreis um Wu Zetian vorgestoßen ist, macht diese sich an die Prüfung seiner Talente: »Wo du schon über ein fleischliches Liebeswerkzeug verfügst«, sagte Kaiserin Wu, »so will ich mich von seiner Beschaffenheit selbst überzeugen.« Daraufhin ließ sie ihn seine Robe lüften und verharrte angesichts des mächtigen Glieds, das sie sah, eine Weile in andächtigem Schweigen. Schließlich sagte sie: »Du wirst damit gute Dienste verrichten können!« Doch auf Aocao hinterließen die Worte keine Wirkung. »Ein wahres Prachtstück!« hob Kaiserin Wu von neuem an, »und bislang vollkommen ungeprüft!« Mit diesen Worten änderte sie ihre Miene und legte die eigene Vulva frei. Eine breite Schamritze kam zum Vor-
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(Jintong) und Jademädchen (Yunü) erzählt wird, welche als Tian Wenquan (Sohn des Gelehrten Tian Yousan aus dem Drachenpavillon) sowie als Tochter des Ming-Kaisers Xiaozong zu irdischer Existenz gelangen. Als Prüfungsbester macht der Kaiser Wenquan zu seinem Schwiegersohn, indem er ihn mit der Inkarnation Jademädchens vermählt. Im Auftrag des Kaisers unternimmt das Paar eine Reise in den Süden des Reiches und sammelt auch sonst eine Reihe von Verdiensten (z.B. bei der Niederschlagung eines Barbarenaufstandes, der Milderung von Schäden durch Unwetterkatastrophen etc.), was Wenquan am Ende bei seiner Adelung eben den Titel des »Kavaliers nach Wunsch« einbringt, womit er nach der orthodoxen Moralauffassung freilich ein viel würdigerer Träger dieser Bezeichnung ist als sein Pendant in dem Ming-zeitlichen Werk. Vgl. d. Angaben in Vie d’une Amoureuse, S. 97. Unter Zugrundelegung der Zeitangaben im Text selbst, wo an zwei Stellen auf die Yuan-zeitliche Yuantong-Ära (1333–1334) Bezug genommen wird, ließe sich die Entstehungszeit sogar noch weiter zurückverlegen, doch scheint ein früheres Entstehungsdatum als das im Text genannte recht unwahrscheinlich. So etwa in Kapitel 27 des Romans an mehreren Stellen.
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Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall schein, eingebettet in üppiges Fleisch, das ganz von Haaren befreit war. Unsicher zögerte Aocao noch, sich Wu Zetian zu nähern, doch sie hatte bereits seine Hand ergriffen, in den eigenen Schoß gelegt und ihn geheißen, ihren Körper zu streicheln. Aocaos Glied schwoll an, langsam schob sich die Eichel durch die Vorhaut, und deutlich sah man die prall mit Blut gefüllten Adern unter der schimmernden Haut hindurchtreten. Bald stand es fordernd und mächtig von den Schenkeln ab. Vorsichtig, wie einen Diamanten, hielt Wu Zetian das Glied in ihren Händen und rief verzückt: »Welch eine Kraft! Das sieht man nicht alle Tage. Ich habe schon mit vielen Männern verkehrt, aber so eindrucksvoll wie du hat sich noch niemand gezeigt. Es heißt, Wang Yifu habe einst einen herrlichen Fliegenwedel mit einem exquisiten Jadegriff besessen. Ich werde deinem Glied daher den Namen Zhuping – Griff des Fliegenwedels – geben.« [...] Aocao hob die Beine der Kaiserin hoch und ließ sein Glied, geführt von ihrer sicheren Hand, über ihr Geschlecht gleiten, ohne jedoch einzudringen. »Sei vorsichtig«, sagte sie zu dem hitzigen jungen Mann, und mit zusammengebissenen Zähnen, den Schmerz nur mühsam unterdrückend, spürte sie, wie sich sein Glied langsam den Weg in ihren Körper bahnte: Erst die Eichel, dann das ganze mächtige Glied, unterstützt vom Tau der Lust. [...] »Zhuping ist zu stark«, flüsterte Wu, »er bereitet mir Schmerzen. Ich kann nicht mehr. Laß uns eine Weile ruhen.« Es verging ein Moment, bis Aocao sah, daß sich der Blick der Kaiserin trübte. Ihre Hände wurden heiß, die Wangen glühten, der Atem ging kurz, und sie wandte ihm das vom Tau der Lust feuchte Becken zu, damit er sie endlich nehme. Nach zweihundert Stößen ohne eine einzige Unterbrechung preßte die Kaiserin sich plötzlich ganz dicht an seinen Unterleib, hielt die Lider geschlossen und verharrte regungslos, wobei ein mit Schweiß und Parfum gefüllter Duft von ihrem Körper ausströmte. »Sind Sie krank, Majestät?« wollte Aocao besorgt wissen, und er war schon daran, sich zurückzuziehen, da er keine Antwort erhielt, da umarmte ihn die 721 Kaiserin und rief: »Oh, mein Schatz, bringe mich nicht um meinen Genuß!«
Wir haben die Szene des ersten Beisammenseins von Wu Zetian und Xue Aocao hier mit einer längeren Passage wiedergegeben, denn sie ist beispielgebend für eine Reihe weiterer erotischer Bilder im Roman, wo allenfalls die Umgebung und Liebestechniken verändert werden. Mit der Zeit kommt auch Wu Zetian in die Jahre, Reize und Gesundheit nehmen ab. Xue Aocao verschafft sich schließlich auch bei seinen Kritikern am Hofe die gebührende Achtung, als er die Kaiserin überredet, Kaiser Zhongzong wieder den Thron zu überlassen und die Macht des Herrscherhauses der Tang zu restituieren. Da Aocaos Aufgabe bei Hofe damit aber insgesamt erfüllt ist und er bei einem neuen Herrscher mit dem Verlust des Lebens rechnen muß, entläßt ihn Wu Zetian schließlich aus ihren Diensten, damit er sich in den Schutz des Prinzen von Wei begebe. Doch ein heimlich von der Kaiserin entsandter Liebesbrief läßt Aocao am Ende aus Wei fliehen, als Taoist zieht er sich in die Einsamkeit zurück. 721
Vie d’une Amoureuse, S. 125ff.
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Die WELT DER GEFÜHLE Auf die ersten Jahrzehnte der Qing-Dynastie dürfte ein dreißig Kapitel langer Erotikroman mit dem Titel Geschichte der Wollust (Nong qingkuai shi) zurückgehen, der sich noch einmal umfassend dem ausschweifenden Leben der Wu Zetian widmet. Die in bezug auf das Erotikproblem differenzierte Sicht, welche sich in dem Werk andeutet, kommt nicht zuletzt in der Gestalt des späteren hohen Hofbeamten Di Renjie zum Ausdruck, welcher den Verführungsversuchen einer Frau mehrmals widersteht, indem er hohe moralische Ansprüche geltend macht sowie seine ganze Vorstellungskraft anstrengt, für die sich in dieser Form kaum Vorläufer in der erotischen Literatur Chinas finden. Di Renjie sah, wie eine Frau ins Zimmer trat und mochte sich ihr Erscheinen zunächst nicht erklären. Er entbot ihr seinen Gruß und sagte: »Was bringt Sie in so später Stunde zu mir, junge Frau?« »Ich habe meinen Mann in jungen Jahren verloren«, erwiderte die Frau mit einem Lächeln, »und fühle mich nachts einsam. Die Nachricht von Ihrer Ankunft hat mich in höchste Freude versetzt, mir scheint es vom Himmel vorherbestimmt, daß wir ein Paar werden sollen. Das ist ein Glück ohnegleichen.« Di betrachtete die Frau näher. Sie besaß ein hübsches Antlitz, so daß sich in ihm alsbald ein Gefühl der Lust zu regen begann. Er war nahe daran, auf ihr verlockendes Angebot einzugehen, als es ihm plötzlich in den Sinn kam: Wer verspürte nicht Wollust und Freude bei solch einem entzückenden Anblick? Aber die heiligen Gebote des Himmels dürfen nicht verletzt werden. Nur wenn ich ein Beispiel setze und dem Wunsch entsage, meine Lust an einer fremden Frau zu stillen, wird auch kein Fremder es wagen, seine Lust an meiner eigenen Gattin zu stillen. Wie könnte ich es über mich bringen, gegen diesen Grundsatz zu verstoßen? Daher erklärte er: »Dies ist eine Frage des Rufes, auf den man bedacht sein sollte sowie der Moral. Ich bin nicht bereit, den Tugendanspruch an mein Leben für die Freuden einer einzigen Nacht aufs Spiel zu setzen. Ich würde mir wünschen, daß auch Sie genügend Selbstachtung besitzen und nicht leichtfertig die Regeln des Anstands verletzen.« Die Frau stand wie ein begossener Pudel in dem Raum, doch nachdem sie sich gesammelt hatte, dachte sie: Wo ich schon einmal hier bin, sollte ich auch nichts unversucht lassen, die Nacht mit ihm zu verbringen. Was könnte mich davon abhalten? Und indem sie ein wenig näher trat, sprach sie: »Ich habe doch mein Anliegen ganz unmißverständlich vorgetragen. Warum weisen Sie mich zurück? Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?« Ihre Worte entfachten das Feuer der Lust in Dis Brust aufs neue, und nahe daran, seinen wollüstigen Trieben nachzugeben, beherrschte er sich doch und dachte bei sich: Nein, niemals! Er wandte sich ab, die Türe zu öffnen, sah jedoch keine Möglichkeit, wie er an der Frau, die ihm den Weg versperrte, vorbei kommen sollte und log daher notgedrungen: »Sie müssen wissen, ich leide an einer Krankheit. Mein Glied ist entzündet und schmerzt arg. In meinem Zustand ist es ganz ausgeschlossen, mit Ihnen die Freuden der Liebe zu genießen.« Erneut machte sich ein Gefühl der Enttäuschung in der Frau breit. Welch ein Unglück, dachte sie, wie soll ich mich hier nur mit Sitte und Anstand aus der Affäre ziehen? Sie besann sich einen Moment lang und sprach dann in mitleidigem Ton: »Selbstverständlich werde ich nicht auf
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Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall Erfüllung meiner innigsten Wünsche beharren, wenn Sie leidend sind. Doch lassen sie mich wenigstens gleich einer Hofdame das Lager mit Ihnen teilen, das würde mir schon genügen.« Di vermochte bei diesen Worten kaum noch, das Verlangen in seiner Brust zu zügeln, am liebsten hätte er sie sogleich umarmt, doch wieder rief er sich seine Grundsätze von eben in den Sinn: Die heiligen Gebote des Himmels dürfen nicht verletzt werden. Aber obgleich er seiner Ablehnung mit einem entschlossenen »Niemals!« Ausdruck verliehen hatte, brachte das lodernde Feuer der Lust ihn fast um den Verstand. Wie würde er es nur fertigbringen, die Lust zu bezwingen? Plötzlich fiel ihm ein, was ein Mönch ihm einst gesagt hatte: Du darfst die Lust in dir gar nicht erst aufkommen lassen, ansonsten verfällst du ihr und bist rettungslos verloren. Daher nahm er all seine Vorstellungskraft zusammen und stellte sich vor, wie diese schöne Frau dort vor ihm, einst in der Zukunft in einem Sarg ruhen und ihr Körper von Würmern zerfressen würde. Und richtig, indem er sich die Szenen des unausweichlichen Verfalls in den schrecklichsten Bildern ausmalte, gelang es ihm schließlich, die Lust in seinem Herzen zu bezwingen. Entschlossen stieß er die Frau von sich und verkündete: »Lassen Sie mich Ihnen einige Zeilen zu Papier bringen.« Die Frau zögerte, da sie nicht wußte, was Di ihr mitteilen wollte, doch dieser hatte schon zu Pinsel und Papier gegriffen und schrieb: Ein schönes Antlitz ruft Wollust im Herzen des Menschen hervor, doch nur, wenn ich dem Wunsch entsage, meine Lust an einer fremden Frau zu stillen, wird auch kein Fremder es wagen, seine Lust an meiner eigenen Gattin zu stillen. Wo das Feuer der Lust in meiner Brust lodert, denke ich an den Tod der Schönen, und der Gedanke an ihren 722 von Würmern zerfressenen Leib bringt mich wieder zu Verstand.
Es gelingt Di Renjie am Ende, die zudringliche Frau zu überzeugen, so daß auch sie von ihrer unzüchtigen Sehnsucht geheilt wird und sich ihm dankbar vor die Füße wirft. Als Ausbund an Sittenstrenge steht Di hier und später bei Hofe freilich weitgehend alleine da. Dem zügellosen Treiben der Kaiserin kann er nur tatenlos zusehen, und erst nach seinem Tode sowie Wus Abdankung zugunsten Zhongzongs gelingt es fünf einst noch von Di protegierten Ministern endlich, die unzüchtige Brut in der Umgebung des Kaisers auszurotten. Fast hundert Jahre nach dem Kavalier nach Wunsch erschien während der ersten beiden Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts mit der Inoffiziellen Geschichte der Stadt Baumstumpfwald (Zhulin yeshi) ein Roman in sechzehn Kapiteln, der weit in die chinesische Geschichte zur Zeit der Frühlings- und Herbstperiode (722–484 v. Chr.) zurückgreift und für die Erzählliteratur neue Aspekte des Zusammenhangs von taoistisch-erotischen Problemen mit der Historie aufzeigt, die deutlich den Einfluß der Erotikhandbücher erkennen lassen. Baumstumpfwald ist in einer Reihe 722
Nongqing kuaishi, erschienen unter dem Pseudonym »Jiehecanhua zhuren«, hier in d. Ausgabe Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas, Taipeh: Shuangdi guoji shiwu 1995 (Bd. H 417), Kap. 11, S. 107f.
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Die WELT DER GEFÜHLE von Passagen stark an die historischen Quellen angelehnt, aus denen sich längere Zitate finden.723 Recht gut dokumentiert ist auch das Geschehen um Mus Tochter Su'e, die gegen 630 v. Chr. geboren sein dürfte und biographisch sowohl in Liu Xiangs (80–9 v. Chr.) Lebensbeschreibungen berühmter Frauen (Lienüzhuan) ebenso Erwähnung findet als auch in der, im Kapitel über den historischen Roman bereits ausführlicher behandelten, erzählerischen Geschichtsfassung Geschichte der Staaten der Östlichen Zhou (Dongzhou lieguozhi, Kap. 52, 53 und 57), auf die sich der Verfasser von Baumstumpfwald am unmittelbaren Schluß des Romans als Quelle bezieht. Wiederum begegnet uns in Su'e eine verführerische Frau, die gleich der Daji aus den Metamorphosen der Götter und der oben angeführten Wu Zetian mit ihrem ausschweifenden Verhalten den Untergang eines Herrschaftshauses heraufbeschwört. Mit der wundersamen Rettung Su'es und ihrer Kumpaninnen wird jedoch am Ende nichts gelöst. Im Davonschweben deutet sich sinnbildlich die Botschaft an, daß Schlechtigkeit und Ausschweifung auch weiterhin eine Rolle in der Welt spielen werden, womit sich die Brücke zu einem weiteren bedeutenden Roman des Genres schlagen läßt: Vergnügliche Geschichten aus dem Zhaoyang-Palast (Zhaoyang qushi) erschien, wie das zyklische Datum »Xinyou« (1621) vermuten läßt, nur wenig später als Baumstumpfwald und ist mit der Handlung während der Frühen Han-Dynastie ebenfalls in einer vorchristlichen Epoche angesiedelt.724 Die ursprüngliche Fassung dieses Werkes liegt in zwei Büchern (juan) ohne die übliche Kapiteleinteilung in hui bzw. jie vor, doch läßt sich der Inhalt in vierundsiebzig einzelne Erzählabschnitte untergliedern. Zwar finden sich in vorangestellten Übersichten späterer Abschriften Angaben über achtundvierzig Kapitel, welche jedoch in dem folgenden Haupttext nicht übernommen worden sind. Unbekannt ist bis heute auch, wer sich hinter dem auf der Titelseite angegebenen Verfasserpseudonym »Lüstling aus dem alten Hangzhou« (Gu Hang Yanyansheng) bzw. hinter der Kommentatorangabe »Meister Liebestoll« (Qingchizi) unter einer kurzen Bemerkung am unmittelbaren Romanende verbirgt. Im Mittelpunkt des Romans steht die Geschichte des Han-Kaisers Chengdi (51–6 v. Chr.), der in der chinesischen Geschichtsschreibung aufgrund seiner Nachlässigkeit in den Regierungsgeschäften verschrien ist. Erzählt wird von der Beziehung des Kaisers zu den beiden Damen Zhao Feiyan und Zhao Hede über die bereits in den Annalen der Han (Hanshu) berichtet wird. Ihre erste erzählerische Ausgestaltung fand die Geschichte in der dem Spät Han-zeitlichen Verfasser Ling 723
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Hier in der deutschen Fassung Dschu-lin yä-schi, ein historisch-erotischer Roman aus der Ming-Zeit, aus d. Chinesischen von F.K. ENGLER, Zürich: Die Waage Felix M. Wiesner o.J. Hier bearbeitet nach der Ausgabe Der Goldherr besteigt den weißen Tiger. Ein historischerotischer Roman aus der Ming-Zeit, aus dem Chinesischen v. F.K. ENGLER (mit einem Nachwort von HERBERT FRANKE), Zürich: Die Waage 1980.
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Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall
Xuan zugeschriebenen Novelle »Inoffizielle Geschichte der Feiyan« (Feiyan waizhuan), die sozusagen als Prototyp jener historisch-erotischen Erzählungen gelten kann, in denen das ausschweifende Leben an den Höfen der Kaiser angeprangert wurde.725 Nachdem Kaiser Chengdi die beiden Schwestern als Frauen aufgenommen hat, bezieht Hede den Zhaoyang-Palast, eines der schönsten Bauwerke aus der Frühen Han-Zeit, von dem poetische Beschreibungen überliefert sind und auf den auch der Titel der Vergnüglichen Geschichten zurückgeht. Das Gebäude, möglicherweise nur eine kleine Halle bzw. ein Schloß, war Teil des Kaiserpalastes in Chang'an, der bereits von dem Dynastiegründer um 200 v. Chr errichtet worden sein soll. Dieser [...] Palast war ganz besonders prächtig, sowohl innen wie außen. Auf seinem flachen Dach standen neun vergoldete Drachen. In ihren weit aufgerissenen Mäulern hingen neun goldene Glöckchen, die jedesmal, wenn ein leichter Wind ging, melodisch klingelten. Balken- und Sparrenwerk war mit geschnitzten, sich drumherumwindenden Drachen und Schlangen verziert, deren Schuppenhaut so naturgetreu nachgebildet war, daß jeder, der sie zum ersten Male sah, von Furcht und Schrecken ergriffen wurde. Viele Fenster und Türflügel bestanden aus hellgrünem Glasfluß. Es war so durchsichtig, daß man dahinter selbst ein Haar erkennen konnte. Die Türschwellen, Geländer und Balustraden waren aus vergoldetem Kupfer, die Treppen aus weißem Marmor. Die Wände der Mittelhalle waren zinnoberrot gehalten, und die Plafonds dunkelrot gelackt. In einigen Wänden hatte man Kreuzbalken in die Wänden eingezogen und diese mit allerlei Edelsteinen aus den Steinbrüchen von Indigofeld eingelegt. In anderen Räumen dagegen waren die Wände ganz mit bestickten Seidenstoffen verkleidet, und diese mit roten und grünen Ornamenten verziert. Der Boden bestand aus rauchfarbenem Quarz und war mit Karneolen, Topasen und Serpentinen eingelegt, die tagsüber im einfallenden Sonnenlicht funkelten und glitzerten. Nachts dagegen, wenn die Perlen, Edelsteine und Korallenbäumchen leuchteten, schien das Innere des Palastes wie in magisches Licht getaucht. Ferner gab es dort Tische und anderes Mobiliar aus buntgeädertem Marmor und mit vielfältigen Verzierungen. Der unübertroffene Höhepunkt aber war ein »Hundert-Kostbarkeiten-Bett« mit »Neun-Drachen-Vorhängen«, einem Gestell aus Elfenbein und einer Matte aus grüngefärbtem Bärenfell, dessen Haare knapp zwei Fuß lang waren. Wer sich zum Schlafen drauflegte, den verbargen sie derart, daß man ihn auf den ersten Blick nicht sehen konnte. Wer es bestieg, versank darin bis zu den Kniekehlen. Das Fell war mit verschiedenen Parfüms durchtränkt, und wer auch nur einmal eine Stunde lang darauf gesessen hatte, 726 dem hing der Duft wohl an die hundert Tage lang an. 725
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Die Novelle findet sich in einer Übersetzung unter dem Titel »Der Kaiser und die beiden Schwestern« in: Die goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden, übertragen von WOLFGANG BAUER und HERBERT FRANKE, München: Hanser 1959. S. 40–51. Der Goldherr besteigt den weißen Tiger, S. 181f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Die Ehe zu dritt im Palast von Chengdi verläuft allerdings wenig glücklich. Der Kaiser verbringt die meiste Zeit mit Hede und vernachlässigt seine Hauptgattin Feiyan. Am Ende stirbt der Kaiser aufgrund sexueller Erschöpfung. Gemeinsam ist den drei Werken, die in diesem Abschnitt bislang behandelt wurden, daß dabei versucht wurde, durch die Verlagerung erotischer Szenen an den Kaiserhof einen sehr schematischen Erklärungsansatz für den folgenden Sturz der Dynastie zu geben. Wir haben es also mit einer stark herrschaftsbezogenen Ausrichtung der Handlung zu tun, hinter der die Botschaft zum Ausdruck kommt, daß der Himmelssohn durch sein ausschweifendes Verhalten den Schutz der Götter verwirkt hat. Die Frage der »persönlichen Schuld« tritt dabei umso mehr in den Hintergrund, als mitunter himmlische Wirkungskräfte angenommen werden, welche man als Auslöser der Ereignisse auf Erden ansieht. Ganz ausgeblendet wurde in Werken wie Baumstumpfwald oder Vergnügliche Geschichten der Aspekt über die Zustände außerhalb des Kaiserhofs, also quasi die konkrete Beschreibung über den Niedergang und Sittenverfall im Reich unterhalb der Herrscherebene. Dies holen erst spätere Vertreter des erotischen Romans zum Ende der Ming- bzw. zum Beginn der Qing-Dynastie nach, als man vom Erklären und Anmahnen zur echten Anklage überging. So fehlt in dem hier zunächst untersuchten Roman Yu Gui Hong, dessen Titel auf die Namensbestandteile seiner Protagonisten zurückgeht und damit die Nähe zum Jin Ping Mei andeutet, auch jede zeitliche Distanz, wie sie sich durch Transponierung der Handlung in große zeitliche Ferne ergibt.727 Dies ist nur durch den Umstand zu erklären, daß die Gegenwart als unerträglich bedrückend empfunden wurde und mit dem bösen Eunuchen Wei Zhongxian (1566–1627), der hier, wenn auch nur kurz, die sonst dem Kaiser vorbehaltene Rolle des »Sünders« spielt, eine Figur auftritt, die allgemein als verrufen angesehen wurde und der man, zumal in der zeitgenössischen Erzählliteratur, unterstellte, daß sie dem Haus der Ming den entscheidenden Schlag versetzt hätte. Da man annehmen darf, daß Yu Gui Hong erst nach dem Tode Wei Zhongxians verfaßt wurde, läßt sich die Zeit der Niederschrift recht genau auf die wenigen Jahre zwischen 1627 und dem ersten Erscheinen des Romans 1632 in Peking datieren. Zu einer großen Zirkulation des Werkes dürfte es aufgrund der drastischen Schilderungen darin, die dem Sittenanspruch der Mandschuren widersprachen, nicht gekommen sein, so daß Yu Gui Hong mehrere Jahrhunderte als verschollen galt.728 Zwar wurde 1938 ein schadhaftes Exemplar ausfindig gemacht, auf dessen 727
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Hier bearbeitet nach der französischen Übersetzung Du Rouge au Gynécée, Roman érotique de la dynastie Ming, aus dem Chinesischen übertragen von MARTIN MAUREY, Arles: Éditions Philippe Picquier 1990. So wird der Roman u.a. auch in dem ansonsten auf Vollständigkeit bedachten Handbuch Annotierter Gesamtkatalog zu der volkstümlichen Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo zongmu tiyao), veröffentlicht von einem Herausgeberkollektiv der Akademie für
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Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall
Grundlage man später eine neue Auflage herausgab, doch gelangten auch diese Kopien nur in die Hände weniger Besitzer, so daß der Roman bis heute in den einschlägigen mit Erotik befaßten Werken, zumal der westlichen Forschung nur in Auszügen bekannt ist.729 Wer sich hinter dem Verfasserpseudonym »Pingping sheng aus Ost-Shandong« (Donglu pingpingsheng) verbirgt, ist nicht festzustellen,730 wie jedoch aus dem Vorwort hervorgeht, hielt er sich während seiner Jugend mehrere Jahre in Peking auf und veröffentlichte mehrere, heute jedoch nicht mehr existente Gedichtbände. Yu Gui Hong führt den Leser – auch dies ein Novum des zwölf Kapitel umfassenden Werkes – in die südlich des Qianmen und damit außerhalb der Kaiserstadt gelegenen Rotlichtviertel von Peking. Damit wird eine Szenerie vorweggenommen, die auch den Hintergrund einer ganzen Reihe von Werken aus der späten QingDynastie bildet, wobei die Handlung dort allerdings in der Metropole Shanghai spielt, wie wir noch sehen werden. Man tut sich jedoch schwer, angesichts des in Yu Gui Hong entworfenen Settings und der davor beschriebenen Vorgänge einschränkungslos den Begriff der Erotik zu verwenden. Zwar stehen die Darstellungen der »Bettszenen« in bezug auf Detailtreue denen in der übrigen Erotikliteratur nicht nach, doch gibt es nicht jenes »Moment der Süße«, das im unbeherrschten Ausleben der Triebe ansonsten mitschwingt und trotz aller nicht ganz absichtslos herbeigeführten »Zufälligkeiten« am Ende meist die Bereitwilligkeit der am Geschlechtsakt beteiligten Partner erkennen läßt. Ganz anders dagegen in Yu Gui Hong: Hier fehlt jede Freiwilligkeit zu erotischem Genußleben, ist die Protagonistin Guizhen vielmehr Opfer der durch die Wirren der Zeit heraufbeschworenen Übel, womit sich für den Leser ein realistisches Bild der Zustände in den unteren Schichten Pekings zum Ende der Ming-Dynastie ergibt, die der Verfasser mit Detailschilderungen zum Treiben in der Hauptstadt eindrucksvoll abzurunden weiß. Wir befinden uns in den frühen zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts. Der mächtige Eunuch Wei Zhongxian nutzt, von keinerlei Autorität in die Schranken gewiesen, seinen überragenden Einfluß bei Hofe und pflegt Umgang mit Madame Ke aus den inneren Gemächern des Kaisers. Angewidert von dem unmoralischen Gebaren, entschließt sich Zensor Li Shinian zu einer Eingabe an den Thron. Li, der eine glänzende Karriere als Präfekt in Chaoyang und Guiyang hinter sich gebracht hat, bevor er seine Dienste im Palast aufnahm, lebt gemeinsam mit seiner Gattin Shen Qian und Tochter Guizhen in der Hauptstadt. Er genießt einen untadeligen Ruf als Beamter, ist sich aber durchaus der Gefahr einer Gegnerschaft
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Sozialwissenschaften in Jiangsu, Peking: Zhongguo wenlian 1990 als nicht mehr existent bezeichnet. Vgl. die Bemerkungen dazu im Vorwort des Übersetzers in Du Rouge au Gynécée, S. 8f. Martin Maurey vermutet in ihm auch den Verfasser des Jin Ping Mei, vgl. Du Rouge au Gynécée, S. 8.
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Die WELT DER GEFÜHLE zu Wei Zhongxian bewußt und beschließt daher vorsichtshalber, Guizhen zu seinem Schwiegervater in Chaozhou bringen lassen. Die Flucht mißlingt, da sich die Ereignisse überstürzen. Nach dem plötzlichen Tod der Eltern findet sich Guizhen außerhalb der schützenden Kaiserstadt wieder. Die Hauptstadt ist ein prächtiger, blühender Ort, die erste unter den Städten des Reiches. Im Norden residiert der Kaiser, im Süden wohnt das Volk. Die gesamte Bevölkerung macht über eine Million aus, Prinzen, hohe Würdenträger und Reiche haben hier ihre Anwesen. Doch auch diese Pracht gleicht nur einem Teppich herrlich duftender Blumen entlang den Hängen eines Hügels. Denn wenn sich schamloses Gesindel und Abschaum schlimmster Natur unter die Adligen und Wohlhabenden mischen, dann ist es vorbei mit Glanz und Schönheit, eben so, wie das duftende Blumenreich vergeht, wenn die edelsten Pflänzchen darin 731 fehlen.
Solch ein zartes, stets umsorgtes Pflänzchen ist eben Guizhen, die unversehens in die Fänge eines, von einem Nichtsnutz namens Yu Deshan gemeinsam mit neun anderen zwielichtigen Männern gegründeten, Zuhälterrings geraten ist. Das in der zeitgenössischen Erotikliteratur gezeichnete Sittenbild vermittelt uns einen recht anschaulichen Eindruck über das Treiben in den gehobenen Gesellschaftskreisen. Wenig wird darin hingegen über die sexuellen Sehnsüchte in den unteren Schichten zum Ausdruck gebracht. Um so interessanter ist der nachstehende Dialog zwischen Yu Deshan und seinen Männern, der zudem nichts Gutes in bezug auf das bevorstehende Schicksal der Guizhen ahnen läßt. Beim Besuch eines Teehauses entspannt sich folgendes Gespräch: »Seit meiner Jugend«, so hob Liu der Tiger an, »habe ich den Besuch bei wer weiß wie vielen Mädchen gepflegt. Darunter fanden sich ebenso solche, die auf eigene Rechnung anschaffen gingen wie registrierte Nutten. Jede von ihnen besaß einen eigenen Reiz und Charme. Auch ihr, meine Freunde, werdet in diesem Fach nicht ganz unbeleckt sein, laßt uns daher das Beisammensein nutzen, um unsere Erfahrungen auszutauschen.« »Ein Thema ganz nach meinem Geschmack«, rief der Kleine Hu, »der Frauenwelt war ich stets zugetan, ich kann da nie lange widerstehen. Allerdings gibt es zwei Dinge, die ich wohl ein Leben lang bedauern werde.« »Und das wären?« wollte Liu der Tiger wissen. »Es schmerzt mich etwa«, hob der Kleine Hu an, »daß ich immer nur mit käuflichen Frauen zu tun hatte und niemals auf eine echte junge Dame traf, die ich auf meinem Lager hätte umarmen können, um mich mit ihr beim Bettgeflüster zu ergötzen.« Bei diesen Worten ging ein Lächeln über die Gesichter der anderen. »Mir scheint«, erwiderte Zhao, »du gleichst der Kröte, die es nach Schwanenfleisch gelüstet.« »Oho«, schrie Liu der Tiger, »du bildest dir wohl ein, es entstünde eine zärtliche Romanze wie zwischen einem Talent und einer Schönheit, wenn du deiner 731
Du Rouge au Gynécée, Kap. 4, S. 38.
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Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall Geliebten an den Hintern greifst, wie?« »Glaube bloß nicht, du seiest besser«, erwiderte Zhao und spuckte verächtlich aus. »Schon gut«, lenkte Liu der Tiger ein, »laßt uns lieber hören, worum es sich bei der zweiten bedauernswerten Tatsache unseres Freundes handelt.« »Nun«, hob der Kleine Hu an, »es bedrückt mich eben, immer nur mit den abgelutschten Frauenzimmern zu verkehren, alles aus zweiter Hand und niemals, niemals die Freuden der ersten Nacht mit einer Jungfrau erlebt zu haben.« »Dir fehlt es immer noch an Erfahrungen«, begann sich jetzt auch Wu Laizi in das Gespräch einzuschalten. »Ich für meinen Teil pflege eine alte Gewohnheit und verkehre gerne mit den jungen Knaben mit ihrer zarten, weißen Haut und den frischen Gesichtern. Doch bei der Sache ist Vorsicht geboten, nicht daß es dir dabei die Eingeweide zerreißt, das kann einen das Leben kosten.« »Man sieht, du hast Erfahrung«, sagte Liu der Tiger. »Was ist denn so köstliches daran, es von hinten zu treiben?« wollte Yu Deshan wissen. »Weshalb finden so viele Männer einen Gefallen daran?« »Deine Worte beweisen nur, daß du keine Ahnung hast«, erklärte Wu Laizi. »Die Vorzüge des Verkehrs mit den jungen Knaben lassen sich gar nicht alle aufführen, so viele sind es. Sie sind zärtlich, es ist schmal und heiß dort, wo man in sie eindringt. Gar nicht zu vergleichen mit dem feuchten und glitschigen Leib der Frauen, mit denen der Genuß weit geringer bleibt.« »Wenn das so ist«, verkündete Yu Deshan, »dann 732 muß ich das gleich einmal ausprobieren.«
Gesagt getan vergreift sich Yu an einem jungen Mann, der an einem der Nebentische sitzt und vergewaltigt ihn vor den Augen der Gäste. Die Bande steckt unter einer Decke mit »Zhang, der Kleinfüßigen«, einer in die Jahre gekommenen Prostituierten, die einst im Hause ihres verstorbenen Gatten ein privates Bordell aufgemacht hat, nunmehr aber angesichts der jüngeren Konkurrenz in der Gegend nur noch selten einen potenten Freier findet. Auch die Anschaffung einiger »Pudergesichter« kann das Geschäft nur kurzfristig beleben. Ein weiterer wirtschaftlicher Einbruch kündigt sich an, als mehr und mehr kleine Bordelle aus dem Boden schießen, die eine Veränderung der Gesellschaftsstruktur in der Hauptstadt andeuten, da die Bedürfnisse der vermehrt zuziehenden ärmlichen Bevölkerungsteile befriedigt werden müssen und Frauen aus diesen Schichten sich auf schamlose Weise ein Auskommen suchen. Zu Beginn von Kapitel fünf zeichnet der Verfasser von Yu Gui Hong folgendes überaus interessantes Sittenbild des Rotlichtmilieus in der Hauptstadt zum Ende der Ming. Peking ist die Stadt mit den schönsten Zerstreuungen im Reich. Jeder kommt auf seine Kosten. Von den Adligen und den reichen Kaufleuten wollen wir dabei gar nicht reden. Sie speisen wie eh und je die leckersten Gerichte, kleiden sich in der teuersten Tracht und bewohnen weitläufige Anwesen. Sie haben Gattinnen und Konkubinen, besuchen Restaurants, Teehäuser, Theater und allerlei andere Vergnügungsstätten, wo ihnen die schönsten Mädchen zu Diensten stehen. Auch 732
Ebd., Kap. 4, S. 46f.
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Die WELT DER GEFÜHLE die Schicht der Mittelklasse hat eigene Formen der Kurzweil entwickelt und findet sich beim Balladengesang oder dem Vortrag eines Geschichtenerzählers zusammen. Selbst die einfachen Leute kennen noch Formen der Zerstreuung, es ist etwas für jeden Geldbeutel dabei, jede soziale Schicht verkehrt zudem in den Freudenhäusern auf ihrem Niveau. Selbst die barfüßigen Lastenschlepper und Kulis, die von der Hand in den Mund leben, kennen die Reize der Lust, doch können sie sich noch nicht einmal die Besuche in den billigsten Bordellen geschweige denn eine Frau leisten. Mühsam kratzen sie sich etwas von ihrem kargen Lohn zusammen, um ihre Lust wenigstens ein- oder zweimal im Monat befriedigen zu können. Dies brachte eine Reihe pfiffiger Habenichtse auf die Idee, aus dem Treiben Gewinn zu schlagen. Außerhalb der Stadtmauern, in einer schäbigen Gegend mit verlassenen Töpfer- und Lehmgruben, schickte man zunächst ein paar Mädchen auf die Straße, die den Kulis und Bettlern ihre Dienste anboten. Man sprach von der Gegend nur als »die Öfen« und bezeichnete die Menschen, die dort arbeiteten einfach als »Bettler«. Schon die Bezeichnung läßt ahnen, daß es sich bei den Mädchen um die unahnsehnlichsten und schmutzigsten handelte, die überhaupt zu finden waren. Ihre Kunden waren fliegende Händler, Lastenträger, Kulis und einfache Bettler. Wenn man hier von den »Bettlermädchen« spricht, heißt das nichts anderes, als daß sie aufgrund ihrer Armut gezwungen waren, sich durchzuschlagen, indem sie ihre Körper verkauften. Doch was mochten sie in ihren Lumpen wohl für eine Anziehungskraft ausüben! Die Betreiber der »Öfen« verfielen daher auf die Idee, daß es wohl besser sei, wenn die Mädchen überhaupt keine Kleider am Körper trugen. Es genügte, ihre Haut zu waschen, sie zu pudern und ein wenig Kosmetika aufzulegen. Vollkommen nackt, die Lippen grell rot angemalt, räkelten sie sich in den Öfen, nahmen die verschiedensten Haltungen an und bogen die Schenkel weit auseinander, um ihr Geschlecht zu präsentieren. Es fanden sich darunter Mädchen und Frauen jeder Art: große und kleine, dicke und dünne, breite und zierliche, welche mit behaarter und solche mit unbehaarter Haut. Pockennarbige gab es ebenso wie solche mit klarem Gesicht. Man gab sich alle Mühe, Kunden anzulocken, und wer seine Lust nicht mehr zu zügeln vermochte, der kaufte sich für ein paar Münzen das Recht auf ein paar glückliche Sekunden. Die Umgebung, in der sich dieses Treiben abspielte, ist bereits in einem Buch beschrieben worden: »Seit geraumer Zeit ist ein Verfall der Sitten und der Verzicht auf jegliche Form des Anstands im Umgang zwischen Männern und Frauen zu verzeichnen. Außerhalb des Palastbezirks haben sich unzählige Bordelle angesiedelt. Überall erklingt Musik und Gesang. Vor den Stadtmauern sind von den Ärmsten der Armen Freudenmädchen in den ehemaligen Öfen untergebracht worden. In die Mauern der einstigen Brennöfen hämmert man zwei oder drei Löcher, die den Blick auf die vollkommen nackten Mädchen darin preisgeben. Wer vorüberkommt und seinen Trieben bei dem Anblick nicht widerstehen mag, der klopft an, tritt ein und nimmt sich ein Mädchen seiner Wahl, um es mit ihm auf einer Pritsche zu treiben.« Anfangs fanden sich höchstens ein oder zwei dieser Öfen, mit denen die Armen sich in ihrer Not behalfen. Man hätte niemals gedacht, daß die Einrichtungen
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Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall ein derartiges Ausmaß erreichen würden. Bald herrschte ein Gedränge wie auf dem Markt. Die Mädchen besaßen kaum noch die Zeit zum Pinkeln zu gehen. Stets war Bedarf für die Öffnung neuer Öfen vorhanden. Der Strom von Männern und Frauen, die die Not jede Form der Scham vergessen ließ, riß nicht ab. Den Frauen in den kleinen Bordellen entstand eine derartige Konkurrenz, daß viele sich am Ende aus Not bereit erklärten, sich nackt den Blicken der Öffentlichkeit preiszugeben und ihre Arbeit in einer Umgebung zu vollbringen, die ihnen wenigstens die Anschaffung teurer Kleider ersparte. Man gab es schließlich auf, die Zahl der immer neuen Öfen aufzulisten, die entstanden, als die kleinen Freudenhäuser ihre Tore schlossen. Zunächst hatte man die Bordelle billigster Sorte tatsächlich in den Ruinen der alten Brennöfen untergebracht, doch als mit der Zeit die kühle Witterung hereinbrach und die Mädchen aufgrund der ungeschützten Arbeit unter freiem Himmel krank wurden, entschlossen sich die Betreiber, ihnen für ihre Liebesdienste einfache Hütten zu errichten, in denen sie wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. In die zur Straße hin liegenden Mauern hieb man einige Löcher, um den Passanten den Blick auf die Prostituierten zu ermöglichen. Trotz dieser Neuerungen sprach man unverändert nur von »den Öfen«, von denen täglich neue außerhalb der Stadtmauern entstanden, und in denen nach und nach 733 auch ansehnlichere Mädchen und Frauen ihre Reize zu präsentieren begannen.
Die Ministertochter Guizhen gerät nun in die Hände der Kupplerin Zhang, wo sich schon eine Reihe anderer Mädchen befinden. Die Detailgenauigkeit in der Beschreibung des Umgangs mit Guizhen bringt dabei etwas über das Verhältnis der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zum Ausdruck. Li Yuhuan, Guizhens Leidensgenossin, ist durch die Verarmung ihrer Familie und die ausgeübte Bettlertätigkeit auf eine Stufe mit Madame Zhang und der Bande um Yu Deshan hinabgesunken, hat damit ihren »Wert« verloren. Guizhen dagegen, die Tochter des soeben gestürzten Zensors, besitzt noch alle wertvollen Reize, die ihr von Geburt an statusmäßig mitgegeben sind. Sie ist das für Yu und seine Männer auf legalem Weg niemals erreichbare »Schwanenfleisch«. Mit ihrer grausamen Erniedrigung raubt man sich etwas bislang niemals Erlangbares, und die Freude, mit der die Männer dabei vorgehen, deutet ihre ganze Schlechtigkeit an. Wo die Sitten im Kaiserpalast verroht sind, so die Botschaft des Autors, kann auch im Volk kein Edelmut erwartet werden. Unter den Blicken der Umstehenden vergingen Guizhen vor Scham fast die Sinne. »Los, ans Werk«, forderte »Zhang, die Kleinfüßige« den Men Laogui auf. Dieser hatte sich all seiner Kleider entledigt, und zum Vorschein kam seine dunkle, unreine Haut, die schuppig wie bei einem Fisch wirkte. Die Haut über den hervortretenden Adern seines hart gewordenen Gliedes besaß einen violetten Schimmer. Er trat näher und wollte Guizhen auf den Rücken drehen, indem er 733
Ebd., Kap. 51–54. Bei dem kursiv gesetzten Zitat handelt es sich um einen Abschnitt aus »Pflaumengarten am Berge Yintai« (Yintai shan mei you lu).
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Die WELT DER GEFÜHLE mit seinen groben Händen nach dem zarten Körper des Mädchens griff. Die Tränen des armen Dings schienen seine Kräfte nur zu steigern, und er beförderte sie auf die Mitte des Bettes. Die Anfeuerungsrufe der Umstehenden gingen im herzzerreißenden Schluchzen des mißhandelten Opfers unter. Men Laogui, angestachelt von den Rufen, dem Wimmern und den Gedanken an die drei gezahlten Schnüre Kupferkäsch, plazierte sein Glied vor das Geschlecht Guizhens und stieß mit aller Macht zu. Die Widerstandskräfte des Mädchens schwanden, sie begriff, daß sie den Angriffen des Men nichts entgegensetzen konnte, wischte sich die Tränen fort und flehte inständigst: »Hab Erbarmen und sei vorsichtig, ich bin noch unberührt.« Doch Men scherte sich nicht um Guizhens Wort. Er rückte über die Mitte ihres Leibes, und mit einem Schrei stieß er sein Glied erneut gegen ihr zartes Geschlecht. Ein entsetzlicher Aufschrei entrang sich Guizhens Brust, ihr Gesicht wurde aschfahl, und ihr schwanden die Sinne. »Das sieht übel aus«, sagte »Zhang, die Kleinfüßige«, »nicht bewegen.« Sie griff nach einem Stück parfümierten Papiers, hielt es unter die Nase Guizhens und ließ sie den Duft einatmen. Als das Mädchen das Bewußtsein zurückerlangt hatte, schrie es: »Oh, welch ein Schmerz!« Doch Men Laogui, von nichts anderem erfüllt als den Gedanken an die drei Schnüre Kupferkäsch und einer unbezähmbaren Lust scherte sich nicht um die Bitten des wimmernden Etwas unter sich. Er drückte die Schenkel Guizhens auseinander und drang mit seinem Glied tief in ihren Leib, der so grausam und ohne jede Liebkosung geöffnet worden war. Men stieß noch zwei oder dreimal zu, bevor sich sein Samen in sie ergoß. Guizhen hatte die Augen geschlossen, biß die Zähne zusammen und wimmerte leise, während ihr dicke Schweißperlen von den Schläfen rannen. Noch ein letztes Mal drang Men Laogui tief in sie ein, bis seine Hoden ihre Pobacken berührten und erhob sich dann mit einer ruckartigen Bewegung. Blutiger Schleim hing an seinem Glied, als er aufstand und von den Umstehenden johlend beglückwünscht wurde. Guizhen lag vollkommen starr auf dem Bett und rang schmerzhaft nach Atem. Während Madame Zhang ein Laken über das Mädchen warf, kleidete sich Men Laogui an und eilte mit dem Hinweis, sich um seine Geschäfte kümmern zu müssen, davon. »Liu«, die Reihe ist an dir«, rief Yu Dehan. »Von wegen«, protestierte Wu Laizi und drängte sich nach vorne. »Das Recht gebührt dem, der sie beschafft hat.« Damit warf er seine Kleider ab, ließ sich neben Guizhen nieder und flüsterte, indem er in sie eindrang und ihre Brüste betastete: »Köstlich, diese kleinen Hügelchen. Wie, du hältst die Äuglein geschlossen, stellst dich wohl tot, wie? Jetzt werde ich dir mal zeigen, was ein richtiger Mann ist.« Als Guizhen darauf nichts erwiderte, verlor er den Reiz an ihr, sah zu, daß er zu einem Ende kam, um endlich Liu, dem Tiger Platz zu machen. Dieser, stämmiger als seine beiden Vorgänger, setzte dem armen Opfer mit aller Macht zu. Entsetzt riß Guizhen die Augen auf und stieß ein so markerschütterndes »Verschone mich!« aus, daß sich die junge Tochter der Witwe 734 Yang ängstlich in eine Ecke verkroch.
734
Ebd., Kap. 8, S,. 101ff.
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Ausschweifende Herrscher und Sittenverfall
Dies ist der Beginn eines wahren Martyriums Guizhens, doch schließlich wird sie befreit. Da Guizhen durch die schmutzige Tätigkeit, welche sie gezwungenermaßen ausgeübt hat, die Aufnahme in ein buddhistisches Kloster unmöglich ist, verfügt ein Richter, daß die junge Frau sich zunächst als Nonne in den taoistischen »WeißeWolken-Tempel« außerhalb Pekings begibt, stets unter der Überlegung, daß die unter Umständen wieder aufkeimende Sinneslust Guizhens im Buddhistentempel Unruhe heraufbeschwören würde, bei den Taoisten mit ihren Praktiken zum Energieaustausch zwischen Mann und Frau aber in akzeptable Formen gebracht werden kann. Mahnung und Trost des Abtes an Guizhen lassen sich auch wie eine Ermunterung an die Zeitgenossen bei ihren Bemühungen auffassen, damit sie die Widrigkeiten überstehen. »Ich werde, wenn ich jetzt offen zu dir spreche, vielleicht deine Gefühle verletzen, doch all dein Unglück ist von keiner großen Bedeutung. Deine Eltern starben einen tragischen Tod, doch sterben ist nur eine Tragödie für die, die nicht wissen, daß man einst vom Leben Abschied nehmen muß. Der Tod stellt ein Übel dar, das meist viel zu früh und zu einer Zeit auftritt, da man ihm noch nicht die richtige Bedeutung zubemessen hat. Du hast auf entehrende Weise das lustvolle Treiben der Menschen unter den erniedrigendsten Umständen kennengelernt. Du bist an einem Punkt angelangt, an dem du dich nur noch wieder erheben kannst, ebenso wie einer, dem nach dem Sturz in tiefste Armut plötzlich das Reichwerden wieder gegeben ist, denn nur der, der reich ist, kann etwas verlieren. Du hast das Böse und Schlechte erlebt, und da du nun weißt, daß es schlecht ist, 735 hast du am eigenen Leibe mehr gelernt als in den Gesprächen über die Tugend.
Die ermunternden Worte des Abtes aus dem Kloster der Weißen Wolken könnte auch die Botschaft eines sich im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuenden historisch-erotischen Romans sein, der um das Jahr 1700 verfaßt worden sein dürfte. In der Darstellung weit weniger detailfreudig, jedoch zu Teilen in einem ähnlichen Milieu wie Yu Gui Hong angesiedelt, will das ebenfalls nach den Namensbestandteilen seiner Protagonisten benannte Werk Erzählung von Jin Zhong, Wang Cuiyun und Wang Cuiqiao (Jin Yun Qiaozhuan) dem Leser mitteilen, daß selbst eine Frau, die vom Schicksal zum Leben in der Halbwelt verurteilt ist, eine Form der geistigen Reinheit und Keuschheit bewahren kann.736 Die Erotik ist hier quasi »entleibt«, der Körper nur noch ein Sinnbild für die vom Schicksal verursachten Leiden in der physischen Welt. In abgewandelter Form ist diese Auffassung der bereits in den Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan), einem Werk, 735 736
Ebd., Kap. 12, S. 139. Hier in der Ausgabe Eisvogelfeder – ein Frauenleben, aus dem Chinesischen und mit einem Nachwort versehen von F.K. ENGLER, Zürich: Die Waage 1988. Im Annotierten Gesamtkatalog zu der volkstümlichen Erzählkunst Chinas finden sich keine Angaben zu dem Werk.
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Die WELT DER GEFÜHLE auf das wir noch zu sprechen kommen werden, geäußerten Vorstellung nicht fremd, daß eine – und sei es wie hier aus noch so unfreiwilligen Gründen – zu einem lasterhaften Lebensstil veranlaßte Person am Ende doch noch Erleuchtung erlangen kann. Es ist unbekannt, wer sich hinter dem Verfasserpseudonym der Erzählung von Jin Zhong, Wang Cuiyun und Wang Cuiqiao mit der Bezeichnung »Der talentierte Mann mit dem reinen Herzen« (Qingxin caizi) verbirgt.737 Auch die Arbeiten der chinesischen Forschung haben hier keinerlei Aufschlüsse gebracht. Zwar wurden in diesem Zusammenhang Namen bekannter Literaten wie Xu Wenchang (1521– 1593) bzw. Yu Huai (1616–1693) genannt, doch ist deren Verfasserschaft nicht mit letzter Sicherheit belegbar.
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Ebensowenig ist aufzuschlüsseln, um wen es sich bei dem Vorwortverfasser »Versteckter Herr der Himmelsblume« (Tianhua cang zhuren) handelt.
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3. Der verkommene Klerus – Handlungen wider das Keuschheitsgelübde Zurückgezogenheit, Vergeistigung, Reinheit und Entsagung von dem geschäftigen Treiben in der Menschenwelt, dies sind die Motive, die für viele der Protagonisten in der erotischen Literatur nach einem ausschweifenden Leben in Genuß und sexuellem Überschwang immer wieder den Weg in eine klösterliche Umgebung einleiten. Wir wissen nicht genau, auf welche Ursprünge das Mönchstum in China zurückgeht, vermutlich aber hat es seine Wurzeln in dem Eremitentum, das schon für die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends überliefert ist und offenbar für Angehörige der unterschiedlichsten Schichten eine attraktive Lebensalternative darstellte: Nicht nur gelehrte Herren, auch gewöhnliche Männer zogen sich gerne aus dem öffentlichen Leben zurück, um durch Meditation und körperliche Übungen Harmonie mit sich selbst und dem Universum zu erlangen. Während der Taoismus spätestens seit der Tang-Dynastie in ein organisiertes Klosterleben überging, ist das eigentliche Mönchstum in China ein Charakteristikum des Buddhismus. Wer der Lehre Sakyamunis folgen und dem Rad von Wiedergeburt sowie endlosem Leiden entrinnen wollte, der mußte die »Flammen des Verlangens zu Asche von Nicht-Anhänglichkeit« abkühlen, d.h. Familie und Gesellschaft hinter sich lassen (chujia).738 Die Anhänger Buddhas fanden sich in der Gemeinschaft der sangha zusammen, deren Regeln sie unterworfen waren, wobei Armut, Ehelosigkeit und Friedfertigkeit die drei Grundsätze mönchischen Lebens darstellten. Ansässig in Einzelklöstern unterschiedlicher Größe, bestritt man deren Unterhalt gewöhnlich durch die Verpachtung von Landbesitz und Almosen der Bevölkerung. Es ist hier nicht der Ort, auf die zu jeder Zeit existierenden Sonderformen in der Organisation des Mönchslebens einzugehen. Auf die gegen das Gebot der Friedfertigkeit »verstoßenden« Mönche des Shaolin-Klosters bei Luoyang, die Kämpfer für den Einsatz in den Reichstruppen bereitstellten, sowie die laxe Auffassung in bezug auf die Ehelosigkeit durch die Anhänger der Schule des rechtshändigen Tantra sei hier nur am Rande verwiesen. Uns sollen vielmehr die grundlegenden Konzepte interessieren, in deren Mittelpunkt gerade vor dem Hintergrund der in diesem Teil beschriebenen Thematik das mönchische Zölibat steht, einer der Grundsteine im Leben der Geistlichen. Jede Verletzung des Gebots der Keuschheit führte in der Regel automatisch zum Ausschluß aus dem Orden. Der Mönch war gehalten, stets auf der Hut zu sein, die folgende Passage mag die Einstellung der frühen Buddhisten belegen: 738
Vgl. ROMAN MALEK: Das Tao des Himmels. Die religiöse Tradition Chinas, Freiburg u.a.: Herder 1996, S. 182.
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Die WELT DER GEFÜHLE Ananda: »Wie sollen wir uns den Frauen gegenüber benehmen?« Der Herr: »Sie nicht sehen!« Ananda: »Und wenn wir sie sehen müssen?« Der Herr: »Nicht mit ihnen sprechen!« Ananda: »Und wenn wir mit ihnen sprechen müssen?« Der 739 Herr: »Unsere Gedanken scharf unter Kontrolle halten!«
Dieses Keuschheitsideal, gründend auf der Vorstellung von der Minderwertigkeit des Leibes gegenüber der einem höheren Dienst sich weihenden Seele sowie der Überlegenheit geistiger Ziele gegenüber dem sinnlich-natürlichen Dasein, hat seine Entsprechung in den literarischen Bildern von Tripitaka in der Reise nach dem Westen oder den nach Entsagung strebenden Frauen und Männern in Die sieben Heiligen. Doch solche Idealvorstellungen konnten nur so lange Bestand haben, wie sie auch konkret gelebt wurden. War der Anspruch auf Reinheit und Entsagung durch lustvolle Ausschweifungen einmal in Frage gestellt, das hehre Vorbild einmal dahin, sah sich das Mönchstum beißendem Spott ausgeliefert. Unabhängig von den ebenfalls aus Sicht rechtgläubiger Buddhisten zu verurteilenden Mißbräuchen des Klerus, bestand grundsätzlich auch in dem herrschenden Konfuzianertum eine große Reserviertheit gegenüber den Lebensformen der Mönche, widersprach doch deren Ehelosigkeit ganz fundamental dem überlieferten Familienideal und der Pflicht zur Zeugung von Nachkommenschaft zwecks Ahnenverehrung. Selbst wo nicht konkret der Zölibatsbruch im Mittelpunkt der Kritik stand, mochte sich Kritik der Konfuzianer an dem parasitären Charakter der Mönchsexistenz entzünden, gründete sich diese doch vornehmlich auf Zuwendungen aus dem Einkommen der erwerbstätigen Menschen, da es den Geistlichen aufgrund des Verbotes, lebende Wesen – und seien es Würmer oder Insekten – zu gefährden gar untersagt, selber die Felder zu bestellen. All diese Punkte klingen in unterschiedlicher Form und mit verschiedenem Schwerpunkt auch in den weiter unten besprochenen Romanen an. Deren Darstellung hebt zwar inhaltlich auf die späte Ming-Zeit ab, doch die Thematik »sündiger« Geistlicher beiderlei Geschlechts scheint die Literaten schon weit vor dieser Epoche beschäftigt zu haben. Dies ist zumindest der Eindruck, den uns Der Mönche und Nonnen Sündenmeer (Sengni niehai) vermittelt, eine Kompilation von Texten über das ausschweifende Leben des Klerus, die bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen und deren Herausgeberschaft dem Maler und Kalligraphen Tang Yin (1470–1524) zugeschrieben wird, vermutlich aber erst während der Wanli-Ära um 1597 erfolgte.740 Ganz unverblümt wird dort das lasterhafte Treiben der Geistlichen unter Bezug auf ihr Sexualleben skizziert.
739
740
Zit nach EDWARD CONZE: Der Buddhismus. Wesen und Entwicklung, Stuttgart: Kohlhammer 1953, S. 54. Vgl. das Nachwort von HELMUT MARTIN der deutschen Ausgabe Zhang und die Nonne vom Qiyun-Kloster, S. 207f.
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Der verkommene Klerus – Handlungen wider das Keuschheitsgelübde
Der erste Roman, der uns hier interessieren soll, ist durch die bereits im Titel Mönch Stummeldocht (Dengcao heshang) auftauchende Gestalt des Protagonisten sowie dem vor der Vergeltungsvorstellung baoying angesiedelten Inhalt zwar stark ins Phantastische gehoben, weist aber über das Metapherhafte hinaus sehr deutlich auf die Problematik des lasterhaften Mönchstums hin.741 Überspitzt ausgedrückt, handelt es sich bei Stummeldocht um das Symbol für den phallischen Mönch schlechthin, die Größenveränderungen des Winzlings entsprechen dem eregierten und nicht-eregierten Zustand des männlichen Glieds. Die Frage nach dem Verfasser dieses zwölf Kapitel langen Werkes ist trotz Angaben verschiedener Namen auf der Titelseite bislang ungeklärt. So kommt der dort vermerkte Gao Zecheng (d.h. Gao Ming, ca. 1301–ca. 1370), seines Zeichens Autor des chuanqiStückes Die Laute (Pipaji), wie sich aus den Zeitbezügen im Text ergibt, keinesfalls in Frage, weisen die an zwei Stellen genannten Werke Inoffizielle Geschichte der Stadt Baumstumpfwald und Amouröse Abenteuer des Sui-Kaisers Yangdi unseren Roman doch klar als aus der Qing-Zeit stammend aus. Die weiterhin als Herausgeber bzw. Kommentator genannten Pseudonyme »Taoist, der auf den Wolken reist« (Yunyou daoren) und der Name »Zhou Qiuhong aus der Provinz Zhejiang zur Zeit der Ming« (Ming Yue Zhou Qiuhong) sind ebenfalls nicht zuzuordnen. Mönch Stummeldocht ist, wie man erst ganz zum Schluß, nach der Auflösung des Rätsels um die immer wiederkehrende Heimsuchung der Familie Yang durch den ominösen Geistlichen erfährt, auf zwei Ebenen angesiedelt. Der Mönch selbst, hier in einer ironischen Spitze gegen den gesamten Klerus auffällig durch seinen Mangel jedweden geistlichen Hintergrundes sowie Entfaltung seiner auf den Liebesakt beschränkten Fähigkeiten in den Gemächern der Frauen, erscheint lediglich als Werkzeug höherer Mächte, die das gehörnte Familienoberhaupt für sein grausames Verhalten gegen ein Liebespaar während einer früheren Existenz bestrafen wollen. Im Mittelpunkt steht daher nicht so sehr, wenngleich immer wieder deutlich anklingend, die Kritik an der das Zölibat mißachtenden Geistlichkeit, sondern die Forderung nach Verständnis und dem richtigen Umgang mit der Liebe schlechthin. Mit einer für die Romanliteratur seltenen Offenheit bringt der Verfasser des Stummeldocht dieses Anliegen bereits am Romanauftakt zum Ausdruck: Nachts, wenn es dunkel wird, der Mensch zur Ruhe gelangt, und die Sehnsucht nach Liebe langsam in unsere Herzen schleicht, finden sich kaum ein Mann oder eine Frau, die sich nicht einen Partner herbeiwünschen, um die im Unterleib versammelte Lust zu befriedigen. Nun ist es bei den Männern so, daß sie sich selbst im Zustand der Erregung durchaus noch zu zügeln vermögen. Frauen 741
Hier bearbeitet nach einer Ausgabe Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas, Taipeh: Shuangdi guoji shiwu 1995 (Bd. H 411).
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Die WELT DER GEFÜHLE hingegen, einmal mit viel Kunstfertigkeit nahe an den Höhepunkt gebracht, halten ihre Leidenschaft nur noch sehr schwer unter Kontrolle, schmilzt ihr Körper unter dem hitzigen Ansturm des Mannes dahin. Der Grund für diese Verschiedenheit liegt in der Feuernatur des Mannes und der Wassernatur der Frau. Das Feuer wird vom Wasser gelöscht, während dieses von der Hitze des 742 ersteren nur noch heißer wird [...] und nur schwer zu beherrschen ist.
Die im folgenden entworfene Geschichte führt uns in das Heim des Landrats Yang Guan'er, der mit seiner Gattin, einer geborenen Wang, und der Tochter Changgu zur Zeit der Yuan-Dynastie in der Umgebung von Suzhou lebt. Nach dem Besuch einer Zauberin entsteht aus einem Tropfen Lampenöl ein nur zehn Zentimeter großer Homunculus, der die Gestalt eines Mönchs besitzt. Aus den folgenden Schilderungen wird klar, daß es sich bei dem Dochtmönch um ein Feuer (= Lust, Leidenschaft) führendes Wesen handelt (yinhuozhi wu), dessen Aufgabe es ist, die Menschen in Versuchung zu führen. Mit dem Hinweis, daß das kleine Wesen ihr bei guter Pflege glückliche Stunden bescheren werde, verabschiedet sich die Zauberin. Frau Wang, die die Andeutung wohl schon im richtigen Sinne versteht, erkundigt sich bei dem Kleinen sogleich, ob er denn über die notwendigen Gerätschaft zum Wasserlassen verfüge, worauf sich folgende Szene abspielt: Der kleine Mönch öffnete seine Robe und sagte: »Jawohl, habe ich.« Frau Wangs Blick fiel auf ein kaum dochtgroßes Schwänzchen, und lachend sagte sie: »Ein wenig klein, damit wirst du nicht viel ausrichten können. Das klobige Gerät meines Gatten hat eine stolze Größe von fast zwanzig Zentimetern, was soll ich da wohl mit so einem winzigen Ding wie deinem anfangen?« Doch der kleine Mönch lachte darauf nur kurz, schlüpfte geschwind unter das Höschen der Frau und begann wild, an ihrer Scheidenöffnung zu lecken. Zunächst empfand sie ein leichtes Unbehagen und Kitzeln, dann spürte sie, wie ihr Körper weich wurde, sie versuchte, das Mönchlein unter ihrer Wäsche hervorzuziehen, doch je mehr sie zerrte, desto tiefer drang er in sie ein, so daß Frau Wang sich am 743 Ende rücklings auf dem Bett niederlegte und ihn gewähren ließ.
Problemlos gestaltet sich im weiteren Verlauf die übrige Lebenshaltung des Winzlings, gibt er sich doch mit dem Genuß des »Taus der Lust« (bei anderen Gelegenheiten ernährt er sich von menschlicher Spucke) zufrieden, welcher beim Liebesakt aus dem Unterleib der Frau strömt – eine deutliche Anspielung darauf, auf welch unlautere Weise sich der Klerus unter der weiblichen Gläubigengemeinschaft die Mittel seiner Existenz verschafft. Daß Mönchlein Stummeldocht mehr zu leisten versteht, als mittels seiner geringen Größe das Glied des Gatten auf immer noch recht unvollständige Weise zu 742 743
Ebd., Kap. 1, S. 1f. Ebd., Kap. 2, S. 6.
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Der verkommene Klerus – Handlungen wider das Keuschheitsgelübde
ersetzen, bringt es in einer wundersamen Verwandlung der nächsten Zeit zum Ausdruck, denn als Frau Wang den Mönch unter dem Wunsch, ihn in vergrößerter Form bei sich zu haben, mit dem Kerzenlicht herbeizaubert, steht vor ihr nicht mehr der Winzling, sondern ein Riese von zwei Metern und fünfzig. Da er mit einem entsprechend klobigen »Speer« bewaffnet ist, hegt Frau Wang zunächst noch Skrupel in bezug auf den Liebesakt, doch läßt die glückliche Nacht sie alle Bedenken zerstreuen, da sie sich noch niemals sexuell so »erfüllt« fühlte. Spätestens hier weist Mönch Stummeldocht als strafender Geist gewisse Ähnlichkeiten mit dem Priapus aus der griechischen Mythologie auf, Sohn des Dionysos und der Aphrodite, der verkrüppelt mit einem abnorm großen Glied zur Welt kam, von den Frauen verehrt und den Männern verhaßt. Als Strafe für die Herrenwelt, die den Priapus verstießen, sandten die Götter ihnen die Syphilis. Die nächtlichen Ausschreitungen führen zum Tod zahlreicher Protagonisten. Das unsittliche Treiben im Hause Yang, an dem sich auch die anderen Glaubensbrüder beteiligen, bleibt in der Umgebung nicht lange unentdeckt und hat zur Folge, daß die aufgebrachten Nachbarn einer Zofe und einem Mönch eine Tracht Prügel verabreichen. Bei einer anschließenden Pilgerreise, während der Witwe Wang in den besuchten Klöstern weiteren Zudringlichkeiten der Mönche ausgesetzt ist, erfährt sie eines abends schließlich die Gründe für die Heimsuchung durch die Geisterwesen: Frau Wang hatte soeben ein Licht angezündet, als aus der Flamme ein zehn Zentimeter großes Mönchlein auftauchte und rief: »Madame, hier bin ich!« [...] »Kommst du im Guten oder im Schlechten?« wollte Frau Wang wissen. »Dein Gatte war ursprünglich kein schlechter Mensch«, erklärte der Mönch. »Er bekleidete damals einen Beamtenposten in Yuezhou, als die Gattin eines unbescholtenen Landedelmannes ein Verhältnis mit einem Bediensteten anfing. Nachbarn entdeckten das unzüchtige Treiben des Paares und zerrten es vor das Amtsgebäude, worauf dein Mann eine Strafe über sie verhängte. Wohlgekleidet trat der Landedelmann vor ihn, um mit Blick auf das eigene Ansehen Milde gegen die Buhlen zu erwirken, doch dein Mann wies ihn ab und hieß seine Büttel, das Paar vor die Menge zu zerren, wo man ihm die Kleider vom Leibe riß und zehn Stockschläge verabreichte. Der Landedelmann grämte sich darüber so sehr, daß er bald darauf starb. Im Himmel kam deshalb große Empörung auf, und so wurde ich hinab auf die Menschenwelt gesandt, um dich in Versuchung zu führen und dem Ruf des Hauses Yang zu schaden. Dir war es bestimmt, die Frau des Zhou Ziru zu werden, damit dem Vergeltungsanspruch des Landedelmannes Genüge getan werde. Das Kind, welches Zofe Nuanyu ausgetragen hat, stammt ursprünglich von Li Kebai. Du sollst in Zukunft vegetarische Nahrung zu dir nehmen und Gutes tun, dann wirst du im Alter von siebzig Jahren mit deiner Tochter ein 744 Wiedersehen feiern. Ich für meinen Teil werde mich nun hinfort begeben.« 744
Ebd., Kap. 12, S. 104f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Mit diesem Ende deutet sich eine weitere Dimension des Stummeldocht an. Nicht allein die Kritik am Klerus und die Liebe als solche und der Umgang mit ihr sind Thema, vielmehr bringt der Verfasser, wie bereits die einleitenden Passage des Werks sowie die eingeflochtenen Schilderungen erkennen lassen, deutlich sein Verständnis für die Sehnsüchte der Frauen nach Erfüllung in der Liebe zum Ausdruck. So bleibt Frau Wang trotz ihres lasterhaften Lebenswandels selbst auf der Pilgerreise, wo sie keinerlei Einsicht erkennen läßt, anders als ihr Gatte von schärferen Strafen verschont und erhält Gelegenheit zur Läuterung. Einen ganz anderen Ansatz als noch Stummeldocht wählte der unbekannte Verfasser des kurzen Romans Liederliche Mönche (Fengliu heshang), in dem weniger das Vergeltungsthema, als die konkreten Vergehen des Klerus im Mittelpunkt stehen.745 Dieses Anliegen wird in folgendem kurzen Satz zum Ausdruck gebracht: Sich vegetarisch ernähren und stets Enthaltsamkeit üben, immer das Gebet an den Amido-Buddha auf den Lippen, in der verschlossenen Kammer Räucherstäbchen entzünden und Sutren rezitieren – mit diesem Gehabe führen Mönche 746 die Menschen hinters Licht.
Die geschilderte Geschichte spielt sich in der südchinesischen Stadt Zhenjiang ab. Dort lebt ein wohlhabender junger Mann namens Wu Kecheng, der sich nach dem Tod der Gattin wiederverheiraten möchte. Eine Vermittlerin stellt den Kontakt mit der verarmten Kaufmannsfamilie Gai her, deren schöne Tochter Guijie die richtige Kandidatin zu sein scheint. Die Heirat ist schnell arrangiert, und das Paar verbringt glückliche drei Jahre, bis Kecheng eines Tages aufgefordert wird, einen Beamtenposten in der Provinz Zhejiang zu übernehmen. Guijie begleitet ihn zwar zunächst, kann sich aber an dem neuen Wohnort nicht einleben und zieht wieder in die Heimat zurück. Der Gatte tröstet sich mit der Wahl einer Nebenfrau. Zurück in Zhenjiang nun beschließt Guijie, sich gemeinsam mit Zofe Qiufang bei einem Tempelfest zu zerstreuen, wo sie mit ihrem Anblick die Aufmerksamkeit des Mönchs Jinghai erweckt. Erfahren in der Eroberung von Frauen, stellt Jinghai den beiden nach, um ihren Wohnort in Erfahrung zu bringen. Dann verkleidet er sich als Nonne und verschafft sich Zutritt zum Anwesen der Wu unter dem Vorwand, das Lampenöl weihen zu wollen. Gekonnt versteht es Jinghai, das Gespräch in die Länge zu ziehen, so daß er am Ende eingeladen wird, über die Nacht zu bleiben. Im vertraulichen Kreise beginnt sich die Unterhaltung »unter Frauen« bald um Ehe- und Familienprobleme zu drehen, wobei sich Jinghai an745
746
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas (Zhongguo lidai jinhui xiaoshuo), Taipeh: Shuangdi guoji shiwu 1995 (Bd. H 425). Auch über die Entstehungszeit des zwölf Kapitel langen Werkes kann hier nichts ausgesagt werden. Ebd., Kap. 4, S. 56
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strengt, die Vorzüge des männerlosen Nonnenlebens zu schildern. Das Interesse Guijies ist geweckt, als er von einem Gerät namens »Frühlingsgefühle in den sechsunddreißig Palästen« berichtet, mit dem die Frauen ihre Lust befriedigen. Da er das »Gerät« mitgebracht habe, verspricht er es Guijie zu zeigen. Als beide schließlich das Lager teilen, bietet Jinghai selbstverständlich nichts anderes als sein Glied an, doch selbst als er in die Frau eindringt, ahnt diese zunächst noch nichts: Jinghai nahm sie, doch selbst jetzt hielt Guijie ihn für eine Frau, umschlang seinen Leib, paßte ihren eigenen Körper seinen leichten Bewegungen an und sagte mit halb geschlossenen Augen: »Schade, daß du eine Frau bist. Als Kerl wärst du prima!« »Wie soll ich das verstehen?« wollte Jinghai wissen. »Nun«, erklärte Guijie, »wenn du ein Mann wärst, würde ich dich in meinem Zimmer einsperren und nicht mehr fort lassen.« »Wehe, dein Gatte erführe davon, dann wäre es um dich und mich geschehen.« »Pah, der kommt erst in drei Jahren zurück«, prustete Guijie verächtlich, »wenn ich dagegen zwei Jahre lang jeden Abend Nächte wie heute verbringen dürfte, würde ich sogar den Tod in Kauf nehmen.« Als Jinghai sah, daß sie wohl Gefallen an ihm gefunden hatte, sagte er: »Herrin, tasten Sie nur einmal richtig, was da in Ihnen steckt, fühlt es sich nicht wie echt an?« Guijie griff nach dem Glied, das warm, glatt und wohlgeformt war und dabei keinerlei Ähnlichkeit mit einem herkömmlichen Olisboi aufwies. Erschrocken rief sie 747 daher: »O weh, du bist ja in der Tat ein Mann!«
Es kommt wie bereits in dem Bekenntnis Guijies angedeutet, und sie nimmt Jinghai unter Mitwissen der Zofe Qiufang bei sich auf. Zunächst gelangt Jinghai noch eine Weile in der Verkleidung einer Nonne zur Dämmerung ins Haus, bis er schließlich ganz Abschied von dem Daxing-Tempel nimmt und sich für die nächsten Jahre heimlich in den Gemächern der Geliebten aufhält. Einen ähnlichen Mönchstyp wie Jinghai lernen wir mit dem neuen Abt Xukong kennen. Auch hier ist wieder der unbeherrschte Geschlechtstrieb die Ursache der Vergehen, als Xukong eines Tages auf die berühmte Kurtisane Shui Xiurong aufmerksam wird, die im Gefolge eines reichen Mannes den Tempel besucht. Die Schöne geht ihm nicht mehr aus dem Sinn, er entschließt sich eines Abend, die Mönchskleider abzulegen und der Angebeteten im Anzug eines gewöhnlichen Mannes einen Besuch abzustatten. Jinghai und Xukong sind zwar Heuchler und laden mit ihrem lasterhaften Verhalten große Schuld auf sich, doch die übelsten Vertreter der Mönchsgemeinschaft im Daxing-Tempel finden sich mit Lülin (bekannter Begriff auch in der Bedeutung für »Räuber«), Honglin und dem alten Jingxin, die sich alle drei darauf spezialisiert haben, Besucherinnen des Tempels in der Anlage einzusperren und wie Sklavinnen zu halten, an denen sie ihre Lust befriedigen. 747
Ebd., Kap. 4, S. 54.
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Die WELT DER GEFÜHLE So bringt Lülin z.B. eine weitere Tempelbesucherin namens Witwe Tian in seine Kammer, wo er sich sicher glaubt, das neue Opfer ganz für sich zu haben und mit niemandem teilen zu müssen. Anders als die Frauen vor ihr, zeigt sich Witwe Tian gar nicht einmal so abgeneigt gegenüber einem Verhältnis mit Lülin, der ihr zunächst einmal wiederum mit einem Betäubungsmittel, den Widerstand raubt: Halb zog er sie, halb sank sie hin, aus einem ersten Turteln wird plötzlich Lust und Leidenschaft; Ein süßes Kribbeln in der Brust, ein Locken, wie wenn die Biene den Nektar saugt; Am Ende ergießt sich milder Regen über das verdorrte Feld. »Meister«, sprach Frau Tian, nachdem sie aus dem Weinrausch erwacht war, »seit Jahren hat es niemand mehr so getrieben mit mir wie Ihr heute. Kein Wunder, daß viele Frauenzimmer an nichts anderes als die Mönche denken. 748 Sucht mich doch recht häufig daheim auf.«
Doch anstatt Witwe Tian gleich wieder gehen zu lassen, behält Lülin sie lieber eine Weile bei sich. In der Tat entbehrt die Frau auch nichts, denn Lülin scheint auf Damenbesuch vorbereitet zu sein, jedenfalls kann er mit allem aufwarten, angefangen von Kosmetika bis hin zu Kleidern. Erst das Einschreiten eines Beamten sorgt am Ende wieder für geordnete Verhältnisse. Um ein wenigstens im Ansatz erzählerische Reife zeigendes Werk handelt es sich bei dem Roman Im Schatten des Sterkarienbaums (Wutong ying), mit dem wir den Problemkomplex der erotischen Literatur über den Klerus gleichzeitig zu einem Abschluß bringen wollen.749 Sterkarienbaum, abgefaßt in der Form des während der Ming-Dynastie recht populären Lied-Prosa-Wechsels (cihua), nennt nirgends Verfasser oder Entstehungszeit, doch hat der Autor, wie sich anhand von Zeitangaben sowie bestimmter stilistischer Merkmale ergibt, vermutlich um die Zeit der Dynastiewende Ming/Qing in Suzhou gelebt. Der Druck des Werkes erfolgte sodann in der Kangxi-Ära (1662–1723). Bei den beiden Protagonisten des Sterkarienbaums, dem Mönch Sanzhuo und dem Schauspieler Wang Zijia, handelt es sich um historische Persönlichkeiten, von deren Schicksal wir bereits durch das ebenfalls aus der Kangxi-Zeit stammende Buch mit dem Titel Erzählung von der Gelehrten (Nü kaikezhuan) wissen. Der Roman entbehrt mit seinen vergleichsweise detaillierten Schilderungen über die Herkunft und Entwicklung seiner Helden bis hin zu alltäglichen Angelegenheiten nicht eines gewissen Reizes, hält diese Qualität aber leider nicht bis zum 748 749
Ebd., Kap. 8, S. 72f. Hier ebenfalls bearbeitet nach der Ausgabe Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas, (Bd. H 425). Der Roman umfaßt zwölf Kapitel.
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Schluß durch. Stattdessen verliert er sich nach einem fulminanten Auftakt über die Ziele des Werks sowie einer an die Tradition der ruhua-Einleitungen in den Textbüchern erinnernden vorangestellten Geschichte zum Ende hin in ein wenig stereotyp wirkenden Darstellungen. Bei näherer Betrachtung stellt sich zudem heraus, daß das die Ziele und Vorgehensweise in Sterkarienbaum anführende erste Kapitel, dessen Tenor lautet, »sich Berichte über Ausschweifungen zunutze machen, um den Ausschweifungen selber ein Ende zu setzen« nahezu vollständig von Andachtsmatten aus Fleisch übernommen ist.750 Da wir auf den Roman Andachtsmatten erst weiter unten eingehen werden, seien die wichtigsten Motive zur moralischen Belehrung mittels drastischer Schilderung, mit denen sich der Verfasser von Sterkarienbaum wohl ebenfalls identifiziert, hier jedoch bereits angeführt. Die hier von Andachtsmatten übernommene Voranstellung der eigentlichen Ziele des Verfassers unterscheidet sich ganz wesentlich von dem Vorgehen in den meisten anderen Romanen des Genres, wo in der Regel nur mit wenigen Zeilen am Schluß eine Läuterung oder Bestrafung der Helden angedeutet wird, so daß man den Eindruck nicht los wird, dies diene lediglich einer lapidaren Rechtfertigung der vorher mit ersichtlicher Freude beschriebenen Szenen. Der nur schwach vorgetragene Moralanspruch mag in der Regel zudem allein dem Ziel gedient haben, der befürchteten Zensur zu entgehen. Anders dagegen im Sterkarienbaum. Hier wird der Leser gleich zu Beginn auf die richtige Sichtweise eingestimmt. Sex, so die Grundaussage, die am frühen Alterungsprozeß der Eunuchen und das Zölibat beachtenden Mönche verdeutlicht wird, ist nicht schädlich für den Menschen. Doch möge man sich mäßigen und den Gebrauch von potenzsteigernden Tonika wohl dosieren wie bei der Einnahme einer Medizin, drohe doch ansonsten eine Schädigung der Gesundheit. Damit verbunden ist ein moralisches Anliegen in bezug auf die Ehe: Der Mann beschränke sich auf das, was er an der eigenen Ehefrau finde, stürze sich nicht in Abenteuer mit fremden Damen und bewahre seine Stellung als leuchtendes Vorbild. Da von diesem Anspruch oft genug abgewichen wird, sieht der Romanverfasser seine Aufgabe darin, die Menschen mit seiner Erzählung auf den rechten Weg zurückzuführen und betont daher die Überlegenheit seines Mediums gegenüber trockenen moralisierenden Traktaten, die sowieso niemand lese: »Angesichts des Wertes, der den sexuellen Freuden zukommt, sollten wir unsere für Lustgefühle empfänglichen Körper auch so lange wie möglich erhalten, anstatt aufgrund von Exzessen vorzeitig unter Päonienblüten begraben zu werden und die Realität der sinnlichen Erfüllung für ihren Schein zu opfern.«751 750
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Die entsprechenden Passagen finden sich in der deutschen Ausgabe LI YÜ: Jou Pu Tuan, ein erotisch-moralischer Roman aus der Ming-Zeit, deutsch von FRANZ KUHN, Brugg u.a.: Fackelverlag 1972 in Kapitel zwanzig ganz am Ende des Buches sowie an der richtigen Stelle in der englischsprachigen Übertragung The Carnal Prayer Mat, übersetzt von PATRICK HANAN, London: Arrow Books 1990, S. 1–7. Sterkarienbaum, Kap. 1, S. 113.
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Die WELT DER GEFÜHLE Unterstrichen wird dieses Anliegen sodann mit einem Hinweis auf den Philosophen Menzuis, dem es anhand der Geschichte über die Läuterung eines Herrschers gelungen sei, den nach sexuellen Genüssen und Reichtum gierenden König von Qi zum Umdenken zu bewegen. Nur wer sehr vordergründig denke, so der Verfasser, der werde den ausschweifenden Protagonisten in der Erzählung nachzueifern versuchen, um ebenfalls in die beschriebenen Genüsse zu gelangen. Mit dem Versprechen, die entsprechenden Passagen mit anleitenden Kommentaren zu würzen, um auch ja keine Zweifel an der eigenen Lauterkeit aufkommen zu lassen, wird die Belehrung schließlich abgeschlossen. Man sucht freilich solche moralischen Einwürfe in der folgenden Romanhandlung weitgehend vergeblich. Lediglich in der Einleitungsgeschichte sind sie noch erkennbar, etwa wenn der Leser dort gleich zu Beginn erfährt: Die abscheulichsten Menschen im Reich sind die sexbesessenen Mönche, die die Glaubensregeln aufs Schändlichste verletzen. Nicht allein, daß sie ihre Klöster und Tempel an den schönsten Orten errichten, sie frönen dabei sogar noch den sinnlichen Genüssen. Doch was täten sie ohne die unglückseligen Beamten, die ihnen beim Brechen ihrer Gelübde noch freimütig in die Hände spielen und die eigenen Frauen samt den unschuldigen Töchtern als fleischliche Almosen zukommen lassen, nur um damit unter ketzerischer Auslegung von Buddhas Bot752 schaft auf eine langes Leben zu hoffen.
Überhaupt, so geht es in ähnlich vorwurfsvollem Ton weiter, sei es vollkommen unangebracht, dem Klerus derart zahlreiche Privilegien zuzugestehen. Die Mönche und Nonnen seien Parasiten, ohne viel Nutzen für die Menschen, warum die männlichen Klosterbewohner nicht in unruhigen Zeiten ebenfalls in den Krieg ziehen lassen, damit sie ihre Verbundenheit zum Herrscher zum Ausdruck bringen? Wer sich mit dem Gesindel in den Glaubensstätten einlasse, der könne nur Schaden nehmen. Zu Beginn des Romans stimmt der Verfasser seinen Leser auf die fragwürdigen Erscheinungen in der südchinesischen Heimatregion ein. Seit alters her ist es so, daß der Himmelssohn die Welt richtet und über das Reich herrscht. Das Augenmerk des Kaisers galt dabei zu allen Zeiten vor allem der Ordnung der Sitten. Sind die Sitten geordnet, dann lassen Richtersprüche und Strafen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Am schwersten ist es, Habgier, Unzucht und sinnliche Ausschweifung in den Griff zu bekommen, wie man gerade an dem Treiben in Südchina nur zu deutlich sieht, wo die Verhältnisse einem wahren Sündenbabel gleichen. Dabei mag man die Habgier noch hinnehmen, gibt es doch angesichts der weit verbreiteten Armut ohnehin nicht viel voneinander zu holen. Unzucht und Ausschweifung haben aber ein gar zu 752
Ebd., Kap. 2, S. 117.
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Der verkommene Klerus – Handlungen wider das Keuschheitsgelübde arges Maß erreicht. In den Gegenden von Mittelchina bis hin nach Suzhou und 753 Hangzhou herrschen heute Ausschweifung und Unzucht ohnegleichen. Der Grund dafür ist diese »Lehre von dem ungehinderten Umgang der Frauen und Männer« des unseligen »Glatzköpfigen Li«, die gerade im Südwesten eine enorme Verbreitung gefunden hat und die Sitten im ganzen Süden des Reiches 754 Die unzüchtigste Gestalt unter den Männern in der Geverkommen ließ. schichte ist Kaiser Ming aus der Tang-Dynastie. Unter den Frauen nimmt diese Stellung Wu Zetian ein. [...] Doch heutzutage belegt niemand mehr die beiden mit Schimpf und Spott, vielmehr genießen diese Gestalten bei vielen Bewunderung. Nicht nur das, man ahmt ihnen sogar nach. Es ist schon höchst lächerlich, was sich da allerorts abspielt: Dieser Mann liebt jene Frau; jener Gatte findet an der eigenen Gemahlin wenig Gefallen, will vielmehr die des anderen. Genauso bei den Damen: Hier die Frau, die es auf einen anderen abgesehen hat; da die Gattin, die den eigenen Ehemann verschmäht und sich nach einem Geliebten umsieht. 755 Es geht zu wie in einem Irrenhaus.
Man darf annehmen, daß sich der Verfasser von Sterkarienbaum bei der Niederschrift mehrerer Quellen bediente, aus denen er Angaben über das Leben seiner Protagonisten entnahm. Über die Herkunft des einen, der sich »Erfahrener Taoist« nennt, erfahren wir nur recht wenig. Jedenfalls tritt er dem Leser gleich in den ersten Szenen als Scharlatan entgegen, der sich vor allem als in der Kunst zur Bewahrung der Lebensessenzen bewandert herausstellt und damit viele Frauen in den Häusern, welche er besucht, um seine »Lehre« zu verbreiten, ins Unglück stürzt. Sein erstes Opfer wird eine Frau Wang, die er mit zügellosen Reden richtig »heiß« gemacht hat. Nach ihrem Tod jedoch zieht es der »Erfahrene Taoist« zunächst vor, das Weite zu suchen. Auch die genaue Herkunft des Sanzhuo bleibt dunkel. Aufgewachsen in einem Kloster, schließt er sich dem »Erfahrenen Taoisten« an. Unter seinen Erlebnissen in der Frauenwelt des Ortes, bei denen Sanzhuo zunächst meist Gewalt einsetzt, am Ende aber doch stets mit seinen überragenden Fähigkeiten überzeugt und aus zahlreichen Vergewaltigungen dauerhafte Beziehungen anknüpft, ist wohl der seltsamste folgender Fall: 753
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Die Ortsbezeichnung Zheng und Wei als Ausdruck für die Gegend der heutigen Provinzen Hebei und He'nan steht mit Hinweis auf die angenommenen freien Sitten in diesen Orten seit ältester Zeit für den Begriff des chinesischen »Sündenbabel«. Vgl. dazu entsprechende Hinweise in den Annalen der Han (Hanshu, Shuwenzhi) und bei Zhu Xi (Shijizhuan). Auch wer sich hinter der Bezeichnung »Li Tuweng« (Glatzköpfiger Li) verbirgt, ist nicht ganz zweifelsfrei zu ermitteln. Möglicherweise ist Li Shizhen (1518–1593) gemeint, ein Arzt, der sich u.a. mit den Sexualhandbüchern auseinandersetzte. Es kann aber auch sein, daß die Bemerkung eine abfällige Anspielung auf den Rebellenanführer Li Zecheng (1606– 1645) darstellt, der den Untergang der Ming-Dynastie einleitete. Sterkarienbaum, Kap. 3, S. 128f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Eines Tages ging er gerade an einem Haus vorüber, als Sanzhuo jemanden in der Tür sprechen hörte: »Sieh an, das muß der Mönch Sanzhuo sein.« Sanzhuo hob den Kopf und erblickte eine Frau, die alleine an das Tor gelehnt stand. Ihr säuberlich gekämmtes Haar glänzte wie Seide, ein roter Kirschmund prangte ihm aus dem weiß gepuderten Gesicht entgegen, und ihre zierlichen Glieder steckten in sauberen, ordentlichen Kleidern. Doch irgendwie machte sie einen nicht ganz ehrbaren Eindruck. Sanzhuo sammelte seinen Mut, trat zu der Frau und sprach zu ihr: »Sie haben mich gerufen, Madame?« Die Frau wandte sich um, um ins Haus zurückzugehen und sagte dabei: »Du interessierst mich gar nicht.« Sanzhuo folgte ihr, doch die Frau drehte nur kurz den Kopf und verkündete: »Du interessierst mich gar nicht.« Mittlerweile hatten sie das Schlafgemach erreicht, wo niemand sonst zu sehen war. »Du interessierst mich gar nicht,« erklang es erneut aus dem Mund der Frau, und als Sanzhuo sie umarmte, wiederholte sie den Satz noch einmal. Er drückte ihr einen Kuß auf die Lippen und begann, an ihrem Busen zu grapschen, doch alles, was die Frau mit einem Lachen sagte, war: »Glaub nicht, daß ich mich nur im geringsten für dich interessiere.« Sanzhuo ahnte, daß er ein sicheres Spiel haben würde. Er zog ihr die Kleider vom Leib und trug sie aufs Bett, in einem fort rief sie dabei: »Du bist mir ganz gleich, du bist mir ganz gleich!« Mönch Sanzuo trieb es vielleicht eine Stunde mit der Frau, doch da er fürchtete, daß jemand hinzukommen möge, ließ er schließlich von ihr ab und erhob sich. »Aus dir mache ich mir gar nichts«, klang es ihm aus ihrem Munde entgegen, und als er sie nach ihrem Namen fragte, antwortete sie nur: »Du bist mir schnuppe.« Mit einem Gruß verabschiedete sich Sanzhuo, doch mehr als ein »Mir bist du einerlei!« vernahm er auch diesmal nicht. Lachend trat der Mönch auf die Straße. Nicht im Traum hätte er gedacht, jemals auf solch ein 756 Frauenzimmer zu treffen.
Am Ende beginnt auch Sanzhuos Stern zu sinken. Immer tiefer reitet er sich in die Misere hinein: Zunächst läßt er sich mit einer mannstollen Nonne ein, die ihm weitere Opfer vermitteln will und Beziehungen zu einer Witwe anknüpft. Doch die ehrbare Frau verständigt ihren Bruder, und als Sanzhuo sowie die Nonne am vereinbarten Tag bei der Witwe erscheinen, werden sie davongejagt. Zu Fall bringt den Lüstling schließlich ein junges Mädchen, das ihm mit Einverständnis der Mutter zugeführt werden soll, sich aber im letzten Augenblick zur Wehr setzt und laut um Hilfe schreit. Nachbarn überwältigen Sanzhuo und händigen ihn dem Richter aus.
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Ebd., Kap. 7, S. 177f.
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4. Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung Wir kommen in diesem Abschnitt auf den Bereich der Liebe und Erotik zu sprechen, der wohl mit am einflußreichsten auf die Entwicklung dieses Genres innerhalb der chinesischen Literatur gewesen ist. Der historischen Bezüge weitgehend enthoben, tritt uns der Chinese hier in seiner privatesten Umgebung entgegen, reduziert auf Beziehungen zwischen den Bewohnern des Heims. Doch auch diese Beziehungen entbehren noch weitgehend der Komplexität, wie wir sie in Werken wie Jin Ping Mei oder dem Traum der Roten Kammer finden. Vielmehr haftet den kleinen Büchern, die wir weiter unten behandeln werden, eine auffallende Irrealität an. Wir lernen wenig über die konkreten Lebensumstände der handelnden Personen. Sie schweben sozusagen über allen Dingen, oftmals gibt nur ein lapidarer Hinweis zu Beginn der Erzählung Auskunft über die Zeit und den Ort, an dem sich alles abspielt. Eine genau konzipierte Handlung ist nicht auszumachen. An kurze Nachrichten über Herkunft und Familienverhältnisse der Protagonisten knüpfen sich sogleich erste erotische Szenen an, die in aller Farbigkeit und mit großem Detailinteresse geschildert werden. Auch die sich daran anschließende Geschichte bleibt episch weitgehend inhaltsleer und dient allein dem Zweck der Herbeischaffung neuer Partner bzw. dem Entwurf neuer Situationen für die wechselnden, stets aber mit gleicher Sorgfalt ausgeführten Tableaus. Das Dasein scheint beschränkt auf einen rein körperlichen Bereich. Damit bleiben jedoch auch die Protagonisten selbst seltsam leer. Sie besitzen keine echte Persönlichkeit, keine »Seele«, wenn man so will. In ihrem märchenhaften Verlangen, ihrem märchenhaften Können und ihrer märchenhaften Freude am Sichzeigen sind sie zu nur-körperlichen Helden reduziert, die in einer verzerrten Welt leben. Gleichwohl wird hinter der sexuellen Entfesselung eine Sorge sichtbar, die weit über das hinausgeht, was sich in den Beschreibungen des Textes findet: Mit dem Bild der in Auflösung und Unruhe begriffenen Haus und Familie vermitteln die erotischen Werke den Eindruck eines sich bis in die intimste Familiensphäre ausbreitenden Chaos. Man fragt sich bei der Lektüre von Romanen wie der Inoffiziellen Geschichte des bestickten Lagers (Xiuta yeshi) oder der Geschichte eines zügellosen Lebens (Langshi) unwillkürlich nach der Stimmung des Verfassers und seiner Motive. Der letztendlichen Bestrafung der Protagonisten, ihrer Umkehr zu einem lauteren Lebensstil wird dabei so wenig Raum zubemessen, daß man ein belehrendes Ansinnen nicht ernstlich zu erkennen vermag. Dem widersprechen auch der heitere Ton und die Freude, mit der die Verfasser das ungezügelte Liebesleben in den Schlafzimmern schildern. Waren die Mönche in Sterkarienbaum noch ätzender Kritik ausgesetzt, so erwecken die Teilnehmer des Liebesaktes hier nun – als echte Personen mit ihrem Hintergrund eines Beamten, Kaufmanns oder Grund-
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Die WELT DER GEFÜHLE herrn kaum faßbar – nur Bewunderung und allenfalls Unglauben, wenn sie mit hunderten von Stößen ihre Partner auf den Höhepunkt treiben und der Tau der Lust in Strömen zu fließen beginnt. Alle gesellschaftlichen Bande scheinen mit einem Mal aufgelöst: Ehegatten, Cousins, Schwiegermütter und Schwiegersöhne, Herren und Dienerinnen, junger Knabe und reifer Mann – allesamt sind sie potentielle Liebespartner und leben ihrem Trieb folgend, keinerlei Tabus, Traditionen und Normen mehr beachtend. Homosexuelle Verbindungen sind auf einer Ebene mit heterosexuellen angesiedelt, kaum eine Stellung und sexuelle Praktik – angefangen vom Oral- bis zum Analverkehr –, die nicht eingehende Würdigung erfährt. Alles scheint und ist möglich. Vergeblich sucht man nach einem Halt, einer wie auch immer gearteten Ordnung, doch selbst von der Liebe als einendem Band ist nirgends die Rede. Der nackte, gerade in seiner großartigen Liebeskunst noch »Kultur« zeigende Mensch, wird hier vorgeführt, bar allen moralischen Ballasts und damit die Überlieferungen gänzlich in Frage stellend. Unter Aussparung jedes glaubwürdigen Moralisierens war die erotische Literatur niemals wieder so frei wie hier. Von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die erotische Literatur des hier untersuchten Komplexes ist ein kleines Werk, das wohl zur Zeit der Longqing-Herrschaft (1567–1572) entstanden sein dürfte und in Andachtsmatten aus Fleisch an zwei Stellen (Kap. 3 und 14) kurz genannt wird. Wie die weiter oben vorgestellte Erzählung vom Kavalier nach Wunsch, so ist auch Die Erzählung von der verrückten Frau (Chi pozizhuan) noch ganz in der schriftsprachlichen Variante des wenyan abgefaßt und liegt ohne Kapiteleinteilung in zwei Büchern vor.757 Neben den darin beschriebenen Geständnissen ist Verrückte Frau auch insofern ein bemerkenswertes Werk, als es in der ansonsten in der chinesischen Romanliteratur kaum genutzten Ich-Form abgefaßt ist und damit stark an die Biographien »gefallener Frauen« erinnert,758 wie wir sie in Europa zum Beispiel bei Grimmelshausens (1621/22–1676) Wundersamer Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche (um 1670),759 Daniel Defoes (ca. 1680–1731) Glück und Unglück der berüchtigten Moll Flanders (1722)760 oder John Clelands (1709– 757
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Der Roman liegt vor als Ausgabe Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas, (Bd. H 407). Hier bearbeitet unter Hinzuziehung der französischen Übertragung in Vie d'une Amoureuse, S. 15-79. Als ein frühes Werk, in dem diese Erzählform Anwendung fand, vgl. die chuanqi-Erzählung des Tang-zeitlichen Verfassers Zhang Zhuo »Reise in die Höhle der Unsterblichen« (Youxianku), einem Euphemismus für den Begriff »Bordell«. Vgl. GRIMMELSHAUSEN: Trutz Simplex oder ausführliche und wundersame Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche, Berlin: Deutsche Buchvertriebs- und Verlangsgesellschaft o.J. DANIEL DEFOE: Glück und Unglück der berüchtigten Moll Flanders, Hamburg: Rowohlt 1958.
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Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung
1789) Die Memoiren der Fanny Hill (1749) finden.761 Alle drei Werke sind in der Form von Bekenntnissen reifer Frauen gehalten, die über die Fehler ihrer Jugend nachdenken. Ähnlich hält auch die Frau Ze Ana in unserem Roman als Siebzigjährige Rückblick auf ihr ausschweifendes Leben und bezeichnet ihr Verhalten im Nachhinein als »verrückt«. Nur weil sie ihren ungezügelten Leidenschaften frönte, so die Botschaft in dem vorangestellten Vorwort aus dem Jahre 1764, sei es so weit mit ihr gekommen: Alle Gefühle, so erfährt man dort, haben ihren Ursprung in der Seele. Doch wer seine Seele nicht aufrichtig beherrsche, dem entwüchsen die Gefühle zu Leidenschaften, über die dann nur noch schwer Einhalt zu gebieten sei. Der Roman hebt an mit der Beschreibung, wie sich Ana bei einer jungen Nachbarin erste theoretische Belehrungen in den Liebesdingen holt und zum Beispiel etwas über den Unterschied zwischen Mann und Frau erfährt. Voller Sehnsucht wartet sie auf die Gelegenheit zu ersten praktischen Erfahrungen. Die Zeit kommt, als der ebenfalls im pubertären Alter befindliche Cousin Huimin im Anwesen der Familie weilt und von Ana zum gemeinsamen Übernachten auf dem Lager eingeladen wird, welches sie sich allerdings noch mit der Schwester Anas teilen müssen. Wir entkleideten uns und begaben uns zu Bett, meine Schwester am Rand, ich in der Mitte und Huimin an der Wand. Er war müde und schlief sogleich ein. Ich dagegen konnte keinen Schlaf finden und wandte mich ihm zu, wobei ich meine Hand voller Interesse über seinen Unterleib gleiten ließ. Ich fand sogleich, was die Nachbarin mir beschrieben hatte, doch das Ding war so klein, so winzig. Ich befühlte meine eigene Scheidenöffnung. Sollte es wirklich stimmen, daß sein kleines Instrument mir Schmerzen zuzufügen vermochte? [...] Doch in dieser Nacht wollte ich Gewißheit erlangen. Es dämmerte bereits, als ich noch einmal nach seinem Schwänzchen griff. Es fühlte sich jetzt hart und steif an und ließ sich nicht biegen. Ich stieß Huimin an, rüttelte ihn wach und ergriff seine Hand, damit er mir über den Unterleib streichelte. »Schwester, was tust du da?« fragte er schläfrig. Bereit, den Angriff seines Instruments zu empfangen, wandte ich mich ihm zu und plazierte seinen Schwanz vor meiner Öffnung. »Was tust du da, meine Schwester?« fragte er erneut. »Versuch einmal, ob du in mich eindringen kannst«, flüsterte ich. Er schien nicht zu begreifen. »Eindringen, wozu?« »Frage nicht, sondern tu, was ich dir sage, los, stoße jetzt so fest du kannst.« Huimin tat, wie ich ihn geheißen hatte und stieß mit dem Unterleib nach vorn, doch landete er sein Angriff an der falschen Stelle und geriet viel zu hoch. Ich legte mich so, daß er es bequemer hatte, doch noch immer war mein Unterleib viel zu weit von seinem entfernt. Ich drehte mich auf die andere Seite, erreichte damit aber noch viel weniger. Das alles führte zu nichts. Ganz falsch, kam es mir in Sinn, legte mich schließlich auf den Rücken und zog Huimin heran, daß er über mir zu liegen kam. »Stoße jetzt!«
761
Vgl. JOHN CLELAND: Die Memoiren der Fanny Hill, Essen: Magnus o.J.
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Die WELT DER GEFÜHLE Vergeblich. Ich bog meine Schenkel weit auseinander, umklammerte Huimin mit meinen Beinen und plazierte sein Glied direkt vor meinem Eingang. »Versuch’s noch einmal.« »Ja, gleich«, erwiderte er und stieß zu, nicht ohne mir jedoch große Schmerzen zuzufügen. »Stop, hör auf!« schrie ich. Die Pein war unerträglich. »Jetzt noch einmal«, forderte ich ihn auf. Mir war, als dringe jemand mit einem Spieß in meinen Leib ein. Auch Huimins Gerät schien zu schmerzen. »Schwester, ich stoße ja schon, aber das tut weh«, versetzte er stirnrunzelnd, »laß uns besser aufhören.« Ich strich mit der Hand über sein Glied, das einer dicken Wurst glich, aus der vorne ein Kopf herausragte. Ich wußte weder ein noch aus. »Feuchte es mit Speichel an, dann geht es vielleicht«, schlug ich schließlich vor. Er tat wie ihm geheißen, und siehe da, es klappte mit einem Schlag. Um so größer war der Schmerz, den ich verspürte. Es fühlte sich an, als zerrisse man mir die Eingeweide. »Hör auf«, rief ich. »Warum, es geht doch gut jetzt mit der Spucke.« »Du tust mir weh.« »Weh? Seltsam, ich brauche mich gar nicht anzustrengen.« »Du darfst nicht so kräftig stoßen«, wimmerte ich, »mir ist, als steckten mir tausend brennende Nadeln im Leib.« »Wie, brennen?« fragte Huimin. »Es schmerzt höllisch, wenn du mit deinem Ding in der kleinen Öffnung auf- und abfährst, du zerreißt mir den Leib.« Huimin hielt einen Augenblick in seinen Bewegungen inne, doch der Schmerz wich nicht aus meinem Körper. Es raubte mir fast die Sinne, als Huimin zu einem neuen Angriff ansetzte, ein fürchterliches Gefühl, das kann ich ihnen sagen. »Ich gebe auf«, hielt Huimin von neuem inne, als er merkte, wie ich mich vor Pein wand. »Wenn nur dieses seltsame Kitzeln bei mir nicht wäre... Es ist zum Verrücktwerden.« Seltsam, dachte ich, wie kommt es, daß er ein Kitzeln verspürt und ich nicht. »Bruder, das ist genug für den Anfang«, flüsterte ich. »Mir ist es noch lange nicht genug, los, laß mich noch einmal.« Erneut drang er in mich ein, und wiederum machte sich dieser furchtbare Schmerz in meinem Körper breit, viel schlimmer noch als vorher. »Gut so, hervorragend!« rief Huimin dagegen, während er mir einen Stoß um den anderen versetzte. Sein Ding war winzig, gerade mal so lang wie ein Finger, er füllte damit meinen Leib vielleicht eben bis zur Hälfte. Doch bei all dem Schmerz, den ich empfand, begann ich zu zweifeln, daß je eine Frau, ganz gleich wie groß oder klein das Ding eines Mannes auch sein mochte, diese Pein überhaupt zu ertragen vermochte. In diesem Moment begann sich meine Schwester neben uns zu räkeln. Ich stieß Huimin mit einer heftigen Bewegung von mir, und er erhob sich, um in der Ecke zu pinkeln. Als er wieder zurück ans Bett trat, war sein Glied vielleicht eben noch so groß wie eine tote Seidenraupe 762 und besaß ganz und gar nichts Furchterregendes mehr.
Stolz berichtet Huimin am nächsten Tag den Freunden von seiner Eroberung und erhält Ratschläge, wie er nun endlich richtig zum Zuge kommen kann. So ist er es, der am nächsten Abend die Initiative ergreift und das erste Mal die vollen Freuden der Liebe genießt, während Ana zumindest den Eindruck hat, als fehle 762
Verrückte Frau, S. 65–68.
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Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung
ihr etwas, nachdem er sich zurückgezogen hat. Als Huimin in den folgenden Nächten etwas geschickter vorgeht, kommt auch Ana endlich in den verdienten Genuß. Die beiden leisten sich Schwüre ewiger Liebe, doch es ist Anas etwas prüde Schwester, die dem Treiben ein Ende bereitet, als sie sich bei der Mutter über die »nächtliche Ruhestörung« beklagt und das Paar daraufhin getrennt wird. Die Jahre vergehen, Ana hat das heiratsfähige Alter von achtzehn erreicht, doch bevor sie dem jungen Luan Keyong zur Gattin gegeben wird, genießt sie daheim noch eine Affäre mit einem in Liebesdingen bewanderten Diener. Auch in der Folge zeigt sich Ana im Verhältnis zu den Männern ihrer Umgebung sehr freizügig. Nach einer Affäre mit dem jungen Mönch Ruhai, in dessen Kloster Ana für die Gesundheit der Schwiegermutter betet, macht ihr nun der jüngste Bruder des Gatten mit Namen Ketao Avancen. Er hat die illegitimen Beziehungen lange durchschaut und weiß auch von dem Umgang mit Diener Yinglang, was noch viel schlimmer ist. Ohne großen Widerstand geht Ana auf seine Wünsche ein. Die Folgen ihres Treibens bleiben nicht aus, Ana wird schwanger und weiß doch nicht, ob das Kind unter ihrem Busen von ihrem eigenen Gatten, dem Schwiegervater, einem der Schwager, dem Mönch, Yinglang oder Datu ist. Zum Glück ist das Neugeborene dem Ehemann äußerlich nicht unähnlich. Doch das Potential an Liebhabern ist noch lange nicht ausgeschöpft. Anas Schwester Xianjuan hat nämlich einen jungen Mann aus dem Hause Fei geheiratet, der bei einem Besuch denn auch gleich Gefallen an der Schwägerin findet und die Abwesenheit Keyongs zu einem Schäferstündchen nutzt. Ein weiterer Kandidat ist der Schauspieler Xiangchan, den man anläßlich der Geburtstagsfeier für den Schwiegervater ins Haus gebeten hat. Doch das sind vorübergehende Affären einer unersättlichen Nymphomanin. Den Preis für ihr ausschweifendes Liebesverlangen muß Ana schließlich nach dem glücklichen Beisammensein mit Gu Deyin zahlen, den man als Lehrer für den herangewachsenen Sohn Shengwu aufgenommen hat. Hauslehrer Gu und Ana werden bald ein Paar. Er drang in mich ein, füllte mich vollständig aus und bereitete mir niemals gekannte Glücksgefühle. [...] Sein breites, mächtiges Glied ließ nicht den geringsten Platz ungenutzt. Er verstand es, mit seinem Körper zu vibrieren ohne sich dabei heftig zu bewegen. Ich wurde fast verrückt vor Glück. Gu war ein Meister der Liebe, er trieb mich auf nie erahnte Höhen, daß mir fast die Sinne schwanden. [...] »Dein Gefäß«, sagte er, »ist gerade richtig für mein Gerät. Ich dringe leicht in dich ein. Du bist nicht zu tief und nicht zu eng, perfekt, um mich zu empfangen.« »Du scheinst mich wirklich zu lieben«, erwiderte ich, »wir sind wie geschaffen füreinander.« In dieser Nacht fand keiner von uns beiden Schlaf. Am Morgen war ich erschöpft, doch um nichts weniger glücklich. Ich beschloß, alle meine anderen Liebhaber aufzugeben und nur noch für diesen einen dazu763 sein. 763
Ebd., S. 101f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Dieser Entschluß bleibt nicht ohne Folgen, denn als Gus Kräfte aufgrund seiner nicht abreißenden nächtlichen Besuche zu schwinden beginnen, läßt Ana voller Fürsorge für ihn stärkende Heiltränke zubereiten. Daneben unterstützt sie die arme Familie des Lehrers mit Geld. Da sie darüber hinaus die übrigen Männer im Hause zu vernachlässigen beginnt, machen bald böse Gerüchte die Runde, selbst der mittlerweile verständige Sohn fängt an, die Mutter zu hassen. Man setzt schließlich den Gatten Keyong in Kenntnis. Welch ein Schock für meinen Mann! »Ich ahnte es schon seit geraumer Zeit«, sagte Keyong, »doch ich habe mich stets geweigert, dem Gerede Glauben zu schenken.« Er erkundigte sich bei unserem Sohn, ob es stimmte, was man ihm berichtet hatte. »Sicher«, war die Antwort des Jungen. »Sie treibt es immerzu«, bestätigte der Schwiegervater, und als sich Keyong bei seinem Bruder Ketao erkundigte, ob der dazu etwas anzumerken habe, war alles, was er vernahm »Kein Mann ist vor ihr sicher.« »Eine Frau, die jeden Anstand und Ehre verliert«, sagte Keyong, »wird schnell zum Gespött der Leute. Die Freunde haben es gewußt, die Familie hat sich hinter meinem Rücken über mich lustig gemacht, nur ich allein bin ohne genaue Kenntnis geblieben. Man hat mich behandelt wie ein dummes, einfältiges Tier! Du Schlampe!« Damit packte er mich bei den Schultern. »Dafür sollst du mir mit deinem Kopf büßen, du und dieser Hundling von einem Gu! Man sollte vor dem Landrat eine Klage einreichen, doch ich bringe es nicht über mich!« Er ließ Lehrer Gu vor sich bringen, um ihm eine Prügelstrafe verabreichen zu lassen. »Gnade«, schrie Gu, »verschont mich!« Die ganze Familie nahm Aufstellung, um die Bastonnade zu verabreichen, zuerst der Schwiegervater, dann die übrigen, sie alle droschen mit dem Rohrstock auf Gu ein, der wie am Spieß schrie. Bald war der Boden mit lauter Blutspritzern bedeckt. »Es ist Schwägerin Ana, die die meiste Schuld besitzt«, unterbrach Ketao die anderen, »warum sie aussparen. Was soll mit ihr geschehen?« Man hieß die Diener, Gu fortzuschaffen. Mein Gatte war ein böser und rachsüchtiger Mensch. Voller Haß sprang er auf mich zu, packte mich bei den Schultern, schlug auf mich ein und schrie: »Wie, du schamloses Luder, was wartest du noch, los, erhäng dich!« »Ich gestehe meine Schuld«, wimmerte ich, wobei mir der Blick hinter einem Schleier von Tränen verschwamm, »aber willst du mich wirklich in den Tod schicken? Züchtige mich, ich werde die Schmerzen willig ertragen.« »Ha, hast wohl Angst vor dem Tod, du Luder«, rief er, »nimm von mir aus Gift, 764 aber verrecke!«
Der Familienrat tagt und ringt sich schließlich zu dem Entschluß durch, Ana zu verstoßen. Voller Reue läßt die Frau die Stationen ihrer illegitimen Liebeleien noch einmal Revue passieren und bekennt, daß alles, was sie seit dem ersten Beisammensein mit Huimin getan hat nicht dem Verhalten einer ehrbaren Frau entspricht. Erst als Nonne kommt sie am Ende zur Ruhe. 764
Ebd., S. 104f.
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Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung
Die Verrückte Frau ist ein Roman, der in seiner Form und Sprache eine Ausnahme blieb. Dabei hätte sich die Ich-Erzählung als Geständnis für eine ganze Reihe von Werken dieses Genres angeboten und damit an Eindringlichkeit gewonnen, gerade wenn man an das zur Läuterung mahnende Ende der Geschichte denkt. Die übrigen Romane, die wir hier betrachten wollen, sind zwar in ihrem Schluß ähnlich, bleiben aber durch den Bericht des objektiven Erzählers in ihrer Aussage weit distanzierter. So treffen wir in der Geschichte eines zügellosen Lebens (Langshi) auf einen typischen Vertreter jener Werke, in dem die Helden, wie eingangs zu diesem Abschnitt beschrieben, sexuell zu einer Höchstform auflaufen.765 Dem wohl zur Wanli-Zeit in vierzig Kapiteln verfaßten Roman ist einleitend ein kurzer Bericht über den sittenlosen Sui-Kaiser Yangdi vorangestellt, mit dem sodann zur männlichen Hauptfigur der Geschichte übergeleitet wird. In der nun ausgebreiteten Geschichte des jungen Bakkalaureus Mei Susheng, der zur Yuan-Zeit in der Stadt Qiantang lebt, knüpft sich ein erotisches Liebesabenteuer an das nächste. Der mit seinen achtzehn Jahren schon einem zügellosen Leben ergebene Gelehrte ist am Ort überall als Müßiggänger und Playboy verschrien. An seiner Seite lebt nach dem Tod der Eltern die etwas jüngere Cousine Junqing. Es ist die Zeit des Allerseelenfestes Qingming im Frühling, die Leute begeben sich auf die Friedhöfe zur Pflege der Ahnengräber. Auch Mei Susheng weilt auf dem Totenacker, wo er einer schönen Frau aus dem Hause des Wang Jiansheng ansichtig wird und sich sogleich in sie verliebt. Nachforschungen ergeben, daß es sich bei ihr um Li Wenfei, die Gattin des jungen Wang handelt. Mei schaltet die Amme Zhang aus dem Haus der Wangs ein und gesteht dieser seine Liebe zu Frau Li. Auch Frau Li ist, wie man bald erfährt, der junge Mann am Grab nicht gleichgültig geblieben. Nach dem Austausch von Liebesbriefen nutzt Susheng eines Abends die Abwesenheit des Wang Jiansheng und stattet dessen Gattin einen Besuch ab. Wenfei streifte die aus Gerten geflochtenen Pantinen ab, und zum Vorschein kamen ein Paar zierliche Füße von nur zehn Zentimetern Länge, die in roten Strümpfen steckten. »Bezaubernd, diese Füßchen«, schwärmte Susheng, »der Anblick raubt einem fast die Sinne. Wie sieht denn das Möschen von meinem Schatz aus? Schnell, zieh dir die Kleider aus und laß mich einen Blick darauf werfen.« »Laß uns erst das Lager besteigen und die Lichter löschen. Hinter den vorgezogenen Vorhängen werde ich mich dann freimachen«, erwiderte Wenfei. »Unsinn«, wandte Susheng ein, »wir machen es bei Licht und offenen Vorhängen. Flott jetzt, zieh dich aus, es brennt. So was, mir die schönsten Dinge vorenthalten zu wollen.« Wenfei zierte sich noch eine Weile, doch schließlich legte sie ihre Kleider vollständig ab und zeigte ihr Geschlecht, das vollkommen weiß und ohne ein einziges Haar war. Der Anblick ließ Sushengs Gemächte in die Höhe schnel765
Hier bearbeitet nach einer Ausgabe der Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas, (Bd. H 415).
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Die WELT DER GEFÜHLE len, splitternackt stand er alsbald vor der Angebeteten. »Was für ein mächtiger Speer«, schwärmte Wenfei, »schnell jetzt ins warme Bettchen, damit wir unser Fest feiern.« Susheng hob die junge Frau aufs Bett. Sie legte sich flach auf den Rücken, griff mit beiden Händen nach Sushengs Glied, um es einzuführen. Doch wer glaubt, das wäre so einfach gewesen, der irrt. Erstens war Wenfei eine junge Frau von gerade einmal neunzehn Jahren und noch nicht lange verheiratet; zweitens hatte sie noch kein Kind geboren, die Öffnung war entsprechend eng und schmal, und drittens handelte es sich bei Sushengs Glied um ein besonders breites und wuchtiges Exemplar, wobei ihm zugute kam, daß es sehr glatt und weich war. Wenfei vermochte ihre Lust kaum noch zu zügeln. Nach zwei Stößen war Susheng bis zur Hälfte eingedrungen. Er kam gut voran, so glitschig und feucht wie es in ihrem Unterkörper war, denn Wenfei hatte bereits bei seinen ersten Bewegungen einen weißlichen Lusttau abzusondern begonnen. Noch zwei Stöße, und Susheng war ganz drin, so prächtig füllte sein mächtiges Glied den engen Raum aus, daß kein Härchen mehr Platz fand. Dem Höhepunkt nahe, stieß Wenfei unentwegt Schreie der Lust aus und empfing dreißig Stöße in einer Serie. Der Lusttau, den sie nun absonderte und mit dem sie das Lager unter sich benetzte, war nicht mehr weißlich, sondern zunächst so durchsichtig wie Eiweiß und nahm schließlich einen rötlichen Schimmer an. »Halt ein für einen Augenblick«, rief die Frau, »mir ist schon ganz schwindelig.« Doch Susheng, der selbst kurz vor dem Höhepunkt stand, kümmerte sich nicht um ihre Worte. Geschickt versetzte er ihr mal flache, mal tiefe Stöße, mehr als zweitausend Stück an der Zahl. Der Frauenkörper unter ihm vibrierte ohne Unterlaß und ihm war, als schwebe er auf einer Wolke. Beglückt versetzt er ihr hundert sehr tiefe Stöße, rammelte auf Teufel komm raus. Die beiden wollten und wollten nicht zu einem Ende kommen. Samen und Sekrete flossen in Strömen und bildeten einen kleinen See unter den Körpern des Paares. Erst jetzt ließen sie voneinander ab, zwei wilden Tigern gleichend, die sich im Kampf gegenseitig verletzt hatten. Wenfei rieb sich mit einem Tuch trocken, strich zärtlich über sein Glied und sagte: »Liebster, solche Wonnen wie du hat mein Gatte mir noch niemals bereitet. Seiner ist nur gerade fingerlang, spitz und schmal, auf eben dreißig Stöße bringt er es damit. 766 Ich dachte schon, alle Männer seien so wie er.«
Noch einmal fallen die beiden im Liebesakt übereinander her, bevor sie sich unter Treueschwüren verabschieden. Li Wenfei, die sich nach dem langen Ausbleiben Sushengs zu einem wahren Vampir entwickelt hat, überfordert ihren Gatten Wang Jiansheng vollkommen. Seit Susheng sie verlassen hatte, verging kein Tag, keine Nacht, an dem Wenfei nicht an ihn dachte. Allerorts holte sie Erkundigungen über ihn ein, und aus Sorge um seine Gesundheit nutzte sie die freien Stunden, um Räucherstäbchen abzubrennen und für ihn zu beten. Als ihr Gatte Wang Jiansheng an diesem Abend heimkehrte, empfing ihn Wenfei und begab sich dann, wieder voller Ge766
Zügelloses Leben, Kap. 5, S. 60ff.
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Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung danken an den Geliebten, zunächst alleine zu Bett. Bald war sie eingeschlummert und träumte, wie sie in den Armen von Susheng lag. Auch Jiansheng zog sich früh zurück, nachdem er dem Personal noch eine Reihe von Anweisungen erteilt hatte. Als er sich neben Wenfei auf dem Lager niederließ, fiel sein Blick auf ihr schimmerndes, helles Geschlecht, und ein großes Verlangen begann ihn zu packen. Er wollte sie nicht wachmachen, daher bog er ihre Beine auseinander, plazierte sein Glied zwischen ihren Schenkeln und versetzte ihr einige Stöße. Wenfei, immer noch im Traum an den Geliebten, begann der Tau aus dem Leib zu rinnen und ganz benommen rief sie: »Schatz, Liebster, komm, gib es mir!« Mittlerweile war sie zu sich gekommen und gewahrte, daß nicht Susheng, sondern ihr Gatte auf ihr lag. Daher schloß sie die Augen, bildete sich ein, ihr Geliebter liege bei ihr und umarmte Jiansheng, der ihr mehrere hundert Stöße versetzte, bevor er sich entlud. Doch Wenfei war noch lange nicht auf dem Höhepunkt angelangt, daher fragte sie: »Wie ist es, kannst du noch?« Jiansheng, der durch die lange Abwesenheit von daheim aus der Übung war und mit dem einen Erguß eigentlich mehr als genug hatte, bemerkte nur knapp: »Sicher.« Damit rieb er eine Weile an seinem Glied, bis es wieder steif war, als Wenfei flüsternd 767 vorschlug: »Laß es uns richtig genießen, nimm das Käppchen, dann kannst du länger.« Jiansheng ließ sich von Chunqiao das Käppchen bringen, stülpte es über und drang von neuem in seine Gattin ein. Beseelt von den Gedanken an ihren Geliebten Susheng schloß Wenfei die Augen und säuselte: »Mein Herzchen, mein Liebster, wie lange du von mir fort warst. Gib es mir richtig mit deinem Ding. Ach, ich vergehe fast vor Glück, schau, wie ich bebe und zittere.« Jiansheng versetzte ihr wohl an die dreitausend Stöße, dann verließen ihn die Kräfte. Er zog sein Glied heraus und half mit der Hand noch ein wenig nach, bis er endlich seinen Erguß hatte. Wenfei wußte, daß Jiansheng es einfach nicht so gut konnte wie Susheng, dazu fehlte es ihm an der Technik des Geliebten. Doch sie fühlte sich einigermaßen befriedigt, so daß sich beide alsbald nebeneinander auf dem Lager niederließen und nicht lange darauf eingeschlummert waren. Als Jiansheng sich am nächsten Morgen erhob, spürte er ein leichtes Unwohlsein. Er war ohnehin ein wenig erkältet gewesen, und die zwei Ergüsse hatten ihn geschwächt. Sein Zustand verschlimmerte sich immer mehr. Bald wußte keiner der herbeigerufenen Ärzte noch Rat, jede Medizin schlug fehl, so daß er nach 768 kaum einem Monat verstarb.
Li Wenfei bleibt nicht Sushengs einzige Geliebte. Das Schema, nach dem Susheng bei seinen Eroberungen vorgeht, ist relativ einfach. Ihm genügt es oftmals, nur von der Schönheit oder Einsamkeit einer jungen Dame zu hören, und er läßt nichts unversucht, ihre Bekanntschaft zu machen. Als Vermittlerinnen dienen meist Frauen, die in der Umgebung der Auserwählten wohnen. Nicht alle Festungen werden dabei im Sturm genommen, oft kommt es vor, daß eine unbedarfte, sittsame 767 768
Eine Art Kondom, das den Samenerguß hinauszögern soll. Zügelloses Leben, Kap. 16, S. 115ff.
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Die WELT DER GEFÜHLE Frau erst mit einiger Mühe auf die Beziehung zu einem Geliebten eingestimmt werden kann. Die Jahre gehen dahin, Susheng gelangt zu Amt und Würden, lebt in einem prächtigen Anwesen. Er erkennt, daß er sich auf dem Gipfel des Glücks befindet und bringt seinen Wunsch zum Ausdruck, der Welt zu entsagen. Mit einem dennoch recht protzigen Gefolge (der Besitz ist auf vier Schiffe verstaut), bricht Susheng in die Wildnis auf, wo er zunächst an einem Berg auf den zur Unsterblichkeit gelangten Tiemuduolu trifft und sodann wie übrigens auch die beiden Frauen ein Eremitenleben zu führen beginnt. Mit der Entsagung und dem Rückzug aus der Welt hat der Verfasser des Zügellosen Lebens seinen Helden ein sehr gnädiges Schicksal zubemessen. So interessant dabei einzelne Abschnitte erscheinen, wirken sie doch insgesamt, als wären sie nur mit einem schwachen Band verknüpft. Szene um Szene fügt sich aneinander wie die Bilder eines Films, einziges Thema scheint zu sein, Variationen der Lust zu schildern. Die stereotype Abfolge erotisch-pornographischer Bilder in den Romanen sowie die monotone Läuterung bzw. Todesfolge am Schluß lassen allenfalls eine symbolische Interpretation der Werke zu. Eine tiefschürfendere psychologische Deutung, wie sie etwa Albert Mordell in bezug auf die erotische Literatur des Abendlandes unter Hinzuziehung umfangreichen Hintergrundmaterials über die Verfasser anstellte, scheitert in unserem Fall an der oberflächlichen Ausgestaltung der Helden sowie am fehlenden Wissen über das Leben der einzelnen Autoren.769 In bemerkenswerter Einseitigkeit bleibt die sinnliche Lust auf das sexuelle Geschehen beschränkt. Allein in der Vereinigung zweier schöner, jugendlicher Körper deutet sich so etwas wie ein ästhetisches Anliegen an. Völlig ausgeblendet bleibt hingegen die Verbindung des schönen Körpers mit dem schönen Geist als Idealanspruch der Liebe. Mit dieser Aussparung läßt sich der Verstoß gegen das herrschende Sitten- und Moralgesetz nur um so stärker in den Mittelpunkt rücken. Als einer der längeren Erzählungen des Genres wird man leider auch der oben beschriebenen Geschichte eines zügellosen Lebens keine besondere Konzeption und Durchdachtheit des Handlungsaufbaus bescheinigen können. Diese sind dagegen in der Inoffiziellen Geschichte des bestickten Lagers (Xiuta yeshi) durchaus zu erkennen, was unter Umständen auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß es sich bei dem angenommenen Verfasser Lü Tiancheng (ca. 1580–1620) um einen ausgewiesenen Dramatiker aus dem Ende der Ming-Zeit handelt.770 Form und Aufbau der Handlung sind hier recht klar zu erkennen, die einzelnen Episoden 769
770
ALBERT MORDELL: The Erotic Motive in Literature, New York, N.Y.: Collier 1962 (erstmals 1919). Hier bearbeitet nach der Ausgabe in Sammlung der verbotenen Erzählliteratur Chinas, (Bd. H 422).
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Das Heim als Sündenpfuhl – Der nackte Mensch und seine Bestimmung
gehen fließend ineinander über. Was sich im hetero- und homosexuellen Verkehr der Geschlechter abspielt, ist eine vor allem ästhetisch motivierte Abstimmung der Sex-Szenerie. Hier deutet sich nicht zuletzt auch ein im Vergleich zum Abendland toleranterer Umgang mit der gleichgeschlechtlichen Liebe an, welche anders als in der vom christlichen Glauben geprägten Kultur nicht unter dem Bannfluch stand, die geforderte Fruchtbarkeit und Vermehrung zu verhindern. Es spricht für die erkennbare »Freude am Schönen« in Werken wie dem Zügellosen Leben oder dem Bestickten Lager, daß die Homosexualität in einem Atemzug mit der Form fremdgeschlechtlicher Liebe genannt wird und beide einander ergänzen. Wer hier homosexuelle Neigungen zeigt, scheint dies nur zu tun, da er seine Lust anders nicht befriedigen kann bzw. weil er daraus eine Bereicherung seiner sexuellen Erfahrungen erlangt. Alles ist ganz »natürlich«, schon äußerlich unterscheiden sich die idealen Schönheitsgestalten beiderlei Geschlechts nicht sehr stark voneinander: beide sind jung, von zarter Gestalt und haben eine reine, unbehaarte Haut. Zudem treten die Partner homosexueller Verbindungen zumeist als gleichberechtigt auf, sie genießen beide die Freuden der Liebe, Kritik am Verhalten deutet sich so gut wie nicht an. Dies wird uns noch stärker im Zusammenhang mit dem Roman Spiegel der Augenweide an Blumen (Pinhua baojian) interessieren, der vor dem Hintergrund des Schauspielermilieus spielt. Berichtet wird von dem freizügigen Verhalten des Schwerenöters Yao Tongxin. Bemerkenswert ist immer wieder das voyeuristische Interesse Tongxins, der die Betrachtung sexueller Erlebnisse anderer zur Stimulanz benötigt und offen in die Seele seiner Frau blicken möchte. In der zentralen Szene, die sein Spannertum beschreibt, führt Tongxin seine Gattin, Frau Jin, mit dem Lehrer Dali zusammen und erfreut sich an dem, was weiter geschieht. Er führte Frau Jin vor die Türe der Bibliothek und hieß Dali zu öffnen, indem er rief: »Wünsche viel Spaß für den heutigen Abend. Es hat mich große Überredungskünste gekostet, sie hierherzubringen.« Damit gab er Frau Jin einen kleinen Stoß, beförderte sie in den Raum und verschloß die Türe hinter ihr wieder. »Bis später.« Frau Jin zierte sich absichtlich ein wenig und machte Anstalten, die Bibliothek wieder zu verlassen, doch da hatte Dali sie schon in seine Arme geschlossen und ihr unter dem Ausruf »Liebste« einen Kuß versetzt: »Jetzt bist du endlich mein, heute will ich es dir nach Herzenslust geben!« Unterdessen hatte sich Tongxin draußen an das Fenster gestellt, um zu sehen, was in der Bibliothek geschah. Dort hatte Dali seine Geliebte auf einem Höckerchen Platz nehmen lassen, betrachtete sie unentwegt und rief dabei: »Liebste, wie schön du bist.« [...]
Es folgt die Beschreibung des Liebesaktes in allen bekannten Einzelheiten. In der Szene, die auch den Tongxin schließlich in Erregung versetzt, gibt Frau Jin in einer zweiten Runde mit dem Geliebten ihr Bestes: Man sah nur, wie sie ihre Hüften bog, um sein Glied zu empfangen. Sie schüttelte ihre Beine, hob den Hintern und stieß mit geschlossenen Augen eine Reihe von
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Die WELT DER GEFÜHLE Stöhnlauten aus. Unterdessen hatte sich ihre Scheide gleich dem Kelch einer Blüte geöffnet und sein Glied vollständig umschlossen, empfing es und stieß es mit heftigen Bewegungen wieder aus, empfing es mal hart, mal sanft, mal eng mal weit, immer im Wechsel. Zu hören war nur noch ein schmatzendes Geräusch der sich reibenden Körper. Der Anblick von dem Treiben in der Bibliothek hatte mittlerweile auch Tongxin in Erregung versetzt. Er umfaßte sein Glied mit engem Griff und rieb daran, ohne den Blick von der Szene in der Bibliothek zu wenden. Schließlich verspritzte er seinen Samen in einer Ecke unterhalb des Bibliothekfensters. »Wie dumm von mir, mein prächtiges Weibchen diesem Burschen einfach so umsonst auszuliefern«, dachte er, »es ist eine Schande, wenn ich sie nur nicht so liebte.« Mißmutig und ein wenig benommen begab sich Tongxin in sein Zimmer zurück. Das erste, was er sah, war die Zofe Saihong, die neben dem kleinen Sekretär eingenickt war. »Die Kleine hatte bislang immer Angst, von ihrer Herrin erwischt zu werden«, kam es Tongxin in den Sinn. »Sie hat immer am ganzen Leib gezittert, wenn ich mit ihr beisammen war. Wir werden uns heute einmal ein nettes Schäferstündchen unter alten Bekannten gönnen.« Er trat auf Saihong zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuß, wobei er seine Zunge zwischen ihre Zähne preßte. Erschrocken fuhr die Zofe aus dem Schlaf: »Wie...was ist, wer...?« »Ich bin’s«, erwiderte Tongxin, »wen hast du denn erwartet?« [Saihong zeigt sich sehr erfreut über den unerhofften Besuch, der auch nicht von der Herrin gestört zu werden droht, so daß Tongxin alsbald zu Werke geht.] Er plazierte sein Glied vor ihrem Unterkörper, doch weil er sich gerade eben erst draußen vor dem Bibliotheksfenster entladen hatte, fehlte ihm zunächst die Kraft für einen erfolgreichen Angriff. Wie eine Libelle über der Blüte schwebend, so strich er mit seinem weichen Ding über Saihongs Unterkörper, daß diese plötzlich prustend rief: »Du hast dir wohl gerade selbst schon einen runtergeholt, wie?« Angestachelt von ihren Worten, und weil er sich auch ein wenig schämte, packte er sein Glied und begann heftig daran zu reiben, bis nach einer Weile ein paar weißliche Tropfen hervorquollen. »Was für ein nutzloses Ding«, rief Saihong, »da lohnt sich die Mühe kaum. Bleib du hier auf dem Bett, ich werde zusammen mit der A'xiu schlafen.« »Von mir aus, dann lassen wir es eben für den Moment«, erklärte Tongxin, »geh du nur schlafen, kann aber gut sein, daß mein Ding gleich wieder hart wird, ich komm dich dann bestimmt besuchen.« »Pah«, rief Saihong, »ich bin doch kein Palastmädchen, das sich von einem Eunuchen befummeln lassen muß. Für diese Spielchen habe ich nichts übrig.« Tongxin sah ein, daß er nicht die Kraft für einen weiteren Angriff besaß, und indem er noch eine Weile vorgab, sie die Nacht über an seiner Seite halten zu wollen, ließ er Saihong nach kurzer Zeit aus dem Bett, drehte sich um und war bald fest ein771 geschlafen.
Auch in diesem Roman geht ein Großteil der Protagonisten an seinen Ausschweifungen zugrunde. 771
Besticktes Lager, S. 53ff.
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5. Ausgebrannt – Ximen Qing und seine sechs Frauen im Roman Jin Ping Mei sowie die Folgewerke
Kein Roman in der chinesischen Literatur der vergangenen Jahrhunderte dürfte in einem so großen Maße mißverstanden worden sein und einen derart fragwürdigen Ruf genossen haben wie Jin Ping Mei. Bis in die Gegenwart ist das Werk immer wieder verboten worden, war dabei oftmals nur einer kleinen eingeweihten Leserschaft zugänglich, was allerdings seiner Berühmtheit keinerlei Abbruch zu tun schien, im Gegenteil. Wie beliebt der Roman in der Vergangenheit war, davon zeugt z.B. eine frühe Übersetzung ins Mandschurische aus dem Ende des 17. Jahrhunderts.772 Was so in die Hände einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht gelangte, die sich aus der Volksgruppe der Invasoren aus dem Nordosten Chinas rekrutierte, fand Jahrhunderte später seine Entsprechung in den »Studienexemplaren«, die man im China nach 1949 einem erlesenen Kreis von Gelehrten zu wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung stellte, während ansonsten nur purgierte Fassungen kursierten.773 Um die Geschlossenheit der kürzeren Werke des erotisch-pornographischen Romans zu verdeutlichen, haben wir in den vorstehenden Abschnitten bereits einen weiten zeitlichen Bogen bis ins 18. Jahrhundert hinein gespannt. Wie für die meisten der »Großen Meisterwerke« aus dem Ende der Ming-Dynastie, so fehlt auch für das Jin Ping Mei ein eindeutiges Entstehungsdatum. Man wird die Zeit der Abfassung jedoch irgendwann in die letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts legen können, gibt es in zeitgenössischen Briefen und Tagebucheintragungen doch Hinweise darauf, daß sich der Roman bzw. Teile seines Textes innerhalb eines kleinen Gelehrtenzirkels im Umlauf befand.774 Ein vollständiges Manuskript des Romans wird für das Jahr 1606 genannt, doch ist der Roman erst 772
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Gesehen in der Gest-Library der Princeton University. Bei MARTIN GIMM: »Bibliographic Survey. Manchu Translations of Chinese Novels and Short Stories: An Attempt at an Inventory« (Manuskript 1989) wird eine gewisser Hesu gemeinsam mit Xu Yuanmeng und dem Bruder des Kangxi- oder des Qianlong-Kaisers als einer der vermeintlichen Übersetzer ins Mandschurische genannt. Die Angaben beziehen sich dort auf das Jahr 1708. Es spricht für den Geschäftssinn findiger Mitarbeiter in der Umgebung der Leitung dieser Verlage, daß die gestrichenen Passagen im Umfang von mehreren tausend Zeichen in der Folge als Ergänzung auf dem Schwarzmarkt angeboten wurden. Vgl. d. Anm. bei ANDREW H. PLAKS: The Four Masterworks of the Ming Novel, S. 55, Fn. 1. Die erste Erwähnung des Romans geht auf Yuan Hongdao (1568–1610) zurück, der in einem Brief aus dem Jahre 1596 angibt, Teile des Jin Ping Mei gelesen zu haben. (Vgl. PATRICK D. HANAN: »The Text of the Chin P'ing Mei«, in: Asia Major, Bd. 9 [1962], S. 39–6)
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Die WELT DER GEFÜHLE ab 1617 auch nachweisbar.775 Zu dieser Zeit verdichteten sich auch die Hinweise darauf, daß es sich bei dem Verfasser, der uns nur unter dem Pseudonym »Lachender Herr aus Lanling« (Lanling xiaoxiaosheng) bekannt ist, um eine angesehene Persönlichkeit der Regierungsperiode Jiajing (1573–1620) handelte. Auch die berühmte Legende, die den Roman als Werk des Wang Shizhen (1526–1590) ausgibt, welcher durch Vergiftung der Blattränder den wollüstigen Sohn des Ministers Yan Shifan (1513–1565) aus dem Weg räumen wollte, um somit den Tod des eigenen Vaters zu rächen, war zu dieser Zeit schon im Umlauf: Befeuchtete der verhaßte Leser zum Umblättern die Finger, nahm er, so der Bericht, eine Giftmenge auf, die ihn am Schluß der Lektüre das Leben kosten mußte. So nett derartige Anekdoten die Entstehung des Buches umranken, sie sind letztlich wenig erhellend. Es wurden im Laufe der Zeit immer wieder Argumente für die Verfasserschaft durch diverse Dichter ins Feld geführt, es tauchten Namen auf wie Li Zhi (1527–1602) oder der Maler Xu Wei (1521–1593), Feng Menglong (1574–1646) bzw. der Dramatiker Tang Xianzu (1550–1616) galten als mögliche Aspiranten. In die nähere Wahl gezogen wurde jedoch auch der Dichter und Dramatiker Li Kaixian (1502–1568), für den man u.a. seine Abstammung aus der Provinz Shandong, welche den Handlungsrahmen für den Roman bildet, ins Feld führte. Letztlich scheint keiner der bekannten Männer jener Zeit, die nur irgendwie mit der umgangssprachlichen Erzählkunst in Verbindung gebracht werden konnten, als Urheber des Jin Ping Mei ausgeschlossen worden zu sein. Es sind nicht zuletzt auch Versuche unternommen worden, über den Titel des Werks, der sich ursprünglich aus den Namensbestandteilen von drei Frauengestalten im Roman zusammensetzt, in einer wörtlichen Übersetzung der Zeichen aber ebenfalls die Bedeutung »Essigpflaume in goldener Vase« zuläßt, Aufschlüsse über den Verfasser zu gewinnen. Die homophone Lesung der Begriffe erweitert hier den Interpretationsspielraum noch ganz beträchtlich. So fand zum Beispiel der französische Sinologe André Lévy heraus, daß sich auf der Grundlage von Angaben des Xie Zhaozhe (1567–1624) der Autor des Romans im Umfeld des Liu Shouyu finden könne, dessen Vater eine komplette Ausgabe des Romans besessen haben soll. »Ich kritisiere jetzt Herrn Mei« ist demnach eine mögliche Deutung des Titels, womit auf die Existenz einer entsprechenden Person angespielt wird, die sich mit dem angeheirateten Cousin namens Mei Guozhen belegen läßt.776 Man wird die Frage, wer sich letztlich hinter dem möglicherweise in der Stadt Lanling (Provinz Shandong) geborenen »Lachenden Mann« verbirgt, wohl den Ergebnissen der Forschung in der Zukunft überlassen müssen. Immerhin fällt auf, daß bislang vor allem Namen sehr bekannter zeitgenössischer Persönlichkeiten in 775
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Der Frage der Entstehungszeit ist u.a. nachgegangen ANDRÉ LÉVY: »About the Date of the First Printed Edition of the Ch'in P'ing Mei«, in: CLEAR 1(1979), S. 43–47. Vgl. ANDRÉ LÉVY: »Introduction to the French Translation of Jin Ping Mei cihua«, übers. v. MARC MARTINEZ, in: Renditions, Herbst 1985, S. 120.
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die Diskussion geworfen wurden, die in eine Beziehung zu dem am Ende der Ming-Dynastie aufkeimenden Roman zu bringen sind. Einer Vermutung wurde dagegen bislang so gut wie keine Beachtung geschenkt, daß sich nämlich hinter dem Verfasser unter Umständen keiner der führenden Intellektuellen jener Epoche verbirgt, sondern vielleicht nur ein Literat vom Range eines Hauslehrers in einer wohlhabenden Familie, der über seine Tätigkeit Einblicke in das gesellschaftliche Treiben seiner Zeit gewann.777 Damit ließe sich auch gut die Sichtweise in Einklang bringen, die sich uns im Roman bietet und in der deutlich der Komplex der reichen Kaufmannsschicht im Mittelpunkt steht. Obwohl sich die Frage des Verfassers nicht eindeutig klären läßt, bringt die Anführung einzelner Personennamen eine wichtige Einschätzung zum Ausdruck, in der weitgehend Einigkeit besteht. In der Tat stellt Jin Ping Mei nämlich ein erstaunlich originales Kunstwerk dar, für das man anders als bei den, etwa zur gleichen Zeit in Romanform vorgelegten Werken, wie den Räubern oder der Reise nach dem Westen einen einzelnen Autoren annehmen darf, auf den zumindest große Teile des Buches zurückgehen. Ein Herausgeber könnte schließlich letzte Hand angelegt bzw. das Werk auf der Grundlage des vom Autoren angelegten Handlungsstrangs beendet haben, wie dies auch beim Traum der Roten Kammer geschehen ist. Gerade in seinem kompositorischen Aufbau besitzt Jin Ping Mei eine für die frühe chinesische Romanliteratur erstaunlich einheitliche Komposition. Die Frage nach der Verfasserschaft bzw. der Zahl möglicher Bearbeitungen sei hier ergänzt durch den Hinweis, daß sich zum Beispiel bis heute keine Belege für frühere Versionen des Jin Ping Mei finden, aus denen dann wie etwa im Falle Mao Zonggangs bei den Drei Reichen ein Werk in einem Guß entstanden wäre. So liegt unser Roman in drei Fassungen vor, für die seit dem frühen 17. Jahrhundert Editionen verschiedener Zahl, abweichenden Umfangs und anderer Aufmachung nachzuweisen sind. Als die, der Ursprungsversion des hundert Kapitel umfassenden Romans am nächsten stehende Form, wird die erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wiederaufgefundene Ausgabe Mit ci-Gedichten versehenes Jin Ping Mei (Jin Ping Mei cihua) betrachtet, deren Vorwort auf das Jahr 1617 datiert worden ist.778 Etwas später anzusetzen ist als zweite Form eine in der ChongzhenÄra (1628–1644) entstandene Fassung, die bei gleicher Kapitelanzahl insgesamt doch eine gekürzte Textversion enthält und darüber hinaus in einigen Kapiteln Differenzen zu dem zeitlich früheren Text aufweist. Gemeint sind hier die Kapitel eins sowie dreiundfünfzig bis fünfundfünfzig. Unter Umständen sind die Abweichungen in dem längeren der beiden genannten Abschnitte mit dem Verlust dieses 777 778
Diese Vermutung äußerte bereits C.T. HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 191. Von dem um die Abfassung und Herausgabe umgangssprachlicher Erzählliteratur bemühten Feng Menglong (1574–1646) ist zudem die Bemerkung überliefert, derzufolge das Jin Ping Mei in den Jahren 1619/20 zirkulierte. Vgl. LÉVY: »Introduction to the French Translation of Jin Ping Mei cihua«, S. 127f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Textteils zu erklären, auf den der Ming-Literat Shen Defu (1578–1642) im Zusammenhang mit der ersten Druckfassung des Romans hinwies.779 Daneben liegt als dritte Form mit dem »Ersten Meisterwerk« (diyi qishu) eine Version vor, die sich von den vorgenannten insbesondere durch die Hinzufügung eines kritischen Kommentars sowie einleitender Passagen aus der Feder Zhang Zhupos (ca. 1670–1698) unterscheidet, sich darüber hinaus aber textlich nur unwesentlich von der Chongzhen-Ausgabe abhebt und mit einem Vorwort aus dem Jahre 1695 versehen ist. Nahezu alle folgenden Ausgaben des Jin Ping Mei, die in der Qing-Zeit entstanden, stützen sich auf diese Ausgabe. Es verwundert angesichts der Thematik im Jin Ping Mei, die in weit stärkerem Maße als etwa im Falle der Räuber oder der Reise in den Westen auf eine individuelle Lebensumgebung abhebt und viel weniger die historischen Dimensionen in den Mittelpunkt stellt, daß nicht viel mehr noch ein ganz eigener, nicht in irgendeiner Form überlieferter Hintergrund gestaltet wird. Man sitzt aufgrund der stark realistischen Schilderung der Ereignisse im Hause Ximen Qings schnell der Versuchung auf, das Werk als schlichten Familienroman einzustufen, der sehr detailliert Auskunft über das Schicksal der einzelnen Personen gibt. Doch das hieße, die vorhandenen Textbezüge zu anderen Werken sowie die dem Roman innewohnende Symbolik sträflich zu vernachlässigen, eine Gefahr, vor der bereits Zhang Zhupo in einem Kommentar warnte, als er nämlich schrieb: »Man wird irregeleitet, wenn man das Jin Ping Mei nur als eine Beschreibung konkreter Ereignisse betrachtet. Man muß es als literarisches Werk lesen [...]«.780 So ist die gesamte Handlung, angefangen von den zeitlichen Bezügen bis hin zu den beiden Hauptgestalten Ximen Qing und Pan Jinlian in großem Maße verwoben mit dem Stoff der Räuber. Wir werden darauf im einzelnen noch zu sprechen kommen. Festzustellen bleibt jedenfalls, daß Jin Ping Mei in seinem Entwurf bereits den äußeren Rahmen vorwegnimmt, wie er später auch im Traum der Roten Kammer deutlich wird: Auch dort werden die Szenen aus dem Leben der in einem großen geschlossenen Anwesen lebenden Familie verknüpft mit solchen über die Bevölkerung der unmittelbaren Umgebung bis hin zum Machtzentrum des ganzen Reiches.781 Es mag dem Verfasser des Jin Ping Mei freilich angesichts des schieren Romanumfangs zugestanden sein, daß er bei der Ausgestaltung des Handlungsfortgangs und zur Darstellung der angesprochenen Probleme wohl mit einigem Recht auf Elemente der überlieferten Kriminalliteratur ebenso Rückgriff nahm wie auf einzelne Texte 779 780
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Vgl. HANAN: »The Text of the Chin P'ing Mei«, S. 12. ZHANG ZHUPO: »How to read Jin Ping Mei«, übers. Von DAVID L. ROLSTON in: How to Read the Chinese Novel, S. 224. Die hier nur skizzenhaft angedeuteten Bezüge des Jin Ping Mei zum Traum der Roten Kammer äußern sich nicht zuletzt im Bild des Gartens, bei dessen Entwurf Cao Xueqin ganz offensichtlich eine Reihe von Elementen aus dem Vorgängerwerk übernommen hat. In beiden Werken ist der Garten als Sinnbild für den Aufstieg, die Blüte und den Verfall des Clans aufzufassen.
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der umgangssprachlichen Erzählkunst, des Dramas bzw. der erotischen Kurzgeschichten, für die hier als Beispiel nur die bereits vorgestellte Erzählung vom Kavalier nach Wunsch genannt sei.782 Bei Werken, die eindeutig vor dem Jin Ping Mei angefertigt wurden, ist die Stellung als Quelle eindeutig. Weniger klar verhält es sich dagegen mit Stoffen, welche in schriftlich niedergelegter Form erst nach unserem Roman erschienen. Hier bleibt die Frage, wer wen beeinflußte mitunter ungeklärt. Man wird den Vorwurf Hsias, der dem Jin Ping Mei »strukturelle Anarchie« unterstellte, nicht ohne weiteres folgen können und dem Roman vielmehr ein hohes Maß an Textkontrolle zubilligen müssen, der seine organische Einheit eben dadurch gewinnt, daß jedes selbst noch so gering scheinende Detail eine wichtige Rolle spielt.783Anders verhält es sich mit dem Schluß, den Hsia aus seiner Kritik zieht, daß nämlich das Werk als Ganzes aufgrund seiner fehlerhaften Konzeption keine ideologische bzw. philosophische Kohärenz aufweise.784 Hier muß man in der Tat feststellen, daß Jin Ping Mei ähnlich wie Die Reise in den Westen als ein »polyphoner« Roman nicht ohne weiteres einer bestimmten Denkrichtung zuzuordnen ist.785 Es kommt keine einheitliche Weltsicht, sondern lediglich Attitüden zum Ausdruck. Bestimmte Konzepte werden aufgegriffen und anhand des Verhal782
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FRAUKE FASTENAU etwa nennt in ihrer 1971 vorgelegten Dissertation zwölf einzelne Texte bzw. Sammlungen, die dem Jin Ping Mei als Quellen dienten. Vgl. DIES.: Die Figuren des Chin P'ing Mei und des Yü Huan Chi, vorgelegt an der Ludwig-Maximilian-Universität 1971, S. 13. S. dazu auch HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 192. Vgl. dazu die hier für die Bearbeitung herangezogene vollständige deutsche Romanübersetzung Djin Ping Meh. Schlehenblüten in goldener Vase, ein Sittenroman aus der MingZeit, aus dem Chinesischen von OTTO und ARTUR KIBAT, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von HERBERT FRANKE, Zürich: Diogenes 1989 [erstmals Zürich: Die Waage 1967), Bd. 3, S. 522f. Die Übertragung der Kibat-Brüder war wohlgemerkt nicht die erste und einzige Transkription des Romans. Bereits 1930 erschien in Leipzig die im Jahre 1950 vom Insel-Verlag wiederaufgelegte Kurzfassung von FRANZ KUHN Kin Ping Meh. Oder die abenteuerliche Geschichte von Hsi Men und seinen sechs Frauen, auf der basierend BERNARD MIALL 1940 eine Weiterübersetzung unter dem Titel Chin P'ing Mei: The Adventurous History of Hsi Men and His Six Wives anfertigte. Kurz zuvor (1939) hatte CLEMENT EGERTON eine mit vier Bänden ebenfalls gekürzte Version unter dem Titel The Golden Lotus vorgelegt. Auf eine vollständige englische Fassung dürfte die bislang von DAVID T. ROY in einem ersten Band vorgelegte Übersetzung zielen. Vgl. LUTZ BIEG: »Ein Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte. Die Neue Chin P'ing Mei-Übersetzung von D.T. Roy«, in Oriens Extremus, Nr. 37, 2 (1994), S. 247–255. Vgl. zu einem Überblick der bislang vorliegenden Übertragungen JÖRN BRÖMMELHÖRSTER: Chinesische Romanliteratur im Westen: eine Übersetzungskritik des mingzeitlichen Romans Jin ping mei, Bochum: Brockmeyer 1990. Als chinesische Quelle wurde hier die purgierte Fassung Jin Ping Mei cihua, Peking: Renmin wenxue 1992 herangezogen. Vgl. hierzu HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 205. Zu einer Diskussion des Jin Ping Mei vor dem Hintergrund der Denkrichtungen vor allem des Neokonfuzianismus im 16. und 17. Jahrhundert vgl. das Kapitel »The Neo-Confucian
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Die WELT DER GEFÜHLE tens der Protagonisten einer Bewertung unterzogen. Besonders stark ausgeprägt sind im Roman vor allem die Elemente der über mehr als zweitausend Jahre hinweg in China vorherrschenden Geistesrichtung des Konfuzianismus. Das ganze Werk kann als eine Art Negativbeispiel für das Ideal der Selbstkultivierung gesehen werden. Doch nicht nur der Haushalt an sich ist ein Symbol, vielmehr läßt sich noch eine andere Beziehung herstellen, die sich in der so stark betonten Körpersymbolik äußert, denn Körper und Staat sind eins. Das wird u.a. deutlich in den Worten des kaiserlichen Zensors Yuwen Xuzhong (1079–1146), mit denen er eine Eingabe formuliert. Auch hier ist die Zahl sechs von Bedeutung. Das Reich in seiner gegenwärtigen Lage gleicht einem Kranken, in höchstem Grade ausgezehrten Manne. Der Landesherr ist das Haupt, die ihm zur Seite stehenden Staatsmänner entsprechen Brust und Herz, die Beamtenschaft den 786 vier Gliedmaßen.
Im schleichenden Tod des Ximen Qing kündigt sich gleichsam der Verfall der Kaisermacht an. Ähnlich uneindeutig verhält es sich mit der religiösen Sicht im Jin Ping Mei. In einer weiteren Interpretation der oben bereits angesprochenen Zahlensymbolik des Romans sind zunächst die sechs Frauen Ximen Qings als die Verkörperung der sechs Wurzeln des Übels (liugen) im Buddhismus auszumachen, indem sie die Formen sinnlicher Wahrnehmung (Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper und Geist) repräsentieren.787 Das tragende Konzept im Jin Ping Mei ist das der Karma-Vergeltung, worüber sich im Zusammenhang mit der Vergeltung von Schuld und bösen Taten im Text eine Reihe von Termini finden.788 Gerade Pan Jinlian und Ximen Qing erweisen sich durch ihr vorheriges Karma hilflos gegenüber dem schlechten Lebensstil, den sie pflegen. Lediglich in der Wiedergeburt durch Sohn Xiaoge, der später zum Mönch wird, deutet sich etwas wie Erlösung an, wird Ximen Qings Schuld getilgt. Weit stärker noch als die Prinzipien von Erlösung und Leere betont der Autor des Jin Ping Mei mit der Illusion und insbesondere der Sexualität in sehr konkreter Art und Weise die negativen Auswirkungen, die jeder Verzicht auf Bescheidenheit und Maßhalten mit sich bringt. Zwar nehmen die eigentlichen erotischen Passagen quantitativ insgesamt keinen allzu großen Raum ein, doch stellen sie in ihrer Ausführlichkeit alles in den Schatten, was die entsprechende chinesische Literatur
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Reader and the Rhetoric of the Jin Ping Mei«, in: PETER H. RUSHTON: The »Jin Ping Mei« and the Nonlinear Dimensions of the Traditional Chinese Novel, Lewiston u.a.: Mellen UP 1994, S. 27–50. Djin Ping Meh, Kap. 17, Bd. 1, S. 466. Die Anregung zu dem Zitat ist entnommen INDIRA SATYENDARA: »Metaphors of the Sexual Economy of the Chin P'ing Mei tz'u-hua«, in: CLEAR 15 (1993), S. 88f. Vgl. KATHERINE CARLITZ: The Rhetoric of Ch'in p'ing mei, Bloomington: Indiana UP 1986, S. 60. Vgl. d. Bemerkungen bei PLAKS: The Four Masterworks, S. 134, Anm. 234.
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davor und danach zu bieten hat. Die Betonung liegt auch hier auf dem Momenthaften, dem kurzen Rausch des Augenblicks. Kaum eine Szene vermittelt den Eindruck echter Wärme und Zuneigung. Auch im Jin Ping Mei überwiegt der Anspruch, auf einer breiten Basis einen Eindruck von den möglichen Spielarten der sexuellen Verbindungen zu geben, wobei der Verfasser über ein erstaunlich reiches Vokabular und Darstellungsmöglichkeiten verfügt, das niedere Dialektbegriffe ebenso umfaßt wie hochpoetische Euphemismen. Das Bild von den eigentlichen Wonnen der Liebe und der körperlichen Vereinigung bleibt dabei auffällig negativ, angefangen von den wilden Orgien Ximen Qings mit der Gattenmörderin Pan Jinlian über die große Anzahl illegitimer Verbindungen (besonders anrüchig die Avancen, welche Chen Jingji der Pan Jinlian macht, mit der er in einer MutterSohn-Beziehung steht, doch nicht zu vergessen auch die Affären Ximen Qings mit den Frauen seiner Diener) bis hin zu der auch hier nicht fehlenden Homosexualität (in besonders drastischer Form dargestellt anhand der Vergewaltigung Chen Jingjis durch den Anführer einer Räuberbande). Was bleibt, ist ein Eindruck von Disharmonie, Sexualität gleichsam als Form der puren Lustbefriedigung, als Herrschaft des einen über den anderen, verbunden mit Zerstörung, Qual und Aggression. Die enorme sexuelle Kraft und Vitalität, die einige der Protagonisten an den Tag legen, deutet Extreme und Übergänge an, erscheint sozusagen als fehlgeleitete Energie im menschlichen Streben nach Erfüllung, die in dieser Form unweigerlich zur Destruktion führt. Der Größe des Anwesens von Ximen Qing und seinem Einfluß entsprechend finden sich im Roman eine Reihe von Nebenfiguren aus allen sozialen Schichten. Vermutlich ist bei den Gestalten der Süßholz raspelnden Kupplerinnen, der unfähigen Quacksalber sowie der fragwürdigen Mönche und Nonnen auf gängige Bilder der überlieferten Erzähltradition zurückgegriffen worden. Es fällt auf, daß der Autor gerade die Vertreter der unteren sozialen Sphäre oftmals mit mitleidslosem Spott überzieht, was ihm den Ruf eingebracht hat, das Werk für Leser der Mittelschicht geschrieben zu haben, aus der er vermutlich auch selbst stammte.789 Oftmals werden die verschiedenen Personen für ihre »Dreistigkeit« grausam bestraft, wie im Falle des Herrn Jiang erkennbar, den Ximen Qing mit seinem unerbittlichen Haß verfolgt, da er es gewagt hat, die von Ximen Qing umgarnte Li Ping'er zu heiraten. Ximen läßt den Konkurrenten kurzerhand von seinen Schergen verprügeln, was ihm dann Vorwürfe einbringt: Um der Wollust Gier zu frönen, ist bereit er alsobald, alles Edle zu verhöhnen, 790 anzutun dem Recht Gewalt.
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HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 208. Djin Ping Meh, Kap. 19, Bd. 1, S. 528.
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Die WELT DER GEFÜHLE In ihrer äußeren Kennzeichnung kommen Vertreter der weniger angesehenen Schichten nicht gut weg – das offenbart mitunter schon die Namengebung. Hier regiert das Prinzip, daß ein Name um so durchsichtiger wird, je unwichtiger die Person ist (ganz deutlich an dem schwulen Sekretär Ximen Qings, der den Namen Wen Bigu trägt, was in seiner erkennbaren phonetischen Entsprechung soviel wie »den Hintern küssen« heißt). Inhaltlich konzentriert sich der Verfasser dabei auch hier auf einzelne Personen. So wie bei den sechs Ehefrauen des Romanhelden die zweite (Li Jiao'er) und die vierte (Su Xue'e) weitgehend im Hintergrund bleiben, erfährt auch von der zehn Männer umfassenden Schwurbrüderschaft lediglich Ying Bojue eine eingehendere Würdigung. Mit der Zeit verliert Ximen Qing auch an dem Männerbund jegliches Interesse, die Gemeinschaft wird ihm gleichgültig, was er ganz offen im Gespräch mit einem der Herren aus dem Kreis zu erkennen gibt (Kap. 35). So bleibt Ximen Qing selbst nach seinem Tode kein ehrendes Gedenken erhalten. Es wäre sicher übertrieben, dem Verfasser am Romanende eine Änderung seiner snobistischen, die kleinen Leute desavouierenden Sichtweise unterstellen zu wollen. Es ist jedoch aufschlußreich, daß nach dem Tode Ximen Qings und dem Verfall des Clans Nebenfiguren wie die Zofe Chun Mei oder der brave Diener Dai'an, welcher von Yueniang adoptiert wird und damit den Clannamen Ximen annimmt, am Schluß einen recht angesehenen Status erlangen. Die Botschaft des absoluten Neubeginns in Ermangelung eines würdigen Stammhalters läßt vage Hoffnung erkennen, daß das Leben nach dem Untergang der Familie ebenso wie nach dem Zerfall des Reiches weitergehen und eben ganz von vorne begonnen werden muß. Daß dabei auch ursprünglich negativ gezeichnete Figuren wie Wang die Sechste oder der Halunke Han Daogui eine Chance erhalten und nicht wie die prominenteren Vertreter ihres Typus sogleich dem Tode anheimfallen, unterstreicht nur die Glaubwürdigkeit, mit der der Verfasser sein Anliegen vorbringt.791 Wenden wir uns nach diesen Vorbetrachtungen zu zentralen Problemen des Jin Ping Mei nunmehr einer genaueren Untersuchung des Romaninhalts zu. Dabei soll vor allem die zerstörerische Beziehung zwischen Ximen Qing und Pan Jinlian beschrieben werden. Gleich zu Beginn bringt der Verfasser vor einem taoistischen Hintergrund seine Mahnung und Botschaft zum Ausdruck mit dem Hinweis auf Lü Yan, einen der »Acht Unsterblichen«, der einst die Einbindung des Menschen in die »Schranken der sieben Gemütsstimmungen« und der »Sechs Sinne« betonte. Die Sicht verheißt wenig Gutes, ist der Mensch doch nach Lü nur schwerlich in der Lage, die »Schlingen der Rauschgetränke, der Sinnlichkeit, des Besitzstrebens und der Machtgier« zu zerreißen. Daß nicht alle fehlgeleitet werden, läßt der Autor den Leser mit dem Hinweis auf eine Reihe historischer Männer wissen, die im Beisammensein mit Frauen »anständig und sittsam« geblieben 791
Carlitz sieht hier hingegen einen zynischen Hinweis des Autors darauf, daß sich alle Übel im Roman noch einmal wiederholen werden. (Carlitz: The Rhetoric of Chin p'ing mei, S. 141)
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sind, nicht ohne die schrecklichen Folgen einer Abkehr von der Sittlichkeit wie Haß, Streit, Feindschaft und Totschlag vor Augen zu führen. Um ein anschauliches Bild von dem Verlust des Ansehens, Reichtums und der Macht zu geben möge sich jeder, so der Autor, das Schicksal Ximen Qings eine Lehre sein lassen. Die gesamte folgende Handlung versteht sich demnach als eine Art Negativbild, das kontrastiert wird zu den eingangs gegebenen Mahnungen. Noch bevor nun die weiteren Ereignisse unter Ausbau der Wu Song-Szene in den Räubern geschildert werden, gibt der Verfasser die Einflüsse eines weiteren großen Romanwerks aus der Ming-Dynastie zu erkennen, führt uns die Handlung um den im Jahre 1111 in der Stadt Qinghe (Shandong) lebenden Ximen Qing doch zunächst unmittelbar in die Vorbereitungen eines Festes zum Bruderschaftsschwur, den unser Held gemeinsam mit neun weiteren Männern zu leisten gedenkt. Aber anders als der feierliche Schwur von Liu Bei, Zhang Fei und Guan Yu aus den Drei Reichen im Pfirsichgarten Zhangs, wird die im Jin Ping Mei unter großem Pomp stattfindende Verbrüderung sogleich ironischer Kritik ausgesetzt, bringen die Freunde Ximen Qings doch nur schlechtes Silber als ihren Anteil zur Ausrichtung des Festes mit, was ihnen in den Augen der Hauptgattin Yueniang weniger den Charakter einer ehrenwerten Männerrunde als vielmehr einer »Bande« einträgt. Noch während der Feier wird zum ersten Mal ein Tiger erwähnt, der die Gegend unsicher macht. Wir erinnern uns: In den Räubern ist es Wu Song, der die Bestie erschlägt. Wie auf einer Bühne tritt nun Ximen Qing ab, konzentriert sich der Autor auf die Geschehnisse um den Räuberhelden und sein Auftreten in Qinghe. Er knüpft damit an Szenen an, die sich in Kapitel 25 der Räuber finden. In diesem Zusammenhang wird der Leser auch mit Pan Jinlian bekannt, einer, wie wir erfahren, ausgebildeten Kurtisane, die u.a. Schach spielt, trinkfest ist und den Gesang beherrscht. Als Dienerin ist sie in einen wohlhabenden Haushalt gegeben worden, wo sie der Hausherr verführte, bevor der unglückliche Wu Da, älterer Bruder des Wu Song, sie heiratet. Da der mittlerweile bei dem Ehepaar wohnende Wu Song sich den Annäherungsversuchen der Schwägerin widersetzt, rächt sich Pan mit Verleumdungen gegen ihn und bewirkt damit seinen Fortzug. Der Inhalt dieses ersten Komplexes stimmt mit den freilich weit fragmentarischer bleibenden Darstellungen in den Räubern überein. Über die Kupplerin Wang, eine Teestubenbesitzerin, kommen Pan Jinlian und Ximen Qing zusammen und nutzen in der Folge die Gemächer der Frau für ihre Treffen. Sind die erotischen Szenen im Werk um die Räuberbande jedoch nahezu vollkommen ausgeblendet und nur hinter vagen Hinweisen wie daß sich »Ximen Qing nun des öfteren mit Pan Jinlian traf« erkennbar, so wird den Liebeserlebnissen der Ehebrecher im Jin Ping Mei viel Raum zubemessen. In einer der ersten Szenen heißt es dazu: Von Lust übermannt, entblößte Ximen Qing sein Glied und ließ Goldlotos [Pan Jinlian] es mit zarten Händen betasten und damit spielen. Ximen Qing hatte von Jugend auf mit den Buhldirnen aller Straßen und Gassen verkehrt und trug an der
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Die WELT DER GEFÜHLE Wurzel seines Gliedes eine silberne Stütze, die durch Arzneikräuter-Abkochung vervollkommnet war, um sein Glied besonders zu stärken. Das prächtige Ding stand aus den schwarzen Haarbuschen rötlich und dunkel steif empor: Ein Ding, das fast sechs Zoll lang ward! Es kann wohl weich sein, doch auch hart. Ist’s schlaff, es wie ein Trunkner fällt, ist’s stramm, es fakirsteif sich hält. Eingang zur Weiblichkeit sein Ziel; sie ist sein Reich beim Liebesspiel. Um solch ein Himmelsding am Mann schon mancher schöne Streit begann in ihrem Wunsch, es müsse sein 792 nur zum Gebrauch für sie allein.
Mit niemandem sonst unter seinen Frauen und Geliebten wird Ximen Qing die Liebe auf eine solch feierliche und zuweilen zerstörerische Art und Weise zelebrieren wie mit Pan Jinlian. Nicht nur, daß sie ihm ein eigenes Band flicht, welches den gleichen Zweck wie seine silberne Gliedstütze erfüllt. Das Paar wird auch immer neue Techniken und Formen finden, um den Genuß noch zu steigern, angefangen bei den mit Schuhschnüren hochgebundenen Beinen Pans (eine Episode, in der schon ein gutes Maß an Gewalttätigkeit erkennbar wird) bis hin zu einer in die Scheide geklemmten Pflaume, die dann, um den Reiz zu steigern, fortgenascht werden soll. Höhepunkt dieser Anbetung des Körpers der Geliebten ist eine Szene, bei der Ximen Qing auf dem Bauch Pans vor dem Liebesakt Weihrauchkerzen verbrennt. In dem Viertel um Frau Wangs Teeladen ist bald überall vom Treiben des Ximen Qing und seiner Geliebten zu hören, nur der gehörnte Ehemann selbst ahnt noch nichts, wird vielmehr erst von dem rachsüchtigen jungen Burschen Qiao auf alles aufmerksam gemacht. Es kommt zu den bekannten Szenen des Handgemenges mit dem furchtbaren Fußtritt durch Ximen Qing, als Wu Da in das Haus der Wang stürzt und das Paar stellt. Als der todkranke Wu am Ende droht, alles seinem Bruder zu berichten, ist sein Tod beschlossene Sache. Pan Jinlian schreitet zur Ausführung, wobei dieses Stelle wiederum eng an die Räuber angelehnt ist. Als der große Wu das zweite Mal schlürfen wollte, goß ihm Goldlotos gewaltsam die ganze Arznei in die Kehle hinunter, ließ ihn rasch auf das Bett zurückfallen und sprang selbst rasch vom Bett herab. Er stieß Klagelaute aus und jammerte: »Frauchen, nun habe ich auch noch Leibschmerzen, nachdem ich die Arznei genommen habe. [...]« Goldlotos trat an das Ende des Bettes, ergriff zwei Bettdecken und bedeckte den großen Wu rücksichtslos über Kopf und Gesicht hinweg. Er rief: »Ich bekomme keine Luft!« 792
Djin Ping Meh, Kap. 4, Bd. 1, S. 148f.
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Ximen Qing und seine sechs Frauen im Roman Jin Ping Mei Der Arzt habe ihr ausdrücklich eingeschärft, ihn zum schwitzen zu bringen, erklärte Goldlotos. Dann werde er rascher genesen. Sie sprang – der große Wu wollte noch Laute hervorstoßen – aus Besorgnis, daß er mit Anstrengung die Bettdecke abwerfen möchte, auf das Bett, setzte sich rittlings auf den Leib und preßte mit ihren Händen die Ecken der Decken fest an, ohne auch nur im geringsten nachzulassen. [...] Der große Wu hatte zweimal laut aufgeschrien und noch einmal röchelnd nach Atem gerungen, dann waren ihm Magenwände und Ein793 geweide zerfressen.
Die Mörderin, Frau Wang und Ximen Qing sorgen für die Reinigung der Leiche und erledigen ihre baldige Einäscherung. Ein halbes Jahr ist seit der Abreise Wu Songs vergangen, als seine Rückkehr angekündigt wird. Durch eine Geistererscheinung des toten Bruders, der von dem Mord berichtet und durch das Gerede der Nachbarn wird Wu Song auf das schändliche Treiben seiner Schwägerin aufmerksam und schreitet zu einer Racheaktion, nachdem das von ihm angestrebte Gerichtsverfahren gegen die Mörderin und ihren Buhlen aufgrund der einflußreichen Stellung Ximen Qings am Ort niedergeschlagen worden ist. Wu stürmt in ein Wirtshaus, kann des flüchtenden Ximen jedoch nicht habhaft werden und tötet stattdessen einen Gast. Nunmehr selbst zum Mörder geworden, wird Wu Song verhaftet. Der Fall kommt vor den unbestechlichen Regierungspräsidenten Chen Wenzhao, der nach Wus Schilderungen sogleich eine Hafterleichterung anordnet und nach Verabreichung von vierzig Stockhieben sowie unter Erlaß der Todesstrafe seine Verbannung an die Grenze verfügt. Ximen Qing selbst ist es nur unter Aufbietung all seiner Beziehungen gelungen, den Kopf aus der Schlinge zu retten. Auf Wu Song trifft der Leser erst wieder am Ende des Romans (Kap. 87), als er nach der Rückkehr aus der Verbannung seine grausame Rache an der Kupplerin Wang sowie Pan Jinlian vollstreckt, der das Herz aus dem Leibe gerissen wird. Die schon aufgrund des Handlungshintergrundes an hervorgehobener Stelle zu nennende Gestalt Wu Songs bleibt freilich nicht der einzige Bezug zum Stoff über die Räuber vom Liangshan-Moor. Nicht zufällig steht auch die zweite prominente Frauengestalt im Jin Ping Mei, die Rede ist von Li Ping'er, in einer engen Beziehung zu den Helden um den Rebellen Song Jiang. Vor der Ehe mit dem Eunuchen Hua Zixu ist sie nämlich schon die Nebenfrau des Großsekretärs Liang gewesen, dessen restlicher Clan niemand anderem zum Opfer gefallen ist als dem im Blutrausch handelnden Li Kui. Als einer der wenigen gelang Li Ping'er zu jener Zeit die Flucht. Ein weiterer Hinweis auf die Räuber findet sich schließlich ganz zu Ende des Romans (Kap. 97 und 98), wo wir erfahren, daß ein kaiserlicher Befehl an den Wehrbezirkskommandanten Zhou ergangen ist, gegen den Räuberhauptmann Song Jiang vorzugehen und schließlich der Sieg über die Bande verkündet wird, womit die Gegend als befriedet gilt. 793
Ebd., Kap. 5, S. 172f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Mit dem Abtransport Wu Songs endet der zehn Kapitel lange Einleitungsteil, und die Handlung wendet sich nun vollständig den Vorgängen im Anwesen Ximen Qings zu. Im Zentrum der weiteren Ereignisse stehen die beiden bereits im Auftakt genannten Gestalten Pan Jinlian und Ximen Qing, was dort durch die unverbrüchlichen Treueschwüre, die der Mann seiner Geliebten gegeben hat, schon klar angedeutet wird. Die Worte, die Ximen dabei wählt, machen zudem die gefährliche Liebe-Tod-Beziehung klar, in der sich das Paar befindet und nehmen die zerstörerische sexuelle Beziehung, der der Mann schließlich zum Opfer fällt, vorweg. Der Ausgangspunkt vieler unheilvoller Ereignisse im Hause ist Ximen Qings Sexbesessenheit, die, wir haben es bei Pan Jinlian gesehen, ihn selbst vor einem Mordkomplott nicht zurückschrecken läßt. Seinem Bild als notorischem Verführer haftet nur insofern etwas »Unschuldiges« an, als die Opfer dieser Künste die Verführung zu einem guten Teil selbst mit herausfordern, womit der Autor ein gängiges Vorurteil zu unterstreichen scheint, wonach es stets die Frauen sind, welche die Männer mit ihrer sexuellen Aggressivität und ihren Intrigen ruinieren.794 Es fällt auf, daß nahezu alle Geliebten des Helden eine dunkle Vergangenheit besitzen, von seinem Status als hochgeschätzten Bordellkunden ganz zu schweigen. Lediglich am Ende seines Lebens empfindet Ximen Qing einmal den Reiz des Reinen und Tugendhaften, der von der Gattin des Militärbeamten He ausgeht. Doch die Frau bleibt für ihn unerreichbar. Ximen Qing ist wohlgemerkt kein von grundauf schlechter Mensch, der stets nur Böses im Sinn hätte. Er erscheint im Roman durchaus in einem günstigen Licht und bleibt vom Spott des Autors weitgehend verschont. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man tatsächlich glauben, es handele sich um einen fröhlichen, großzügigen, echter Gefühle fähigen Menschen, der nicht selten durch seine Freigiebigkeit beeindruckt. Der Autor verzichtet dabei in der Regel darauf, das Verhalten des Helden in direkter Weise zu bewerten, es sind vielmehr die Eindrücke und Einschätzungen anderer, über die der Leser gehalten ist, zu einer eigenen Bewertung zu gelangen. Ximen Qing – hier im Gewande des Privatmanns in häuslicher Umgebung – entspricht in vieler Hinsicht dem überlieferten Bild des schwachen letzten Herrschers vom Schlage eines Yangdi aus der Sui-Dynastie, der die Zeichen der Zeit nicht mehr zu erkennen vermag und sich in den Mauern seines Palastes einem ausschweifenden Leben hingibt. Auch die Gestalt der zweiten zentralen Figur des Romans – die Rede ist von Pan Jinlian – steht nicht im leeren Raum, sondern knüpft an bereits bestehende Bilder und Figuren in der überlieferten Literatur an. Ihr Schicksal im Jin Ping Mei ist vorgezeichnet in einem Textbuch (huaben) mit dem Titel »Rendezvouz von Liebenden, bei dem ein Mord begangen wird« (Wen jing yuanyanghui). Darin ist von dem lasterhaften Leben einer Frau die Rede, die 794
Vgl. dazu die Bemerkungen bei HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 209.
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Ximen Qing und seine sechs Frauen im Roman Jin Ping Mei
mehrere Männer ins Verderben führt. Ihr erstes Opfer wird ein Junge aus der Nachbarschaft, der vor Schreck stirbt, als die Eltern der Frau plötzlich heimkehren. Der Vater, welcher langsam zur Gewißheit über die sexuellen Leidenschaften seiner Tochter gelangt, sieht zu, daß er sie bald aus dem Hause schafft, doch auch in den nun folgenden Ehen bringt die Sexbesessene ihren Männern nur Unglück. Die gerechte Strafe ereilt sie nach der Verbindung mit einem jungen Kaufmann (in dem man u.U. einen Hinweis auf Ximen Qing erkennen kann), der sie wegen ihrer Untreue umbringt.795 Wir haben Pan Jinlian als Mörderin ihres Gatten Wu Da im Romanauftakt kennengelernt, ohne zunächst viel von ihrem Wesen zu begreifen. Pan Jinlian ist sich der traurigen Umstände ihrer Aufnahme in die Familie Ximen Qings stets bewußt. Der Anfeindungen durch die übrigen Frauen gewahr, setzt Pan Jinlian alle Mittel ein, um die eigene Machtposition auszubauen und zeigt sich dabei dem eher schlichten Auftreten ihrer Konkurrentinnen meist weit überlegen. Mit Engelszungen versteht sie es, den Hausherrn zu umgarnen; ihre Palette reicht von feinen Anspielungen bis hin zum deftigen Streit. Pan Jinlians Lage im Haus wird nicht einfacher nach dem Einzug der Li Ping'er, ihrer schärfsten Widersacherin, die über das eingebrachte Vermögen ein erhebliches Maß an Selbständigkeit bewahrt und zudem die erste ist, die dem Gatten einen Sohn schenkt. Li Ping'ers enges Verhältnis zu Ximen Qing scheint angesichts der Gleichgültigkeit und der Lieblosigkeit, die sie gegenüber ihren früheren Gatten zeigte, nicht recht zu erklären, zumal sie aufgrund des »Fehltritts« durch die Verbindung mit Herrn Jiang bei der Aufnahme in das Haus anfangs eine Reihe von Erniedrigungen über sich ergehen lassen muß und sogar ausgepeitscht wird. Die Veränderung ihres Charakters ist vornehmlich durch die Gegnerschaft zu Pan Jinlian bestimmt und sie sichert sich durch ihre Großzügigkeit die Zuneigung der übrigen Damen. Anders dagegen die Reaktion Pans. Hatte sie sich schon in der Vergangenheit gegenüber Wu Das Tochter aus erster Ehe als grausame Stiefmutter erwiesen, so verfolgt sie nun Guan'ge, den kleinen Sohn der Li, mit ihrem ganzen Haß. So trägt sie auch wesentlich die Mitschuld am frühen
795
S. dazu die knappen Angaben bei PATRICK HANAN: The Chinese Vernacular Story, Cambridge/Mass.: Harvard UP 1981, S. 67f. Wie eng die Beziehungen des Jin Ping Mei zu diesem Textbuch sind, belegt der Umstand, daß der moralisierende Auftakt des Romans stark an eine entsprechende Passage des huaben angelehnt ist. Daneben scheint die Figur der Pan Jinlian noch in einer Reihe weiterer Textbücher wie »Fischer am Hafen« (Gangkou yuweng) oder »Der aufrechte Meister Zhang« (Zhicheng Zhang zhuguan) angelegt zu sein. (Vgl. HANAN: »The Text of the Chin P'ing Mei«, S. 32–43). – Der anziehende Stoff um Pan Jinlian hat selbst in der neueren Zeit immer wieder Literaten zur Auseinandersetzung angeregt. Im Jahre 1928 veröffentlichte Ouyang Yuqian ein kurzes Schauspiel unter eben dem Titel »Pan Jinlian«. Auch einer der volkstümlichen Romane des Hongkonger Schriftstellers Nangong Bao trägt diesen Titel.
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Die WELT DER GEFÜHLE Tod des jungen Erben, denn sie setzt das ohnehin kränkliche Kind nicht nur während eines Spaziergangs bewußt der kühlen Witterung aus, sondern richtet zudem eine Katze ab, die dem Kleinen einen tödlichen Schrecken versetzt, von dem er sich nicht mehr erholt. Zwar herrscht allgemeine Gewißheit im Hause über die Schuld der Pan, doch findet sich niemand, der sie zur Rechenschaft ziehen könnte. Ausgerechnet Ximen Qing erweist sich immer wieder als ausgesprochen hilflos gegenüber der durchtriebenen Frau. Hinzu kommt, daß sich beide nur als Werkzeuge ihrer Lustbefriedigung benutzen und aus der Verbindung kein Nachwuchs hervorgeht. Pan Jinlian erlebt während ihrer Zeit im Hause lediglich zwei Fehlgeburten. Ihre sexuelle Lust, die sie mit Ximen Qing genießt, dient ganz offensichtlich nicht der Fortpflanzung und ist daher ganz besonders verwerflich. Zwar wird Pan nach der Affäre mit Chen Jingji – Ximen Qing ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot – erneut schwanger (Kap. 85), doch ist sie diesmal wegen der illegitimen Verbindung zur Abtreibung gezwungen und muß daraufhin das Anwesen verlassen. Ximen Qing befindet sich mit ihr in einem teuflischen Bund, mit ihr verbringt er seine süßesten Stunden, niemandem gelingt es, seine sexuellen Gelüste auf eine Art und Weise zufriedenzustellen wie Pan Jinlian. Immer wieder versteht sie es, auf die Besonderheit ihrer Beziehung hinzuweisen, wobei sie den Zusammenklang von Gefühlen und Gedanken betont. Das geht soweit, daß beide einander ein gehöriges Maß an Freiheit zugestehen. Zunächst ist es Pan Jinlian, die ihrem Gatten den sexuellen Verkehr mit Zofe Chunmei erlaubt, und selbst eine Züchtigung Pans durch Ximen nach ihrer Affäre mit einem der Diener scheint der Beziehung nicht zu schaden. Es verwundert angesichts der Durchtriebenheit, mit der Pan Jinlian die Geschicke innerhalb der Familie von Ximen Qing in ganz wesentlichem Maße bestimmt, daß wir bei ihr im dritten und letzten Teil des Romans einen Bruch im Charakter feststellen müssen. Auch dieser Umstand läßt die Handschrift eines anderen Autoren als dem ursprünglichen Verfasser erahnen. So wirkt es vor dem Hintergrund ihrer während der ersten beiden Abschnitte zutagegelegten Eigenschaften unglaubwürdig, daß sie nach dem Fortzug aus dem Anwesen so einfältig sein sollte, ausgerechnet in eine Ehe mit dem aus der Verbannung zurückgekehrten Wu Song einzugehen, von dem sie nichts Gutes zu erhoffen vermag. Doch ist ihr Ende wegen der engen Anlehnung an Die Räuber ohnehin vorbestimmt, und so entgeht sie der grausamen Hinrichtung durch den Bruder des von ihr gemordeten Gatten nicht. Auch ihr einstiger Geliebter Chen Jingji, auf dessen Gestalt sich die Handlung während der letzten zwanzig Romankapitel konzentriert, nimmt kein gutes Ende. Als Schürzenjäger hat Chen noch zu Lebzeiten Ximen Qings den Eindruck vermitteln wollen, einst durchaus in dessen Fußstapfen zu treten. Doch im Grunde bildet er nur einen schwachen Abklatsch des Schwiegervaters, noch viel stärker als bei diesem liegen hier Erfolg und Scheitern im Leben durch die Beziehungen zu Frauen beieinander. Ximen Qings Tochter heißt den Gatten nach der Affäre mit Pan Jinlian das Haus verlassen und erhängt sich später in der Folge weiterer Auseinandersetzungen.
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Ximen Qing und seine sechs Frauen im Roman Jin Ping Mei
Chen verarmt, findet Aufnahme in einem Kloster, erfährt dort aber mit der Vergewaltigung durch Novizen eine besonders erniedrigende Behandlung. Er nutzt die Kontakte zu mittlerweile gut wiederverheirateten Frauen aus dem Hause Ximens wie etwa Meng Yulou oder Chun Mei, doch profitiert er nur so lange davon, wie er den Gattinnen selbst nicht nachstellt. Über Chun Meis Ehemann Zhou Xiu, dem Bezwinger der Liangshan-Rebellen, kann Chen zwar in der Folge des Sieges ein Amt ergattern, doch stirbt er nach einem Liebesakt mit Chun Mei durch die Hand eines gewissen Zhang Sheng, der damit einem gegen ihn geplanten Komplott zuvorkommen möchte. Für einen findigen Autoren boten sich im Jin Ping Mei eine ganze Reihe von Fäden, die weitergesponnen werden konnten. Die von den Nonnen und Mönchen im Roman angekündigten postmortalen Existenzen der Helden an über das ganze Reich verteilten Orten sowie die in den Geisterbesuchen der Toten bei ihren früheren Peinigern angekündigten Wirkungskräfte aus dem Jenseits waren so auch der Stoff, aus dem sich Fortsetzungen schaffen ließen. Doch selbst bei einigen Helden des Ursprungsromans, die die Szenerie bis zum Schluß bevölkerten, bestand noch genügend Spielraum für weitere Szenen. Die von den Wahrsagern angekündigten Schicksale waren schließlich bei allen vage genug, um sie neu mit Inhalt zu füllen. In der chinesischen Literaturwissenschaft geistert seit Yuan Hongdaos Zeiten das Gerücht von einem frühen Folgeroman zum Jin Ping Mei namens Yu Jiao Li herum, der nicht mit einem caizijiaren-Werk gleichlautenden Titels aus der QingDynastie verwechselt werden sollte. Schenkt man den Worten des 1610 verstorbenen Yuan Glauben, so ist dieses Werk noch zur Wanli-Ära und zeitlich vermutlich nicht allzu lange nach dem Jin Ping Mei selbst erschienen, doch läßt sich bis auf einige inhaltliche Elemente nicht viel zum Roman sagen, da Yuan Hongdao Yu Jiao Li, wie er betont, nicht mit eigenen Augen gesehen hat, sondern alles Wissenswerte aus mündlichen Quellen erfuhr.796 Aufgrund der geringen Anhaltspunkte, die man besitzt, ist dennoch anzunehmen, daß Yu Jiao Li nicht allzu verschieden ist von dem um 1662 geschriebenen Roman Fortsetzung des Jin Ping Mei (Xu Jin Ping Mei) aus der Feder Ding Yaokangs (1599–1671), der aus Shandong stammte und auch unter dem Pseudonym »Einsiedler vom Purpurglanz« (Ziyang daoren) bekannt ist.797 Da in beiden Werken das Element der Reinkarnation stark in den Vordergrund tritt, und die üblen Figuren im Jin Ping Mei nach einem Höllendasein ihre gerechte Strafe während einer Wiedergeburt erhalten, wird mitunter 796
797
Zu einer knappen Beschreibung der Probleme um den RomanYu Jiao Li, s. LU XUN: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung, S. 249. Fortsetzung des Jin Ping Mei umfaßt vierundsechzig Kapitel und liegt in einer Ausgabe der Sammlung Drei Folgeromane zum Jin Ping Mei (Jin Ping Mei xushu san zhong), Ji'nan: Qilu shushe 1988, 2 Bde. vor.
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Die WELT DER GEFÜHLE davon ausgegangen, daß es sich bei Yu Jiao Li und der Fortsetzung um ein und denselben Roman handelt.798 Dem eigentlichen Roman vorangestellt ist eine moralische Abhandlung in der seit der Song-Dynastie beliebten Form des volkstümlichen Traktats »Reaktion des Himmels auf Regungen des menschlichen Herzens« (ganyingpian), das in diesem Falle Laotse zugeschrieben wird.799 Gedanklich stark mit der Vorstellung der Seelenwanderung und der Wiedergeburt verknüpft, bringt das Traktat seinen moralischen Anspruch insbesondere mit Hinweis auf die Karma-Vergeltung (yinguo baoying) zum Ausdruck: »Glück und Unglück kommen nicht grundlos, sondern sind alleine vom Verhalten des Menschen verursacht. Die Vergeltung für Gut und Böse folgt dem Menschen wie ein Schatten«.800 Mit seinen vierundzwanzig Regeln zum Wohlverhalten (Verfolge das Gute und meide das Böse; handle tugendsam und verdienstvoll; achte die Alten und hüte die Jungen; gebe viel und nehme wenig etc.) sowie den einhundertdreiundfünfzig Verboten von Verbrechen (Raub, Mord) und üblem bzw. ungebührendem Verhalten wie Undankbarkeit, Mißachtung des Himmels, Ehebruch etc., die teilweise auf eine Sammlung taoistischer Praktiken mit dem Titel Der Meister, der die Schlichtheit umfing (Baopuzi, von Ge Hong [283–343]) zurückgehen, weist das Traktat durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zum Katechismus der christlichen Religion auf. Die unerläutert bleibenden Moralgrundsätze haben die Funktion, die gesamte folgende Handlung vor ihrem Hintergrund zu lesen und sozusagen als Anschauungsmaterial herauszuheben. Entsprechend sind über den ganzen Text immer wieder kleine Erzählungen und Anekdoten verteilt, um an die Moralität des Menschen und eine verantwortungsbewußte Gestaltung des Lebens zu gemahnen. In einem ähnlichen Tone ist eine kurze Abhandlung über den Umgang mit der Sexualität gehalten, welche auch in der Fortsetzung gelegentlich Erwähnung findet, sind doch eine Reihe von himmlischen Strafen so angelegt, daß den davon Betroffenen der Genuß sexueller Freuden für die Zukunft versagt bleibt. In argumentativer Art und Weise werden die Probleme zur Diskussion gestellt, das Für und Wider einer Ansicht abgewogen: Die Welt der Sinnlichkeit geht zurück auf die Emotionalität unter den Menschen, und für Emotionalität gibt es keinen Ursprung. Werden und Vergehen, Geburt und Tod des Menschen bilden einen ewigen Kreislauf. Wer mit dem Buddhismus 798 799
800
Vgl. den Hinweis im Vorwort ebd., S. 2f. Der volle Titel lautet »Traktat nach Laotse über Reaktionen des Himmels auf Regungen des menschlichen Herzens sowie die Wirkung von yin und yang, ohne Erläuterungen« (»Taishang ganying pian yinyang wuzijie«). Vgl. zu dieser Version die Anmerkungen in FRANZ KUHNs Übersetzung des Gelian huaying als Blumenschatten hinter dem Vorhang, Frankfurt/M.: Insel 1983 (erstmals 1956), S. 760f. Drei Folgeromane zum Jin Ping Mei, Vorspann zum Roman, S. 11.
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Ximen Qing und seine sechs Frauen im Roman Jin Ping Mei argumentiert und für eine vollständige Unterdrückung der Triebe und Sexualität eintritt, muß sich der nicht fragen lassen, ob er den Prozeß von Schöpfung und Geburt abzubrechen droht? Tathagata war der Sohn des Mahamaya, und ist Laotse etwa gleich einer Frucht am Birnenbaum gewachsen? Wie war es mit Konfuzius, hat nicht auch er mit Boyu einen Sohn gezeugt? Die Zeugung wird nicht negiert, selbst von den großen Heiligen nicht. Und so heißt es mit Recht, daß man seine Triebe nicht gänzlich unterdrücken, sondern lediglich in der Gewalt 801 haben möge.
Wenn man es recht überlegt, dann war auch das Jin Ping Mei mit seinen vielen Übertreibungen und Extremen nichts anderes als der Versuch, den Leser auf das Schändliche dieses Verhaltens aufmerksam zu machen. Der Folgeroman geht hier eine Stufe zurück, er enthält sich weitgehend der übertriebenen Darstellung und greift zum Mittel der Predigt bzw. der Mahnung, um für Mäßigung einzutreten. Ähnlich wie das Jin Ping Mei ist auch die Fortsetzung mit einem großen Stock von mehr als achtzig Persönlichkeiten bevölkert, der neben historischen Gestalten (Kaiser, Minister, Generäle etc.) vor allem den Bericht über die wichtigsten der ursprünglichen Romanfiguren bzw. deren Inkarnationen weiterführt, darüber hinaus jedoch auch einige neue Helden nennt, die vor allem in den der Traktatliteratur zuzuordnenden Anekdoten und Berichten Erwähnung finden. Ein roter Faden ist in den nur locker miteinander verbundenen Szenenfolgen des Romans schwerlich auszumachen. Lediglich das Schicksal von Xiaoge und seiner Mutter Yueniang, die aufgrund der Kriegswirren voneinander getrennt werden und erst später wieder zusammenfinden, erfährt eine ausführlichere Würdigung. Ansonsten sind die Geschichten der einzelnen Helden (vor allem der drei Frauenfiguren Li Yinping [alias Li Ping'er], Li Jingui [alias Pan Jinlian] und Kong Meiyu [alias Chunmei]) nicht miteinander verbunden. Nur die Idee der schicksalhaften Vergeltung zieht sich wie ein Band durch den Roman und ruft den Eindruck einer gewissen Einheitlichkeit hervor. Darüber hinaus jedoch vermittelt die ständige Unterbrechung des Handlungsflusses, wenn oftmals erst nach mehreren Kapitel der Faden zur Schilderung der Geschehnisse wiederaufgenommen wird, beim Leser den Eindruck des Fragmentarischen. Das in der Fortsetzung des Jin Ping Mei inhaltlich vermittelte Bild von politischer Zerrissenheit, Unruhe, Flucht, Zerstörung und Elend spiegelt sich formal durchaus in dem lockeren und uneinheitlichen Aufbau des ganzen Werkes wider. Die fehlende Verknüpfung der Geschichten über das Schicksal der einzelnen Protagonisten, die nicht wie vordem größtenteils unter einem Dach leben, läßt die Fortsetzung im Gegensatz zum Jin Ping Mei weniger als einen Familienroman, sondern vielmehr als einen Gesellschaftsroman erscheinen. Die eigenen Erlebnisse Ding Yaokangs, der in sehr unruhigen Zeiten lebte, mögen der Anlaß für die Überfrachtung der Fortsetzung mit allerlei historischem Bei801
Ebd., Kap. 23, S. 207.
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Die WELT DER GEFÜHLE werk gewesen sein, das dem Roman eine ganz andere Atmosphäre verleiht als noch Jin Ping Mei. Da hinter den Invasoren der Dschurdschen im Roman für den zeitgenössischen Leser unschwer die neuen Mandschu-Herren auszumachen gewesen sind, bot es sich schon aus Gründen der Vorsicht an, hier einige Streichungen vorzunehmen. Heraus kam dabei die auf achtundvierzig Kapitel gekürzte Fassung Blumenschatten hinter dem Vorhang (Gelian huaying), deren Verfasser nur unter seinem Pseudonym »Gelehrter von Vierbrücken« (Siqiao jushi) bekannt ist.802 Da »Vierbrücken« auch als Kommentator eines Werkes auftritt, welches für die Ära des Kangxi-Kaisers (1662–1723) überliefert ist, darf man vermuten, daß er um die Wende des 17./18. Jahrhunderts gelebt hat.803 Gegenüber der Fortsetzung wurden in Blumenschatten neben der Verwendung neuer Namen vor allem umfangreiche Passagen über die Eroberungszüge der Jin gestrichen, doch auch die Verschleppung der Song-Kaiser Huizong und Qinzong findet keine Erwähnung mehr, kurz, es fiel alles fort, was das Mißtrauen der neuen Herrscher hätte erregen oder das Werk dem Vorwurf aussetzen können, anti-mandschurische Tendenzen zu fördern. Diese Sorge ging so weit, daß selbst der Name Hamu'ers, der Gatte Kong Meiyus aus adligen Kreisen der Jin nun in einen Sohn des Han-Generals Jin Mingyu umgewandelt wurde. Trotz dieser und einiger weiterer Änderungen, die die Lesbarkeit der Blumenschatten in beträchtlichem Maße steigerten (wie etwa der Verzicht auf den stark moralisierenden und belehrenden Ton), blieb auch der gereinigten Romanfassung das Schicksal der Zensur nicht erspart, so daß es nach 1838 mehrmals verboten wurde.804 Doch auch Blumenschatten war nicht das letzte Werk, das sich mit dem Stoff um Ximen Qing auseinandersetzte. Da ein weiterer Folgeroman mit dem Titel Traum des Goldzimmers (Jinwu meng) von Sun Jing'an jedoch erst im Jahre 1915 in der Zeitschrift »Yinghua« erschien und damit lediglich für die Zeit nach der Qing-Dynastie vorliegt, wollen wir das Buch hier nur kurz nennen. Darin wird den historischen Schilderungen wie bereits im ersten Folgewerk, der Fortsetzung, wiederum erheblich mehr Raum eingeräumt, so daß Goldzimmer nur unwesentlich kürzer ist als der Vorläufer.
802 803 804
In der Übersetzung von FRANZ KUHN vorhanden, vgl. Anmerkung weiter oben. Vgl. HUANG LIN in Drei Folgeromane zum Jin Ping Mei, S. 18. Vgl. ZHOU LIN: »Das Geheimnis der Folgeromane des Jin Ping Mei« (Jin Ping Mei xushuzhi mi), in: LIU HUI / YANG YANG: Das Geheimnis des Jin Ping Mei (Jin Pin Meizhi mi), Peking: Shumu wenxian 1989, S. 105.
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6. Schwanzlos: Die perfekte (Er)Lösung – Li Yu und sein Werk Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan)
Wir nähern uns allmählich dem Ende des Abschnitts über den erotischen Roman, an dessen Abschluß ein Werk aus der Feder Li Yus (1611–ca. 1680) stehen soll, der eine Anzahl von Elementen aus den erotischen Erzählwerken seiner Vorläufer noch einmal aufgriff und virtuos abwandelte. Die Rede ist von dem zwanzig Kapitel langen Roman Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan). Umstrittener als die Autorenschaft des Li Yu ist dabei zunächst die Zeit der Abfassung. Noch Franz Kuhn ging in seiner für die hiesige Bearbeitung zugrundegelegten Übersetzung von 1633/34 als Entstehungsjahr aus,805 doch wurden angesichts der hohen literarischen Qualität früh Zweifel laut, ob ein junger Mann von Anfang zwanzig überhaupt in der Lage gewesen wäre, etwas derartiges in seinem Alter vorzulegen. So war Helmut Martins vermutetes Entstehungsdatum (d.h. die Zeit zwischen 1660 und 1679) lange Zeit wahrscheinlicher,806 wenngleich wir den Angaben von Patrick Hanan, dem Übersetzer der englischen Ausgabe, entnehmen können, daß sich schon 1657 eine Kopie des Manuskripts in Umlauf befand.807 Li Yus Biographie bietet ein anschauliches Beispiel für jene Literaten zum Ende der Ming-Dynastie, denen in unruhigen Zeiten der Weg zu einer Beamtenkarriere versagt blieb und die sich daher auf andere Weise ihren Lebensunterhalt verdienen mußten.808 Im Jahre 1635 bestand Li zwar noch die Examina zum Bakkalaureus, fiel aber während der Zeit danach mehrere Male bei den Provinzprüfungen durch und gab seine Ambitionen für einen Eintritt in Staatsdienste spätestens nach der Machtübernahme durch die Mandschuren auf. Die folgenden Jahrzehnte widmete er ganz seinem literarischen Schaffen und trat als Theaterdirektor auf, der mit einer Schauspieltruppe durch das Land zog, in Verbindung mit führenden Denkern seiner Zeit wie Wang Shizhen (1634–1711), Zhou Lianggong (1612–1672) und Wu Weiye (1609–1671). Mitte der fünfziger Jahre siedelte Li Yu von Hangzhou nach Nanking über, wo er 1657 einen Verlag samt Buchhandlung unter der Bezeichnung »Senfkorngarten« (Jieziyuan) eröffnete, der recht gut lief. Doch auch in den Jahren danach bereiste er nahezu das gesamte chinesische Reich mit Stationen 805
806
807
808
Vgl. LI YU: Jou Pu Tuan, ein erotisch-moralischer Roman aus der Ming-Zeit (1633), deutsch von FRANZ KUHN, Brugg u.a.: Fackelverlag 1972. HELMUT MARTIN: Li Li-Weng über das Theater, Diss. an d. Universität Heidelberg 1966, Taipeh: Meiya Publications 1968, S. 265. LI YU: The Carnal Prayer Mar, übersetzt von PATRICK HANAN, London u.a.: Arrow 1990, S. XII. Zu eingehenderen Biographie über Li Yu vgl. NATHAN K. MAO / LIU TS'UN-YAN: Li Yü, Boston: Twayne Publishers 1977.
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Die WELT DER GEFÜHLE in Guangdong (1666), Gansu (1667) und Fujian (1670), die längeren Aufenthalte in Peking nicht mitgezählt. Mit der Hilfe von Freunden erwarb er 1676 den Cengyuan-Garten am Westsee in Hangzhou, wohin er ein Jahr später endgültig umzog. Neben mehreren Theaterstücken aus seiner Feder wie »Lianxiangban« (um 1645) bzw. »Huangqiufeng« (1666 vollendet) gab er auch eine Reihe von Novellensammlungen heraus, darunter so bekannte Werke wie Das lautlose Theater (Wushengxi, Druck zwischen 1654 und 1658) und Die zwölf Türme (Shi'erlou, Vorwort aus dem Jahre 1685). Außer den Andachtsmatten aus Fleisch wird Li Yu mit Das Palindrom (Huiwenzhuan, vorliegend in sechzehn Büchern) auch die Autorenschaft an einem weiteren Roman zugeschrieben, doch findet sich vor 1798, dem Jahr der ältesten Ausgabe dieses Werkes, kein Hinweis auf Li als Verfasser, so daß man hier nicht zuletzt auch wegen der starken stilistischen Unterschiede zu Andachtsmatten erhebliche Zweifel anmelden muß.809 Wenden wir uns den inhaltlichen Aspekten der Andachtsmatten zu, so wird der stark innovative Charakter dieses Buches schnell deutlich. Hierfür spricht der sehr persönliche Ton des Verfassers über das Problem im Umgang mit der Sexualität, welches in der Form eines Essays das gesamte erste Kapitel umfaßt und worauf wir weiter oben bereits im Zusammenhang mit dem Roman Sterkarienbaum zu sprechen gekommen sind, so daß an dieser Stelle darauf nicht weiter eingegangen werden soll. Im Unterschied zu vielen seiner Vorgänger verzichtet Li Yu auf Bezüge zum Jenseits und hat, wenn man so will, die Erotik in einen durch und durch menschlichen Rahmen zurückgeholt. Nicht zuletzt deshalb wirken die meisten seiner Protagonisten glaubwürdig, wenngleich auch er dabei nicht auf Übertreibungen verzichtet, die diesem Genre zu eigen sind: Auch in Andachtsmatten spielt die schier unerschöpflich scheinende sexuelle Energie der Helden eine Rolle, haben die Darstellungen um die körperliche Bezwingung der Partner mittels ausgefeilter Kampftechniken bei der Vereinigung ihren Platz. Gliedgröße, Anzahl der versetzten Stöße, Stellungen im Bett, alles wird in ähnlich übertriebener Weise noch einmal aufgegriffen. Auch die gängigen Motive von Eifersucht, Rache und Vergeltung tauchen wieder auf, doch werden sie dieses Mal viel stärker auf den Charakter der einzelnen Personen zurückgeführt. Es ergibt sich daher eine richtige Geschichte, das Ende, die Läuterung der Helden ist nicht lediglich auf die sexuelle Erschöpfung hin angelegt, sondern findet Ausdruck in der Konsequenz, mit der die Figuren selbst ihr Schicksal beschließen: Die beschämte Yuxiang erhängt sich, Wei Yangsheng findet zum Schluß seine Bestimmung, indem er sich entmannt. Auf große Detailgenauigkeit in der Beschreibung der Lebensumgebung kommt es Li Yu nicht an. Hier kann er sich in Fragen der Darstellungen von Kleidung, Haartracht, Schmuck, Gebäuden und Tafelgenüssen nicht mit denen im Jin Ping 809
Vgl. dazu auch die Hinweise bei MARTIN: Li Li-Weng über das Theater, S. 276, wo sich eine kurze Zusammenfassung des Palindroms findet, dem eine alte Liebesgeschichte über einen verschollenen Palindrom-Text zugrundeliegt.
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Li Yu und sein Werk Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan)
Mei messen. Doch wo dort selbst noch Protagonisten wie Ximen Qing und Pan Jinlian stereotyp wirken, erstaunt die Wandlungsfähigkeit und Konsequenz der Personen in Andachtsmatten. Die Einflüsse, die Li Yu dabei von dem mehrere Jahrzehnte zuvor erschienenen Jin Ping Mei empfangen hat, sind unverkennbar: Auch in Andachtsmatten spielen sechs Frauen im Leben des Wei Yangsheng eine dominierende Rolle, ist Wei wie zuvor Ximen Qing ein skrupelloser Lebemann, der zunächst nur dem Vergnügen frönt. Doch hiermit enden auch schon die Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Wo Ximen Qing einer gierigen Krake gleicht, die lustvoll nach jedem Opfer in ihrer Umgebung greift und ihre Kräfte dabei verschleißt, ist Wei Yangsheng eher der Gestalt eines sinnlichen Pilgers nachempfunden, der auf seiner langen Reise nach Liebesabenteuern lechzt, um doch nur am Ende, erschüttert von den Konsequenzen seines Handelns, in der Entmannung nach Befreiung zu streben und damit wieder nur dorthin zu gelangen, wo alles begann. Die Geschichte, in der sich die Ereignisse des Romans abspielen, ist in der YuanDynastie zur Zeit der Zhihe-Ära (1328) angesiedelt. Auf dem Berg Guacang (In Azurbläue gehüllter Berg) lebt ein buddhistischer Mönch namens Gufeng (Einsamer Gipfel), der als einzige Habe einen selbstgenähten Ledersack mit sich führt, was ihm im Volksmund die Bezeichnung »Mönchlein Ledersack« eingetragen hat. Die Gestalt ist einem historischen Geistlichen nachempfunden, der zur Zeit der Tang-Dynastie um das Jahr 900 lebte.810 Eines Tages erhält Gufeng Besuch von dem jungen Akademiker Wei Yangsheng, der ganz offensichtlich vornehmer Herkunft ist. Er erkennt in ihm bald einen Mann, der nach jeder Art von Sinnengenuß strebt und ermahnt ihn, der Welt zu entsagen und bei ihm in der Einsiedelei zu bleiben. Doch Wei, eingenommen von seiner verführerischen Erscheinung und den eigenen geistigen Qualitäten, hat ganz anderes im Sinn und verkündet lapidar, zunächst ein paar Jahre weltlichen Glücks zu verfolgen, um erst später zurückzukehren. Seinen Anspruch, sich der Dichtkunst zu widmen, ein bedeutender Schriftsteller zu werden, geistigen Austausch mit den Gelehrten seiner Zeit zu pflegen, berühmte Berge und Wallfahrtsstätten zu bereisen und sich derart inspiriert schließlich in der Abgeschiedenheit einer Klause der Niederschrift seiner Gedanken nachzugehen, verfolgt er freilich später kaum weiter. Vielmehr wird er sich in der Folge ganz der Verwirklichung seines zweiten Lebensideals zuwenden, der Suche und Vereinigung mit der Schönsten des Landes, mit der er einen Sohn zeugen und zurückgezogen leben will. Zwischen Gufeng und Weiyang entspannt sich ein ausgedehntes Streitgespräch über die nach Auffassung des Geistlichen sicherlich eintretende Vergeltung jedes ausschweifenden Verhaltens und deren 810
Zur Beleuchtung des Buddhismus in Rouputuan vgl. MARK FRANCIS ANDRES: New Perspectives on Two Late Ming Novels: ›Hsi-yu Pu‹ and ›Jou P'u T'uan‹, Ph.D. University of Arizona 1988. Das Leben und Wirken des »Mönchleins Ledersack« ist auch in einem gleichnamigen Roman (Pibudai) festgehalten. Vgl. die Anmerkungen von FRANZ KUHN in dem Nachwort zu Jou Pu Tuan, S. 618.
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Die WELT DER GEFÜHLE Infragestellung durch Wei. Mit messerscharfem Verstand weist der Scholar die an dumpfe Traditionen anknüpfende Argumentation des Mönchs, die sich in SchwarzWeiß-Malerei erschöpft, zurück: Wei Yangsheng offenbart in dem Gespräch einen kritischen Geist, mit dem er in der Welt sicherlich bestanden hätte, wäre er nur stärker der Moral verpflichtet gewesen. Er erweist sich damit nicht nur den Lüstlingen in den oben geschilderten Werken bis hin zu Ximen Qing weit überlegen, sondern läßt auch die Vorhaltungen durch den Mönch als ungewöhnlich platt erscheinen, der allerdings die Prophezeiung macht, daß der junge Mann wohl erst auf der »Andachtsmatte aus Fleisch« zur Erweckung gelangen werde. Zunächst jedoch verfolgt Wei wie angekündigt seine Ziele im Streben nach privatem Glück und beauftragt bei der Heimkehr eine Heiratsvermittlerin, ihm eine geeignete Kandidatin für die Ehe vorzustellen. Nach langem Suchen fällt die Wahl schließlich auf Tie Yuxiang, die Tochter des Privatgelehrten Tiefei daoren (Tao-Jünger Eisentür), einem stadtbekannten Sonderling. Lediglich die spröde und scheue Art Yuxiangs, die seine zahlreichen Liebespraktiken als unanständig zurückweist, verhindert nach der Heirat zunächst die Erfüllung geschlechtlicher Freuden. Doch versteht es der Gatte, die junge Frau mit der gemeinsamen Betrachtung von »Frühlingsbildern« und der Lektüre von Werken wie der Erzählung des Kavaliers nach Wunsch, der Erzählung von der verrückten Frau sowie der Inoffiziellen Geschichte des bestickten Lagers nach und nach auf den »rechten Weg« zu führen, so daß einem wonnigen Beisammensein bald nichts mehr im Wege steht und Yuxiang zu einer wahren Meisterin in der Liebeskunst wird. Bald jedoch kommt Mißklang im Hause auf, läßt Schwiegervater Tie den Wei Yangsheng doch deutlich seine Verachtung gegenüber dem oberflächlichen Gebaren des jungen Mannes spüren, so daß sich dieser unter dem Vorwand, seine Studien zu vertiefen, dazu entschließt, das Haus zu verlassen. Wie erwartet, klaffen Anspruch und Wirklichkeit wiederum weit auseinander. Bei seiner jahrelangen Wanderschaft durch das Reich ist Wei allerorts als Gesellschafter beliebt, doch macht er sich nichts aus dem literarischen Rummel, sucht vielmehr nach außergewöhnlichen Schönheiten. Dabei wird er eines Tages bekannt mit dem geschickten Räuber Sai Kunlun (einer, der sogar den Sklaven Kunlun übertrifft), der der Gestalt in einer Tang-zeitlichen Erzählung nachempfunden ist (»Der Sklave vom Kunlun-Berg« [»Kunlunnu«]). Als edler Räuber, der hohes Ansehen in der Bevölkerung genießt, hat es sich Sai Kunlun zum Grundsatz gemacht, bei seiner Arbeit jene Menschen zu verschonen, die eine glückliche Zeit verbringen, in Ungemach leben oder bereits einmal Opfer eines Diebstahls geworden sind. Sogleich erkennt Wei den Nutzen, den er aus einer Verbindung mit Sai ziehen kann, hat dieser doch bei seinen Diebestouren immer wieder wertvolle Beobachtungen gemacht wie etwa die, daß gutbürgerliche Damen, die sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen, nicht zum Nachstellen geeignet sind. Das Angebot auf Hinweise über die Schönheiten des Ortes nimmt Wei daher gerne an und bezieht Quartier im Tempel des Liebes-
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Li Yu und sein Werk Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan)
gottes Zhang Xian, wo er auch gleich eigene Betrachtungen über die weiblichen Besucher anzustellen beginnt, deren Erscheinungen er unter Verteilung von Zensuren in einem Heftchen festhält. Seine Beobachtungen dreier besonders schöner Frauen decken sich mit entsprechenden Bemerkungen Sais, doch legt ihm dieser zunächst Yanfang, die Gattin des Seidenhändlers Quan ans Herz, ein Biedermann, der seine Gemahlin des öfteren alleine läßt. Allerdings unterläßt es Sai auch hier nicht, seinen Schützling mit eindringlichen Worten auf die Gefahren solch eines Unterfangens hinzuweisen, eine Warnung, deren Nichtbeachtung schließlich weitreichende Folgen haben wird. »[...] Die Regel lautet, daß es im allgemeinen gewagter und gefährlicher ist, Geldprotzen zu provozieren als kleine Leute – bis auf eine Ausnahme: Frauen aus großen Häusern verführen ist weniger riskant als Frauen kleiner Leute zu verführen.« »Und warum?« »Solche Geldprotzen pflegen sich nicht mit einer Frau zu begnügen, sondern leisten sich gleich drei Gattinnen und vier Nebenfrauen. Der Hausherr aber kann sich nicht zerteilen. Indes er bei einer schläft, kommen sich die anderen sechs zurückgesetzt und vernachlässigt vor und öden sich ihren einsamen Pfühlen. Ein alter Erfahrungssatz lautet: Voller Magen, weicher Pfühl Wecken Wünsche geil und schwül. Also ist es doch klar, daß solche unbefriedigten Luxusweiber bei ihrem müßigen Wohlleben weiter nichts als lenzliche Gedanken im Kopfe haben und nach irgendeinem Abenteuer förmlich lechzen. Wenn sich dann der richtige Keckling an so eine heranrankt, dann braucht er gar nicht erst um Gunst zu betteln, sie ist ihm von vornherein gewährt. So eine denkt gar nicht an Abwehr. Angenommen, der Hausherr erwischt die beiden in flagranti, so wird er sich gleichwohl schwer hüten, den Buhlen deswegen vor den Richter zu zerren, denn das würde öffentlichen Skandal bedeuten und Ehre und Ansehen seines Hauses schädigen. Das ertappte Pärchen aber auf der Stelle umbringen, davor wird er auch zurückschrecken. Denn er wird sich ungern von einer wertgeschätzten hübschen Kebse, die ihn teures Geld gekostet hat, trennen wollen. Wenn er aber sie schont, warum dann den Buhlen allein umbringen, der doch nicht mehr Schuld trägt als sie? Er wird ihn also laufen lassen. Anders der kleine Mann. Der kann sich nur eine einzige Frau leisten, die hütet er wie seinen Augapfel und überwacht sie bei Tag und Nacht. So eine ist dank einfacher Hausmannskost und kalter, ärmlicher Wohnverhältnisse an sich überhaupt nicht zu sinnlichen Anwandlungen aufgelegt. Sollte es dennoch einem fremden Mannsbild gelingen, bei ihr sinnliche Regungen zu entfachen und sie in dem höchst unwahrscheinlichen Falle von eins zu zehntausend zu verführen, so würde der betrogene kleine Mann, wenn er die beiden in flagranti ertappen sollte, wohl kaum zögern, entweder beide auf der Stelle umzubringen oder den Verführer vor den Richter zu schleppen. Kleine Leute scheren sich einen Dreck
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Die WELT DER GEFÜHLE um Skandal und guten Ruf des Hauses. Du siehst also, es ist riskanter, die 811 Hausehre des kleinen Mannes anzutasten als die der Geldprotzen.«
Rein theoretisch bleibt demnach keine große Wahl, wenn die Frauen aus reichen Häusern sich nicht öffentlich zeigen und die der kleinen Leute der strengen Aufsicht des Gatten unterstehen. Es entspannt sich sodann ein langes Gespräche über Liebespraktiken und Aphrodidisiaka, deren Nutzen Sai in Frage stellt. Doch auch die Inspektion seines Gemächtes durch den Freund fällt lange nicht so positiv aus wie Wei sich das erhofft hat. Schließlich muß er sich sagen lassen, daß sein »blasses, mattes Stengelchen, dessen Äderchen und Sehnen kaum sichtbar sind« kein großes Aufsehen in der Damenwelt erregen wird, denn es erreicht damit kaum ein Drittel der Penisgröße von normalen Männern. Damit ist seine Ausgangslage in jeder Hinsicht von einem Mangel gekennzeichnet und weit weniger günstig als die des Ximen Qing, der wenigstens von der Natur mit einem prächtigen Glied ausgestattet ist. Ernste Zweifel kommen daher in dem armen Scholaren auf, der nunmehr gezwungen ist, sein vergangenes Liebesleben mit ganz anderen Augen zu betrachten. Er entschließt sich daher zu einem einzigartigen operativen Eingriff, dessen Ablauf ihm plastisch geschildert wird: »[...] erst müssen ein junger Rüde und eine junge Hündin herbeigeschafft werden; sie werden zunächst getrennt voneinander in einem Hundezwinger eine Zeitlang gut aufgefüttert, dann aufeinander losgelassen; natürlich wird es nicht ausbleiben, daß sie sich bespringen; während sie mitten bei ihrem Geschäft und noch nicht fertig sind, müssen sie gewaltsam getrennt werden; nun ist so ein Rüdenglied ein sehr heißblütiges Ding, hat es einmal Eingang bei der Hündin gefunden, dann schwillt und dehnt es sich zum Mehrfachen seiner normalen Dicke und Länge; nach dem Erguß braucht so ein Rüde schon wer weiß wie lange Zeit, ehe er sein Glied wieder herausziehen kann, geschweige denn vor dem Erguß, so fest steckt es drin; diese Zeitspanne kurz vor dem Erguß muß man benutzen, um ihm das Glied mit einem scharfen Messer abzutrennen; hierauf löst man es behutsam aus der Scheide der Hündin und zerschneidet es in vier Längsstreifen; jetzt wird das Glied des Patienten mit Hanfsud örtlich betäubt und gegen Schmerz unempfindlich gemacht; hierauf wird es durch vier Längsschnitte tief aufgeschlitzt, und in jede Kerbe wird ein entsprechender Streifen des noch pralldicken Rüdengliedes eingefügt, sodann werden die vier Einschnittstellen mit einer geeigneten Wundsalbe bestrichen, die eine baldige Zuheilung der wunden Stellen herbeiführt; bei den Einschnitten und der Einpflanzung ist darauf zu achten, daß die innere Harnröhre nicht verletzt wird, eine Verletzung könnte Entzündung und unter Umständen die künftige Versteifungsunfähigkeit des Gliedes zur Folge haben. [...] Nach einem Monat Bettruhe werden sich die derart eingepflanzten Teile des Rüdenglieds mit dem Glied des Patienten ähnlich wie Wasser mit Milch verwachsen und verschmolzen haben, daß ein 811
Ebd., Kap. 5, S. 135f.
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Li Yu und sein Werk Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan) neues einheitliches Glied entstanden ist [...] Bei künftigem Geschlechtsverkehr aber wird das neue Glied die Natur und Kraft eine heißblütigen Rüdengliedes hervorkehren, es wird zur mehrfachen Dicke des Patientenglieds im unerregten 812 Zustand anschwellen.«
Bestens ausgestattet macht sich Wei an die Verführung der Frau des Seidenhändlers Quan. Bald hat dieser jedoch die ganze Wahrheit um die Affäre der Yanfang mit dem Scholaren erfahren. Er schwört Rache, will Wei Yangsheng aber nicht einfach töten, sondern ihm mit gleicher Münze heimzahlen und dessen erste Frau Tie Yuxiang verführen. Damit nimmt das Drama seinen Lauf. Quan zieht Erkundigungen über Weis Herkunft ein, löst seinen Haushalt auf und begibt sich auf die Reise. Es gelingt ihm, bei Herrn Tie eine Anstellung als Pächter zu finden und nach und nach das Vertrauen der Yuxiang zu gewinnen, die daheim das traurige Leben einer Strohwitwe führt. Ausgerechnet die Lektüre der schlüpfrigen Bücher, die ihr Wei hinterlassen hat, haben alle Skrupel wegen einer Liebschaft mit dem Pächter beseitigt. Als Yuxiang kurze Zeit später schwanger wird und den Zorn des Vaters fürchten muß, flieht sie mit Quan und einer eingeweihten Zofe namens Ruyi aus dem Haus. Damit ist ihr die Rückkehr verwehrt, obwohl sie in den Wirren des Aufbruchs das Kind verliert. Quans Rache ist mit der Verführung gelungen, er und Wei Yangsheng, der von allem noch nichts ahnt, sind quitt. Skrupellos fährt der ehemalige Seidenhändler in seinem Plan fort und verkauft die ahnungslose Yuxiang nach der Ankunft in der Hauptstadt in ein exklusives Freudenhaus. Da sie sich in ihr Schicksal findet und Talent zeigt, ist sie bald eine begehrte Kurtisane, deren Ruf bis weit über die Grenzen der Stadt reicht. Unter ihren Besuchern befinden sich auch die Gatten der Xiangyun sowie der beiden Duan-Schwestern. Damit schließt sich der Kreis der Vergeltung, haben sich die gehörnten Ehegatten für Weis Taten in ihrer Heimat gerächt. Quan, der sein eigenes Verhalten nach einiger Zeit selber als zu übertrieben ansieht, beschließt, der Welt zu entsagen und sein Leben von da an der Buße zu weihen. Er findet Aufnahme bei dem Mönch Gufeng und gelangt nach zwanzig Jahren der Askese zur Vollendung. Yuxiang erwirbt sich einen Ruf als Kurtisane. Nicht ahnend, daß es sich bei ihr um die eigene Gattin handelt, begibt sich Wei bei der Nachricht von der sagenhaften Liebhaberin in die Hauptstadt. Schwiegervater Tie, bei dem er unterwegs einkehrt, verheimlicht die Flucht der Tochter und gibt lediglich an, sie sei vor kurzem verstorben. Er läßt Wei an einem leeren Sarg die Totengebete verrichten – eine der vielen humorvollen Szenen, die sich in dem Roman finden. Geschickt hat Li Yu über siebzehn Kapitel hinweg die Fäden gesponnen, die jetzt im letzten Romanteil zusammengeführt werden. Nach seiner Ankunft in 812
Jou Pu Tuan, Kap. 6, S. 169f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Peking wird Wei Yangsheng schnell mit der Besitzerin der »Grotte für die Halbgötter« handelseinig, um gegen einen hohen Betrag eine Nacht mit der sagenumwobenen Kurtisane verbringen zu dürfen. Yuxiang wird jedoch zuerst auf ihn aufmerksam, erkennt den Gatten und flüchtet. Während Wei noch Aufklärung von der Besitzerin des Etablissements verlangt, wägt Yuxiang ihre Aussichten ab. Die Schande einer Gegenüberstellung mit dem Mann ist für sie derart unerträglich, daß sie sich erhängt. Der Anblick der Toten ist auch ein Schock für Wei Yangsheng, erst durch die Zofe Ruyi erfährt er die Zusammenhänge. Mit bitterer Ironie bringt Li Yu hier die Verstrickung der Schicksale seiner Protagonisten zum Abschluß: Hatte Wei nicht stets angegeben, die schönste Frau im ganzen Land für sich gewinnen zu wollen? Da war sie nun, die vielgerühmte Liebhaberin, seine eigene Gattin, deren Fähigkeiten er nicht erkannt hatte. Durch sein eigenes frivoles Treiben war sie für immer verloren. Die Worte des Mönchs Gufeng kommen Wei Yangsheng unweigerlich in den Sinn: Buhle nicht um das Weib deines Nächsten, dann wird dein Nächster auch nicht um dein eigenes Weib buhlen. Ungewollt klingt hier eine Nähe zu dem zehnten christlichen Gebote an – »Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel«. Alle Vorhersagen Gufengs scheinen sich damit bewahrheitet zu haben, wie Wei Yangsheng durch eine blitzartige Erleuchtung bewußt wird: Nun habe ich drei Jahre lang auf dem »Andachtspolster aus Fleisch« gründlich Götzendienst gehalten, habe Süße und Bitterkeit, beißende Säure und stechende Schärfe, habe alle seine Geschmäcker durchgekostet und zur Genüge geschmeckt – worauf warte ich noch? Die Zeit zum Erwachen ist da! [...] Der heilige Mann, der »Einsame Gipfel« [Gufeng] ruft nach mir! Ich höre seinen Ruf, und diesmal soll er nicht vergeblich nach mir rufen! Auf zu ihm! Reumütig will ich vor ihm hinknien und hundertmal meine Stirn in Demut vor ihm auf den Boden schmettern, mein Unrecht will ich bekennen und ihn um Aufnahme anflehen, auf daß er mir die Furt durch den reißenden Strom der Verwirrung zeige und mir zum 813 rettenden Ufer der Erlösung hinüberhelfe.
Willig nimmt Gufeng den zurückgekehrten Scholaren bei sich auf, doch noch immer regt sich die Lust im Herzen Wei Yangshengs. Nach einem Traum von den sechs Frauen, die sein Leben bis dahin bestimmt haben, sucht Wei zunächst, die Sinne mit der Vertiefung in die Sutren zu zerstreuen, erst als das nichts hilft, begeht er eine folgenschwere Tat und entmannt sich selbst: »Wirst du wohl artig sein, Plagegeist! Bist die Wurzel allen Übels, Quell aller meiner Sünden gewesen und machst mir noch das Leben schwer! Kusch dich!« schalt »Tumber Kies« im stillen den Störenfried und versuchte, sich abzulenken 813
Ebd., Kap. 18, S. 539.
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Li Yu und sein Werk Andachtsmatten aus Fleisch (Rouputuan) und seine aufgerührten Sinne zu beruhigen, indem er zu einer Sutrarolle griff und eine Weile bei flackerndem Kerzenschein in den heiligen Texten las. Als auch das nichts half, als der böse Dämon in seinem Leib gleichwohl weiter rumorte und keine Ruhe geben wollte, da verlor er denn doch die Geduld. [...] Sein Entschluß war gefaßt. Er wartete nicht erst den nächsten Morgen ab, nein, noch in dieser Nacht führte er sein Vorhaben aus. Mit einer Kerze in der Hand schlich er sich in die Küche, holte sich ein Gemüseschnittmesser mit besonders scharfer, dünner Schneide, wetzte die Schneide vorsorglich an der Kante eines irdenen Wasserkruges noch schärfer, dann setzte er das Messer an und schnitt mit Todesverachtung zu. Und siehe da, die Amputation war geglückt. Es hatte nicht einmal sonderlich wehgetan. Damit hatte er in mutigem Entschluß das letzte und stärkste Band zur Welt des roten Staubs durchschnitten. Von Stund an hatte er Ruhe und blieb gegen nächtliche Anfechtungen gefeit. Nichts konnte ihn fortan auf dem einmal eingeschlagenen Pfad zur Läuterung noch beirren 814 und wankend machen. Täglich nahm er zu an Erkenntnis und Erleuchtung.
Der Kraft der Entsagung können sich am Ende auch andere nicht entziehen. Neben Quan, den Wei Yangsheng am Berge des Einsiedlers wiedertrifft, findet auch Sai Kunlun seinen Weg in die Zurückgezogenheit, so daß die auf eigenartige Weise miteinander verknüpften Schicksale der Männer hier ihre Bestimmung finden.
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Ebd., Kap. 19, S. 552f.
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7. Vom Frauenhelden zum Pantoffelhelden – Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels
Die bisherigen Abschnitte über den erotischen Roman haben vor uns Bilder von Männern und Frauen entstehen lassen, die, ausgestattet mit einer überbordenden sexuellen Kraft ihre Triebe auslebten, den Leidenschaften bis zum Verderben frönten und damit nicht selten den eigenen sowie den Untergang anderer heraufbeschworen. Im Mittelpunkt der Darstellungen stand zumeist das Geschlechtliche selbst, beschrieben in großer Detailfreude. Selbst dort, wo wie im Falle des Jin Ping Mei der Anteil erotischer Szenen im Verhältnis zur gesamten Länge des umfangreichen Werkes als immer noch gering gelten muß, sind es ausgerechnet diese Passagen, die zunächst das Werturteil eines Lesers zu bestimmen scheinen. Will man unbedingt eine den frühen Vertretern des erotischen Romans bis hin zum Jin Ping Mei immanente geschlechtsspezifische Sichtweise der Vorgänge ermitteln, so wird die Feststellung wohl am ehesten lauten, daß sich hier androgene Ansätze zuhauf finden. Der Mann ist und bleibt das Maß aller Dinge, er hat stets die Wahl, und an seinem Verhalten entscheiden sich Wohl und Wehe von der Familie bis zum Reich. Was die Figuren in nichts weniger als dem Gewande makellosen Heldentums erscheinen läßt, ist ihre einseitige Orientierung auf die körperlichen Bedürfnisse sowie die Unfähigkeit, aus eigener Kraft den Weg aus dem Verderben zu finden. Was damit erreicht wird, ist Abstand und die Aufforderung zu Selbstreflexion. Mit der Überzeichnung von Gestalten wie Ximen Qing oder Wei Yangsheng wird kein Vorbildcharakter entworfen, sondern sie bildet vielmehr Ironisierung mit dem Ziel der Hinterfragung und der Kritik. Lediglich im Bild der sexbesessenen, mit zerstörerischen Kräften ausgestatteten Frau deutet sich eine tief in der Seele des Mannes sitzende Furcht an, die zuvor schon in den Sexualhandbüchern angeklungen ist und wohl auch hier ihren Ursprung im Widerstreit der gegensätzlichen Kräfte yin und yang hat. In einer Reihe von Romanen, die vermutlich in ihrer Mehrzahl um die Mitte des 17. Jahrhunderts zur Zeit des Wechsels der Dynastien Ming und Qing entstanden sind, ändert sich nun dieses Bild ganz merklich. Der Mann gibt zwar seine sexuellen Energien nicht vollkommen preis, doch verkommt er mit der Einbuße seiner virilen Kraft, seines Ansehens, seiner Macht und seiner Überlegenheit zum schlichten Pantoffelhelden. Der Bruch in dieser Darstellung erscheint derart kraß, daß sich die Frage nach den möglichen Gründen dafür förmlich aufdrängt. Ironische Distanz scheint aufgegeben zugunsten beißender Satire. Wo vorher Belustigung über den Männlichkeitswahn anklang, werden nun Verunsicherungen und Frustrationen spürbar, deren Ursachen nicht zuletzt in den unruhigen Zeiten zu suchen
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels
sind.815 Die Männergestalten des erotischen Romans brachten bei aller Verderbtheit in vieler Hinsicht noch eine Kraft und eine Lebensfreude zum Ausdruck, für die nun kein Anlaß mehr besteht. Sowohl symbolisch – wie wir an dem Vergleich der Zusammensetzung des Haushaltes von Ximen Qing mit dem Kaiserhaus sehen können – als auch in sehr direkter Form – es sei nur an das traurige Schicksal der Guizhen in Yu Gui Hong erinnert – war in der Vergangenheit die Sorge über das wirre Treiben bei Hofe und im gesamten Reich immer wieder angeklungen. Man könnte die vorsichtige Zurückhaltung sowie den Verzicht auf offene erotische Schilderungen schnell mit der Furcht vor einer verstärkten Zensur durch die neuen Herrscher erklären, der in der Folge alleine in der Ära des Qianlong-Kaisers (1736–1795) mehrere tausend Werke zum Opfer fielen.816 Als Gründe für die Unterdrückung literarischer Tendenzen durch die Behörden wurde Kritik an den Mandschu-Herrschern ebenso ins Feld geführt wie die Infragestellung der konfuzianischen Lehre bzw. die Verletzung der Moralauffassung. Doch das allein genügt nicht. Vielmehr ist festzustellen, daß die politische Desillusionierung zum Beginn der Qing-Dynastie unter der Bildungsschicht eine geistige Einwärtswendung hervorrief, die sich sowohl in den nunmehr gewählten literarischen Topoi als auch in dem Wissenschaftsbetrieb insgesamt ankündigte, angefangen von weniger inhaltsbzw. begriffsorientierten als vielmehr textkritischen Untersuchungen zur klassischen Philosophie wie z.B. bei Gu Yanwu (1613–1682) und der von ihm mitbegründeten kaozheng-Methode bis hin zu weniger verfänglichen philologischen Arbeiten durch einen Yan Ruoju (1636–1704).817 Es entsprach der hier nur mit wenigen Begriffen angedeuteten geistigen Rückzugstendenz, daß man sich auch in der Literatur verstärkt auf die private Sphäre konzentrierte, dabei jedoch weniger die intimen Bereiche in den Mittelpunkt stellte als vielmehr die Beziehungen der Geschlechter untereinander einer eingehenderen Betrachtung würdigte. Wie wir noch sehen werden, sollte man dabei mitunter zu erstaunlichen psychologischen Erklärungen gelangen, die in dieser Tiefe zuvor mit der Beschränkung auf den eher körperlichen Bereich nicht zu erlangen gewesen waren. Das Thema von Ehe und Familie rückt daher nahezu zwangsläufig in den Mittelpunkt der Schilderungen. Der Kampf mit den Feinden des Reiches war vorüber und verloren, doch wie stand es im Inneren der Familien selbst? Fand sich hier etwa das notwendige 815
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Vgl. dazu ausführlich T'IEN JU K'ANG: Male Anxiety and Female Chastity. A Comparative Study of Chinese Ethical Values in Min-Ch'ing Times, Leiden u.a.: Brill 1988. In dem Zusammenhang wird die Zahl von ca. zweitausend bis dreitausend Werken genannt. Vgl. dazu ausführlich LUTHER CARRINGTON GOODRICH: The Literary Inquisition of Ch'ienlung, New York: Paragon Book 1966. Vgl. dazu etwa SUSAN NAQUIN / EVELYN S. RAWSKI: Chinese Society in the Eighteenth Century, New Haven u.a.: Yale UP 1987, S. 64–72; WOLFGANG BAUER: Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München u.a.: Carl Hanser 1990, S. 518ff.
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Die WELT DER GEFÜHLE Glück, die Geborgenheit, nach der man sich sehnte? Konfuzius hatte bereits die Probleme des Zusammenlebens in dem inneren häuslichen Bereich in seinen Gesprächen anklingen lassen, wenn er mit lapidaren Worten bemerkte: »Mit Frauen sowie mit Untergebenen umzugehen ist schwierig. Ist man vertraut mit ihnen, so werden sie anmaßend. Hält man auf Distanz, dann sind sie unzufrieden.«818 Weit genauer faßte das da schon »Der Mann der Westlichen Zhou« (Xizhou sheng), der anonyme Verfasser des umfangreichen Romans Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt (Xingshi yinyuanzhuan) in seinem Vorwort zu dem Werk. Dort fügte er den Glücksvorstellungen des Menzius (372–289 v. Chr.), daß es sich bei den drei größten menschlichen Freuden um gesunde Eltern sowie Geschwister ohne Fehl, ein reines Gewissen und begabte Schüler handele noch eine vierte über die tugendhafte und sorgsame Ehegattin hinzu819, die sich darauf verstehe, ein behagliches Heim einzurichten, Streitigkeiten zu schlichten und zwischen den Bewohnern und Verwandten zu vermitteln.820 Der Bereich, der uns hier interessieren soll, bezieht sich also auf die Lebensumstände der Frauen innerhalb des Hauses und der Familie. Dabei fällt auf, daß die mißlichen äußeren Bedingungen ihrer Lage weder in den Prosatexten noch in der Erzählliteratur aufgegriffen werden. Die eigentliche Thematisierung der wirtschaftlichen Abhängigkeit, der eingebundenen Füße, der Unmöglichkeit, selbst bei ausreichendem Talent und Begabung einen Beruf ausüben zu können sowie der Unterwerfung unter die Gängelung durch den Vater vor der Heirat, unter den Gatten bei der Eheschließung und unter den Sohn nach dem Tod des Gatten ist der Literatur zum Beginn des 20. Jahrhunderts vorbehalten geblieben, die schließlich zur Politisierung dieser Probleme führte und in Forderungen nach konkreten Reformen mündete. Gegenstand der Literatur und der einschlägigen Schriften vor dieser Zeit waren vielmehr die Beziehungen zwischen den Familienangehörigen und speziell die zwischen den Ehegatten. Dort liegt uns in einer Art Spiegelbild in mehr oder weniger deutlicher Form ein Eindruck über die Reaktionen der Frauen auf die äußeren Bedingungen, unter denen sie lebten, vor: Nicht die wegen der 818
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KONFUZIUS: Gespräche, aus dem Chinesischen übersetzt und herausgegeben von RALF MORITZ, Frankfurt/M.: Röderberg 1983, Kap. 17, 25, S. 131. Vgl. die »Ermahnungen an die Frauen« (Nüjie) der Historikerin Ban Zhao (ca. 49–ca. 120) und ihre zentrale Forderung, die Frauen sollten »bescheiden, nachgiebig und respektvoll sein«, hier zitiert nach YENNA WU: The Chinese Virago. A Literary Theme, Cambridge/Mass. u.a.: Harvard UP 1995, S. 19. S. die hier zur Bearbeitung herangezogene Ausgabe Xingshi yinyuanzhuan, Shanghai: Shanghai guji 1985, Bd. 1, Vorwort S. 3. Der Roman liegt außerdem in einer auszugsweisen Übersetzung vor als P'U SUNG-LING: »Marriage as Retribution«, übers. von CHI-CHEN WANG, in: Chinese Middlebrow Fiction., hrsg. von LIU TS'UN-YAN, Hongkong: Chinese UP 1984, S. 41–94 bzw. in einer Übertragung der ersten zwanzig Kapitel als The Bonds of Matrimony / Hsing-Shih Yin-Yüan Chuan, (Bd. 1), a Seventeenth-Century Chinese Novel, übers. von EVE ALISON NYREN, Lewiston u.a.: Edwin Mellen 1995.
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verkrüppelten Füße entstandenen körperlichen Behinderungen und mangelnde Bewegungsfreiheit sind Thema, sondern die aus unserer heutigen Sicht zwangsläufigen und verständlichen Bestrebungen, sich wenigstens innerhalb des Hauses eine Machtposition zu schaffen; nicht die Auseinandersetzung mit der fragwürdigen Forderung, daß nur eine talentlose Frau ohne Bildung eine gute Hausdame abgebe wird aufgegriffen, sondern die Reaktion der überlegenen Frau, die sich über den nichtsnutzigen Ehemann belustigt; nicht die Hoffnung auf Abschaffung der Vielweiberei und des Konkubinats wird zum Ausdruck gebracht, sondern Wege und Mittel der Gattin, sich in dem komplizierten Beziehungsgeflecht mit ihren Konkurrentinnen zu behaupten. Das Bild, welches sich aus diesen Darstellungen ergibt, ist dabei ganz wesentlich geprägt von der Sichtweise der Verfasser. Man darf nicht vergessen, daß es in der Vergangenheit hauptsächlich Männer waren, die hier ihre Vorstellungen zu Papier brachten und daher wohl weniger an Veränderungen und Reformen als vielmehr an einer Beibehaltung des Status quo interessiert waren. In ihren Werken enthüllen sie Werte, Vorurteile und Wünsche, die wenig Verständnis für die Situation der Frauen erkennen lassen und sich in weiten Teilen als Mahnungen an die übrige Männerwelt verstehen, wie die Kontrolle über das andere Geschlecht aufrechtzuerhalten ist, wenngleich selbst weibliche Autoren den Hausdrachen in ihren Werken nicht mit großer Sympathie begegnen, wie wir am Beispiel der Himmelsblumen (Tianyuhua) noch sehen werden, hinter deren Verfasser namens Tao Zhenhuai man eine Frau vermutet. Unsicherheit und Furcht, die eigene Dominanz einzubüßen werden greifbar. Was entsteht, ist das männliche Konstrukt eines Hausdrachens als Warnung, die Praxis wohlgeordneter Familienverhältnisse nicht in Gefahr geraten zu lassen. Wer hier versagt, wird schnell zum Pantoffelhelden gestempelt. Zwar standen dem Mann angefangen von der körperlichen Züchtigung bis hin zur Scheidung eine ganze Palette von Mitteln zur Verfügung, um eine widerspenstige Gattin zu zähmen, doch problematisiert wird das in den Texten kaum. Oft klingt dabei eine tief in der Seele des Mannes gründende Furcht an: Die Frau als Schöpferin und als Zerstörerin, als jemand, der sowohl anziehend ist und Kinder gebären kann als auch jemand, der den Mann ins Verderben zu stürzen imstande ist. In der Perpetuierung dieser Furcht begannen die Gelehrten vor dem Hintergrund ehelicher Mißstände, die deutlich dem konfuzianischen Ideal widersprachen, das stereotype Bild des wehrlosen Mannes zu zeichnen, der den Drangsalierungen durch die Gattin ausgesetzt war: Das Übel konnte in der hoffnungslosen Schwärmerei für die Bettgenossin ebenso liegen wie in der Mesalliance mit einer Dame aus reicherem Hause, die daraufhin die Herrschaft für sich beanspruchte. Danach drohte jeder Ehemann gleich welcher Herkunft, Bildung und Persönlichkeit zum Opfer der Frau zu werden. »Jeder Topf findet seinen Dekkel« – nach diesem Motto bemühte sich Xie Zhaozhe (1567–1624), einen möglichst umfassenden Eindruck von der Gefahr des Pantoffelhelden-Syndroms zu geben:
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Die WELT DER GEFÜHLE Einfältige und verachtenswerte Männer fürchten ihre Gattinnen, weil sie von deren Macht eingeschüchtert werden; weise und würdevolle Männer neigen aus Nachsicht und Narrheit zu Angst gegenüber der Ehefrau; Männer bescheidener Herkunft zeigen Furcht vor der Frau, da ihr Lebensunterhalt von dieser abhängt; desgleichen reiche und mächtige Herren, die Streitigkeiten aus dem Weg gehen wollen und mit Blick auf den häuslichen Frieden zu Kompromissen neigen. Häßliche Frauen werden gefürchtet, da sie die Macht im Hause an sich reißen, junge Frauen, weil sie den Mann im Bett um den Verstand bringen; Müttern von Söhnen begegnet man mit Ehrfurcht; Frauen ohne Söhne verstehen jedermann einzuschüchtern. Es findet sich kaum ein Herr, der nicht in eines von diesen 821 acht Rastern paßt und der imstande wäre, wirklich seinen Mann zu stehen.
Xie Zhaozhes Kategorien klingen reichlich fixiert auf bestimmte Typen von Männern und Frauen und sollen den Eindruck des Umfassenden vermitteln. Was bei ihm und seinen Zeitgenossen wie Lü Kun (1536–1618) oder Feng Menglong (1574–1646) jedoch angedeutet wird, ist die Sorge vor mangelndem Durchsetzungsvermögen, Feigheit und Gesichtwahren, die aus ihrer Sicht den Absturz zum Pantoffelhelden erst ermöglichen. Und so fehlt es auch nicht an guten Ratschlägen, wie die aufmüpfige Gattin zur Raison zu bringen sei, angefangen von den gängigen Formen der Prügel und Verstoßung bis hin zu weniger orthodoxen Formen der ärztlichen Behandlung, der Flucht, der Vermittlung durch Verwandte etc. Auf einige dieser Kuren werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen.822 Die schiere Menge der literarischen Arbeiten über den Hausdrachen veranlaßte Gelehrte wie Xie Zhaozhe gar dazu, aus den Schriften Feststellungen über die geographische Verbreitung des Phänomens zu treffen, die in das Ergebnis mündeten, daß vor allem die Gegenden Südchinas davon betroffen seien, was aber angesichts des publizistischen Schwerpunktes, der sich in dieser Region befand, nicht weiter wunder nimmt. Dennoch ist hier in der Häufigkeit, mit der man sich mit der Eifersucht befaßte, vor dem Hintergrund geringerer ideologischer Beschränkungen gegenüber nonkonformistischem Verhalten sicher auch eine zunehmende Tendenz von Frauen, sich in Befreiungsschlägen Geltung gegen die Dominanz der Männer verschaffen, erkennbar. Das vermehrte Auftreten von Dichterinnen zum Ende der Ming- und während der Qing-Dynastie belegt eine wachsende Bildung unter den Frauen sowie den Anspruch, in bestimmten Genres mit den Männern gleichzuziehen. Wir haben die Frau in den vorstehenden Abschnitten insbesondere als Herausforderin der männlichen Vitalität und Bedrohung der familiären sowie der staat821 822
XIE ZAHOZHE: Wu zazu, S. 308 bzw. 312, hier nach WU: The Chinese Virago, S. 37. Vgl. dazu auch ausführlicher mit Bezug auf weitere Quellen KEITH MCMAHON: Misers, Shrews, and Polygamists. Sexuality and Male-Female Relations in Eighteenth-Century Chinese Fiction, Durham u.a.: Duke UP 1995, S. 66–69.
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels
lichen Ordnung kennengelernt. Selbst dort, wo die weiblichen Gestalten wie Daji in den Metamorphosen der Götter, die Damen Zhao Feiyan und Zhao Hede in den Vergnüglichen Geschichten aus dem Zhaoyang-Palast oder wie die Tang-Kaiserin Wu Zetian nicht in einem historischen Rahmen durch ihre Nähe zum Herrscher in unmittelbarer Form als gefährliche Verführerinnen auftreten und damit den dynastischen Interessen schaden, wird in der Vermittlung des familiären Hintergrundes ein ähnliches Anliegen sichtbar: Die Übernahme der häuslichen Macht des Gatten durch die Ehefrau spiegelt die Umkehrung der politischen Hierarchie wider und ist zu vermeiden. Hinter jeder selbstbewußten und machtorientierten Frau taucht damit das Bild tyrannischer Gestalten auf, die ihre Herrschaft mißbrauchen. Ganz gleich ob Nebenfrau im kaiserlichen Harem oder Konkubine eines reichen Mannes, stets tritt die Frau als Bedrohung der Macht auf. Lediglich jene weiblichen Figuren, die sich dem ritterlichen Kodex anpassen und als Amazonen die vaterländischen Interessen mit dem Schwert verteidigen, deuten ein positives Bild an, wie wir am Beispiel der Mulian gesehen haben. Doch gerade hier ist klar geworden, wie sehr sie sich als Frau zurücknimmt, handelt doch selbst eine Kämpferin wie Mulian zunächst unerkannt in den Kleidern eines Kriegers. In den Romanen zur Mitte des 17. Jahrhunderts, die uns hier interessieren sollen, stellt sich das Problem nun etwas anders dar. Bedroht werden nicht explizit die staatliche und die familiäre Ordnung, sondern Dasein und Seelenheil des Mannes selbst.823 Ausschlaggebend ist dabei mit der Eifersucht (du) ein charakterlicher »Defekt«, der in einer Partnerbeziehung mit dem ausschließlichen Anspruch auf die Verfügbarkeit des anderen als eine Reaktion auf die Konkurrenz durch Dritte auftritt und darstellt. In der monogam angelegten ehelichen Idealform Chinas »ein Mann und eine Frau« (yifu yiqi) kann die Eifersucht grundsätzlich bei beiden Ehepartnern auftreten. Von den Schriftstellern und Gelehrten allerdings wurde die Eifersucht unter Aussparung des Hinweises auf die von vielen Männern gewählte Polygamie nahezu ausschließlich als weibliche Eigenschaft dargestellt, was sich übrigens schon in der Zusammensetzung des Begriffs du aus dem Klassenzeichen »Frau« (nü) und dem Lautzeichen »Tür« (hu) andeutet. Die spezifische Situation der chinesischen Frau in der Gesellschaft erklärt ihre Eifersucht dabei eher aus der Sorge um die Einbuße des eigenen sozialen Status als aus dem Liebesverlust durch den Mann. Ihr Gegenstand sind naturgemäß in erster Linie die weiblichen Rivalinnen in der Umgebung des Mannes: Konkubinen, Dienerinnen, Prostituierte oder Frauen anderer Männer, mit denen der eigene Gatte fremdgeht, ganz gleich, welcher sozialen Schicht sie angehören. Weit weniger häufig finden sich hingegen Hinweise auf die Eifersucht in bezug auf die Talente und Erfolge anderer.
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Vgl. zum Problem der männlichen Identitätskrise u.a. MARAM EPSTEIN: Beauty is the Beast: The Dual Face of Woman in Four Ch'ing Novels, Ph.D. an der Princeton University 1992, S. 1–53.
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Die WELT DER GEFÜHLE Die literarischen Vorläufer der Romane des 17. Jahrhunderts über den Pantoffelhelden reichen von biographischen Aufzeichnungen aus der Han-Zeit über einzelne Anekdoten in den Tang-zeitlichen Erzählsammlungen bis hin zu Dramenwerken der Ming-Dynastie. Pan Jinlian im Jin Ping Mei stellt in vielfacher Hinsicht eine Übergangsform fort von der symbolisch angelegten Herausforderin männlicher und insbesondere kaiserlicher Herrschaft, von der Inhaberin bedrohlicher yinKräfte und hin zu dem lebendige menschliche Züge tragenden Hausdrachen dar, der von nun an mehr und mehr in den Mittelpunkt tritt. Wang Tingnas (gest. 1596) Schauspiel Das Brüllen des Löwen (Shihouji) dürfte das erste Werk sein, in dem das komplizierte Dreiecksverhältnis zwischen einem Ehemann, seiner Gattin und einer Konkubine in längerer Form behandelt wurde und wo aufgezeigt wird, wie die Eifersucht der Frau mit der Zeit vernünftigem Zureden weicht. Angefangen bei Verfassern und Herausgebern von Anekdoten und Erzählungen wie Feng Menglong über Yuan Mei (1716–1797) bis hin zu Shen Qifeng (1740/41–?) büßt das Thema bis ins 18. Jahrhundert nichts von seiner Beliebtheit ein. Wenden wir uns nach diesen einführenden Bemerkungen nun dem ersten der Romane aus der Mitte des 17. Jahrhunderts zu, die das Problem der Eifersucht ausführlicher problematisieren. Wer sich hinter dem Verfasserpseudonym »Mann der Westlichen Zhou« der mit hundert Kapiteln schon im Umfang erkennbar an die Tradition der vier großen Vorgängerromane anknüpfenden Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt verbirgt und wann dieses Werk genau abgefaßt worden ist, muß weiterhin als ungeklärt gelten. Der lange Zeit von den chinesischen Literaturwissenschaftlern nicht beachtete Roman wurde erst zum Ende des 19. Jahrhunderts durch Kritiker wie Li Baoxun (1859–1915) und Li Ciming (1830–1894) einer eingehenderen Würdigung unterzogen und noch in den dreißiger Jahren von Hu Shi (1891–1962) vor allem aufgrund motivischer Übereinstimmungen dem Pu Songling (1640–1715) zugeschrieben in der Annahme, eine der Gespenstergeschichten mit dem Titel »Jiang Cheng« (nach dem Namen einer Frau, die ihren Ehemann unterdrückt) in Pus Erzählsammlung Liaozhai zhiyi bilde die Urfassung der Ehegeschichten. Hu Shis Vermutung wurde jedoch in der Folge vor allem aufgrund von Sprach- und Stilanalysen widerlegt,824 so daß die Frage der Verfasserschaft weiterhin offenblieb. Neuere Untersuchungen ergaben zumindest Hinweise auf den möglichen Herkunftsort des ominösen »Mannes der Westlichen Zhou«, da sich herausstellte, daß die im Pseudonym verwendete Bezeichnung »Xi Zhou« nicht unbedingt auf die frühe chinesische Dynastie abhebt, sondern als Ortsbezeichnung für ein Lehen gleichen Namens in der heutigen Provinz He'nan aufzufassen ist. Da nun einer der Protagonisten der Ehegeschichten namens Xing Gaomen (genannt in Kap. 16) just aus dieser Provinz stammt, ist vermutet worden, 824
Vgl. MONIKA MOTSCH: »Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt. Ein Roman aus der Qing-Dynastie«, in: Orientierungen 1/1991, S. 79f.
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels
daß sich hinter ihm auch die wahre Gestalt des Verfassers versteckt.825 Recht ungenau sind bis heute auch die Angaben über die Entstehungszeit des Romans. Ein erster Hinweis auf Ehegeschichten findet sich in einer bibliographischen Auflistung aus dem Jahre 1728 in einem Katalog chinesischer Bücher, die von Japan importiert wurden (Hakusaki shomoku). Da sich das Werk zu dieser Zeit bereits geraume Weile im Umlauf befunden haben dürfte, legte Sun Kaidi als früheste zeitliche Grenze seiner Entstehung die späten zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts fest, was er darüber hinaus nicht zuletzt aus einigen inhaltlichen Hinweisen auf historische Beamtengestalten im Roman ableitete, die um diese Zeit ihr Amt ausübten.826 In seinem äußeren Umfang und der erkennbaren Struktur ist Ehegeschichten Werken wie Die Reise in den Westen oder Jin Ping Mei ganz ähnlich und weist zunächst wie diese die typischen Merkmale von paarweise zu je sieben Zeichen angeordneten Überschriften sowie Erzähleinheiten mit jeweils zehn Kapiteln und den typischen Erzählformeln am Ende der Kapitel auf. Ein Novum stellt der Roman allerdings neben dem Fehlen von Versen und verdichtenden Prosapassagen auch insofern dar, als für jeden einzelnen Kapitelschluß eine andere Formel gefunden wird und der Werkaufbau sich nicht wie früher eine lockere Aneinanderfügung von Episoden präsentiert, sondern mit dem Thema der Wiedergeburt einem festen Plan folgt, nach dem die Protagonisten in zwei Existenzen erscheinen. Sein stark der gesprochenen Sprache angeglichener Stil mit Einflüssen durch die Mundart von Shandong hebt das Werk in dieser Hinsicht deutlich von den großen Vorläufern ab. Wie vielen anderen Werken seiner Zeit, so liegt auch Ehegeschichten mit dem Hinweis auf die karmische Vergeltung ein einfaches didaktisches Schema zugrunde. Dabei stehen immer wieder die Konflikte zwischen dem »universalen Prinzip« (tianli) und dem »Willen des Individuums« (renyu) im Vordergrund, die seit dem 16. Jahrhundert durch das moralische Dilemma zwischen größeren und geringeren Werten bzw. zwischen dem freien Willen und der Vorherbestimmung herausgearbeitet werden. Nun, ein Jahrhundert später, wird li (Prinzip) in einer weniger metaphysischen Weise definiert und ersetzt als der moralische Befehl eines rationalen Universums die Bedeutung unverrückbarer Wahrheiten jenseits der menschlichen Kontrolle, womit die individuelle Verantwortung des Menschen in stärkerem Maße betont wird.827 Der Verfasser der Ehegeschichten bringt diese Zusammenhänge deutlich zum Ausdruck, wenn er etwa in seinem Vorwort in bezug auf die Ehe schreibt: 825
826
827
Vgl. dazu ausführlich WANG SUCUN: »Bemerkungen zum Herrn von Xi Zhou, dem Verfasser der Ehegeschichten« (Xingshi yinyuan zuozhe Xi Zhousheng kao), in: YUE HENGJUN (Hg.): Auswahl von Beiträgen zur klassischen chinesichen Literatur (Zhongguo gudian wenxue lunwen jingxuan congkan), Taipeh: Youshi wenhua shiye 1980, S. 217–224. Vgl. dazu GLEN DUDBRIDGE: »A Pilgrimage in Seventeenth-Century Fiction: T'ai-Shan and the Hsing-Shih Yin-Yüan Chuan«, in: T'oung Pao, Bd. LXXVII, 4– 5 (1991), S. 231. Vgl. ANDREW H. PLAKS: »After the Fall: Hsing-shih yin-yüan chuan and the SeventeenthCentury Chinese Novel«, in: HJAS, Bd. 45, Nr. 2 (1985), S. 552f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Wie allseits bekannt ist, hängt die Zusammenführung von zwei Eheleuten wie auch der Aufstieg eines Herrschers oder eines berühmten Mannes in karmischer Form von den jeweiligen früheren Existenzen ab. Es ist der alte Mondmann, der die Beine der Partner, die in einem späteren Leben zusammengebracht werden, mit seinem roten Band aneinanderbindet. Dann ist es ganz gleich, ob sich beide an den entgegengesetzten Ufern des Ozeans befinden, in den entlegensten Regionen unter dem Himmel leben oder Angehörige zweier verfeindeter Staaten wie Wu und Yue sind – sie finden am Ende unweigerlich zusammen. Der Auffassung solcher karmischen Vorherbestimmung zufolge sollten Eheleute friedlich und harmonisch beisammenleben. Weshalb nur, so mag man sich fragen, ist es dann so, daß Mann und Frau in neun von zehn Ehen nicht gut miteinander auskommen? Hier stellt sich einer klüger oder anziehender als der andere heraus, dort haßt ein Gatte seine Frau oder sie ist grausam zu ihm. In wieder anderen Fällen kommt es vor, daß ein Mann irgendeiner Dirne den Vorzug vor der eigenen Gattin gibt oder die Frau sich hinter seinem Rücken heimlich einen Liebhaber nimmt. Endlos scheinen die Formen, in denen vom Ideal abgewichen wird, unzählig die Kümmernisse, unter denen man in einer solch unglücklichen Verbindung zu leiden vermag. Verehrter Leser, vermögen Sie mir zu erklären, was es mit derartigen karmischen Mißverhältnissen auf sich hat? Es wird alles damit zu tun haben, was für ein Verhalten die Menschen in ihrem früheren Leben an den Tag gelegt haben, das sich für uns in unergründlichem Dunkel befindet und in das nur der Stern des Schicksals Einblick erhält. Wenn man auf eine Ehefrau trifft, die eine gute Haushälterin ist, sich pietätvoll gegenüber den Schwiegereltern verhält, dem Gatten mit Respekt begegnet, sich der Schwägerin freundlich zeigt und es auch sonst in nichts an Sorge fehlen läßt, dann wird sie in einer früheren Existenz mit Sicherheit entweder ein enger Freund ihres jetzigen Mannes, eine ihm seelenverwandte Person oder aber jemand gewesen sein, der in seiner Schuld steht. Das ist es, was wir eine gute Ehe nennen: Zwei Eheleute, die einander von Herzen zugetan sind, sie enthaltsam und er weise. Zwei, die glücklich wie die Fische im Wasser sind und einander so wenig zu entbehren vermögen wie der Lack das Holz. Doch wie steht es mit den weniger Glücklichen? Mag sein, daß einer der beiden in diesem Fall seine Macht mißbrauchte, um den andern zu quälen. Oder aber vielleicht hat einer der beiden in glückloser Ehe zusammengeführten Partner sich in einer früheren Existenz etwas zu Schulden kommen lassen, sich auf Kosten des anderen bereichert, seinen Tod durch einen verräterischen Akt herbeigeführt. Das mißhandelte Opfer, das sich damals für das ihm angetane Unrecht nicht rächen konnte, ist ihm nun in alter Feindschaft verbunden. Verehrter Leser, [...] Ihnen wird sicher nicht entgangen sein, um was für eine einzigartige und enge Beziehung es sich bei der Ehe handelt. Keine Beziehung, nicht einmal die zwischen Ihnen und Ihren Eltern oder Ihnen und Ihren Geschwistern ist so eng und intim wie die mit dem eigenen Ehepartner. Und eben weil das so ist, findet 828 sich auch nirgends mehr Haß als zwischen Eheleuten. 828
Ehegeschichten, Bd. 1, Vorwort S. 4f.
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels
Abhebend auf eben die Themen der Wiedergeburt und Vergeltung sind die Ehegeschichten in zwei Teile unterteilt, wobei der erste und kürzere, Kapitel 1–22 umfassende Teil zunächst die Hintergründe für die dramatischen Ereignisse in der Ehe von Di Xichen und Xue Sujie schildert. Unter Vorgriff auf die spätere Tötung eines heiligen Fuchses durch Chao Yuan, eben einer der Akte, die nach Vergeltung schreien, ruft der Verfasser zunächst zu Verbundenheit mit der Natur und ihren Geschöpfen, vor allem den Tieren auf. Damit wird sein Anliegen des Harmoniestrebens weit über das Eheleben hinausgehoben und auf das gesamte irdische Umfeld des Menschen erweitert. Die eigentliche Geschichte ist ins 15. Jahrhundert verlegt und hebt nun an mit dem Bericht von eben dem Chao Yuan aus der Stadt Wucheng in der Provinz Shandong, dem nichtsnutzigen Sohn des Gelehrten Chao Sixiao, der dem Jungen sein wildes Treiben wie die Teilnahme an Jagden und Ausflügen zumeist durchgehen läßt. Nach dem Arrangement der Hochzeit Chao Yuans mit Du Jishi nimmt Vater Sixiao seinen eigenen beruflichen Aufstieg in Angriff und gelangt über die Prüfungen in der Hauptstadt an einen hochdotierten Magistratsposten im Norden des Landes. Aus dem unverhofften Reichtum, mit dem die Familie nun gesegnet ist, zieht vor allem Chao Yuan Gewinn, schafft sich Diener und Pferde an und beginnt, ein Leben im großen Stil zu führen. Mit der Zeit ist ihm auch Gattin Jishi nicht mehr gut genug, er fängt an, sie zu prügeln, und alle ihre Drohungen, sich umzubringen, lassen ihn kalt, ja, er wünscht sich gar ihren baldigen Tod. Es bleibt nicht aus, daß sich Chao Yuan bald nach anderen Frauen umsieht, erst poussiert er mit den Zofen im Hause, dann wendet er sich einer gewissen Zhen'ge zu, der Schauspielerin in einem lokalen Ensemble, die schließlich in einem Trakt des Anwesens untergebracht und mit Schmuck und Kleidern überhäuft wird. Eines Tages regen Freunde einen Jagdausflug an. Chao Yuan ist sogleich Feuer und Flamme. Auf ihre Bitte hin, erlaubt er Zhen'ge die Teilnahme. In aufwendiger Aufmachung begibt man sich zur Jagd. Nun trägt es sich zu, daß am Yongshan ein alter Fuchsgeist lebt, der in Gestalt einer Frau die jungen Männer betört. Zufällig sieht der Fuchsgeist an diesem Tag den notorischen Schwerenöter Chao Yuan und will ihn verführen, Chao wiederum ist sogleich angetan von der lieblichen Erscheinung. Doch die Jagdhunde wittern, daß es mit der Gestalt nichts Gutes auf sich hat, schlagen heftig an. Der Fuchsgeist nimmt daraufhin seine ursprüngliche Gestalt an, sucht unter dem Pferd des Chao Yuan Schutz, in der Hoffnung auf Rettung. Doch Chao Yuan ist von grausamer Natur. Er greift nach Pfeil und Bogen und tötet den Fuchs – der tausendjährige Fuchsgeist haucht das Leben aus. Chao Yuan erkrankt bereits bei seiner Rückkehr in die Stadt, ein erstes Anzeichen für die zu erleidende Strafe. Der in der Ferne auf seinem Beamtenposten weilende Vater Sixiao ahnt von dem unredlichen Treiben des Sohnes in der Heimat nichts, wird aber in einem Traum gewarnt und heißt Chao Yuan in einem Brief, ihn mit der Gattin in Tongzhou zu besuchen. Da die Eltern von der Konkubine nichts wissen, schwindelt
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Die WELT DER GEFÜHLE Chao Yuan ihnen vor, Jishi habe eine Fehlgeburt gehabt und reist mit Zhen'ge nach Tongzhou, wagt aber bei der Ankunft nicht, den Eltern mit der Konkubine unter die Augen zu treten und mietet daher ein Haus außerhalb der Stadt. Nach und nach jedoch kommt die Wahrheit ans Licht, und obgleich die Eltern über die Verbindung nicht sonderlich erfreut sind, bleibt ihnen mit Blick auf das Glück des einzigen Sohnes nichts übrig, als das Verhältnis zu akzeptieren. Es gelingt Chao Sixiao in der Folge, dem am Studium wenig interessierten Sohn wenigstens durch Kauf einen Beamtenposten zu verschaffen, und Chao Yuan begibt sich alsbald in die Hauptstadt, um für den Vater etwas in der Regelung von Bestechungsvorwürfen zu erreichen, die gegen ihn erhoben worden sind. Er findet die Stadt in Aufruhr wegen der Tartaren-Überfälle. Der Kaiser ist gefangengenommen und verschleppt worden. Chao Yuan erfüllt seine Mission in der Hauptstadt. Kurze Zeit nach der Rückkehr nach Tongzhou verläßt er die Eltern und kehrt nach Wucheng zurück, ausgestattet mit zahlreichen Geschenken an die Schwiegertochter. Dort setzt nun die ohnehin durchtriebene und von Machtgelüsten verblendete Zhen'ge alles daran, ihre Rivalin, die Hauptgattin Jishi, auszuschalten. Am Ort in Wucheng gibt es den Nonnenorden der Weiß-Roben. Die junge Ordensfrau Hai Hui freundet sich mit der buddhistischen Nonne Guo an und finden in der gläubigen Jishi eine Patronin. Eines Tages sieht die Zhen'ge die beiden Nonnen Hai Hui und Guo aus den Gemächern der Jishi treten. Da Guo von stabiler Gestalt ist, nimmt sie an, Chao Yuans Hauptgattin habe mit einem buddhistischen Mönch und einem taoistischen Priester ein Stelldichein gehabt und führt daher lauthals Klage gegenüber dem Ehemann. Dieser ruft das Gesinde herbei, doch nur eine Zofe gibt zu bedenken, daß man Hai Hui und Guo gesehen habe, die übrigen stimmen der Zhen'ge zu, welche vorgibt, zwei Männer seien die Besucher gewesen. Auch weitere Nachforschungen bleiben zunächst ohne Erfolg, woraufhin Chao Yuan seinen Schwiegervater herbeibittet. Die Unruhe im Haus schreckt auch die bis dahin ahnungslose Jishi auf. Zunächst sprachlos wegen der Anschuldigungen, reagiert sie dann trotzig: »Ja, selbstverständlich habe ich mir einen Mönch gehalten. Warum denn auch nicht? Wenn er sich eine Hure zulegt, warum nicht dann ich einen Mönch? Doch davon ganz abgesehen: warum hat er den Mönch nicht festgenommen, um Beweise zu haben? Wenn er mir nichts nachweisen kann, dann kann ich mir nicht nur einen, sondern zehn Mönche halten. Aber was solls, mir liegt ohnehin nichts an ihm. Wenn er die Trennung wünscht, mag er einen Scheidungsbrief ausstellen. Sobald ich den habe, verlasse ich das Haus. Ich müßte ein schamloses 829 Weib sein, bliebe ich dann einen Augenblick länger.« 829
Ebd., Bd. 1, Kap. 8, S. 121.
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels
Der alte Vater Ji versucht noch zu schlichten, als Jishi mit zerzaustem Haar und einem Messer in der Hand erscheint, um mit Zhen'ge abzurechnen. Sie ruft die Nachbarn als Zeugen an, daß sie nur mit Hai Hui und Guo Umgang pflegte. Schreiend läuft Jishi durch das Anwesen, aus Angst verschließt Zhen'ge ihr Tor, während Chao Yuan die Knechte anweist, Jishi nicht aus dem Anwesen auf die Straße zu lassen, um kein Aufsehen zu erregen. Dennoch hat der Lärm bald zahlreiche Zuschauer an das Tor gelockt. Einer älteren Frau gelingt es schließlich, Jishi zur Vernunft zu bringen und sie ins Haus zurückzuführen. Verzweifelt über die unberechtigten Anschuldigungen beschließt Jishi, sich umzubringen, verbrennt zunächst ihr Eigentum, das sie nicht in die Hände der Rivalin fallen lassen will und erhängt sich schließlich in der Nacht an einem Türrahmen. Betroffen erhebt die Familie der Toten Anklage gegen Chao Yuan und seine Metze, und das gefällte Urteil ist am Ende alles andere als milde: während Chao mit hundert Stockschlägen davonkommt, steckt man Zhen'ge ins Gefängnis, wo sie auf ihre Hinrichtung im Herbst warten soll. Nur mit Blick auf Vater Chaos Stellung wird das Todesurteil am Ende in eine Haftstrafe umgewandelt. Auf Zhen'ges weiteres Schicksal wird erst im zweiten Teil des Romans weiter eingegangen (Kap. 43). Dort erfährt der Leser, daß sie während der Haft im Frauengefängnis von der alten Frau Chao versorgt wird. Eines Nachts bricht in Zhen'ges Zelle ein Feuer aus, das nicht gelöscht werden kann. Am Morgen findet man die verkohlte Leiche einer Frau. Wie man in der Folge erfährt (Kap. 51), wird die Totgeglaubte später von einem Yamendiener in dem Haus eines gewissen Herrn Zhang entdeckt. Auf Befragung leugnet Herr Zhang, sagt, die Zhen'ge sei bereits seit neun Jahren tot. Bei einer Gegenüberstellung identifiziert der Yamendiener die Frau jedoch. Durch Folter wird dem Zhang ein Geständnis entlockt. Danach ist seinerzeit bei einem Feuer im Frauengefängnis eine Bedienstete umgekommen. Da Zhen'ge mit dem Gefängnisleiter Ji unter einer Decke steckte, gab man an, bei der verstümmelten Leiche handele es sich um Zhen'ge, schaffte sie aber in Wirklichkeit nach draußen. Da Zhen'ge dem später stellenlosen Ji nicht zu seiner Familie folgen wollte, kam sie ins Haus des Zhang. Der zuständige Kreisvorsteher läßt am Ort, an dem sich Ji nun aufhält, Nachforschungen anstellen. Ji wird verhört, gesteht den Fall, stirbt aber bald darauf. Für Zhang, der in den Fall verwickelt ist, gibt es eine Prügelstrafe, an deren Folgen er stirbt, auch die Zhen'ge kommt nicht ungeschoren davon, gelangt wieder ins Gefängnis. Wieder gelingt es der Frau, sich Hilfe von auswärts zu verschaffen, doch wird das entdeckt, eine weitere angeordnete Prügelstrafe überlebt sie nicht. Frau Chao stiftet Holz für den Sarg. Erst jetzt, vierzehn Jahre nach dem Tod von Chao Yuan, ist dieser Fall damit ausgestanden. Dabei deutet sich Chaos eigenes unrühmliches Ende früh in der Folge der oben geschilderten Ereignisse an. Nach dem Tode des Vaters übernimmt er die Überwachung der Erntegeschäfte auf dem Familienhof in Yongshan und entschließt sich entgegen seinen Plänen länger an dem Ort zu bleiben, da die junge hübsche Frau Tang des neuen Pächters, der nur unter dem Namen Xiaoya (»Kleine Ente«)
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Die WELT DER GEFÜHLE bekannt ist, seine Aufmerksamkeit erregt hat. Der Verwalter Ji Chunjiang ist zunächst in Sorge wegen der Nachstellungen Chao Yuans, gilt Kleine Ente doch als sehr eifersüchtig. Ein Jahr lang geht auch alles gut, gibt sich doch die junge Frau Tang zunächst alle Mühe, dem Chao Yuan aus dem Weg zu gehen. Selbst wenn er sie anspricht, senkt sie nur den Kopf, geht davon und antwortet nicht. Eines Tages begibt sich Kleine Ente in eines der Nachbardörfer, um den Geburtstag seiner Schwester zu feiern. Er kehrt wider Erwarten noch in der Nacht heim, trifft die Gattin aber nicht in ihren Gemächern an. Frau Tang hat sich nämlich zusammen mit der Frau des Chao Zhu, einer weiteren Geliebten des Chao Yuan, am Abend auf ein Gelage zu dritt eingelassen und weilt schlafend in den Räumen des Hausherrn. Lautlos dringt Kleine Ente in dessen Räumlichkeiten ein, wo er Chao und seine Frau beide nackt vorfindet. Mit einem Messer schneidet er der treulosen Gattin kurzerhand den Kopf ab, reißt daraufhin Chao Yuan aus dem Schlaf, welcher um sein Leben bettelt und Geld anbietet. Doch Kleine Ente ist an keinem von beiden interessiert, tötet Chao und trennt auch dessen Kopf vom Leib. Freiwillig stellt sich der Mörder der Gerichtsbarkeit, und da Kleine Ente ohnehin »nur« zwei Ehebrecher ihrer verdienten Strafe zugeführt hat, sieht man von eine weiteren Verfolgung ab und händigt ihm dazu noch etwas Geld aus, mit dem er sich eine neue Frau suchen soll. Damit endet der erste Teil der Ehegeschichten, nicht ohne jedoch auf das traurige Schicksal der alten Mutter Chao hinzuweisen, die zunächst wegen eines fehlenden Erben mittellos dasteht. Zum Glück bringt wenigstens Oriole, die junge Konkubine des Chao Sixiao, welche kurz vor dessen Tod ins Haus genommen wurde, wenige Zeit später einen Knaben zur Welt, der Chao Lang genannt wird. Neben dem rhetorischen Mittel des einst von Chao Yuan auf den Fuchs abgeschossenen Pfeils, der noch am Romanende eine Rolle spielt, als Chao Yuans Wiedergeburt Chao Lang zum Schluß verletzt wird, stellen die alte Chao und der junge Lang eine wichtige Brücke zur Verbindung der beiden Romanteile dar. Denn auch im längeren zweiten Abschnitt der Ehegeschichten erfahren wir in mehreren Kapiteln immer wieder etwas über das wechselhafte Leben dieser beiden Gestalten (in Kap. 90 tritt Frau Chao dem Leser als einhundertundvierjährige Greisin entgegen, Chao Lang, die Inkarnation eines Mönchs, taucht bis zum letzten Romankapitel immer wieder auf). Der wichtigen Vermittlerrolle der alten Frau Chao zur Verknüpfung der beiden Romanteile entsprechend, ist sie es auch, über die der Leser von den Inkarnationen der Helden erfährt. In Kapitel 30 erscheint die tote Jishi der Frau Chao im Traum und verkündet, durch eine Wiedergeburt als Nebenfrau des Di Xichen Rache an ihm zu nehmen für die Behandlung in dem früheren Leben. Auf die Frage der Frau Chao, warum sie nicht als die Hauptgattin inkarniere, antwortet Jishi, diese Stelle sei bereits von der Seele des einst von Chao Yuan ermordeten Fuchses belegt. Damit sind die Bezüge klar. Nach dem Tod der Hauptgestalten des ersten Teils wechseln nun in Kapitel 23 Ort und Handlung der Geschichte, nämlich von der Familie Chao Yuans in Wucheng zu dem Kreis Xiujiang, der etwa hundert Meilen von der Provinzhaupt-
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels
stadt entfernt liegt und in dessen Umgebung es zu den Wiedergeburten der verstorbenen Protagonisten aus dem ersten Teil kommt. Was nun folgt, ist eine recht ausführliche Beschreibung der Örtlichkeiten dieses neuen Handlungsortes, der aber nur die Vorstufe zu dem im weiteren Bedeutsamkeit erlangenden Marktflecken Mingshui (Klarwasser) bildet. Dieses Mingshui beeindruckt zunächst durch seine gepflegten Sitten, es herrscht Wohlstand, so daß die Menschen sich zu kleinen Gruppen zusammenschließen und Lehrer anstellen, welche die Kinder unterrichten. Bald ist niemand mehr Analphabet. Wer nichts in der Schule lernte, der wurde Bauer, oder er ergriff ein Handwerk, auf jeden Fall war bald niemand mehr zu finden, der müßig herumsaß, und es gab keinen, der nicht wenigstens ein bißchen lesen konnte. Selbst wer nur als einfacher Gemüseverkäufer auf dem Markt arbeitete, der beherrschte wenigstens die einfachen Zeichen. Auch Verbrechen und Laster gingen zurück, Diebe und Gesindel verschwanden von den Straßen, in dem Gefängnis fand sich bald niemand mehr, der zum Tode verurteilt war. Selbst die Frauen aus noch so einfachen Familien, zeigten nicht ihr Gesicht auf den Straßen, schlenderten über den Markt. Männer, die ihre Gattinnen fürchteten, hat es immer gegeben, doch hier im Kreise von Xiujiang war der Mann noch ein Mann, die Frau eine Frau, gab es keine Vertauschung der den Geschlechtern zugewiesenen Aufgaben, zum allerwenigsten aber so etwas, daß etwa eine Henne krähend den Tag begrüßt hätte. Nach der Arbeit auf den Feldern, die zu jeder Jahreszeit zu verrichten war, brachten die Menschen im Herbst ihre Ernte ein und lagerten ihr Korn erst im Speicher, nachdem sie die Getreidesteuer abgeführt hatten. Der Yamendiener hatte nie Grund zur Klage, mußte nie mahnen, wurde hingegen von den Bewohnern bei amtlichen Verfügungen stets freundlich daheim aufgenommen und reichlich mit einem frisch geschlachteten Huhn bewirtet. Die jungen Gelehrten glichen den Näherinnen daheim, stets saßen sie in den Studierzimmern über ihren Büchern, und wenn sie sich in die Kreisstadt begaben, dann allerhöchstens einmal, um einen Beamten aufzusuchen. Mingshui lag vierzig Meilen von der Kreisstadt entfernt und entsprach dabei immer mehr einem abgelegenen 830 Ort an der Pfirsichblütenquelle. Die Menschen gaben sich einfach und be831 scheiden und zeigten Ähnlichkeit zu ihren Vorfahren aus frühester Zeit.
Nicht nur die Menschen in Mingshui leben über lange Zeit hinweg in vollkommener Harmonie und Sittlichkeit, auch der Himmel meint es gut mit ihnen, indem er die Bewohner mit den Gütern der Natur segnet und der Bevölkerung gute Ernten beschert. Doch nach und nach sterben die aufrechten und ehrlichen Leute am Ort aus, Betrug und Bösartigkeit greifen um sich, so daß bald alle Bevölkerungsgruppen vom Sittenverfall wie von einem Krebsgeschwür befallen werden. 830
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Die Pfirsichblütenquelle ist eine Anspielung auf eine gleichnamige kurze Erzählung des Dichters Tao Yuanming (372–427) über einen utopischen Ort. Ehegeschichten, Bd. 1, Kap. 23, S. 341.
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Die WELT DER GEFÜHLE Die ausführliche Schilderung der Ereignisse in Mingshui läßt den Verfall zu einem Schlüsselbegriff des ganzen Romans werden: der kleine Ort Mingshui (Klarwasser) versteht sich als ein Symbol »gefallener Unschuld«. Ein ursprüngliches Paradies mit schöner Natur, angenehmem Klima, einer guten Regierung, dazu wohlhabend, verkommt mit der Zeit zu einem Sündenbabel: man betreibt Zinswucherei, geht Heiraten nur noch mit Blick auf den erwarteten Gewinn ein; die Erziehung wird vernachlässigt, das Prüfungssystem mißbraucht. Schließlich versagt auch der Himmel seinen Beistand, als Mingshui von mehreren Naturkatastrophen heimgesucht wird, Dürre, Unwetter, Sturm und Frost einander abwechseln. Die Menschen erleben eine schreckliche Hungersnot, nachdem es auch keine Baumrinde und Blätter mehr gibt, kommt es zu Kannibalismus: zunächst verspeist man die Toten, dann die Lebenden. Allerlei seltsame Krankheiten beginnen zudem, den Bewohnern zu schaffen zu machen. In eindrucksvoller Art und Weise fügt der Verfasser hier die Eheproblematik in das Thema des sozialen und moralischen Verfalls seiner Zeit ein. Hinter dem Ort Mingshui findet sich eine deutliche Anspielung auf die Ming-Dynastie selbst. Vor dem Hintergrund des Niedergangs der Ortschaft Mingshui wird nun auch die Wiedergeburt der Protagonisten aus dem ersten Romanteil wieder aufgegriffen, wobei wir zunächst von den Geschicken des Herrn Di Binlang erfahren, einem jungen Mann, der es im Studium nicht weit gebracht hat und sich am Ort als Kaufmann betätigt. Eines Tages wird er auf Neuankömmlinge aufmerksam, einen Schullehrer Xue aus He'nan mit Frau, Familie und Magd. Xue Qizhi, so heißt der Mann, berichtet Di Binlang davon, noch immer ohne Kinder zu sein. Auch Di gesteht, keine Kinder zu haben, doch bringt seine Frau kurze Zeit später einen Sohn zur Welt, der Xichen genannt wird und bei dem es sich um die Wiedergeburt Chao Yuans handelt. Bald sind acht Jahre vorüber, auch bei Xue Qizhi hat mittlerweile der Kindersegen eingesetzt, die Frau eine Tochter namens Sujie entbunden, welche nur wenig jünger als Xichen ist und bei der es sich um niemand anderes handelt als die Reinkarnation des einst getöteten Fuchses. Eine angemessene Paarung also, so daß die Kinder schon bald miteinander verlobt werden. Ebenso verfährt man mit den später geborenen Kindern, als Di eine Tochter mit dem Namen Qiaojie und Xue einen Sohn namens Zaidong geboren wird. Doch während der Verbindung der jüngeren Geschwister aus den beiden Familien nichts im Wege zu stehen scheint, gibt die junge Sujie durch dunkle Andeutungen von Rache bereits zu erkennen, daß der künftige Gemahl an ihrer Seite kein glückliches Dasein finden wird. Ihr ganzes Unterbewußtsein setzt sich gegen die Ermahnungen zur Wehr, in der Ehe eine duldsame und verständnisvolle Gattin zu sein, wobei der Verfasser neben dem erlittenen Unrecht in der früheren Existenz auch den Traum als Mittel zur psychologischen Darstellung nutzt. Man hatte sich kaum zu Bett begeben, als Sujie mit einem lauten Schrei aus dem Schlaf fuhr. So durchdringend klang ihr Schrei durch das Haus, daß Frau
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels Xue schnell wie der Blitz in ihre Kammer eilte, um nach der Tochter zu sehen. Sujie sprang auf, warf sich weinend an die Brust der Mutter und rief: »Hilfe, er hat mich umgebracht!« »Kind, was ist mit dir?« fragte die Mutter bestürzt, »du hast geträumt. Jetzt ist alles wieder gut.« Nach und nach kam Sujie wieder zu sich. »Was hast du denn so Furchtbares geträumt?« wollte die Mutter wissen. »Mir ist im Traum ein Mann erschienen«, hob Sujie an, »der aussah wie ein böser Geist. In der einen Hand hielt er ein Herz, in der anderen ein Messer, und er richtete folgende Worte an mich: ›Wenn du morgen in die Familie deines Gatten ziehst, benötigst du dieses wohlmeinende Herz nicht mehr. Ich gebe dir dieses dafür.‹ Mit diesen Worten riß er meine Brust auf und wechselte mir das Herz aus.« »Hab keine Angst«, tröstete Frau Xue ihre Tochter, »böse Träume verheißen 832 immer etwas Gutes.«
Hier wird auf eindrucksvolle Weise der Wesenswandel der Braut unmittelbar vor dem Einzug ins Haus des Gatten angedeutet. Diese Form, die Macht des Unbewußten zu erklären, stellt etwas gänzlich Neues in der chinesischen Erzählliteratur dar, indem weit über die karmischen Einflüsse aus früherer Existenz oder solche durch höhere Mächte hinausgegangen wird. Daß vielmehr Ängste und Veränderungen in der menschlichen Seele entscheidend sind, bringt der Autor auch zum Ausdruck, wenn er sagt: »Behaupte nicht, daß es keine Götter und Dämonen gebe, sie existieren seit ältesten Zeiten. Doch sie fliegen nicht in der Luft, sondern finden sich in dir selbst.«833 Auch Xichen ahnt, daß seine Ehe mit Sujie unter keinem guten Stern steht. Der Tag der Heirat vergeht mit allerlei Festlichkeiten. Lange noch sitzt Xichen bei der Mutter, als diese ihn schließlich heißt, sich endlich in die Gemächer der Braut zu begeben, trägt der Sohn seine Bedenken vor: »Ich weiß auch nicht, warum, aber jedes Mal, wenn ich sie sehe, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.« Dieser Ton mit Anspielungen auf tief in der Seele des Menschen wirkende Kräfte wird auch in der Folge immer wieder verwendet. Bei einer späteren Gelegenheit ist es Sujie, die, in vollem Bewußtsein über das eigene grausame Verhalten gegenüber dem Gatten folgende Bemerkung macht: »Ich weiß, daß mit mir nicht gut Kirschen essen ist. Ich brauche ihn nur zu sehen, und ein mir selbst unerklärlicher Haß kommt in mir auf [...] Dabei sind die Schwiegereltern keineswegs übel, und ich spüre, daß ihnen etwas an mir liegt. Selbst Xichen übt immer wieder Nachsicht mit mir und verzeiht mir meine Ausfälle. Im Grunde ist mir klar, daß er nichts gegen mich hat. Daß man die Eltern des Gatten verehren möge, daß dem Ehemann mit Respekt und Liebe zu begegnen ist – all das weiß ich, doch, mir ist selber nicht klar warum, bei seinem Anblick bin ich ganz plötzlich nicht mehr ich selbst. Es ist, als erklinge ein Schrei
832 833
Ebd., Bd. 2, Kap. 44, S. 646. Ebd., Bd. 1, Kap. 11, S. 155.
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Die WELT DER GEFÜHLE nach Rache und Vergeltung in mir, wenn ich jemanden von der Familie erblicke. [...] Jetzt, wo die Schwiegermutter nicht da ist, bedaure ich die Auseinandersetzungen mit ihr zutiefst, und ich leiste einen inneren Schwur, mich in Zukunft zu bessern. Doch kaum erscheint sie, dann geht es wieder von vorne los, ergreifen Haß und Abneigung erneut von mir Besitz. Das liegt bestimmt daran, daß eine Fehde zwischen unseren früheren Existenzen ausgefochten werden muß. Anders kann ich mir diese Abneigung, über die ich keine Gewalt habe, nicht er834 klären.«
Durch den schon am Tag der Hochzeit einsetzenden Konflikt kommt eine Spirale der Gewalt in Gang, garniert mit allerlei Formen bizarren Verhaltens: Nach einem nächtlichen Gelage gibt Sujie ihrer Verachtung gegenüber dem Gatten in der Weise Ausdruck, daß sie ihn mit Kosmetika und Gesichtcremes wie eine Frau schminkt und ihm Zöpfe flicht (Kap. 58). An anderer Stelle muß er sich von ihr fesseln lassen (Kap. 60). Herr Xue, der seine Tochter vorübergehend in das elterliche Heim zurückholt, zeigt sich von Sujies Verhalten derart befremdet, daß er sie verleugnet und nicht mehr mit ihr spricht. Er stirbt später nach einem Wutanfall über das Betragen Sujies. Xichen, der Mißhandlungen durch die Gattin überdrüssig, nimmt sich am Ort eine Geliebte und flieht nach der Entdeckung des Verhältnisses durch Sujie zunächst zum Studium in die Hauptstadt. Doch auch Xichen ist dabei kein unschuldiges Lamm. In ihrer Gemeinheit und Bösartigkeit ergänzen sich Sujie und Xichen perfekt: Xichen ist dabei gleichzeitig Täter und Opfer. Seine Männerrolle nimmt er in Übereinstimmung mit den überlieferten Vorstellungen vor allem durch die Tätigkeiten im außerhäuslichen Bereich wahr, weicht dabei aber ganz deutlich vom Idealbild des Edelmannes ab. Zu leiden hat er allerdings in den eigenen vier Wänden, wo Sujie ihm zusetzt. Diese läßt es aber nicht nur an Ehrfurcht und Liebe gegenüber dem Gatten und dessen Eltern fehlen, sondern verstößt mit der Überschreitung ihres häuslichen Wirkungsbereiches und einer wachsenden Reiselust zudem gegen die Pflichten, die ihr durch die Arbeiten daheim auferlegt sind. Auslöser und Verführer sind auch in den Ehegeschichten die Angehörigen des Klerus, womit der Roman an das bestehende negative Bild der Nonnen und Mönche anknüpft. Im Falle unseres Werks sind es die betrügerische Frau Zhang und ihre Kumpanin Hou, die in Mingshui Wallfahrten zu Tempeln organisieren. Sujies charakterlichen Defekte finden mit der Zeit eine Entsprechung in zunehmender körperlicher Entstellung. In ihrer selbstverschuldeten Einsamkeit muß die Frau eine grausame Demütigung und Verstümmelung hinnehmen, als sie sich mit Hilfe eines unschuldigen Tieres an Xichen rächen will. Es war der 16. Tag des zweiten Monats, eben jener Tag, an dem Sujie ihren Geburtstag feierte. Das ganze Gesocks von Weibern erschien, um ihr zu gratulieren. 834
Ebd., Kap. 59, S. 850.
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Ehe und Familie im Roman zur Zeit des Dynastiewechsels Die alte Hou stiftete aus dem Anlaß eine Aufführung eines Marionettentheaters, die alte Zhang engagierte einen Bettler, der seinen Affen Kunstückchen aufführen ließ. Sujie hatte auszusetzen, daß die Marionetten und der Affe in schäbigen Lumpen steckten und ließ die Kleider des alten Ehepaares Di aus dem Schrank holen, um sie auftrennen und für die Marionetten ein paar schöne Kleider anfertigen zu lassen. Auch die Wäsche des Xichen ließ sie aufschneiden, um daraus ein Taoistengewand und eine Robe für den Affen zu schneidern. Aus einem Schal wurden so Hals- und Schmucktuch des Affen. Derart ausstaffiert, ließ sie Marionetten und Affen vor den Zuschauern zeigen und erklärte, die Holzfiguren seien der alte Herr und die alte Frau Di, der Affe stelle ihren Gatten Di Xichen dar. Nachdem die Aufführungen ein paar Tage gedauert hatten, gab man den Marionettenspielern und dem Bettler ein paar Schnüre Kupferkäsch. Von den Marionetten behielt man das weißhaarige alte Ehepaar, das die beiden Eltern des Xichen vorstellte, außerdem den Affen, der den Gatten darstellte. Alle trugen sie Kleider aus dem Stoff der Kleidung ihrer Vorbilder, was immer wieder Anlaß bot, seine Wut an ihnen auszulassen. Das mochte bei den hölzernen Figuren angehen, denen es gleichgültig war, wie man mit ihnen verfuhr, anders verhielt es sich dagegen mit dem Affen, bei dem es sich ursprünglich um ein wildlebendes Tier aus den Bergen handelte. Doch all das focht Sujie nicht an, glaubte sie doch bald tatsächlich, in dem Affen den Gatten vor sich zu haben, dem sie nach Belieben mit Stock und Peitsche zusetzen konnte, so daß das Tier bald ganz verschreckt war. Unentwegt rieb und riß es an dem Kettchen um seinen Hals, das von Tag zu Tag begann, lockerer zu sitzen. Eines Tages, als wieder einmal der Name von Di Xichen gefallen war und Sujie schimpfend und fluchend auf den Affen einzuprügeln begann, riß das Tier so verzweifelt an seiner Kette, daß diese aufsprang. Ehe sich Sujie recht versah, war der Affe auf ihre Schultern gesprungen, fuhr wie wild in ihrem Gesicht herum, daß sie ein Auge verlor, und er ihr gar die Nase abbiß. Nur mit Mühe gelang es den Umstehenden, das Tier von Sujie loszureißen, die wohl Auge und Nase eingebüßt, dabei aber keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen hatte. Mit dem Rest der Kette noch um den Hals, machte sich der Affe zunächst über die Speisen in der Küche her, sprang dann auf das Dach, wobei er die Ziegel löste und gegen die Türe zu Sujies 835 Kammer warf.
Am Ende gelingt es nur mit Hilfe des herbeigerufenen Bettlers, das Tier wieder einzufangen. Von da ab muß sich Sujie mit ihrem entstellten Antlitz abfinden. Ihr Haß richtet sich erneut gegen den Xichen, der mit dem Affen identifiziert wird. Sujie ruft einen Blinden von der Straße herbei, läßt eine Holzfigur mit dem Antlitz von Xichen schnitzen und in einer Art Woodoo-Zauber mit Flüchen belegen, indem die Holzfigur in einen Sarg gesteckt und im Bett des Xichen aufbewahrt wird. Zu ihrer Verzweiflung muß Sujie bei dem Bericht eines Besuchers aus der Hauptstadt feststellen, daß es ihrem Gatten hervorragend geht, er in der letzten Zeit alle 835
Ebd., Kap. 76, S. 1086f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Sehenswürdigkeiten der Hautstadt und Umgebung bereist und sich dick und rund gefressen hat. Auch in der Folge wird Sujie des öfteren noch aus blindem Haß auf den Gatten gegen ihre eigenen Interessen verstoßen. Ihre Abneigung bleibt unerschöpflich. Erst in in Xichens neuer Nebenfrau Qijie, die er bei dem Aufenthalt in Peking zu sich genommen hat, findet Sijie ihre Meisterin. Nach einer Tracht Prügel führt Qijie der Sujie die Alternativen des Zusammenlebens auf: 1. Sie gehorcht, teilt sich ansonsten die Stellung der Hausdame mit Qijie und wird respektiert; 2. sie wird lediglich geduldet, erhält Essen und Kleidung, nimmt aber sonst an nichts teil; 3. sie erfährt die gleiche grausame Behandlung wie gerade eben. Weinend findet sich Sujie schließlich mit den neuen Verhältnissen ab, doch hat sie immer wieder Gelegenheit, dem Xichen das Leben schwerzumachen, so daß man dem Gatten zur Scheidung rät. Daß es dennoch nicht so weit kommt, liegt an Xichens Unentschlossenheit, ein Umstand, der ihn beinahe das Leben kostet. Nach Ablauf der Amtszeit kehrt Xichen mit den Frauen zunächst nach Shandong zurück. Sujie will nach Wucheng, Qijie nach Peking, Xichen zeigt sich über seine Ziele zunächst unsicher. Er hält am Ende nur kurz in Wucheng, um die Gräber aufzusuchen, reist dann weiter nach Peking. Anders als von allen erhofft, ist aber auch Sujie mit von der Partie, denn sie sinnt auf Rache. Nach kurzem Halt in Tongzhou begibt man sich nach Peking. In einem Tempel unterwegs trifft die Gruppe auf Chao Lang, der Abt geworden ist und in Xichen die Inkarnation seines Halbbruders erkennt. Die Begebenheit mit dem Fuchs wird genannt, genauso wie die Inkarnationen und die Gefahr des Xichen, in der er sich befindet. In der Hauptstadt wird Quartier bezogen. Eines Tages, Xichen ist soeben von der Toilette zurückgekommen, greift Sujie nach einem Bogen an der Wand und schießt einen Pfeil auf den Gatten ab. Hier schließt sich der zum Beginn der Erzählung begonnene Kreis, als der Fuchs auf eben diese Weise getötet wurde. Xichen wird getroffen, Sujie sieht ihre Rache erfüllt. Ein herbeigerufener Arzt rettet den Gatten jedoch. Sujie erkrankt daraufhin schwer und ist später gelähmt. Am Ende zieht sich Xichen mit der Familie nach Wucheng zurück, lebt von den Pachterträgen. Sujie stirbt, Qijie wird Hauptfrau und bringt einen Sohn zur Welt. Die Ehegeschichten haben durch das Motiv der Eifersucht Ausblicke auf Erscheinungen und Mißstände in der Gesellschaft gegeben, wobei vor allem Schicksale der unteren sozialen Schichten erfaßt wurden. In einiger Ausführlichkeit beschreibt der Verfasser das Leben von Kaufleuten und Krämern ebenso wie das von Handwerkern, Köchen usw. und läßt damit ein hohes Maß an Polyphonie erkennen, wie es den chinesischen Romanen derartigen Umfangs oftmals innewohnt. Thematisch weit enger gefaßt und weitgehend auf das Verhältnis Hausdrachen-Pantoffelheld beschränkt, breitet ein mit zwanzig Kapiteln wesentlich kürzerer Roman unter dem Titel Der Essigkrug (Cu hulu), der ebenfalls aus dem Ende der Ming-
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Dynastie stammt, das Motiv der Eifersucht vor dem Leser aus.836 Als Verfasser dieses Werks tauchen verschiedene Pseudonyme auf: »Der am Westsee lebende Begründer der Lehre über die Kapitulation vor den Frauen« (Xizihu fu ci jiao zhu bian) wird als Gesamtautor des Buches genannt. Ein mitgeliefertes Vorwort ist von einem »Trunkenen Herrn der Bergkammer Pinselegge über dem Westsee« (Bi geng shanfang zui Xihu xin yue zhuren) gezeichnet, und hinter der einführenden Erläuterungen über die Hintergründe der Personen im Roman findet sich der Name eines »Herzhaft lachenden Herrn« (Qie xiao guang zhuren). Dem zweiten dieser hier genannten Pseudonyme (Trunkener Herr) kann mit Yi chun xiang zhi und Qi er chai die Verfasserschaft an zwei jeweils zwanzig Kapitel langen Erzählwerken zugeschrieben werden. Gemeinsam mit dem Essigkrug ist allen drei Romanen das Thema Liebe und sexuelle Verstrickung von Angehörigen der Gentry bzw. der Schicht reicher Kaufleute zu eigen. Bei dem nicht weiter zu identifizierenden Autoren scheint es sich um einen weitgereisten und belesenen Mann gehandelt zu haben, dem auch das städtische Leben in all seinen Aspekten nicht fremd war. Thematisch befaßt sich der Roman schwerpunktmäßig mit der Eifersucht, dargestellt am Schicksal des kinderlosen Pantoffelhelden Cheng Kui aus Hangzhou und seiner stets mißtrauischen und eifersüchtigen Ehefrau Du, die alles versucht, um zu verhindern, daß sich der Gatte zur Zeugung des ersehnten Erben eine Nebenfrau nimmt. Sie wird dabei zu einer wahren Megäre. Angedeutet wird das Thema des Buches bereits im Titel durch den Begriff »Essig« in der Bedeutung für Eifersucht, der bis heute in der Wendung des »Essig essens« (chi cu) gebräuchlich ist. Der Roman selbst beginnt mit einigen Reflexionen über das Phänomen, die Oberhand selbst gegenüber angesehenen und furchtlosen Männern gewinnender Frauen. Den Grund dafür sieht der Verfasser in Anfechtungen, denen sich ein Mann durch die Eheschließung aussetzt – lediglich bei dem Geschlechtsakt liege die Frau vielleicht noch unter dem Mann, ansonsten bleibe sie zumeist dominierend, tanze auf dem Kopf des Gatten herum und mache einen Hanswursten aus ihm. Die Zeit der Handlung ist in die Song-Dynastie verlegt, der Ort, an dem sich die Ereignisse abspielen, ist Hangzhou. Der junge Cheng Gui, ein Mann aus bescheidenen Verhältnissen, heiratet die Frau Du, Tochter des wohlhabenden Seidenhändlers Du Zhi. Die junge Dame ist recht verzogen und akzeptiert ihren Gatten aufgrund seiner geringen gesellschaftlichen Position nicht. Es bleibt somit nicht aus, daß sie daheim von Beginn an das Zepter führt, Cheng Gui vor der Zeit ergraut und schon bei der Nennung des Namens seiner Gattin in Angstschweiß ausbricht. Ständig von der Sorge um mögliche Rivalinnen geplagt, limitiert Frau Du die Gänge Chengs außerhalb des Hauses auf die Zeit, die es benötigt, bis ein Räucherstäbchen abbrennt. Sie ist derart dominierend, daß sie den hasenfüßigen Ehemann 836
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Cu hulu, Tianjin: Baihua wenyi 1992.
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Die WELT DER GEFÜHLE grün und blau schlägt, sobald er gegen ihr strenges Regularium verstößt, was den Verfasser zu der Vermutung veranlaßt, Frau Du müsse in einem früheren Leben die Mutter Chengs gewesen sein, welche den Jungen nun für sein unehrerbietiges Verhalten von einst bestrafe. Wie schon im vorherigen Roman der Ehegeschichten wird auch hier das Problem der Reinkarnation und Vergeltung wieder aufgegriffen. Die Jahre vergehen. Während Nachbar Zhou Zhi bereits über drei Kinder verfügt, hat sich bei Cheng trotz der vierzig gemeinsamen Ehejahre immer noch kein Nachwuchs eingestellt. Frau Du zeigt deswegen aber keinerlei Anzeichen von Sorge, wohingegen Cheng Gui die Kinderlosigkeit sehr wohl beschäftigt. Die Ehe Cheng Guis mit Gattin Du bleibt kinderlos, und dies ein Motiv, die Eifersucht immer wieder zu thematisieren. Eines Tages besucht Cheng seinen Freund Zhou Zhi. Ein Spaziergang im Garten, Wind der durch die Bäume streicht, läßt ihn voller Kummer an sein Schicksal denken. Er weint, schüttet dem Freund sein Herz aus. Dieser weiß, daß das Problem alleine die große Eifersucht der Frau Du ist. Er schildert dem Cheng Gui, daß wohl nur ein Mittel die Eifersucht zu heilen vermag. Zhou berichtet von dem Vogel Cangge (Oriole), der im Ostmeer lebe und dessen Fleisch die Menschen von der Eifersucht heile. Zhou erzählt die Geschichte von Kaiser Liang Wudi, der einst ebenfalls unter der Eifersucht der Gattin gelitten und Fischern aufgetragen habe, eben diesen Vogel zu fangen. Tatsächlich habe der Genuß des Vogelfleisches die Kaiserin zu großen Teilen von ihrer Eifersucht geheilt. Zuversichtlich begibt sich Cheng Gui daraufhin heim, söhnt sich mit der Frau aus, denkt aber Tag und Nacht an das Vogel-Rezept, um sie von der Eifersucht zu befreien. Im Geschäft wird er eines Tages auf einen Vogelfänger namens Zhang Xiaoma aufmerksam, den er über Vögel befragt. In einem »Fu-Gedicht über die Vögel« gibt Zhang Auskunft über das Wesen und die Eigenschaften einer Reihe verschiedener Vögel und bestätigt die Wunderkräfte der Oriole. Interessiert möchte Cheng wissen, wo man solch einen Vogel erwerben könne. Zhang gibt an, das sei nicht schwierig und bringt nach kurzer Zeit das gewünschte Exemplar. Cheng heißt die Frau des Gehilfen Cheng Mao, daraus ein Gericht zuzubereiten, das er seiner Frau vorsetzt. Erstaunt über so viel Zuvorkommenheit und Aufmerksamkeit des Gatten, der ihr die Speise mit den Worten serviert, nicht mitansehen zu können, wie einfach sie stets esse, langt sie zu. Bei Gefallen, so Cheng Gui, wolle er ihr gerne am nächsten Tag wieder einen Vogel servieren. Das Unglück will es, daß sich Frau Du am Abend des Tages erkältet und Bauchschmerzen bekommt, die sie auf den Genuß des seltenen Fleisches zurückführt. Sie denkt sogleich an eine Vergiftung. Haßerfüllt über den vermeintlichen Mordanschlag beißt sie dem herbeizitierten Gatten in die Schulter. Ein an das Krankenbett gerufener Arzt gibt Auskunft, daß der Genuß des OriolFleisches ganz ungefährlich sei, allerdings verrät er die Sache mit der Heilung von der Eifersucht. Erbost über diesen Trick ihres Mannes gibt Frau Du ihm zu
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verstehen, jetzt erst recht eine eifersüchtige Ehefrau zu spielen. Sie heißt ihn niederknien und kündigt ihm eine Überwachungsmethode an, mit der sie sein Verhalten tagsüber zu kontrollieren gedenke. Frau Du läßt sich tags darauf einen Stempelschnitzer ins Haus kommen und heißt ihn, einen Stempel mit irgendeinem Bildmotiv wie Blumen, Fische etc. zu schnitzen, ohne Zeichen. Nach der Fertigstellung des Siegels ruft Frau Du den Gatten zu sich, offenbart ihm ihren Plan. »Keine Angst, ich schlage dich nicht«, sagte Frau Du zu ihrem Gatten, während sie in der einen Hand den Stempel wog und mit der anderen die Stempelpaste knetete. »Von heute an wirst du mir jeden Morgen nach dem Aufstehen dein Gemächte zeigen, damit ich den Stempel auf die Eichel setzen kann. Am Abend werde ich dann kontrollieren, ob der Abdruck noch so ist wie am Morgen. Sollte etwas verwischt sein, so werde ich mit dir verfahren wie mit einem Amtsschreiber, der bei der Abschrift von offiziellen Dokumenten geschmiert hat. Du erhältst dann hundert Schläge, wirst drei Jahre lang unter verschärfter Aufsicht stehen. Sollte der Abdruck dagegen vollständig verschwunden sein, so geht es dir wie den Regimentssekretären und den Beamten in hohen Regierungsämtern, die ganze Dokumente und wichtige Siegel verschlampen, ich werde in der Abwägung der Schwere des jeweiligen Falles verfahren. In leichten Fällen ereilt dich eine Strafe ähnlich der der Verbannung an die Grenze, in schweren Fällen eine gleich der Enthauptung und Aufstecken des abgeschlagenen Kopfes am Yamentor. Solltest du plausible Gründe für deine Verfehlung angeben können, so darfst du mit einer Verringerung des Strafmaßes rechnen. Solltest du dich diesen Anweisungen widersetzen oder gar einen Stempelaufdruck fälschen, so bis du unwiderruflich des Todes!« »Unmöglich, was du da von mir verlangst«, wandte Cheng Gui betroffen ein. »Stell dir vor, der Abdruck verwischt an der Hose, habe ich dann etwa auch hundert Schläge zu gewärtigen?« »Es obliegt ganz und gar deiner Sorgfaltspflicht, dafür zu sorgen, daß alles so bleibt, wie es ist. Nimm dir gefälligst ein Beispiel an den Examensprüflingen, die in ihren versiegelten Zellen eingeschlossenen sind. Was glaubst du, wie sorgfältig die mit allem umgehen, damit alles seine Richtigkeit hat?« Cheng Gui wagte nicht, etwas zu erwidern, sondern kramte sein stummelgroßes Schwänzchen hervor. »Stell dich nicht so an«, sagte Frau Du und griff mit ihren zarten Händen danach, um es ganz bis zur Wurzel hervorzuziehen. Cheng Gui kicherte verlegen, angeregt von der angenehmen Berührung schwoll das Gemächte sogleich in der Hand der Gattin an. Doch Frau Du scherte sich nicht weiter darum, sondern setzte den Stempelabdruck auf die Eichel. Aus Furcht, etwas zu verwischen, suchte Cheng Gui nach einem kleinen Tüchlein, in das er das Gemächte einwickelte. Erst dann wagte er es überhaupt wieder, sich zu be837 wegen. 837
Ebd., Kap. 4, S. 44f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Voller Zuversicht in ihre Kontrollmaßnahmen, ist die Gattin von nun an weit großzügiger mit dem dem Mann zugestandenen Bewegungsspielraum. Wie muß sie aber staunen, als der Stempel am Abend nur noch halb so groß ist wie am Morgen. Sie schert sich nicht um den Rückgang der Schwellung des Gliedes und verabreicht dem Gatten vorsorglich Schläge mit dem Bambusstäbchen. Da Frau Du auch weiterhin ohne Kinder bleibt, geht sie eines Tages auf den Plan zur Aufnahme einer Nebenfrau ein, besteht aber darauf, diese selber auswählen zu dürfen. Zhou und Cheng geben sich zufrieden ob des geglückten Versuches, zechen hernach noch eine Weile. Die Suche nach einer geeigneten Kandidatin erfolgt mit Hilfe der Heiratsvermittlerin Wang. Mehrere Angebote werden ausgeschlagen, die Frau ahnt, wo die Du der Schuh drückt, sie will natürlich keine Konkurrentin. Vermittlerin Wang versucht, der Frau Du eine Braut schmackhaft zu machen, bei der der Brautpreis mit Rücksicht auf das Gesicht der Eltern wohl etwas höher liege. Die Dame sei darüberhinaus auch nicht mehr die Jüngste, leide daneben etwas darunter, »nicht ganz Frau und nicht ganz Mann zu sein«. Frau Du zeigt sich interessiert, erfährt, daß die Beschriebene die Tochter des Orakelmeisters Xiong ist und dreißig Jahre zählt. Frau Du ahnt wohl bereits, worum es sich bei der jungen Frau handelt, beauftragt also die Wang mit der Vermittlung. Man wird sich bald einig. Die Eltern der Braut rätseln zwar, was Herr Cheng mit einer Tochter wie der ihren anfangen wird, sind aber froh, das Kind auf die Art und Weise losgeworden zu sein und dabei noch Geld von zweihundert Tael eingenommen zu haben. Man gibt sich als Erklärung eben damit zufrieden, daß die Frau wohl niemand anderen als wie ihre Tochter im Hause haben will. Die Hausgehilfen Cheng Mao und Cheng Hua überbringen Geschenke und Geld an die Familie Xiong. Das Ehepaar frohlockt ob der guten Partie für die Tochter, die als »weiblicher Eunuch« bezeichnet wird. Man will der Tochter nicht allzu viel Mitgift aushändigen, doch Frau Xiong regt an, ihr eine Zofe an die Hand zu geben. Die Braut zieht ins Haus der Chengs ein, Frau Du ist allerdings wenig angetan von der mitgeführten fünfzehnjährigen Zofe namens Cuitai. Der überglückliche Cheng Gui heiratet Frau Xiong, kann die Hochzeitsnacht kaum abwarten. Begleitet von den Witzeleien der zur Feier geladenen Freunde, führt Cheng die neue Gattin schließlich ins Brautgemach. Mit einer Tasse Tee stimmt er sie auf den folgenden Akt ein, kaum ist die Schale leer, geht er ans Werk und streift ihr hastig die Kleider vom Leib. Der Frau Xiong ist das Gebaren des Mannes zunächst unerklärlich. Cheng Gui wundert sich nur, nirgendwo einen Eingang für sein Glied zu finden, selbst bei einer ältlichen Jungfrau wie Frau Xiong sollte man doch zum Erfolg kommen. Er streicht die Eichel mit Spucke ein, will tief in den Leib der Gattin stoßen, rutscht mit seinem Glied am Unterleib herum und dringt beinahe in den After ein. Cheng stößt noch eine Weile auf ihr herum, hat dann seinen Samenerguß, ohne eigentlich zum Erfolg gekommen zu sein. Nach einer Pause unternimmt er in der Nacht einen weiteren Versuch, der
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ebenso erfolglos ist. Angesichts dieser Mißerfolge untersucht er die neue Gattin nun eingehender und muß feststellen, daß man ihm eine »versteinerte Frau« mit einer Scheidenhypoplasie vermittelt hat. In einer ehehygienischen Erläuterung schildert der Autor den Hintergrund dieses Problems: Verehrter Leser, Sie kennen die Gründe dafür, warum die »versteinerten Frauen« mit Scheidenverschluß weder Mann noch Frau sind? Die Ursachen für diese Krankheit sind angeboren. Nach der alten Überlieferung wird bei einer Empfängnis am ersten Tage nach dem Ende der Monatsblutung ein Knabe, ein Mädchen dagegen bei einer Empfängnis am zweiten Tag nach dem Ende der Monatsblutung gezeugt. Bei einer Empfängnis bis zum siebten Tag ist das Verhältnis von Föten beiderlei Geschlechts dann ausgeglichen. Entscheidend ist auch noch, wieviele Anteile der männlichen und weiblichen Essenzen in den Fötus gelangen und zu was für einem Zeitpunkt im kosmischen Gefüge die Empfängnis erfolgt. Herrscht zum Beispiel in der Zeit nach der Befruchtung freundliches Wetter, ist der Himmel klar und der Mond hell, ist die Zeit darüber hinaus günstig und befinden sich die Essenzen von Mann und Frau im Einklang und sind die Kräfte von Feuer und Wasser ausgeglichen, so werden die Knaben und Mädchen, die nach zehn Monaten zur Welt kommen von hellem, klarem Antlitz, von Verstand und wohlgewachsen sein, dabei auch gefeit gegen allerlei Krankheiten. Erfolgt die Befruchtung aber dagegen zur Unzeit, ist nach dem Mondkalender kein glücklicher Tag gewählt, herrschen Wind und Regen, bedecken dicke Wolken den Himmel, suchen in dem Jahr vielleicht gar noch Katastrophen das Land heim, und strebt man dennoch hemmungslos nach dem Vergnügen – dann wird kein gesundes Kind geboren werden. Es wird ihm entweder eine Lippe oder ein Finger fehlen, ja, vielleicht wird es gar einen Buckel haben, lahm, taub oder blind sein. Irgend etwas wird ihm fehlen. Ist bei der Empfängnis gegen die Gesetze der Natur und des Himmels verstoßen worden, sind dazu noch die Essenzen von Mann und Frau erkaltet, dann ist es mit dem gezeugten Knaben in der Gebärmutter wie mit einer unvollkommenen Bronzelegierung, aus der eine Statue gegossen werden soll. Er ist Ausschuß, ein männliches Wesen ohne Zeugungsorgan, das wie ein Weib behandelt wird und in Ermangelung einer besseren Be838 zeichnung den Namen »steinerne Frau« erhält.
Frühmorgens erhebt sich Cheng Gui, fühlt sich betrogen, weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Er ahnt, daß die Gattin hinter der Sache steckt, will seine Wut aber an der Wang auslassen und plant, ihr anderntags Prügel verpassen zu lassen. Doch dann besinnt er sich anders, da der Fall vor Gericht schwer zu gewinnen sein wird. Cheng findet sich damit ab, ohne Nachwuchs zu bleiben. So macht Cheng Gui böse Miene zum guten Spiel, tut am nächsten Tag so, als habe er eine glückliche Hochzeitsnacht verlebt und prahlt mit seiner Manneskraft im Alter. Frau Xiong lebt sich gut ein in der neuen Familie zumal sie ihre Zofe 838
Ebd. Kap. 6, S. 72f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Cuitai an der Seite hat – dies sehr zum Mißbehagen der Frau Du, die sich wegen der hübschen jungen Frau große Sorgen macht. In der Tat gewinnt Cheng Gui immer mehr Interesse an der Zofe, da er seit dem Reinfall mit der neuen Gattin recht zurückgezogen lebt und sich weder der Frau Du noch der Frau Xiong nähert. Der Umgang mit Damen außerhalb des Hauses ist ihm zudem durch die Beibehaltung des lästigen Stempelbrauches seiner Gattin verwehrt. Später wird Cheng Gui die als Ehefrau nutzlose und ihm zudem nicht geheuere Xiong heißen, Nonne zu werden. Die Dame fügt sich seinem Wunsch und tritt ins »Kloster des steinernen Buddha« ein. Xiong nimmt den Glaubensnamen »Miaoyin« an und geht täglich ihren Gebetsübungen nach. Eines Nachts träumt sie, wie der Abt in ihre Kammer eindringt, um ihr ein unsittliches Angebot zu machen. Man erkennt, daß sie keine gewöhnliche Frau ist, tatsächlich stirbt die Miaoyin bald daraufhin, fährt aber nicht sogleich in den Himmel auf, sondern begibt sich in der Gestalt eines Buddhas in die Unterwelt. Bei den Beamten dort stellt sie Nachforschungen über die Nachkommen des Cheng Gui an und findet heraus, daß die Linie der Cheng zum Aussterben bestimmt ist. Miaoyin begibt sich zu dem mächtigen Unterweltfürsten Ksitigarbha-Buddha, um eine Aufhebung dieses Beschlusses zu erwirken. In der Tat gelingt es Ksitigarbha, den mit der Wiedergeburt befaßten Cakravartiraja zu einer Änderung des Schicksals von Chengs Clan zu bewegen. Nach einer Reihe weiterer Verwicklungen ist es tatsächlich Zofe Cuitai, die den erhofften Nachwuchs bringt. Frau Du stirbt aus Haß auf den nichtsnutzigen Neffen und gelangt in die letzte der acht Höllen, nämlich die Avici-Hölle, wo sich auf Betreiben Miaoyins Ksitigarbha nach Rücksprache mit Tathagata für sie einsetzt. Letzterer verfaßt zur Erlösung der Frau Du sowie aller anderen eifersüchtigen Frauen auf Erden die »Sutra über die Furcht vor der Gattin« (Miaofa papo zunjing), in der sich ein transzendenter Ansatz zur Lösung des Problems der Eifersucht findet. Die Furcht des Gatten vor seiner Ehefrau (junei) wird dabei zurückgeführt auf das fleischliche Verlangen des Mannes: Wer im »Fluß der Gefühle« treibt und nach Frauen verlangt, der wird einst auch die Gattin zu fürchten haben. Da der Verkehr der Geschlechter stets große Versuchungen mit sich bringt, können nur abgestufte Formen der Entsagung drohende Auseinandersetzungen zwischen den Gatten vermeiden helfen. Der gewöhnliche Mann, so die Botschaft der Sutra, wird zwar mit der Frau das gemeinsame Lager teilen, sich aber mittels eines eigenen Deckbetts von ihr abtrennen; der Mann auf der nächsthöheren Bewußtseinsstufe neigt dagegen schon dazu, seine ganze Körperlichkeit zu vergessen, während der erleuchtete Mann sich so verhält, als ob überhaupt keine Frau für ihn existiert. Im Kern drückt die Sutra damit aus, daß der einzige Weg für den Mann, die Unterwerfung unter die Frau zu vermeiden, darin besteht, ihr so wenig Bewußtsein wie möglich zuzumessen. Vor ihrer Rückkehr ins Leben muß Frau Du noch einen operativen Eingriff über sich ergehen lassen, bei dem ihr aus dem Rückgrat ein Nerv entfernt wird, in
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dem sich die Eifersucht befindet. Bei einer späteren Befragung wird sich in der Tat herausstellen, daß sie dieses Gefühl nicht mehr kennt. Erstaunt nehmen die Angehörigen die Rückkehr der Frau Du wahr, nachdem man sie bereits in einen Sarg gelegt und neunundvierzig Tage um sie getrauert hat. Erfreut registriert man die Veränderungen in ihrem Wesen, jetzt kann auch an einen Umzug der Cuitai mit dem mittlerweile herangewachsenen kleinen Sohn in das Haus des Cheng Gui gedacht werden. Weinend begrüßt Frau Du ihre Familie, will die Stellung der ersten Frau gar an Cuitai abtreten. Somit steht dem Familienglück Cheng Guis nichts mehr im Wege. Sein Sohn Mengxiong erweist sich schon im Alter von sieben Jahren als ziemlich gelehrig und belesen. Er bringt es bis zum Doktortitel, entschließt sich aber später, Mönch zu werden. Als Wiedergeburt der Miaoyin obliegt es ihm, gegen die Eifersucht in den Familien anzukämpfen und dafür zu sorgen, daß alle »Essigflaschen und Essigkrüge« in den Häusern zerschlagen werden.
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8. Die vollkommene Liebe: Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten« Der Unterschied zwischen der Thematik in den »Romanen über Talente und Schönheiten« (caizi jiaren xiaoshuo) und den Werken im vorstehenden Abschnitt könnte wohl größer kaum sein: dort der ängstliche, verschüchterte Gatte, der unter der Herrschaft seiner Frau zu leiden hat, hier nun die wohlgeordnete Beziehung zwischen talentierten jungen Gelehrten und den Schönheiten, um die sie werben. War die Welt soeben noch düster, von Mißtrauen, Eifersucht und Gewalt geprägt, so erscheint sie nun hell und voller Stimmigkeit. Gefühl und Sehnsucht geraten zu einem Ambiente, in dem die Liebenden am Ende nach oftmals zahlreichen Verwicklungen zueinander finden. Die stereotype Handlung dieser zumeist zwischen zwölf und zwanzig Kapitel langen und in ihren frühesten Beispielen auf die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückgehenden Romane ist recht gut in Einklang zu bringen mit den Bemühungen der Herrscher der soeben gegründeten Qing-Dynastie, die Lage im Reich zu konsolidieren. Nichts ist mehr zu spüren von den Erscheinungen des gesellschaftlichen und dynastischen Verfalls des vergangenen Jahrhunderts, keine Kritik mehr an intriganten Ministern und Eunuchen, Ausschweifung und Dekadenz. Dagegen finden sich Gestalten junger, strebsamer Männer, die sich den staatlichen Prüfungen unterwerfen, erfolgreich ihren Weg an die Spitze antreten und am Ende Erfüllung in der Verbindung mit schönen und züchtigen Mädchen aus bestem Hause finden. Äußere Schönheit und Anmut der Heldinnen und Helden, die in der Regel die Zwanzig kaum überschritten haben, werden verbunden mit einer makellosen Moralauffassung, Beherrschung der Umgangsformen und Vertrautheit mit der konfuzianischen Etikette.839 Die jungen Männer und Frauen schätzen stets Talent und Begabung über alles (ai cai ru ming). An nichts finden diese Idealgestalten mehr Gefallen als an einem Wettbewerb in der Poesie, bei dem sie nach einem gestellten Thema im Nu ihr literarisches Können präsentieren. Verbinden die Herren oftmals überlegene geistige Qualitäten mit körperlicher Kraft, so zeichnen sich die edlen Damen neben ihrer Versiertheit in der Dichtkunst durch ein gehöriges Maß an Willenskraft und Gerissenheit aus, das sie aus den gegen sie gesponnenen Intrigen als Siegerinnen hervorgehen läßt. Die Protagonisten 839
Ein mit dem Konfuzianismus konformes Verhalten war nach traditioneller Vorstellung von mehreren Punkten geprägt und umfaßte u.a.: Unterwerfung unter die Autorität von Eltern, Älteren und Höhergestellten; Beachtung von Moral und Normen; Würdigung der Vergangenheit sowie Anerkennung der Geschichte; Zuwendung zu einem an traditionellen Werten ausgerichteten Leben; Wertschätzung gegenüber dem Vorbildhaften. Vgl. dazu ARTHUR F. WRIGHT: »Values, Roles, and Personalities«, in DERS. / DENNIS TWITCHETT (Hg.): Confucian Personalities, Stanford, Cal.: Stanford UP 1962, S. 8.
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten«
der caizi jiaren-Romane sind zweifellos als Modelle hervorragenden geistigen und moralischen Verhaltens angelegt und als Vorbilder an Tugend und Strebsamkeit dem Leser zur Nachahmung empfohlen, wobei die Verfasser der Geschichten nicht zuletzt das weibliche Publikum ins Auge gefaßt haben dürften. Hatte die geistige Einwärtswendung unter den Gelehrten in der Zeit nach dem Dynastiewechsel vorübergehend noch Ausdruck in einer kritischen und mitunter satirischen Betrachtung des Ehelebens gefunden, so nimmt sie nun die Form eines idyllischen Rahmens an, in dem sich die Verfasser auf altüberlieferte Ideale wie Moral, Ehre, Treue, Keuschheit und Bildung zurückbesinnen. Unsittlicher Schmutz und sinnliche Freuden sind als Themen passé. In eindringlichen Worten wendet sich etwa der als Verfasser der Vorbemerkungen zu dem nach seinen Protagonisten benannten Roman Yu Jiao Li nur unter seinem Pseudonym bekannte »Meister der Sutra von der Himmelsblume« (Tianhuazang zhuren), der als Autor, Herausgeber und Kommentator wenigstens fünfzehn Werken des Genres seinen Stempel aufgedrückt hat, gegen den schädigenden Einfluß der erotisch-pornographischen Erzählliteratur der Vergangenheit, in der, so sein Vorwurf, die romantischen Auffassungen von der Liebe allein in der Darstellung niederer sinnlicher Genüsse zum Ausdruck gekommen seien. Nachdem der Meister eine Liste berühmter Liebespaare aus den vergangenen Jahrhunderten angeführt hat, schreibt er: Nur in solchen Fällen [wie den zuvor am Beispiel herausragender Liebespaare des Altertums beschriebenen] handelt es sich um wirkliche romantische Liebesgeschichten, die Eingang in die Boudoirs der Damen finden sollten, und nur in solchen Fällen werden die Leser das dort vermittelte Bild harmonischer Ehebeziehungen zu schätzen wissen. Nur solche Geschichten [...] werden die Menschen von ihrer eigenen Glückseligkeit träumen lassen. Warum das so ist? Weil es sich bei den Männern in den Erzählungen um hervorragende Talente handelt und die Frauen eine außergewöhnliche Schönheit besitzen. Jeder Leser erfreut sich an den Begegnungen und den Werbungsbemühungen der Helden in diesen wunderbaren Geschichten. [... In der Vergangenheit] ist das edle konfuzianische Konzept von der romantischen Liebe jedoch leider immer wieder von liederlichen Werken der Erzählliteratur beschmutzt worden. Schon lange hege ich den Wunsch, der konfuzianischen Liebesauffassung wieder zu ihrem Recht zu ver840 helfen und uns von der Mode der Unzüchtigkeit zu befreien.
Wie schon die Werke im vorigen Abschnitt über den chinesischen Hausdrachen und die männliche Furcht vor der Ehegattin, so griff auch das Genre der caizi jiarenRomane auf eine Reihe archetypischer Vorbilder von Liebespaaren zurück, die früh in der chinesischen Literatur sowie der Geschichtsschreibung auftauchten und auch in dem soeben angeführten Vorwort des »Meisters der Sutra von der 840
Vorwort zu Yu Jiao Li, hier nach der Ausgabe Shanghai: Shanghai guji 1994, »Heke tianhuazang zhuren caizishu xu«, S. 1f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Himmelsblume« nicht fehlen. Der Bogen an Vorbildern läßt sich hier von der historischen Gestalt des Hofdichters Sima Xiangru (179–117 v. Chr.) und seiner Gemahlin Zhuo Wenjun, deren Beziehung in den Aufzeichnungen des Großhistorikers festgehalten ist über die Tang-zeitlichen Erzählungen »Yingying« des Yuan Zhen (779–831) bzw. »Li Wa« (Li Wa zhuan) des Bai Xingjian (geb. ca. 776) bis hin zur Umarbeitung des Yingying-Stoffes in Wang Shifus Yuan-zeitlichem Singspiel Das Westzimmer und der zur gleichen Zeit abgefaßten Erzählung »Jiao Hong« (Jiao Hong zhuan) spannen, um schließlich in Tang Xianzus Drama Die Päonienlaube am Ende der Ming-Dynastie noch einmal einen würdigen Vertreter des Themas zu finden.841 Die hier kursorisch angeführten Beispiele machen bereits deutlich, wie breit die Palette für Quellen der Darstellung von Liebesbeziehungen war, auf die man zurückgreifen konnte, umfassen sie doch historische Texte ebenso wie Dramen und Erzählungen. Bei aller Ähnlichkeit des grundlegenden Motivs der Liebesbeziehungen sind hier freilich durchaus auch Unterschiede im Vergleich zu den caizi jiaren-Romanen vorhanden: Sima Xiangru ist kein junger Mann, und er heiratet mit Zhuo Wenjun keine Unschuld im zarten Alter, sondern eine Witwe. Doch treu und liebevoll steht er zu ihr, man führt ein bescheidenes Leben, bis ihm sein Talent endlich zum verdienten Ruhm am Hofe des Kaisers Han Wudi (140–87 v. Chr.) verhilft. Auch Li Wa besitzt als Kurtisane nichts von dem gesellschaftlichen Status der meisten jungen Schönheiten aus gutem Hause in den Werken unseres Genres, doch verhilft sie dem von ihr zugrundegerichteten Scholaren Zheng Sheng am Ende aus Mitleid wieder zum Aufstieg, ermöglicht ihm die Teilnahme an den Beamtenprüfungen und gelangt an seiner Seite schließlich zu Ruhm und Ansehen. Das glückliche Ende fehlt zuletzt in »Jiao Hong«, wo den beiden Liebenden Wang Jiao und ihrem Cousin Shen Chun aus familiären Gründen die Ehe verweigert wird und das Pärchen erst nach dem gemeinsamen Freitod durch die Wiedergeburt in Gestalt von unzertrennlichen Mandarinen-Enten zusammenfindet. So verschieden die Handlung und das Wesen der Protagonisten in diesen Vorläufern von den späteren Liebesromanen sein mögen, sind hier jedoch schon im Ansatz eine Reihe von Elementen sichtbar, die später aufgegriffen wurden: unverbrüchliche Liebe, beruflicher Aufstieg als Beamter und beherzter Widerstand gegen gesponnene Intrigen sind Versatzstücke, derer sich die Autoren der caizi jiaren-Romane immer wieder bedienten. Es entspricht der in den Büchern über Talente und Schönheiten entworfenen Vorstellung von der vollkommenen Liebe, daß die Vorsehung (yuan) bzw. durch den Himmel wirksam werdende Kräfte die Liebenden allerlei auferlegte Prüfungen erfolgreich bestehen lassen, so daß sie am Ende vereint werden. Im Unterschied 841
Zu weiteren literarischen Werken, die Einfluß auf die Entstehung der Romane über Talente und Schönheiten nahmen vgl. RICHARD C. HESSNEY: Beautiful, Talented, and Brave: Seventeenth-Century Chinese Scholar-Beauty Romances, Ph.D. an der Columbia University 1979, S. 89–115.
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten«
zu den griffigeren Konzepten wie der Vergeltung (für die wir etwa oben mit den Ehegeschichten ein anschauliches Beispiel kennengelernt haben) oder dem »Sündenfall«, bei dem ein in himmlischen Regionen begangenes Unrecht mittels einer Inkarnation wiedergutgemacht werden muß (wie etwa im Falle der Erzählung von den neun Wolken [Jiuyunji])842, bleibt die Vorstellung von der Vorsehung weit amorpher und gleicht eher unsichtbaren Schicksalsfäden, die die Protagonisten wie zufällig immer an den rechten Ort lenken. Im Grunde ist es stets nur der Vorsehung zu verdanken, die, unterstützt von Omina und Wahrsagungen, das komplex angelegte Handlungsgefüge entwirrt und zur Lösung führt. Wie bewußt man auf diese Technik baute, zeigen die Erläuterungen des »Meisters der Sutra von der Himmelsblume«, die er in seinem Vorwort zu der Erzählung von den magischen Karten (Huatuyuan) gibt: Die Vorsehung wird vom Himmel gelenkt, und alle Menschen sind in gleicher Weise davon betroffen. Nirgendwo scheint sich ein Ursprung für die Dinge ausmachen zu lassen, doch plötzlich erscheinen Zweige und Blätter, Blüten und Früchte, die langsam einen Baum ergeben und am Ende das wunderbare Geflecht der Vorherbestimmung offenbaren. Alles hat auf einmal den Platz, der ihm zukommt. Aus diesem Grunde werden das Glück der Vorsehung und die romantische Liebe als etwas Wunderbares und von fein gesponnenen Fäden Gelenktes angesehen, so daß man davon nicht anders als von einer himmlischen Fügung sprechen kann. [...] Damit wird deutlich, daß das Glück der Vorsehung stets einen Ursprung und Sinn hat. Nur weil seine Existenz obskur bleibt, nicht faßbar für unsere Sinne, sind wir nicht in der Lage, sein Kommen und Gehen zu bemerken. Alles was wir tun, ist, es unbewußt zu empfangen und dabei von »nichts« [wu] zu reden. Für Menschen mutet es seltsam an, wenn etwas da ist und doch scheinbar nicht existiert, dem unergründlichen Spiel des Himmels unterworfen. Erst wenn Unsterbliche die Zusammenhänge offenbaren, wird es 842
Hinter der zusammengestückelten Handlung dieses Romans, der, was seine literarischen Quellen in bezug auf China angeht, Anleihen bei den Drei Reichen, Reise in den Westen etc. erkennen läßt, ist das caizi jiaren-Thema nur noch schemenhaft angedeutet. Durch die Einbuße seiner himmlischen Reinheit (er hat nach den Acht Unsterblichen geschielt), wird dem Mönch Xingzhen auferlegt, sich in der Wiedergeburt als Yang Shaoyou in Liebesbeziehungen zu acht Frauen zu begeben. Erfolgreich meistert Yang die ihm übertragenen Aufgaben und bringt es unter dem Kaiser gemeinsam mit seinem Harem bis zum König von Wei, bevor Xingzhen erwacht und sich am Schluß alles als Traum herausstellt. Der Roman gilt als eines der wenigen Beispiele des frühen chinesischen Romans, in dem auf ausländische Vorlagen zurückgegriffen wurde. In seiner Urfassung lag der Roman unter dem Titel Traum der neun Wolken (Kuun mong) aus der Feder des koreanischen Verfassers Kim Manjung (1637–1692) in sechzehn Kapiteln vor und wurde dann von einem anonymen chinesischen Autoren zwischen 1818 und 1820 adaptiert, der den Stoff unter Anreicherung mit Motiven aus der chinesischen Literatur auf fünfunddreißig Kapitel erweiterte, eben der Form, in der das Werk auch hier in der Ausgabe Nanking: Jiangsu guji 1994 vorliegt.
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Die WELT DER GEFÜHLE als Wunder für die Menschen faßbar, und trotz ihrer Skepsis zeigen sie sich freudig überrascht. Sie leben inmitten des Seltsamen und Wunderbaren und wissen doch nicht, worin dies zu finden ist. Sie erblicken ein schönes Mädchen und fühlen sich glücklich, vernehmen bösen Schimpf und empfinden Furcht. Aus einer kleinen Verwicklung wird Liebe, die geringste Beeinflussung der Pläne und Absichten verursacht Erstaunen. Dennoch ahnen sie nicht, daß alles der Vorsehung unterworfen ist, und weil sie von diesen höheren Verstrickungen 843 nicht wissen, sprechen sie von glücklicher Fügung.
Dem Begriff der Vorsehung und Fügung wohnt, wie wir soeben gesehen haben, also eine grundlegende positive Kraft inne, die sich ganz deutlich von der auf dem Schuldprinzip basierenden Vergeltung abhebt und auch im heute noch verwendeten Terminus des yuanfen, d.h. der Schicksalsfügung, die Menschen zueinander finden läßt, zum Ausdruck kommt. Es verwundert angesichts der offensichtlichen Beliebtheit der Werke über Talente und Schönheiten, die den Lesern über gut zwei Jahrhunderte hinweg nahezu fünfzig Titel dieses überaus produktiven Genres bescherte und die meisten davon aufgrund des schlichten, wenig verfänglichen Inhalts zumal von der strengen Zensur verschont blieben, daß uns die Verfasser in der Regel lediglich mit ihrem Pseudonym überliefert sind. Selbst über den oben bereits genannten »Meister der Sutra von der Himmelsblume«, bei dem es sich um einen der profiliertesten Schreiber und Editoren von Werken des Genres handeln dürfte, ist wenig mehr bekannt, als daß er ein langes Leben in der Zeit vom Ende der Ming-Dynastie bis zur Mitte der Kangxi-Ära (d.h. ca. 1650–1750) geführt und seinen Wohnsitz in der südchinesischen Stadt Wuxi gehabt haben dürfte.844 Der Grund für dieses fehlende Bekennertum könnte in dem Umstand zu suchen sein, daß die bescheidene Machart der Romane nur geringe Hoffnung auf literarischen Ruhm in Aussicht stellte und sich die Autoren, die man durchaus in der Welt der Literaten und Gelehrten vermuten darf, keine Blöße geben wollten. Wie kritisch man den Wert der Bücher über Talente und Schönheiten dabei beurteilte, belegt mit dem Traum der Roten Kammer ausgerechnet ein zeitgenössisches Werk, das, unbeachtet seiner überlegenen literarischen Qualität, ohne den Einfluß seiner schlichteren Vorgänger so wohl nicht entstanden wäre. Gleich zu Beginn des Romans, während des mythischen Handlungsauftakts, läßt der Verfasser Cao Xueqin durch die Stimme des Steins seine Leser folgendes wissen:
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Huatuyuan, Vorwort (xu), Shenyang: Chunfeng wenyi 1985, S. 1f. Vgl. die Angaben bei HESSNEY: Beautiful, Talented, and Brave, S. 17 sowie außerdem SU XING: »Der Meister der Sutra von der Himmelsblume und seine Romane über Talente und Schönheiten« (Tianhuazang zhuren ji qi caizi jiaren xiaoshuo), in: Aufsatzsammlung über die Romane von Talenten und Schönheiten (Caizi jiaren xiaoshuo shulin), Shenyang: Chunfeng wenyi 1985, S. 9–26.
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten« »[...] Was nun die Bücher über Talente und Schönheiten betrifft, so sind unzählige davon nach ein und demselben Muster verfaßt, und sie alle haben die Tendenz zu Anzüglichkeiten. Der Inhalt dreht sich meist um schöne und begabte junge Männer und Frauen aus der Geschichte. Um ein paar von seinen eigenen Liebesgedichten unterzubringen, erfindet der Verfasser eine Erzählung von stereotypen Helden und Heldinnen zusammen mit einer Reihe von niederen, mißgünstigen Charakteren, wie man sie als Scharlatane auch in den Theaterstücken findet. Selbst den Sklavenmädchen in diesen Werken wird allerlei dummes Zeug in den Mund gelegt. Die Bücher sind allesamt voll von Widersprüchen und in höch845 stem Maße unglaubwürdig.«
In Cao Xueqins pauschaler Kritik, die mangels konkreter Anführung von Beispielen nicht erahnen läßt, welche Werke des Genres er rezipiert hat, stehen handwerkliche Mängel im Vordergrund. Er führt dieses Problem im weiteren noch genauer aus und stellt dabei die hehren Absichten der Verfasser von caizi jiarenRomanen in Abrede, womit auch die oben geschilderten Anliegen des »Meisters der Sutra von der Himmelsblume« in ein anderes Licht gerückt werden. So vernichtend Cao Xueqins Kritik ist, kann den Romanen über Talente und Schönheiten ein wichtiger Einfluß auf seinen Traum dennoch nicht abgesprochen werden, und sei es nur der, daß er wesentliche Elemente wie die Tendenz der Empfindsamkeit (renqing shitai) daraus aufgriff, um mit dem Protagonisten Jia Baoyu sowie den zahlreichen jungen Damen in seiner Umgebung ein überlegenes eigenes caizi jiaren-Werk monumentalen Ausmaßes anzufertigen, das zugestandenermaßen freilich weit komplexer, detaillierter und psychologischer angelegt ist als die etwas monotonen übrigen Vertreter des Genres, welches sich zu Cao Xueqins Lebzeiten wohl gerade auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung befunden haben dürfte. Caos Vorbehalte dokumentieren zwar die Geringschätzigkeit, mit der Gelehrte und anspruchsvolle Literaten insbesondere aus den gehobenen Schichten den einfachen Liebesgeschichten begegnen mochten. Doch tat diese Haltung der anhaltenden Popularität der Gattung durchaus keinen Abbruch, wie die Tatsache zeigt, daß noch die Verfasser der beliebten und abschätzig mit »Mandarinentenund Schmetterlingsliteratur« (Yuanyang hudiepai) benannten Werke in den beiden Jahrzehnten nach der Republikgründung 1911 auf die Vorläufer der caizi jiarenRomane zurückgriffen, nicht ohne jedoch auch diesmal die harte Kritik durch die angesehenen Literaten und Literaturwissenschaftler hinnehmen zu müssen.846 Insgesamt gesehen nehmen die Liebesromane, bei allen mit der Zeit immer wieder vorgetragenen Vorbehalten, seit ihren frühen Vertretern wie Yu Jiao Li und Ping Shan Leng Yan in der Entwicklung des chinesischen Romans durchaus nicht zuletzt deshalb eine wichtige Rolle ein, weil sie sich mit ihrer geschlossenen 845 846
CAO XUEQIN / GAO E: Hongloumeng, Peking: Renmin wenxue 1985, Bd. 1, Kap. 1, S. 5. Vgl. dazu E. PERRY LINK, JR.: Mandarin Ducks and Butterflies. Popular Fiction in Early Twentieth-Century Chinese Cities, Berkeley u.a.: University of California Press 1981.
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Die WELT DER GEFÜHLE Struktur und dem übersichtlichen Aufbau der Handlung positiv von den oftmals nur episodisch angelegten längeren Erzählwerken abheben und damit zumindest dem im Abendland verbreiteten Begriff vom Roman in starkem Maße entsprechen. Gerade der gängige Handlungsaufbau entspricht mit der Unterteilung in Begegnung der Liebenden, Trennung, Überwindung von Hindernissen und Wiedervereinigung weitgehend der Struktur der westlichen Komödie.847 Weit wohlwollender als mitunter in der eigenen Heimat, wurden die Bücher über Talente und Schönheiten daher im Ausland aufgenommen. In der unmittelbaren Umgebung Chinas war es der japanische Schriftsteller Takizawa Bakin (1767–1848), der vor allem unter dem Einfluß der Erzählung von der Gattenwahl (Haoqiuzhuan) seinen unvollendet gebliebenen Roman Öffne das Buch und lasse dich von der Erzählung über ritterliche Männer und Frauen in Staunen versetzen (Kaikan kyôki kyôkakuden) abfaßte. Doch auch bei den abendländischen Reisenden und Gelehrten, die seit dem 17. Jahrhundert China besuchten, blieb das Genre der Liebesromane nicht unbemerkt, und wiederum war es die Gattenwahl, die als erster chinesischer Roman vollständig in einer europäischen Sprache erschien: Nach Entwürfen durch den englischen Kaufmann James Wilkinson (gest. 1736) wurde das Werk im Jahre 1761 von dem Geistlichen Thomas Percy (1729–1811) unter dem Titel Hao Kiou Choann or the Pleasing History veröffentlicht, auf dessen Grundlage dann 1766 Übersetzungen ins Französische, Deutsche und Niederländische erfolgten. Wenige Jahrzehnte später, im Jahre 1829, fertigte John Francis Davis eine neue Übertragung des gleichen Werkes unter der Bezeichnung The Fortunate Union an. Zur gleichen Zeit begannen sich französische Übersetzer mit Yu Jiao Li für einen weiteren der bekannteren caizi jiaren-Romane zu interessieren, so daß entsprechende Fassungen 1826 von Jean Pierre Abel-Rémusat (1788–1832) unter dem Titel Iu-kiao-li, ou les deux cousines bzw. 1842 von Stanislas Julien (1797–1873) in der Version Les Deux Cousines erschienen. Letzterer hatte bereits 1826 eine Übertragung des Ping Shan Leng Yan vorgelegt, präsentiert als P'ingchan-ling-yen, Les deux jeunes filles lettrées. Wie interessiert die zeitgenössischen Leser diese Übersetzungen aufnahmen, zeigen nicht zuletzt Goethes Bemerkungen gegenüber Eckermann, nachdem er um 1826/27 die Lektüre der deutschen Version von Gattenwahl und Yu Jiao Li abgeschlossen hatte. Dort bringt der Dichter zum Ausdruck, daß die Chinesen ebenso denken, fühlen und handeln wie Europäer und findet in den beiden rezipierten caizi jiaren-Romanen Parallelen zu seinem »Hermann und Dorothea« ebenso wie zu Richardsons Werken.848 847
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Vgl. RICHARD C. HESSNEY: »Beyond Beauty and Talent: The Moral and Chivalric Self in The Fortunate Union«, in: ROBERT HEGEL / RICHARD C. HESSNEY: Expressions of Self in Chinese Literature, New York: Columbia UP 1985, S. 222f. Vgl. dazu und zu den Übersetzungen HESSNEY: Beautiful, Talented, and Brave, S. 326–345. Zu einer Übersicht über die Übersetzungen der drei oben genannten Romane in europäische Sprachen s.a. CRAWFORD WILLIAM BRUCE: Beyond the Garden Wall: A Critical Study of
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Wenden wir uns nach diesen einführenden Betrachtungen einigen der Romane im einzelnen zu. Als das wohl früheste Werk des Genres über Talente und Schönheiten darf wohl Yu Jiao Li gelten.849 Die zwanzig Kapitel umfassende Erzählung stammt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus der frühen Qing-Ära »Shunzhi« (1644–1661), ist aber möglicherweise auch schon etwas zeitiger abgefaßt worden. Bei dem Vorwortverfasser »Meister der Sutra von der Himmelsblume«, der sich lediglich als Herausgeber des Romans nennt, könnte es sich auch um den tatsächlichen Autoren handeln. Die Handlung ist in die Mitte der Ming-Dynastie zur Zeit des despotischen Eunuchen Wang Zhen (?–1449) verlegt, der nach der Inthronisierung des Yingzong-Kaisers im Jahre 1436 die Geschicke bei Hofe bestimmte. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zunächst die Ereignisse um den Ritenminister Bo Xuan, einen aufrichtigen Konfuzianer, der sich aus Zorn über Wangs Machenschaften in seine Heimatstadt Jinling, das heutige Nanking zurückzieht. Sein privates Glück ist lange Zeit getrübt von dem ausbleibenden Nachwuchs, erst als der Minister die Vierzig weit überschritten hat, bringt seine Gattin ein Mädchen zur Welt, das in der Folge eines Traums durch Bo Xuan kurz vor der Geburt, in dem ihm von einer Gottheit ein roter Jadestein verliehen wird, den Namen Hongyu erhält. Das Motiv der inkarnierten Jade, von Cao Xueqin auf großartige Weise in Beziehung zur Weltenschaffung gesetzt, wird später auch im Traum der Roten Kammer wieder aufgegriffen, als Jia Baoyu mit eben einem solchen Edelstein im Mund das Licht der Welt erblickt. Die Jahre vergehen, und erst nach der Hinrichtung des Wang Zhen begibt sich Bo Xuan zurück auf seinen Posten in der Hauptstadt, wo er alsbald nach einem geeigneten Gemahl für seine belesene und mittlerweile sechzehn Jahre alte Tochter zu suchen beginnt. Einen ersten Beweis ihrer überragenden Dichtkunst gibt die junge Hongyu, als der Vater bei einem poetischen Wettbewerb mit den Freunden Wu Gui, Su Run und Yang Tingshao aus der Hanlin-Akademie bzw.
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Three ›Tsai-Tzu Chia-Jen‹ Novels, Ph.D. an der Indiana University 1972, Anhang S. 192f. Bei dem Gespräch mit Eckermann handelt es sich um jenes vom 31.1.1827 (findet sich auch im Anhang der weiter unten angeführten Übersetzung zum Haoqiuzhuan aus dem Kiepenheuer-Verlag 1981, S. 323). Vgl. auch GÜNTHER DEBON: »Goethe erklärt einen chinesischen Roman«, in: DERS.: Goethes Begegnungen mit Heidelberg. 23 Studien und Miniaturen, Heidelberg: Guderjahn 1992, S. 181–191. Hier bearbeitet nach der Ausgabe Yu Jiao Li in: Große Sammlung von Liebesromanen aus der Ming- und Qing-Dynastie (Ming Qing yanqing xiaoshuo daguan), hrsg. von YIN GUOGUANG u. YE JUNYUAN, Peking: Huaxia 1993, Bd. 2, S. 126–271. Der Roman liegt neben den o.g. französischen Übersetzungen auch in mehreren deutschen Fassungen vor, die hier aber nicht greifbar waren: Ju-Kiao-Li. Ein chinesischer Familienroman, bearbeitet von EMMA WUTTKE-BILLER, Leipzig: Reclam jun. 1922; Yü Chiao Li. Rotjade und Blütentraum, übers. v. ANNA VON ROTTAUSCHER, Wien: Frick 1941; Das Dreigespann oder Yu-liao-li, übers. v. MARIO SCHUBERT, Bern: Scherz 1949.
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Die WELT DER GEFÜHLE dem kaiserlichen Zensorat aus Enttäuschung darüber, daß sich bei Hofe niemand findet, der bereit wäre, dem 1449/50 für ein Jahr in die Mongolei verschleppten Kaiser Yingzong das Geleit zurück in die Heimat zu geben, das Bewußtsein verliert. Es gelingt dem Mädchen innerhalb kürzester Zeit, anstelle Bo Xuans die gewünschten Verse zu präsentieren, welche auf allgemeine Zustimmung stoßen. Zensor Yang ist von den Künsten der Hongyu derart angetan, daß er sie sich als Frau für seinen Sohn Yang Fang wünscht, und obwohl ein herbeigerufener Astrologe zumindest nichts verheißt, was eine solche Verbindung in späteren Jahren behinderte, bringt Bo Xuan nach eingehender Prüfung der Talente des Kandidaten seine Ablehnung zum Ausdruck, da er zu dem Eindruck gelangt ist, daß sich Yang Fang an Bildung nicht mit Hongyu messen kann. Der rachsüchtige Zensor Yang beauftragt Bo daraufhin mit der gefährlichen Mission, den freigelassenen Kaiser in die Hauptstadt zurückzugeleiten, um während der Abwesenheit des Vaters die Heiratspläne mit Hongyu voranzutreiben. Die Abschiedsszene zwischen Bo Xuan, Hongyu und Wu Gui bietet ein eindrucksvolles Beispiel für die Gefühlswelt, die die Verfasser von caizi jiaren-Romanen in ihren Werken entwerfen und dokumentiert zugleich einige der moralischen Werte, auf die man sich immer wieder beruft. Das Pathos der folgenden Szene liegt in der Mischung aus gängigen Motiven der Trennung und des Abschieds mit dem konfuzianischen Ideal der Pflichterfüllung. Minister Bo hatte einige Becher Wein getrunken, als er mit einem Seufzer bemerkte: »Stets ist der edle Mensch den Intrigen durch gemeine Leute ausgesetzt. Das war in der Vergangenheit nicht anders als heutzutage. Jetzt sitze ich mit euch noch beim Wein zusammen, doch morgen schon werde ich durch die Wüste der Barbaren ziehen. Wer weiß, vielleicht verliere ich bei der Mission mein Leben. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, ein Opfer der Machenschaften eines gemeinen Mannes zu sein.« »Der gemeine Mann mag zwar dem Edlen mit seinen Ränken zusetzen«, bemerkte Wu Gui, »doch der Himmel wird sein Glück dem Manne ohne Fehl nicht versagen. Unbill und Härten werden sich auf deiner Reise nicht vermeiden lassen, doch um so mehr werden dadurch deine Verdienste, dein Ansehen und deine Treue und Rechtschaffenheit als Untertan zum Ausdruck gebracht. Es ist eine Auszeichnung für einen ehrenwerten Mann wie dich, mit solch einer schwierigen Aufgabe bedacht zu werden.« »Ich kann dem nur beipflichten«, sagte Minister Bo, »meine Sorge ist allein, daß mir ein männlicher Erbe versagt geblieben ist und ich nur eine zarte Tochter besitze. Mich quält die Vorstellung, daß sie, noch unverlobt, Spielball der Mächtigen werden könnte, selbst wenn ich sie bei dir in guten Händen weiß. In Zeiten wie diesen liegen mir ihre Heiratsangelegenheiten mehr auf der Seele als die Schwierigkeiten, die mir auf der Reise bevorstehen.« Als sie die kummervollen Worte des Vaters vernahm, füllten sich die Augen Hongyus mit Tränen. »Vater«, sagte sie, »es ist allein meine Schuld, daß es soweit gekommen ist. Selbst jetzt bist du noch um mein Wohlergehen besorgt. Ich
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten« mache mir Vorwürfe, dich um deinen inneren Frieden gebracht zu haben und würde mein Leben dafür geben, dich von deinen Sorgen zu befreien. Doch ach, was wird dann sein, wenn du eines Tages zurückkehrst und niemanden hast, der dir dient und dich im Alter pflegt. Der Gedanke daran bricht mir fast das Herz. Doch da ich so glücklich bin, Aufnahme bei Onkel Wu zu finden, dessen Fürsorge mir die verstorbene Mutter ersetzt, bin ich zuversichtlich, daß alles gut ausgehen wird. Dabei hoffe ich nur, daß du deine Mission erfolgreich beenden wirst und so bald wie möglich zurückkehrst. Wozu die Sorgen um mich? Ich bin noch jung an Jahren und keineswegs über das Alter hinaus, in dem man gewöhnlich eine Heirat ins Auge faßt. Mache dir nur keine Gedanken um mich, dann habe auch ich es leichter.« Gerührt von den teilnahmsvollen Worten der Tochter und, angeregt vom Wein, ohnehin schon in einer rührseligen Stimmung, schossen auch Minister Bo Tränen aus den Augen. »Su Wu wurde während der Han-Dynastie als Gesandter zu den Hunnen geschickt und dort neunzehn Jahre lang festgehalten«, hob Minister Bo wieder an, »erst als sein Haar bereits ergraut war, gelang es ihm, wieder in die Heimat zurückzukehren. Fu Bi machte in der Zeit der SongHerrscher mehrere Reisen, um den Frieden mit den Invasoren der Kitan auszuhandeln. Während er in der Fremde weilte, öffnete er nicht einen der Briefe, die ihn von der Familie daheim erreichten, aus Furcht, davon bei der Erfüllung seiner Pflicht behindert zu werden. Dies waren Taten von großen Männern der Vergangenheit. Obwohl ich, dein Vater, nicht als vergleichbar begabt gelten darf, habe ich doch die Schriften des Altertums mein Leben lang studiert und dem Reich Jahrzehnte lang gedient. Jetzt muß ich auf kaiserliche Anordnung hin die Heimat verlassen. Mir liegt es fern, wie ein weinerliches Mädchen zu handeln, anstatt die großen Gesandten früherer Zeit nachzuahmen. Mich bedrückt nur, daß meine Pläne, dir einen braven Ehemann zu verschaffen, von den Intrigen eines Schurken durchkreuzt worden sind. Darüber hinaus schmerzt mich die Trennung von dir. Als deine Mutter starb, zähltest du kaum zehn Jahre und warst seitdem in meiner Obhut. Jetzt heißt es, ganz plötzlich Abschied nehmen und eine Reise mit ungewissem Ausgang antreten. Selbst wenn mein Herz aus Stein oder Eisen wäre, erfüllte mich das mit unsäglicher Trauer. Allein, es heißt, sich mit diesen Dingen abzufinden, meine Pflicht zu erfüllen und traurige Gedanken bis zum morgigen Aufbruch zu verscheuchen.« »Es ist sicher nicht einfach für Vater und Tochter, den Schmerz einer solchen Trennung zu überwinden«, bemerkte Wu Gui, »doch es heißt, den unabänderlichen Tatsachen ins Auge zu sehen. Hab keine Sorge, du hast dich stets als integrer und mutiger Mann erwiesen, und deine Tochter ist eine intelligente, starke junge Dame. Wenn der üble Zensor Yang erführe, daß du dich wie ein hilfloses Opfer der Umstände verhältst, würde er sich bestimmt lustig über dich machen. Sei unbesorgt, ich werde Hongyu hegen und pflegen wie meine eigene Tochter und an deiner Stelle dafür sorgen, daß sie einen guten Ehemann erhält.« Als Minister Bo die Worte des Freundes vernahm, wischte er eilends die Tränen aus seinen Augen, legte eine andere Miene auf und verkündete: »Deine Worte sind Balsam auf meine Wunden. Wenn du nur einen aufrechten Gatten
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Die WELT DER GEFÜHLE für Hongyu findest, könnte ich selbst fern von der Heimat zufrieden aus dem 850 Leben scheiden.«
Der treue Hanlin-Beamte Wu, dem Bo die Tochter bei seiner Abreise anvertraut hat, durchschaut die von Zensor Yang gegen das Mädchen gesponnene Intrige jedoch bald, und indem er Hongyu als seine zweite Tochter Wujiao (Ohne Schönheit) ausgibt, entzieht er sich dem Ränkeschmied und verläßt die Hauptstadt mit Ziel Jinling. Dort entdeckt Wu Gui eines Tages an der Mauer eines Tempels die Gedichtinschrift des jungen Su Youbai und stellt sogleich Überlegungen an, ob dieser nicht ein würdiger Gatte für Hongyu sei. Nachdem die Begutachtung des Su durch Wu Gui überaus günstig ausgefallen ist, schaltet er einen Heiratsvermittler ein. Die verständliche Neugier Su Youbais, sich einen Eindruck von seiner Braut zu verschaffen, verhindert jedoch eine Verbindung schon zu einem so frühen Zeitpunkt, denn Su bekommt nicht Hongyu, sondern Wus weniger attraktive Tochter Yan zu Gesicht. Enttäuscht schlägt er daraufhin den unterbreiteten Heiratsantrag aus und verläßt Jinling auf der Suche nach einer wahren Schönheit. Gegenüber dem von Wu Gui geschickten Boten Liu Yucheng, der die Gründe für Su Youbais Ablehnung ausfindig machen soll, schildert dieser seine Vorstellungen von Heirat und Ehe, die als Ideal hinter allen caizi jiaren-Romanen auftauchen: »Die Heirat ist das Wichtigste im Leben«, sagte Su Youbai, »wenn zwei Eheleute sich in Talent und Erscheinung nicht entsprechen, bedeutet das Hader und Zwist für den Rest ihres Lebens. Wie könnte ich also zustimmen, jemanden so ohne weiteres zu heiraten? [...] Man sollte Reichtum und Stellung nicht zu hoch bewerten und dabei womöglich die Bedeutung von Schönheit unterschätzen. Seit frühesten Zeiten bringen die Mächtigen Rang und Wohlstand durch goldene Siegel und purpurne Bänder zum Ausdruck, doch wie viele außerordentliche Schönheiten hat es wirklich gegeben? Eine Frau mit Talent, ohne Erscheinung und Ansehnlichkeit kann nicht als wahre Schönheit gelten. Eine solche ist sie auch dann nicht, wenn sie lediglich gut aussieht und Talente entbehrt. Und selbst wenn sie über beides verfügt, ist sie noch lange keine Schönheit für mich, sofern sie mir nicht in zugetan ist.« »Ihr müßt verrückt sein«, sagte Liu Yucheng mit einem Lachen, »wenn Ihr nach einer solchen Schönheit verlangt, solltet Ihr besser unter den Kurtisanen suchen.« »Xiangru ließ Wenjuns Herz zunächst auch nur mit dem Spiel seiner Flöte entflammen«, antwortete Su Youbai, »am Ende wurden sie gemeinsam alt. Daraus ist eine wunderbare Geschichte entstanden, die seit alter Zeit überliefert wird. Schönheiten finden sich beileibe nicht nur unter den Kurtisanen.« »Wenn Ihr so weitermacht und stets nur von legendären Schönheiten der Vergangenheit sprecht, werdet Ihr nie eine Frau finden«, hielt ihm Liu entgegen. 850
Yu Jiao Li, Kap. 3, S. 149f.
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten« »Macht euch deshalb keine Sorgen«, schloß Su Youbai, »ich habe geschworen, lieber ein Leben lang allein zu bleiben, wenn ich nicht eine außerordentliche 851 Schönheit für mich gewinnen kann.«
Es gelingt Liu nicht, Su eines Besseren zu belehren. Was ursprünglich so einfach gewesen wäre, wird nun auf einmal überaus kompliziert, ein beliebtes Strukturmittel der Verfasser von caizi jiaren-Romanen, die Spannung über weite Strecken aufrechtzuerhalten: Ein frühes Mißverständnis zwischen den Liebenden zwingt sie, die Fäden des Schicksals zu entwirren, nur um am Ende doch wieder zusammenzufinden. Im Falle von Yu Jiao Li sind es nun Gedichte der Bo Hongyu, auf die Su Youbai bei seiner Reise während einer Begegnung mit dem Zhang Guiru stößt, die ihn in Liebe zu der talentierten Dame entbrennen lassen. Zhang erkennt, daß er Su an poetischer Begabung unterlegen ist, doch indem er dessen Gedichte für seine eigenen ausgibt, gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit des in der Zwischenzeit erfolgreich von seiner Mission zurückgekehrten Ministers Bo zu erregen, der den jungen Mann als Hauslehrer bei sich aufnimmt und in ihm zunächst einen geeigneten Heiratskandidaten für seine Tochter sieht. Erst mit Hilfe von Hongyus Zofe Yansu gelingt es Su Youbai, den Betrug zu offenbaren. Da er jedoch in der Vergangenheit den Antrag durch Wu Gui abgelehnt hat, ist er zunächst gezwungen, in die Hauptstadt zu reisen, um mit dem Hanlin-Beamten ins Reine zu kommen und das Mißverständnis aufzuklären. Unterwegs lernt er in Shandong mit der schönen Lu Mengli eine Cousine der Hongyu kennen, die ihm Unterstützung bei seinen Heiratsplänen zusagt, insgeheim aber selbst bereits ein Auge auf den jungen Gelehrten geworfen hat. Su ist freilich zunächst vollkommen ahnungslos, denn Mengli tritt ihm hier in der Gestalt eines jungen Mannes gegenüber und offenbart die eigenen Gefühle mit dem Hinweis auf eine fiktive Schwester. Ähnlich wie oben bei der Abschiedsszene von Bo Xuan kommt auch hier die starke Gefühlsbezogenheit der Romanwelt zum Ausdruck, die an Eindringlichkeit ihresgleichen in den meisten übrigen Werken des Genres sucht. Sie unterstreicht zudem die volkstümliche Vorstellung, daß es für ein schönes und begabtes Mädchen besser ist, die Nebenfrau oder Konkubine eines ihr an Tugend und Bildung gleichstellten Mannes zu werden, als die Stellung der Hauptfrau an der Seite eines unwürdigen Gatten einzunehmen. Im offenen Gespräch mit dem vermeintlichen Freund offenbart zunächst Su Youbai seine geheimsten Sehnsüchte: »Du bist jung und begabt«, sagte Mengli, »dazu schön wie ein Stück Jade. Viele würden sich glücklich schätzen, eine Verbindung mit jemandem wie dir einzugehen. Jemand muß dich als Schwiegersohn ausgestochen haben, oder warum wanderst du immer noch einsam durchs Land auf der Suche nach einer Schönheit?« 851
Ebd., Kap. 5, S. 161f.
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Die WELT DER GEFÜHLE »Ich will dir nichts vormachen«, erwiderte Su Youbai, »wenn ich nur nach einer Verbindung mit den Reichen und Mächtigen gestrebt hätte, wäre mein Glück längst perfekt. Doch da mich das Schicksal früh meine Eltern verlieren ließ, ich zudem nie einen Bruder besaß und es noch in Sternen steht, ob ich je dem Herrscher werde dienen können und auf die Gesellschaft guter Freunde hoffen darf, will ich wenigstens in der Ehe eine treue, schöne und begabte Gattin als Partnerin fürs Leben an meiner Seite nicht missen. Wenn ich nicht die Eine finde, will ich eher allein bleiben, selbst wenn mir jemand den Weg ins Eheleben mit Gold pflastert. Das ist der Grund, warum ich immer noch auf der Suche bin.« »Deine Worte würden alle talentierten Schönheiten auf der Welt zu Tränen rühren«, bemerkte Lu Mengli und fuhr nach einem Seufzer fort: »Du wirst es nicht leicht haben. Dabei ahnst du kaum, wie viele erlesene Schönheiten aufgrund der Verfügungen durch die Eltern oder eines Heiratsvermittlers niemals einen einfühlsamen Gatten finden und ein unglückliches Dasein in ihren Gemächern führen. Wenjun tat daher ganz recht, als sie die Regeln des Anstands verletzte und mit Xiangru floh.« »Anstand und Sitte regeln nur das Leben der gewöhnlichen Leute«, sagte Su Youbai, »wie könnten sie Geltung besitzen für echte Gelehrte und schöne 852 Frauen?«
Mengli ist es auch, die Su Youbai rät, in der Hauptstadt erst die noch ausstehenden Prüfungen hinter sich zu bringen, um seinen Status bei einer Verbindung mit der Tochter des Ritenministers zu verbessern. Wie erwartet, geht Youbai in der Folge aus den kaiserlichen Examina als Bester hervor und erhält ein Amt in Hangzhou zugewiesen, wo sein Vorgesetzter kein anderer als Zensor Yang ist, der sich den jungen Doktor als Schwiegersohn wünscht. Erbost über die Absage, tischt Yang dem Su Youbai eine Lüge über den Tod seiner Braut Hongyu auf. Erst nach einer Reihe weiterer Verwicklungen trifft Su Youbai am Ende im Hause des Ministers Bo Xuan ein, wo er nicht nur Hongyu, sondern die vor einem Verbrechen ins Haus des Onkels geflüchtete Mengli zur Frau erhält. Etwas später als Yu Jiao Li wurde der ebenfalls zwanzig Kapitel lange Roman Ping Shan Leng Yan abgefaßt, der an einer Zeitgabe im Vorwort durch den »Meister der Sutra von der Himmelsblume« für das Jahr 1658 belegbar ist.853 Wer sich hinter den die Herausgeberschaft beanspruchenden Pseudonymen »Einsiedler im Schilf« (Yidi sanren) bzw. »Einsiedler am Schilfufer« (Yi'an sanren) verbirgt, ist nicht bekannt. Wie kaum ein anderes Werk des Genres ist Ping Shan Leng Yan nahezu vollständig auf die Bedeutung der Dichtkunst hin angelegt, mit der die jungen Männer und Frauen ihr Talent unter Beweis stellen. Dies wird schon im Auftakt erkennbar, 852 853
Ebd., Kap. 14, S. 222. Hier bearbeitet nach der Ausgabe Ping Shan Leng Yan, Peking: Beijing shifan daxue 1993.
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten«
der mit den Ereignissen bei Hofe in die Blütezeit der Ming-Dynastie verlegt ist. Eines Tages veranlaßt eine während des Banketts herbeigeflogene Schwalbe den Herrscher zu der Aufforderung an die versammelten Würdenträger, ihm aus dem Stegreif Verse auf den Vogel vorzutragen. Nur der Großsekretär Shan Xianren sieht sich dazu in der Lage, gibt aber zu erkennen, daß die Zeilen nicht von ihm selbst, sondern der erst zehnjährigen Tochter Shan Dai stammen, deren Begabung der Vater auf übernatürliche Ereignisse während ihrer Geburt zurückführt: Bevor Dai zur Welt kam, träumte Xianren davon, daß seine Frau einen glitzernden Stern verschluckt habe. Beeindruckt läßt der Kaiser das junge Mädchen bei einer extra zu diesem Zweck anberaumten Audienz einen Beweis seiner Künste liefern und überhäuft es im Anschluß daran mit Geschenken. Zu einer gefeierten Persönlichkeit in der Hauptstadt geworden, reißt sich nun alle Welt um Dais Gedichte, die sie auf Fächern und seidenen Tüchern anfertigt. Zu allem Überfluß macht sie sich bei einer dieser Gelegenheiten in ihren Versen auch über den neuen Magistrat Yan Wenwu lustig, als sie zufällig sieht, wie häßlich dieser ist. Weil Yan die angetane Schmach nicht auf sich sitzen lassen möchte, ersucht er einen Verwandten, den angesehenen Beamten Dou Guoyi im Ministerium für Arbeiten, um Hilfe. Beide verfallen zusammen mit Dous Freund Song Xin darauf, Shan Xianren beim Kaiser wegen des Vergehens anzuschwärzen, die Majestät mittels der Tochter zu betrügen. Der Kaiser schenkt diesen Anschuldigungen allerdings keinen Glauben und heißt Song gemeinsam mit Dou vielmehr, sich in einem Gedichtwettbewerb mit Shan Dai zu messen, aus dem die Männer wie erwartet als Verlierer hervorgehen. Nur mit Shan Xianrens Beistand gelingt es, Song und Dou vor einer Strafe zu bewahren. Der Vater des jungen Dichtergenies entledigt sich Songs mit der Bitte, an seiner Stelle im Reich nach begabten Damen Ausschau zu halten, die der Tochter als Gefährten dienen sollen. In Yangzhou, wo er auch den degradierten Dou wiedertrifft, wird Song daraufhin mit dem alten Leng Xin bekannt, der eine ebenso schöne wie begabte Tochter namens Leng Jiangxue hat. Sie mißt sich mit Song in einem poetischen Wettbewerb, aus dem sie siegreich hervorgeht, woraufhin in dem Mann der Plan reift, eben die junge Schönheit in das Haus Shans zu vermitteln, ein Vorschlag, dem Jiangxue nur zu willig zustimmt, mag sie doch nicht glauben, daß es im Reich eine bessere Dichterin als sie selber gebe. Unterwegs in die Hauptstadt tritt sie an einem Tempel in dichterischen Kontakt mit dem wandernden Scholaren Ping Ruheng, der das Mädchen seither nicht mehr aus dem Kopf verliert. Angekommen in der Hauptstadt, erregt Jiangxues ungebührliches Verhalten zunächst das Mißfallen der neuen Gastfamilie. Das Mädchen zeigt sich fordernd und überheblich, unsicher über das Verhältnis, in dem sie zu den Shans stehen soll. Wohlwollend lassen sich jedoch Herr Shan und seine Gattin auf ein Gespräch mit Jiangxue ein, um ihre Auffassungen über das Talent kennenzulernen, woraus sich wiederum ein interessanter Abschnitt über jene Werte ergibt, vor denen die caizi jiaren-Romane abgefaßt sind. Das Mädchen äußert sich auf folgende Weise:
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Die WELT DER GEFÜHLE »Ich habe vernommen, daß man von Himmel, Erde und Mensch auch als den »drei Kräften« [sancai] spricht. Wann immer demnach die Rede vom Talent ist, sind stets auch diese drei Kräfte miteingeschlossen. Was nun den Himmel betrifft, so manifestieren der Wind, die Wolken, der Schnee und der Mond allesamt den Glanz, den der Himmel von Urbeginn an besaß. Im Falle der Erde dagegen künden die Gräser, Bäume, Berge und Flüsse seit unzähligen Herbsten von ihrer Schönheit. In Himmel und Erde werden gleichsam die positiven Einflüsse der Vitalkräfte yin und yang sichtbar. [...] Doch sprechen wir jetzt vom Menschen: Der Heilige hat das Talent des Heiligen; der Sohn des Himmels das eines Himmelssohnes, der Edle das eines Edlen, der Kanzler das des Kanzlers, der Held das des Helden und der Wagemutige das des Wagemutigen. Das Talent des Göttlichen nun hat die Aufgabe zu unterstützen und den Prozessen des Wandels und Erhaltens beizustehen; das Talent des Heiligen drückt sich darin aus, den Menschen für ihr Handeln eine Richtschnur zu geben; der Himmelssohn wiederum offenbart sein Talent in einer friedlichen Herrschaft, während der Kanzler mit seinem Talent die kaiserlichen Anweisungen flankiert, gefolgt von den Talenten der Großsekretäre und hohen Beamten, die Gnade und Ruhm hervorbringen. Die Talente von Helden und Wagemutigen zuletzt lassen sie große Unternehmungen wagen. [...] Doch zielt Ihre Frage weniger hierauf als vielmehr auf den mit Talent begabten Gelehrten und Dichter. Es heißt, diese Form des Talents entspringe aus der Natur des Menschen, doch trifft das den Begriff ebensowenig wie die Vermutung, Talent sei eine Sache des Lernens. Das Wissen, das einer besitzt, mag zwar Talent umfassen, doch bringt es dieses nicht not wendigerweise hervor. Im Lernen lassen wir das Talent in uns reifen, und im Handeln lassen wir die Göttlichkeit des Talents in unserer Natur erkennen. Wer über ausreichendes Wissen verfügt und die Natur in sich in Bewegung versetzt, der wird sein Talent nach und nach erweitern. Je mehr davon sichtbar wird, desto erstaunlicher wird es anmuten und Wirkung zeigen. [Es folgen eine Reihe historischer Vorbilder] Frauen sind vom Himmel mit dichterischen Talenten ausgestattet, und sie haben der Kunst der Poesie aus den inneren Gemächern Schönheit und Anmut verliehen. Daher wurden sie bei den blühenden Geistern der Berge und Flüsse immer gefeiert. Denn die Frauen sind Sterne, die vom Himmel gefallen sind, ausgestattet mit Gefühlen so fein wie Brokat und Worten, die schönen Stickereien gleichen. Ihre Gedanken waren seit jeher von den Göttern inspiriert, und wann immer sie zur Feder griffen, war es, als lenkten die Götter und Geister ihre Schrift. Schnell wie der Regen strichen ihre Pinsel über das Papier, die Tinte glich den Wolken. Als sie sprachen, kamen Winde auf, Perlen tropften aus den Mündern. Ihr heroischer und unbezwingbarer Geist ließ sie selbst vor Prinzen, Fürsten und anderen hohen Herren bestehen, ja, er bezwang gar Könige und reiche Edelmänner, ganz zu schweigen von den mittelmäßigen Gelehrten, die sich seufzend eingestehen mußten, daß derartige Größe für sie unerreichbar bleiben würde, selbst wenn sie sich dem Studium der Klassiker widmeten, bis ihr Haar grau würde. Wie hätten diese Frauen ohne Talent bis in diese luftigen Höhen des Geistes vordringen können? [...] Wann immer ich über die Vergangenheit nachdenke, so komme ich zu dem Schluß, daß es in der Tat
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten« eine ganze Zahl außergewöhnlicher Talente gegeben hat, wogegen ich in meiner Zeit nicht viele finde. Daher verberge ich nicht mein Wesen als Frau und be854 trachte mich trotz meiner jungen Jahre als ein Talent.«
Mit dieser pathetischen Rede, die den in den Romanen des Genres so sehr strapazierten Begriff des Talents durch Hinweise auf seine Ursprünge und die ihm zukommenden Eigenschaften endlich mit Inhalt füllt, hat Leng Jiangxue ihre Gastgeber schnell für sich eingenommen, zumal sie sich ihrer eigenen Ansprüche recht bald mit eigenen Gedichten, die der Kaiser in Auftrag gegeben hat, als würdig zeigt. Shan Dai ist ihr seit diesem Tag aufrichtig zugetan, die beiden werden unzertrennliche Freundinnen. An diesem Punkt wendet sich der Roman der Frage seiner männlichen Helden zu. Hintergrund ist der kaiserliche Befehl an den Zensor Wang Kun, im Reich nach talentierten Männern zu suchen. Nicht lange, und Wang findet mit Yan Baihan bei Prüfungen einen würdigen Vertreter dieser Spezies: der sechzehnjährige Yan stammt aus einer angesehenen Familie, sein Vater ist tot, und seine Lieblingsbeschäftigung sind die Dichtung sowie der Genuß von Wein. Nach seinen Examenserfolgen zu Ruhm gelangt, wird Yan bald auf Ping Ruheng aufmerksam, und nach einigen Verwicklungen werden aus den beiden gute Freunde. Zensor Wang schlägt das Paar schließlich für die Palastprüfungen in der Hauptstadt vor, Anlaß genug für die jungen Männer, sich auch Hoffnungen auf eine Verbindung mit Shan Dai bzw. Leng Jiangxue zu machen. Um auch sicher zu gehen, den richtigen Griff zu tun, begeben sich Yan und Ping inkognito nach Peking, damit sie die Favoritinnen in Augenschein nehmen und sich von ihren Qualitäten überzeugen können. Zwischen den Männern entspannt sich ein interessanter Dialog über jene Eigenschaften, die eine von einem Mann verehrte Frau mitbringen sollte. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff mei, womit nicht nur äußere Schönheit, sondern auch geistige Bildung, Edelmut und moralische Lauterkeit gemeint ist. Jedenfalls, so die Quintessenz des Gesprächs, sind diese drei Dinge unabdingbar für eine Geliebte. Ping Ruheng faßt das derart zusammen: Ping Ruheng lächelte und sagte: »Du sprichst nur von der äußeren Schönheit und scheinst doch nicht zu wissen, daß diese ihren Ursprung in einem überragenden Talent besitzt. Mädchen mit einem verführerischen Äußeren nennen wir attraktiv. Doch wenn sie kein Talent oder Gefühl besitzen, in denen ihre Schönheit zum Ausdruck kommt, dann ähneln sie lediglich Blumen, Weiden, Oriolen, Schwalben, Perlen oder Jade. Man mag diese Dinge auf sehr innige Weise schätzen, doch stets gilt das nur für eine bestimmte Zeit. Wo ist ihre Schönheit, wenn Blumen verwelken, Weiden verwittern, Oriolen und Schwalben altern, Perlen einen gelblichen Glanz annehmen und Jade brüchig wird? Doch angenommen,
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Ebd., Kap. 8, S. 76f.
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Die WELT DER GEFÜHLE die Schönheiten weisen dazu noch literarisches Talent auf, dann mögen sie auf die eine Art immer noch Blumen und Weiden ähneln, doch sie werden berühmte Blumen und außergewöhnliche Weiden sein. Ihre Augen werden ein starkes inneres Gefühl offenbaren und man wird von ihrem überragenden Geist beeindruckt sein. Sie werden zwar altern wie Oriolen und Schwalben auch, ihr Strahlen einbüßen wie die Perle ihren Glanz und gebrechlich werden wie die Jade brüchig, doch ihr dichterischer Geist, ihre Anmut und Eleganz wird bleiben. Das ist der Grund, warum ich meine Liebe zu Jiangxue nicht vergessen kann, denn in ihrer Person werden Talent und Schönheit auf das Perfekteste vereint. Sprichst du dagegen nur von einem ansprechenden Äußeren, dann sollte sich unter den Töchtern aus gutem Hause wohl schnell jemand finden, der deine 855 hungrigen Blicke stillen kann.«
Da die späteren Konstellationen Ping Ruheng/Leng Jiangxue bzw. Yan Baihan/ Shan Dai nunmehr feststehen, lassen sich die vier jungen Leute – freilich immer noch unter Vortäuschung einer anderen Identität – auf einen Gedichtwettbewerb ein, aus dem die Mädchen als Siegerinnen hervorgehen und ihre Gegner verspotten. Nachdem die jungen Herren ihre Prüfungen erfolgreich abgelegt haben, liegt es am Ende an Zensor Wang Kun, die Eheverbindungen zu vermitteln, so daß sich die Paare in einer großangelegten Schlußszene endlich erkennen und finden. Die knappen Ausführungen zu einigen der frühen caizi jiaren-Romane haben bereits eine entscheidende Schwäche im Bild der Protagonisten gezeigt: Die beiden Geschlechter sind sich in ihrer äußeren Erscheinung, dem Talent und ihrem Wesen einander derart ähnlich geworden, daß sie nur noch konturlose Schablonen abgeben, die beliebig reproduzierbar sind. Vollkommen ununterscheidbar werden die Gestalten, wenn sich junge Männer in der Verkleidung als Frau in die Nähe ihrer Angebeteten begeben, um dort durch ihre Dichtkunst zu beeindrucken oder aber, wie im Falle von Mengli, sich umgekehrt ein Mädchen vorübergehend in einen Mann verwandelt, um etwa die Qualitäten eines Ehekandidaten auszuloten. Um hier Abhilfe zu schaffen, galt es demnach, den Herren etwas männlichere Züge zu verleihen und die Handlung weniger nach schöngeistigen Wettbewerben auszurichten, als sie vielmehr mit echten Bewährungsproben anzureichern, die neben dem mit geistigen Kräften begabten Talent auch die Figur des körperliche Stärke besitzenden Helden betonten. Das erste Beispiel für solch einen übermenschlichen Recken bietet uns mit dem achtzehn Kapitel langen Roman Gattenwahl (Haoqiuzhuan) eben jenes Werk, das aufgrund früher Übertragungen auch schon im Europa des 18. Jahrhunderts bekannt war.856 In China dürfte Gattenwahl da855 856
Ebd., Kap. 14, S. 140. Der Roman liegt unabhängig von den oben bereits genannten Übersetzungen auch in verschiedenen deutschen Fassungen vor, die ursprünglich beide auf das Jahr 1926 zurückgehen. Die Bearbeitung erfolgte hier nach Eisherz und Edeljaspis oder die Geschichte einer glück-
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten«
gegen schon wenigstens gut hundert Jahre früher den Lesern vorgelegen haben, die früheste vorhandene Ausgabe datiert auf das Jahr 1683. Seinen Ruhm und seine Beliebtheit verdankt das Buch vermutlich nicht zuletzt dem Umstand, daß es von der ersten bis zur letzten Seite durch und durch konfuzianischen Geist atmet, was auch schon bei dem Pseudonym des Verfassers deutlich wird, der sich als »Mann aus der Benennung der Namen« (Mingjiaozhongren) ganz offensichtlich dem Konzept von der »Richtigstellung der Begriffe« (zhengming) verbunden fühlte, einer Richtschnur in der Ethik des Konfuzianismus. Freundschaft, Verehrung der Eltern, Treue, Ergebenheit gegenüber dem Kaiser, Keuschheit etc. – all das sind Anliegen, die der Roman in seiner etwas spröden moralischen Ausrichtung bis zum Exzeß immer wieder in den Vordergrund schiebt. Die Romanhandlung der Gattenwahl ist in die späte Ming-Zeit verlegt, Ort der ersten Szenen ist die Präfektur Daming im äußersten Südosten der heutigen Provinz Hebei an der Grenze zu Shandong. Schon die Beschreibung des Helden Tie Zhongyu in den ersten Zeilen des Werkes zeigt, daß der Autor hier neue Wege beschreitet: Schön von Antlitz, wohlgebaut und elegant, glich er fast einem anmutigen jungen Mädchen; darum hieß er auch in der Gegend scherzhaft »der schöne Tie«. Man hätte erwarten sollen, daß seinem anmutigen Äußeren ein weicher Charakter entsprochen hätte. Weit gefehlt! In seiner unbeugsamen Art schien er, wie der Name Tie besagt, tatsächlich von Eisen zu sein. Auch verfügte er über ansehnliche Muskelkraft. Ging ihm etwas gegen den Strich, dann konnte er recht grob werden. Verschlossen wie er war, ließ er sich nur selten ein Wort, ein Lächeln entlocken. Im Umgang mit reichen und vornehmen Bekannten schien sein Gesicht bisweilen wie eingefroren, wie von einer Schicht Reif bedeckt, die man förmlich mit dem Messer abschaben konnte, so seltsam kalt und teilnahmslos 857 blickte er dann drein.
Wie man sieht, wird hier zwar nicht auf jene femininen Attribute des Helden verzichtet, die auch den Talenten der übrigen Romane des Genres anhaften, doch bleibt dieser Aspekt seiner Erscheinung in der Folge wenig ausgeprägt. Tie Zhongyu kommt zum Beispiel so gut wie nie in die Lage, sich mit seiner Dichtkunst behaupten zu müssen. Ausnahme sind lediglich ein paar Gedichte, die er für einen Eunuchen schon weit zum Ende des Buches anfertigen muß. Davon abgesehen, verlangen ihm allerhöchstens mehrere Eingaben an den Thron noch etwas literarisches Geschick ab. Durch diesen Statusverlust als Homme de lettres werden allerdings die Geradheit und Aufrichtigkeit im Wesen des Helden weit stärker in den
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lichen Gattenwahl. Ein Roman aus der Ming-Zeit, übertragen von FRANZ KUHN, Leipzig/ Weimar: Kiepenheuer 1981. Daneben gibt es Die Geschichte einer vollkommenen Liebe. Der klassische Liebesroman der Chinesen, übers. v. H. BRÜGGMANN, Basel: Rheinverlag o.J. Eisherz und Edeljaspis, Kap. 1, S. 5f.
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Die WELT DER GEFÜHLE Vordergrund gerückt. Damit entspricht Tie Zhongyu nun eher den Schwertkämpfern in den Ritterromanen als den eindimensionalen Gelehrten und Dichtern, die wir bislang kennengelernt haben. Auf seine Fertigkeiten im Kampf ist Tie denn auch oft genug angewiesen, denn schwierig genug sind die Aufgaben, die ihn erwarten. Da ist zunächst der Vater Tie Ying, Zensor bei Hofe und damit Inhaber einer Stellung, die neben Ruhm und Macht auch reale Gefahr bedeutet, sobald der Herrscher seine Gunst entzieht. Die Sorge um den Vater ist es, die Zhongyu gemeinsam mit einem Diener in die Hauptstadt reisen läßt. Auf dem Weg dorthin nimmt er Anteil am Schicksal des jungen Herrn Wei Pei, einem vielversprechenden Sproß aus reicher Familie, dessen Braut von dem Adligen Da Kuai entführt worden ist. Der einflußreichen Stellung seines Vaters gewahr, sagt Zhongyu seine Hilfe zu. Um so bestürzter ist er daher, als er bei der Ankunft von seiner Mutter erfahren muß, daß der Vater im Gefängnis sitzt. Die Gründe dafür hängen mit dem Entführungsfall zusammen, auf den er während der Reise aufmerksam geworden ist. Demnach hat Zensor Tie Ying den lamentierenden Eltern des entführten Mädchens sein Ohr geschenkt, doch bevor er Schritte gegen Da Kuai einleiten kann, hat dieser sich bereits gewaltsam des Ehepaares bemächtigt, so daß Tie am Ende ohne Beweismittel in der Hand dasteht und eine Verleumdungsklage am Hals hat. Mit einer Eingabe an den Thron gelingt es Zhongyu jedoch, den Kaiser vom rechtmäßigen Verhalten des Vaters zu überzeugen, nur zum Schein bleibt Tie Ying noch im Gefängnis, um Da Kuai in Sicherheit zu wiegen. Tie Zhongyu gelingt es in der Folge, in das Anwesen des Adligen einzudringen, die gefangene Familie Han zu befreien und den Da Kuai festzunehmen. Nachdem er wegen der Tat viel Ruhm und Ehre auf sich vereint hat, verläßt Tie Zhongyu die Hauptstadt jedoch kurze Zeit darauf schon wieder und begibt sich nach Shandong. Dort ist in Licheng die Heimat des angesehenen Herr Shui Juyi und seiner Tochter Bingxin. Das bewohnte Anwesen teilt sich Herr Shui mit seinem Bruder Yun, einem ungebildeten Nichtsnutz und Verschwender, dessen vorrangiges Ziel es ist, die lästige Nichte nach einer Heirat aus dem Haus zu schaffen, um selber Zugriff auf den gesamten Besitz zu erhalten. Die Anzeichen dafür stehen auch nicht schlecht, trifft doch aus der Hauptstadt die Nachricht ein, daß Shui Juyi als stellvertretender Kriegsminister in Ungnade gefallen und an die Grenze strafversetzt worden ist. Aufgestiegen bei Hofe ist dagegen ausgerechnet der Vater eines gewissen Guo Qizu, welcher in Licheng lange Zeit vergeblich um die Hand Bingxins anhält. Wie gerissen und klug diese junge Frau ist, belegt die Affäre, die sie mit ihrer scheinbaren Einwilligung in eine Heirat mit Guo heraufbeschwört. Denn ungebildet und gierig wie sie sind, haben Shui Yun und seine Söhne nicht nur eine eingehendere Prüfung der Karte mit den astronomischen Zeichen für die Braut vorgenommen, sondern dazu noch die Brautgeschenke im Namen der Tochter angenommen, so daß sie kurz vor der Heirat eine böse Überraschung erleben. Tatsächlich gelingt es Xianggu, den Bräutigam zu täuschen: Geschickt entzieht sie sich nicht nur der Entschleierung vor den übrigen Hochzeitsgästen, sondern
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läßt auch im Brautgemach sofort das Licht löschen, so daß Guo Qizu erst am nächsten Morgen den Betrug entdeckt. Es sind gängige Motive wie hier das der vertauschten Braut, das gerade bei frühen westlichen Lesern ein Gefühl der Vertrautheit hervorgerufen haben wird, dürfte es ihnen doch neben der Verwendung in Volksmärchen und Dramen spätestens durch Shakespeares Komödie Viel Lärm um nichts bekannt gewesen sein, wo Verleumdung und Scheintod der Verlobten Hero zunächst eine Verbindung mit Claudio verhindern, doch dieser am Ende in der vermeintlichen Cousine der Toten keine andere Braut findet als eben Hero selbst. Wenig beeindruckt von seinem ersten Mißerfolg, unternimmt Guo Qizu eine Reihe weiterer Versuche, Bingxin doch noch als Gattin zu erlangen, doch darf sich das Mädchen in diesem kritischen Abschnitt der Entwicklung der Hilfe durch Tie Zhongyu gewiß sein, der hier wieder in die Ereignisse eintritt. Der junge Held zieht sich mit seinem couragierten Eintreten für Bingxin freilich schnell den Haß Guo Qizus zu und entgeht nur knapp einem Anschlag auf sein Leben, als ihn ein Mönch, bei dem er Quartier genommen hat, zu vergiften sucht. Was Tie Zhongyu und Shui Bingxin zu dem Zeitpunkt freilich nicht ahnen ist, daß der anfängliche freundschaftliche Beistand sie am Ende, als sie sich längst ineinander verliebt haben, dazu zwingt, ihr Verhalten überragenden moralischen Ansprüchen zu unterwerfen, um nicht irgendwelche Zweifel an ihrer bis in die Ehe hinein bewahrten Reinheit aufkommen zu lassen. Denn das engagierte Eintreten füreinander hat die Einschaltung eines für die formale Entsprechung der Ehe erforderlichen Vermittlers obsolet gemacht. Über der ganzen Beziehung lastet von Beginn der Ruch des Schändlichen, und so sehr sich auch Bingxin anfangs gegen Vorwürfe der Unmoral zur Wehr setzt, internalisiert sie doch zum Schluß die vorwurfsvolle Haltung ihrer Umgebung, wenn sie etwa noch in der Hochzeitsnacht Zhongyu seine Rechte als Ehegatte verweigert, um ihre Unbeflecktheit vorerst zu bewahren. »[...] Die Eltern haben ihre Zustimmung gegeben, die Heiratsvermittler ihr Zeugnis abgegeben. Damit ist unsere Ehe gültig«, sagte Bingxin. »Was mir Sorge bereitet ist allein, daß die Rechtmäßigkeit unserer Beziehung seit Beginn in der Öffentlichkeit immer noch Zweifeln ausgesetzt ist. Daher wage ich es nicht, unsere geschlossene Ehe schon als ein Faktum zu betrachten, und noch weit weniger wage ich es, die Ehe auch wirklich zu vollziehen, denn mir liegt daran, Namen und Integrität zu bewahren, damit ich wenigstens in deiner Gegenwart ohne 858 Schande bleibe.«
Die Konsequenz aus dieser qualvollen Entsagung ist, daß das Paar mit dem Vollzug der Ehe bis zur Reinwaschung durch die Kaiserin höchstselbst warten muß. 858
Übersetzt nach einer chinesischen Ausgabe: Haoqiuzhuan, Zhengzhou: Zhongzhou guji 1991, Kap. 15, S. 210.
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Die WELT DER GEFÜHLE Erst als diese sich mittels einer peinlichen körperlichen Prüfung davon überzeugt hat, daß Bingxin immer noch Jungfrau ist, sind alle Zweifel ausgeräumt, kann an ein Eheleben ohne Einschränkungen gedacht werden. Es ist hier nicht möglich, auch nur einen repräsentativeren Teil der Romane aus dem umfangreichen caizi jiaren-Genre ausführlicher zu behandeln. Aufgezeigt werden können lediglich allgemeine Probleme und Entwicklungstendenzen. Eine kursorische inhaltliche Prüfung der Werke zeigt dabei, daß die strenge Fixierung auf den literarischen Talentbegriff, wie wir ihn in Yu Jiao Li und Ping Shan Leng Yan finden, wohl eher die Ausnahme blieb und dagegen Gattenwahl jenes Modell vorgab, nach dem die meisten der folgenden Bücher abgefaßt wurden: Wo die enge, von zarten Mißverständnissen und viel Gefühl durchdrungene Welt nicht mehr genügte, mußte eben ein neuer Rahmen die Möglichkeiten für ein ausgewogeneres Menschenbild sowie eine abwechslungsreichere Handlung bieten. Die Schwerpunkte konnten dabei durchaus variieren. Während das Muster von dem jungen Helden, der sich mit einer oder mehreren Frauen verbindet bzw. die abgewandelte Form, bei der mehrere Paare sich vereinen, weitgehend beibehalten wurde, konnte das Bild der einzelnen Protagonisten durchaus neue Züge gewinnen. Mal sind es die Männer, mal die Frauen, die kriegerischer auftreten und ihre literarischen Begabungen hintanstellen, verbunden mit einer stärkeren Betonung der historischen Komponente. Hatten noch Yu Jiao Li und Ping Shan Leng Yan den Schwerpunkt auf Liebe, Talent und Erscheinung gelegt, so nahmen spätere Vertreter des Genres immer mehr Elemente aus dem historischen bzw. dem Abenteuer- und Ritterroman auf. Ein früher caizi jiaren-Roman, der die in Gattenwahl vorgezeichnete Tendenz festigte, war die sechzehn Kapitel lange und wohl zwischen 1644 und 1690 entstandene Erzählung von den magischen Karten (Huatuyuan), aus deren Vorwort wir weiter oben bereits einen Abschnitt über die Vorsehung zitiert haben. Vom Binnenland an die Küste verlagert ist der Unruheherd in dem um 1770 von einem gewissen Chen Lang verfaßten Roman mit dem Titel Erzählung von Xue, Yue und Mei (Xue Yue Mei zhuan).859 Die Schicksale der drei im Titel angegeben Frauengestalten Xu Xuejie, Wang Yue'e und He Xiaomei sowie einiger weiterer Heldinnen samt der ihnen zugedachten Gatten wie Cen Xiu, Lin Yinyong, Liu Dian etc. sind eingebettet in die ausführliche Beschreibung der Kämpfe gegen japanische Piraten. Der Umfang von fünfzig Kapiteln erlaubt es zudem, ein ab859
Liegt hier vor in einer Ausgabe Ji'nan: Qilu shushe 1986. Über den Verfasser Chen Lang sind keine weitere Angaben zu machen. Möglicherweise handelt es sich aber um ein und dieselbe Person aus der Ortschaft Pinghu in der Präfektur Jiaxing, die, wie aus entsprechenden Nachweisen hervorgeht, 1760 die Prüfungen zum Bakkalaureus und 1769 zum Doktor ablegte.
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gerundetes Bild der zeitgenössischen Lage zu liefern, in dem einfache Händler, Bauern und Fischer ebenso Platz finden wie Kaufleute und hochstehende Beamte, so daß das enge Spektrum der Romane über Talente und Schönheiten hier bereits gesprengt ist. Mit dem Schwert in der Hand müssen sich auch die Helden in dem mit achtundzwanzig Kapiteln nur etwas mehr als halb so langen, von Huang Yan (ca. 1750– ca. 1830) um das Jahr 1790 verfaßten Roman Die verlorene Geschichte des Südens (Lingnan yishi) behaupten.860 Die in die Wanli-Ära zum Ende der MingZeit verlegte Handlung beschreibt die Geschicke des Bakkalaureus Huang Fengyu, der zunächst die Familie Zhang aus der Not befreit und dafür mit der Tochter des Hauses, Gui'er, verlobt wird. Nach seinem Aufbruch gerät er in die Fänge von zwei Amazonen der Yao-Minderheit, zuerst der Prinzessin Li Xiaohuan sowie später der Mei Yingxue. Letztere versucht, Huang Fengyu seiner früheren Favoritin abspenstig zu machen und gibt an, Xiaohuan sei gestorben. Am Ende müssen die beiden Amazonen aber zusammenarbeiten, um Huang, der bei einem Besuch in der Heimat unter einem fadenscheinigen Grund verhaftet worden ist in einer gemeinsamen Aktion zu befreien. So findet Huang auch seine Verlobte Gui'er nicht mehr vor, die vor einem Tyrannen geflohen ist und in Männerkleidern militärisches Talent beweist, so daß ihr der Posten eines Feldherrn übertragen wird. Nach seiner Freilassung kann auch der nun zum Kriegsminister ernannte Huang Fengyu endlich beweisen, was in ihm steckt. In einem großen Finale, bei dem er die Taktik mit Zhang Gui'er abstimmt, führt er seine Truppen zum Sieg gegen die Räuberbanden. Nach der Ehe mit seinen Frauen nicht mehr an den Staatsgeschäften interessiert, zieht sich Huang gemeinsam mit ihnen in die Berge zurück und wird Einsiedler. Vor einem historischen Hintergrund angelegt, der weit in die chinesische Vergangenheit zurückreicht, ist Die zweite Pflaumenblüte (Erdu mei) ein weiterer unter den geläufigeren caizi jiaren-Romanen aus der Zeit um 1800.861 Anstatt in gemeinsamer Anstrengung den Gefahren durch die Nomadenstämme im Norden zu trotzen, herrscht Kanzler Lu Ji mit seinem Schreckensregiment über den Hof der Tang. Dem hat auch der neu ins Amt berufene Zensor Mei Kui abgesehen von in plumper Offenheit vorgetragener Kritik an den offensichtlichen Mißständen nichts entgegenzusetzen. Durch ungeschicktes Taktieren, vor allem aber mit dem Beharren auf Vermeidung eines Feldzugs gegen die Tartaren und Wiederaufnahme der in 860 861
Hier in der Ausgabe Tianjin: Baihua wenyi 1995. Der Roman liegt in einer deutschen Fassung vor als: Die Rache des jungen Meh oder Das Wunder der zweiten Pflaumenblüte, aus dem Chinesischen übertragen von FRANZ KUHN, Frankfurt/M.: Insel 1978 (erstmals 1927). Kuhn hat die ursprünglich vierzig auf vierundzwanzig Kapitel gekürzt. Wer sich hinter dem Pseudonym »Bewohner der schattigen Klause« (Xiyintang zhuren) verbirgt, ist unbekannt.
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Die WELT DER GEFÜHLE der Vergangenheit gewährten Subsidien verdirbt er sich das anfängliche Wohlwollen des Kanzlers, wird gestürzt und hingerichtet. Sein Sohn Mei Liangyu kann die Familie gerade noch vor der drohenden Vernichtung retten und fliehen. Schon bald jedoch in auswegloser Lage, gedenkt Liangyu, seinem Leben ein Ende zu bereiten, wird jedoch durch Zufall von einem Mönch gerettet und gelangt auf diese Weise in das Haus des ehemaligen Innenministers Chen. Der Anblick von dessen Tochter Xingyuan erfüllt ihn mit großer Liebe, doch gibt er seine eigene Identität nicht preis und verdingt sich vielmehr als Gärtner. In einer überraschenden üppigen Pflaumenblüte, die man im Garten von Minister Chen erlebt, deutet sich ein glückliches Ende für die Liebe von Liangyu und Xingyuan an. Das Verlöbnis der beiden hat auch schon die Zustimmung von Herrn Chen gefunden, als vorrangige Staatsinteressen dem kurzen Glück ein jähes Ende bereiten: Als Ausdruck der Beschwichtigung gegenüber den Nordstämmen soll die zur Prinzessin erhobene Xingyuan gemeinsam mit vierzig Mädchen aus Yangzhou an den Tartarenhof ziehen. Damit ist ihr Schicksal offensichtlich bewußt dem der historischen Wang Zhaojun nachempfunden, die zur Zeit des Han-Kaisers Yuandi (reg. 48–32 v. Chr.) einem Hunnenfürsten zur Erhaltung des Friedens zur Frau gegeben wurde und deren Leben (historisch angelegt in der Dynastiegeschichte der Früheren Han [Qianhanshu] und der Dynastiegeschichte der Späteren Han [Houhanshu]) man während der folgenden Jahrhunderte in vielen Erzählungen und Dramen thematisierte. Mei Liangyu und Xingyuans Bruder geleiten die Mädchen bis zur Grenze und kehren dann um. Auf dem Weg in die Tartarenhauptstadt stürzt sich Xingyuan an der Wildgansschlucht, wo einst schon Zhao Jun eine Wildgans mit einer Botschaft an die Heimat aufstiegen ließ, in die Tiefe. Entsetzt sucht man unter den mitgeführten Zofen nach einem Ersatz für Xingyuan, die bei ihrem Sturz auf wundersame Weise von Zhao Jun gerettet worden ist und auf einer Wolke zurück in die Heimat gelangt. Dort findet sie Aufnahme im Haus des Zensors Zou, wohin auch Mei Liangyu später durch Zufall gelangt. Ohne einander im Hause zu begegnen, erkranken die beiden gleichzeitig an Liebeskummer und vertrauen sich Freunden in der Umgebung an, die das Paar schließlich zueinanderführen. Nachdem Liangyu die Prüfungen bei Hofe abgelegt und sich der Sympathien der Gelehrten und einflußreichen Beamten vergewissert hat, gelingt es am Ende auch, Kanzler Lu Ji zu Fall zu bringen und seiner gerechten Strafe zuzuführen. Ganz zum Schluß schließlich erfolgt die Doppelhochzeit von Mei Liangyu mit seinen beiden Frauen Chen Xingyuan und Zou Yunying bzw. von Xingyuans Bruder Chunyuan und seiner Yujie, einer Fischerstochter, die ihn einst gerettet hat. Das Thema der caizi jiaren-Romane schien zum Beginn des 19. Jahrhunderts seinen Reiz weitgehend eingebüßt zu haben. Daran änderte sich auch nichts, als mit einem kleinen Werk unter dem Titel Der weiße Jadestab (Baigui zhi), das als achtes der »Zehn Meisterwerke« (shi caizishu) eingestuft wurde und zwischen 1796 und 1821 verfaßt worden war, offensichtlich an die Blütezeit des Genres
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Das Genre der Romane über »Talente und Schönheiten«
erinnert werden sollte.862 Die Geschichte, mit der wir diesen Abschnitt abschließen wollen, erzählt von dem wohlhabenden Kaufmann Zhang Bo, dem im Alter von vierzig Jahren nach einem Traum in kurzer Folge zunächst der Sohn namens Tingrui sowie etwas später die Tochter Lanying geboren wird. Zu seinem Unglück läßt sich Zhang Bo mit einem gewissen Zhang Hong ein und begibt sich mit ihm auf eine Reise nach Suzhou. Unterwegs ermordet Hong den Kaufmann, bringt dessen mitgeführten Schmuck an sich und beschuldigt den Kapitän des Schiffes der Tat. In seiner Unverfrorenheit tritt Zhang Hong bei seiner Rückkehr als Trauernder und »Helfer in der Not« vor die Witwe Zhang. Wohl oder übel überträgt man ihm die Verwaltung der Felder. Nachdem Hong auch noch seinen dreijährigen Sohn Meiyu aus der Heimat hat nachkommen lassen, sieht er sich am Ort als etabliert an. Die Jahre vergehen, besonders Lanying macht eine auffällige Entwicklung durch und nimmt in Jungenkleidern erfolgreich an den ersten Prüfungen in der Kreisstadt teil. Bei der Fortführung seiner Studien am Berg Lushan lernt Tingrui in der Folge den jungen Wu Jianzhang kennen, bei dem es sich in Wahrheit um seinen Cousin handelt, der vor vielen Jahren bei der Reise der Eltern in einen Fluß gestürzt und von dem betagten Beamten Wu Ying aus den Fluten gerettet worden ist. Beide ahnen nichts von der Verwandtschaft. Unterwegs in die Stadt, wo sich Tingrui mit Jianzhang zur Prüfungsteilnahme verabredet hat, vernimmt der junge Zhang eines abends am Hafen von Bord eines Schiffes, das dem Provinzgouverneur Yang Shichang gehört eine Frauenstimme. Angeregt läßt er einen Diener die »Melodie vom Phönixmännchen, das um das Phönixweibchen balzt« anstimmen und singt dazu: »Warum spielt die einsame Chang'e nachts auf ihrer Qin? Eine Melodie voller Gefühl Hinter dem Fenster anmutige Frauengestalten Einsam strahlt der klare Mond am Firmament.« [Es folgt eine Antwort von Bord des Schiffes] Wer zupft dort vor dem Fenster nachts die Qin? Zeichen voll zarter Gefühle Der klare Mond am Firmament 863 Wirft sein rundes Spiegelbild auf den Fluß.«
Über eine Zofe leisten die beiden Liebenden, Tingrui und die Gouverneurstochter Yang Juying, sich den »Schwur unter dem Mond«. Dann heißt es Abschied nehmen, denn früh am Morgen legen die Schiffe ab. 862
863
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Shenyang: Chunfeng wenyi 1985. Der sechzehn Kapitel lange Roman trägt als Verfasserpseudonym die Bezeichnung »(Mann) aus Boling (Ort in Hebei) am Fluß des Großen Elefanten« (Boling cuixiangchuan), welche weiter nicht aufzuschlüsseln ist. Ebd., Kap. 2, S. 11f.
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Die WELT DER GEFÜHLE In Nanchang treffen alle Protagonisten wieder aufeinander, besonders Lanying, die als Junge auftritt, findet Gefallen an ihrem Zukünftigen, als den ihr Tingrui den Wu Jianzhang vorgestellt hat. Aus den anschließenden Prüfungen geht das unerkannte Mädchen denn auch als Beste hervor. Unterdessen ist Yang Juying nach der Heimkehr vor lauter Liebeskummer erkrankt. Voller Empörung vernimmt der Vater die Nachricht von der nächtlichen Affäre, als Tingrui und die Tochter sich über Gedichte ihre Liebe gestanden. Gouverneur Yang greift zum Stock, um das Kind zu züchtigen, doch Juying flieht und stürzt sich in einen Brunnen, der sogleich mit einem schweren Stein verschlossen wird. Ein treuer Diener ermöglicht ihr jedoch nachts die Flucht, einsam irrt sie durch die Wildnis. Ihr Retter Zhang Kunshan, bei dem sie Aufnahme findet, hilft ihr, einen Brief an Tingrui aufzusetzen, doch fällt das Schreiben in die Hände des durchtriebenen Zhang Meiyu, der in die Fußstapfen seines bösen Vaters getreten ist und um das schöne Mädchen freien möchte. Erst kurz vor der anberaumten Hochzeit erhascht Juying einen Blick auf ihren vermeintlichen Bräutigam und muß voller Schrecken feststellen, daß es sich um den Falschen handelt. Gemeinsam mit ihrer Zofe spitzt sie den Kreisvorsteher an, sich des Falles anzunehmen, der Meiyu eine Tracht Prügel versetzt und ihn dann davonjagt. Sein Versprechen, in Zukunft einen tugendhaften Lebenswandel zu pflegen, erfüllt er nicht, so daß sich sein und das Schicksal seines Vaters Zhang Hong nunmehr bald erfüllt. Vollstrecker ist ein Liu Zhong, dem im Traum ein weißer Jadestab gegeben wird, auf dem die Geschichte mit dem Mord an Zhang Bo vermerkt ist. Es gelingt nun, Zhang Hong zu identifizieren und ihn zum Tode zu verurteilen. Auch Meiyu stirbt nach seiner Inhaftierung wegen mehrerer Vergehen im Gefängnis. Unterdessen haben Tingrui, seine Schwester und Wu Jianzhang als Prüfungsbeste die Hürden der hauptstädtischen Examina genommen. Von dem Kaiser werden sie als Schwiegersöhne begrüßt, lehnen das aber mit Blick auf die bereits bestehenden Bindungen ab. Lanying entgeht weiterem Ungemach in der Sache, da das über sie angefertigte Horoskop wenig Gutes verheißt. Sie ist nicht die letzte Frau, die sich zu Prüfungen bei Hofe einschleicht, um ihr Talent unter Beweis zu stellen, denn Yang Juying eifert ihr in der Verkleidung eines jungen Mannes nach und kann sich nach glänzendem Abschneiden selbst bei den Palastprüfungen nur durch Flucht vor der Verheiratung mit einer Prinzessin retten. Der Kaiser findet die Wahrheit ohnehin bald heraus, als er sich hundert schöne Palastdamen aus dem Reich zuführen läßt und unter ihnen Juying wiedererkennt. Da er über die Verbindung zu Tingrui informiert ist, heißt er diesen in die Hauptstadt zu kommen und läßt ihm dort Juying als Gattin zukommen. Bevor zum Schluß auch Lanying und Jianzhang heiraten, wird dieser von seiner Mutter endlich wiedererkannt, so daß die Familie glücklich vereint in die Hauptstadt zieht.
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9. Die Frau als Dichter – Kurze Betrachtungen zum tanci Wenn man sich eingehender mit dem Thema der Familien- und Liebesromane im China des 17. und 18. Jahrhunderts befaßt, stößt man unweigerlich auf eine Literaturgattung, die sich vor allem unter den Damen einer großen Beliebtheit erfreut zu haben scheint. Die Rede ist von den sogenannten tanci (wörtlich etwa »Verse zupfen«), d.h. rhythmisch vorgetragenen Geschichten, die von Zupfinstrumenten begleitet wurden. Wir haben es hier also im strengen Sinne nicht mit erzählerischen Romantexten zu tun, die der Lektüre dienten, sondern mit Texten, die zur Aufführung gebracht werden sollten und damit in der Tradition der rhapsodischen Dichtung standen. Wiewohl man Vorläufer der Gattung spätestens für die SongDynastie vermuten darf, kamen die tanci doch erst zum Ende der Ming bzw. Anfang der Qing richtig en vogue, konzentriert vor allem in den größeren Städten der unteren Yangtse-Region. Warum es gerade diese literarische Kunstform war, die von den Frauen als ihre Domäne betrachtet wurde, ist nicht klar. Womöglich entsprach es einer alten Überlieferung, daß Stücke in der Form von tanci vornehmlich von Frauen vorgetragen wurden.864 Die Inhalte vieler solcher Sprechgesänge geben nur wenig Aufschluß über die Verfasser und offenbaren keineswegs eine spezifisch weibliche Sicht der Dinge. Mit ihren Schwerpunkten Liebe, Heirat und Familie entsprechen sie weitgehend den in dieser ›sentimentalen‹ Literatur gängigen Themen und Darstellungsweisen. Dennoch lohnt ein näherer Blick auf einige dieser Werke. Eines der frühesten und zugleich umfangreichsten tanci überhaupt, dessen Aufführung sicherlich viele Wochen bzw. Monate in Anspruch nahm, liegt mit Blumen, die wie Regen vom Himmel fallen (Tianyuhua, im folgenden kurz »Himmelsblumen«) vor, das vermutlich zu Beginn der Kangxi-Herrschaft um die Mitte des 17. Jahrhunderts abgefaßt worden ist.865 Der lange Text, dessen Umfang gut und gerne dem von Werken wie Die drei Reiche oder Reise in den Westen entsprechen dürfte, ist in dreißig Kapitel unterteilt und folgt einem ständigen Wechsel siebenfüßiger Verspassagen mit solchen in Prosa. Die Verfasserfrage der Himmelsblumen ist nicht ganz geklärt, doch wird zumeist eine Person namens Tao Zhenhuai genannt, hinter der man eine Frau vermutet. A Ying, der mehrere Ausgaben des Werks prüfte, zweifelte die These über Tao Zhenhuai allerdings an, da er ihren Namen nur im Vorwort einer der in der Kapitelzahl unterschiedlichen Versionen fand und brachte mit dem Präzeptor Xu Zhihe einen weiteren möglichen Autoren ins Spiel, ohne zu dessen Gestalt allerdings nähere Angaben machen zu können.866 864
865 866
Zur Frage der Frauen als Dichterinnen vgl. ELLEN WIDMER / KANG-I SUN (Hg.): Writing Women in Late Imperial China, Stanford: Stanford UP 1997. Hier bearbeitet nach der Ausgabe Tianyuhua, Zhengzhou: Zhongzhou guji 1984. Vgl. A YING: »Notizen zu einem sechsundzwanzig Kapitel umfassenden Manuskript der Himmelsblumen« (Du »Tianyuhua« jiu chaoben ershiliu hui ben zhaji, 1962), in: DERS.:
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Die WELT DER GEFÜHLE Inhaltlich jedenfalls reiht sich das tanci in eine Gruppe von literarischen Werken ein, die sich in wehmütigem Ton mit dem Niedergang der Ming-Dynastie auseinandersetzen, angefangen von dem chuanqi-Drama Der Pfirsichblütenfächer (Taohuashan) des Kong Shangren (1648–1718), wo die historische Epoche als Hintergrund für eine Liebesgeschichte dient, bis hin zu anklagenden und stark auf die Kritik an dem Eunuchen Wei Zhongxian festgelegten Romanen wie Die leuchtende Perle. Ein umfangreiches Buch wie Himmelsblumen läßt sich naturgemäß nicht auf einen einzelnen inhaltlichen Aspekt fixieren. Die historischen Zeitbezüge gerade auch um Wei Zhongxian bzw. den Wanli-Kaiser nehmen als Hintergrund breiten Raum ein, doch läßt die Hervorhebung der sich durch beispielhafte Lebensführung auszeichnenden Familie Zuo und ihre Kontrastierung zu dem wirren Treiben bei Hofe eine ähnlich konfuzianisch-sittliche Werthaltung vermuten wie wir sie schon bei den frühen caizi jiaren-Romanen fanden. Auffällig ist die Bedeutung, die offenbar den Frauenschicksalen zubemessen wird. Neben einer Reihe beklagenswerter Damen soll durch Gestalten wie der Heldin Zuo Yizhen wohl die Botschaft vermittelt werden, daß eine Frau es mit jedem Mann aufnehmen kann. Die Handlung der Himmelsblumen nun ist in die Zeit des 14. Wanli-Jahres (1586) in die Ortschaft Xiangyang der südchinesischen Provinz Hubei verlegt. Angesichts der überall im Reich herrschenden Unruhe und Anarchie beschließt Gott Shangdi, einen Sternenfürsten auf die Erde hinabzusenden, der nach dem Rechten sehen soll. Es ist dieser Hintergrund seiner himmlischen Existenz, die den Helden Zuo Weiming wie eine Blume regengleich vom Himmel herabfallen läßt und dem tanci daher seinen Titel verleiht. Die Zuos sind eine der reichsten und mächtigsten Familien in der Provinz, früh zeigt sich der junge Weiming vertraut sowohl mit den klassischen Schriften wie auch mit der Kriegskunst. Nach dem Tode des Vaters, der als General im Kampf gegen die Nordbarbaren gefallen ist, lenkt Weiming die Geschicke der Familie und wird bald zu einer attraktiven Partie in der Gegend, umworben von vielen wohlhabenden Familien am Ort. Mit seiner ablehnenden Haltung stößt Weiming zahlreiche Herrschaften vor den Kopf, darunter auch seinen örtlichen Rivalen Sun Guoying, einen geldgierigen und machtversessenen Weiberhelden. An dessen Schwägerin, die als mögliche Kandidatin ins Spiel gebracht wird, hat Weiming folgendes auszusetzen: Was übrigens ihre Erscheinung betrifft, so habe ich mir selber zuweilen einen Eindruck davon verschaffen können, als ich sie am Fenster stehen und dem Treiben auf der Straße zuschauen sah. In meinen Augen ist sie durchaus keine makellose Schönheit. Doch einmal ganz abgesehen davon: Kann es als besonders tugendhaft gelten, wenn eine Frau sich ständig am Fenster zeigt, um nach 867 draußen zu sehen?
867
Mehrere Bemerkungen zum Roman (Xiaoshuo santan), Shanghai: Shanghai guji 1979, S. 179–184. Himmelsblumen, Kap. 1, Bd. 1, S. 18.
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Die Frau als Dichter – Kurze Betrachtungen zum tanci
Es ist dieser Geist mit seiner Forderung nach aufrechtem, keuschem Verhalten, der über dem ganzen Werk schwebt. Dem Hinweis der Mutter, daß es traditionsgemäß Sache der Eltern ist, über die Heirat der Kinder zu befinden, widersetzt sich Weiming mit dem Hinweis, daß er sicher einmal eine Schönheit finden werde, die seinen Ansprüchen genüge. In diesem und dem folgenden Teil, in dem von der Suche des Weiming nach einer Frau die Rede ist, läßt Himmelsblumen ganz deutlich die Nähe zu den caizi jiaren-Romanen erahnen. Zur Frühlingszeit besucht Zuo Weiming den »Frühlingsgarten« vor den Toren der Stadt. Man teilt ihm mit, daß ein Teil des Gartens an diesem Tag gesperrt ist, da die Frauen des Heng-Clans dort einen Ausflug machen. Neugierig versteckt sich Weiming mit seinen Begleitern, um einen Blick auf das junge Fräulein Heng zu erhaschen, von deren außergewöhnlicher Schönheit er viel gehört hat. Er erfährt, daß Fräulein Heng wegen der erst kürzlich abgelaufenen Trauerzeit um den Vater noch in kein Haus versprochen ist. In einer geheimen Verfolgungsaktion durch den Park gelingt es Weiming dennoch nicht, einen Blick auf die Schöne zu erhaschen. Allerdings findet er einen Fächer der jungen Frau, auf dem sie ein Gedicht über Päonien geschrieben hat. Angeregt schreibt Weiming in einigen Zeilen seine romantischen Gefühle in Gedichtform nieder, erschrickt aber im gleichen Augenblick über seinen Mut. Um den Fächer nicht in falsche Hände gelangen zu lassen, nimmt er ihn mit. Erst gegen Abend, er hat geraume Zeit in einem Pavillon an einer Stelle gewartet, an der die Hengs auf ihrem Weg aus dem Park vorüberkommen müssen, gelingt es Weiming, einen Blick auf die junge Frau zu werfen. Sein Entschluß, sie und keine andere zur Frau zu nehmen, steht fest. Dem beruflichen Streben Zuo Weimings auf seinem Weg zu Amt und Würden ist auch in Himmelsblumen breiter Platz eingeräumt, die Darstellung der Reisen, die er etwa mit seinen Freunden Zhao Shengzhi, Du Hongren und Heng Yingzheng in die Provinzhauptstadt unternimmt, um dort die Prüfungen zu absolvieren, sind angereichert mit abenteuerlichen Ereignissen, die die Helden zu bestehen haben. So wird er zum Beispiel Zeuge einer übernatürlichen Erscheinung, als eines Nachts der Geist einer Erhängten seine Geschichte erzählt: »Verehrter Gast, hört meine Klage. Ich bin der Geist der Dong Lanqing, die aus ehrenwertem Hause stammt. Meine Heimat liegt am Berge Hengshan, ich wuchs in begüterten Verhältnissen auf, feine Haarspangen und Kleider, mir hat es an nichts gefehlt. Doch das Schicksal hat es nicht gut mit mir gemeint, als ich in frühem Kindesalter, da ich die Haare noch nicht hochgebunden hatte, die Mutter verlor, die mich zuvor noch Jizi, dem jungen Sohn der Shen versprochen hatte. Ich zählte damals gerade fünfzehn Jahre, der Vater war auf einen Vorteil aus der Verbindung bedacht, und von der Familie des Bräutigams hieß es, die Hochzeit eile, der junge Herr liege schwerkrank darnieder, man bestehe auf eine sofortige Eheschließung. Es half nichts, dem grausamen Befehl des Vaters mußte Folge geleistet werden, ohne jeden Skrupel setzte er sich über meine Gefühle hinweg, verfügte ganz nach eigenem Gutdünken über meine Ehe, um Ruhe vor der drän-
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Die WELT DER GEFÜHLE genden Familie des Bräutigams zu haben. Die Brautgeschenke wurden ausgetauscht, Batzen Silber wechselten den Besitzer. Alles fand gemäß den traditionell überlieferten Riten und Bräuchen statt. Wie ein Blatt, das leise zu Boden segelt, kam ich in die Familie der Shen. Doch oh weh, noch in der Hochzeitsnacht, bevor wir Mann und Frau geworden waren, starb Shen Jizi, mein Bräutigam, ließ mich für immer alleine in der fremden Familie zurück. Da saß ich nun, Schwiegertochter nur dem Namen nach, befand mich in einer elenden Lage, ohne jede Hoffnung auf eine glückliche Ehe. Voller Haß und Mißgunst verfolgte mich die Schwiegermutter, Frau Xiong, schlimmer als Wolf und Tiger. Um nichts scherte man sich, ich galt niemandem etwas: es kümmerte keinen, daß ich in jungen Jahren Witwe geworden war, einsam das Haus hüten mußte; daß ich, ein junges, fröhliches Mädchen, das nie die Freuden der Liebe genossen hatte, für immer eine alte Jungfer bleiben sollte; daß ich, von der Familie getrennt, nur noch Einsamkeit und Sehnsucht kannte. Kaum eines Blickes würdigte mich die Schwiegermutter, behandelte mich wie eine Sklavin, über deren Wohl man sich hinwegsetzte, die man nach Belieben mißhandelte. Sie schloß mich in der leeren Kammer ein, daß ich niemanden mehr zu Gesicht bekam. Sie schnitt mich ab von allem, verweigerte mir gar Nahrung und Kleidung, selbst das Tageslicht sollte ich nicht mehr sehen. Sie schimpfte und verleumdete mich, warf mir die übelsten Wörter an den Kopf. Die arme Lanqing, ohne Bruder und Schwester an der Seite, die Mutter tot, der Vater in der Ferne. Was machte das Leben noch für einen Sinn? Der Tod mochte bitter sein, aber war er nicht besser, als so weiterzuleben? So lieb mir meine kleine Kammer geworden war, gab ich mir im vergangenen Herbst den Tod, einen kurzen Strick um den Hals, schied ich in einer windigen, regnerischen Nacht aus dem Leben. Doch war ich entschlossen hier auszuharren, sollte ein anderer für mich hinabfahren in die Unterwelt. Ich wollte hier warten, das würde ich der bösen Schwiegermutter nicht vergeben, mein sollte die Rache sein. Daher bat ich den Höllenfürsten, mir die Verfügung über das Schicksal der bösen Alten zu überlassen. Schon über sechzig, würde sie nicht ewig leben können. Daher hieß man Lanqing, am Baum, an dem sie sich aufgeknüpft hatte, auszuharren, um ihre Rache einst zu erfüllen, wenn die Lebenszeit der Alten abgelaufen war, damit sie mit ihr verfuhr, wie ihr beliebte. Was blieb dem heimatlosen Geist, als zurückzukehren an den Ort des Selbstmords, auf die Gelegenheit zur Rache zu warten, um später ins Leben zurückzukehren. So sagte man mir in der Unterwelt und sandte mich heim, damit ich auch die Himmelsinstanzen um ihre Zustimmung bat. Für den Falle einer Bewilligung sollte die Rache sogleich vollzogen werden. Der Himmelsbeamte dankte dem Hinweis des Höllenfürsten, war doch nun klar, warum die Geisterfrau es wagte, einer Lebenden den Tod zu wünschen. Frau Xiong sollte gefangen und ihrer ge868 rechten Strafe zugeführt werden.«
Hier beendet die Geisterfrau ihre Erzählung, es dämmert bereits, und sie verschwindet. 868
Ebd., S. 86f.
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Die Frau als Dichter – Kurze Betrachtungen zum tanci
Anderntags stellt Weiming bei den Bediensteten im Hause Shen Erkundigungen an, erfährt, daß sich die junge Frau tatsächlich am Osmanthus-Baum erhängt hat. Weiming setzt darauf eine Klageschrift auf. Unterdessen verfolgt die junge Lanqing nach der Erteilung der Genehmigung durch den Himmel die böse Schwiegermutter auf Schritt und Tritt. Am Ende geht die Schwiegermutter Lanqing in die Falle. Die Alte muß nun drei Jahre lang als Geist an dem Baum ausharren, während Lanqing ins Leben zurückkehrt. Nach den erfolgreich abgeschlossenen Prüfungen kehrt Zuo Weiming in die Heimat zurück und heiratet das Fräulein Heng, der er wie geplant Vorhaltungen über ihren zweifelhaften Lebenswandel in der Vergangenheit macht. Nur kurze Zeit hält es ihn in der Familie, die nächsten Examina in der Hauptstadt stehen an. Unterwegs macht Weiming bei einem Onkel Rast, in dessen Hause sein jüngerer Bruder Zuo Zhide aufwächst. Zhide erklärt, mit Weiming in die Hauptstadt ziehen zu wollen, obgleich er sich am Ort bereits einigermaßen eingerichtet hat und mit einer jungen Frau aus dem Hause Zhou verlobt ist. Als der ältere sorgt sich Weiming um Zhide und hält ihm eines Tages eine Moralpredigt, als er ihn beim Schachspielen entdeckt. Wiederholt wird in diesem Zusammenhang eines der Schlüsselworte im Werk – der Begriff jiafa (Familiendisziplin) – genannt: Die wohlgeordnete Familie als funktionierender Staat im Kleinen im Gegensatz zu dem gesetzlosen Tun der Minister bei Hofe, das ist eine zentrale Aussage im vorliegenden Werk. Der Eindruck der Wichtigkeit von »Familie« wird noch verstärkt durch die Tatsache, daß die Handlung praktisch immer zwischen den Dingen bei Hofe und dem Heim der Familie Zuo wechselt. Gesellschaftlich gewinnt der junge Weiming nach bestandenen Palastprüfungen, aus denen er als bester hervorgeht, immer mehr an Statur. Auf dem einflußreichen Zensorposten widmet er sich zunächst vornehmlich den Aufgaben im Reichsinneren, bekommt aber bald auch Gelegenheit, seine militärischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, als man ihn mit einer Expedition gegen die Tartaren im Norden beauftragt. Als Weiming schließlich wegen dringender Geschäfte wieder an den Hof zurückkehrt, wird er in wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen verwickelt, die hier in erstaunlich ausführlicher Form behandelt werden. Weiming hat die Aufhebung der Bergbausteuer gefordert, um das Volk zu entlasten, Zheng Guotai, der Bruder der Lieblingskonkubine des Kaisers, tritt dagegen für die Steuer ein. Der Kaiser neigt den Argumenten des Weiming zu und untersagt die weitere Erhebung der Steuer. Die Einwände beider Seiten sind stichhaltig: Zheng spricht sich angesichts der hohen Ausgaben des Staates für Verteidigung und die Einrichtung öffentlicher Speicher zur Versorgung der Bevölkerung in Zeiten der Not für die Erhebung der Steuer aus. Zuo plädiert dagegen, die Last in der Bevölkerung zu senken und den inneren Frieden zu sichern. Er führt Beispiele aus der Vergangenheit an, wo es aufgrund der hohen Steuerlast zu Aufständen gekommen sei. Sein Argument gipfelt in dem Satz: »Ein reiches Volk ist besser als ein reicher Staat« (fu guo bu ru fu min). Es kommt zu einem Streit zwischen Kanzler Fang Congzhe und Zensor Zuo
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Die WELT DER GEFÜHLE Weiming, in dem praktisch die gleichen Argumente noch einmal ausgetauscht werden. Betroffen starrte Zheng vor sich hin, als Zuo geendet hatte. Auch der Kaiser schwieg eine Weile nachdenklich, bevor er endlich verkündete: »Die Einwände von Zensor Zuo scheinen mir berechtigt. Wir werden die Bergbausteuer daher nicht erheben.« Beschämt senkte Zheng den Kopf, wandte sich mit flüsternder Stimme an den Kanzler: »Und ich bleibe dabei. Die Argumente, die Ihr soeben zugunsten der Steuer vorgebracht habt, sind absolut berechtigt. Beide, Staat und Volk profitieren davon. Als wir noch die Steuer erhoben, waren alle Kassen des Staates prall gefüllt. Seit ihrer Abschaffung ist nun kaum noch etwas in der Staatskasse, das Land verarmt immer mehr. Für die Durchführung einer vernünftigen Politik sind wir gezwungen, die Steuer wiedereinzuführen.« Der Kanzler war soeben dabei, das Wort zu ergreifen und eine Bemerkung an die Majestät zu richten, als Zensor Zuo, empört über die rebellischen Worte, ihm zuvorkam und rief: »Schweige, Congzhe! Wie können du und deinesgleichen es wagen, die Majestät zu hintergehen! Du behauptest, die Steuer sei in der Vergangenheit gleichermaßen Volk und Staat zugutegekommen. Doch wie erklärst du die Aufstände allerorten, wenn die Menschen wirklich überall von dem Geld profitieren? Nenne mir die Gründe dafür, sind sie nicht vielmehr in eurer ach so mildtätigen Politik zu suchen?« »Zuo Weiming!« rief der Kanzler empört, »was nimmst du dir heraus! Das Volk mag in seiner Mehrheit die Steuer ablehnen, doch sie füllt zumindest die Staatskasse. Oder was glaubst du, wie die Anstrengungen zur Abwehr der Barbaren zu finanzieren sind, die ständig in unser Reich einfallen? Die Erhebung der Steuer mag nicht mildtätig sein, doch sie ist unabdingbar für den Erhalt der Dynastie!« »Oh, Kanzler, Ihr mit Euren leeren Worten!« erwiderte Zuo Weiming kühl und spöttisch. »Mit recht heißt es, das Volk ist die Grundlage des Landes. Sind die Grundlagen fest und stark, lebt das ganze Land in Frieden, solltet Ihr nie davon gehört haben? Führt die Steuer wieder ein, füllt die Kassen des Staates, treibt die Menschen in den Ruin, zwingt sie zu Bandentum und Aufständen – wie teuer erst wird es sein, diesen Schaden wieder zu beheben? Nein, Ihr verliert durch eine solche Maßnahme mehr als Ihr gewinnt, und Frieden erlangt Ihr damit schon gar nicht. Ihr macht das Land damit nicht reicher, sondern ärmer. Wahrlich, Ihr seid mir ein feiner Kanzler, das Reich derart schädigen zu wollen!« Mit diesen Worten wandte sich Zensor Zuo ab und sagte an den Kaiser gerichtet: »Majestät, ich empfehle Euch, diesen Kanzler, der nur wirres und dummes Zeug daherschwätzt schnellstens abzusetzen, denn er ist eine Bedrohung für das ganze Reich!« Ohne hierauf näher einzugehen sagte der Kaiser: »Zensor, Ihr habt recht. Seit altersher haben sich die Menschen im Volk empört, wenn die Steuerlast zu 869 groß wurde. Wir werden die Bergwerkssteuer daher nicht wieder einführen.«
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Ebd., Kap. 8, S. 302f.
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Die Frau als Dichter – Kurze Betrachtungen zum tanci
Die Auseinandersetzung über die Bergbausteuer hebt hier ganz deutlich auf zeitgenössische Diskussionen ab. Zuo Weimings Argumente erinnern an die politischen Forderungen des Wang Fuzhi (1619–1692), der von »wohlwollenden Maßnahmen zur Förderung der Wohlfahrt« (kuan yi yang min) sprach und dabei unter anderem forderte, den »angesammelten Reichtum zum Wohle des Volkes« zu verwenden (xiang fu yu min). Zuo Weiming hat sich mit seinen schonungslosen Angriffen gegen den Kanzler und seine Schergen, die er allesamt der Korruption und des Verrats bezichtigt, weit vorgewagt und muß in der Folge um sein Leben fürchten, als man einen Attentäter gegen ihn dingt. Unter seinen Gegnern ist auch Sun Guoying, der ehemalige Rivale aus der Heimat, der dem Zuo Weiming bei einer Gelegenheit vergifteten Wein kredenzt, jedoch entdeckt wird. Weiming meistert diese und weitere Anschläge bravourös und erhält das Amt des Kanzlers angetragen. Die Lage spitzt sich allerdings zu, als selbst Weimings Familie nicht mehr von den Nachstellungen der Widersacher verschont bleibt. Als der neue Kanzler schließlich in einer wichtigen Mission an die Grenze des Reiches gerufen wird, entführt man seine mutige Tochter Yizhen, die die Frau Zheng Guotais werden soll. Die junge Frau wird sträflich unterschätzt, ihre Drohung gegen Zheng, ihn zu töten, als Weibergeschwätz abgetan. Als sich schon alle in Sicherheit wiegen und Zheng sich eines nachts neben der »Gattin« auf das Lager niederlegt, um seinen Rausch auszuschlafen, ist die Zeit für Yizhens Rache reif: Die Frauen zogen sich aus den inneren Gemächern des Palastes zurück, verschlossen das Sonnen- und Mondtor und begaben sich zur Ruhe. Als Yizhen merkte, daß sie allein war, sammelte sie sich und lauschte nach der LotusWasseruhr. Sie vernahm, wie der silberne Pfeil auf der Uhr soeben die Mitternachtsstunde verkündete, die Zeit, zu der sich alle Menschen in den sechs Palästen in tiefem Schlaf befanden. Vom Bett her vernahm sie ein Schnarchen. Mit leisen Schritten trat sie neben das Lager, hob den Vorhang und leuchtete mit der Kerze auf den Schlafenden. Sie sah, wie Zheng Guotai mit dem Kopf tief in den Drachen-Phönix-Kissen ruhte, hier und da sprossen ihm spärliche weiße Stoppel um Kinn und Wangen. Die Augen fest geschlossen, wirkte er noch älter, machte fast den Eindruck eines Toten. Der Geruch von Wein stieß ihm aus der Nase. Yizhen trat näher und zerrte an dem Kissen – nichts, bewegungslos lag Zheng da, als wäre nichts geschehen. Wenn ich jetzt nicht zuschlage, wann dann? fragte sich Yizhen. Eilig wandte sie sich um, stellte die Kerze auf ein Tischchen und streifte Drachen-Phönix-Jacke sowie Sonne-Mond-Kleid ab. Auch das Perlen-Diadem nahm sie aus den Haaren und legte es beiseite. Als sie so in ihren alten Kleidern dastand, zog sie das kurze Jadedrachen-Schwert aus der Scheide und wog es kurz in der Hand. Wie es in dem matten Kerzenlicht funkelte! Yizhen streifte die Ärmel hoch, und trat entschlossen neben das Bett. Mit zusammengebissenen Zähnen stand sie an der Seite des Schlafenden und dachte: Zuo Yizhen, für gewöhnlich gibst du alles, um deinen Mut unter Beweis zu stellen, nun sammle heute nacht alle deine Kraft, damit du auch aus dieser Sache unbeschadet herauskommst. Dies ist der Zeitpunkt der Rache, jetzt darfst du
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Die WELT DER GEFÜHLE nicht mehr zögern, nicht schwach werden und den Mut verlieren, töte ihn, den verräterischen Zheng! Yizhen sammelte sich, blickte auf den Schlafenden vor sich. Plötzlich überkam sie eine unbändige Wut, der Wunsch, zu töten, war kaum noch zurückzuhalten. Mit eisernem Griff umschloß ihre rechte Hand das Schwert, während sie mit der linken auf Zheng Guotai wies: »Du Verräter, hast es gewagt, die Macht an dich zu reißen und dich erdreistet, mit mir dein Spiel zu treiben. Verräter, hier nimm diesen Schlag mit meinem Schwert!« Damit hob sie den Stahl und hieb mit aller Kraft gegen den Hals des Schlafenden, der aus den Kleidern hervorragte. Verwundert stellte sie fest, überhaupt keinen Widerstand zu spüren. Yizhen sah, wie Zheng beide Arme emporriß, die Beine mit einem Ruck in die Höhe hob. Dann war es still. Sollte ihr die Arbeit mißglückt sein? Seltsam, wie leicht und unbehindert alles vonstatten gegangen war. Sie hatte überhaupt nichts gespürt. Yizhen beugte sich nach unten, um sich von der Wirkung ihres Schlages zu überzeugen, als ihr ein Schwall warmen Blutes ins Gesicht sprudelte. Über und über blutverschmiert wich sie zurück, griff nach dem Licht und leuchtete noch einmal auf das Bett. Zufrieden stellte sie fest, daß sie den Kopf des Mannes vom Rumpf getrennt hatte. Während das abgeschlagene Haupt neben das Kissen gerollt war, sickerte aus der Wunde unaufhörlich Blut in das Bett. Komisch, wie gebrechlich dieser Kerl war, dachte sie bei sich. Ein Schlag, und 870 sein Kopf ist ab.
Nachdem mit Zheng Guotai ein gewichtiger Gegner bei Hofe ausgeschaltet ist, darf Zuo Weiming jedoch nur kurze Zeit frohlocken. Denn in Wei Zhongxian, dem Eunuchen, der Kaiser Xizong als Marionette benutzt, erwächst ihm ein weit gefährlicherer Gegner. Dem Ungemach bei Hofe folgt solches im eigenen Heim, wo sich mit den mehr und mehr selbstbewußt auftretenden Frauen neue Fronten auftun. Ähnlich wie Weimings Autorität bei Hofe während seiner Abwesenheit immer wieder untergraben wird, so hat er auch bei der längeren Abwesenheit von daheim stets einen Machtverlust zu gewahren. Entsprechend heftig ist seine Reaktion, als er feststellen muß, daß seine Gattin Frau Heng den Damen im Hause den Gartenbesuch gestattet hat. Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel, bei dem zunächst Weiming der Frau Heng starke Dinge an den Kopf wirft: »Und du sollst eine Gattin sein? Man erwartet von dir, daß du dich auf die Arbeit in den inneren Gemächern beschränkst und die jungen Frauen dort zu rechtem Tun anleitest. Doch was tust du: du verführst sie dazu, sich dort draußen jedermanns Blicken preiszugeben! Du hast deine Aufgabe als Gattin vollkommen mißverstanden, wenn du glaubst, es sei deine Pflicht, den Mädchen zu ihren Vergnügungen zu verhelfen. Wie steht es Frauen von eurem Stande wohl zu Gesicht, sich dort über den Gartenzaun hinweg von aller Welt begaffen zu lassen?« Mit diesen Worten wandte sich Weiming an die Tochter und sagte, indem 870
Ebd., Bd. 2, Kap. 15, S. 570f.
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Die Frau als Dichter – Kurze Betrachtungen zum tanci er auf Frau Heng wies: »Und daß du sie mir von heute an nie wieder ›Mutter‹ nennst! Sie ist nicht mehr als deine Schwester! ›Qinggui‹ – Reines Frauengemach soll ihr Name sein!« Frau Heng errötete beschämt bei diesen Worten, und in einer Mischung aus Scham und Wut erwiderte sie: »Spare dir deine verletzenden Worte! Was ist denn so schlimm an einem Gartenbesuch! Acht Jahre wohnt unsere Familie nun hier, und noch immer kennen wir das Anwesen nicht bis zum letzten Winkel. Aus diesem Grunde haben wir uns heute hinaus in den Garten begeben, um uns umzusehen. Yizhen und die anderen Mädchen wollten einen Spaziergang durch den Park machen, daher habe ich sie begleitet. Was soll denn das Gerede von angeblichen Gaffern. Es ist nichts Unrechtes Geschehen, du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Und wenn ich dir als Gattin nicht die Rechte bin, dann mache ich gerne einer sittlich und moralisch gefestigteren Frau an deiner Seite Platz!« Voller Erregung hatte sie die Worte hervorgestoßen, Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Schweigend sahen sich die Mädchen an, während Zuo Weiming mit einem bitteren Lächeln bemerkte: »Steckt also schon wieder diese Yizhen hinter der ganzen Sache!« Er zitierte also die Tochter vor sich und verkündete: »Ich glaube, das ganze Übel kommt daher, daß eure Mutter früh ihren Vater verlor und ihre eigene Mutter stets zu schwach und nachsichtig war, um etwas von der strengen Erziehung in den Frauengemächern an sie weiterzugeben. Ich selber muß gestehen, daß ich eure Mutter nur kennenlernte, weil sie damals des öfteren den Garten besuchte, in dem ich sie zum ersten Male sah. Ihr Anblick hat mich so fasziniert, daß ich bald um ihre Hand anhielt. Erst nach der Eheschließung wurde sie mit den strengen Pflichten und Gebräuchen der Frauengemächer vertraut, verließ das Haus nicht mehr. Doch all das hat sie nur unter Zwang und Druck angenommen. Du, Yizhen, hast – wohlwissend um meine Verfügungen – bereits zum wiederholten Male meinen Weisungen zuwidergehandelt, dich im Garten herumgetrieben und dabei stets Unannehmlichkeiten hervorgerufen, heute gar die drei Gaffer an der Mauer herbeigelockt. Auch heute bist du es gewesen, die die Mutter zu dem Besuch verführte. Daher sollst auch 871 du diejenige sein, die die Strafe zu erleiden hat.«
Das Ergebnis der Auseinandersetzungen im eigenen Heim bleibt ebenso vage wie das im Kampf Zuo Weimings gegen den Eunuchen Wei Zhongxian. Aufstände und Naturkatastrophen künden das Ende der Dynastie an. Das Anwesen der Zuos gleicht mehr und mehr einer Festung, die Familienmitglieder üben sich im Gebrauch von Waffen, um sich selber gegen die umherziehenden Räuberbanden zur Wehr setzen zu können. Mit einem kleinen Kontingent kaiserlicher Truppen startet Weiming einen erfolglosen Angriff auf den Rebellenführer Li Zicheng, doch schließlich können selbst Zuos wohl organisierte Familienverbände der Übermacht nicht mehr standhalten, man entschließt sich zum kollektiven Selbstmord. Gemeinsam besteigen Familie und Verwandte ein Schiff, das in der Mitte des 871
Ebd., Bd. 3, Kap. 22, S. 885.
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Die WELT DER GEFÜHLE Flusses versenkt wird, so daß alle in den Fluten umkommen. Sphärische Musik verkündet, daß Zuo Weiming seine himmlische Existenz zurückerlangt hat. Himmelsblume ist schon aufgrund seines Umfangs thematisch recht weit gefaßt und bietet ein eindrucksvolles Beispiel für die Wahrnehmung des Niedergangs der Ming-Herrschaft durch die chinesischen Literaten nach dem Dynastiewechsel. Andere tanci in der Folge der Himmelsblume mochten sich auf einen geringeren Umfang beschränken, blieben jedoch bis weit ins 19. Jahrhundert dem Thema der Liebe verhaftet. Davon zeugen u.a. zwei weitere Werke dieser Literaturgattung, die beide anonym vermutlich während des 18. bzw. 19. Jahrhunderts verfaßt und durch Übersetzungen einer Leserschaft weit über die heimatlichen Grenzen hinaus zugänglich gemacht worden sind. Die Handlung des ersten Stücks unter dem Titel Die Jadelibelle (Yu qingting) ist wohl in Teilen dem Leben des Shen Shixing (1535–1614) nachempfunden, der zwischen den Jahren 1585 und 1590 die Kanzlerschaft über das Reich ausübte und dessen leibliche Mutter einer Legende zufolge Nonne in einem Kloster gewesen sein soll.872 Dem Bericht über das Schicksal des Findlings, der im tanci durch den jungen Dongcai verkörpert wird, geht eine ausführliche Schilderung seiner Herkunft voraus, die die eigentliche Liebesgeschichte ausmacht. Thematisch noch enger gefaßt und deutlich in der Tradition der caizi jiarenRomane stehend, ist das tanci unter dem Titel Die Juwelenpagode (Zhenzhuta).873 Darin wird von dem jungen Talent Fang Qing berichtet, der als mittelloser Scholar zunächst wenig Aussicht auf die Erfüllung seiner Liebe zu Cousine Chen Cui'e hat und vor allem die Bedenken von deren Mutter ausräumen muß. Die Fronten sind extrem verhärtet, nachdem sich Frau Chen durch handfeste Auseinandersetzungen wegen dieser Mesalliance gar mit dem Gatten überworfen hat und sich erst eine Lösung abzeichnet, als Fang Qing im Studium seinen Weg erfolgreich gemeistert hat und mit dem Posten eines Generalgouverneurs aufwarten kann. Erst gegen Ende der Qing-Dynastie wandten sich die Verfasser von tanci in der Folge der von der gesamten Erzählliteratur eingeschlagenen neuen Tendenzen auch verstärkt anderen Inhalten zu. Eines der bekanntesten dieser Werke war der 1901/02 erschienene Der Aufstand von 1900 (Gengzi guobian tanci), in dem Li Boyuan über den Boxeraufstand berichtete und die Niederschlagung durch die Alliierten anprangerte. So sehr man auch mit Anpassungen an zeitgenössische Entwicklungen bemüht war, die Gattung der tanci am Leben zu erhalten, jene Popularität wie ehedem, als noch die Liebesthematik im Zentrum stand, genossen sie zum Ende der Qing-Dynastie hin nicht mehr. 872
873
Die ursprünglich vierzig Kapitel der tanci-Fassung wurden in der Übersetzung von FRANZ KUHN auf neunzehn gekürzt. (Vgl. d. Ausgabe Die Jadelibelle, Zürich: Manesse 1952). Bekannt ist das tanci auch unter dem Titel Die Hibiskushöhle (Furongdong). Abgefaßt in vierundzwanzig Kapiteln und hier in der Fassung Die Juwelenpagode, übersetzt von ANNA VON ROTTAUSCHER, Frankfurt/M.: Fischer 1979 (erstmals 1958).
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10. Bastionen – Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert
Wir haben in diesem Kapitel bisher mit einiger Ausführlichkeit die Entwicklung in der chinesischen Romankunst seit dem 16. Jahrhundert aufgezeigt und jene Tendenzen angedeutet, wie sie im Umfeld der bewußteren Wahrnehmung von Emotionalität und Körperlichkeit verstärkt zutage traten. Erotik, Liebe, Harmoniebedürfnis sowie das Streben nach Erfüllung und Vollkommenheit waren die zentralen Aspekte in diesem Teil der Literatur, die gleichsam stets Ausblicke auf die geistige Verfassung der jeweiligen Zeit offenbarten. Diese Entwicklungen kulminierten nun in einer Anzahl großartiger Romane vor allem des 18. Jahrhunderts, deren auffälligstes Merkmal zunächst einmal der realistische Entwurf eines umfassenden familiären Rahmens war, aus dem heraus einzelne ebenso wie kollektive Schicksale die Zeitumstände im Gefüge der Generationenfolge erklärten. Damit ist bereits ein wesentliches Merkmal des sogenannten »Familienromans« genannt, der zudem in der Konzentration auf den Niedergang eines Clans urmythische Motive des Verfalls ebenso aufgreift, wie er innerhalb des von ihm gewählten Zeitrahmens epochale Umbrüche andeutet. In seiner erzählerischen Form ist der Familienroman dabei an zwei Ebenen ausgerichtet: vertikal an der chronologischen Reihenfolge geschilderter Ereignisse und horizontal an den Familienbeziehungen.874 Wie wir weiter oben gesehen haben, ist die Wahrnehmung spezifischer Fragen, die das Zusammenleben in der ehelichen sowie der familiären Gemeinschaft betreffen, tief im chinesischen Denken verankert und seit den Verhaltensvorschriften, wie sie Konfuzius in seinen Gesprächen gegeben hat, nicht mehr aus der Diskussion gesellschaftlicher Fragen fortzudenken. Es verwundert daher nicht, daß mit dem Jin Ping Mei bereits einer der großen Romane aus der frühen Phase der chinesischen Erzählkunst die Familienthematik aufgreift und modellhaft jenen Rahmen entwirft, der von den Nachfolgern dann weitgehend übernommen worden ist und auch für Werke wie Ba Jins (geb. 1904) Trilogie Heftige Strömung (Jiliu, bestehend aus den Einzelbänden Familie [Jia], Frühling [Chun] und Herbst [Qiu], abgeschlossen 1940) bzw. Lao Shes (1899–1966) im Jahre 1947 vollendeten Roman Vier Generationen unter einem Dach (Si shi tong tang) bis in die neuere Zeit Gültigkeit besaß. Obwohl hier mit dem häuslichen Ambiente, der familiären Gemeinschaft über zwei Generationen hinweg sowie der intensiven Schilderung innerhäuslicher Verhältnisse bereits wesentliche Elemente des Familienromans im Ansatz vor874
Vgl. zur Definition des Familienromans YI-LING RU: The Family Novel. Toward a Generic Definition, Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1992, S. 2.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
liegen, scheut man sich allerdings, dem Jin Ping Mei diesen Status ohne Einschränkungen zuzubilligen. Der Grund dafür ist, daß der Roman in seiner Welterklärung noch stark allegorische Züge aufweist und insgesamt weniger psychologisch angelegt ist wie etwa Traum der Roten Kammer oder Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng). Ximen Qing und die Personen in seinem Haushalt weisen noch wenig individuelle Merkmale auf, ihnen fehlt trotz des realistischen Bildes der Umgebung, in der sie leben, das konkret-Einmalige, Unverwechselbare. Pan Jinlian, Ximen Qing, Li Ping'er etc. sind noch weitgehend Typen, die deutlich auf Vermittlung einer Botschaft hin angelegt sind und dabei über die Person selbst wenig erklären. Dies ändert sich nun in den Romanen, die wir in diesem Abschnitt besprechen wollen: Zwar sind die literarischen Traditionen, in denen auch Protagonisten wie Jia Baoyu oder Tan Shaowen stehen nicht zu leugnen, doch entwickeln sich diese Traditionen aus sich selbst heraus und müssen dabei keiner höheren Logik gehorchen. Ganz entscheidend, aber im konkreten Falle mangels fehlender Quellen oder Aussagen von Zeitgenossen schwer nachzuweisen, dürften wohl autobiographische Elemente sein, die in die Darstellung miteingeflossen sind und die Glaubwürdigkeit sowie den Charakter der Authentizität, die diesen Werken innewohnt, erhöhen. Wenngleich man sich scheut, Traum der Roten Kammer und Laterne an der Wegkreuzung explizit als autobiographische Romane zu bezeichnen, wird in den Protagonisten doch eine große Nähe zu den Verfassern der Werke sichtbar, so daß es hier notwendig scheint, der Frage nach dem literarischen Selbst in einigen Punkten nachzugehen. Wie wir an einigen Stellen in diesem Kapitel bereits angedeutet haben, verloren die seit dem Ende der Ming-Dynastie vor allem in der nicht-fiktionalen Literatur vorhandenen individualistischen Denkansätze angesichts der Furcht vor der mandschurischen Zensur zum ausklingenden 17. Jahrhundert hin mehr und mehr an Bedeutung. In Zeiten, da die allgemeine intellektuelle Schicht nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von offizieller Seite vorgebrachten Forderungen zunehmend an orthodoxen Inhalten Interesse fand, begann die Romankunst vermehrt autobiographische Züge aufzuweisen. Übergänge hierzu sind bereits bei Gelehrten des 17. Jahrhunderts wie Mao Qiling (1623–1716) zu finden, dessen autobiographische Schriften fiktionale Züge erkennen lassen. Es waren nun die Romane mit ihrer offensichtlichen »autobiographischen Sensibilität«,875 die angesichts ihres fiktionalen Charakters ein weit sichereres Medium für die Auseinandersetzung mit dem Selbst bildeten, oder anders herum ausgedrückt: Wo die direkte Selbstdarstellung nicht mehr toleriert wurde, bot die indirekte Darstellung durch das in fiktiver Form verhüllte alter ego im Roman eine attraktive Alternative für das Anliegen, sich 875
Der Begriff der »autobiographischen Sensibilität« ist hier einer hervorragenden Studie zu dem Thema entnommen, die von MARTIN W. HUANG unter dem Titel Literati and SelfRe/Presentation. Autobiographical sensibility in the Eigthteenth-Century Chinese Novel, Stanford, Cal.: Stanford UP 1995 angefertigt worden ist.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert
autobiographisch zu äußern.876 Die Notwendigkeit, sich nach neuen literarischen Formen der Selbstdarstellung umzusehen, ging einher mit einer immer stärker werdenden Aufwertung des Genres der Erzählkunst unter den Literaten des 18. Jahrhunderts. Der Wandel, den der Roman in China seit seinen großen Ausgangswerken wie den Drei Reichen, den Räubern und der Reise in den Westen durchgemacht hatte, die allesamt noch auf einem relativ umfangreichen Erzählmaterial aus der Hand vieler einzelner Verfasser basierten, kam nun zur vollen Entfaltung. Das Besondere war nicht nur, daß trotz aller Textmanipulationen, die wie im Falle des Traums vornehmlich auf Herausgeber der Werke zurückgingen, der Kern der Werke aus der Hand eines einzelnen Autoren stammte, sondern daß dieser sich selbst nicht mehr so stark zurücknahm und sich durch Hinweise im Vorwort (wie etwa bei dem in einem weiteren Abschnitt zu behandelnden Roman Spuren von Unsterblichen in der Wildnis [Lüye xianzong]) bzw. in der Handlung selbst (z.B. beim Traum) zu erkennen gab, so daß man nicht wie bei den Vorgängern von einem »Gelehrten-Roman«, als vielmehr vom »Roman des Gelehrten« sprechen kann. Hier knüpfte man an Traditionen an, die spätestens seit dem 17. Jahrhundert in der Erzählkunst von Bedeutung waren. Äußerlich durch Erzählformeln und Kapiteleinteilung zwar vielfach noch immer an die Herkunft aus den mündlich vorgetragenen Geschichten erinnernd, hatte sich der Roman längst zur Lektüre für ein Lesepublikum unter Freunden und Bekannten entwickelt (die meisten Werke kursierten vor ihrer oft viel späteren Drucklegung zunächst nur in Manuskriptform unter Personen aus dem Umkreis des Verfassers), in der der Autor Auskunft über seine Weltsicht und das eigene Schicksal gab. Hoffnungen auf eine Publikation geschweige denn materiellen Gewinn durch Tantiemen im Falle einer Veröffentlichung werden die Verfasser kaum gehabt haben. Sicherheitshalber verbarg man sich auch weiterhin hinter einem Pseudonym. Das Schreiben war ein viel zu privater Prozeß, der in vielen Fällen auf das Anliegen zurückging, sich ausführlich mit den erlebten Frustrationen und Ängsten im persönlichen Umfeld auseinanderzusetzen. Das eigene Leiden oder das eines ganzen Clans wurde zum Thema, Schreiben zur Selbstheilung, wie es Li Yu, den wir als Verfasser der Andachtsmatten aus Fleisch schon kennengelernt haben, bereits in einer seiner Schriften deutlich gemacht hatte, als er in bezug auf die Anfertigung von Dramen schrieb: Wenn dieses Genre nicht existierte, würden talentierte und heroische Männer vor Frustration sterben. Ich wurde in eine unglückliche Zeit hinein geboren und habe mein Lebtag in Armut verbracht. Von Kindheit an bis hinein ins hohe Alter ist mir kaum ein Erfolg beschieden gewesen. Doch wenn ich Stücke zu Papier bringe, vergesse ich nicht nur Kummer und Niedergeschlagenheit, sondern beanspruche für mich, der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Die Freuden, die 876
Vgl. ebd., S. 8.
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DIE WELT DER GEFÜHLE ich dann verspüre, können nicht größer sein bei denen, die Rang, Reichtum und Ruhm genießen. Wenn jemand im alltäglichen Leben keine Hoffnung auf Erfüllung seiner Wünsche hat, dann kann er sich eine imaginäre Welt schaffen, in 877 der er tut, was ihm gefällt.
Wir werden im nächsten Kapitel mit Wu Jingzis Inoffiziellen Geschichten aus dem Gelehrtenwald (Rulin waishi) auf ein Werk treffen, in dem eben die vom Autor und im Kreise der Literaten erlebten Frustrationen zum Ausdruck gebracht und erstmals in eine soziale Kritik umgemünzt werden. Im Falle des Traums sowie der übrigen Romane, die wir im weiteren behandeln wollen, steht dagegen noch viel mehr die Gestalt des Autors und seines alter ego im Vordergrund, ohne damit ein primär gesellschaftliches Anliegen hervorbringen zu wollen. Wenn hier im folgenden von den frühen chinesischen Familienromanen die Rede ist, so bedeutet das nicht, daß ein und dasselbe Schema in durchgängiger Form Anwendung fand. Umfang, Struktur und der Zuschnitt auf die Protagonisten variieren durchaus. Jin Ping Mei, Lin Lan Xiang sowie Der Traum der Roten Kammer weisen vordergründig die stärksten Ähnlichkeiten auf und entsprechen der Definition des Familienromans insofern am ehesten, als sie die Thematik der Familiengeschichte in die Problematik des Niedergangs einfügen, eine gängige Vorgehensweise, die den chinesischen Romanvertretern des Genres ebenso innewohnt wie jenen aus der abendländischen Literatur, die zwar später auftraten, aber durchaus ähnliche Züge tragen. Genannt seien hier nur berühmte Beispiele wie Thomas Manns Buddenbrooks (1901), John Galsworthys Forsyte-Saga (1906– 1922) oder Gabriel Garcia Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit (1967).878 Was an diesem Vergleich bei näherer Betrachtung jedoch stört, ist der enge zeitliche Rahmen, in dem die chinesischen Werke die Handlung entfalten. Abgesehen von Lin Lan Xiang, das einen Zeitraum von etwas mehr als hundert Jahren abdeckt, sind Blüte und Niedergang ihrer Familien in den Protagonisten Ximen Qing und Jia Baoyu auf ein und derselben Generationsebene bereits klar angelegt. Anders 877
878
LI YU: »Yuqiu xiaosi«, hier zitiert nach PATRICK HANAN: The Invention of Li Yu, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1988, S. 36. Bleibt man im Rahmen der asiatischen Literaturen, so läßt sich die Tradition der Liebesund Familienromane noch in weit frühere Zeit zurückverfolgen. Genannt sei hier das wohl früheste Erzählwerk aus Japan, der Roman Die Geschichte vom Prinzen Genji (Genji monogatari), der zu Beginn des 11. Jahrhunderts von Murasaki, einer Hofdame der Kaiserin von Japan verfaßt worden ist. Eine deutsche Übertragung, die nach der 1937 von ARTHUR WALEY vorgenommenen Übersetzung angefertigt worden ist, liegt vor mit Die Geschichte vom Prinzen Genji, dt. von HERBERTH E. HERLITSCHKA, Frankfurt/M.: Insel 1954. Gerade der weiter unten behandelte Roman Traum der Roten Kammer ist des öfteren mit Prinz Genji verglichen worden, vgl. u.a. JAMES S. FU: »The Mirror and the Incense in The Tale of Genji and The Dream of the Red Chamber«, in: Tamkang Review, Bd. X, Nr. 2 (1979), S. 199–209.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert
dagegen etwa in den Buddenbrooks: Obwohl sich die Handlung auch hier nur über etwas mehr als vierzig Jahre erstreckt, ist der »Verfall einer Familie« – so der Untertitel des Romans – erst in der vierten Generation mit dem kränklichen Hanno Buddenbrook besiegelt. Es ist im Falle der frühen chinesischen Genrevertreter die Ausrichtung auf einen einzelnen Helden hin – angefangen von Ximen Qing über Geng Lang und Jia Baoyu bis hin zu Tan Shaowen sowie Su Jishi in Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi), die hier die Brücke zwischen diesen einzelnen Werken schafft. Verschieden in Detail und Ausgestaltung bleibt allerdings der jeweils entworfene familiäre Rahmen. Er erscheint eher üppig im Falle des Traums der Roten Kammer, karg und wenig ausgefeilt dagegen in Laterne an der Wegkreuzung bzw. Muschelturm, was freilich auch mit dem gewählten Umfang zu tun hat: Die hundertzwanzig Kapitel des Traums bieten naturgemäß mehr Platz als die vierundzwanzig Kapitel des Muschelturms. Was all diesen Romanen gleich welchen Umfangs zu eigen ist, ist die private und individuelle Sicht, welche etwas vom Begriff der chinesischen Familie erahnen läßt und damit einen radikal neuen Ansatz bietet.
10.1 Ein Kordon von Frauen – Der Roman Lin Lan Xiang Wir haben in den vergangenen Abschnitten eine Reihe verschiedener Frauentypen in der chinesischen Erzählliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts kennengelernt, angefangen von mannstollen Weibern über Quälgeister, Hausdrachen und mutigen Amazonen bis hin zu zarten Schönheiten. Die einzelnen Gestalten blieben in vieler Hinsicht überzeichnet, um, das scheint das Ziel dieser Reduzierung gewesen zu sein, eine Botschaft griffiger zu formulieren. Das Bild, das man von Familie und Gesellschaft erhielt, mußte dagegen zwangsläufig ausgewogener ausfallen, wenn man, wie im Falle von Lin Lan Xiang nicht die Themen wie Erotik, Liebe und Ehe unmittelbar in den Mittelpunkt stellte und die Handlung darauf zuspitzte, sondern die Probleme im Rahmen der Familien- und Clanbeziehungen entwikkelte. Hier kommt unserem vierundsechzig Kapitel langen Roman aus der frühen Qing-Zeit, dessen Verfasser nur unter seinem Pseudonym »Der Narr, der dem Schicksal folgt« (Suiyuan xiashi) bekannt ist, die Funktion eines wichtigen Bindeglieds zwischen Jin Ping Mei und Traum der Roten Kammer zu.879 Mit dem ersten dieser beiden Werke teilt sich Lin Lan Xiang neben der Titelgestaltung, welche auf die Namen der drei weiblichen Hauptfiguren im Werk zurückgeht, vor allem die Grundstruktur des Berichts über einen polygamen Taugenichts und seine 879
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Lin Lan Xiang, Shenyang: Chunfeng wenyi 1985. Die Zeit der genauen Abfassung ist unklar, da die früheste erhaltene Ausgabe erst für das Jahr 1838 vorliegt. Allerdings läßt sich ein zum Roman existierender Kommentar u.U. auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datieren, was eine Entstehung des Werkes bereits vor dieser Zeit sehr wahrscheinlich macht (vgl. MCMAHON: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 207).
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sechs Frauen.880 Doch wo im Jin Ping Mei der Schwerpunkt noch auf dem ausschweifenden Treiben des Ximen Qing lag und seine Gattinnen lediglich das Beiwerk bildeten, konzentriert sich Lin Lan Xiang auf Schicksal und Rolle der Frauen in der Umgebung des jungen Geng Lang. Ohne daß freilich eine direkte Beeinflussung nachzuweisen wäre, sind auch die Ähnlichkeiten mit dem wohl mehr als hundert Jahre später angefertigten Traum der Roten Kammer frappierend. Nicht nur, daß der gesellschaftliche Hintergrund des adligen Clans der Geng mit dem der Familie Jia in Traum übereinstimmt, auch die Größe des Anwesens, seine Aufteilung in einen östlichen und einen westlichen Flügel sowie das Vorhandensein eines großen Gartens wirkt vertraut, nicht zu vergessen der Ort der Handlung, bei dem es sich um die Hauptstadt Peking handelt. Unterstützt wird dieses großartige Ambiente von mehr als dreihundert Personen, die im Roman auftauchen, allerdings oftmals nur dem Namen nach genannt und weniger konkret entwickelt sind als im Traum. Wie dieser, so hat auch Lin Lan Xiang die für das caizi jiarenGenre typische Auflösung der Handlung in einem glücklichen Ende bereits verlassen und nimmt mit dem Motiv des Verlöschens, bei dem nach einem Brand nichts greifbar bleibt, die Schlußszene um Jia Baoyu vorweg. Mit Traum teilt sich Lin Lan Xiang zudem das Anliegen, dem Prinzip des Weiblichen zu seinem Recht zu verhelfen.881 Die Frage, der unser Roman in einiger Ausführlichkeit nachgeht, ist die nach dem Umgang mit einem mittelmäßig begabten und zu laszivem Lebensstil neigenden Ehemann aus der Sicht der Gattinnen. Da wir weiter nichts über den Romanverfasser wissen, ist schwer auszumachen, inwieweit die Gestalt des männlichen Protagonisten Geng Lang Züge von ihm trägt. Dennoch verrät ein kurzer Hinweis des Autoren unmittelbar am Schluß des Buches, daß er der Handlung über die Fiktion hinaus Bedeutung zumaß, nachdem er betonte, daß sich hinter seinen weiblichen Romangestalten sehr wohl konkrete Menschen verbergen: Ob der Verfasser dieser Geschichte nur etwas beschreibt, das es nur in der Welt des Theaters, der volkstümlichen Liederkunst und der imaginären Literatur gegeben hat? Manche mögen das wohl glauben, aber ich denke, daß dies nicht der 882 Fall ist. 880
881
882
Eine Frauenfigur, in der der Namensbestandteil »Lan« wie im Buchtitel angegeben auftaucht, wird man in Lin Lan Xiang, vergeblich suchen. Wie der Autor zu Beginn des ersten Kapitels deutlich macht, spielt »Lan« unter bezug auf die historische Frauengestalt Ji Menglan aus dem Staate Yan auf die Yan Mengqing im Roman an. Vgl. dazu auch die Bemerkungen bei YU ZHIYUAN: »Bemerkungen zu Lin Lan Xiang« (Lin Lan Xiang Lun), in: Aufsatzsammlung zu Erzählungen und Romanen der Ming und Qing (Ming Qing xiaoshuo luncong), hrsg. v. Verlag Chunfeng, Shenyang 1984, Bd. 1, S. 190–213, wo dieser Frage ausführlicher nachgegangen wird. Der Aufsatz findet sich auch im Anhang zu der o.g. genannten Ausgabe des Werkes. Lin Lan Xiang, Kap. 64, S. 495.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert
Thematisiert wird die Suche nach einem Mittelweg zwischen den Extremen einer nur nach sexuellen Genüssen und Ausschweifungen strebenden Gattin und einer übermäßig tugendhaften Frau, die sich die Sympathie des Mannes aufgrund ständiger Ermahnungen verscherzt. Die polygame Form der Ehe wird hier nicht in Frage gestellt, sondern als gegeben vorausgesetzt. Welcher Typ von Frau, so die Problemstellung, ist am ehesten in der Lage, ein erfolgreiches häusliches Zusammenleben zu fördern und den Gedeih der Familie sicherzustellen. Eingebaut ist diese Thematik in eine Schilderung des Schicksals vom Clan der Geng. Alle Ereignisse spielen sich im hauptstädtischen Peking zwischen den Jahren 1425 und 1529 ab. Kaiser Hongxi (1425–26) erinnert sich dabei der Familien, die seinerzeit dem Gründerahnen bei der Festigung der Ming-Herrschaft halfen. Er erläßt einen Aufruf, nach dem die Abkömmlinge dieser verdienten Familien sich Prüfungen im zivilen wie militärischen Sektor unterziehen sollen, um auf die eine oder andere Weise in die Dienste des Reiches zu treten. Insgesamt werden sechzehn Familien ausgewählt, darunter auch der Clan der Geng, der auf den Ahnen Geng Zaicheng zurückgeht. Zaicheng wurde einst für seine Verdienste mit dem Titel des »Herzogs von Sa« geehrt. Mit Geng Lang, einem jungen Mann von lediglich bescheidenen Fähigkeiten, haben die Gengs freilich nur noch einen schwächlichen Epigonen als Kandidaten für die Prüfungen aufzuweisen, welche nun noch dazu zu einer schicksalhaften Verschiebung der Heiratsangelegenheiten führen. Bereits seit langem ist nämlich Geng Lang mit Mengqing, der Tochter aus dem Hause des Zensors Yan Yu verlobt. Sie ist wie der Bräutigam im Alter von sechzehn Jahren eine blendende Erscheinung, dabei von ruhigem, sanften Wesen und ebenso klug wie belesen. Auf eine zügige Hochzeit wird also wegen der Examina zunächst verzichtet, und der Erfolg Geng Langs scheint diese Maßnahme auch anfangs noch zu rechtfertigen. Er wird als Kandidat für den Beamtendienst im Kriegsministerium aufgenommen, wo man ihm später, wenn er das Alter von zwanzig erreicht hat, einen Posten übertragen soll. Der Aufschub der Eheangelegenheiten bleibt jedoch nicht ohne Folgen. Die Hochzeitsgeschenke sind bereits ausgetauscht, als der Beamte Qian Keyong bei Zensor Yan Yu erscheint und dringend um ein Gespräch bittet, droht ihnen beiden doch eine Anklage durch Zensor Mao Qiu. Man verfaßt eine schriftliche Eingabe, Yan Yu ist gelassen, sich anders als Qian Keyong keiner Schuld bewußt. Man wartet den kaiserlichen Erlaß ab, der auch bald eintrifft. Darin werden eine Reihe von Vergehens- und Bestechungsfällen aufgeführt, die Zensor Mao Qiu aufgedeckt hat. Auch Qian trifft der Vorwurf der Bestechlichkeit. Yan Yu, der der Vorgesetzte des Qian ist, ist nicht selbst in den Fall verwickelt, doch trifft ihn der Vorwurf der Nachlässigkeit und mangelnder Dienstaufsicht. Da er sich von Qian zur Abfassung einer Klageerwiderung hat überreden lassen, wiegt seine Einfältigkeit doppelt schlimm. Er wird vorerst vom Dienst suspendiert, wodurch auch die Heiratsangelegenheit mit den Gengs wieder ins Stocken gerät. Nach einer Weile trifft eine neue Verfügung ein, derzufolge ihm zwar die Todesstrafe erlassen wird, er jedoch als Mittäter eine strenge Über-
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prüfung über sich ergehen lassen muß. Vom Tode des alten Herrschers und der Inthronisierung des Xuande-Kaisers profitiert Yan Yu nicht. Ihm droht vielmehr eine Versetzung zum Militärdienst an der Grenze. Die pietätvolle Mengqing, die nicht will, daß ihre Eltern sie umsonst geboren haben, reicht daraufhin beim Yamen ein Schreiben ein, in dem sie darum bittet, die Strafe ihres Vaters auf sich zu nehmen und in den Palast zu ziehen. Überall ist man voll des Lobes für Mengqing. Ihr Vater kommt auf die Weise zwar frei, doch die Heiratspläne mit Geng Lang sind dahin. Allerdings findet sich bald ein Ersatz, Geng Lang wird mit Lin Yunping verheiratet, die damit zur eigentlichen Hauptfrau avanciert, ansonsten aber kaum in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt und vom Typus her den Status der idealen Gattin innehat, die sich vornehm im Hintergrund hält. Der Heirat gehen Gespräche zwischen Müttern verschiedener Kandidatinnen für Geng Lang voraus, in denen man darüber rätselt, welche Art von Frau wohl am besten zu dem verwöhnten, zu Arroganz und Überheblichkeit neigenden jungen Mann passe. Die Sorge um ein gütliches Verhältnis unter den Frauen in einem polygamen Haushalt ist nicht unbegründet. Der Ehemann kommt dort auf die eine oder andere Weise immer auf seine Kosten: Männer, so die nüchterne Feststellung an einer Stelle, könnten überall auf der Welt Freundschaften miteinander schließen, doch unter mehreren Frauen ein einträchtiges Verhältnis herzustellen, sei selbst »in tausend Herbsten« eine Seltenheit.883 Die einzelnen Frauentypen, die später bei den diversen ins Haus aufgenommenen Gattinnen festzumachen sind, werden hier bereits vorweggenommen. »Für mein Dafürhalten«, meinte Frau Lin, »ist es nicht gerade von Vorteil für eine Frau, wenn sie über allzuviel Talent und Klugheit verfügt. Sie läuft dann stets Gefahr, sich ihrem Gatten überlegen zu fühlen oder ihr Licht gezwungenermaßen unter den Scheffel stellen zu müssen. Auf jeden Fall wird sie immer darunter zu leiden haben.« »Nach meiner Einschätzung gibt es ganz verschiedene Typen von Frauen«, erwiderte Frau Xuan. »Am schlimmsten sind die, die alles anfangen und nichts zu Ende bringen, die bei allem ihre Engstirnigkeit und Oberflächlichkeit offenbaren, und die es nicht einmal fertigbringen, vollkommen gut oder vollkommen schlecht zu sein. Gleich nach ihnen kommen die Mitläuferinnen, die zu allem Ja und Amen sagen, die alles für gut befinden, was man ihnen als gut vorführt und alles schlecht finden, was ihnen als schlecht dargestellt wird, also schlicht in allem und jedem ohne festen Standpunkt sind. Eine absolute Ausnahme und kaum zu finden sind dagegen Frauen, die fleißig und ohne viele Worte die Arbeit im Heim verrichten und es ihrem Gatten an nichts fehlen lassen. Von ihnen also will ich gar nicht reden. Da sind mir immer noch die am liebsten, die fröhlich plappernd ihre Arbeit verrichten, zuverlässig auch schwierige Arbeiten ohne viel Aufhebens vollbringen und sich nicht viel darum scheren, ob man ihnen 883
Ebd., Kap. 11, S. 85.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert sagt, etwas sei gut oder schlecht. Als Frau, die ihre Arbeit daheim verrichtet, kommt es vor allem darauf an, versöhnlich und kompromißbereit zu sein, es bei dem, was man sagt, nicht in allem ganz genau zu nehmen, zuzupacken und Mühe 884 nicht zu scheuen.«
Da Xuan Ainiang, die später den Rang als dritte Gattin einnehmen wird, eine enge Freundin der Lin Yunping ist, bleibt das Thema des Schicksals von Ehefrauen auch weiterhin im Gespräch zwischen den Müttern, die mitunter sehr klarsichtig ihre Sorge gerade um das Wohl der Töchter zum Ausdruck bringen. Die Heirat Geng Langs mit Xuan Ainiang gleicht einer Rettungsaktion, nachdem Vater Xuan Jie in eine Bestechungsaffäre hineingezogen wird und seinen Posten verliert. Mit Lin Yunping und später ebenfalls mit Yan Mengqing hat sie ein enges Verhältnis, stets darum bemüht, mit ihrer heiteren, unbeschwerten Art einen Ausgleich herzustellen, wenn der nichtsnutzige Geng Lang wieder ein Unglück heraufbeschworen hat. Xuan Ainiang ist es auch, der es immer wieder gelingt, einen Ausgleich zwischen Mengqing und den übrigen Frauen herbeizuführen. Sie verfügt über die glückliche Gabe, Dinge wegzustecken, als nichtig abzutun und zu »vergessen« (wang), ganz anders als Mengqing, die lieber leidet, als daß sie einfach ihren Kummer vergißt. Auch im ehelichen Verkehr mit Geng Lang findet Ainiang einen günstigen Mittelweg, ist verspielt und phantasievoll ohne unzüchtig zu werden, niemals übertrieben keusch oder schamlos. Auf recht kunstvolle Art und Weise gelingt es dem Verfasser immer wieder, eine Brücke zu schlagen, um das weibliche Sextett im Hause Geng zu versammeln und darüber hinaus Probleme der Frauen zu erörtern. Verbunden mit der Thematik um die schöne Ren Xiang'er – eine der vielen Gattinnen – ist eine interessante Episode über zwei vom Schicksal geschlagene Menschen, die sich vergeblich nach Liebe sehnen. Der Eindruck abgründiger Sinnlichkeit, der Xiang'er aufgrund ihres Gebarens ohnehin anhaftet, wird dadurch noch verstärkt. Je geringer der gesellschaftliche Status, desto grotesker das Verhalten. In den Gemächern der Xiang'er nun tut eine gewisse Witwe Li Dienst, die trotz ihrer fünfzig Jahre noch Spaß an den Freuden der Liebe hat, sich aber, angeregt durch die Liebesspiele zwischen Geng Lang und ihrer Herrin, oftmals nur mit Hilfe ihres »Meister Horn« Abhilfe zu verschaffen vermag. Aus Anlaß des Besuchs bei einem Neffen erbittet sich Witwe Li eines Tages Urlaub bei ihrer Herrin. Nach zwei Tagen, die sie bei ihrem Verwandten verbracht hatte, machte sich der Neffe auf den Weg, und auch seine Frau trat den Heimweg nach Nanking an. Witwe Li sollte unterdessen ihr Haus hüten. Eines Mittags, als sie soeben ihr Geschäft über dem Abtritt verrichtete, hörte sie hinter sich an der Außenmauer ein Geräusch wie wenn jemand Wasser ließ. 884
Ebd., Kap. 4, S. 26.
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DIE WELT DER GEFÜHLE Witwe Li stellte sich auf einen Ziegel, lugte über die Mauer und sah einen Blinden, der gegen die Mauer pinkelte. Sein Schwanz hatte eine ganz beachtliche Größe. Der Anblick versetzte die Witwe sogleich in Erregung. Sie begab sich ins Zimmer zurück, beschäftigte sich eine Weile gelangweilt mit diesem und jenem, als sie auf einmal von der Straße her Klänge einer Zither vernahm. Neugierig warf sie einen Blick durch die Türe nach draußen und staunte nicht schlecht, als sie in dem Wahrsager den Mann erblickte, der vorhin an die Mauer gepinkelt hatte. Mit der Aussicht auf ein Schäferstündchen bat sie den Mann herein, um sich von ihm die Zukunft deuten zu lassen. Der Blinde ließ sich von Witwe Li die acht horoskopischen Schriftzeichen mitteilen, die zu Paaren geordnet Aufschluß über Geburtsjahr, -monat, -tag und -stunde gaben, tat wichtig und rechnete eine Zeitlang herum, um am Ende zu verkünden, daß das Schicksal sie mit einer mittelmäßigen Existenz bedacht habe und sie als Durchschnittsmensch nicht viel erwarten dürfe. Nachdem er geendet hatte, setzte Witwe Li ihm eine Schale Tee vor. Tastend griff der Blinde nach der Schale und berührte die weiche, sanfte Hand der Witwe. Die Zartheit ihrer Haut und der Klang ihrer Stimme verriet ihm, daß die Frau noch nicht sonderlich alt sein mochte. Als er die Schale leergetrunken hatte, gab ihm Witwe Li ein paar Münzen für seine Mühe, ließ jedoch absichtlich zwei davon auf den Boden fallen. Sogleich beugte sich der Blinde hinab und begann, aufgeregt den Boden abzutasten, mal hier, mal da, so daß er bald auch an das Bein der Witwe geriet, das er vorsichtig berührte. »Mein guter Herr«, lachte die Witwe auf, »was erlauben Sie sich, nutzen Sie die Lage einer alleinstehenden Dame nicht aus!« »Verzeiht mir, meine Dame, ich bin vollkommen blind, habe im ersten Augenblick gar nicht gemerkt, wohin ich da geraten bin. Ohrfeigen sollte ich mich. Dürfte ich euch nur noch um eines bitten, laßt mich euren Abtritt benutzen, damit ich mich erleichtere!« »Was für ein liederliches Gerede erlauben Sie sich in Gegenwart einer ehrbaren Dame, mein Herr!« schimpfte Witwe Li scheinbar empört. Sie trat hinter den Blinden, packte ihn am Kragen, um ihn zu schlagen. Doch der Blinde richtete sich mit einem Ruck auf, prallte gegen Witwe Li, die den Halt verlor und mit beiden Beinen rittlings auf dem Nacken des Blinden landete, dem dabei das Tuch vom Kopf glitt. Der Blinde bäumte sich auf, wobei er gegen den Unterleib der Frau stieß, was ebenso lächerlich wie schmerzhaft war. »Mein Herr, was soll denn das!« rief die Witwe laut. Doch sich scheinbar unter Schmerzen am getroffenen Nacken windend, fuchtelte der Blinde wild mit den Händen herum, betastete die Witwe an allen möglichen Stellen des Körpers, daß bald ihr ganzes Haar zerzaust herabhing, Gürtel und Kleider sich gelöst hatten. Witwe Li entwand sich den Griffen des Blinden und erhob sich, während der Mann weiter am Boden herumtastete, immer noch auf der Suche nach seinem Kopftuch. Die Witwe wich ein Stück in das Zimmer zurück, stolperte über einen Hocker und fiel rücklings, die Beine nach oben gestreckt, zu Boden. Unterdessen hatte der Blinde den Hocker ertastet, stieß daneben gegen das weiche Gesäß der Frau. Die günstige Lage erahnend, schwang er sich rittlings auf sie. »Mein Herr, habt Erbarmen, ich muß mit euch reden«, stieß die Witwe hervor, doch der Mann über ihr nahm
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert gar keine Notiz von ihren Worten. Mit aller Kraft stieß die Witwe ihn von sich. Während sie ihre über und über beschmutzten Kleider ausschüttelte, sagte sie: »Wozu denn die Aufregung, mein Herr, wo wir es doch beide wollen. Doch so am hellichten Tag, stellen Sie sich nur vor, man sähe uns, nicht auszudenken!« »Sie haben ganz recht«, gestand der Blinde, »es ist nur, daß ich noch nie in den Genuß der Liebe gekommen bin, da habe ich ganz die Gewalt über mich verloren. Habt Erbarmen mit mir.« »So viel wie euereins herumkommt«, sagte die Witwe, »werdet ihr bei den Leuten schon einiges aufgeschnappt haben und nicht ganz unbedarft sein. Kommt nur heute Abend nach Einbruch der Dunkelheit hier in mein Haus, so wollen wir gemeinsam die Freuden der Liebe genießen. Dann können wir uns auch in Ruhe über gemeinsame Schäferstündchen in der Zukunft unterhalten.« Freudig stimmte der Blinde dem Plan zu, ordnete seine Kleider, griff nach Zither und Blindenstock. Man verabredete, daß sich der Blinde am Abend durch ein vernehmliches Räuspern vor der Türe zu erkennen geben sollte, dann umarmte der Mann sie noch einmal, drückte ihr ein paar Küsse auf die Lippen und trat aus der Türe auf die Gasse, wo ihm die Witwe noch eine Weile mit ihren Blicken folgte. Als es dämmerte, wusch sich Witwe Li den Unterleib, richtete das Bett her und stellte sich an die Türe, wo sie durch einen Spalt dem Treiben auf der Straße zusah und der Ankunft des Blinden harrte. Die Zeit verging, längst hatte der Nachtwächter die erste Doppelstunde ausgerufen, und noch immer war der Mann nicht erschienen. »Blinder Maulwurf!« schimpfte Witwe Li, »der hat es sich wohl anders überlegt. Hätte ich das eher gewußt, hätte ich es doch besser gleich bei Tage mit ihm getrieben.« Doch dann überlegte sie und dachte, daß er vielleicht doch noch komme, sich nur verspäte, weil er so einen weiten Weg zurückzulegen habe. Müde hockte sich Witwe Li neben der Tür nieder, als die zweite Doppelstunde ausgerufen wurde. Als sie den Kopf hob und aufblickte, sah sie mit einem Mal den Blinden vor sich. Sie war gerade dabei, ihn wegen seines Zuspätkommens zu schimpfen, als sie nach hinten kippte, erwachte und merkte, daß sie alles nur geträumt hatte. Eine schwarze Katze schlüpfte neben ihr durch die Türe nach draußen. Witwe Li rappelte sich hoch, lauschte nach draußen, hörte, wie die dritte Doppelstunde verkündet wurde, es war bereits Mitternacht. Erregt, zornig, mit einer Mischung aus Wut und Trauer beschloß sie, sich zu Bette zu begeben, verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder in der Hoffnung, der Blinde könne womöglich doch noch kommen. Der blinde Seher hatte sich unterdessen nach dem Stelldichein am Nachmittag in sein Quartier zurückbegeben, einen Freund nach dem Abendbrot um neue, saubere Kleider gebeten, und war dann, gestützt auf seinen Stock, hinaus auf die Straße getreten. Es war bereits dunkel, und man hatte die Lichter aufgesteckt. Überall herrschte dichtes Getümmel, Händler boten ihre Waren feil. Plötzlich glitt der Blinde auf einer Melonenschale aus und stürzte, wobei er sein Kopftuch verlor. Vergeblich suchte er eine Weile danach, fand sich darein und setzte seinen Weg auf der Straße fort, die ihm von seinen täglichen Gängen vertraut
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DIE WELT DER GEFÜHLE war. Doch ein Tritt neben die Straße, und sein Schuh blieb im Schlamm stecken, auch endete das Tasten und Suchen ohne ein Ergebnis, woraufhin im nichts anderes übrig blieb, als hinkend, mit nur einem Schuh bekleidet, weiterzugehen. Wer konnte auch ahnen, daß der Blinde über die unerwarteten Vorfälle vollkommen die Orientierung verloren hatte, vergeblich geraume Zeit in der Gegend umherirrte. Es war bereits zur zweiten Doppelstunde, als ihn plötzlich ein Köter ankläffte, der Blinde schlug mit dem Stock nach dem Tier, der Köter biß sich darin fest, schon war der Stab entzweigebrochen. Wütend fluchte der Blinde lauthals, es verging etliche Zeit, bis endlich jemand an ihn herantrat, den er nach dem Weg fragen konnte. Seines Blindenstocks beraubt, wagte der Seher nicht, allzu eilig zu laufen. Nur mit Mühe, durch enge Winkel und Gassen, hatte er nach einer ganzen Weile seinen Weg bis zur Straße zurückgefunden, als er von einem Betrunkenen umgestoßen wurde und rücklings zu Boden fiel. Ohnehin schon wütend und enttäuscht über seinen mißglückten Ausflug, kam es dem Blinden mit einem Mal in den Sinn, vielleicht noch ein wenig Kapital aus dieser neuen Pein zu schlagen und dem Trunkenbold Geld abzupressen. Daher drückte er seine Hände auf den Unterleib und rief so laut er konnte: »Zu Hilfe, Wache, ja hilft mir denn niemand, man hat mich beraubt...!« Vom Weine benebelt, ohne Verstand, begann der Betrunkene bei diesen Worten auf den Blinden einzuprügeln, daß dessen Kleider bald zerrissen herabhingen. Hatte er soeben noch vollkommen grundlos um Hilfe gerufen, so besaß er jetzt genügend Anlaß, um sein Leben zu fürchten. Erst als er bewußtlos zu Boden stürzte, ließ der Betrunkene von ihm ab und war im nächsten Augenblick in einer der dunklen Gassen verschwunden. Erst mit der Verkündung der dritten Doppelstunde erlangte der Blinde das Bewußtsein zurück. Ein kühler Nachtwind strich über das Pflaster, ihn begann zu frösteln. Einige Nachtwächter griffen ihn auf, weil er sich, lange nach Verhängung der Sperrstunde, immer noch auf der Straße befand. Weinend schilderte der Blinde, was ihm widerfahren war, doch die Männer lachten ihn aus: »Was begibst du dich auch ausgerechnet hierher, um deine Geschäfte zu machen. Die Gegend ist seit langem bekannt dafür, daß es in ihr von bösen Geistern wimmelt. Selbst unsereins traut sich nur zusammen mit anderen hierher, wie dann du, ein Blinder? Du kannst von Glück sagen, noch am Leben zu sein. Komm mit uns und übernachte in einer der Hütten, sonst nimmt dich noch jemand wegen Übertretung der Sperrstunde fest. Morgen früh gehst du dann nach Hause.« Wohl 885 oder übel machte sich der Blinde zusammen mit den Männern auf den Weg.
So viel Sinnlichkeit und Schmutz ist freilich nicht die Welt der Yan Mengqing, deren Schicksal sich nach der Freilassung des inhaftierten Vaters wieder dem Besseren zuzuwenden scheint. Söhne einflußreicher Familien in der Stadt halten um ihre Hand an, doch bekundet Mengqing, mit Geng Lang so gut wie verheiratet zu sein und lehnt daher alle Anträge ab. Yan Mengqings auffälligste Eigenschaften sind ihre Direktheit und ein übertriebenes Moralbewußtsein, das sie in der Umgebung des Gatten als ständige Mahnerin auftreten läßt. Das Ansehen und die all885
Ebd., Kap. 28, S. 217–220.
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gemeine Verehrung, die ihr der Eintritt in den Palast und der vorläufige Verzicht auf die Ehe eingebracht haben (der Kaiser selbst bestätigt das, indem er ihr nach der Heirat mit Geng Lang den Ehrentitel als »pietätvolle und tugendhafte Frau« verleiht), überträgt sich aber nicht in der gewünschten Weise auf die Gemeinschaft im Hause Geng. Im Gegenteil, dort ist sie als Moralapostel vor allem bei dem windigen Geng Lang bald gefürchtet, der ihre Schritte voller Mißtrauen wahrnimmt, so daß anhaltender Mißklang im Verhältnis der Gatten zueinander die Folge ist. Mengqing ficht dies alles freilich nicht an, sie bleibt ihrer spröden Art treu und führt damit den eigenen Tod herbei. Besessen von dem Gedanken an die Richtigkeit ihrer sittenstrengen Auffassungen, weicht sie nicht von der Seite ihres Gatten, als dieser, geschwächt vom vielen Weingenuß und dem Umgang mit den Frauen, erkrankt. Die Sorge um die eigene Gesundheit hintanstellend, versteigt sich Mengqing zum extremen Schritt der Selbstverstümmelung in dem überlieferten Glauben, daß Krankheiten anderer zu heilen seien, wenn man selber ein Glied seines Körpers opfere. Sie schneidet daher ihren kleinen Finger ab und kocht davon Medizin. Während Geng Lang langsam wieder genest, gelingt es Mengqing, ihre Verstümmelung geraume Zeit zu verbergen. Die hingenommene körperliche Schwächung sowie eine Schwangerschaft ruinieren die Gesundheit Mengqings schließlich vollends. Sie bringt mit Geng Shun zwar noch den erhofften Stammhalter zur Welt, überlebt die Geburt aber nicht lange und stirbt im Kindbett. Als Mahnerin gegenüber dem Gatten ist Yan Mengqing insgesamt wenig Erfolg beschieden, und auch ihrer Mutterrolle kann sie aufgrund ihres frühen Todes nicht gerecht werden. Was sie dennoch als fürsorgliche Frau erscheinen läßt, der das Wohl der übrigen Clan-Mitglieder am Herzen liegt, ist der Beistand, den sie Geng Fu, einem jungen, erst sechzehn Jahre alten Neffen Geng Langs gewährt, als dieser sich unsterblich in die Zofe Huanhuan verliebt. Die Leiden, die der junge Mann durchmacht, als man Huanhuan aus seiner Umgebung entfernt und der Caiyun in einem anderen Teil des Anwesens zuteilt, erinnern sie an ihre eigene unglückliche Liebe zu dem Gatten und lassen Geng Fu für sie zu dem aufrichtigen Liebhaber werden, den sie sich selber an der Seite wünscht. Die folgende Darstellung über den hoffnungslos verliebten jungen Mann gehört zu einer der schönsten Szenen des Buches und ist eines der nicht allzu häufigen Beispiele in der frühen chinesischen Romankunst für die personale Erzählsituation: Lustlos begab sich Geng Fu in das Vergnügungsviertel am Paozi-Fluß im Ostteil der Stadt, um sich die Lichter und Lampions anzuschauen, die entlang des Ufers aufgehängt waren. Spät kehrte er schließlich heim, doch fand er in seiner düsteren Stimmung die ganze Nacht über keinen Schlaf. Als der Morgen dämmerte und er sich gekämmt hatte, begab er sich wieder auf die Straße, schlenderte ziellos umher auf der Suche nach Zerstreuung. Der Anblick von hübschen Singknaben und blendend schönen Freudenmädchen ließ ihn unentwegt an Huanhuan denken, um so mehr noch, wenn er irgendwo eine Zofe im Dienste der Herr-
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DIE WELT DER GEFÜHLE schaften erblickte. Aus jeder Blume, jedem Strahl des hellen Mondes schien ihm das Antlitz der Angebeteten entgegenzutreten; bei jedem Vogelgezwitscher, jedem Summen der Insekten vermeinte er, ihre Stimme zu vernehmen. Aus Angst jedoch, die Eltern könnten an seinem ständigen Fortsein von daheim Anstoß nehmen, vielmehr aber, weil er spürte, daß das Treiben auf den Straßen ihm keine Linderung bot, seinen Zustand der Verliebtheit gar noch verschlimmerte, schloß er sich in seine Kammer ein, vergrub sich zwischen seinen Büchern. Doch weit gefehlt, wenn er gemeint hatte, seine Lage würde sich dadurch verbessern. Hatte ihm das Schlendern durch die Gassen noch dabei geholfen, wenigstens kurzzeitig seinen Schmerz zu vergessen, so wuchs dieser nun, wo er ruhig innerhalb seiner vier Wände saß, wieder ohne Erbarmen an, ließ sich nicht vertreiben. Überall glaubte er plötzlich, seine Huanhuan zu spüren: in jedem Schälchen Tee, in jeder Speise, die er zu sich nahm. Dort, das Mädchen in dem Bild an der Wand, war das nicht Huanhuan, die ihm zuwinkte? Hier, die Mädchengestalt in diesem Buch, beschrieb da nicht jemand in gefühlvollen Worten seine Liebste? Nach wenigen Tagen hielt es Geng Fu nicht mehr aus, sein Hirn schien zu bersten, er fürchtete, jeden Augenblick sterben zu müssen. Also begab er sich wieder nach draußen, streifte ziellos durch die umliegenden Dörfer, stöberte in Läden. Doch wurde sein Schmerz dadurch nicht gelindert, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt, wechselten seine Stimmungen ständig. Es gab Momente, da fühlte er sich erhaben wie Song Yu, der auf den JiugangGipfel gestiegen war, um zu dichten; mal sah er seine Lage klar und deutlich, kam sich vor wie Zhang Heng, der seinen Blick tausend Meilen weit in die Ferne schweifen ließ. Doch holte ihn die Wirklichkeit spätestens dann wieder ein, wenn er heimkehrte und in seiner Kammer in mißmutiges Grübeln versank. Mitunter versuchte er sich Trost zu verschaffen, indem er daran dachte, daß er als Mann gute Aussichten besaß, einst eine bezaubernde Gattin und eine verführerische Nebenfrau an seiner Seite zu haben. Zwar war nicht jede der Zofen, die man in den Häusern der Herrschaften fand, eine atemberaubende Schönheit, doch Anmut besaßen darunter nicht wenige. Wer weiß, vielleicht würde sich einst unter den Dienerinnen, die man seiner späteren Gattin als Mitgift mit ins Haus gab, auch eine finden, die seiner Huanhuan glich. Doch ach, dann kam ihm in den Sinn, daß eine Gattin selten der Nebenfrau das Wasser reichen konnte und diese wiederum es nicht mit einer heimlichen Liebschaft aufnehmen konnte. Und überhaupt kam in seiner Vorstellung niemand an seine Huanhuan heran. Es war zum Verzweifeln. Doch vielleicht bestand noch Hoffnung, zeichnete sich die Tante, Frau Kang, nicht durch ihre Großmut aus, war sein Onkel Geng nicht ein verständiger Mann, mit dem man reden konnte? Wenn er offen heraus sein Anliegen vortrug, vielleicht würden sie ihm dann Huanhuan geben. Aber da waren noch die Eltern, die ihn zornig tadeln würden; die Brüder, die über ihn spotten und lachen würden, überhaupt das abfällige Gerede der ganzen Verwandtschaft, das schamlose Getue der Dienerschaft hinter seinem Rücken – nicht auszudenken. 886 Von Sorgen und Kummer geplagt verbrachte Geng Fu seine Zeit. 886
Ebd., Kap. 26, S. 202f.
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Der junge Mann erkrankt schließlich ernsthaft, und es ist Mengqing, die die Ursachen seines Leidens herausfindet und am Ende rät, Huanhuan wieder ihre Dienste in der Nähe des Geliebten aufnehmen zu lassen. Vermutlich wäre Ren Xiang'ers Gestalt zu dominierend gewesen, hätte ihr der Verfasser nicht in Ping Caiyun eine Konkurrentin erwachsen lassen, die wohl auf die abenteuerlichste Weise in das Anwesen den Geng-Clans gelangt und Geng Lans fünfte Frau wird. Sie ist das Opfer eines Verbrechens, bei dem ein liederlicher Halunke sie zunächst entführt, bevor ihr rettender Galan sie entdeckt und in einer Kiste zum Grundstück der Gengs befördert, wo man sie schließlich findet. In der Rolle einer Gespielin des Gatten folgt Caiyun im Range sogleich hinter Xiang'er, neigt aber weniger zur Eifersucht als diese und trägt als Tochter aus einer Gelehrtenfamilie günstigere Eigenschaften in sich als Xiang'er, Sproß aus einer wohlhabenden, jedoch wenig angesehenen Kaufmannsfamilie. Das Verhältnis zwischen den beiden Frauen ist denn auch stets von Spannungen und Eifersüchteleien begleitet. Ein schönes Beispiel ist die folgende Szene, die zudem belegt, mit welch verhaltener Erotik in Lin Lan Xiang im Vergleich zum Jin Ping Mei oder anderen Romanen des Genres, die wir oben kennengelernt haben, gearbeitet wird. An Xiang'ers Seite gelehnt, streichelte Geng Lang ihren Nacken und sagte: »Wie wäre es mit einem Küßchen, liebe Schwester?« Doch da Ping Caiyun anwesend war, stieß Xiang'er den Mann von sich und schimpfte: »Wage es bloß nicht!« Dabei trat sie so eilig zur Seite, daß Geng Lang den Halt verlor, strauchelte und in Caiyuns Arme stürzte. Die beiden ließen sich auf Xiang'ers Bett fallen, wo Geng Lang eine Weile an ihr rumfummelte, und sie sich gackernd und kichernd unter seinen Griffen wand. Als sie sich erhoben, sagte Caiyun in scherzendem Ton an Xiang'er gewandt: »Schwester, der Dieb hat dir etwas gestohlen, willst du nicht danach suchen?« Xiang'er war soeben dabei, zu sehen ob ihr etwas fehlte, als Geng Lang einen ihrer Bettschuhe aus dem Ärmel zog und rief: »Ich war’s nicht, wirklich, den hat mir Caiyun in den Ärmel gestopft.« Xiang'er grapschte nach dem Schuh, doch Geng Lang hielt ihn am ausgestreckten Arm und foppte sie: »Nicht bei mir, du mußt ihn dir von ihr zurückgeben lassen.« Damit zeigte er auf Caiyun. Xiang'er warf einen Blick auf die andere und schimpfte: »Na los, du kleine Schurkin, mach, daß du mir den Schuh wiederbeschaffst.« »Das kann nicht so schwierig sein«, erwiderte Caiyun und wandte sich an Geng Lang. »Ich werde dir jetzt einen Witz erzählen, und du wirst den Schuh zurückgeben, in Ordnung?« »Einverstanden«, erklärte Geng Lang, »ob neuer oder alter Witz ist egal, Hauptsache, er ist neckisch.« »Jadene Bambussprossen umwickelt Schicht für Schicht«, hob Caiyun nun ihren schlüpfrigen Witz an, »goldene Lotusblüten Schritt für Schritt voran, gewöhnlich lustwandeln 887 sie über die Erde, doch kommt es vor, daß sie gen Himmel zeigen.« »Herr-
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Die anzüglichen Bemerkungen werden vermutlich nur dem Eingeweihten ganz klar sein. Mit umwickeltem Bambus und goldenen Lotusblüten sind die eingebundenen Füße der
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DIE WELT DER GEFÜHLE lich!« lachte Geng Lang, »einfach wunderbar! Ich will gleich einmal schauen, ob ich sie zum Himmel emporschauen lassen kann.« »Ihr zwei wollt mich wollt hinters Licht führen«, sagte Xiang'er, als sie Gengs Anspielungen vernahm, »aber nicht mit mir.« »Ob wir uns küssen oder nicht, darüber entscheide ganz alleine ich«, sagte Geng Lang, »glaube bloß nicht, du hättest hier was zu sagen. Wenn du dich wirklich weigern solltest, dann werde ich aus deinen Phönix-Kopf-Schuhen Weingläser machen.« Bei diesen Worte schubste Xiang'er, die bereits ein wenig angeheitert war, Geng Lang plötzlich in die Arme Caiyuns. »Laßt mich sehen, wie ihr euch knutscht.« Caiyun wäre fast gestürzt, doch Geng Lang fing sie gerade noch rechtzeitig auf, und es 888 gelang ihm, ihr einige Küsse aufzudrücken.
Der eigentlich erwartete Liebesakt bleibt aus. Xiang'er muß sich übergeben und verliert das Bewußtsein. Sie wird von Caiyun zu Bett gebracht, welche die Unpäßlichkeit der anderen dennoch nicht auszunutzen wagt, um eine Nacht mit Geng Lang zu verbringen. Allerdings nimmt Xiang'er am nächsten Tag an, es sei etwas zwischen den beiden vorgefallen, denn in einem Anflug von Eifersucht heißt sie Caiyun, sich ganz auszuziehen und befestigt Caiyuns Duftkissen an Gengs Hüfte bzw. ihre Perlenkette an seinem Handgelenk. Mit niemandem aus dem Kreise seiner Frauen wird Geng Lang so intim wie mit Xiang'er und Caiyun, wenngleich die beiden – Gengs unverhohlene Drohungen und sein »Verfügungsrecht« gegenüber Xiang'er haben es gezeigt – in weiten Teilen nicht über den Status von Freudenmädchen hinauswachsen. Caiyun und Xiang'er müssen daher den Aufstieg der sechsten und letzten Frau Gengs von der Zofe zur Nachfolgerin der ungekrönten Hauptgattin Mengqing als besonders schmerzlich empfinden (an einer Stelle wirft Xiang'er der Neuen einen Todeswunsch an den Kopf). In der Gestalt von Chunwan wird denn auch die Frage nach der perfekten Gattin beantwortet. Einfältig und matronenhaft entspricht sie am ehesten dem weiblichen Ideal, wie es in dem überlieferten Motto, daß die Tugend einer Frau gerade in ihrem Mangel an Bildung bestehe (nüzi wu cai bian shi de) zum Ausdruck kommt. Ihre Qualitäten bestehen nicht in dem Anspruch, eine Leuchte an Moral und Bildung zu sein und wie Mengqing den Gatten von einer gehobenen moralischen Ebene aus als Mahnerin zur Raison zu bringen. Noch viel weniger ist Chunwan dem Geng Gespielin und befriedigt seine Lust wie Xiang'er und Caiyun das tun. Ihr Verdienst ist alleine die Sorge um den Erhalt und die Blüte der Familie, konkret die Übernahme der Mutterrolle gegenüber Geng Shun nach dem Tode Mengqings und das Bestreben, den Sohn einst über seinen Vater hinauswachsen zu lassen, was denn am Ende auch gelingt: Geng Shun bringt es als
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Frauen gemeint, die, das ist wiederum deutlicher, als Gehwerkzeuge eingesetzt werden, beim Liebesakt aber zum Himmel zeigen. Lin Lan Xiang, Kap. 42, S. 322f.
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Beamter bei Hofe zu hohem Ansehen, bevor er sich als Eremit in die Einsamkeit zurückzieht und dort erst im hohen Alter von neunundneunzig Jahren stirbt. Mit Chunwan schließt sich ein Kreis, kommt die Hoffnung auf Vernunft (li) und Fortdauer in der Tradition zum Ausdruck. Jene Gattin hat am Ende die dominierende Rolle im Hause inne, die sich durch ihre lange Anwesenheit, und sei es nur als Zofe und Dienerin, mit den Vorgängen vollkommen vertraut zeigt. Chunwan unterscheidet sich hier schon von ihrer Herkunft her ganz wesentlich von den nur aufgrund von Verbrechen und Unglück im eigenen Elternhaus an die Seite Geng Langs gelangten Gattinnen wie Xiang'er, Caiyun etc. Abhebend auf die drei Lehren des Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus und ihre Bedeutung für die Konstituierung einer Familie, problematisieren Mengqing und Xiang'er das Problem des Woher und Wohin in einem ihrer Gespräche über das »Schicksal«: Es war der achte Tag im vierten Monat, der Geburtstag Buddhas. Unter den Angehörigen der Familien, die dem Buddhismus nahestanden, war es an diesem Tage Brauch, sich gegenseitig mit gekochten Hülsenfrüchten zu beschenken, der Name dafür war »dem Wunsche der Vorherbestimmung entsprechen« (jieyuan). »Was wird das Schicksal denn für dich in Zukunft bereithalten?« fragte Xiang'er die Mengqing unter Bezug auf diesen Brauch. »Es ist nicht Sache der Konfuzianer, über Leben und Tod sowie die Seelenwanderung zu sprechen«, entgegnete Mengqing. »Wir wissen jetzt und hier nicht einmal etwas über unsere mögliche Existenz in der Vergangenheit, wie dann erst etwas über die in der Zukunft. In den buddhistischen Sutren heißt es, daß alles, was in der sichtbaren Welt nach Gesetzmäßigkeiten abläuft, Traum und Illusion ist. Was soll man sich da noch um eine Existenz im früheren oder späteren Leben kümmern, gar darum, was die Vorsehung womöglich für einen bereithält. Wer stets von Schicksal und Bestimmung redet, das sind alleine die Priester und Pfaffen im Laienstand, die einem mit dem Geschwätz von Vergeltung Angst einjagen.« »An der Vorstellung von der Seelenwanderung mag tatsächlich nicht viel dran sein«, gab Xiang'er zu, »doch das Prinzip der Vergeltung werden doch selbst die Konfuzianer nicht ablehnen, oder?« »Was der Buddhismus über die Vergeltung angibt, ist bei weitem zu konkret und anschaulich, um ernst genommen zu werden. Hör’ man sich nur dieses Gewäsch über Himmel und Hölle an! Im Konfuzianismus dagegen schwätzt man nicht viel herum, sondern bringt die Frage der Vergeltung genau auf den Punkt. So heißt es bei Menzius: Wer den Vater eines anderen tötet, dessen Vater wird auch getötet werden; wer den Bruder eines anderen tötet, dessen Bruder wird auch getötet werden. Das kann man doch wohl nicht anders als Vergeltung nennen, oder?« »Seit der buddhistische Glauben bei uns Verbreitung gefunden hat«, wandte Xiang'er ein, »hat man die Mönche und Nonnen stets verehrt. Bist du nicht auch der Meinung, daß es übertrieben war, als Han Changli [i.e. Han Yu, 768–824] forderte, die Buddhisten zu vertreiben und ihre Bücher zu verbrennen?«
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DIE WELT DER GEFÜHLE »Weder mit dem Buddhismus noch mit dem Taoismus ist man in der Lage, eine Familie zu führen oder ein Land zu regieren. Daher halten die Konfuzianer diese beiden Glaubensrichtungen für häretisch. Han Changli war ein berühmter Konfuzianer, daher sein hartes Urteil.« »Nach deinen Ausführungen könnte man meinen, Buddhismus und Taoismus seien ganz und gar überflüssig«, sagte Xiang'er. »Warum läßt der Himmel sie dann aber zu?« »Ob es der Wunsch des Himmels ist, daß es diese Glaubensformen gibt, sei dahingestellt«, erwiderte Mengqing. »Jedenfalls kommt dem Buddhismus und dem Taoismus nach meinem Dafürhalten insofern eine positive Bedeutung zu, als man nach ihrem Glauben nicht auf die Geburt von Söhnen und Töchtern besteht, wodurch es vielen [ungeborenen] Menschen erspart bleibt, mit all den Unglücken und Katastrophen auf der Welt, dem mörderischen und bösen Verhalten der Menschen in Berührung zu kommen.« [...] »Es mag schwer sein, für die Auffassung, seine Bestimmung zu finden, konkrete Beweise vorzubringen«, sagte Xiang'er. »Doch soll alles nur Zufall sein, wenn sich Menschen begegnen, die auf Anhieb aneinander Gefallen finden, oder solche, die einander ein Leben lang feind sein werden? Soll es da wirklich niemanden geben, der all das lenkt, die Fäden in der Hand hält?« »Meiner Meinung nach trifft die Vorherbestimmung am ehesten auf Mann und Frau zu«, sagte Mengqing. »Da gibt es Paare, die ganz gleich, was auch immer geschieht, einander durch Güte und Liebe, auf Leben und Tod, in Freud und Leid verbunden sind. Das kann nur Vorherbestimmung sein.« »Ist das aber nicht viel zu ungenau, diese Vorherbestimmung, von der du sprichst?« fragte Xiang'er. »Kann es sich nicht auch bei der Wiederverheiratung einer Frau um Vorsehung handeln?« »Unmöglich«, entgegnete Mengqing. »Wer der Vorsehung folgt, der wird sich nur ein einziges Mal binden, und das für immer. Wie dürfte jemand, der sich wiederverheiratet, seine Redlichkeit damit aufgegeben hat, je für sich noch den konfuzianischen Glauben in Anspruch nehmen und gar die Vorsehung be889 mühen?«
Doch wie schwer ist es, dem konfuzianischen Anliegen nach dauerhaftem Zusammenleben in Eintracht und Harmonie gerecht zu werden. Nichts ist wechselhafter als ein Gefühl, allein und einzig hierauf darf sich wohl keine Gemeinschaft gründen, womit auch die Zweifelhaftigkeit der Rolle, die Xiang'er und Caiyun mit ihrem Streben nach momenthaften sinnlichen Genüssen spielen, ganz außer Frage steht. Aber wie soll Gefühlen etwas Dauerhaftes zukommen angesichts der Vergänglichkeit des Menschen selbst? Zu viele Unwägbarkeiten bedrohen die Existenz des einzelnen und des Clans, dem er angehört. Der Ton, in dem Lin Lan Xiang ausklingt, ist daher wenig zuversichtlich. Nachdem Geng Shun aus seinem Amt 889
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geschieden ist, sammelt er alte Reliquien und Gegenstände, die die Frauen seines Vaters – insbesondere aber natürlich seine leibliche Mutter Yan Mengqing – zurückgelassen haben und bewahrt sie in einem Turm auf. Darunter befinden sich unter anderem ein mit Gedichten beschriebener Fächer, das abgetrennte Fingerglied, aus dem Mengqing einst die Medizin für den Gatten kochte sowie der mit dem Kopfhaar Mengqings verstärkte Panzer, der den Geng Lang vor Verwundungen schützten sollte. In einem anderen Teil des Turms wird eine kleine Bibliothek mit den Gedichten der Frauen eingerichtet. Doch die Reliquien sollen der Nachwelt nicht erhalten bleiben. Eines Nachts möchte Geng Shun in den Papieren etwas nachschlagen, heißt die Dienerin, eine Kerze zu bringen. Das Mädchen ist jedoch unvorsichtig, ein Funke springt auf die Bücher über, setzt das Papier in Brand. Die Flammen greifen schnell um sich und vernichten alle Andenken. Nur in den Liedern einiger alter Zofen wird man sich der Blütezeit der Familie Geng noch erinnern. Nichts hat Bestand, dies auch die Botschaft, mit der der Autor den Leser am Schluß des Romans aus der Lektüre entläßt: Wer vermag schon zu sagen, wieviel an Edelmut und Gemeinheit, Vollkommenheit und Mangel es auf der Welt gegeben hat? Wie viele Frauen werden von alters her stärker, wie viele gemeiner als Mengqing gewesen sein? Wie viele Männer werden edler und gebildeter als Geng Shun gewesen sein? Welches sind wohl die Kräfte, die Glück und Schicksal der Menschen lenken? Ob der Himmel davon weiß? Woher kommt der Mensch? Ganz plötzlich erscheint er in der Welt, doch nur ein Augenblick, und er verläßt sie schon wieder. Die Dinge im Leben eines jeden erscheinen wie in einem großen Rechnungsbuch. Da mag einer schreiben und dichten, man mag um ihn trauern, ihn in Gesängen preisen – doch all das ist nur für den Augenblick, einen Moment lang, und es gehört der Vergangenheit 890 an.
10.2 Die multiple Persönlichkeit – Der Roman Traum der Roten Kammer und die Folgewerke Es mag einigermaßen vermessen anmuten, einen so komplexen Roman wie Traum der Roten Kammer (Hongloumeng) angesichts der umfangreichen Forschungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte in dem hier zur Verfügung stehenden Rahmen auch nur in einigermaßen angemessener Form zu würdigen.891 In den seit Wang Guowei (1877–1927), Hu Shi (1891–1962), Yu Pingbo (1900–1987) und vielen 890 891
Ebd., Kap. 64, S. 495. Für den Leser, der mit der Materie wenig vertraut ist, sei angemerkt, daß die im Romantitel auftretende Bezeichnung »Rote Kammer« bereits wichtige Aufschlüsse über das Haus einer reichen Familie gibt, dem Hintergrund, vor dem das Werk spielt. »Rote Kammer« ist dabei antithetisch zu der Bezeichnung »Grüne Kammer« (qinglou) zu verstehen, womit Bordelle gemeint sind. »Rote Kammern« sind soviel wie die Boudoirs der Damen der feineren Gesell-
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anderen auch außerhalb Chinas vorgenommenen Untersuchungen,892 die zur Entstehung eines eigenen Wissenschaftszweiges, der Hongloumeng-Forschung (Hongxue) geführt haben, dürfte nahezu kein Aspekt dieses Romans unbehandelt geblieben sein.893 Damit wird bereits deutlich, welch eminent wichtige Rolle Traum in der Entwicklung des chinesischen Romans zukommt, wenngleich sich nicht verhehlen läßt, daß seine Behandlung als primus inter pares den Blick auf die übrigen Werke der frühen chinesischen Erzählkunst etwas verstellt zu haben scheint. Traum der Roten Kammer ist zweifelsohne unerreicht in seiner Ausführlichkeit und dem psychologisch-realistischen Ansatz. Anders als die großen Vorgängerromane gleichen Umfangs wie Reise in den Westen, Räuber und auch Jin Ping Mei meidet der Verfasser des Traums den Gebrauch von Sekundärmaterial und stößt vielmehr zu den tiefer gelegenen Schichten persönlicher Erfahrung vor.894 Doch steht auch der Traum – und die Ausführungen in diesem Kapitel zur Erzählkunst seit der späten Ming-Zeit mögen dies belegen – durchaus sehr deutlich in der Tradition der Romanentwicklung. Wir wollen die Größe des Traums hier keineswegs in Frage stellen, doch ihn allein zum Maßstab aller vor und nach ihm bis zum Ende der Qing-Dynastie erschienenen Romane zu machen, wie dies naserümpfend gelegentlich immer noch geschieht, ist sicherlich unangebracht. Eingeordnet in die Thematik dieses Abschnitts wollen wir den Traum der Roten Kammer daher in dieser Romangeschichte eher als Gleichen unter Gleichen auffassen. Auf zahlreiche Aspekte des Traums, das sei gleich vorweg und in den eingangs gemachten Bemerkungen angedeutet, werden wir hier nicht zu sprechen kommen können, doch wird nach Möglichkeit versucht werden, an den jeweiligen Stellen wenigstens auf die betreffende Fachliteratur Hinweise zu geben. Nähern wir uns
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schaft. Vgl. DIANA L. KAO: »Linguistic Characterization in Dream of the Red Chamber«, in: Word. Journal of the International Linguistic Association, Bd. 31 (1980), S. 110f. Hu Shis Schriften zum Roman liegen vor in: Vollständige Sammlung von Hu Shis Forschungsarbeiten zum Traum der Roten Kammer (Hu Shi Hongloumeng yanjiu lunshu quanbian), Shanghai: Shanghai guji 1988. – Yu Pingbos Aufsätze sind in einer zweibändigen Ausgabe versammelt unter dem Titel Yu Pingbo über den Traum der Roten Kammer (Yu Pingbo lun Hongloumeng), Shanghai: Shanghai guji 1988. Zusammenstellungen über wichtige Ergebnisse der Forschung zum Traum der Roten Kammer sowie Hinweise auf Cao Xueqins Biographie, finden sich in: GUO YUSHI (Hg.): Auswahlsammlung von Forschungsarbeiten zum Traum der Roten Kammer (Hongloumeng yanjiu wenxuan), Shanghai: Huadong shifan daxue 1988 (es handelt sich hier um eine exzellente Aufstellung von Arbeiten zum Roman seit der Qing-Dynastie bis in die achtziger Jahre hinein) sowie HAN JINLIAN: Geschichtlicher Abriß zur Hongloumeng-Forschung (Hongxue shigao), Shijiazhuang: Hebei jiaoyu 1989. Vgl. dazu u.a. ANGELINA CHUN-CHU YEE: Sympathy, Counterpoise and Symbolism: Aspects of Structure in Dream of Red Chamber, Ph.D. Harvard University 1986, S. 121ff.
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dem Traum in der auch bei den übrigen Romanen dieses Kapitels angewandten Vorgehensweise in kleinen Schritten, so fällt zunächst auf, wie wenig wir trotz der überbordenden Forschung immer noch über den Verfasser Cao Xueqin wissen, der von etwa 1715 bis ins frühe Jahr 1763 gelebt hat.895 Lediglich aus seinen letzten Lebensjahren sind einige Tatsachen überliefert. Ungeachtet dieser faktischen Unsicherheit oder vielleicht auch gerade deshalb haben zeitgenössische Schriftsteller wie Gao Yang und Duanmu Hongliang in den zurückliegenden Jahren immer wieder Versuche unternommen, sich die bestehenden Freiheiten zunutze zu machen und die Biographie Cao Xueqins romanhaft auszugestalten, wobei sich die Anleihen, die dabei am Traum selbst gemacht worden sind, nicht leugnen lassen.896 Hier klingt bereits die Nähe der im Roman entworfenen Geschichte um den JiaClan zu dem Schicksal der Familie Cao an, so daß es zum besseren Verständnis sinnvoll erscheint, zunächst den familiären Hintergrund Cao Xueqins ein wenig auszuleuchten, um uns schrittweise dem Verfasser selber anzunähern. Aufstieg, Blüte und Niedergang der Caos stehen unzweifelhaft eng mit dem Herrscherhaus der Mandschuren in Verbindung. So ist bekannt, daß es sich bei den Vorfahren Xueqins um Han-chinesische Siedler in der Mandschurei handelte, die 1621 gefangen und versklavt wurden und später den Status von Leibeigenen in dem »Weißen Banner« erhielten, eben einem der drei »Oberen Banner«, die unter der direkten Kontrolle der Mandschuren standen und somit zur Institution des kaiserlichen Haushalts der Qing gehörten.897 Die Bemühungen zur Konsolidierung des Reiches vor allem im Süden des Landes ließen die mandschurischen Herrscher nun auf einheimische Gefolgsleute aus ihrer Umgebung zurückgreifen, die als Textil- und Salzkämmerer in die Kultur- und Wirtschaftszentren von Nanking, Suzhou und Hangzhou entsandt wurden, um dort die staatlichen Einnahmen aus diesen wichtigen Industriezweigen zu überwachen. Formal zwar immer noch 895
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Schon in bezug auf die Lebensdaten Cao Xueqins sind die in der Forschung vorhandenen Angaben unterschiedlich, als alternativer Zeitraum, in dem Cao gelebt hat, werden mitunter die Jahre 1724–1764 genannt. Bei der Biographie folgen wir hier weitgehend den Darstellungen in der Einleitung des Übersetzers Hawkes zur englischen Gesamtausgabe CAO XUEQIN: The Story of the Stone, übers.von DAVID HAWKES (Kap. 1–80) und JOHN MINFORD (Kap. 81–120), Harmondsworth (England): Penguin 1973–1986 (fünf Bde.), hier Bd. 1, S. 15–46. Vgl. zum Schicksal des Cao-Clans außerdem JONATHAN D. SPENCE: Ts'ao Yin and the K'ang-hsi Emperor: Bondservant and Master, New Haven: Yale UP 1966. Siehe dazu GAO YANG [Taiwan]: Inoffizielle Biographie über Cao Xueqin (Cao Xueqin biezhuan), Peking: Zhongguo youyi 1985 bzw. Duanmuhongliang: Cao Xueqin, Peking: Beijing chubanshe 1980, Bd. 1. Ob und wann zu der als historischer Roman abgefaßten Biographie Duanmuhongliangs Fortsetzungsbände erschienen, konnte hier nicht festgestellt werden. Im Jahre 1615 organisierten die späteren Qing-Herrscher die ersten acht mandschurischen Banner, denen 1624 weitere acht mongolische und 1642 ebenfalls acht chinesische Bannereinrichtungen folgten.
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Leibeigene des Kaisers, befehligten diese Kämmerer mitunter Tausende von Untergebenen, verwalteten hohe Summen an Silber-Tael und sandten vertrauliche Berichte direkt an den Kaiser, was ihnen zu Macht und Reichtum in erheblichem Umfang verhalf. Nicht zuletzt die hochgedienten Minister und Generäle, auf die die Caos unter ihren Vorfahren seit der Zeit der Fünf Dynastien im 10. Jahrhundert zurückblicken konnten, dürften ein Grund dafür gewesen sein, daß Xueqins Urgroßvater Cao Xi, der in der Palastgarde des Shunzhi-Kaisers (1644–1662) gedient hatte, im Jahre 1663 das Amt des Kaiserlichen Textilkämmerers von Nanking erhielt, ein Posten, der in der Folge auch auf seine Nachfahren und angeheiratete Familienangehörige überging. Unter ihnen ragt die Gestalt Cao Yins (1658–1712), dem Großvater Xueqins heraus, der sich im Wechsel als Textilkämmerer von Nanking und Suzhou bzw. als Salzkämmerer von Yangzhou nicht nur eines immensen Wohlstands, sondern darauf gründend auch der besonderen Gunst des Kaiserhauses erfreute, beherbergte er doch zwischen 1699 und 1707 immer wieder den Kangxi-Kaiser bei dessen vier Reisen in den Süden des Reiches und verheiratete seine beiden Töchter an mandschurische Prinzen. Doch nicht nur als erfolgreicher Kämmerer und Schwiegervater adliger Mandschuren gewann Cao Yin einen Namen, vielmehr verstand er es auch, sich als Gelehrter, Dichter und Kunstmäzen weit über die Grenzen seines Wirkens Ruhm und Ansehen zu verschaffen.898 Es sind diese glänzenden Zeiten der Familie Cao, auf die Xueqin später in den ersten achtzig Kapiteln seines Romans abhebt, gekrönt von der Heirat Yuanchuns, der Schwester des Protagonisten Jia Baoyu, mit einem MandschuPrinzen. Als Xueqin um 1715 geboren wurde, hatten die Caos ihren Zenit freilich bereits überschritten, nur in seiner Jugend bis ins Alter von zwölf oder dreizehn Jahren dürfte der Verfasser von Traum noch einen Eindruck von dem verblassenden Glanz des Clans erhalten haben. Der einsetzende Niedergang zeichnet sich bereits in der Obskurität ab, die in bezug auf die Gestalt des Vaters unseres Dichters herrscht. Möglicherweise war es der Neffe Cao Fu, der von Cao Yins Gattin, einer gewissen Dame namens Li (hinter welcher man wohl die Gestalt der Großmutter Jia im Traum vermuten darf), in Ermangelung eines männlichen Erben nach dem Tode Yins und seines einzigen Sohnes Cao Yong adoptiert wurde, um die Linie weiterzuführen.899 Wie dem auch sei, es war jedenfalls dieser Cao Fu, der nicht nur den über die Jahre angesichts des aufwendigen Lebensstils im Clan hinterlassenen Schuldenberg bewältigen mußte, sondern den als Familienoberhaupt in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts (und nunmehr also schon zu 898
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Eine von Cao Yins Glanzleistungen war wohl die Überwachung der Herausgabe einer vollständigen Sammlung von Gedichten aus der Tang-Dynastie mit etwa fünfzigtausend Werken. Mit Cao Yong war lange ein weiterer Kandidat für Xueqins Vaterschaft im Gespräch, bis ein vor wenigen Jahren gefundenes Clan-Register Aufschluß darüber gab, daß nicht Xueqin, sondern ein gewisser Cao Tianyou der Sohn Yongs war, obgleich nicht auszuschließen ist, daß es sich bei Xueqin und Tianyou um ein und dieselbe Person handelt.
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Lebzeiten des Xueqin) auch die ganze Wucht der Angriffe aus dem Kaiserhaus traf, als der spätere Yongzheng-Kaiser (1723–1736) nach dem Tode des Vaters Kangxi in einem Machtkampf mit seinen Brüdern den Thron usurpierte und dabei gnadenlos ebenfalls gegen deren Anhänger (zu denen auch die Caos gezählt wurden) vorging. Die entsprechenden Vorgänge angefangen von der Amtsenthebung des Familienvorstands bis hin zur Konfiszierung des gesamten Besitzes – historisch überliefert für das Jahr 1728 – sind in den letzten vierzig Romankapiteln anschaulich wiedergegeben. Nur dem Einfluß hochgestellter Verwandter und Freunde bei Hofe dürfte es zu verdanken gewesen sein, daß der Clan dem bei diesen Anlässen üblichen Schicksal der Sklaverei entging und man Cao Fu sowie einer geringen Anzahl seiner Familienangehörigen den Umzug aus dem Süden in ein Anwesen gestattete, das die Caos noch in der Hauptstadt Peking hielten. Vermutlich verbesserten sich die Lebensumstände der dorthin umgesiedelten Clanmitglieder gerade nach dem Tode Yongzhengs noch einmal für kurze Zeit, doch bereiteten spätestens die erneuten Verfolgungen unter Kaiser Qianlong (1736–1796) im Jahre 1739 allen Hoffnungen auf Wiedererlangung der alten Größe ein endgültiges Ende. Es ist aus dieser Zeit, daß uns einigermaßen gesicherte Angaben über das Leben Xueqins vorliegen. Um 1740 dürfte er sich an die Abfassung des Traums gemacht und während der kommenden zehn Jahre wesentliche Teile des Werkes niedergeschrieben haben, finanziell einigermaßen abgesichert durch eine Lehrertätigkeit an der Kaiserlichen Schule für Kinder der Adligen und Bannerleute. Die Angaben, welche wir in bezug auf das Wesen und die Lebensumstände Cao Xueqins zu dieser Zeit haben, gehen größtenteils auf Schriften von Schülern eben dieser Einrichtung zurück. Spätestens nach dem Tode seines Cousins, des Prinzen Fupeng im Jahre 1748 wurde Xueqin jedoch auch des Postens an der Schule verlustig und zog sich in ein bescheidenes Quartier am Fuße der Westberge von Peking zurück, das auch heute noch zu besichtigen ist. Darüber, wie er dort sein Dasein fristete, gehen die Meinungen auseinander. Der gängigen Version zufolge, lebte er vom Verkauf angefertigter Bilder, könnte aber auch noch einmal in den Genuß eines geringen und schlecht dotierten Beamtenpostens gelangt sein. Den Hinweisen von Männern wie den Brüdern Dunmin (ca. 1729–1796), Duncheng (1734–1791) und einem gewissen Zhang Yiquan aus seinem kleinen Freundeskreis ist jedenfalls zu entnehmen, daß Cao Xueqin einen kargen Lebensstil pflegen mußte und der Erlös aus dem Verkauf der Bilder oft nicht einmal die Schulden in den Weinlokalen deckte. Welche Gattin dieses bescheidene Dasein an seiner Seite teilte, ist nicht genau bekannt, seine erste Frau ist jedoch mit ziemlicher Sicherheit vor ihm gestorben, und auch Xueqin selber überlebte den Tod eines kleinen Sohnes im Herbst des Jahres 1762 nur um wenige Monate. Was geschah nun mit dem Roman? Soweit bekannt ist, kursierten handschriftliche Kopien des Traums vereinzelt schon zu Lebzeiten Cao Xueqins zunächst unter Freunden und Verwandten, konnten aber, wie der Erwerb durch einen künftigen Provinzrichter, der sich 1769 zu Prüfungen in der Hauptstadt aufhielt, belegt,
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später auch käuflich erstanden werden. Die Manuskripte selbst – dies wohl eine Folge der Abschrift – kursierten in verschiedenen Ausgaben, hatten aber zwei Dinge gemeinsam: Sie trugen alle den Titel »Geschichte des Steins, mit Anmerkungen versehen von Zhiyanzhai«,900 und sie endeten alle mit dem achtzigsten Kapitel. Nach der von Gao E (ca. 1746– ca. 1815) und Cheng Weiyuan (ca. 1745– ca. 1819) im Jahre 1792 besorgten Veröffentlichung der einhundertzwanzig Kapitel umfassenden Ausgabe des Traums gerieten die kommentierten Manuskriptfassungen samt Cao Xueqins Verfasserschaft nach und nach in Vergessenheit.901 Gao E selbst wies darauf hin, daß der Name des Autoren unbekannt sei, was ihm in der späteren Forschung anfangs den Vorwurf des Plagiators einbrachte,902 eine Kritik, die in diesem Punkt mittlerweile weitgehend widerlegt worden ist. Demnach dürfte Gao E in der Tat lediglich mit der Herausgabe des Traums befaßt gewesen sein und diesen keineswegs nach Kapitel achtzig fortgeschrieben haben. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß er als Editor Eingriffe zur Glättung des umfangreichen Textes vornahm. Wie wir aus den Angaben des »Zhiyanzhai« (Rotes Tuschstein-Studio)-Kommentators der ersten achtzig Kapitel wissen, einer Gestalt vermutlich aus der nahen Verwandtschaft Caos,903 auf deren Einwirken ständige Abänderungen im Text durch den Verfasser zurückzuführen sind,904 ist Xueqin ein laxer Umgang mit den angefertigten Manuskripten anzulasten, der zu Brüchen und Lücken im Handlungsfluß, vor allem aber bei Zeit- und Altersangaben 900
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Bei Geschichte des Steins (Shitouji) handelt es sich um einen von mehreren Romantiteln des Werks, die im ersten Kapitel von Traum genannt werden. Die drei übrigen der insgesamt fünf Titel, unter denen der Traum der Roten Kammer bekannt ist, lauten Aufzeichnungen eines leidenschaftlichen Mönchs (Qingsenglu), Spiegel der Liebe (Fengyue baojian) und Die zwölf Mädchen aus Jinling (Jinling shi'er chai). Es war Hu Shi, der zu Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts aufgrund seiner Forschungen die Autorenschaft Cao Xueqins als erster nachwies. Vgl. HU SHI: »Textkritische Untersuchung zum Traum der Roten Kammer« (»Hongloumeng« kaozheng, 1922), in: Vollständige Sammlung von Hu Shis Forschungsarbeiten zum Traum der Roten Kammer, S. 75–120. So geschehen zum Beispiel noch bei YU PINGBO. Vgl. dazu seine Aufsätze »Knappe Bemerkungen zu einem neuerlich entdeckten Manuskript des Traums der Roten Kammer« (Lüe tan xin faxiande »Hongloumeng« chaoben, 1959), in: Yu Pingbo über den Traum der Roten Kammer, Schanghai: Shanghai guji 1988, S. 911ff. bzw. »Über das neu gedruckte Manuskript des Traums der Roten Kammer aus der Qianlong-Zeit in einhundertzwanzig Kapiteln« (Tan xinkan »Qianlong chaoben baiershi hui Hongloumeng gao«, 1963), in: Ebd., S. 1049–1105. Auf den anderen Kommentatornamen »Der Alte Mann mit dem schiefen Notiztäfelchen« (Jihu laoren) sei hier nur am Rande verwiesen. Insgesamt gibt es ca. fünfzehn Kommentare zum Traum der Roten Kammer. Nach entsprechenden eigenen Angaben des Verfassers, die sich in der Szene des ersten Romankapitels um die Abschrift der steinernen Inschrift finden, hat Cao Xueqin, dessen Name an der Stelle im Text ausdrücklich genannt wird, zehn Jahre an dem Buch gesessen und es fünfmal überarbeitet.
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führte.905 Damit ist die Frage nach der Authentizität der in den ersten Manuskripten noch fehlenden vierzig Kapitel jedoch keineswegs gelöst. Einiges spricht dafür, daß Cao Xueqin selbst den größten Teil verfaßt hat, diese Abschnitte zu Lebzeiten aus Sorge um den prekären Inhalt über den Niedergang der Familie jedoch zurückhielt, hätte man von offizieller Seite darin doch leicht einen Affront gegen das Kaiserhaus sehen können.906 Dafür spricht auch, daß sich Xueqin anders als die Verfasser vieler anderer Romane offenbar bewußt einer konkreten zeitlichen Einordnung der Handlung enthielt und gar nicht erst in die Versuchung geriet, etwa durch die euphemistische Verlegung des Inhalts in eine frühere Dynastie irgendwelche Zweifel an seiner »politischen Neutralität« aufkommen zu lassen.907 Die in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts von Kaiser Qianlong angeordnete »literarische Inquisition« sowie die Zensur, mit der man den Traum 1838 in Jiangsu bzw. 1848 in Zhejiang aufgrund des Vorwurfs des »pornographischen« Inhalts belegte, rechtfertigen diese frühe Furcht des Verfassers wohl zur Genüge.908 Einer anderen Vermutung zufolge handelt es sich bei dem Schreiber der Kapitel einundachtzig bis einhundertzwanzig um eine Person aus der näheren Umgebung Caos, die mit dessen ursprünglichen Entwürfen vertraut war.909 Es ist angesichts der Komplexität von Traum schwierig, einen angemessenen Weg zur Vermittlung des Inhalts und seiner vielfältigen Aspekte zu finden. Wir wollen daher versuchen, in mehreren Schritten zunächst aus der Vogelschau einen Überblick über die Geschicke des Jia-Clans zu geben, um sodann den allegorischen Gehalt auszudeuten, der eng mit dem Protagonisten Baoyu verbunden ist und zum Schluß der Frage nachgehen, inwieweit hier Gestalt und Anliegen des Verfassers selbst zum Ausdruck kommen.910 905
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Vgl. hierzu die Anmerkungen in HAWKES Introduction, S. 39. In einigen frühen Fassungen des Romans fehlen z.B. Kap. 64 und 67, die offenbar umgearbeitet wurden und später in unterschiedlichen Versionen auftauchten. Vgl. ebd., S. 40. Versuche, den Inhalt des Romans zeitlich einzuordnen, hat es mitunter dennoch gegeben, wie Franz Kuhn, der Übersetzer der unvollständigen deutschen Fassung Der Traum der Roten Kammer, ein Roman aus der frühen Tsing-Zeit. Aus dem Chinesischen von FRANZ KUHN, Frankfurt/M.: Insel 1981 (erstmals 1932), im Begleitwort zu Bd. 2, S. 823 schreibt, wo er als Zeitraum für die Haupthandlung die Jahre 1729 bis 1737 angibt. Einen der wenigen Zeithinweise, der sich allerdings nur auf die Handlungszeit selber bezieht, erhalten wir durch Jia Yucun in Kap. 103, wo er im Gespräch mit seinem ehemaligen Nachbarn Zhen Shiyin darauf hinweist, daß seit dem Beginn der geschilderten Ereignisse neunzehn Jahre vergangen sind. Von diesen Zensurmaßnahmen waren auch die meisten der Folgeromane des Traums betroffen. Vgl. HAWKES Introduction, S. 18. Zur Bearbeitung wurden neben den bereits genannten Übersetzungen von Kuhn und Hawkes / Minford eine weitere vollständige, englischsprachige Übertragung unter dem Titel A Dream
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Schon die Erläuterungen zum Hintergrund der riesigen Sippe machen deutlich, daß sich Cao Xueqin nicht in strikt autobiographischer Weise auf in der Jugend Erlebtes stützte, wo er doch aufgrund seines Alters vor allem Zeuge des Niedergangs geworden sein dürfte, sondern durch Ausweitung auf die noch ganz im Glanze der Historie stehenden Vorgängergenerationen Blüte und Verfall in einer großen Familiengeschichte zusammenfaßte. Wie die Caos, so stammt auch der Clan der Jias aus der Umgebung des südchinesischen Nanking, wo man neben der kommissarischen Wahrnehmung diverser Aufgaben für den Kaiser die Grundlagen für den erworbenen Reichtum vor allem durch den Bau von Ozeanschiffen sowie die im kaiserlichen Auftrag durchgeführten Ausbesserungen der Deiche in Suzhou und Yangzhou schuf. Die Hinweise auf diese goldenen Zeiten werden im Roman nur in Form von Erinnerungen einiger älterer Hausangestellter gegeben, sind also nicht mehr Bestandteil der Handlung selbst.911 Zur Zeit der Ereignisse, in die uns der Erzähler einführt, hat der Jia-Clan bereits eine große Residenz in der Hauptstadt bezogen, deren Westpalais vom Rongguo-Zweig und ein weiteres Ostpalais vom Ningguo-Zweig bewohnt wird. Daß alleine dem Rongguo-Zweig angefangen vom Diener bis zur Herrschaft dreihundert bis vierhundert Personen angehören, mag einen Eindruck von den Dimensionen geben, in denen sich der Traum bewegt. Der dem Clan einst verliehene Fürstentitel ist auf das Haus der Ning vererbt worden, an dessen Spitze Jia Jing, der »fürstliche Einsiedler« steht, eine kauzige und im Werk nicht weiter ausgearbeitete Figur, die zurückgezogen ganz in der Ausübung taoistischer Praktiken aufgeht und sich am Ende bei dem Versuch, mittels hergestellter Pillen Unsterblichkeit zu erlangen, vergiften wird. Die Geschäfte im Ning-Zweig werden wahrgenommen von Jia Jings Sohn Zhen, einem zwielichtigen Menschen, der mangels Kultivierung seiner Fähigkeiten nicht mehr an die glänzende Tradition des Hauses anknüpfen kann und nur noch für seine Vergnügungen lebt. Ein schändlicher inzestuöser Akt mit seiner Schwiegertochter Qin Keqing,912 die dadurch in den Tod getrieben wird, deutet früh auf den Verfall dieses Zweiges hin. Während der dramatischen Ereignisse um die Konfiszierung des Jia-Besitzes wird Jia Zhen später unter dem Vorwurf, die häuslichen Geschäfte schlecht zu führen, festgenommen und zum Dienst an der Küste verbannt werden.
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of Red Mansions, übers. von YANG HSIEN-YI und GLADYS YANG, Peking: Foreign Languages Press 21992 (3 Bde.) sowie die chinesische Ausgabe Hongloumeng, Peking: Renmin wenxue 1985 herangezogen. Vor allem zu entnehmen den Erinnerungen der Amme des Jia Lian in Kap. 16. Im Falle der Qin Keqing taucht eine der Ungereimtheiten im Werk auf, die vermutlich auf eine nicht ganz säuberlich vorgenommene Umarbeitung Cao Xueqins selbst nach Hinweisen durch den Kommentar von Zhiyanzhai zurückzuführen sind. In der Traumszene von Kap. 5 findet sich ein versteckter Hinweis darauf, daß Keqing sich erhängte, nachdem ihr Ehebruch mit Jia Zhen ruchbar wurde. In Kap. 13 hingegen wird ihr Tod einer geheimnisvollen Krankheit zugeschrieben.
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Den Familienvorstand des Rongguo-Zweiges bildet mit der betagten Ahnin Shi eine Frau, Witwe von Jia Daishan, bei dem es sich seinerseits um den Sohn des alten Stammesfürsten der Rongguo handelt. Die alte Dame wird immer ihre schützende Hand über den geliebten Enkel Baoyu halten und zum Schluß gar ihr eigenes Vermögen zur Verfügung stellen, um den Clan aus seiner wirtschaftlichen Not zu retten. Die Liebe, mit der die Ahnin Shi den Baoyu nach dem frühen Tode seines talentierten älteren Bruders Jia Zhu als einzigen männlichen Nachfolger der Linie verhätschelt, gründet auf der Hoffnung nach einem starken und erfolgreichen Erben, hat sich doch ihr eigener ältester Sohn Jia She längst als ein wenig fähiger Beamter und zudem notorischer Schürzenjäger erwiesen. Den Zorn der Ahnin zieht er sich zu, als er deren Zofe Yuanyang in seinen umfangreichen Harem aufnehmen möchte, jedoch sowohl bei der Herrin als auch bei der Dienerin auf Widerstand stößt. Als Nichtsnutz und Wüstling trifft ihn schließlich ein ähnliches Schicksal wie Jia Zhen aus dem Ningguo-Zweig: er wird verhaftet und zum Militärdienst an der Grenze verurteilt. Besser auch in den Augen der Ahnin schneidet da schon der zweite Sohn Jia Zheng ab, der seinen Erfolg dem Fleiß und der Gelehrsamkeit verdankt und als einer der wenigen im Hause die ersten beiden Beamtenprüfungen bis zum Magister absolviert. Der Doktortitel ist für ihn nicht mehr von Belang, überträgt ihm doch der Kaiser nach einer Audienz einen hohen Posten in einem Ministerium. Aufgrund seiner Sittenstrenge und einer starren konfuzianischen Moralauffassung, die nicht nur auf die Verehrung der Eltern, sondern auch auf den Fleiß im Studium abhebt, ist sein Konflikt mit dem leichtlebigen Sohn Baoyu vorprogrammiert. Jia Zheng scheitert dort, wo es, um einen Begriff aus der modernen Betriebswirtschaft zu gebrauchen, um »Menschenführung« geht: Es gelingt ihm nicht, aus Baoyu trotz dessen guter Ansätze einen Gelehrten-Beamten nach eigenem Vorbild zu machen, geschweige denn in ihm jene Fähigkeiten auszubilden, die es dem Jungen einmal erlauben, den Pflichten zur Führung eines großen Haushalts wie dem der Jia nachzukommen. Daß Jia Zheng in dieser Hinsicht nicht nur im eigenen Hause scheitert, sondern in Fragen der Anleitung von anderen nach einigen erfolgreichen Missionen im Auftrag des Herrschers auch im eigenen Amtsbereich versagt, belegt seine spätere Absetzung vom Posten des Getreidekämmerers von Jiangxi, als man ihm vorwirft, seine Untergebenen nicht im Griff zu haben. Den knappen bisher gemachten Angaben dürfte unschwer zu entnehmen sein, daß sich aufgrund der zentralen Rolle von Jia Baoyu die Schilderungen im Roman weitgehend mit Ereignissen des Rongguo-Zweigs befassen. Wir wollen es zunächst bei der Nennung einiger weniger Gestalten belassen, die die Geschicke beider Häuser lenken, ohne an dieser Stelle näher auf die zahllosen Ehefrauen, Geschwister und Anverwandten der angeführten Protagonisten auf der Ebene der Herrschaft einzugehen, die uns teilweise weiter unten noch beschäftigen werden, darunter Baoyus Cousinen Lin Daiyu und Xue Baochai, den beiden neben Baoyu wohl wichtigsten Figuren. An dieser personellen Gewichtung im Roman, die insgesamt
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deutlich Belange der jugendlichen Bewohner des Anwesens in den Mittelpunkt stellt, wird im Traum durchaus eine Tendenz zum Bildungs- bzw. Erziehungsroman sichtbar. Eine soziale Stufe tiefer auf der Ebene des Personals und der Dienerschaft treffen wir die gleiche personelle Fokussierung auf die Jugend an. Diverse Zofen aus dem Umkreis Jia Baoyus spielen hier eine herausragende Rolle.913 Wir haben weiter oben bereits darauf hingewiesen, daß beide Familienzweige des Jia-Clans zu Beginn der Romanhandlung seine beste Zeit schon hinter sich hat. Es folgen zwar noch eine Reihe von Höhepunkten wie die offizielle Aufnahme Yuanchuns, der Schwester Baoyus (sie lebt zur Zeit der Ereignisse nicht mehr in der Familie, sondern ist Palastdame), in den kaiserlichen Harem, die Entgegennahme der jährlichen Pachteinnahmen sowie die Übertragung wichtiger Missionen durch den Kaiser an die Familienvorstände, doch aus Gesprächen entfernter Verwandter und Bekannter geht früh hervor, daß der Stern der Jias im Sinken begriffen ist und man eigentlich weit über seine Verhältnisse lebt.914 Hinzu kommt der Eindruck von Verkommenheit und Dekadenz, der sich von Beginn an aus dem Verhalten einiger Familienangehöriger ergibt. Auch Jia Zhen ahnt nach dem Tod seiner Schwiegertochter, daß die Familie zugrunde gehen wird.915 Die Größe des Clans wird zunehmend als Belastung empfunden. Nach insgeheim angestellten Kalkulationen ist Lin Daiyu die erste, die Jia Baoyu darauf hinweist, daß die Ausgaben des Hauses die erzielten Einnahmen bei weitem übersteigen. Doch der junge Hedonist, in dessen Umgebung solche Vorhaltungen gemacht werden, reagiert darauf stets mit großer Gelassenheit und heißt etwa Tanchun, den Reichtum und das Ansehen der Familie in größtmöglicher Weise auszukosten. Mit diesen Ansichten überzeugt er von den besorgten Damen freilich niemanden, muß sich vielmehr etwa von Frau You, der Gattin des lästerlichen Jia Zhen zurechtweisen lassen: »Niemand kann sich natürlich mit dir messen, so sorglos wie du in den Tag hineinlebst. Du spielst und lachst den lieben langen Tag im Kreise deiner Schwestern und Cousinen, ißt, wenn du Hunger hast und schläfst, wenn du müde bist. So verbringst du tagaus tagein ohne die geringsten Sorgen um die Zukunft.« »Ein Tag im Kreise der Schwestern und Cousinen ist alles, was zählt«, erwiderte Baoyu daraufhin lachend, »wenn ich sterbe, hat alles ein Ende, was soll ich mich um die Zukunft scheren? [...] Des Menschen Schicksal ist unsicher, wer weiß schon, wann er einst sterben wird. Wenn ich heute, morgen, dieses oder 916 erst nächstes Jahr stürbe, würde ich jedenfalls zufrieden aus der Welt gehen.« 913
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Vgl. dazu ausführlicher MARSHA L. WAGNER: »Maids and Servants in Dream of the Red Chamber: Individuality and the Social Order«, in: ROBERT E. HEGEL, RICHARD C. HESSNEY: Expressions of Self in Chinese Literature, New York: Columbia UP 1985, S. 251–281. So etwa in Kap. 2 in einem Gespräch zwischen Jia Yucun und Leng Zixing. Die Szene findet sich in Kap. 13. Der Traum der Roten Kammer, Kap. 71, Bd. 2, S. 1014.
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Baoyus Erwiderung ist alles andere als eine weise Einsicht in die Vergeblichkeit allen weltlichen Strebens. Vielmehr zeugen seine Einwände von dem Unvermögen eines verwöhnten jungen Mannes, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Zudem verbirgt sich dahinter sein Unwille, erwachsen werden zu wollen und der Realität des Lebens gegenüberzutreten. Moralischer Verfall und dekadente Neigungen schweben als drohende Erscheinungen über dem gesamten Clan. Die Formen, in denen sie bei beiden Häusern auftreten, sind unterschiedlich kraß: Sind Jia Zhen und Jia She in ihrem ausschweifenden und vergnügungssüchtigen Verhalten sittlich angekränkelt, versagt der sittenstrengere Jia Zheng bei der Durchsetzung von Moralgrundsätzen. Vordergründig befindet er sich damit zunächst auf der sicheren Seite, als die harten Maßnahmen des Kaisers die Familie treffen und Truppen das gesamte Anwesen besetzen. Jia She, der ältere Bruder Zhengs, muß als verantwortlicher Haushaltsvorstand der Rongguo-Sippe unter dem Vorwurf des Machtmißbrauchs die Konfiszierung seines gesamten Besitzes hinnehmen. Nur dem Einwirken des Jia Baoyu und des Prinzen Beijing, der seinem Vater wohlgesonnenen ist, ist es zu verdanken, daß ihre Familie unbehelligt bleibt. Wegen der Verwicklungen einzelner Angehöriger in dunkle Machenschaften sowohl innerhalb als auch außerhalb des Clans, bleibt auch der Ningguo-Zweig nicht von Verhaftungen und Durchsuchungen verschont. Die Vorwürfe, aufgrund derer man Jia Zhen und seinen Sohn Rong festnimmt, lauten auf Verführung zum Glücksspiel und Entführung ehrbarer Ehefrauen einfacher Bürger, die dadurch in den Selbstmord getrieben worden seien. Zu spät erfolgt auch diesmal die Empörung Jia Zhengs über das lasterhafte Treiben im Ostpalais der Ning.917 Wie ein Kartenhaus bricht die gesamte Clan-Struktur zusammen. Mit diesen Hinweisen auf Einflüsse von außen, die den Niedergang einleiten, kommt etwas von der zentripetalen Denkweise Chinas zum Ausdruck, in der das Äußere, Ferne, Fremde als eine Bedrohung für das Innere, Eigene und Vertraute aufgefaßt wird.918 In seiner Abgeschlossenheit beschränkt sich auch der Jia-Clan lange Zeit auf ein komfortables Leben in den sicheren Mauern des Anwesens. Mit der Außenwelt kommen die Familienangehörigen und Verwandten Baoyus meist nur bei »sicheren« offiziellen Anlässen wie Reisen im Auftrag des Kaisers, Begräbnissen und Tempelprozessionen in Berührung.919 Wir haben hier bislang nur die wichtigsten Stationen des Niedergangs im Kernbereich der Familie angeführt und müssen es bei einigen Beispielen belassen. Es ist klargeworden, daß die Anlage zum Verfall von Beginn an vorhanden ist und unter einigen Angehörigen auch eine mehr oder weniger klare Ahnung über 917 918
919
Die Durchsuchungen und Besitzkonfiszierungen werden beschrieben in Kap. 105. Dieser interessante Aspekt wird hier nicht weiter erläutert. Als Beleg sei lediglich auf die frühe Vorstellung von China als dem »Reich der Mitte« hingewiesen. Vgl. dazu ausführlich JOHN K. FAIRBANK (Hg.): The Chinese World Order, Cambridge/Mass.: Harvard UP 1968. Vgl. dazu WANG MENG: Inspirationen durch den Traum der Roten Kammer (Hongloumeng qishilu), Peking: Sanlian 1991, S. 141f.
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das Ende besteht ohne – und das kennzeichnet die Tendenz zur Inzucht des gesamten Clans – nach echten Mitteln der Abhilfe zu sinnen. Insofern sind alle Mitglieder beider Häuser Gefangene eines Traums, um eine neue und bislang wenig beachtete Dimension des Titels anzudeuten, aus dem sie zu spät erwachen. Eine wichtige Rolle sowohl bei der Wahrnehmung des Verfallsprozesses als auch den Einwirkungen auf denselben spielen die Personen an der Peripherie des Clans und die gesamte Außenwelt überhaupt. So zum Beispiel die Gestalt des Jia Yucun aus Suzhou, welcher sich quasi als Randfigur über den Verfall des Jia-Clans äußert. Nicht, daß er im Roman eine übermäßig wichtige Rolle spielte, doch die Art und Weise, wie der Autor dem Leser mittels dieser an dem eigentlichen Schicksal des Clans weitgehend unbeteiligten Person erste Eindrücke über die Jias verschafft, ist schon bedeutsam. Durch Yucuns gelegentliches Zusammentreffen mit dem ehemaligen Nachbarn Zhen Shiyin, das auch am unmittelbaren Romanende nicht fehlt, erfüllen beide nicht nur eine wichtige Klammerfunktion für das gesamte Werk, sondern geben durch die homophone Lesung ihrer Namen ein Anliegen des Verfassers zu erkennen, nämlich mittels der Allegorie »die wahren Tatsachen zu verbergen« (zhen shi yinqu) und die Handlung »in künstliche, plumpe Worte« (jiayu cunyan) zu fassen, letzteres wiederum eine tiefstapelnde Anspielung auf den eigenen Mangel an Bildung. Beide Namen werden von Cao Xueqin bereits zu Beginn von Kapitel 1 bewußt auch in dieser Funktion genannt.920 Nicht alle Einflüsse aus der Peripherie des Clans sind freilich schlecht. Unter den herausragenden Gestalten, die einen positiven Eindruck vermitteln, ist an erster Stelle sicherlich Großmutter Liu, eine rüstige alte Dame und Schwiegermutter des verarmten Bauern Wang Gou'er zu nennen, die mit den Jias allerdings in keiner direkten verwandtschaftlichen Beziehung steht und über eine Verbindung zum Großvater der Wang Xifeng ins Haus kommt.921 In ihrer rustikalen Natürlichkeit hebt sie sich als »komische Figur« wohltuend von vielen der affektierten und eingebildeten Bewohnern des Anwesens ab. Bei ihrem ersten Besuch tritt Großmutter Liu noch als Bittstellerin auf (Kap. 6), und die Hilfe, die man ihr gewährt, wird sie nach dem Zusammenbruch der Häuser Ningguo und Rongguo wohl zu vergelten wissen. Schon ihr zweiter Besuch ist ein wesentlich angenehmerer Anlaß, überbringt Großmutter Liu doch bei der Gelegenheit soeben geerntete Feldfrüchte. Die Atmosphäre ist ausgelassen und heiter, und gerade zu der Ahnin, welche sie an Alter noch um einige Jahre überragt, dabei aber wesentlich rüstiger und gesünder wirkt, entwickelt die alte Liu ein ausgesprochen herzliches Verhältnis. Komischer Höhepunkt des Romans ist zweifellos eine Szene am zweiten Tag des Besuches, 920 921
Vgl. Der Traum der Roten Kammer, Kap. 1, Bd., S. 1. Zur Figur der Großmutter Liu vgl. LUTZ BIEG: »›Garten der großen Innenschau‹. Beobachtungen zur Figur der Liu Laolao«, in: Hongloumeng. Studien zum »Traum der roten Kammer«, hrsg. von WOLFGANG KUBIN, Bern, Berlin u.a.: Peter Lang 1999, S. 91–108 (= Schweizer asiatische Studien: Monographien; Bd. 34).
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als man einen Gang durch das Anwesen macht. Nachdem schon Nonne Miaoyu, in deren Klause man auch kurz eingkehrt ist, ein teures Teeglas, aus dem Großmutter getrunken hat, nicht mehr zu benutzen wagt und es Baoyu verehrt, der es der Alten bei ihrem Abschied als Gastgeschenk überreichen soll, befleckt die Bauersfrau gar das Schlafgemach des jungen Herrn. Im weiteren Verlauf des Rundgangs kam die Gevatterin Liu der übrigen Gesellschaft zu guter Letzt abhanden. Sie hatte plötzlich ein heftiges, von verdächtigem Kollern begleitetes Bauchgrimmen verspürt, und eine Kammerfrau hatte sie schleunigst zu einem abseits gelegenen Plätzchen im nordöstlichen Parkwinkel bringen müssen. Dem reichlich genossenen Mahle angemessen, hatte ihre Sitzung etwas lange gedauert, und als sie wieder zum Vorschein kam, hatte sich ihre Begleiterin längst entfernt. Sie war vom vielen Mitlaufen müde gewesen und hatte die erwünschte Gelegenheit benutzt, sich fortzustehlen, um in ihrer Kammer das versäumte Mittagsschläfchen nachzuholen. Auch von der übrigen Gesellschaft war nichts zu sehen. Allein und verlassen irrte nun Gevatterin Liu mit tanzenden Blumen vor den Augen und Weinschwere in den Gliedern durch die ihr unbekannten Wege und Gehege des weitläufigen Parks und fand sich endlich, nachdem sie das irrtümlich für lebend gehaltene Wandbild eines schönen jungen Mädchens vergebens nach dem Weg gefragt hatte und mit dem Kopf in die gemalte Landschaft einer Geistermauer gerannt war, in einem prächtigen, von Gold und Edelsteinen schimmernden kreisrunden Saal mit verwirrendem Schnitzwerk an den Wänden und zahllosen Nischen, die Vasen und Waffen und Lauten und allerlei Geräte bargen. Dort hielt sie zunächst eine unerwiderte Zwiesprache mit einer genau wie sie selbst gekleideten alten Frau, die sie für eine Muhme aus ihrer dörflichen Verwandtschaft hielt, bis es ihr einfiel, daß sie früher von großen Wandspiegeln gehört hatte, die es in den Häusern der Reichen geben sollte, und es ihr dämmerte, daß sie sich eben mit ihrem Spiegelbild unterhalten hatte. Nachdem sie lange vergeblich nach einem Ausweg gesucht hatte, hatte eine der mit westländischem Türmechanismus versehenen Spiegelscheiben bei einem zufälligen Druck ihrer Hand nachgegeben und ihr den Zugang zu einem üppig ausgestatteten Schlafgemach aufgetan. Vom Wein benommen und vom vielen Herumirren erschöpft, hatte sie es sich ohne langes Besinnen auf dem weichen Pfühl unter dem kostbar gestickten Damastbaldachin bequem gemacht. Als die Vermißte dann nach langem Suchen glücklich von Perle entdeckt wurde und, wieder ernüchtert, wissen wollte, welchem der Fräulein das herrliche Gemach gehörte, in dem sie ihren Rausch ausgeschlafen und sich wie im Himmel gefühlt habe, da mußte sie zu ihrem Schreck erfahren, daß sie sich in das Schlafgemach des Haussohns verirrt hatte. Zum Glück wußte außer Perle niemand im Hause etwas von dem kecken Streich der Alten. [...] Daß es freilich einer gewaltigen Portion Sandelholz- und Moschusräucherwerks bedurfte, um die »ruchbaren« Spuren, die der bezechte Gast in Baoyus Schlafgemach hinterlassen hatte, zu verscheuchen, versteht sich 922 von selbst. 922
Der Traum der Roten Kammer, Kap. 41, Bd. 2, S. 572ff. Hier zit. nach der Übersetzung von KUHN, Bd. 1, S. 374ff.
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Es kennzeichnet die Manieriertheit der Jias, daß sie Großmutter Liu vor allem in der Ungeschicktheit ihres Auftretens wahrnehmen und sich über ihre Derbheit und Schmutzigkeit lustig machen. Dennoch bleibt die Gestalt der Alten in Cao Xueqins Schilderungen positiv, kommt in ihr doch etwas von der Vitalität und Frische zum Ausdruck, die der Clan insgesamt entbehrt. Wir wollen es bei diesen knappen Schilderungen über das Schicksal des JiaClans als Ganzem zunächst bewenden lassen und uns vielmehr der Symbolik und Allegorie zuwenden, um die Wichtigkeit einer ganz anderen Ebene aufzuzeigen, die im Traum der Roten Kammer existiert. Schon die Ankündigung Cao Xueqins im Romanauftakt, mit der entworfenen Geschichte einige Träume und Einbildungen festzuhalten, die er während der Vergangenheit hatte und vor allem der Hinweis darauf, wie er dies zu tun gedenkt (indem er sich nämlich bedeutungstragender Namen wie derer von Zhen Shiying und Jia Yucun bedient), heben deutlich auf das Mittel der Allegorie ab, deren Eigenschaft es ist, ein komplexes Verständnismuster zu entwerfen. Bereits hier wird deutlich, daß der Traum mithin nicht einfach als autobiographisches Werk aufzufassen ist, in das Erlebnisse Xueqins eingeflossen sind, sondern daß er gleich von Beginn an die Möglichkeit zu vielfacher Deutung und Interpretation zuläßt.923 Dazu entwirft er zunächst einen Schöpfungsmythos, wie wir ihn bereits am Beginn der Reise in den Westen finden. In Anlehnung an eine alte Sage aus dem philosophischen Klassiker Huainanzi aus der Han-Zeit wird von den Bemühungen der Göttin Nüwa berichtet, den Himmel zu reparieren, der nach dem Auseinanderbrechen aller Pole und Kontinente eingestürzt ist.924 Während Nüwa die Pole mit Hilfe von Krebsscheren wieder aufrichtet, muß sie sich zur Anfertigung der den Himmel stützenden Säulen ins »Tal der unendlichen Tiefe des Kargen Berges« begeben, wo sie sodann Steine schmilzt und aus der flüssigen Masse sechsunddreißigtausendfünfhundertundeinen Quader formt, die bis auf einen einzigen allesamt ihrer weltrettenden Bestimmung zugeführt werden. Den letzten überflüssigen Quader wirft die Göttin auf den »Blaukammgipfel« (Qinggeng), der phonetisch auf die »Wurzel der Gefühle« (qinggen), d.h. auf die Emotionalität Baoyus anspielt, eine Schlüsseleigenschaft in seinem Wesen. Die mythischen Örtlichkeiten, die Cao Xueqin hier und im weiteren entwirft, entstammen nur zum Teil seiner eigenen Phantasie, hat er doch zum Beispiel mit dem »Tal der unendlichen Tiefe« Anleihen bei dem uralten Klassiker der Berge und Meere gemacht, einem der wichtigsten Werke der alten chinesischen 923
924
Der Begriff des jia, hier im Roman als Familienname sowie in homophoner Lesung allegorisch für Aspekte wie die Gegenüberstellung von wahr und falsch gebraucht, läßt sich, wie wir noch sehen werden, in einer weiteren Variante als jia (Familie) auch als Anspielung auf das Thema des Familienromans auffassen. Zu den Quellen über Nüwa und die Bedeutung der Göttin vgl. u.a. ANDREW H. PLAKS: Archetype and Allegory in the Dream of the Red Chamber, Princeton: Princeton UP 1976, S. 27–42.
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Mythologie. Durch seine enge Verbindung zu Jia Baoyu, der dem zurückgelassenen Stein später zu seiner erwünschten Existenz in der Menschenwelt verhilft, wird nicht nur, wie wir noch sehen werden, die Befindlichkeit des Verfassers zum Ausdruck gebracht. Die Szene spielt vielmehr bereits hier auf die Unzulänglichkeiten Baoyus an und ist der Rahmen für die im Roman immer wieder auftretenden Episoden, in denen es zur Beeinflußung durch das Übernatürliche kommt bis hin zum Rückzug des Protagonisten aus der Welt. Der verschmähte Quader nun, aufgrund seiner göttlichen Herkunft keine einfache leblose Materie, sondern von seelisch-geistigen Kräften durchdrungen, klagt Tag und Nacht sein Leid darüber, nicht für den Bau der stützenden Säulen verwendet worden zu sein. Eines Tages schließlich hat der mittlerweile zu geringer Größe geschrumpfte Stein ein Gespräch mit zwei vorüberziehenden Mönchen, einem Buddhisten und einem Taoisten. Als er die beiden Geistlichen über die Dinge in der Welt erzählen hört, kommt in ihm der Wunsch auf, ebenfalls einmal unter die Menschen zu gelangen. Der Buddhist und der Taoist laden ihn daraufhin ein, ihm eine Existenz in einer wohlhabenden Familie zu verschaffen und nehmen den Stein bei ihrem Aufbruch mit, um ihm zur Geburt unter den Sterblichen zu verhelfen. Nach wer weiß wie vielen Äonen nun gelangt ein weiterer Taoist auf der Suche nach dem Weg zum Blaukammgipfel, wo er eine steinerne Inschrift vorfindet, in der über das Schicksal des Steines während seiner irdischen Existenz berichtet wird. Eben dies bildet die Grundlage des Romans. Er kopiert das Werk, dessen Grundthema, wie dort vermerkt, das Liebesgefühl (qing) ist und will es einer weiteren Leserschaft zugänglich machen. Den eigentlichen Romanauftakt bildet eine erste der vielen Traumszenen, in der die beiden den Stein mit sich führenden Mönche dem Zhen Shiying verkünden, daß nun eine Liebesgeschichte ihren Anfang nehme. Auf die Frage des einen, wo sich die Geschichte abspiele, flicht der andere Geistliche eine weitere Geschichte ein, die die späteren Protagonisten Jia Baoyu und Lin Daiyu betrifft und den ebenfalls mythisch-phantastischen Hintergrund des Mädchens ausleuchtet. Beim ersten Zusammentreffen mit seiner Cousine wird Jia Baoyu in der Folge durch die Feststellung, sie von irgendwo her zu kennen, die Zusammenhänge diffus erahnen. Am Ufer des heiligen Flusses im Westen, so die von dem Mönch entworfene Geschichte, macht Lin Daiyu vor ihrer Inkarnation in unmittelbarer Nachbarschaft des »Steines der drei Wiedergeburten« eine Existenz als »Blume der karminroten Perle« durch.925 Jeden Tag wird sie von Shen Ying, dem Diener im »Palast der roten Jade« mit Tau benetzt. Mit der Hilfe ihres Wohltäters, hinter dem sich niemand anderes als der künftige Baoyu verbirgt, gelingt es der Blume, sich nach und nach himmlische Essenzen anzueignen, menschliche Gestalt zu gewinnen und über die Grenzen am »Himmel des kummervollen Abschieds« hinauszureisen, 925
Wie der Jadestein, so ist auch die Blume ein Hinweis auf die beseelte Natur, die dadurch, wie später Baoyu erläutern wird (Kap. 77), ihre Verbundenheit mit den Menschen zum Ausdruck bringt.
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wo sie ihren Hunger an der »Frucht der geheimen Liebe« und den Durst mit dem Wasser vom »See voller Sorgen« stillt, deutliche Anspielungen auf die weinerliche Daiyu, die bei den geringsten Anlässen in Tränen ausbricht. Doch nicht genug damit, will die ehemalige Blume die frühere Güte Shen Yings auf ihre Weise wiedergutmachen. Als das Mädchen von den Absichten Shens erfährt, sich in die Menschenwelt zu begeben, richtet sie die Bitte an die Göttin der Desillusionierung, ihn begleiten zu dürfen, um den Tau, den der Diener ihr einst spendete, mit Tränen zu vergelten. Vor ihrem Aufbruch und Zhen Shiyings Erwachen verkünden die Mönche noch, sich nunmehr zu eben der Göttin begeben zu wollen, um die Inkarnation der Helden zu bewerkstelligen und zeigen dabei auf den früheren Quaderstein, der in der Zwischenzeit die Form eines kleinen, mit geistigen Kräften (tongling) begabten Jadeschmuckstücks angenommen hat und dem Jia Baoyu bei seiner Geburt in den Mund gelegt werden wird, wie der Leser später erfährt. Eben der Jadestein ist auch Ursprung von Baoyus Namen »wertvolle Jade« (baoyu).926 Die beiden Mönche werden erst am Schluß des Romans wieder auftauchen, um, wie sie sagen, Baoyu seiner Bestimmung zuzuführen. Eng mit den beiden Mönchsgestalten verbunden ist die komplexe Problematik des Steins.927 Da ist zunächst die Schwierigkeit des Verhältnisses von Jia Baoyu zu dem Jade-Talisman selbst, den er nach der Geburt stets bei sich trägt. Der Logik des Textes zufolge darf man Baoyu und den Stein nicht einfach gleichsetzen, sondern müßte den jungen Helden aufgrund des eigenartigen Vorfalls bei seiner Geburt vielmehr als Behältnis für den beseelten Stein auffassen, das diesem den Eintritt in die Welt ermöglicht. Dennoch schließt die Verfeinerung des groben Quaderblocks zum Schmuckstück eine weitere Sublimierung zum menschlichen Wesen nicht aus, und gerade die Verwandlung in den himmlischen Diener Shen Ying, die der Stein in der zweiten Geschichte des mythischen Vorspanns durchmacht, legt nahe, daß er zu diesem Zeitpunkt bereits anthropomorphe Züge trägt. Jedenfalls sind beide, Stein und Mensch, wie aus der weiteren Handlung hervorgeht, aufeinander angewiesen, wobei vor allem Baoyus Existenz in elementarer Weise von dem Vorhandensein des Schmuckstücks abzuhängen scheint. Dies wird auch deutlich an der geistigen Umnachtung, die den jungen Helden nach 926
927
Auf Eingriffe Gao Es in der Textgestaltung ist es zurückzuführen, daß die beiden ursprünglich zusammenhangslos erscheinenden Geschichten um den Schöpfungsmythos und die Beziehungen von Daiyu und Baoyu in kohärenterer Form erscheinen. So wird dort keine neue Geschichte ohne Bezug zu den vorherigen Szenen eingeflochten. Vielmehr ist der wandernde Stein bei Gao E zum Palast der Göttin der Desillusionierung gelangt, die ihn als etwas Besonderes erkennt und bei sich aufnimmt. Als der Stein am Flußufer die Blume antrifft, übernimmt er deren Bewässerung. S. dazu die Übersetzung von Hawkes / Minford, die sich auf die Gao-Version in der zugrundegelegten Taiwan-Ausgabe Dazhong shuju 1975 beziehen. Eine ganze Abhandlung dazu liegt vor mit der Arbeit von JING WANG: The Story of Stone: Intertextuality, Ancient Chinese Stone Lore and the Stone Symbolism of Dream of the Red Chamber, Water Margin, and The Journey to the West, Durham, N.C.: Duke UP 1992.
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dem plötzlichen Verlust des Talismans umfängt (Kap. 94). Zwar ordnet man im Hause bald eine offizielle Suche nach dem Schmuck an, doch die abschätzige Reaktion, mit der Baoyu die von zwielichtigen Gestalten angebotenen Jadestücke zurückweist, zeigt jedesmal, daß nie der echte Stein darunter ist. Die Ereignisse spitzen sich dramatisch zu, als die Familie den verwirrten Zustand Baoyus nutzt, um die insgeheim beschlossenen Heiratspläne in die Tat umzusetzen, nicht ohne darin ein Mittel zur Rettung Baoyus zu erblicken. Anders als zunächst erwartet und wohl auch von Baoyu erhofft, hat man nämlich Baochai als Gattin für den jungen Herrn auserwählt und aufgrund der Exzentrik des jungen Mädchens und ihres anhaltend kränklichen Gesundheitszustandes gegen Daiyu entschieden. Bei dem letzten Zusammentreffen zwischen der in der Zwischenzeit durch unvorsichtige Äußerungen einer Magd in alles eingeweihten Daiyu und dem noch ahnungslosen Baoyu kommt es zu einer eigenartigen Szene: »Ist Baoyu zu Hause?« fragte Daiyu scheinbar ganz vernünftig und schritt, ohne eine Antwort abzuwarten, zum Nebengemach hinüber, während Zijuan hinter ihrem Rücken durch Blicke und Winken der ahnungslosen Xiren klarzumachen suchte, daß es mit ihrer Besucherin nicht ganz richtig sei. Baoyu, der stumpf und teilnahmslos auf dem Diwan hockte, rührte sich bei Daiyus Eintritt nicht vom Fleck, brachte auch keinen Gruß hervor, sondern grinste nur vor sich hin. Daiyu ließ sich unweit von ihm auf einem Sessel nieder. Er wandte den Kopf nach ihr, und eine lange Weile glotzte eines das andere blöde lächelnd an. »Was fehlt dir?« fragte Daiyu endlich. »Daiyu fehlt mir«, kam die Antwort. Dann folgte wieder eine lange Pause, die durch gegenseitiges Sichanstarren ausgefüllt war. Xiren wurde es jetzt klar, daß die Besucherin nicht minder geistesgestört war als Baoyu selber. Sie mochte diese unheimliche Zwiesprache zwischen der Irren und dem Blöden nicht länger mit ansehen und winkte Zijuan und Qiuwen, die Kranke fortzubringen. Die beiden faßten links und rechts an und zogen Daiyu sanft in die Höhe. Daiyu ließ es geschehen, blieb aber noch stehen und starrte unverwandt lächelnd und kopfnickend nach Baoyu hin. »Fräulein, es wird Zeit, zurückzukehren«, mahnte Zijuan sanft. »Du hast recht, es ist Zeit für mich, zurückzukehren«, wiederholte Daiyu mechanisch und wandte sich lächelnd zum Gehen. Draußen machte sie sich vom Halt ihrer sie stützenden Begleiterinnen frei und eilte so behenden Schritts zum Park und zur Bambusklause zurück, daß Zijuan und Qiuwen ihr kaum zu folgen vermochten. »Amida Buddha! Da wären wir glücklich wieder angelangt!« rief Zijuan dicht vor dem Eingang zur Bambusklause erleichtert aus. Im gleichen Augenblick sah sie, wie Daiyu nach vorn taumelte und sich aus ihrem Mund ein Strahl Blut er928 goß. 928
Der Traum der Roten Kammer, Kap. 96, Bd. 3, S. 1360f., hier zit. nach der Übersetzung von KUHN: Der Traum der Roten Kammer, Bd. 2, S. 681f.
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Während Daiyu in ihren Gemächern langsam stirbt, geht die Hochzeitszeremonie vonstatten. Ahnungslos glaubt Baoyu in der verschleierten Braut neben sich Daiyu als Gattin zu bekommen, zu spät erkennt er bei der Entfernung des Kopfschmucks schließlich, daß er Baochai heimgeführt hat und läßt sich nach Schreien, zu Daiyu zu wollen, am Ende nur mit betäubendem Räucherwerk ruhigstellen. Mehrere Tage liegt er im Koma und erfährt erst nach seinem Erwachen, daß Daiyu mittlerweile gestorben ist. Erneut verliert Baoyu das Bewußtsein, hat jedoch im Traum eine Erscheinung, in der ihm geoffenbart wird, daß er nur, wenn er sich selbst vervollkommne, die Geliebte wiedersehen werde. Nach seinem Erwachen zeigt sich der junge Mann erstaunlich klar und frisch, ein Zustand, der im weiteren auch ohne das Vorhandensein des Steins anhält. Erst die enttäuschende Begegnung mit seinem Namensvetter Zhen Baoyu, der unserem Helden bei aller äußeren Ähnlichkeit und dem wie einst beim ersten Zusammentreffen mit Daiyu empfundenen Gefühl, sich von irgendwo her bereits zu kennen, fremd bleibt, fällt Jia Baoyu noch einmal für kurze Zeit zurück ins Koma. Im Traum erscheinen ihm noch einmal mehrere schon bereits verstorbene Mädchen, die ihm in der Vergangenheit nahestanden. Nach der Warnung, daß alle irdischen Bande der Zuneigung verführerisch seien, erwacht Baoyu und scheint wieder vollkommen hergestellt, zumal auch der echte Jadestein in der Zwischenzeit von einem Mönch zurückerstattet worden ist. Dennoch haben die Entwicklungen auch Veränderungen im Wesen Baoyus hinterlassen, als deren bemerkenswertester Aspekt der Verlust seines Interesses an den Mädchen hervorzuheben ist. Erst in dieser Szene deutet sich mit der Gegenüberstellung von wahr und falsch – unschwer auszumachen hinter den Namen Zhen Baoyu (in der homophonen Lesung also der »wahre Baoyu«) und Jia Baoyu (der »falsche Baoyu«) – und der Wiedererlangung des Steins ein Wandel im Wesen des bis dahin indifferent gebliebenen und allen Vervollkommnungsansprüchen gleichgültig gegenüberstehenden Baoyu an. Mit dem fleißigen und im Studium erfolgreichen Zhen Baoyu verbindet ihn nichts außer einer äußeren Ähnlichkeit, denn dieser »wahre Baoyu« repräsentiert sozusagen nur die Ansprüche und Normen, die man von außen an ihn heranträgt. Zhen Baoyu hat seine Läuterung bereits hinter sich, zieht daraus aber andere Konsequenzen als Jia Baoyu: Nachdem die Mädchen, die ihm eines Tages im Traum erscheinen, sich alle in Skelette verwandeln, verliert er jegliches Interesse an dem weiblichen Geschlecht sowie an weltlichen Vergnügungen und wird in Übereinstimmung mit der Tradition zum strebsamen Gelehrten (Kap. 93). Wenn also der »wahre Baoyu« tatsächlich auch wieder nur der falsche ist, wie steht es dann mit seinem »echten Wesen«, das unserem Helden in der Form des Steins zurückerstattet wird? Denn dessen Verlust und nicht zuletzt das im Roman tragende Prinzip der Homophonie machen klar, daß der Jadestein (yu) für emotionale Begriffe wie »Lust«, »Begierde« und allgemein für »Wünsche im Leben« (yu) steht. Da Jia Baoyu sich mit seiner allmählichen Läuterung und der Erkenntnis über die Vergeblichkeit menschlichen Strebens der im Schmuckstück symbolisierten Sublimierung nach und nach angenähert hat,
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ist nur der anfängliche Verlust für ihn eine Bedrohung und nach der Rückerstattung ohne Bedeutung. Mit der Aufgabe seines nur scheinbar »wahren Wesens« ist Baoyu zur »Wahrheit« gelangt und entsagt der Welt.929 Angedeutet wird der Erlösungsweg Jia Baoyus im Roman früh durch einen weiteren Titel des Buches, der im ersten Kapitel in der Bezeichnung Aufzeichnungen eines leidenschaftlichen Mönchs (Qingsenglu) auftaucht und der Drohung nach einem Streit mit Daiyu, Mönch werden zu wollen (Kap. 30). Die Rückerlangung des Steins symbolisiert für Cao Xueqin die Erlösung des Selbst nach der Erleuchtung, ein dem Taoismus und Buddhismus innewohnendes Anliegen, welches im Roman in den beiden Mönchen angelegt ist, die Baoyu in die Welt hinein und wieder aus ihr herausführen. Auf einer psychologisch-geistigen Ebene deutet sich hinter dem scheinbar einfachen Vorgang freilich noch viel mehr an, werden eine Reihe existentieller Fragen des Menschseins aufgeworfen: Jia Baoyu gelangt erst nach langen emotionalen Verstrickungen und großem erfahrenen Leid zur Aufgabe seines sinnlichen Ichs und dies dann auch nur um den Preis, sein tätiges Mitleiden und Mitgefühl ablegen zu müssen. Gleichzeitig sind jedoch seine Sensibilität und sein passives Erleiden unverzichtbare Voraussetzungen für sein spätes inneres Erwachen. Ist die eigene Befreiung nur durch Dumpfheit und Teilnahmslosigkeit zu erreichen? Ist es besser, um mit C.T. Hsia zu reden, mitzuleiden in dem klaren Bewußtsein, daß das menschliche Geschlecht ohnehin nicht zu erlösen ist, oder ist es eher angezeigt, die eigene Rettung in der Gewißheit anzustreben, gegenüber den Hilfeschreien seiner Umgebung unempfindlich zu werden?930 Hinter diesen Fragen, die rhetorisch gemeint sind und unbeantwortet bleiben, taucht das philosophische Gesamtkonzept des Romans auf. Der lange Reifungsprozeß Jia Baoyus wird im Roman eingebettet in ein Spannungsfeld aus Liebe (qing) und Lust (yin), das nicht nur den Protagonisten in seiner wertvollsten Eigenschaft als »Lüstling des Herzens« (yi yin) betrifft, wie er sogleich von einer Fee erfährt, sondern einen großen Teil der Personen seines familiären Umfelds umfaßt, angedeutet in sexgierigen Verführergestalten wie Jia Zhen, Jia Lian und Xue Pan, die ihre Begierden auf rücksichtslose Weise befriedigen und anderen Leid zufügen, so wie den sensibleren Opfern vom Schlage Qin Keqings oder You Sanjies, welche sich vor Sehnsucht verzehren.931 Im Zentrum steht dabei allerdings unser Held selbst, und die erste große Szene, die in die Problematik einführt, ist sein Traumbesuch im »Wahnreich der Leere« (Taixu huanjing), wo 929
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Zu dem Aspekt der Verfeinerung von Stein und Mensch s.a. HSIEN-HAO LIAO: »Tai-yü or Pao-ch'ai: The Paradox of Existence as Manifested in Pao-Yü's Existential Struggle«, in: Tamkang Review, Bd. XV, Nr. 1–4, S. 485–494. Vgl. C.T. HSIA: Der klassische chinesische Roman, S. 322. Zum Komplex der Gefühle im Roman vgl. ANTHONY C. YU: Rereading the Stone: Desire and the Making of Fiction in »Dream of the Red Chamber«, Princeton/Mass.: Princeton UP 1997.
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ihn eben die »Fee der Desillusionierung« (Jinghuan xiangu) mit folgenden Worten empfängt: »Ich bin die Fee des schreckhaften Erwachens. Ich wohne nicht weit von hier, im ›Wahnreich der großen Leere‹, in der ›Sphäre des verbannten Leids‹, hinter dem ›Meer des netzenden Kummers«, auf der ›Höhe des befreiten Lenzes‹, in den ›Grotten des unvergänglichen Duftes‹! Ich richte über den ›Wind- und Wolkenverkehr‹ zwischen den Menschen und regle die unbeglichenen Liebesschulden zwischen unglücklichen Mädchen und schmachtenden Jünglingen. Nicht Zufall, sondern Vorbestimmung führt mich heute mit dir zusammen. Ich will dich in mein Reich führen und dich in meinem Palast mit einer Schale von selbst gepflücktem Göttertee und einem Becher selbstgebrautem Wunderwein bewirten. Meine Mägde sollen dich mit ihrem Zauberreigen unterhalten und dir die 932 zwölf neuen Geistergesänge vom ›Traum der Roten Kammer‹ vorsingen.«
Bei seinem folgenden Rundgang durch das Feenreich sieht Baoyu Aufschriften, die auf Leidenschaften und Liebeskummer hinweisen, kann sich zunächst auf nichts einen Reim machen und ist entschlossen, hinter all die angedeuteten Gefühlsgeheimnisse durch eigene Erfahrungen zu kommen. Als er seinen Spaziergang fortsetzt, kommt er an mehreren Kammern vorüber, an deren Türen seltsame Inschriften angebracht sind. Die Aufschriften wie »Abteilung für Liebestorheit«, »Abteilung für Eifersucht« etc. erwecken sein Interesse, und er erfährt, daß sich in den Kammern Aufzeichnungen über das Schicksal der Mädchen aus aller Welt und zu allen Zeiten befinden. Ursprünglich keinem gewöhnlichen Sterblichen zugänglich, wird Baoyu dennoch von der Göttin ein Blick in eine der Kammern gewährt, wo das Register über die »Zwölf Schönen aus Jinling«, der Heimat seiner Familie im Süden Chinas, seine Aufmerksamkeit fesselt. In Bildern und Versen finden sich dunkle Hinweise auf die Schicksale der Mädchen und jungen Frauen, die ihm besonders nahe stehen, doch bleibt dem jungen Helden der Sinn verschlossen. Auch die Fee klärt ihn nicht auf. Dabei werden die ersten beiden Plätze wie im Liederzyklus vom »Traum der Roten Kammer« von Baoyus Cousinen Baochai und Daiyu belegt, ohne daß jedoch eine konkrete Zuordnung vorzunehmen ist, welche der beiden an der Spitze steht. Hieran wird bereits erkennbar, daß die beiden weiblichen Hauptfiguren im Roman anders als die meisten übrigen Mädchen und Frauen offenbar nicht wirklichen Personen nachgebildet sind, sondern vielmehr komplementäre Aspekte einer einzigen idealen Frauengestalt repräsentieren. Daiyu umfaßt in ihrem Wesen all das, was Baochai entbehrt und umgekehrt. Da Baoyu nicht ausreichend die Botschaft der Fee erfaßt, daß die Liebe nur eine Illusion ist, muß er zurück in die Realität, wo er durch sinnliche Erfahrungen den 932
Der Traum der Roten Kammer, Kap. 5, Bd. 1, S. 74f., hier zit. nach der Übersetzung von KUHN, Bd. 1, S. 67f.
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rechten Weg der Leere finden soll (yise wukong).933 Der Kreis zu diesem ersten Besuch im Wahnreich schließt sich mit einem zweiten kurz vor dem Romanende in der oben bereits genannten Traumszene, bei der Baoyu nach einem kurzen Zusammentreffen mit den bereits verstorbenen Mädchen von diesen fortgescheucht wird (Kap. 116). Verschiedentlich ist der Umstand, daß die beiden Besuche Baoyus im Wahnreich weit auseinanderliegen unter Rückgriff auf ein früh in der chinesischen Erzählkunst auftauchendes Traummuster, nach dem der Held zu Beginn des Werks in einen Traum fällt, dort allerlei Erlebnisse macht, um schließlich nach dem Erwachen seine Loslösung von der Welt zu betreiben auch auf unseren Roman angewandt worden. Danach handelt es sich auch im Falle des gesamten Geschehens zwischen Kapitel 5 und 116 um einen einzigen langen Traum, erschlossen aus dem unmittelbaren Verkehr Baoyus mit Zofe Xiren nach seiner Rückkehr aus dem Feenreich, womit der Held beweist, daß er noch im Traum selbst gefangen ist.934 Dabei ist der Traum nicht die einzige Form, mit der der Verfasser immer wieder Brüche in der Realität anzeigt und auf tief im Menschen sitzende Emotionen abhebt. Ein weiteres wichtiges Motiv, das die Illusion kennzeichnen soll und in verschiedenen Varianten auftritt, ist das des Spiegels, anklingend bereits in einem weiteren existierenden Romantitel des Werks, dem Spiegel der Liebe (Fengyue baojian). Auf virtuose Weise variiert Cao Xueqin damit das Thema von Liebe und Tod, von sinnlich erfahrbarer, doch flüchtig bleibender Schönheit sowie von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Wir wollen eine der in dieser Hinsicht berühmtesten Szenen, nämlich die um den »Zauberspiegel«, in der der Verfasser das im Wahnreich-Traum auftretende Motiv von den Gefahren ungezügelter Hingabe in der Liebe wiederholt, näher betrachtet. Daß es sich bei dem Opfer ebenfalls um einen heranreifenden jungen Mann handelt, ist ein Zeichen dafür, daß Cao Xueqin die ersten Romankapitel bewußt um die Themen Liebe und Sexualität der Jugendlichen im pubertären Alter angelegt hat, ein Schema, das er in der Folge vor allem anhand der Gestalt Baoyus um wichtige Erfahrungen des allmählichen Erwachsenwerdens wie der Betroffenheit durch elterlichen Zorn (Kap. 33), der Wahrnehmung des eigenen gesellschaftlichen Status im Rahmen von Festlichkeiten (Kap. 53) sowie der Furcht vor dem Tode (Kap. 77 und 78) erweitert.935 Die Ansprüche, die 933
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935
Vgl. dazu auch SHUEN-FU LIN: »Chia Pao Yü's First Visit to the Land of Illusion: An Analysis of a Literary Dream in Interdisciplinary Perspective«, in: Tamkang Review, Bd. XXIII, Nr. 1–4, S. 470f. Vgl. zur Bedeutung des Traums in unserem Roman und der erwähnten Interpretation den Beitrag von MARION EGGERT: »Die Botschaft der Träume«, in: Hongloumeng, hrsg. von WOLFGANG KUBIN, S. 41–60. Vgl. darüber hinaus Eggerts Arbeit Rede vom Traum: Traumauffassungen der Literatenschicht im späten kaiserlichen China, Stuttgart: Steiner 1993. Vgl. dazu ANTHONY C. YU: »The Quest of Brother Amor: Buddhist Intimations in The Story of the Stone«, in: HJAS, Bd. 49, Nr. 1 (1989), S. 71.
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da von der älteren Generation des Clans an Baoyu herangetragen werden, bleiben für ihn aber stets äußerlich. Allerhöchstens wird er, wie im Falle der grausamen Züchtigung durch den Vater, einmal zum Opfer; Wandel und Entwicklung vollziehen sich größtenteils in der Umgebung des jungen Mannes, nicht in ihm selbst, er bleibt damit ein Typ des puer aeternus. Es ist, als ob Cao Xueqin seinen Protagonisten für immer jung halten möchte, ihm die Reaktionen durch die Erwachsenen dabei aber nicht erspart. Doch zurück zur »Zauberspiegel«-Szene. Baoyu hat im Kreise der Kinder und Jugendlichen aus der Verwandtschaft soeben seinen Schulbesuch in der hauseigenen Lehranstalt begonnen. Die ersten Tage sind von Neid und Reibereien geprägt, doch verschafft sich Baoyu aufgrund der angesehenen Stellung seines Vaters im Clan schnell Respekt. Jia Rui, ein junger Bursche und der Enkel des Hauslehrers Jia Dairu, überrascht eines Tages Xiren, die Lieblingszofe Baoyus, im Garten und verschlingt sie mit seinen Blicken. Alsbald gesteht er ihr seine Liebe, wird jedoch von dem Mädchen abgewiesen. Um nichts klüger geworden, stets in Gedanken an die geliebte Xiren, flüchtet sich Jia Rui in nächtliche Liebesträume und verschwendet seine Manneskraft beim Onanieren. Er ist zu dem Zeitpunkt mit einundzwanzig Jahren in der Blüte seiner Jugend, verfällt aber aufgrund seiner Ausschweifungen immer mehr und erkrankt. Schließlich sucht Jia Rui Hilfe bei einem lahmen Taoisten, der ihn an seinem Lager aufsucht. »Rettet mich, Meister!« wiederholte flehentlich der Kranke, während er vor dem Besucher Kotau im Bett machte. Der Priester betrachtete ihn versunken eine Weile, dann sprach er: »Mit Medizin ist die Krankheit nicht zu kurieren. Aber ich habe ein kostbares Etwas bei mir, das will ich dir geben. Du brauchst es nur täglich anzuschauen, dann wirst du wieder gesund werden.« Bei diesen Worten kramte er aus seinem Schnappsack einen verhüllten Spiegel hervor. Die Rückseite des Spiegels, in der man sich gleichfalls spiegeln konnte, trug die eingravierte Inschrift ›Wunderbarer Spiegel des Mondes und der Winde‹. »Dieser Spiegel stammt aus dem luftigen Geisterschloß der Fee des schreckhaften Erwachens im Wahnreich der großen Leere«, erklärte der Priester. »Seine Kraft besteht darin, verderbte Seelen zu läutern und von unreinen Gedanken und Gelüsten zu befreien. Die Fee hat ihn mir anvertraut, um gebildete und hochgemute junge Leute wie Euch zu erlösen und vor dem Verderben zu bewahren. Aber Ihr dürft nur die Rückseite betrachten! Tausend-, zehntausendmal hütet Euch, ihn von vorne zu betrachten! Denkt daran! Denkt daran! Nach drei Tagen komme ich wieder und hole mir den Spiegel zurück. Bis dahin wird er Euch ge936 sund machen.
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Der Traum der Roten Kammer, Kap. 12, Bd. 1, S. 171, hier zit. nach der Übersetzung von KUHN, Bd. 1, S. 136f.
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Mit diesen Worten verschwindet der Taoist. Selbstverständlich schert sich Jia Rui nicht um die Warnungen und betrachtet den Spiegel von beiden Seiten. Entsetzt schreckt er zurück, als er in der empfohlenen Rückseite ein Totengerippe erblickt, das als Warnung dienen soll. Wie schön dagegen die verbotene Vorderseite, auf der er das Antlitz seiner Geliebten erblickt. Jia Rui ist gar, als steige er zu ihr in den Spiegel, um das Wolken-und-Regen-Spiel zu beginnen. Stöhnend und ächzend fällt er nach der vermeintlichen Vereinigung zurück auf sein Lager, die Hosen feucht von dem köstlichen Erlebnis. Doch nicht genug mit einem Besuch bei der Spiegelgestalt, kurze Zeit später wird Jia Rui schon wieder von Xiren herbeigewunken und begibt sich zu ihr. Nach seinem vierten Besuch erscheinen zwei Männer, die ihn fortführen wollen, doch der junge Mann besteht darauf, den Spiegel mit sich nehmen zu dürfen. Dies sind seine letzten Worte. Jia Rui stirbt an sexueller Erschöpfung. Ein Verwandter eilt herbei, das Zauberwerk zu vernichten, doch klingt ihm aus dem Spiegel eine Stimme entgegen und verkündet, Jia Rui habe wegen Mißachtung der Warnung seine gerechte Strafe erhalten. Schließlich erscheint der Taoist und nimmt den Spiegel mit sich fort. Auch der Protagonist Jia Baoyu ist nicht ohne das Spiegelmotiv zu denken, das in abgewandelter Form den ganzen Roman hindurch immer wieder auftaucht, sei es, daß ein Spiegel den Lösungsbegriff in einem Rätsel darstellt (Kap. 22) oder sich als Anspielung in Gedichten (Kap. 23) bzw. Trinksprüchen (Kap. 28 und 55) ergibt. In einer interessanten Szene, die auf das Problem der Selbsterkenntnis hinweist, muß Jia Baoyu, nachdem er zum ersten Mal von seinem Namensvetter Zhen Baoyu erfahren hat und anschließend von diesem träumte, in einen Spiegel schauen, um sich beim Erwachen selbst wiederzuerkennen (Kap. 56). Der Spiegel ist so etwas wie Baoyus ständiger Begleiter und hebt seinen widersprüchlichen Charakter hervor: oftmals lüstern und doch kein Lüstling; einerseits optimistisch, dann aber auch wieder depressiv; intelligent und von rascher Auffassungsgabe einerseits, doch immer wieder ebenfalls zu Torheit neigend; alles in allem ein Künstler, aber am Ende nicht so genial wie Lin Daiyu.937 Wir können hier nicht auf alle Abwandlungen des Spiegelmotivs näher eingehen, haben aber mit der Gegenüberstellung der Doppelgänger des »echten« und des »falschen« Baoyus oben bereits eine weitere wichtige Spielart davon genannt. Aus der Dialektik von Wahrheit und Lüge entwirft Cao Xueqin eine neue Kunsttheorie, indem er die negative Lüge umdeutet zu einer positiven künstlerischen Phantasie. So wie beide Seiten des Zauberspiegels zusammenfallen, sind auch Wahrheit und Lüge untrennbar miteinander verbunden. Dies deutet sich bereits im Motto über dem Eingang zum »Wahnreich der Leere« an, das lautet: »[...] Wo Lüge wahr wird, ist
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Vgl. zu den genannten Eigenschaften speziell und zum Spiegelmotiv im Roman überhaupt den Beitrag von MONIKA MOTSCH: »Das Spiegelmotiv: Täuschung und Wahrheit«, in: Hongloumeng, hrsg. von WOLFGANG KUBIN, S. 21–40.
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Wahrheit auch Lüge; wo Nicht-Sein, Sein wird, ist Sein gleich Nicht-Sein.«938 Zu Beginn des Romans, wo sich die Stelle findet, wirkt der Spruch wie ein buddhistisches Paradox. Nach Abschluß der Lektüre des Werkes jedoch läßt er sich als literarische Definition begreifen: »Wenn die Lüge (d.h. die künstlerische Phantasie) Wahrheit ist (d.h. künstlerisch wahr), mischen sich Wahrheit und Täuschung. Wo aus dem Nichts (d.h. aus der Phantasie) das Sein (d.h. Kunstwerk) entsteht, mischen sich Sein und Nicht-Sein.«939 Neben diesen zahlreichen phantastisch-metapherhaften Bezügen wie Traum und Spiegel ist die zentrale allegorische Figur des Textes zweifellos der »Garten der Großen Innenschau« (Daguanyuan), eine von Menschen geschaffene Idealwelt und kleines Universum, das aus Anlaß der Aufnahme Schwester Yuanchuns in den kaiserlichen Harem errichtet wird, um ihr als angemessene Unterkunft während der Besuche im Elternhaus zu dienen und in der Zeit ihrer Abwesenheit den jungen Leuten zur Verfügung steht mit Baoyu als einzigem Herrn im Kreise seiner weiblichen Verwandtschaft (der Einzug in den Park erfolgt in Kap. 23).940 Nicht nur der Bau des Gartens selbst (Planung und Fertigstellung werden beschrieben in Kap. 16 und 17), sondern auch die aufwendige Bewirtung Yuanchuns bei ihrem Besuch stellen eine zunehmende Belastung dar, so daß sich hier bereits der Umschwung in den Verhältnissen der Jias andeutet. Bei der Ablieferung der jährlichen Pachtbeträge (Kap. 53), die geringer ausfallen als gewöhnlich und die Ausgaben bei weitem nicht decken, wird Jia Zhen eingestehen müssen, daß ein zweiter Besuch Yuanchuns im Anwesen die Familie in den Ruin zu treiben droht. Wie das Wahnreich, das Baoyu bei seinem ersten Aufenthalt dort als einen märchenhaften Ort fern der Menschenwelt empfindet, den er nicht mehr verlassen möchte, stellt auch der in einer Parallele dazu entworfene Garten einen Platz der Utopie dar, dessen anfängliche Herrlichkeit sich ebenfalls als Illusion erweist. Schon die Lage des aufwendig gestalteten Parks ist symbolträchtig: Exakt in der Mitte der beiden Häuser Ningguo und Rongguo befindlich, ist er nicht nur ein wichtiges Bindeglied und das geheime Zentrum der Fürstenfamilie, sondern erscheint aufgrund der Bauweise und der verwendeten Materialien auch als Sammelort für alle fünf Elemente, d.h. Emblemen im alten Taoismus, die u.a. die Wirkung der Naturkräfte bezeichnen: Während vom Ningguo-Palais ein Bächlein hergeleitet wird und somit zum Element Wasser beiträgt, stammen die Lehm- und Gesteinsmassen aus dem Haus der Rongguo und ergänzen dadurch das Element Erde. Zwei weitere Elemente, Holz und Metall, werden zum Bau ohnehin benötigt, wogegen sich das letzte Element Feuer in den Laternen und dem Feuerwerk zur 938
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Der Traum der Roten Kammer, Kap. 5, Bd. 1, S. 75. Hier zit. nach MOTSCH: »Das Spiegelmotiv«, S. 35. Zit. nach ebd. Vgl. zu der allegorischen Figur des Gartens vor allem PLAKS: Archetype and Allegory in the Dream of the Red Chamber, S. 178–211.
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Einweihung des Gartens andeutet.941 Auch in den Namen einiger Protagonisten lassen sich Anklänge an die Vorstellung von den Fünf Elementen erkennen, bringt etwa Lin Daiyu mit dem lin (d.h. »Wald«) ihres Zunamens das Element des Holzes ein, Xue Baochai mit der Kühle des homophonen xue (d.h. »Schnee«) kann man unschwer als eine Anspielung auf die Eigenschaft des Metalls verstehen. Darüber hinaus jedoch weist schon die Bezeichnung des Parks an sich erneut einen Bezug zur Unvollkommenheit der Person Baoyus auf, denn daguan, hier verstanden als die »breite Sicht auf die Existenz«, wird von den Kommentatoren des Werks an verschiedenen Stellen immer wieder auch zur Kennzeichnung dafür verwendet, daß Baoyu noch nicht das »volle Verständnis« erlangt habe.942 Auch als »Reich der Posie« kommt dem »Garten der Großen Innenschau« erhebliche Bedeutung zu, als nämlich schon während der Einweihung des Gartens in Gesellschaft der kaiserlichen Nebenfrau Yuanchun über den Gebäuden und Plätzen Gedichte angebracht werden. In der Folge werden die dichterischen Fähigkeiten zu einer wichtigen Legitimation für die Aufnahme in die ideale Gemeinschaft. Unter den zahlreichen Zeitvertreiben wie Würfel-, Karten- und Trinkspielen, Rätseln etc. nimmt die Dichtkunst die vorrangige Rolle ein,943 so daß nach kurzer Zeit gar ein eigener Dichterclub entsteht (Kap. 37). Gemäß der Zusammensetzung seiner Teilnehmer stehen in den vorgetragenen Versen Themen wie Jugend und Unschuld im Vordergrund, doch läßt sich am Inhalt der Poeme durchaus eine künstlerisch sehr gelungene Form zur Charkterisierung der inneren Befindlichkeit einzelner Protagonisten erkennen, deren Werke ihre lyrische Subjektivität offenbaren.944 Konkret und vor allem im Hinblick auf Baoyus emotionalen Zustand wichtig, ist der »Garten der Großen Innenschau« der Ort, an dem sich Baoyu unbeschwert und ohne dem strengen Regiment vor allem des Vaters unterworfen zu sein im Kreise seiner Freundinnen bewegen kann. Selbst die schwierige Dreiecksbeziehung zwischen Baoyu und seinen beiden Cousinen Daiyu und Baochai scheint hier zunächst aller Probleme enthoben. Wir wollen zum besseren Verständnis an dieser Stelle darauf ein wenig näher eingehen, wobei unser Interesse aufgrund seiner prominenten Rolle als erstes Baoyu gelten soll. Die Figur ist offenbar bewußt als zwitterhafter Charakter vom Verfasser konstruiert, denn ein entscheidender Wesenszug, der Baoyu von Beginn an kennzeichnet, ist seine große 941
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Vgl. dazu LIU HUIRU: »›Jedes Festmahl hat ein Ende‹: Das Spannungsfeld zwischen ju und san, in: Hongloumeng, hrsg. von WOLFGANG KUBIN, S. 75–90. Vgl. ANDREW H. PLAKS: »Allegory in Hsi-yu chi and Hung-Lou Meng«, in: DERS. (Hg.): Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton UP 1977, S. 197f. Zu den Spielen und dem Vertreiben der Langeweile s. VOLKER KLÖPSCH: »Homo ludens chinensis: Zur Bedeutung der Spiele«, in: Hongloumeng, hrsg. von WOLFGANG KUBIN, S. 171–192. Vgl. dazu ausführlich YU-KUNG KAO: »Lyric Vision in Chinese Narrative Tradition: A Reading of Hung-Lou Meng and Ju-Lin Wai-Shih«, in: ANDREW H. PLAKS (Hg.): Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton UP 1977, S. 227–243.
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Nähe zu allem Weiblichen. Sein gesamtes darauf gründendes Verhalten ist vor dem männlichen So-Sein zu verstehen als die qualvolle Suche nach Ganzheit und Ergänzung, versinnbildlicht schon in dem Kummer des übriggelassenen Steins, der im Schöpfungsakt der Göttin keine Verwendung findet.945 Ganz folgerichtig hat Baoyu unter den jugendlichen Anverwandten nur wenige männliche Gefährten, darunter Qin Zhong und Liu Xianglian, die ihm vor allem aufgrund ihrer Gefühlsbetontheit nahestehen. Einer seiner frühen Leitsprüche über seine Beziehung zu Mädchen lautet: »Mädchen sind aus Wasser gemacht, Jungen dagegen aus Schlamm. In der Gegenwart von Mädchen fühle ich mich heiter und erfrischt, Jungen dagegen empfinde ich als schmutzig und abstoßend.«946 Für Baoyu sind Mädchen demnach eine Art höherer Wesen, die ihre Reinheit bewahren sollten. Mit der Heirat, so seine Theorie, legen sie ihre Weiblichkeit ab und passen sich dem üblen Wesen des Mannes an, wie er an einer weiteren Stelle (Kap. 77) erklärt. Der Roman handelt diese Aspekte vor allem an den Gestalten einiger Frauen außerhalb des Gartens ab, im Mittelpunkt Wang Xifeng, der aufgrund ihrer Umtriebigkeit eigentlichen Herrscherin über den Clan. Nicht nur, daß sie, wie im Roman hervorgehoben wird, unter Jungen und wie ein Junge aufgewachsen ist und dabei den Spitznamen »Bruder Phönix« (Fengge) erhält (Kap. 6), sie ist zudem versehen mit einer Reihe von männlichen Attributen wie Organisationskraft, Durchsetzungsvermögen und Machtbewußtsein und ähnelt in ihrer Schläue und Durchtriebenheit der historischen Gestalt des Generals Cao Cao aus den Drei Reichen, mit dem Xifeng an einigen Stellen im Text gleichgesetzt wird.947 Weit stärker als die übrigen weiblichen Gestalten des Romans ist Wang Xifeng traditionsbildend für das Bild der starken Frau geworden, die neben positiven Seiten gleichsam immer wieder auch abgründige Züge eines dunklen, verbrecherischen Wesens aufweist. Im Zentrum der Gemeinschaft, die in der Idealwelt des »Gartens der Großen Innenschau« entsteht, befinden sich Baoyu und seine beiden Cousinen. Ihre enge Verbindung läßt sich schon aus der Wahl der Namen ableiten, die auf Gemeinsamkeiten der Mädchen mit dem Helden hinweist. Während sich Daiyu in dem Begriff der Jade mit Baoyu das Streben nach Reinheit teilt, ist ihm Baochai durch den »Schatz« (bao) in »wertvoller« Weise verbunden.948 Lin Daiyu, die Wiedergeburt der Blume, welche ihre Tränenschuld einlösen will, ist dabei »die psycho945
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Bearbeitet hat die mythische Suche nach Ganzheit u.a. LEWIS S. ROBINSON: »Pao-Yü and Parsival: Personal Growth as a Literary Substructure«, in: Tamkang Review, Bd. 9, Nr. 4 (1978/79), S. 407–425. Hongloumeng, Kap. 2, Bd. 1, S. 28f. Herausgearbeitet sind diese strategemischen Aspekte in Xifengs Verhalten bei HARRO VON SENGER: »Strategemische Analyse des Romans Hongloumeng« in: Hongloumeng, hrsg. von WOLFGANG KUBIN, S. 61–74. Vgl. zu dieser Deutung auch KAO: »Linguistic Characterization in Dream of the Red Chamber«, S. 113.
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logisch vertiefte Darstellung eines ganz neuen, tragischen weiblichen Charakters in der chinesischen Erzählliteratur«.949 Obwohl die Legitimität der Verbindung durch die zum Romanbeginn geschilderten mythischen Szenen um die Blume und den himmlischen Diener Shen Ying auf übernatürliche Weise vorherbestimmt ist und ihre konkrete Entsprechung in dem engen verwandtschaftlichen Verhältnis findet, in dem beide stehen, wird sich Daiyu dem Baoyu doch nie hingeben, obwohl er ihr an einer Stelle (Kap. 20) ganz offen eingesteht, sie der Baochai vorzuziehen, wenngleich er sich dabei bemerkenswerterweise nicht auf seine Gefühle, sondern die größere verwandtschaftliche Nähe über die Linie des Vaters beruft. Gelegentlich ist daher vermutet worden, daß es sich bei Daiyu um ein Symbol für die jungfräuliche Mutter Baoyus handeln könnte, während Baochai, von der Mutter her mit Baoyu verwandt, eben für die »erotische« Muttergestalt steht.950 Wenden wir uns nach den vorstehenden Untersuchungen nunmehr in einem letzten kurzen Punkt dem Problem der autobiographischen Sensibilität zu, wie sie Cao Xueqin im Traum der Roten Kammer erkennen läßt. Wie sehr die Handlung gerade um Jia Baoyu und den Mädchen um ihn herum mit dem Verfasser selber in Verbindung zu bringen ist, deutet eine kurze Passage gleich zu Romanbeginn an, wo der Erzähler den Leser in einer Enthüllung darauf vorbereitet, mit den Lebensumständen der vielen jungen Frauen, denen er im Laufe der Zeit begegnet ist, vertraut zu werden. Unvermittelt fallen mir, der ich es in dieser geschäftigen Welt des Staubes zu nichts gebracht habe, auf einmal wieder die vielen Mädchen ein, mit denen ich zu tun hatte. Indem ich ihre Gestalten vor meinem geistigen Auge noch einmal prüfend Revue passieren lasse, kommt mir zu Bewußtsein, daß eine jede von ihnen mir in Betragen und Urteil überlegen gewesen ist. Es ist nicht leicht, das als Mann einzugestehen, doch ich komme nicht umhin festzustellen, mich mit keiner von ihnen messen zu können. [...] Ich habe mich daher entschieden, darüber zu berichten, wie ich, obgleich dank der kaiserlichen Gnade und der Verdienste meiner Vorfahren in seidene Kleider gewandet und stets wohl genährt, die gütigen Ermahnungen durch die älteren Familienangehörigen ebenso in den Wind schlug wie die wohlmeinende Ratschläge der Freunde und Lehrer, mein Leben vergeudete und nicht eine einzige Fertigkeit in mir ausgebildet habe. Doch ganz gleich, wie groß die Übel, die ich begangen habe auch sein mögen, ich darf die vielen lieblichen Mädchen, die ich einst kannte, nicht einfach der Vergessenheit anheim fallen lassen, nur weil ich vielleicht versuche, meine eigene Schlechtigkeit sowie all die Mängel, die ich besitze, zu verstecken. [...] Obwohl bar jedweden literarischen Talentes, will ich dennoch versuchen, in 949 950
Vgl. EVA MÜLLER: »Zur Ästhetik des Weiblichen im Hongloumeng«, S. 3 . Vgl. zu dieser Deutung PING-LEUNG CHAN: »Myth and Psyche in Hung-loumeng«, in: WINSTON C.L YANG / CURTIS P. ADKINS (Hg.): Critical Essays on Chinese Fiction, Hongkong: Chinese UP 1980, S. 172.
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DIE WELT DER GEFÜHLE holpriger Sprache einen genauen Bericht über die zahlreichen lieblichen Mäd951 chen zu geben.
In der biographischen Dimension des Romans wird durch diese Ausführungen folgendes vermittelt: Zunächst einmal handelt das Buch danach vom Leben »zahlreicher lieblicher Mädchen«, Cao Xueqin nimmt also die eigene Person zurück. Dennoch ist das Werk nicht von ihm und seinen Empfindungen zu trennen, und der Grund dafür, so betont Cao hinreichend klar, sind seine Mängel und Verfehlungen, die er sich hat zuschulden kommen lassen, womit dem Werk wiederum eine erhebliche autobiographische Note anhaftet, was übrigens auch von der Kommentatorgestalt des Zhiyanzhai so gesehen wurde, die dazu bemerkte: »Eine Biographie über andere kann auch autobiographische Zwecke erfüllen«.952 Da Jia Baoyu die wichtigste männliche Hauptfigur im Roman darstellt, darf man wohl in ihm das alter ego des Verfassers vermuten, anhand dessen er die komplexen Verhältnisse innerhalb der Familie ebenso aufarbeitet wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern überhaupt. Durch die in der Romaneinleitung zum Ausdruck gebrachte Unterlegenheit Caos gegenüber den Mädchen sowie in den vielen weiblichen Attributen, mit denen er seinen Protagonisten ausstattet, zeigt der Verfasser zudem an, daß er sein autobiographisches Ich innerhalb des Werks in mehr als einer Person auftreten läßt. Cao Xueqin knüpft dabei mit dem »schwachen Mann« zwar grundsätzlich an ein in der frühen chinesischen Erzählliteratur gängiges Motiv an, von dessen literarischer Bearbeitung wir mit den Ehegeschichten und dem Essigkrug bereits zwei prominente Beispiele kennengelernt haben, doch macht er weniger die Furcht vor der Ehefrau zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen als vielmehr das schlechte Gewissen des Mannes sowie die zeitbedingte Frustration unter den Literaten und Gelehrten. In diesem Sinne dürfte nämlich in einer weiteren autobiographischen Komponente des Romans der Mythos des Schöpfungsaktes durch Nüwa und der Kummer des unverwendeten Steins zu deuten sein. Die fehlende Anerkennung als Gelehrter und die ausbleibende Verwendung als Beamter gerade auch vor dem glänzenden Bild, das die Vorfahren Caos abgaben, dokumentieren sich in der Marginalität, die der Stein erfährt. Seiner »Würde als Mann« beraubt, mag der Blick des sensiblen Autors für die Talente, die sich unter den Frauen in seiner Umgebung fanden, in besonderer Weise geschärft worden sein. Die Berichte über Wang Xifengs organisatorische Fähigkeiten und Daiyus dichterische Begabungen lassen sich eben als Hommage an die Weiblichkeit lesen.953 Mit der Hervorhebung ihrer Fertigkeiten verleiht der Autor 951 952
953
Der Traum der Roten Kammer, Kap. 1, Bd. 1, S. 1. Zit. nach HUANG: Literati and Self-Re/Presentation, S. 77. In dem Abschnitt dort finden sich zahlreiche Hinweise auf die im Traum erkennbaren Einflüsse der Biographie Cao Xueqins. Vgl. zu diesen Fragen eingehender Louise P. Edwards: Men & Women in Qing China. Gender in The Red Chamber Dream, Leiden u.a.: E.J. Brill 1994.
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den Damen ein Ansehen, das ihm selbst verwehrt blieb. Was Cao fasziniert zu haben scheint, ist nicht »die Frau« als solche, sondern die weibliche Erscheinung, die ein Mann annahm, dessen Begabungen und Qualifikationen ungenutzt blieben, verbunden mit der Frage, wie die eigene Männlichkeit zurückzuerlangen ist.954 In der Gestalt Baoyus, die in weiten Teilen des Romans keinen echten Wandel durchmacht, sich den Forderungen durch die Welt der Erwachsenen entzieht und erst unmittelbar am Schluß die Vergeblichkeit alles irdischen Strebens erkennt, ruft Cao Xueqin für sich und den Leser noch einmal die Erinnerung an Blüte und Größe der eigenen Familie ins Gedächtnis, die er selber, wie wir oben gesehen haben, wohl nicht mehr miterlebt hat. Es blieb, um in einem letzten Teil dieses Abschnitts über den Traum der Roten Kammer in einer knappen Übersicht auf die Folgewerke zu sprechen zu kommen, auch diesem Werk wie seinen umfangreichen Vorläufern, den Drei Reichen, der Reise in den Westen etc. nicht erspart, daß sich eine große Zahl von Literaten in verschiedenen Gattungen und Genres und mit begrenztem Erfolg an Nachdichtungen versuchten. Ungeachtet der oftmals nur geringen literarischen Qualität dieser Dramen und Erzählungen ist es bemerkenswert, wie früh die Rezeption des Rote-Kammer-Stoffes einsetzte und was für eine Flut von Epigonen sie bewirkte – ein Umstand, der zur Genüge die Einzigartigkeit des Originalwerks von Cao Xueqin zum Ausdruck bringt. Den Reigen eröffnete bereits 1792 im Erscheinungsjahr der Gao E-Fassung des Traums eine Bühnenfassung von Motiven aus dem Roman, gefolgt von unzähligen weiteren Dramen und Schauspielen unterschiedlicher Stilrichtung bis hin zur Peking-Oper. Von niemand anderem als dem berühmten Opern-Darsteller Mei Lanfang (1894–1961) und somit aus berufenem Munde stammt jedoch die Feststellung, daß ein so komplexer Stoff wie der des Traums angesichts der vielen Alltagssituationen mit seinen komplizierten Charakterdarstellungen, die wenig Handlung vermittelten sowie der übermäßigen Betonung von Frauenrollen, nur schwer auf die Bühne zu bringen sei. Dies im Unterschied zu den vielen anderen überlieferten Kapitelromanen, deren abgeschlossene Episoden nicht zuletzt auch wegen ihrer Abenteuerhandlung in der Vergangenheit den Stoff für das Musiktheater geliefert hatten. So nimmt es nicht wunder, daß von unserem Roman nur wenige gelungene Bühnenfassungen vorliegen.955 Weit mehr Möglichkeiten boten sich da jenen Literaten, die bei ihren Nachdichtungen zumindest dem Genre des Romans treu blieben. Interessant hierbei der Versuch, durch immer neue Produktionen für sich zu beanspruchen, das einzig 954 955
Vgl. Huang: Literati and Self-Re/Presentation, S. 95. Vgl. dazu ausführlicher IRMTRAUT FESSEN-HENJES: »Zur Rezeption des Romans Hongloumeng durch das traditionelle chinesische Musiktheater xiqu«, in: Hongloumeng, hrsg. von WOLFGANG KUBIN, S. 259–276.
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wahre und dem Original treue Folgewerk des Traums geschaffen zu haben, wie dies viele der Verfasser in einleitenden Bemerkungen taten. Die Entwicklung setzte hier ein wenig später als im Falle der Bühnenwerke zum Ende des 18. Jahrhunderts ein und bescherte dem Traum bis zum Sturz der Qing-Dynastie schätzungsweise an die zwanzig bis dreißig Folgeromane, die hier in einer repräsentativen Auswahl vor allem mit Blick auf ihre stoffliche Umsetzung des Originals kurz vorgestellt werden sollen.956 Dabei fällt auf, daß die meisten dieser Werke eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Eine der hervorstechendsten Tendenzen ist die offensichtlich an die Tradition der Romane über Talente und Schönheiten anknüpfende Sehnsucht nach einem Happy-End. Nicht nur, daß man fußend auf den realen Bezügen des Ursprungswerkes und im Einklang mit den dort durchaus vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten den Clan der Jia wieder zur Blüte gelangen und die Söhne und Enkel hohe Beamtenposten erreichen ließ, um ihnen am Ende ein glückliches Eheleben zu bescheren. Auch die Liebe zwischen Jia Baoyu und Lin Daiyu mußte im Zuge romantischer Gefühlsduselei plötzlich in Erfüllung gehen. Das Problem der Wiederauferstehung Daiyus bewältigten die Verfasser mit Rückgriff auf in der chinesischen Erzählkunst weidlich vorhandene Jenseitsvorstellungen und Elemente der Phantastik. Entweder durfte die Geliebte nach einem vorübergehenden Aufenthalt im »Wahnreich der Leere«, das in der Abwandlung durch die Folgeliteratur des Traums mehr und mehr paradiesische Züge annahm, wieder ins Leben zurückkehren, um sich dort mit dem ebenfalls wieder in die Welt eintretenden Baoyu zu vereinen, oder sie wurde mit Hilfe lebensspendender Medizinen und Kräuter wiedererweckt. Da die Reinkarnation auf beliebig viele der Akteure im Roman anwendbar war, gelangten zahlreiche der im Traum womöglich früh Verstorbenen auf diese Weise wieder zur Auferstehung. Baoyus Gattin Xue Baochai, nunmehr zur Intrigantin verkommen, durfte im günstigsten Falle darauf hoffen, nach einem Prozeß der Einkehr und Läuterung gemeinsam am Glück Baoyus und Daiyus teilzuhaben, auch dies eine Idealvorstellung, die deutlich den Einfluß des caizi jiaren-Genres erkennen läßt. Rein technisch betrachtet hatte dies zur Folge, daß man in den Folgewerken des Traums inhaltlich insbesondere an die Kapitel 956
Das Thema der erzählerischen Adaption des Stoffes vom Traum der Roten Kammer ist ein von der Traum-Wissenschaft bislang noch wenig bearbeitetes Feld. Eine genaue Übersicht über die vielfach auch unter ganz anderem Titel als das Original erschienen Folgeromane ist naturgemäß schwer zu erlangen. Alleine der Verlag der Universität Peking hat zum Ende der achtziger bzw. in den frühen neunziger Jahren zwölf dieser Epigonen veröffentlicht. Die Angaben zu Verfasserschaft, Erscheinen und Inhalt der Folgeromane entnehmen wir hier, sofern nicht andere Quellen genannt werden, dem Handbuch Annotierter Gesamtkatalog zu der volkstümlichen Erzählkunst Chinas. Wie reizvoll der Stoff des Traums selbst noch für Dichter der neueren Zeit war, belegt das Beispiel Guo Zeyuns (1881–1947), der in den Jahren 1939/40 einen Roman unter dem Titel Der wahre Traum der Roten Kammer (Honglou zhen meng) in vierundsechzig Kapiteln herausbrachte, 1942 versehen mit einem Vorwort von Yu Pingbo.
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97/98 (wo der Leser des Originals vom Tode Daiyus erfährt) bzw. 120 (dem Ende und Auszug Baoyus aus der Welt) anknüpfte. Auf Szenen davor geht kaum eines der Werke zurück, was freilich nicht heißt, daß nicht auch früh im Original auftretende Gestalten wieder zur Auferstehung gelangen. Vor allem der Wiedereintritt Baoyus in den weltlichen Betrieb sowie sein damit im streng konfuzianischen Sinne erforderliches Engagement in den Diensten des Kaisers machten es hierbei erforderlich, ihn mit einer Reihe ganz neuer Eigenschaften auszustatten, die einen vollständigen Bruch mit den Maßgaben des Ursprungswerks darstellten, wo etwa die Weichheit und Kindlichkeit des Helden niemals hätten den Verdacht aufkommen lassen, daß er plötzlich das Kriegshandwerk erlernt und sich erfolgreich im Kampf gegen Piraten und Räuberbanden behauptet. Wie virtuos der Stoff des Traums mitunter dennoch abgewandelt werden konnte, um die drängenden Probleme der Zeit zum Ende der Qing zu thematisieren, werden wir weiter unten am Beispiel des Folgeromans von Wu Woyao sehen. Doch werfen wir zunächst einen Blick auf die Werke, die vor dieser Zeit entstanden. Schon der Verfasser der frühesten Erzählung, die im Anschluß an den Traum nicht später als 1796 unter dem Titel Der spätere Traum der Roten Kammer (Hou hongloumeng) erschienen sein dürfte, suchte aufgrund der zeitlichen Nähe zum erstmaligen Erscheinen des Originals für sein Werk Legitimität und Echtheit dadurch zu beanspruchen, indem er einleitend darauf hinwies, die dreißig Kapitel lange Fortsetzung nicht selber zu Papier gebracht zu haben, sondern lediglich als Herausgeber von Manuskripten Cao Xueqins aufzutreten, die ihm angeblich von dessen Gattin angedient worden waren. Aus einem dem Späten Traum vorangestellten Vorwort ist dieser die Autorenschaft leugnende Editor zumindest unter seinem Pseudonym »Apokryphe Geschichte von der weißen Wolke, Einsiedler Blumenstreu« (Baiyun waishi, sanhua jushi) als Person faßbar. Cao Xueqin selbst wird zum Gast im Anwesen des Jia-Clans stilisiert und erfährt am Schluß mit der Adelung durch den Kaiser eine Erhöhung, in deren Genuß er während seines tatsächlichen Lebens nicht gekommen ist. Inhaltlich beziehen sich die Ausführungen im Späten Traum auf die kurze Begegnungsszene Jia Bao Yus mit seinem Vater Jia Zheng im Kapitel 120 des Traums. Bei der Durchsuchung des Gepäcks Baoyus findet der Vater eine »Medizin zum Entzug der Seele« sowie eine Kalebasse zum Einfangen entschwundener Seelen samt einer mit Nadeln gespickten VoodooPuppe. Nach Verhaftung der zu gemeinen Entführern abgestempelten Mönche, die Baoyu einst vor den Prüfungshallen mit sich fortgeführt haben, nutzt Jia Zheng im Anschluß an die Entfernung der Nadeln die übrigen Funde, um die Seelen von Lin Daiyu und Qingwen wieder ins Leben rückkehren zu lassen und tritt daraufhin mit Baoyu die Heimreise an. Während sich dort der durch die traurigen Vorkommnisse in der Vergangenheit geläuterte Jia Zheng als nunmehr verantwortungsvoller Familienvorstand entpuppt, stehen der Liebe Baoyus zu seiner ebenfalls wieder anwesenden Cousine noch eine Reihe von Prüfungen bevor. In ihrer Sprödheit und Zurückgezogenheit durchaus Züge der Daiyu aus dem Original-
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werk aufweisend, hält das Mädchen ihren Geliebten geraume Zeit hin und verweigert sich ihm. Die unausbleibliche Heirat wird nur durch das entschiedene Eintreten der Eltern zuwege gebracht. Da sich Daiyu jedoch auch in der Folge als tugendhafte Sittenwächterin gebart, Baoyu den Zutritt zu ihren Gemächern verweigert und der Vollzug der Ehe somit auszubleiben droht, macht man sie betrunken, entkleidet sie und führt sie zu dem Gatten. Für immer die Seine, findet sich Daiyu nach diesem Vorfall in ihr Schicksal und verbringt ein glückliches Leben an der Seite Baoyus. In einer ähnlichen Tradition wie das hier kurz vorgestellte Werk stehen auch der als früheste Ausgabe für das Jahr 1814 nachzuweisende Folgeroman Vollkommener Traum der Roten Kammer (Honglouyuanmeng) in einunddreißig Kapiteln, als dessen Verfasser die Pseudonymgestalt »Herr des Traums« (Mengmeng xiansheng) genannt wird, sowie ein zwischen 1851 und 1861 erst recht spät entstandener Vertreter unter dem Titel Spiegel vom Traum der Roten Kammer (Hongloumengying) aus der Feder des »Wanderers vom Westsee« (Xihu sanren) in vierundzwanzig Kapiteln. Stärker als der mit weltlichen Belangen befaßte Späte Traum hebt der mit einem Vorwort aus dem Jahre 1799 versehene, jedoch erst wenig später 1805 erschienene Erneute Traum der Roten Kammer (Hongloufumeng) in hundert Kapiteln, der vermutlich auf einen Verfasser namens Chen Shaohai zurückgeht, auf die Erlösungsproblematik ab. Auch hier werden Szenen des unmittelbaren Romanendes des Ursprungswerks fortgeführt. Baoyu etwa muß eine weitere irdische Existenz als Mengyu in einer Familie Zhu durchmachen, die im Süden des Reiches wohnt. Auf seinen ausgedehnten Reisen trifft er später die Mutter wieder, welche in ihm tatsächlich den wiedergeborenen Sohn erkennt und für ihn die Heirat mit den gleichfalls unter anderem Namen wieder ins Leben getretenen Baochai, Qingwen und Xiren arrangiert. Doch die steile Karriere, die er in der Folge als Beamter durchmacht und dem Clan damit wieder zu Ruhm und Ansehen verhilft, ist nur vorübergehend. Am Ende entsagt Mengyu wie viele andere Figuren des Romans der Welt und wird ein Unsterblicher. Einer konkreten Ausgestaltung der Lebensumstände des Jia-Clans offenbar überdrüssig, hat ein gewisser »Holzfäller vom Langhuan-Berg« (Langhuanshan qiao) mit der Fortführung zur Ergänzung des Traums der Roten Kammer (Zeng bu hongloumeng, erschienen 1824 in zweiunddreißig Kapiteln) – mithin ein Folgewerk zum Folgeroman aus eigener Feder, der 1820 in achtundvierzig Kapiteln unter eben dem Titel Ergänzung des Traums der Roten Kammer (Zeng hongloumeng) erschien – nahezu die gesamte Handlung in jenseitige Regionen verlegt. In einem regen, von Baoyu initiierten Austausch zwischen der Unterwelt und einem dem »Wahnreich der Leere« nachempfundenen Paradiesort des Namens »Hibiskusstadt« versammeln sich der Held und seine »Zwölf schönen Mädchen aus Jinling« am Ende in himmlischen Gefilden. Als Beispiel für eine andere der oben genannten erzählerischen Varianten des Traums sei hier der achtundvierzig Kapitel lange Ergänzte Traum zum Honglou-
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meng (Honglou bu meng) angeführt, der mit einem Vorwort aus dem Jahre 1819 versehen ist und aus der Hand eines Verfasser mit dem Pseudonym »Rückkehrer zur Hacke« (Guichuzi) stammt. Ergänzter Traum setzt mit der Handlung in Kapitel 97 des Ausgangswerks von Cao Xueqin ein und läßt somit die letzten dreiundzwanzig Abschnitte des Originals fort, um, wie es in einer Vorbemerkung heißt, dessen Mängel zu beseitigen, vor allem aber, um die aufgrund des Schicksal vorherbestimmte Verbindung zwischen Baoyu und Daiyu doch noch zustandebringen. In der Schlußszene des Ergänzten Traums wird geschildert, wie Baoyu in einem Traum auf das Verzeichnis der »Zwölf schönen Mädchen aus Jinling« stößt und es seinen beiden Hauptfrauen zeigen möchte. Als Daiyu Zweifel am Vorhandensein des Wahnreichs anmeldet und das Verzeichnis zerstören möchte, stürzt ein Stein vom Himmel herab. Baoyu erwacht, alles war nur ein Traum, auch der Himmel selber ist noch nicht wieder repariert, womit der Roman in einer nun erkennbaren, zweifachen zeitlichen Rückverlegung der Handlung eine Brücke zum Ausgangsmythos schafft. Im Gegensatz zu den hier vorgestellten »echten« Nachfolgern erinnern die Werke der Bohème-Romane aus dem Ende der Qing-Dynastie wie zum Beispiel Der Traum von Wind und Mond (Fengyuemeng) oder Der Traum der grünen Kammer (Qingloumeng), auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden, nur noch entfernt im Titel an Cao Xueqins komplexen Ausgangsroman. Die Handlung weitgehend auf Szenen im Shanghaier Rotlichtmilieu beschränkt, greift man auch bei den Protagonisten nur noch ganz vereinzelt auf die Angehörigen des Clans der Jia zurück. Eine Ausnahme bildet lediglich Wu Woyaos (1866–1910) Neue Geschichte des Steins (Xin shitouji), die freilich wenig mit der Bohème-Literatur zu tun hat, sondern sich vielmehr in sein sozial- und zeitkritisches Werk einordnet, das uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird, wo wir auch näheres zu seiner Person erfahren werden.957 Da Neue Geschichte jedoch trotz thematischer Unterschiede ein wichtiger Folgeroman des Traums ist, wollen wir ihn bereits hier behandeln. Zu Beginn des Romans, dessen Veröffentlichung 1905 in der Tageszeitung »Nanfangbao« 957
Wus Roman wird hier bearbeitet nach der Ausgabe Wu Jianren: Die neue Geschichte des Steins (Xin Shitouji), Zhengzhou: Zhongzhou guji 1986. Eine eingehendere Untersuchung findet sich u.a. bei Kai Nieper: Neun Tode, ein Leben. Wu Woyao (1866–1910). Ein Erzähler der späten Qing-Zeit, Frankfurt/M.: Peter Lang 1995, S. 224–274. Auf ein Folgewerk zur Neuen Geschichte des Steins, das 1909 unter dem gleichen Titel in nur zehn Kapiteln erschien, sei hier lediglich am Rande verwiesen. Um wen es sich bei dem Verfasser mit dem Pseudonym »Barbarischer Krieger aus dem Süden« (Nan wu yeman) handelt, der sich offensichtlich die Beliebtheit von Wus Werk für eine eigene Veröffentlichung zunutze machen wollte, ist nicht auszumachen. Der kurze Roman greift das Liebesthema wieder auf: Baoyu trifft als Auslandsstudent in Tokio mit Lin Daiyu zusammen. An der Stiftung der Ehe zwischen den beiden ist diesmal neben dem chinesischen Kaiser auch der japanische Tenno beteiligt.
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begann und der erstmals 1908 als vollständiges Buch in vierzig Kapiteln erschien, knüpft Wu zunächst im Ton an die Tradition der Folgewerke an, indem er sie wie diese zuvor ihrerseits in bezug auf die eigenen Vorgänger in Bausch und Bogen verdammt. Nirgendwo innerhalb der »Ergänzungen«, »Wiederholungen« etc. finde sich etwas anderes als unsinnige Geschichten, über die niemand, der sie gelesen habe, wohlwollend urteile. Dennoch, so Wu, scheue er sich nicht, sich mit der Neuen Geschichte ebenfalls unter die Epigonen einzureihen, auch wenn er dafür keinen Beifall erlangen werde. Bleiben die eigenen Motive für eine Fortsetzung des Traums in diesen ersten Zeilen des Romans noch unklar, so macht die weitere Lektüre deutlich, auf welch virtuose Weise es Wu unter ausdrücklicher Aussparung des Liebesmotivs gelingt, sich auf bestimmte Protagonisten, Themen und Motive aus dem Traum zu beschränken und diesem trotz der vollkommen neuen Bezüge gleichzeitig in großem Maße treu zu bleiben. Von zentraler Bedeutung ist dabei zunächst der Schöpfungsmythos vom Stein, dessen Thema Wu bereits im Titel nennt und sich damit von den meisten anderen Nachfolgern unterscheidet, die an den Traum-Titel anknüpfen. Nach dem Fortzug von daheim, so die Fortführung von Szenen im Kapitel 120 der Ursprungsfassung, gelangt Baoyu erneut in die Ödnis am Blaukammgipfel, wo er mit Meditationsübungen beginnt und in seinem Wesen über lange Zeit hinweg zu Veränderungen gelangt. Äonen von Jahren vergingen, sein Herz glich trockenem Holz und toter Asche, und die Jahrhunderte erschienen ihm wie ein Tag. Eines Tages fiel Baoyu plötzlich ein, wie einst Nüwa die fünffarbigen Steine geschmolzen hatte, um sie zur Stützung des Himmels zu verwenden. Sämtliche sechsunddreißigtausendfünfhundert Steine hatte die Göttin benutzt, und nur er war zurückgelassen worden. Sicher, er war in der Folge beseelt worden, doch hatte ihm das nur ein paar wilde Jahre in der Gemeinschaft der Mädchen eingebracht, sein Wunsch, an der Wiedererrichtung des Himmels teilzuhaben, war dabei unerfüllt geblieben. Ein heftiges Verlangen trieb ihn, den einstigen Wunsch doch noch zur Erfüllung zu bringen. Selbst wenn er dann einst zu Staub würde oder wie Rauch verpuffte, würde er keinen Groll hegen. Sein Herz begann zu pochen, das Blut in den Adern fing an zu pulsieren, ein heftiges Verlangen nahm Besitz von ihm, er vergaß ganz und gar die Lehre von Ursache und Wirkung und wollte nur noch 958 heim, um seinen Wunsch in Erfüllung zu bringen.
Nicht mehr allein die mit der Mißachtung des Steins metaphernhaft zum Ausdruck gebrachte Entfremdung wie noch im Traum ist hier das Thema, sondern der Wunsch nach Teilnahme an der Rettung. Indem Wu Woyao den Stein bzw. Baoyu von seinen Verstrickungen in die Welt der Gefühle befreit und ihn zumindest innerhalb des mythischen Rahmens zur chiliastischen Heilsfigur erhebt, ist er in der Lage, mit dem Bild des zerstörten Himmels auf die prekäre Lage Chinas zur 958
Neue Geschichte des Steins, Kap. 1, S. 2f.
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Jahrhundertwende abzuheben. Innerhalb der folgenden Handlung reduziert Wu die Gestalt Baoyus freilich wiederum auf einen unbedarften und nicht selten naiv anmutenden Suchenden, nicht ohne allerdings auch hier mit seinem Bestreben nach Erlangung einer idealen Welt und den Erfahrungen, die er dabei macht, wichtige Wesenszüge des Steins bzw. seiner Inkarnation im Traum anklingen zu lassen. Als kahlgeschorener Mönch, ungeduldig auf das Nachwachsen seiner Haare wartend, um seine neue irdische Mission zu erfüllen, verläßt Baoyu den Blaukammgipfel und trifft bei seiner Reise alsbald auf den früheren Diener Beiming, der ihm von der Auflösung der Familie nach seinem Verschwinden berichtet. Beiming, einer der vier Protagonisten, die aus dem Traum in die Neue Geschichte übernommen worden sind, spielt im weiteren nur eine untergeordnete Rolle. Der Eindruck persönlicher Entfremdung, bei Cao Xueqin im Kummer des unbeachteten Steins noch mythologisch verbrämt, nimmt im Falle des Romans von Wu Woyao durch die Erlebnisse Baoyus in einer veränderten Welt weit konkretere Züge an. Interessant die Art, wie Baoyu erst nach und nach zu ahnen beginnt, daß er in einer ganz anderen Zeit wieder in die Welt eingetreten ist: Das Datum einer Zeitung, die aus dem Jahre 1901 stammt, versetzt ihn zunächst in verständnisloses Staunen, ist ihm die angegebene Zeitrechnung nach dem gregorianischen Kalender doch unbekannt. Faßbarer sind dagegen für ihn schon die Veränderungen in der ehemaligen Heimatregion des Clans aus der Gegend um Nanking. Nicht nur, daß er mit der Einrichtung eines neuen Verwaltungsbezirks, dem das heimatliche Dorf nun zugeordnet ist, nichts anfangen kann, auch seine Nachforschungen nach Familienangehörigen verlaufen ergebnislos. Ironischerweise muß sich Baoyu auf seine Fragen allerorts sagen lassen, daß man eine Familie namens Jia allenfalls aus dem Roman Traum der Roten Kammer kennt, worauf er sich das Werk beschafft und mit der Lektüre beginnt. Da Baoyu zu Recht vermutet, auch in Peking niemanden mehr aus dem Hause Jia anzutreffen, womit der Zeitsprung nun auch für ihn zur Gewißheit geworden ist, begibt er sich gemeinsam mit Beiming per Schiff nach Shanghai. Der abrupte temporale Wechsel, in der chinesischen Literatur spätestens seit Tao Yuanmings (372–427) »Pfirsichblütenquelle« bekannt und darüber hinaus ohnehin ein beliebtes Mittel zur Kennzeichnung utopischer Dimensionen, erfüllt in der Neuen Geschichte mehrere Funktionen.959 Es wird damit der Eindruck der Fremdheit, mit der Baoyu einer veränderten Welt begegnet, unterstrichen und deren Erscheinung als solche vom Verfasser deutlich infragegestellt. Verkörpert Baoyu durch seine Befangenheit in der alten, vertrauten und somit in vieler Hinsicht wiederum ideale Züge aufweisenden Zeit noch klar eine Verbindung zur eigenen Tradition, so wird hinter seiner Wahrnehmung und Reaktion auf die neuen Verhältnisse um ihn herum auch etwas von der seit der 959
Zu weiteren utopischen Entwürfen in der Literatur Chinas um die Jahrhundertwende insbesondere bei Kang Youwei und Tan Sitong vgl. Nieper: Neun Tode, ein Leben, S. 261– 274.
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Jahrhundertwende mehr und mehr schwindenden Kulturgewißheit innerhalb der chinesischen Gesellschaft faßbar. Die Verlegung der ersten Romanszenen in das seinerzeit für westliche Konzepte besonders empfängliche Shanghai deutet hierbei die Stoßrichtung an, in die Wu Woyao in seinem Werk zielt, um im folgenden den Gegensatz zwischen den autochthon chinesischen und den als fremdartig empfundenen abendländischen Lösungsformen für eine Bewältigung der Krise in China zu thematisieren. Eingeführt wird Baoyu in das bunte Leben der quirligen Hafenstadt von niemand anderem als seinem einstigen Schwager Xue Pan, auf den er stößt, als Lärm vor dem Quartier seine Aufmerksamkeit erregt. Xue Pan scheint durch den Zeitsprung von seinem ursprünglichen Wesen wenig eingebüßt zu haben. Er ist betrunken und soeben dabei, einen Diener zu verprügeln. Durch seine Herkunft ohnehin als rücksichtsloser, genußsüchtiger, ausschweifender und dem Verbrechen nicht abgeneigter Mann bekannt, wird er in Wu Woyaos Händen zur Karikatur des typischen Lebemanns, der in Shanghai nicht ohne ein gehöriges Maß an Verehrung gegenüber den Ausländern mit dunklen Geschäften sein Glück gemacht hat. In langen Gesprächen mit den fortschrittlichen Kräften am Ort, die Baoyu während seines Aufenthaltes kennenlernt, eignet er sich in seiner Funktion als Relikt der alten, feudalistisch-rückständigen Zeiten deren Sichtweisen an und spricht sich alsbald etwa gegen das Bandagieren der Füße der Frauen aus, ein beliebtes Thema in der zeitgenössischen Diskussion, wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden. Fremd und überaus zwiespältig dagegen sein Eindruck von den westlichen »Errungenschaften« am Ort. Der Verdacht des Ausverkaufs chinesischer Interessen kommt in ihm auf. Auf Feinheiten des westlichen savoir vivre, die ihm der Connaisseur Xue Pan nahebringt, welcher seiner Veranlagung folgend vor allem mit den dunklen Seiten dieses Lebensstils vertraut ist, reagiert Baoyu eher ablehnend, wie eine heitere Szene im Zusammenhang mit dem Genuß diverser Alkoholika zeigt: Eilig griff Xue Pan nach einem Champagnerglas, putzte es blank und hielt es prüfend gegen das Licht. Dann stellte er es nieder und schenkte Baoyu von dem Champagner ein. Dieser nippte vorsichtig an dem Glas, zog die Stirn in Falten und rief: »Das ist kein Alkohol, es schmeckt wie Essig. Schau nur wie das Zeug perlt, es ist verdorben und gärt bereits.« »Das ist nun einmal so gemacht«, erklärte Bo Hui, »es schmeckt recht gut, wenn man sich daran gewöhnt hat.« »Probier einmal hiervon«, forderte Xue Pan seinen Schwager auf und ließ eine Flasche dunklen, obergärigen Biers öffnen. »Pfui«, schimpfte Baoyu, »was ist das denn für ein dunkles Gesöff? Es sieht ja aus wie Medizin. Noch dazu oben der Schaum, das kann man doch nie im Leben trinken.« »Flüssigkeit und Schaum werden zusammen getrunken, es schmeckt wirklich hervorragend«, sagte Xue Pan.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert Vorsichtig nahm Baoyu einen kleinen Schluck von dem Bier, spuckte es jedoch sogleich in hohem Bogen wieder aus. »Ich bin doch nicht krank«, rief er, »was soll ich damit?« Xue Pan lachte. »So bitter wie das schmeckt, kann es sich nur um eine Medizin handeln«, behauptete Baoyu fest und steif. »Lassen wir das«, schimpfte Xue Pan belustigt, »etwas Säuerliches mutet dir wie Essig an, vom Bitteren sagst du, es sei Medizin. Versuchen wir es mit etwas anderem.« Doch Baoyu winkte ab und weigerte sich, noch von einem anderen 960 Bier und dem Brandy zu kosten.
Ganz in der Tradition eines Glücksritters nimmt Xue Pan schließlich zunächst Abschied von Baoyu, um sich in einer wichtigen Angelegenheit nach Peking zu begeben. Dort trifft er auf einen Freund namens Wang Wei'er, einen echten Herumtreiber, der sich nunmehr bemüht, Xue als Anhänger für die Boxerbewegung zu gewinnen. Baoyu, mittlerweile erfahrener in den Dingen der Welt als selbst sein Schwager, reagiert im Gegensatz zu Xue Pan skeptisch und wundert sich über die Naivität, mit der man unter den Boxern etwa versucht, die Fremden mit Hilfe von Melonen auszuschalten, welche durch Anwendung von Magie vergiftet worden sind. Er ist nicht der einzige Zweifler in der Hauptstadt. Im Gespräch mit einem Manne namens Zhang werden ihm weitere Beispiele von der Leichtgläubigkeit und Dummheit der Boxer genannt. In der Ferne vernahmen sie Gewehrschüsse. »Während der letzten Zeit hört man jeden Tag diese Schießereien«, sagte Baoyu, »es heißt, sie griffen die Botschaften an. Hier in der Gegend gibt es nur eine Gesandtschaft. Mit den magischen Künsten der Kämpfer kann es nicht so weit her sein, wenn das Gebäude nach all der Zeit noch immer nicht gestürmt ist.« Der Alte Zhang lachte: »Genau, das sage ich mir auch schon die ganze Zeit. Ständig reden die Boxer davon, keine Angst vor den Gewehren zu haben. Unzählige von ihnen sind bei den Angriffen auf die Botschaften schon ums Leben gekommen. Es ist lächerlicher Selbstbetrug, was sie da treiben. Stell dir vor, was sie gemacht haben: Einmal luden die Männer ein Gewehr, richteten es auf ihre eigenen Leute und drückten ab. Da nichts geschah, nahm man wirklich an, die Waffe durch Zauberkünste unschädlich gemacht zu haben. Dabei haben diese Einfaltspinsel nur die Patronen falsch herum ins Magazin gesteckt, kein Wunder also, daß nichts passierte. Eine vollkommen ungeladene Waffe hätte die gleiche Wirkung gehabt. Dem Mythos der eigenen Unverwundbarkeit hat dieser Unsinn jedenfalls nur Vorschub geleistet. Aber nun paß auf, es kommt noch besser. Da sich die Angehörigen der Botschaft verteidigen mußten, waren sie auf den Nachschub von außen angewiesen. Sie bezogen ihre Munition ganz einfach aus den Beständen der Boxer, da diese fest daran glaubten, ihnen könnten die Patro960
Neue Geschichte des Steins, Kap. 9, S. 63f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE nen nichts anhaben. Freudig rieb man sich die Hände über das gute Geschäft. Ist soviel Dummheit nicht schon in höchstem Maße bemitleidenswert?« »Es macht in der Tat nicht viel Sinn, mit den Feinden, die man bekämpft, auch noch Geschäfte zu betreiben.« »Wenn es nur das wäre«, entgegnete der Alte Zhang, »die Botschaften wurden aus der unmittelbaren Umgebung mit allem versorgt, was sie brauchten: Nah961 rungsmittel, Kohle, Wasser, irgendwie stammte alles von den Boxern.«
Die Passage ist ein Beispiel für den ironisch-übertreibenden Stil, dessen sich Wu Woyao auch in vielen seiner anderen Werke bedient. Dem wachsenden militärischen Druck ihrer Gegner haben die Boxer am Ende nichts entgegenzusetzen. Xue Pan ist einer der ersten, die die Aussichtslosigkeit erkennen und die Flucht ergreifen. Wieder zurück in Shanghai, wird Baoyu Zeuge einer Protestkundgebung im Garten des Herrn Zhang, bei der man sich gegen den Inhalt des 1900 geschlossenen chinesisch-russischen Geheimvertrags über die Mandschurei wendet, in dem faktisch die Besetzung des Gebietes durch zaristische Truppen sanktioniert wurde. Auch hier hebt Wu Woyao ein weiteres Mal auf historische Ereignisse ab, zumal er selber während der Kundgebung vom März 1901 als Redner aufgetreten ist. Eine weitere Reise gegen Ende dieser ersten Romanhälfte führt Baoyu schließlich nach Hankou. In Erinnerung an seine eigene Schulzeit muß er bei dem Besuch einer Universität feststellen, daß sich hier während der zurückliegenden ein bis zwei Jahrhunderte nicht viel getan hat, noch immer die gleichen Inhalte vermittelt, die gleichen rigiden Unterrichtsmethoden angewendet werden. Als er sich gegen einen der Lehrer wendet, nimmt man ihn kurzerhand fest. An diesem Wendepunkt im Werk trägt Baoyu bereits deutliche Züge eines zwar willigen, jedoch angesichts der unverbesserlich erscheinenden Zustände mehr und mehr desillusionierten Reformers. Die Zeit ist reif für ihn, sich auf die Suche nach der idealen Welt zu machen. Eingeleitet wird der Übergang zu dem eigentlichen mit dem Thema der Utopie befaßten zweiten Abschnitt im Werk durch Baoyus Reflexionen über sein ursprüngliches Anliegen – die Reparatur des Himmels – nach seiner Haft, aus der er dank seines Freundes Bo Hui nach einiger Zeit entlassen wird. Gedankenverloren ließ Baoyu sich nieder. Woran er wohl denken mochte? Nun, ihm war auf einmal wieder in den Sinn gekommen, wie er am Blaukammgipfel eine Anzahl von ruhigen Jahren verbracht und ihn eigentlich nur verlassen hatte, um seinen im Grunde vollkommen unnötigen Wunsch nach der Reparatur des Himmels in Erfüllung zu bringen. Wer hatte schon ahnen können, daß er in der Hauptstadt in die Ereignisse um die Boxerbewegung verwickelt werden würde und hier in Hankou gar einen Gefängnisaufenthalt hinnehmen mußte. Pah, man 961
Ebd., S. 113.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert sprach nicht zu unrecht von der Barbarei in diesem Land. Es war eine düstere Welt, in die er da geraten war. Und was war dabei aus seinem Wunsch geworden? Der würde sich wohl nur schwerlich erfüllen lassen. Was war zu tun? Wieder an den Blaukammgipfel zurückkehren? Doch wie angesichts seiner unausgeführten Mission den Pflanzen und Tieren dort gegenübertreten? Und was, wenn er nicht an den Gipfel zurückkehrte, dann mußte er wohl alle Hoffnungen auf die Himmelsreparatur begraben. Verwirrt und betreten, wußte Baoyu weder aus noch 962 ein.
Unentschlossen grübelt Baoyu noch über sein weiteres Schicksal, als ein Brief von Xue Pan eintrifft, in dem der Schwager ihn auffordert, sich zu ihm in das »Dorf der Freiheit« (ziyoucun) zu begeben, ein Utopia, das allerdings nur schwer zu finden sei. Ein Schiff bringt Baoyu zunächst nach Shandong, von wo er zu Lande in Richtung Peking weiterreist. Bei einem Überfall verliert er sein gesamtes Gepäck, wird auch von den Begleitern getrennt und muß den Weg alleine fortsetzen. Immer noch auf der Suche nach dem »Dorf der Freiheit«, gelangt er schließlich an die Grenze des »Reiches der Kultur« (wenming shijie), wo ein Wegweiser mit dem Vermerk »Weg des Konfuzius« (Kongdao) ihn die Bedeutung erahnen läßt, die diese alte Lehre an dem Ort spielt. Ähnlich wie bei seinem Eintreffen in Shanghai, wo Wu Bohui ihn mit der Umgebung vertraut macht, trifft Baoyu auch kurz hinter der Grenze des »Reiches der Kultur« in der Figur des »Alten Jugendlichen« (Lao shaonian) auf einen Führer, hinter dem man das idealisierte Selbstportrait des Verfassers annehmen darf, tritt der Alte Jugendliche doch in diesem Pseudonym als Herausgeber des gesamten Werks auf. Cao Xueqin hatte mit dem Garten der großen Innenschau im Traum der Roten Kammer vor allem auf die Vollkommenheitsvorstellungen der gesellschaftlichen Elite sowie der Gelehrten abgehoben, in die auch Elemente seiner eigenen Biographie einflossen. War die abgeschlossene Idealwelt des Gartens noch wesentlich von Aspekten wie Idylle, Reinheit, Harmonie zwischen den Bewohnern, künstlerischer Vollkommenheit und durch die Einbindung in die Thematik des Verfalls der Familie von dem Zwang gekennzeichnet, einst aufgegeben werden zu müssen, so nimmt Wu Woyaos »Reich der Kultiviertheit« durch ausführliche Hinweise auf die Topographie, geistigmoralische Belange sowie soziale und politische Verhältnisse Züge eines echten Utopia an. Die für das Reich angegebene Fläche von über zweihuntermillionen Quadratmeilen (etwa das Fünfache des von der Qing-Dynastie beherrschten Territoriums) deutet zwar ganz klar außerweltliche Dimensionen an, doch macht die verwaltungstechnische Gliederung in vier nach den Himmelsrichtungen ausgerichteten Regionen, die allesamt mit bestimmten Leitzeichen wie Menschlichkeit, Rechtlichkeit, Sittlichkeit, Klugheit, Respekt, Ritual, Musik, Tapferkeit, Kindespietät, Keuschheit etc. versehen sind Bezüge zur klassischen chinesischen Kosmo962
Ebd., Kap. 20, S. 152f.
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logie deutlich. Die meisten dieser Begriffe bleiben lediglich als Leitvorstellungen einer Idealwelt stehen und werden nicht weiter ausgeführt. Allein der Menschlichkeit kommt eine zentrale Rolle zu. Ausgehend von diesen Grundgegebenheiten, die die autochthonen Traditionen in den Vordergrund schieben, hebt Wu Woyao nunmehr zu einem Rundumschlag gegen die »falsche« Kultiviertheit des Westens an, der sein imperiales Auftreten mit dem Anspruch rechtfertigte, die Welt mit seinen überlegenen geistigen, politischen und technischen Errungenschaften beglücken zu müssen. Nicht nur die Vorzüge der chinesischen Speise werden gepriesen (verbunden mit dem Vorwurf, in der westlichen Küche werde zu viel gebraten und gebacken, Kap. 23), auch die chinesische Medizin bekämpfe Krankheiten erfolgreicher als anderswo, so die Worte des Alten Jugendlichen. Selbst in der Technik hat man im »Reich der Kultiviertheit« den Westen bereits weit hinter sich gelassen, wie Baoyu etwa bei seinen ausgedehnten Reisen in Flugautos, Unterseeboten und Tunnelwagen feststellt. Wu Woyao gibt hier nicht nur seine erstaunlichen Kenntnisse über den aktuellen Stand in der abendländischen Forschung und Entwicklung preis, er läßt zudem auch die Vertrautheit mit Werken Jules Vernes (1828–1905) erkennen. Doch anstatt diese Quellen offenzulegen, wird er vielmehr nicht müde, die eigene chinesische Kulturtradition zu loben, in der sich früh Beispiele für derartige Geräte fänden. Aus dem Munde Baoyus erfährt der Leser, daß es bereits in dem Jahrtausende alten Klassiker der Berge und Meere sowie in Li Ruzhens Blumen im Spiegel Hinweise auf Fluggeräte gebe (Kap. 25).963 Breiten Raum nimmt in den Diskussionen zwischen Baoyu und dem Alten Jugendlichen auch das im »Reich der Kultiviertheit« angewendete politische System ein (Kap. 26). Die Konzepte der drei auf der Welt anzutreffenden politischen Verfassungen der autokratischen Herrschaft (zhuanzhi), der verfassungsmäßigen Herrschaft (lixian) und der republikanischen Herrschaftsform (gonghe) werden einander vergleichend gegenübergestellt. Die beiden letzteren werden aufgrund des Auftretens von Gruppeninteressen, Prinzipienlosigkeit der Regierung, die sich nach den Machtverhältnissen der Parteien zu richten habe sowie drohender Polarisierung verworfen. Im »Reich der Kultur« dagegen favorisiere man, so der Alte Jugendliche, die autokratische Herrschaft mit einem aufgeklärten, von Tugend und Heldentum beseelten Herrscher an der Spitze. »Warum ist das autokratische System nun doch das beste?« fragte Baoyu, »das leuchtet mir nicht ganz ein.« »Es scheint schwieriger, als es in Wirklichkeit ist«, erwiderte der Alte Jugendliche. »Im Grunde müssen sich der Kaiser und die Beamten nur nach zwei Sätzen aus der Großen Lehre richten [...]: ›Was das Volk für wohl befindet, das befürworte man ebenfalls; was das Volk ablehne, das verwerfe man‹.« 963
Vgl. Hinweise auf die technischen Errungenschaften, auf die sich Wu Woyao hier bezieht Nieper: Neun Tode, ein Leben, S. 237.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert Baoyu lachte und sagte: »In der Tat, nur zwei Sätze, doch alles ist darin ent964 halten. Herrscher und Beamte müssen sie nur umsetzen.«
Um die Stimmung und Bedürfnisse unter der Bevölkerung zu erfassen, greift man im »Reich der Kultiviertheit« auf das Mittel der Volksbefragung zurück, an deren Ergebnisse der Kaiser in einer Art imperativen Mandats gebunden ist. Da man die Lehre des Konfuzius verinnerlicht hat, gibt es auch keinen Aberglauben mehr, ganz zu schweigen von anderen Religionen. Den fremdländischen Missionaren ist der Zutritt zum Reich zwar nicht verwehrt, doch finden sie keine Anhänger. Die Berufung auf Konfuzius allein genügt den Ansprüchen der »echten« Kultiviertheit vollauf. In der zentralen Passage, wo Kultur und Unkultur gegenübergestellt werden, heißt es dazu: »Siehst du das Schild dort mit der Aufschrift ›Weg des Konfuzius‹?« fragte der Alte Jugendliche. »Damit wird angedeutet, daß sich in unserem Reich alle nach seiner Lehre richten. Das, was man heutzutage im Ausland mit dem Begriff der Kultiviertheit umschreibt und wofür man sich ausgibt, ist in Wahrheit nichts anderes als Barbarei. Die ganze Welt wird von den fremden Mächten unterdrückt, und doch ahnt man dort nicht, daß wir sie in ihrer Borniertheit nur verlachen. Was ich meine, will ich dir mit einem Gleichnis beschreiben. Zwei Leute gehen auf der Straße. Der eine ist ein prächtiger und vor Kraft strotzender Soldat, der andere ein ausgemergeltes, bemitleidenswertes Geschöpf. Nun versetzt der Soldat den anderen mit seinem kriegerischen Auftreten in Angst und Schrecken, stößt, schlägt und tritt ihn, daß er halbtot liegen bleibt. Nun sage mir eins, war das recht von dem Soldaten, ist sein Verhalten dem eines kultivierten Menschen würdig? Gut, man zerrt ihn womöglich vor ein Gericht, aber dort behauptet er nur: ›Mein Betragen ist überaus kultiviert.‹ Einfach lächerlich. Aber so treten sie nun einmal allesamt auf, diese sogenannten Kulturnationen des Auslands. Kaum haben sie irgendwo auf der Welt ein schwächeres Land ausgemacht, da beginnen sie, es zu demütigen, schlachten die Bewohner dahin und bringen das Territorium an sich. Sie reißen die politische Macht an sich und verkünden, dies geschehe zum Schutze der Menschen. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll darüber. Gemäß dieser Logik müßte es sich bei den Räubern und Banditen um die kultiviertesten Menschen unter uns handeln. Als ob man innerhalb dieser imperialen Staaten nicht auch Räuber und ähnliches Gesindel nach Recht und Gesetz verurteilte! Angenommen, alle Nationen auf der Welt gründeten einen internationalen Gerichtshof und ein überfallenes Land erhöbe dort Anklage, dann 965 würden diese Kulturnationen der Verurteilung als Räuber nicht entgehen!«
Es verwundere daher nicht, so der Alte Jugendliche, daß man im Ausland selbst bei der Verbreitung ihres Glaubens selten nicht vor Gewalt zurückschreckt habe. 964 965
Neue Geschichte des Steins, Kap. 26, S. 200f. Ebd., Kap. 28, S. 220f.
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Dies einmal dahingestellt, seien die Religionen des Westens ohnehin durch unsinniges Beharren auf der Existenz von Himmel und Hölle diskreditiert. Daß im »Reich der Kultiviertheit« ganz auf die Religion verzichtet werden könne, setzt Baoyu in Erstaunen. Selbst Konfuzius verehrt man nicht in Tempeln, sondern lediglich in Form von Statuen, die sich überall finden. Die Frage, wo sich China hier einzuordnen hat, das schließlich der Ursprung der hier zum Ausdruck gebrachten Sitten- und Moralauffassungen ist, von Baoyu nach seiner Abreise vom Blaukammgipfel aber weitgehend als schwächlich und lasterhaft empfunden wurde, muß irgendwann auftauchen. Aufhänger für die Erläuterungen durch den Alten Jugendlichen wird eines der wenigen positiven Erlebnisse Baoyus in Shanghai, wo er nämlich, wie er bekundet, kaum Verbrechen im Zusammenhang mit Trunkenheit festgestellt zu haben glaubt. Die Ursachen dafür sieht sein Führer durch das »Reich der Kultiviertheit« in der Rückbesinnung auf die alten Traditionen und den über die Jahrtausende verfeinerten Charakter der Menschen im Lande. Die lange Geschichte wird hier im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Denkern nicht als Last, sondern als Segen empfunden. »China gehört zu den ältesten Kulturnationen auf der Welt«, sagte der Alte Jugendliche, »es hat seine kulturelle Kraft früh entfaltet. Die ersten Anfänge gehen bis zur Zeit der Drei Kaiser und Fünf Könige zurück. Am Ende der ShangDynastie waren Riten und Musik vollkommen entwickelt, kamen aber noch nicht in vollem Maße zur Blüte, daher die langsame Entwicklung. Diejenigen Länder auf der Erde, die sich heute als Kulturnationen bezeichnen, haben ihre kulturelle Kraft erst recht spät erlangt, sich dafür aber umso schneller entwickelt. Durch seine frühe Entfaltung ist es in China zu einer starken Verfeinerung gekommen, haben die Menschen Riten und Gesetze durch und durch verinnerlicht. Die allgemeine Entwicklung mag bei uns langsamer als anderswo vonstatten gehen, doch die Natur, welche den Menschen in China zu eigen ist, bedingt, daß sie selbst nach dem Alkoholgenuß nicht verrohen und nicht ausfällig werden. [...] In jenen Ländern dagegen, die erst viel später ein gewisses kulturelles Niveau erlangt haben, hat sich die unverfeinerte Natur der Bewohner dagegen nie ganz verdecken lassen. Man machte dort zwar eine rasante Entwicklung durch, bemäntelte sie jedoch stets mit den Begriffen Tugend und Moral, ohne diese wirklich zu verinnerlichen. Die Menschen fühlen sich darob selber unwohl. Wenn sie 966 betrunken sind, können sie ihre wahre Natur daher kaum verbergen.«
Schließlich trifft Baoyu im »Reich der Kultiviertheit« mit der »Kultiviertheit des Ostens« (Dongfang wenming) noch auf eine greise Eminenz, bei der es sich um die oberste moralische Instanz im Lande handelt und die als Ratgeber von noch höherem politischen Einfluß zu sein scheint als der Kaiser selbst. Von seiner Funktion als Leitbild des utopischen Staates in die Nähe des Konfuzius gerückt, 966
Ebd., Kap. 32, S. 254.
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erfüllt die Gestalt im Roman Wu Woyaos vor allem eine allegorische Funktion. Denn hinter »Kultiviertheit des Ostens« verbirgt sich niemand anders als Zhen Baoyu, der Namensvetter unseres Helden aus dem Clan der Jia. Damit jedoch rückt der Verfasser die Begriffe von »wahr« und »falsch« in einen neuen Zusammenhang. Endlich hat auch Baoyu in dem »wahren« »Reich der Kultiviertheit« seine Erfüllung gefunden. Wo so viel Menschlichkeit, Güte und technischer Fortschritt versammelt ist, kommt schließlich auch China in den Genuß von Verbesserungen, so daß der Roman mit positiven Bildern ausklingt. Im Traum begibt sich Baoyu noch einmal nach Shanghai, wo sein Freund Wu Bohui ihm von den Veränderungen berichtet: Überall kommt es zu Versammlungen und Diskussionen gegen erniedrigende Verträge, die der Hof der Qing mit dem Ausland geschlossen hat; den Wandel im Lande wahrnehmend, hat man sich an die Ausarbeitung einer Verfassung gemacht; auf einer Weltfriedenskonferenz schließlich kommen alle Herrscher der Welt gleichberechtigt zusammen, um den Kampf gegen den Imperialismus aufzunehmen. Wieder erwacht, macht sich auch Baoyu, ein ewig Suchender, auf, um endlich das »Dorf der Freiheit« zu finden.
10.3 Die Rückkehr des verlorenen Sohnes – Der Roman Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng) Wir sind auf die Frage, ob Jia Baoyu in Cao Xueqins Traum einen echten Wandel durchmacht, weiter oben bereits kurz eingegangen und dabei zu der Feststellung gelangt, daß er in seinem Wesen gegenüber den Ansprüchen, die vor allem von den Erwachsenen an ihn herangetragen werden, weitgehend indifferent bleibt. Baoyu ist nichts Geringeres als der Auslöser des Verfalls seiner Familie und verweigert nicht zuletzt mit seiner Bindung an einen Idealzustand, der als solcher einen Endpunkt darstellt und keinerlei Veränderung unterliegen sollte, erfolgreich die Aneignung jener Eigenschaften, die zu einer Rettung des Clans beitragen könnten. Sein Rückzug aus der Welt ist dabei wesenhaft nicht das Resultat eines in der Person begründeten Wandels, sondern vielmehr durch den mythischen Kontext von vornherein weitgehend festgelegt: Die Inkarnation des Steins kann bei ihren Erfahrungen in der von Wechselhaftigkeit geprägten Menschenwelt nur scheitern und muß zu ihren Ursprüngen zurückkehren. Einen weit realistischeren Ansatz, die Probleme von Schuld, Verfall und schließlicher Läuterung zu verdeutlichen, wählte nun Li Lüyuan in seinem einhundertundacht Kapitel umfassenden Roman Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng), der bemerkenswerterweise nahezu zeitgleich zu Traum abgefaßt worden ist, ohne daß freilich der eine Verfasser vom anderen gewußt haben dürfte.967 Lis Werk, das mit dem Stoff von der Rückkehr des verlorenen Sohns (bai zi huitou) deutlich 967
Hier bearbeitet nach der dreibändigen Ausgabe Zhengzhou: Zhongzhou shuhuashe 1980.
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Bezüge zur traditionellen Erzählkunst sowie dem Drama aufweist,968 ist dabei mit der Konzentration auf die Geschicke eines einzelnen Helden anders als noch der Traum von viel individuellerem Zuschnitt. Daß der in Laterne angeschlagene Ton dabei wesentlich optimistischer bleibt als im Falle von Caos Roman dürfte nicht unwesentlich mit Li Lüyuans eigener Biographie als leidlich erfolgreichem Beamter zu tun haben, die ihn weitgehend systembejahend argumentieren läßt.969 Li Lüyuan (1707–1790), der mit Geburtsnamen eigentlich Li Haiguan hieß und vor einem bescheidenen bäuerlichen Familienhintergrund aus dem Bezirk Baofeng der Provinz He'nan stammte, bestand im Jahre 1736 die Prüfungen zum Magister.970 Da ihm trotz mehrjähriger Versuche die Erlangung des Doktortitels in der Folge verwehrt blieb, brach er sein Studium schließlich ab und machte sich 1748 an die Abfassung des Romans, von dem er in den kommenden acht Jahren zweiundachtzig Kapitel zu Papier brachte. Gegen 1756 beendete er abrupt die Niederschrift, als ihm die Übertragung eines Amtes für die Inspektion von Wasserstraßen die Pflicht weiter Reisen durch das Reich auferlegte, dem 1772 ein weiterer Landratsposten in der südchinesischen Provinz Guizhou folgte. Erst 1775 sollte Li Lüyuan nach der Niederlegung aller Ämter und der Rückkehr in das heimatliche Baofeng wieder die Zeit finden, sein einst begonnenes literarisches Schaffen, das neben der 1778 fertiggestellten Laterne auch zwei Gedichtsammlungen sowie ein Traktat mit dem Titel »Ermahnungen an die Familie« (Jiaxun zhunyan) umfaßt, zu einem Ende zu bringen. Durch die Erfahrungen, die der Autor nach zwanzig 968
969
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Genannt seien hier beispielsweise Bai Xingjians Tang-zeitliche Erzählung von Li Wa (Liwazhuan), in der sich der junge Held Zhengsheng wegen seiner Kurtisane Liwa zunächst mit seiner Familie entzweit und verarmt, jedoch am Schluß durch Liwas Hilfe wieder zu Ruhm und Ansehen gelangt bzw. das zaju-Drama Dongtanglao bringt einen gefallenen jungen Mann wieder zur Vernunft (Dongtanglao quan pojia zidi), welches aus der YuanZeit stammt und davon berichtet, wie ein junger Mann das elterliche Erbe verschleudert, in der Armut jedoch Reue zeigt und mit der Unterstützung des väterlichen Freundes Dongtanglao wieder zurück auf den rechten Weg findet. Vgl. zur Verarbeitung des Stoffes vom verlorenen Sohn in der chinesischen Literatur auch Meng Fanran: »Bemerkungen zum Roman Laterne an der Wegkreuzung« (Qiludeng zonghengtan), in: Aufsätze zum Roman Laterne an der Wegkreuzung (Qiludeng luncong), hrsg von. Verlag Zhongzhou guji 1984, Bd. 2, S. 192–201. In den folgenden biographischen Angaben über die Person des Verfassers sowie dem Entstehungsprozeß des Romans folgen wir hier weitgehend der Studie von Lucie Borotová: A Confucian Story of the Prodigal Son. Li Lüyuan's novel »Lantern at the crossroads« (Qiludeng, 1777), Bochum: Brockmeyer 1991, S. 5–15. Vgl. dazu auch ergänzend den Aufsatz von Du Guichen: »Einige Bemerkungen zu Laterne an der Wegkreuzung« (Qiludeng jianlun), in: Aufsätze zum Roman Laterne an der Wegkreuzung, Bd. 2, S. 108–126. Wichtige Angaben zu Leben, Werk und familiärem Hintergrund des Li Lüyuan finden sich in der Materialsammlung Luan Xing: Forschungsmaterialien zu »Laterne an der Wegkreuzung« (Qiludeng yanjiu ziliao), o.O.: Zhongzhou shushe 1982, insbesondere S. 101– 155.
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Jahren Amtstätigkeit gesammelt hatte, änderte sich auch die Herangehensweise an den Romanstoff. Während er in dem früheren ersten Teil die Auseinandersetzung mit den Problemen seines Protagonisten Tan Shaowen im Auge hatte, wandte er sich nun in dem späteren Abschnitt viel mehr den Fragen des Beamtenberufs zu. So schildert Li dort etwa die Hintergründe zur Abhaltung von Provinzexamina (Kap. 90–93), Maßnahmen gegen Hungerkatastrophen (Kap. 94) sowie den Kampf gegen japanische Piraten (Kap. 104). Ganz gleich ob es sich um die Unternehmung einer Reise (Kap. 101 und 105) oder den Aufbau einer Bibliothek (Kap. 99) handelt, stets ist die Sicht reifer, wirkt der Ton sicherer und gesetzter. Während Shaowen anfangs in einem stetigen Niedergang begriffen war, erlebt er nun einen ständigen Aufstieg, verbessert sich seine Lage zusehends: Er söhnt sich mit Frau, Dienern und den Freunden aus dem Kreis der Gentry aus und darf berufliche Erfolge verzeichnen. Selbst die vordem negativen Figuren machen einen radikalen Wandel durch, der allerdings nicht immer glaubwürdig ist: Der einst als notorischer Trinker und Zocker verschriene Tan Shaowen zeigt sich plötzlich als besorgter Vater, der seinen Sohn unterrichtet; Sheng Xiqiao bringt es nach der Doktorprüfung zu einer hohen Stellung, und selbst der üble Xia Fengruo tritt einen Magistratsposten an, verhält sich nun auf einmal sehr respektvoll gegenüber Tan. Stilistisch wirkt der Roman nun lange nicht mehr so ausgefeilt wie zu Beginn. Der Vergleich mit Goethes nur wenig später (1795/96) verfaßtem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre drängt sich hier nahezu auf: In Selbsttäuschung glaubt sich Meister zum Schöpfer einer neuen Ära der deutschen Schauspielerkunst berufen, von deren Bedeutung er schwärmerische Vorstellungen hat. Meister reift, »bildet« sich dabei jedoch: durch Irrtum gelangt er zur Erkenntnis, durch Fehl zur Vervollkommnung, und mittels weiser Selbstbeschränkung kommt er zur Freiheit. Um zum wahren Inhalt des Lebens vorzustoßen, muß Wilhelm seinen Durchgang durch die Kunst nehmen. Er verläßt die Welt des schönen Scheins, die Bühne, will die Befriedigung seines menschlichen Strebens in der wirklichen Welt. Bei Goethe ist die Ausbildung des einzelnen Menschen ein Beispiel der großen allgemeinen Regel. Die Lehrjahre schließen damit, daß der bürgerliche Wilhelm von der adligen Gesellschaft, in der die geistige, harmonische Ausbildung der Persönlichkeit allein entscheidet, als ebenbürtig anerkannt wird. Im Gegensatz dazu findet Tan Shaowen die verhaltensgerechten Normen bereits vor. Anders als Wilhelm, der sucht, muß Tan zurückfinden in die moralische Welt der Väter. Tan wirkt bei allem unbeteiligt, zeigt zu nichts eine Affinität. Kunst und Theater sind in Goethes Werk eine Station auf der Suche, bei Tan eine Station auf dem Weg nach unten. Die Milieus ähneln sich: Wilhelm Meister schließt sich der Schauspieltruppe an, Tan Shaowen nimmt Schauspieler bei sich auf, doch ist bei ihm nichts freiwillig, zu allem wird er gedrängt, von sich aus unternimmt er nichts, um die Kunst zu entdecken. Er ist ein typisches Beispiel für den im Wandel befindlichen Helden, der zu schnell vom Schlechten verführt wird und sich vom Guten lange Zeit nicht ergriffen zeigt.
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Ähnlich wie dem Traum der Roten Kammer blieb auch Laterne die Anerkennung durch die Gelehrtenwelt zunächst geraume Zeit versagt.971 Der Roman kursierte anfangs lediglich in Manuskriptform unter Lesern aus der Heimatregion des Verfassers und sollte erst 1924 als vollständiger Neudruck erscheinen, gefolgt von einer gekürzten Fassung, die der bekannte chinesische Geisteswissenschaftler Feng Youlan (1895–1990) 1927 gemeinsam mit seiner Schwester herausgab. Das einige Jahre andauernde Interesse an dem Werk, das zeitgenössische Literaturwissenschaftler wie Guo Shaoyu und Zhu Ziqing zu Untersuchungen darüber veranlaßte, erlosch jedoch bald wieder für mehrere Jahrzehnte. Über die Gründe hierfür vermag man nur vage Spekulationen anzustellen. Möglicherweise lag es an dem streng an konfuzianischen Grundsätzen ausgerichteten Inhalt, der das Buch als altertümelnd und trocken erscheinen ließ. Sicherlich spielte auch der Lesergeschmack dabei ein Rolle, war doch Laterne durch den weitgehenden Verzicht auf die Liebesthematik für viele von geringerer Anziehungskraft als der Traum und zog weniger Zeit- und Kulturkritiker in den Bann als zum Beispiel Wu Jingzis auf eine Abrechnung mit dem traditionellen Beamtenwesen hin angelegter Roman Die Gelehrten.972 Es sollte bis zum Jahr 1980 dauern, daß endlich eine moderne, d.h. interpungierte und mit Anmerkungen versehene Fassung der Laterne erschien, gefolgt von mehreren Bänden mit wissenschaftlichen Aufsätzen zu dem Werk. Das neu erwachte Interesse an dem Roman gipfelte neben der Gleichstellung mit dem Jin Ping Mei, dem Traum und den Gelehrten sowie der Wertschätzung als hervorragendes Beispiel für die umgangssprachliche Literatur mit starken Einflüssen der Mundart aus He'nan, das den Lebensverhältnissen der einfachen Menschen breiten Raum gewähre in der Einschätzung, Laterne sei aufgrund seiner Stringenz und Einheitlichkeit der einzige echte unter den klassischen chinesischen Romanen.973 Wenden wir uns nach diesen einleitenden Bemerkungen nunmehr dem Werk selber zu. Es fällt auf, daß es bei einer deutlichen Dreiteilung in dem ersten Abschnitt (Kap. 1–12) die Hintergründe zum Abstieg des Protagonisten aufarbeitet und spiegelbildlich dazu in dem letzten Komplex (Kap. 83–108) Gründe und Wege zum letztendlichen Erfolg aufzeigt. Der umfassende dazwischenliegende Teil (Kap. 13–82) beschreibt in außergewöhnlicher Akribie mit nahezu kapitelweiser Steigerung der Schlechtigkeit des Anti-Helden dessen moralischen Niedergang. Das Bild der Passivität, der Ziellosigkeit, Unentschlossenheit und Gleichgültigkeit, das Tan Shaowen dabei abgibt, unterstreicht, wie hilflos er dem Verfallsprozeß gegenübersteht. Ohne ihn von einem gehörigen Maß an Schuld freizusprechen, 971 972
973
Zur Textgeschichte des Romans vgl. Mc Mahon: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 223f. Vgl. dazu Hu Shihou: »Einige Gründe, warum Laterne an der Wegkreuzung lange Zeit keine Beachtung fand« (Qiludeng heyi zaoshou lengyu he liuchuan bu chuo), in: Aufsätze zum Roman Laterne an der Wegkreuzung, Bd. 2, S. 93–106. Vgl. Meng Fanran: »Bemerkungen zum Roman Laterne an der Wegkreuzung«, S. 200.
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nimmt Li Lüyuan den jungen Mann jedoch gleichzeitig durch Hinweise auf eine veranlagungsbedingte Schwäche sowie auf das Versagen von Eltern und Freunden aus der alleine ihm zuzuschreibenden Verantwortung, indem er gleich zu Beginn hervorhebt: Es heißt, daß die Gründe für den Erfolg oder den Mißerfolg eines Menschen im Leben vor allem in seiner Jugend zu suchen sind. Im allgemeinen verhält es sich so, daß die, die erfolgreich sind, von ehrlicher, aufrichtiger Natur sind und einen lauteren Charakter haben. Von klein auf läßt man ihnen eine strenge Erziehung angedeihen. Bei den Verwandten und Mitschülern in ihrer Umgebung handelt es sich durchweg um anständige Menschen, die ihnen mahnend den rechten Weg weisen. Es ist wie bei einem Baum, der mit seinen starken, tief in das Erdreich langenden Wurzeln die Nährstoffe erhält, um reiche Blüten zu treiben. Wer dagegen im Leben scheitert, der hat in der Regel zuvor sein Talent früh für Nichtigkeiten vergeudet, der läßt sich auf nichts ein, hat ein flatterhaftes Wesen, und die Ermahnungen durch den Vater sowie ältere Geschwister und Freunde rühren ihn nicht an, gelangen nicht tiefer auf den Grund seiner Seele als Wasser, das man über einen Stein gießt. Begegnungen mit aufrichtigen, älteren Menschen sind ihnen stets eine Qual, sie fühlen sich dabei wie jemand, der auf einem Nagelbrett sitzt. Viel lieber suchen sie die Gesellschaft von Nichtsnutzen, lassen sich von ihnen verführen, daß niemand sie mehr retten kann. Aus diesem Grunde sagt man seit alters her nicht umsonst: »Erfolg zu haben ist so schwierig wie in den Himmel hinaufzusteigen, scheitern dagegen so einfach wie ein Haar zu versengen.« Diese Worte sind aus Sorge und Anteilnahme gesprochen, man möge sie wohl beherzigen. In der Realität verhält es sich meist so, daß Väter sowie ältere Geschwister und Freunde sich meist sorgen, während sich Söhne und jüngere 974 Menschen im allgemeinen nicht weiter um diese Ermahnungen scheren.
Stets, so die mahnende Intention Li Lüyuans, die bereits einer Interpretation des Buchtitels zu entnehmen ist, sei der Mensch in den entscheidenden Augenblicken seines Lebens (eben an den »Wegkreuzungen«) gehalten, sein Verhalten an den vorhandenen moralischen Kräften (angedeutet durch das Lichtsymbol der »Laterne«) zu orientieren.975 Auch Tan Shaowen gibt aufgrund seiner Herkunft zunächst Anlaß zu den höchsten Hoffnungen, wächst er doch im Kreise Xiangfu der Präfektur Kaifeng zur Zeit der Devise Jiajing (1522–1566) in sehr behüteten Verhältnissen auf. Sein Vater Tan Xiaoyi ist ein aufrechter und wohlhabender Mann und wie seine Freunde Lou Qianzhai, Kong Yunxuan (der spätere Schwiegervater Shaowens), Cheng Songshu, Su Linchen und Zhang Loucun Inhaber des BakkalaureusTitels.976 Diese Männer werden sich nach dem Tode Xiaoyis in zwar aufrichtiger 974 975 976
Laterne an der Wegkreuzung, Kap. 1, Bd. 1, S. 1. Vgl. zu dieser Deutung Borotová: A Confucian Story of the Prodigal Son, S. 2. In einigen dieser ehrbaren Männer sind Züge von Gelehrten aus der Umgebung Li Lüyuans erkennbar. Vgl. ebd., S. 6.
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Form, jedoch lange Zeit erfolglos um die Läuterung des einzigen Familiensprosses Shaowen bemühen. Auch der Hintergrund von Frau Wang, der Mutter des Jungen, welcher in den ersten Kapiteln unter seinem Rufnamen »Duanfu'r« auftritt, läßt wenig zu wünschen übrig, stammt sie doch aus einer Gelehrtenfamilie. Selbst Shaowen gibt anfänglich wenig Anlaß zur Klage, ist er doch fleißig im Studium und beherrscht im frühen Alter von sieben Jahren, in dem ihn der Leser kennenlernt, bereits die konfuzianischen Klassiker. Die Ausgangslage könnte also günstiger nicht sein, und doch lassen die Anlagen des Kindes, die es während der Abwesenheit des Vaters zu erkennen gibt, nichts Gutes ahnen, wie folgende kurze Szene zeigt: Es zeigte sich, daß sich Duanfu'r nach der Abreise von Xiaoyi viel draußen herumtrieb und mit den Kindern aus der Nachbarschaft spielte. Meist war er dann bei Einbruch der Dämmerung wieder daheim, doch es geschah auch des öfteren, daß er erst eintraf, nachdem man in den Häusern bereits die Lampen angezündet hatte. Frau Wang dachte sich nicht viel dabei, war doch Duanfu'r stets mit den Kindern der Familien beisammen, die in der Gasse hinter dem Seiteneingang des Anwesens wohnten. An diesem Abend war Duanfu'r zum Haus der Familie Zheng geeilt, wo ihn die Kinder lautstark willkommen hießen. Bald gaben die Frauen Früchte und Süßigkeiten an die Kinder, unter dem Mondlicht versammelte man sich in dem kleinen Hof zum Spielen. Duanfu'r war so in das Spiel vertieft, daß er sich gar nicht um die bereits ausgerufene Nachtstunde kümmerte und nicht ans Heimgehen dachte. Der Zufall wollte es, daß just zu dieser Zeit Xiaoyi daheim eintraf. Frau Wang freute sich so über die Rückkehr des Gatten, daß sie selbst den Sohn für eine Weile vergaß. Als Xiaoyi sich nach dem Jungen erkundigte, nahm sie an, er sei bereits im Innenhof und inspiziere womöglich das Reisegepäck des Vaters, doch als Dexi mitteilte, dort sei der Junge nicht, wurde sie unsicher, rief mit unterdrückter Stimme: »Er wird doch nicht immer noch im Hof bei den Nachbarn spielen?« Fassungslos, die Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen, starrte Xiaoyi sie an: »Um diese Zeit!?« »Aber es ist doch gerade erst dunkel geworden«, verteidigte sich Frau Wang. Xiaoyi mußte unwillkürlich daran denken, wie die Jungen der Verwandtschaft in Dantu um diese Zeit beim Studium über ihren Büchern saßen. Er seufzte und dachte: »Wie mag es hier nur am Tage zugehen, wenn er schon bei Einbruch der Dunkelheit nicht zur rechten Zeit heimkehrt. Ist es schon heute so, wie dann erst während der übrigen Zeit meiner Abwesenheit?« Er grübelte noch, als Duanfu'r plötzlich hinter dem Rücken von Zhao Da'r in der Türe auftauchte. Zhao hatte die mißmutigen Worte des Herrn vernommen und war sogleich zu den Zhengs geeilt, um Duanfu'r heimzuholen. Xiaoyi war wütend, weil die Mutter dem Jungen zuviel durchgehen ließ. Außerdem machte er sich Vorwürfe, nicht schon lange einen Lehrer für Duanfu'r angestellt zu haben. Als er den Sohn sah, sprang er zornig auf und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Duanfu'r brach in Tränen aus, der Vater befahl ihm, niederzuknien. »Er ist doch noch ein Kind«, verteidigte die Mutter den Jungen, »außerdem war er nur einen Moment lang fort. Jetzt bist du gerade hier und schon so böse.« Kaum hatte Duanfu'r die beschwichtigenden
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert Worte der Mutter gehört, weinte er gleich drauflos. Xiaoyi hob den Arm, um nach dem Kind zu schlagen, doch dieses zwängte sich laut schluchzend zwischen die Frauen. Der Anblick machte Xiaoyi nur noch wütender, doch in diesem Augenblick hörte man, wie Wang Zhong vom Eingang her rief: »Draußen am Tor steht 977 ein Besucher, Herr Zheng ist es, der Ihnen seine Aufwartung machen möchte.«
Die Szene erinnert frappierend stark an den Abschnitt im Traum, wo Baoyu die grausame Züchtigung durch den Vater über sich ergehen lassen muß. Vater Tan Xiaoyi in Laterne ist hier und im folgenden im Grunde wenig anzulasten, führen ihn doch berufliche Verpflichtungen immer wieder längere Zeit in die Ferne. So sorgt er zwar vor seinem erneuten Aufbruch in die Hauptstadt, wo er zwei Jahre in der Hoffnung verbringen wird, ein Amt zugewiesen zu bekommen, dafür, daß Shaowen Unterricht im Hause seines Freundes Lou erhält, doch auf die folgenden Entwicklungen hat er keinerlei Einfluß. Wer ist schuld, wenn in einer Phase, da der »emotionale Charakter des Sohnes noch nicht voll ausgeprägt ist und das Kind nicht über gründliche Erfahrungen verfügt« das Regulativ fehlt?978 Die Frage zielt im Roman nach Lage der Dinge zwangsläufig auf die Mutter. Die Eingangsszene zum Roman weist sie als liebevolle und besorgte Frau aus, die dem Jungen auch im weiteren Leben mit allzuviel Nachsicht und ohne jede Strenge begegnen wird. Es spricht für Shaowens späteren Reifungsprozeß, daß er selbst (nunmehr bereits im Aufstieg begriffen) der Mutter ihre allzu große Liebe ihm gegenüber zum Vorwurf machen wird: »[...] Mutter, du hast mich allzusehr geliebt und dabei verdorben«, klagte Shaowen. »War es etwa ein Fehler, dir all meine Liebe zu geben?« fragte Frau Wang erstaunt. »Es gibt wohl keine Mutter auf der Welt, die ihr Kind nicht aufrichtig liebte.«, entgegnete Shaowen. »Dennoch ist es angebrachter, einem Kind in der Erziehung mit Strenge zu begegnen. Nimm nur einmal den Vater, ein Mann von echter Bildung. Er hatte ganz recht mit seiner Unnachgiebigkeit. Auch seine Freunde haben als aufrechte und anständige Herren ihren Söhnen in strenger Weise eine umfassende Bildung angedeihen lassen. Wächst ein Kind dagegen allein an der Seite einer liebevollen und gütigen Mutter auf, dann sind Übel nur zu vermeiden, wenn es von Natur aus dümmlich ist. Ein aufgeweckter und intelligenter Junge dagegen nimmt an der Seite einer solchen Mutter schnell 979 Schaden. [...]«
Abgesehen von Shaowens späterer erster Gattin Kong Huiniang, die sich stets bemühen wird, ihn innerhalb des familiären Rahmens einer Besserung zu unter977 978 979
Laterne an der Wegkreuzung, Kap. 1, Bd. 1, S. 9f. Ebd., Kap. 21, Bd. 1, S. 209. Ebd., Kap. 86, Bd. 3, S. 816f.
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werfen, bleibt das Bild der meisten übrigen Frauen im Roman einschließlich Mutter Wang negativ. Entweder sind sie zu nachsichtig und nicht in der Lage, dem Kind mit der notwendigen Strenge zu begegnen, oder sie sorgen aufgrund ihrer zerstörerischen Natur für Unfrieden, von den Abgründen der Sinnlichkeit, in die einige von ihnen den unbedarften jungen Mann mit ihrem lasziven Verhalten ziehen ganz zu schweigen. Li Lüyuans folgerichtiger Schluß: Verehrter Leser, es hat mir den Anschein, als erfreue sich der Mensch in seiner Jugend vor allem des Umgangs mit seinen nächsten Verwandten: Da sind vor allem Vater und Sohn, ältere und jüngere Brüder. Hat man dann erst eine Gattin im Hause, dann werden sich Vater und Sohn plötzlich fremd, werden aus Gebrüdern auf einmal Feinde. Daher halte man sich bei der Regelung von Familienangelegenheiten stets an den Grundsatz, nie auf das Gerede der Frauen zu achten. Sollte eine Frau jedoch so tugendhaft sein wie Huiniang, die den Gatten zur Ehrerbietung gegenüber den Eltern anhält und auf ein harmonisches Verhältnis unter den Geschwistern achtet, dann ist es durchaus kein Fehler, alles mit ihr zu 980 besprechen.
Mutter Wangs erster großer Fehler nach der Abwesenheit ihres Gatten ist es, bei der Wahl des ins Haus aufgenommenen Lehrers für Shaowen nicht das rechte Augenmaß zu beweisen. Zwar muß sie sich Vorhaltungen des treuen Dieners Wang Zhong gefallen lassen, der in der Folge immer wieder Shaowen aus der Not retten wird, doch ihrer Bewunderung für den zwielichtigen Gelehrten Hou Zhongyou tut das keinen Abbruch. Hou hat seine eigene Heimat aufgrund geschäftlicher Unregelmäßigkeiten sowie hoher Schulden verlassen und in Xiangfu Unterschlupf bei Verwandten gefunden, die ihm die Lehrerstelle im Hause Tan vermitteln. So legt er auch keinen großen Wert auf die Klassiker, interessiert sich dagegen sehr für Horoskope und betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Kenntnis von den Himmels- und Erdstämmen, dem Yin und Yang etc. Frau Wang ist von dieser Art des »lebendigen Lernens« (huoxue) begeistert. Entsprechend lax bleibt die Unterrichtsmoral, gelangweilt (men) nimmt Shaowen bald an den zahlreichen Zerstreuungen (le) seines neuen Tutors teil, womit zwei wesentliche Grundzüge unseres Helden in seiner psychologischen Entwicklung während dieser frühen Phase erkennbar werden. Ohne die richtige Anleitung wird er zum Verführten, begibt sich in Gesellschaft Hous zu Tempelfesten und nimmt an Ausflügen in die Umgebung des Ortes teil. Die Mutter, in ständiger Sorge, das Kind könne von dem vielen Lernen krank werden, stimmt in allem zu. Angesichts dieser Umstände nimmt Tan Xiaoyi die lobenden Schilderungen Hous nach seiner vorzeitigen Rückkehr aus der Hauptstadt, zu der er sich aus Sorge um die Familie und seiner angegriffenen Gesundheit entschlossen hat, sehr reserviert auf. Die beiden Männer diskutieren über den Wert der Lektüre von traditionellen Werken der Erziehung zu 980
Ebd., Kap. 36, Bd. 2, S. 332.
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Moral und Sitte. Mit Erstaunen muß sich Herr Tan von dem Tutoren sagen lassen, daß die Dichtkunst mit ihrem großen Fundus an konkreten Lebensweisheiten im Unterricht vorzuziehen sei. Bei der Inspektion des Studiertisches von Shaowen fällt Tan Xiaoyi eine bebilderte Ausgabe der Liebesgeschichte vom Westzimmer in die Hände. Auf die Frage nach dem Sinn dieses Buches antwortet Lehrer Hou, daran lasse sich sehr gut Stil und Struktur beim Schreiben erläutern, das Werk enthalte reiche Darstellungen aus ganz verschiedenen Bereichen wie Klosterleben, militärischen Auseinandersetzungen etc. Herr Tan nickt wenig überzeugt, ahnt, daß sein Sohn durch diese Lektüre verdorben wird. Von dem Kopfnicken des Herrn Tan ermutigt, offenbart Lehrer Hou seinen weiteren Lehrplan, kündigt für die Zeit nach dem Abschluß der Lektüre des Westzimmers die des Jin Ping Mei an. Tan, der den Roman nicht kennt, wird er als Meisterwerk in der Tradition uralter Erzählsammlungen wie Überlieferung des Zuo (Zuozhuan) und den Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) von Sima Qian geschildert, in dem sich Szenen des »wärmsten Empfangs« und der »kühlsten Abweisung« fänden. Der Anblick des scheinbar ohne Interesse seinem Studium folgenden Sohnes versetzt Herrn Tan in Sorge. Als er schließlich doch noch Einblick in das Werk zweifelhaften Ruhms erhält, kommt es zur Katastrophe. Herr Tan war am kommenden Tag soeben bei der Morgentoilette und kleidete sich gerade an, um den Freunden einen Gegenbesuch abzustatten, als plötzlich Duanfu'r mit einem Buch in den Armen herbeilief und vor ihn trat. Tan Xiaoyi nahm das Buch, warf einen Blick auf den Titel Jin Ping Mei und fragte: »Wer hat dich geheißen, daß du mir das bringen sollst?« »Lehrer Hou hat mir gesagt, es dir einmal zu zeigen«, erwiderte Duanfu'r, »er meinte, du kenntest es nicht und würdest dich vielleicht dafür interessieren.« Herr Tan schlug das Buch auf und überflog ein paar Seiten, als er plötzlich ein fürchterliches Stechen in der Magengegend verspürte und ohnmächtig zusammenbrach. Frau Wang stürzte herbei, um den Gatten zu stützen und ihn auf sein Lager zu betten, wo er sich stöhnend 981 hin und her wälzte. Sein altes Magenleiden war wieder ausgebrochen.
Als Tan Xiaoyi kurz darauf stirbt, ist Shaowen gerade einmal dreizehn Jahre alt. Bei der vorstehend geschilderten Szene handelt es sich um ein eindrucksvolles Beispiel für Literaturbetrachtungen innerhalb der Literatur, die eine differenzierte Sicht in bezug auf die Entwicklung des Erzählgenres andeuten. Der Verfasser des vor dem Hintergrund konfuzianischer Grundsätze geschriebenen xiaoshuo-Werkes Laterne verurteilt den erotischen xiaoshuo-Roman Jin Ping Mei. Die letzten Worte des Vaters, fleißig zu studieren und die Gesellschaft fleißiger Menschen zu suchen, wird der Junge freilich leider nicht beherzigen. Der strengen Aufsicht entbunden, gibt er das Studium alsbald auf und erfährt erstmals die Freuden der Liebe mit einem als Dienerin ins Haus aufgenommenen Mädchen 981
Ebd., Kap. 11, Bd. 1, S. 123.
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namens Bingmei, die ihm später einen Sohn schenken wird. Dennoch schwingen die Ermahnungen des alten Xiaoyi gerade in der frühen Phase seines Abstiegs in die Gefilde des Spiels, der Gelage und der Trunksucht immer wieder mit. Während der ersten unerlaubten Unternehmungen außer Haus errötet er, zeigt Bedenken und besitzt noch Skrupel. Selbst als er die gesamte Familie später nahezu vollkommen zugrunde gerichtet hat, ist sein Gewissen noch nicht verloren. Wie stark der junge Schwerenöter das väterliche Moralgesetz dabei internalisiert zu haben scheint, zeigen seine schweren Träume nach den Vergehen, in denen ihn die Vergangenheit einzuholen droht. Die dort nie fehlende Gestalt des Vaters symbolisiert die aus alter Zeit überlieferten Vorstellungen von Sitte und Moral. Hierzu ein eindrucksvolles Beispiel: Die Kerze auf dem Tisch war noch nicht ganz heruntergebrannt, in der Ferne hörte man den Gong zur dritten Nachtwache. Shaowen war gerade dabei einzunicken, als plötzlich Wang Zhong mit einem unbekannten Mann an der Seite eintrat. »Hier seid Ihr«, sagte Wang Zhong, »daheim herrscht helle Aufregung, überall sucht man Euch, schnell, macht Euch fertig und kommt mit heim.« Wohl oder übel folgte Tan den beiden, eilig ging es durch die finstere Nacht, es war, als fliege man auf Wolken. Vor dem Tor standen ein paar Männer, doch Shaowen fand nicht die Zeit, sie zu fragen, was sie dort täten. Als sie in den Innenhof traten, sahen sie die Halle hell vom Kerzenlicht erleuchtet. In der Mitte des Saales saß ein hoher Palastbeamter sechsten Grades, die Beamtenmütze auf dem Kopf, den Mantelkragen umgelegt. Die Gestalt flößte Ehrfurcht ein. Shaowen trat näher, kniete nieder und verrichtete den Kotau. Als er schließlich den Blick hob, erkannte er, daß der Mann sein Vater war. Shaowen erstarrte vor Furcht. Der Vater fixierte ihn mit großen Augen und fuhr ihn dann mit wütender Stimme an: »Du mißratenes Stück, hast du vergessen, was ich dich damals hieß: ›Lerne fleißig und suche die Gesellschaft aufrechter Menschen‹. Erinnerst du dich noch dieser Worte?« »Ja«, erwiderte Tan kleinlaut, mit zitternder Stimme. »So«, schimpfte der Vater, »und wie kommt es dann, daß, seit ich nicht mehr unter euch weile und zum Sternbild des Schützen aufgestiegen bin, du auf der faulen Haut liegst, nur noch Wein, Weib und Gesang frönst und das Ansehen deiner Ahnen beschmutzt? Wie kommt es, daß du es mit deiner Klugheit immer noch nicht zum Gelehrten gebracht, dir immer noch keinen Namen gemacht hast? Im Gegenteil, heute bist du gar in einen Todesfall verwickelt. Die Seele des toten Dou ist herabgefahren in die Unterwelt, und man hat Anklage gegen dich erhoben. Mir ist aufgetragen worden, mich dieser Sache anzunehmen. Ich fürchte, du hast nicht mehr lange zu leben.« Mit diesen Worten wandte sich der Vater um und fragte nach dem Gerichtsdiener. Gleich darauf tauchte von der Ostseite der Halle her ein blaugesichtiger Teufel mit roten Haaren auf, in der Hand ein dickes Buch. Er verneigte sich und wartete weitere Befehle ab. »Was steht darauf für eine Strafe, wenn der Sohn die Ermahnungen mißachtet, das Erbe der Ahnen verschleudert?« wollte der Vater von dem Gerichtsdiener wissen. Dieser riß sein riesiges, tellergroßes Maul auf, wobei ihm die Mundwinkel bis zu den Ohren reichten. Mit klarer, heller Stimme verkündete er: »Es gibt dreitausend Gesetze.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert Am schlimmsten ist es, wenn jemand seinen Kindespflichten nicht nachkommt, darauf steht Zweiteilung.« Kaum hatte er geendet, da sprangen auch schon vier weitere Teufel von furchterregendem Anblick herbei, Augen wie glühende Kohlen, aus dem Maul bläulichen Qualm stoßend. Ohne viel Aufhebens warfen sie Tan Shaowen zu Boden und banden ihn mit Stricken. Dann zog einer ein riesiges blitzendes Schwert aus der Scheide, nahm Aufstellung und wartete weitere Befehle ab. Shaowen hatte vor Angst fast die Besinnung verloren. »Ich bin der Vater dieser Brut«, sagte Tan Xiaoyi, »er ist kein gewöhnlicher Verbrecher. Helft ihm auf, ich habe noch einige Fragen an ihn.« Die vier Teufel packten Tan Shaowen, stellten ihn vor den Vater. »Vater!« stieß Shaowen schluchzend hervor, »habe Gnade mit deinem Sohn!« Der Vater erhob sich von seinem Sitz, ging zu Shaowen hinüber und sagte: »Du Brut, du bringst mich um!« Damit beugte er sich herab und biß dem Sohn kräftig in die Schulter. Ein heftiger Schmerz durchfuhr Shaowen. »Vater!« stieß er aus und fuhr aus dem Schlaf. 982 Am ganzen Körper zitternd, umklammerte er das Bein von Xia Fengruo.
Die Jahre vergehen, Shaowen ist nun ein junger Mann von sechzehn Jahren. Bei Lehrer Hou hat er es zu nichts gebracht, so daß man den Mann aufgrund von Ermahnungen durch den väterlichen Freund Lou Qianzhai schließlich entläßt. Den Vorhaltungen der Mutter und des Dieners Wang Zhong begegnet Shaowen jedesmal mit großer Gelassenheit und verspricht großspurig Besserung, ohne jedoch den Worten auch Taten folgen zu lassen. Gemäß der frühen Devise vom »praktischen Lernen« sucht er die Gesellschaft gleichaltriger junger Männer ganz unterschiedlichen sozialen Hintergrundes. Eine der wichtigsten dieser nunmehr ausführlich behandelten Verführergestalten ist der wohlhabende junge Herr Sheng Xiqiao, der auf einflußreiche Männer unter seinen Vorfahren zurückblicken darf. Vom Status her sicher der angemessene Umgang für Shaowen, erweist sich Xiqiao doch als arroganter Mann mit Standesdünkeln, der zudem die üble Leidenschaft des Spiels pflegt, die er auch auf Shaowen übertragen wird. Zu keinem ernsten Gespräch fähig, sucht Xiqiao krankhaft nach Zerstreuung. Jeder Besuch bei Freunden, die ihm nichts bieten können, ist ihm ein Greuel, wie er etwa eines Tages im Hause Shaowens zu erkennen gibt. »Ich muß los, habe daheim noch etwas zu erledigen«, sagte Xiqiao. »Aber wo gibt’s denn so etwas, du bist doch gerade erst gekommen«, protestierte Shaowen. Wieso er es denn so eilig habe, wollte auch Fengruo wissen. »Selbst wenn ihr mich bittet, kann ich nicht länger bleiben«, sagte Xiqiao. »Hier fällt mir die Decke auf den Kopf. Nirgendwo ein Stück auf der Bühne, ein Spiel oder sonst irgend etwas, womit man sich die Zeit vertreiben könnte, bis ihr mit der Bewirtung beginnt.« »Mein Vater war in der Hinsicht stets sehr streng«, erwiderte Shaowen. »Wir haben wirklich keine Spieler im Haus.« »Wie ist es denn mit eurer Dienerschaft?« wollte Xiqiao wissen, »die haben doch sicher das eine 982
Ebd., Kap. 52, Bd. 2, S. 482f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE oder andere, mit dem sie sich die Zeit vertreiben.« Shaowen schüttelte nur den Kopf. »Eine schwierige Sache«, wog Xiqiao den Kopf. »Ich habe wohl ein paar Würfel bei mir«, hob Fengruo vorsichtig an, »aber da ich hier nicht als Spielteufel gelten wollte, habe ich sie nicht hervorgeholt. Außerdem fehlen ein Becher und Spielgeld. Ich glaube, es ist wirklich besser, wir plaudern stattdessen eine Weile.« »Ach was«, rief Xiqiao, »wir haben in den vergangenen Tagen genug geplaudert, los, statt eines Bechers tut es auch ein Schüsselchen.« Baojian warf einen Blick über den Garten und holte eine kleine Schüssel, mit der man normalerweise die Blumen goß. »Tut es das?« wollte er wissen. »Bestens«, erwiderte Xiqiao, und er forderte Xia Fengruo auf, seine Würfel hervorzuholen. Fengruo hob die Kleider hoch und fingerte aus der Gürteltasche sechs Würfel hervor, die er in die Schüssel warf. Xiqiao griff danach und begann zu würfeln, wobei er rief: »So, wenn ihr hier kein Spielgeld habt, dann tun es auch ein paar Schnüre Kupferkäsch. Ach, und ruf doch noch jemand den Wang Longji, zu viert macht das Spiel mehr 983 Spaß.«
Spiegelbildlich wird Li Lüyuan an einer anderen Stelle des Romans auf psychologisch eindrucksvolle Weise die Gefahren und Hintergründe des einmal von der Spielleidenschaft erfaßten Mannes am Beispiel des verarmten Zhang Shengzu darlegen, der sich mittlerweile seinen Lebensunterhalt damit verdient, andere Leute beim Spiel auszunehmen. Wie im Falle Shaowens, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem besessenen, jedoch wenig glücklichen Zocker entwickelt hat und den Spieltisch immer nur vorübergehend nach dort erlebten Katastrophen meidet, sind auch Zhangs Eltern einst zu weich gewesen und konnten sein Abgleiten auf die schiefe Bahn nicht verhindern. Nachdem Xia Fengruo eine Weile geschwiegen hatte, sagte er: »Tan hat sich eben gegen die Zockerei und für seine Studien entschieden, da kann man nichts machen. Sag bloß, du würdest mir tatsächlich zehn Tael geben, selbst wenn ich ihn dir einfach so herschaffe, und er nicht zum Spiel zu überreden ist.« »Da siehst du einmal, was für ein einfältiger Tropf du bist«, lachte Zhang Shengzu. »Selbst solch ein verwöhntes Bürschchen aus gutem Hause wie diesen Tan traust du dir nicht zu, anlocken zu können. Hast du wirklich keine Ahnung, wie es in der Brust eines Zockers aussieht? Nun, dann laß dir folgendes gesagt sein: Ganz sicher vor dem Spiel sind nur zwei Sorten von Menschen – die, bei denen die Eltern von klein auf darauf geachtet haben, daß sie auch nicht einmal in die Nähe von irgendwelchen Spielteufeln kommen und die, die von Natur aus keinen Drang zum Spiel haben. Wer einmal von der Spielleidenschaft gepackt ist, der mag sich noch soviel Mühe geben, es wird ihn immer wieder überkommen, ganz besonders, wenn er unsereins in die Hände gelangt ist. Es mag einer so viel verlieren, daß er das Interesse verliert, vor Armut Hunger leidet, schwört, sich nie wieder an einen Spieltisch zu setzen; es mag einer seinen Sieg über die Auf983
Ebd., Kap. 20, Bd. 1, S. 201f.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert gabe der Spielleidenschaft feiern und vielleicht wirklich monatelang keinen Würfel in die Hand nehmen. Aber letztlich ist es wie bei der Krätze: Man hat sich blutig gerieben, es schmerzt höllisch, man packt das wunde Stück Haut nicht mehr an. Doch kaum ist es ein wenig abgeheilt und juckt, schon kratzt man wieder. Berufsspieler wie unsereins leben schließlich davon, Leute zum Spielen zu bringen. Wir machen denen ein wenig den Mund wässrig, und schon sind sie wieder dabei. Glaub mir, dieser Tan Shaowen hat Blut geleckt, der sitzt nicht zum ersten Mal am Spieltisch. Kümmere du dich darum, mir den Burschen hierher zu schaffen, den Rest überlasse mir. Deine zehn Tael sollst du bekommen, egal ob er spielt oder nicht. Lassen wir es drauf ankommen.« »Hört sich überzeugend an, was du da erzählst«, sagte Xia, »weißt du, mich wundert nur eines: Wieso hast du dein ganzes Vermögen verspielt, wo du dich mit den Tricks und Gefahren des Spiels so gut auskennst?« »Tja«, seufzte Zhang, »soll ich dir sagen, warum ich heute so arm bin wie eine Kirchenmaus: weil mich mein alter Herr verzogen hat als Kind. Dabei waren meine Vorfahren angesehene Beamte. Ich muß vielleicht zehn gewesen sein, als ich einmal zur Zeit des Neujahrsfestes heimlich einer kleinen Gruppe von Leuten zusah, die bei uns daheim ein Spielchen wagten. Meine Mutter hätte mich fast totgeprügelt, als sie mich dabei erwischte, die Spieler waren nahe daran, kurzerhand an die Luft gesetzt zu werden. Haarklein berichtete sie alles dem Vater, als er von seinen Neujahrsbesuchen heimkam. Der alte Herr nahm mich in Schutz, sagte, so ein kleiner Bursche wie ich würde sich wohl zu sehr grämen, wenn man ihn wegen solch einer Sache bestrafte. Ich erinnere noch gut, wie sich die Eltern damals heftig stritten. Jedenfalls war meine Neugier geweckt. Als die Eltern dann gestorben waren, es niemanden mehr gab, der mich hätte zurückhalten können, kam ich dann tatsächlich an die Spielerei. Ich verlor immer mehr, versetzte bald unseren gesamten Hausrat und die Kunstgegenstände. Zu gewinnen gab es nichts, das Geld glitt mir aus den Händen. Nun, da ich gewohnt bin, nur den feinsten Tee zu trinken, in den besten Kleidern herumzulaufen, muß ich eben die Söhne aus den begüterten Familien ausnehmen, um mir meinen Unterhalt zu sichern. Du weißt doch, wie das am Spieltisch ist: Bist du reich, hast du Geld, dann spielst du zum Zeitvertreib, wirst vielleicht ausgenommen. Bist du arm, dann nimmst du die anderen aus. Als jemand, der selber aus einer heruntergekommenen, verarmten Familie stammt, solltest du diese Regeln doch am besten kennen, oder? So, und nun schaff mir den Tan herbei, deine zehn Tael Botenlohn sollst du haben, sobald er dieses Lokal betritt.« Bedächtig wog Xia den Kopf. »Ich fürchte, da kann man nichts 984 machen.«
Die wohl negativste Gestalt des ganzen Romans ist der in den übersetzten Textauszügen bereits mehrmals genannte Xia Fengruo, der Shaowen in die Halbwelt des Lasters einführen wird. Auch sein Schicksal ist in Laterne eindringlich beschrieben, so daß man folgendes erfährt: 984
Ebd., Kap. 42, Bd. 2, S. 390f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE Verehrter Leser, Sie werden fragen, um wen es sich bei diesem Zuschauer handelte. Nun, darüber sind durchaus ein paar Worte zu verlieren. Der Mann hieß mit Namen Xia Fengruo, war aber mit Blick auf seine Eigenschaft, sich bei den Wohlhabenden einzuschmeicheln und stets ihre Nähe zu suchen gemeinhin unter dem Spitznamen »Kletterpflanze« bekannt. Sein Vater hatte einen kleinen Beamtenposten im Süden innegehabt, es aber zu beträchtlichem Wohlstand gebracht, wobei das Geld überwiegend aus dunklen Quellen stammte. Der Alte hatte gehofft, daß sein Reichtum den Nachkommen einmal ein gutes Auskommen ermöglichen würde. Es sollte sich jedoch bald herausstellen, daß das Geld so schnell, wie er es verdient hatte auch wieder ausgegeben war, fiel es doch in die Hände des jungen Herrn Xia Fengruo, der im Leben nichts mehr liebte, als aufwendig zu speisen und zu trinken und gerne die Bordelle besuchte. Nach wenigen Jahren war das Vermögen daher weitgehend aufgebraucht, doch Xia Fengruo war ein gerissener Kerl, der es verstand, sich in den Häusern der Reichen und in den Ämtern des Yamen interessant zu machen und dabei stets so viel Geld ab985 zustauben, daß er seine Mutter unterstützen und ein Heim unterhalten konnte.
In seiner Eigenschaft als überzeugter Hedonist kommt Xia Fengruo ein wesentlicher Anteil daran zu, Shaowen von der »Spaßphilosophie« zu überzeugen. Das Leben, so der Tenor seiner Rede, sei viel zu kurz, um sich mit den vielen lästigen Pflichten des Studiums und des Broterwerbs herumzuschlagen. Sterben müßten wir alle einmal, egal ob starr und aufrichtig der gelehrigen Tradition verhaftet oder die Freuden des Lebens genießend. Was bringe es, wenn eines Vorbildes an Moral und Sittlichkeit nach dessen Tode nur auf Stelen und in Schriften gedacht werde. Hätten nicht schon die Alten die Wichtigkeit der Vergnügungen betont (rensheng xing le er)? Er, Fengruo, ziehe es vor, die zubemessene Zeit gemeinsam mit den Freunden zu verbringen und einfach in den Tag hineinzuleben.986 Zwar ist Tan Shaowen geraume Zeit darum bemüht, sein zunehmend ausschweifendes Leben vor der Familie geheimzuhalten, will er das eigene Heim doch rein halten und nicht beflecken, doch kommt es auch hier zu einem Einbruch, als er sich eines Tages, angestachelt von den Vorhaltungen seiner Freunde, dazu entschließt, dem Impresario Mao Boruo und seiner Schauspieltruppe vorübergehend Quartier in den Häusern des Anwesens zu gewähren. Das fahrende Volk sorgt in der Folge für viel Unruhe. Zeitgleich zu der fragwürdigen Hilfsbereitschaft des jungen Herren legen sich auch seine Zechgenossen immer weniger Zurückhaltung gegenüber der einst angesehenen Familie auf. Eines Tages erscheint in dem »Falschen Li Kui« ein skrupelloser Geldeintreiber, der auf die Begleichung von Shaowens Spielschulden bei Zhang Shengzu drängt. Wie im Falle des Traums gewinnt auch hier die Peripherie mehr und mehr Macht über die Menschen im Hause Tan. Die entsetzte Mutter Wang ahnt, daß ihr die Dinge zu entgleiten drohen. 985 986
Ebd., Kap. 18, Bd. 1, S. 188. Die Ausführungen Xias finden sich ebd., Kap. 21, S. 209.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert
Das ausschweifende Treiben Tan Shaowens zieht bald immer größere Kreise. Erstmals werden die finanziellen Belastungen durch die unentwegt aufzubringenden Spielschulden sowie die aufwendig gestaltete Hochzeit mit Kong Huiniang spürbar. Shaowen wird immer erfinderischer, um Gelegenheiten zu finden, dem Spiel zu frönen. In einer geschickt angelegten Aktion seiner falschen Freunde läßt er sich unter dem Vorwand, im Erdtempel eine Kalligraphie anzufertigen, aus der sicheren häuslichen Umgebung locken, trifft »zufällig« auf Zhang und ist schnell zu einem Würfelspiel überredet. Die fünfhundert Tael Silber, die Shaowen dabei verliert, sind der absolute Höhepunkt seiner verlustreichen Karriere als Zocker. Da er keine Möglichkeit sieht, die Schulden innerhalb der versprochenen Frist von drei Tagen zu begleichen, entschließt er sich in scheinbar auswegloser Lage zur Flucht. Die Hintergründe und Szenen dieses Aufbruchs sind in der frühen chinesischen Erzählliteratur wohl einzig im Entwurf des Bildes von einem freilich nicht ganz freiwillig handelnden »Aussteiger«. Das Motiv der Reise und Wegsuche ist anderen Romanen der Zeit selbstverständlich nicht fremd, findet sich dort jedoch zumeist vor einem abenteuerlichen Hintergrund, wie wir im Abschnitt über den Ritter- und Abenteuerroman gesehen haben, von der »mythischen« Reise wie zum Beispiel der Reise in den Westen einmal ganz zu schweigen. In den Werken des Genres, das wir hier behandeln, stellt der Aufbruch dagegen etwas vollkommen Neues dar. Die traditionelle Bindung eines jungen Mannes vom Stande des Tan Shaowen an Haus und Familie lassen den unbegründeten Aufbruch in eine ungewisse Ferne gar nicht zu. Erstaunlich, wie klar Li Lüyuan hier die einzelnen Schritte angefangen von dem Antrieb durch die »Not des Gewissens« über das Scheitern und die vorübergehende Katharsis seines Helden am Weg-Thema darzustellen vermag. Leider ist hier nicht der Platz, die ein ganzes Kapitel beanspruchenden Ereignisse der Reise vollständig wiederzugeben, doch ein Ausschnitt davon mag wenigstens einen Eindruck von der entwickelten Dramatik vermitteln. Tan Shaowen verabschiedete sich von den übrigen Spielern und trat aus dem Haus des Zhang. Mit einem Mal wurde ihm das ganze Elend seiner Lage bewußt, all die Freude, der Spaß und die Heiterkeit vom Vorabend waren verflogen. Eine Mischung aus Bedauern, Kummer, Reue, Furcht, Entsetzen, Sorgen, Selbstvorwürfen und Panik hatte ihn ergriffen. Er wußte weder ein noch aus. Plötzlich hatte er nur noch einen Gedanken: Flucht. Als Tan Shaowen aus dem Anwesen Zhangs auf die Straße trat, hörte er, wie ihn jemand ansprach. »Ein Esel gefällig für den Weg, der Herr?« »Kommt mir gerade recht«, sagte Tan, worauf ihn der Treiber fragte, wohin er wolle. Unwillkürlich stockte Tan, hatte er doch keine Vorstellung, wohin er sich wenden sollte. Nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte, stieß er erregt hervor: »Nach Bozhou!« Der Treiber winkte ab. »Zu weit«, sagte er, besann sich aber nach einem Augenblick und fügte hinzu: »Es sei denn, sie lassen für den Weg ein wenig mehr springen.« Schnell hatten sie sich auf den Preis geeinigt und auch den Nachtwächter hinter sich gelassen. Der Treiber hielt an und sagte: »Ich bringe Sie zu Ihrem Quartier, um das Gepäck zu holen.«
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DIE WELT DER GEFÜHLE »Ich habe kein Gepäck«, erwiderte Tan und fügte hinzu, am Ort kein Quartier bezogen zu haben. Der Eseltreiber hieß Bai wie es für »hell, leuchtend« benutzt wird. Sein Spitzname war Bai Rihuang, was soviel bedeutete wie »Hell wie der leuchtende Tag«, und er war ein arger Pfennigfuchser unter den Eseltreibern in der Stadt. Im Volksmund hieß es nicht umsonst, daß Bootsleute, Yamen-Diener, Verkäufer, Treiber und Viehhändler durchweg gerissen waren und eine Menge auf dem Kasten hatten. Bei Preisverhandlungen stellten sie stets überhöhte Forderungen, um ihre Vorstellungen am Ende durchzusetzen. Ein junger Studiosus wie unser Tan Shaowen wußte von alledem freilich nichts. Treiber Bai also maß Tan mit seinem Blick und sagte dann: »Darf man fragen, was der junge Herr in Bozhou wünscht?« »Ich will meinen Onkel besuchen.« »Wer ist denn der werte Herr?« »Mein Onkel heißt Wang mit Zunamen und nennt sich Chunsheng, er wohnt am Osttor.« »Ist das möglich, der verehrte Onkel Wang Chunsheng«, rief Treiber Bai aus, »ich bringe ihn oft nach Bozhou. Er hat hier viel mit den Händlern am Südtor, vor allem dem Zhou Xiaochuan in der Dingzi-Straße zu tun. Nein so was, Ihr Onkel ist mir gut bekannt, kommen Sie, ich bringe Sie hin. Es ist nur, daß Sie auch gar kein Gepäck mit sich führen. Eine Decke für die Herberge müßten Sie schon dabeihaben. Auch ein wenig Kleidung würde trotz der milden Witterung nicht schaden. Wenn Sie alles beisammen haben, könnten wir sofort aufbrechen.« »Tja,...ich weiß nicht...«, bemerkte Tan stockend, »ich glaube, ich habe es mir doch anders überlegt und fahre wohl eher nicht.« »Na sowas«, rief Bai Rihuang, »da sind wir uns lange über den Preis für die Reise einig, und Sie blasen auf einmal alles ab. Das ist doch wohl die Höhe!« In der ersten Bestürzung wegen der hohen Summe verlorenen Geldes beim Spiel hatte Tan Shaowen instinktiv an Flucht gedacht, um der Entrichtung der Spielschulden zu entgehen. Ohne weiter nachzudenken, hatte er sich auf das Angebot des Treibers eingelassen. Erst jetzt kam ihm mit einem Mal in den Sinn, daß es nicht angebracht war, so überstürzt zu handeln. Hastig wollte er davoneilen, doch der Treiber ließ nicht locker. »Was ist, wenn wir morgen aufbrechen?« stieß Tan Shaowen hervor, um den anderen endlich loszuwerden. »So, und was ist mit meinen Geschäften heute? Wenn Sie erst morgen aufbrechen, dann verlange ich eine Anzahlung zuzüglich der Erstattung der Reisespesen.« Da durch die Unterhaltung bereits eine Reihe von Neugierigen angezogen worden war und man die Forderungen Bais mit beipflichtendem Gemurmel bedachte, langte Tan in die Tasche und zog eine kleine Silbermünze hervor, die er Bai in die Hand drückte. »Dann warte ich also morgen hier auf den jungen Herrn, abgemacht?« sagte Bai. »Ihre Anzahlung verrechnen wir mit den übrigen Kosten, wenn wir bei Ihrem Onkel sind.« Mit diesen Worten ließ der Treiber den Tan ziehen. Der junge Mann eilte in seine Kammer in der Grüngraslaube und warf sich, noch benommen vom Wein, auf das Bett.
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Der chinesische Familienroman im 17. und 18. Jahrhundert Seit geraumer Zeit hatte es sich Tan Shaowen zur Angewohnheit werden lassen, die meiste Zeit in der Laube zu verbringen. Dort studierte, aß und schlief er. Niemand im Haus, angefangen von der Mutter über die Gemahlin und die Nebenfrau bis hin zu den Bediensteten wäre auf die Idee gekommen, daß Shaowen nicht in seiner Kammer sei. Alles war wie sonst auch: Zheng Xiang schlief ohnehin nur selten daheim, und auch Wang Zhong war viel unterwegs, um auf dem Lande draußen ein Grundstück zu veräußern, damit die horrenden Zinsen bedient werden konnten. Der Verkauf eines Hauses in der Stadt warf nicht viel ab. Niemand hätte an diesem Abend auch nur im entferntesten daran gedacht, daß Tan Shaowen beim Spiel ein halbes Vermögen verspielt hatte. Unterdessen fand Shaowen keinen Schlaf, ihn drückten die Sorgen um die fünfhundert Tael Spielschulden, die er sich aufgebürdet hatte. Was für Gemeinheiten würde sich wohl der falsche Li Kui ausdenken, um ihn zum Zahlen zu bringen, der schreckte vor nichts zurück! Sorgen, Bedauern und pure Angst raubten Shaowen jeden Schlaf. Es war tiefe Nacht, als sich Tan Shaowen mit einem Ruck im Bett aufrichtete und ausrief: »Pfeif drauf, ich tue wohl doch besser, mich sogleich zum Onkel nach Bozhou zu begeben. Wenn ich mich eine Weile bedeckt halte, wird sich schon ein Ausweg finden. Frisch gewagt.« Damit raffte er eilig das dünne Deckbett und ein Laken zusammen, befestigte die Reiseflasche am Gürtel und steckte das Wechselgeld ein, das ihm der falsche Li Kui gegeben hatte. Der Morgen dämmerte bereits, als er leise aus der Grüngraslaube schlich und den Weg zum Yamen einschlug. Der Zufall wollte es, daß auch der Treiber Bai Rihuang dort immer noch mit seinem Esel herumstand. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln stieg Tan in den Sattel, dann setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung. Aus Furcht, seinem Cousin Wang Longji über den Weg zu laufen, zogen sie nicht aus dem Osttor, sondern wählten das Südtor und schlugen schließlich den Weg nach Bozhou ein. [Die Reise wird für Shaowen zu einem wahren Martyrium. Nicht nur, daß er in Bozhou seinen Onkel nicht antrifft, ihm wird auch das Geld geraubt. Ziellos verläßt er die Stadt.] Verehrter Leser, stellen Sie sich nur einmal vor: Daheim hatte Tan Shaowen bei seinen Ausflügen so gut wie nie einen Schritt zu Fuß machen müssen, stets stand ein Wagen oder ein Pferd bereit. Die Kleider, die er trug, waren oft so dicht und schwer, daß ihm der Rücken davon schmerzte, der Tee so heiß und frisch aufgebrüht, daß man stets fürchten mußte, sich die Lippen zu verbrennen. Wie er das wohl ertrug, nun, da ihm der schwere Sack auf den Schultern lastete, mühsam einen Schritt vor den anderen zu setzen. Er war kaum fünfzehn Meilen gelaufen, da schmerzte ihm der Rücken, hatte er sich Blasen an den Füßen gelaufen und konnte nicht anders, als sich auf den Stufen eines alten, verfallenen Tempels zur Rast niederzulassen. Er hatte sich kaum gesetzt, da sah er aus der entgegengesetzten Richtung einen Mann mit einem Lastenstab über der Schulter herankommen, der vor dem Tempel anhielt und sich neben ihm niederließ, um sich ebenfalls eine Rast zu 987 gönnen. 987
Ebd., Kap. 44, Bd. 2, S. 401–407.
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Man ahnt bereits, daß Shaowen mit dem Fremden nicht in die beste Gesellschaft geraten ist. Er wird seiner letzten Habseligkeiten nun vollends beraubt und findet mit Mühe und Not Aufnahme in einem Kloster, wo er für drei Tage Quartier und Kost erhält. Wieder unterwegs, gelangt er, mittlerweile zum Bettler heruntergekommen, an das Haus eines alten Herrn Han Shanren, der ihm gegen das Versprechen, bei den Vermessungsarbeiten für den Bau einer Brücke zu helfen Unterkunft gibt. Zum ersten Mal hat auch Shaowen das Gefühl, eine sinnvolle Tätigkeit zu verrichten. Ein zufällig vorüberziehender Bekannter nimmt ihn schließlich mit zurück nach Kaifeng. Das Kapitel schließt mit den Worten: Einem Schiffchen gleich, das geraume Zeit im Sturm von den Wellen hin- und hergerissen endlich wieder im Hafen angelegt hat; nur weil zur rechten Zeit der Steuermann fehlte, hätte es beinahe für immer sein 988 Grab auf dem Grunde der See gefunden.
Immer noch nicht ist die Zeit gekommen, da Shaowen, angeregt durch die Eindrücke des Klosterlebens und die Tätigkeit auf der Reise, zu einer endgültigen Läuterung gefunden hat. Aus dem nach seiner Rückkehr gegen ihn wegen der Spielschulden angestrebten Gerichtsverfahren geht er zwar nicht zuletzt aufgrund der Rücksichten, die der Richter mit Blick auf den ehrbaren Vater Tan Xiaoyi nimmt, als Sieger hervor, doch die Gesundheit der Gattin Huiniang ist nunmehr angesichts der vielen unerfreulichen Vorfälle vollends ruiniert. Durch die bald darauf erfolgende Heirat mit der aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Wu Cuijie gerät Shaowen nun auch in seinem unmittelbaren familiären Umfeld in die denkbar schlechteste Gesellschaft. Er läßt sich gar von Xia Fengruo dazu überreden, einen Bordellbetrieb zu eröffnen und treibt damit den entrüsteten Vater eines der zu Verrichtung von Liebesdiensten angeworbenen Mädchens in den Selbstmord. Der Höhepunkt seines schändlichen Treibens ist zweifellos der Verkauf wertvoller Bäume vom Grab des Vaters, ein Sakrileg, auf das nach dem traditionellen Strafkodex hundert Stockschläge stehen (Kap. 82). Fortan genießt Shaowen den schmählichen Ruf eines Grabschänders. Selbst Frau Wu hält nun nichts mehr an der Seite ihres Gatten, sie verläßt das Haus und zieht zurück zu ihren Eltern. Von allen verlassen, sucht Shaowen endlich Rat bei dem treuen Verwalter Wang Zhong, der ihm bei seinem nunmehr einsetzenden Wiederaufstieg hilft. Mit über dreißig setzt sich Tan an den Studiertisch, um sich auf die bevorstehenden Prüfungen vorzubereiten. Sein innerer Wandel erfolgt – dies ein Beispiel für den erzählerisch schwächeren letzten Romanteil – etwas unvermittelt und überzeugt nicht. Das gute Ende im Kreise der mittlerweile ebenfalls geläuterten Freunde bleibt nicht aus. Tan Shaowen wird zum tadellosen Beamten, der sich zahlreiche Verdienst erwirbt. 988
Ebd., S. 413.
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10.4 Ein Sohn aus merkantiler Welt – Der Roman Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi) Mit dem letzten Roman dieses Abschnitts lernen wir ein ganz anderes Ambiente kennen. Das vierundzwanzig Kapitel lange Werk Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi), das als frühester Druck aus dem Jahre 1804 vorliegt, vermutlich aber wenige Jahre zuvor verfaßt worden sein dürfte, führt uns mit der südchinesischen Provinz Guangdong nicht nur in eine vollkommen neue und in der traditionellen Erzählliteratur aus der Zeit davor kaum eine Rolle spielende geographische Region, sondern handelt auch vor einem bis dahin wenig beachteten gesellschaftlichen Hintergrund.989 Recht ausführlich geht Muschelturm auf die Probleme im Zusammenhang mit der während der frühen Qing-Zeit gegründeten Zollbehörde von Macao ein, die gemeinsam mit entsprechenden Ämtern in den Küstenprovinzen Jiangxi, Zhejiang und Fujian 1685 ins Leben gerufen wurde, als man das Handelsverbot mit den Ländern in Übersee lockerte. Während die Zollarbeiten in den drei weiter nördlich liegenden Provinzen von lokalen Beamten verrichtet wurden, schuf man in Guangdong aufgrund des höheren Handelsaufkommens mit dem Ausland die Stelle eines eigenen Zollinspektors, der vom Kaiser persönlich ernannt wurde. Über die Gründe, warum der Autor die Romanhandlung trotz der deutlichen historischen Bezüge, die auf das Ende des 18. Jahrhunderts hinweisen, in die Ming-zeitliche Jiajing-Periode (1522–1566) verlegte, darf man nur rätseln. Der Verfasser von Muschelturm ist uns ausschließlich unter seinem Pseudonym »Der Schaffende Mann vom Gipfel Yu« (Yuling laoren) bekannt. Als Herausgeber (bian) ist ein »Alter Mann vom Berge Yu« (Yushan laoren) genannt. Dem eigentlichen Text vorangestellt ist ein kurzes Vorwort, gezeichnet mit dem Pseudonym »Einsiedler vom Luofu-Berg« (in Guangdong). Aus dem Vorwort und anderen Quellen geht hervor, daß der Einsiedler vom Luofu-Berg dem Schaffenden Mann vom Gipfel Yu recht nahe gestanden haben muß. Beide dürften aus Guangdong gestammt haben. Der Alte Mann vom Yu-Berg (in Zhejiang) tritt als Herausgeber auf, der das Werk vor seinem Erscheinen vermutlich durchsah und korrigierte. Muschelturm ist ein typischer Vertreter jener Werke, in denen sich durch die Erweiterung der Anzahl der angesprochenen Themen Übergänge andeuten. Der Roman, der sichtbar motivische Anleihen bei einer Reihe von Vorgängern gemacht hat, auf die wir an gegebener Stelle noch zu sprechen kommen werden, verfolgt klar zwei Handlungsstränge. Der Protagonist des ersten davon ist der junge Su Jishi. Wir lernen ihn über seinen Vater Su Wankui, einen wohlhabenden
989
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Shenlouzhi, Shijiazhuang: Huashan wenyi 1994.
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Kaufmann kennen, der Vorsitzender einer Vereinigung der örtlichen Kaufleute ist. Gemeinsam betreiben die Männer einträgliche Geschäfte mit Waren, die von ausländischen Schiffen (im Text bezeichnenderweise xenophobisch »Teufelsschiffe« [guizichuan] genannt) angeliefert, nach eigenem Gutdünken besteuert und dann mit großem Gewinn überall ins Reich hin abgesetzt werden. Im Grunde ein aufrechter Mann, ist Wankui allerdings unter der Bevölkerung am Ort nicht sonderlich beliebt, unterhält er doch nebenbei einen Geldverleih und macht sich mit seiner harten Kreditpolitik viele Feinde: Die Konditionen – zwanzig bis dreißig Prozent Abschläge auf das verliehene Geld, drei Prozent Zinsen, Verpfändung von Haus- und Grundbesitz sowie die angeordnete Rückzahlung innerhalb von drei Monaten – treiben so manchen Schuldner in den Ruin. Der unter der Bevölkerung aufgestaute Zorn wird sich später in einem brutalen Akt entladen, Wankuis Anwesen in Flammen aufgehen. Die Mitglieder der Kaufmannsgilde sind eines Tages in ihrem Gebäude versammelt, als eine Verlautbarung eintrifft: He Guangda, der mächtige Zollinspektor von Macao, klagt die Kaufleute des Steuer- und Zollbetrugs an. Unter dem Vorwurf, sie führten die von den Ausländern entrichteten Zollbeträge nicht ordnungsgemäß an den Staat ab, stellt er Su und die übrigen Männer in ihrem Gebäude unter Arrest. Schockiert nehmen die Kaufmänner Beratungen auf, wie in der Sache zu verfahren sei. Man ahnt, daß ohne die Zahlung einer hohen Summe an den Inspektor niemand auf Wiedererlangung der Freiheit hoffen darf. He Guangda ist nun keinesfalls ein unbestechlicher Beamter, sondern jemand, der sich dank seiner einflußreichen Stellung nicht vor persönlicher Bereicherung scheut. Wie sehr er darüber hinaus den sinnlichen Freuden des Lebens zugewandt ist – die zahlreichen Nebenfrauen im Hause deuten dies bereits an – zeigt auch die erste wichtige Szene, mit der der Leser von seinem Wesen erfährt. Inspektor He hatte sich nach der Mittagszeit mit der jungen Nebenfrau Pinwa bei Branntwein und Litschi in einem der Gemächer niedergelassen. Nachdem die beiden eine Weile miteinander getrunken und gespaßt hatten, begab sich He in die westliche Bibliothek, wo ihm Ren Ding Tee servierte. Dieser Knabe, gerade einmal vierzehn Jahre alt und aus Hangzhou stammend, hatte ein hübsches, feingeschnittenes Gesicht. He hieß ihn, die Türe zu schließen, ließ sich dann auf einem Hocker nieder, damit ihm Ren Ding die Beine massierte. Der Junge kniete vor dem Hocker und begann mit seinen feinen Händen, die Beine des He, mal fester, mal leichter, zu massieren. Angeregt von dem Schnaps, den He zur Mittagszeit genossen hatte, war sein Glied geschwollen, und er hieß Ren, seine Kleider abzulegen. Voller Furcht ahnte Ren, was ihm bevorstand. Daher hielt er sich mit der Hand den Mund zu und sagte kichernd: »Das wage ich aber nicht.« »Stell dich nicht so an«, sagte He und streifte dem Jungen die Baumwollhosen hinunter. Dann hieß er ihn, sich umzudrehen. Ren Ding biß die Zähne zusammen, als He begann, ihm am Gesäß herumzufummeln und ihn vor sich über den Hocker
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Der Roman Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi) preßte. »Oh weh«, schrie der Knabe plötzlich und bäumte sich auf. »Wie das schmerzt«, wimmerte er, »es zerreißt mir alles in meinem Leib.« »Macht nichts, bin gleich fertig«, entgegnete He. Schließlich klammerte sich Ren Ding an einen Tisch und erhob sich. Er stand gerade und reckte sich einen Augenblick, bevor er mit einem ausländischen Kupfertablett in der Hand die Türe öffnete und auf den Gang trat. Als die anderen ihn sahen, empfingen sie den Jungen mit feixenden Grimassen. Mit wankendem Schritt, hochrot im Gesicht, eilte Ren an ihnen vorüber, um in der Küche Tee und von dem Ständer ein ausländisches Handtuch zu holen. Nachdem sich He 990 die Hände saubergerieben hatte, ließ er sich auf einer Liege nieder.
Es handelt sich hier um die ersten einer Reihe weiterer Vergewaltigungsszenen, die sich im Roman finden. Nicht, daß alle Kaufleute in Muschelturm ein Vorbild an Sitte und Moral abgäben, doch sie schneiden durchweg besser ab als He Guangda und Konsorten. Der Verfasser des Romans spricht hier ein Thema an, das ausführlicher noch in Wu Jingzis Gelehrten behandelt werden wird. Wo keine Integrität und Aufrichtigkeit mehr unter den Angehörigen der Beamtenschaft zu finden ist, hat die Tätigkeit im Staatsdienst auch ihre Attraktivität zumindest für jene eingebüßt, die wie Su Wenkui und die übrigen Männer der Kaufmannschaft über berufliche Alternativen verfügen. Dabei deutet sich ein gesellschaftliches Umdenken in der Wertigkeit an, die den Händlern traditionell den letzten Platz unter den Ständen zuwies. Die Kaufleute selber sehen das folgendermaßen: Sie sprachen gerade, als Salzhändler Wen heimkehrte und zunächst den Wankui begrüßte. Er richtete einige tröstende Worte an ihn wegen der erlittenen Schläge und lud ihn zu einem Becher Wein ein, um den Ärger hinunterzuspülen. Gemeinsam nahmen die Männer und Knaben schließlich um einen Tisch aus indischem Sandelholz Platz. Mit einem Seufzer bemerkte Su Wankui, seinen Beruf als Kaufmann an den Nagel zu hängen, nicht zuletzt um dem Zwang lästiger Zuwendungen an die Obrigkeit zu entgehen. »Nichts schöner als das«, sagte Wen. »Du gibst deinen Beruf als Kaufmann auf und wirst Beamter. Davon profitieren wir alle.« »Pah«, entgegnete Su. »Ein richtiger Beamter würde ich nie werden wollen. Aber sich einen Titel leihen, um solchem Ärger wie heute zu entgehen, wäre nicht schlecht.« »Bitte bitte, Onkel Su, werde bloß kein Beamter«, fiel ihm Wen Chuncai ins Wort. »Wie, unser junger Herr Chun weiß auch schon, daß es nicht gut ist, Beamter zu werden?« lachte Lehrer Li. »Vorgestern noch habe ich die verdammten Büttel von der Salzverteilungskommission hier bei uns vorüberziehen sehen. Die bösen Kerle boten einen furchterregenden Anblick. Wäre es nicht furchtbar, wenn man sie als Beamter tagein, tagaus in seiner Umgebung sehen müßte?« 990
Ebd., Kap. 1, S. 6f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE »Was redest du nur für einen Unsinn?« tadelte ihn der Vater. »Was der junge Herr da gesagt hat, ist gar nicht einmal so falsch«, wandte Lehrer Li ein. »Am schlimmsten sind die kleinen Beamten und Diener im Yamen, die die Macht ihrer Vorgesetzten für eigene Zwecke mißbrauchen.« »Ach ja«, seufzte Su Wankui erneut. »Am schönsten wäre es doch, weder Beamter noch Kaufmann zu sein, sondern zurückgezogen auf einem ruhigen Fleckchen Land fern der Stadt zu leben und seinen eigenen Acker zu bestellen.« »Das wäre zu schön, um wahr zu sein«, sagte Lehrer Li. »Soviel Glück ist auch unserem Bruder Su nicht beschieden.« Dem Wein kräftig zusprechend unterhielten sich die Männer noch eine Weile, 991 als Wankui sich schließlich verabschiedete und auf den Heimweg machte.
Dem Gespräch voraus geht die Freilassung der Kaufleute, die nur durch Zahlung der horrenden Summe von dreihunderttausend Tael Silber an He Guangda zuwege gebracht wird und zudem eine Prügelstrafe für Su Wankui zur Folge hat. Kein Wunder also, daß sein Sohn Jishi, dessen Kindername Xiaoguan (»die Beamten verlachen«) von den Vorbehalten gegen die Beamtenschaft kündet, sich später der Aufforderung zur Übernahme eines Amtes durch den Kaiser entziehen wird und es am Ende vorzieht, ein Leben als Händler im Kreise seiner Familie zu führen. Doch bevor es soweit ist, muß Su Jishi noch einen persönlichen Reifungsprozeß durchmachen. Wir lernen ihm im Roman als einen jungen Mann von zartem, weichen Wesen kennen, der ähnlich wie Jia Baoyu im Traum gerne die Gesellschaft junger Mädchen sucht, dabei aber mehr als dieser auf dem Boden der Tatsachen steht. Seine Favoritinnen findet Jishi im Hause des Salzhändlers Wen, wo er mit den Mädchen einen zwanglosen Umgang pflegt. Die dort lebenden Halbschwestern Suxin und Huiruo sind ihm zugetan, eine Ehe mit der letzteren ist zudem seit geraumer Zeit beschlossene Sache der Eltern. Traurig malt sich Suxin aus, unter Umständen vielleicht einmal wenigstens als Nebenfrau an der Seite ihrer Schwester die Gattin Jishis zu werden. Angeregt durch die Lektüre anzüglicher Werke wie Westzimmer nutzt sie die Gelegenheiten zu einem Stelldichein mit ihrem jungen Galan jedoch entschlossener als noch Lin Daiyu und wird von Jishi »zur Frau« gemacht. Wu Daiyun, Sohn des Leiters der örtlichen Fischereibehörde und wie Jishi ebenfalls stets in Sexnöten begriffen, agiert allerdings weit skrupelloser als dieser. Bereits bei der ersten Nachricht, daß Suxin ihm als künftige Gattin zugedacht ist, macht er sich über sie her, ohne freilich zu wissen, nicht ihr erster Liebhaber zu sein. Von Liebe selbst ist in seinem Verhalten keine Spur. Entsprechend unharmonisch verläuft das spätere Eheleben. Ein skrupelloser Mensch wie es Daiyun ist, prügelt er Suxin, als sie Widerstand gegen seine neue Nebenfrau Yunjiao leistet. Nachdem er sich mit Su Jishi überworfen hat und eine Racheaktion gegen diesen plant, kommt es zum Streit mit dem Vater. Daiyun läßt seine Wut auf erniedrigende Art an der Gattin aus. 991
Ebd., Kap. 2, S. 20.
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Der Roman Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi) »Unsinn!« schimpfte daraufhin Wu Biyuan. »Su Jishi hat uns doch nichts getan. Du bist undankbar. Erinnerst du dich nicht mehr, wie er mir bei deiner Heirat mit dreihundert Tael Silber aushalf? Als ich meinen neuen Beamtenposten erhielt, war der Wert seiner Geschenke zehnmal so hoch wie der der anderen Leute. Es gibt kein gutes Bild ab, wenn du ihm heute ans Leder willst. Du schadest dir damit selber. Im Amt herrscht zur Zeit ohnehin eine angespannte Atmosphäre. Der Gouverneur wird im Zusammenhang mit der Arbeit von Inspektor He einen Bericht an den Thron über die Lage bei den Seeräubern einreichen. Möglicherweise kommt es zu einer Anklage. Du solltest unbedingt zusehen, nicht in die Sache hineingezogen zu werden.« Derart vom Vater zurechtgewiesen, zog Daiyun ab wie ein begossener Pudel und begab sich heim. Er hieß eine der Zofen, den Wein zu wärmen, um seinen Ärger hinunterzuspülen. Als er sich mit Yunjiao niedergelassen hatte, trug er jemandem auf, Suxin die Ketten zu lösen und sie herzubringen. Als Suxin eintrat, streifte ihr Daiyun die Kleider ab, daß sie nackt vor ihm stand, nahm eine Pferdepeitsche und schrie: »Nun, siehst du endlich ein, was du für ein Miststück bist?« Am ganzen Körper zitternd warf sich Suxin vor ihm auf den Boden und nickte. »Nun, wenn das so ist, dann will ich dir weitere Prügel ersparen. Nimm jetzt den Krug und schenke deiner jungen Großmutter Yun von dem Wein nach.« »Sofort, Herr«, erwiderte Suxin, »doch seid so gut und laßt mich ein Kleid anlegen. Ich schäme mich, so nackt dazustehen.« Doch ohne darauf etwas zu erwidern, schwang Daiyun die Peitsche und ließ sie zweimal sirrend auf die zarte Haut der Frau niederfahren, daß man sogleich zwei Striemen sah. »Wie, du Miststück erdreistest dich, noch von Scham zu reden? Bilde dir bloß nichts ein!« Suxin wagte es daraufhin nicht, noch etwas zu erwidern. Sie biß die Zähne zusammen und schenkte, sich innerlich zutiefst schämend, von dem Wein nach. Unterdessen hatte Daiyun die Yunjiao umarmt, betastete, angeregt vom Wein, ihre Brüste, und benahm sich auch sonst ziemlich schamlos. Nachdem die beiden getrunken und sich eine Weile vergnügt hatten, forderte Wu Daiyun seine Gattin auf: »He, Weibsstück, reiße dir von deinem Kopfhaar etwas aus, mal sehen, ob es schön ist wie das Schamhaar meiner Yunjiao!« Zitternd stand Suxin vor dem Gatten, wagte nicht, etwas zu erwidern. »Schnell jetzt!« schrie Daiyun, sprang auf und schwang drohend die Peitsche. Wohl oder übel schnitt sich Suxin etwas von ihrem Kopfhaar ab und reichte Daiyun ein kleines Büschel. Daiyun gab es weiter an Yunjiao und hieß sie, den Rock hinunterzuziehen, um es mit ihrem Schamhaar zu vergleichen. »Pah« zierte sich Yunjiao, »diese fettigen Zotteln können es nicht mit einem einzigen Haar an meinem Körper aufnehmen.« Damit schleuderte sie das Haarbüschel der Suxin in die Flammen. »Hahaha« lachte Daiyun, »elendes Weibsstück, jetzt siehst du, was du noch wert bist. In ein paar Tagen lasse ich dich von deiner Familie abholen, dann habe ich mit Leuten wie euch nichts mehr zu schaffen. Ich will nicht, daß sich deine junge Großmutter Yun weiter über deinen Anblick ärgern muß. Aber bilde dir
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DIE WELT DER GEFÜHLE nur nicht ein, du dürftest hier irgend etwas mitnehmen.« Damit begab er sich mit Yunjiao zu Bett. Suxin weinte die ganze Nacht, doch wagte sie aus Furcht 992 nicht, dabei zu laut zu sein.
Zermartert kehrt Suxin schließlich in das Heim ihrer Eltern zurück und wird später Nonne. Zu einem wesentlich angenehmeren Zeitgenossen als sein Widersacher Daiyun wird dagegen Su Jishi. Selbst beim Besuch auf den »Blumenschiffen«, wo er so viele Freudenmädchen haben könnte, wie er wollte, zeigt er sich erstaunlich zurückhaltend. Auch seine Braut Huiruo darf anders als die Schwester mit der leiblichen Vereinigung bis nach der offiziellen Eheschließung warten. Su Jishis Reifeprozeß findet seinen Abschluß allerdings erst in der Auseinandersetzung mit den Prüfungen in den weltlichen Angelegenheiten. Eine erste Bewährungsprobe ist der Überfall rachsüchtiger Gläubiger auf das Anwesen der Familie, bei dem mehrere Zofen und ein Diener ums Leben kommen. Die Darstellung dieses Verbrechens, in dessen Folge auch Vater Su Wankui vor lauter Kummer stirbt und Jishi das Kreditgeschäft aufgeben wird, erinnert an den hundert später Jahre von Wu Woyao verfaßten Roman Neun Leben. Viel wesentlicher jedoch sind die Ereignisse, die in dem zweiten Handlungsstrang von Muschelturm entworfen werden. Im Mittelpunkt steht dabei zunächst eine Person namens Yao Huowu, ein Mann aus Shandong, der sich in den Süden des Reiches begeben hat, um nach seinem Bruder zu suchen. Auf seiner Reise berichtet ihm ein Wirt namens Wang Dahai von der Räuberplage in der Gegend. Seit der Versetzung des Gouverneurs Qing, einem tugendhaften und belesenen Mann, der sich im Kampf gegen die Piraten Verdienste erworben hat und die einzige positive Beamtenfigur in unserem Werk abgibt, hat sich die Lage wieder verschlechtert. Yao erkundigt sich nach seinem Bruder, der in einem Kreis aus der Umgebung einen Beamtenposten innehat und verkündet, ihm im Kampf gegen das Unrecht zu helfen. Der hier behandelte Stoff über die Nöte aufrechter Männer, die sich in der Auseinandersetzung mit tyrannischen Lokalbeamten behaupten müssen und dabei Verbündete um sich sammeln, um ihren Kampf nach Gerechtigkeit erfolgreich zu führen, steht in der Tradition der chinesischen Abenteuerromane. Gerade bei den Räubern hat der Verfasser von Muschelturm eine Reihe motivischer Anleihen gemacht, wie zum Beispiel den Kampf gegen einen Tiger (Kap. 11) bzw. die gemeinsame Racheaktion der Recken um Lü Youkui an dem Polizeibeamten Niu oder die Befreiung des zuvor verhafteten Yao Huowu. Ähnlich wie Song Jiang mit seinen Männern in dem unwegsamen Gelände des Liangshan-Moores Zuflucht sucht, so flieht der entrechtete Yao mit seinen Recken in ein Kloster am YangtiGipfel. Die erste gute Tat, die man dort vollbringt, besteht in der Freilassung 992
Ebd., Kap. 14, S. 174f.
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Der Roman Die Erzählung vom Muschelturm (Shenlouzhi)
zahlreicher Frauen, die von den Mönchen festgehalten worden sind. Die Dinge spitzen sich zu, als man in militärische Konflikte mit den herbeibeorderten Regierungssoldaten gerät, doch gehen die Rebellen aus den Kämpfen siegreich hervor. In Su Jishi, den man während einer Reise gefangen hat, findet Yao Huowu schließlich einen aufrechten Verbündeten. Schließlich hat auch der einst zarte junge Kaufmannssohn die Statur zum Helden gewonnen. Gemeinsam mit Yao erobert er eine Reihe von Städten der Provinz und bringt auf diese Weise endlich auch den Zollinspektor He zu Fall. Daß man um das Wohl des Reiches besorgt ist und damit einer ehrenhaften Sache dient, bringen die Rebellen zum Ausdruck, indem sie sich den Truppen des mittlerweile wieder zurück in die Provinz beorderten Gouverneurs Qing anschließen, um den erfolgreichen Kampf gegen Moci zu führen, einen Mönch, der sich zum König ausgerufen hat. Nun, da Recht und Ordnung in der Gegend wiederhergestellt sind, kann auch Jishi dem Leben im Kreise seiner Familie nachgehen und sich in Ruhe den Geschäften widmen.
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11. Suche nach Vollkommenheit – Die beiden Romane Spuren von Unsterblichen in der Wildnis (Luye xianzong) und Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan) Wir haben in der Einführung zu den Familienromanen des vorherigen Abschnitts bereits darauf hingewiesen, daß in einer ganzen Anzahl von Werken, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden, eine Tendenz unter den Verfassern anzuklingen beginnt, ihre Erzählungen zum Medium der eigenen Sorgen, Nöte und Wertvorstellungen zu machen. Die beiden umfangreichen Romane Spuren von Unsterblichen in der Wildnis (Luye xianzong) und Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan), die uns hier interessieren sollen, gehen im Gegensatz zu den in ihrem Rahmen noch stark der Familienproblematik verhafteten und somit in realistischer Weise auf die konkreten Lebensumstände des Autoren zugeschnittenen Werke wie Traum und Lin Lan Xiang einen neuen Weg. Nicht mehr die Thematik des ganzen Clans und seiner vielschichtigen Probleme steht im Mittelpunkt, sondern die Frage, welche Möglichkeiten sich dem einzelnen Menschen bieten, um im Leben Erfüllung zu finden und im Idealfall Vollkommenheit zu erreichen. Der damit verbundene didaktische Grundton in den Werken läßt die Autoren freilich ganz unterschiedliche Ansätze wählen: Hebt Li Baichuan mit seinen Spuren von Unsterblichen stark auf die Erlösungsvorstellungen in der mythologisch-religiösen Literatur Chinas ab, so entwirft Xia Jingqu in den Betrachtungen das Idealbild eines von nahezu übermenschlicher Tugend und Bildung durchdrungenen Mannes, der seine Weisheiten vornehmlich aus der orthodoxen konfuzianischen Lehre zieht. Wie im Falle Cao Xueqins so lohnt auch hier zunächst ein kurzer Blick auf die allerdings angesichts des geringen bisherigen Forschungsinteresses gerade im Falle Li Baichuans sehr unvollständigen Biographien der Verfasser, um die engen Beziehungen zu ihren Werken deutlich zu machen. Das meiste, was wir über Li Baichuan wissen, der um 1720 geboren wurde und jedenfalls nach 1771 starb, ist auf die knappen Angaben beschränkt, die seinem erstmals in der chinesischen Romanliteratur stark autobiographische Züge tragenden Vorwort zum Werk sowie den Berichten von Freunden zu entnehmen sind.993 Bemerkenswert daran ist bereits, daß Hinweise auf Prüfungen und Versuche, eine Beamtenkarriere anzustreben, vollständig fehlen, womit sich Li erheblich von seinen ebenfalls zur Feder greifenden Zeitgenossen unterscheidet, die auf eine mehr oder weniger erfolgreiche Laufbahn im Staatsdienst zurückblicken konnten. Viel Glück scheint Lis Bemühungen, sich als Kaufmann und Händler eine beruf993
Der Roman wurde hier bearbeitet nach der zweibändigen hundert Kapitel umfassenden Ausgabe Luye xianzhong, Peking: Renmin Zhongguo chubanshe 1993. S. dort auch die Einleitung der Herausgeber zu den Bemerkungen von Freunden und Bekannten Li Baichuans.
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Suche nach Vollkommenheit
liche Perspektive zu eröffnen, freilich auch nicht beschieden gewesen zu sein, denn wie den Schilderungen zu entnehmen ist, mußte er im Alter von dreiundzwanzig Jahren große wirtschaftliche Verluste hinnehmen. Selbst den einst offenbar von Wohlstand geprägten Familienhintergrund verstand Li nicht in angemessener Weise zu nutzen. Am Ende veräußerte er sogar die elterlichen Antiquitäten und Güter in dem falschen Glauben an die Herstellung von Unsterblichkeitspillen. Die Umrisse einer gescheiterten Existenz werden sichtbar. Man beginnt zu ahnen, in welcher Verfassung aus persönlicher Not und Frustration sich Li Baichuan an die Niederschrift seines in zwei Versionen von achtzig bzw. hundert Kapiteln vorliegenden Erzählwerkes machte, mit der er 1753 in Yangzhou begann und dort das erste Drittel zu Papier brachte, sehr zur Ergötzung seiner damaligen Mitbewohner, wie es heißt.994 Da er sich vermutlich wegen seiner prekären wirtschaftlichen Verhältnisse nicht längere Zeit an dem Ort halten konnte, war Li in der Folge gezwungen, Unterschlupf bei einem Vetter in Liaozhou zu suchen, wo er innerhalb von neun Monaten weitere einundzwanzig Kapitel des Romans anfertigte, der dann erst später nach seinem Eintreffen in der Provinz He'nan bis zum Jahre 1762 endgültig fertiggestellt wurde.995 Eine der frühesten erhaltenen Ausgaben von Spuren von Unsterblichen liegt erst aus dem Jahre 1830 vor. Die großen zeitlichen Abstände, in denen das Werk angefertigt wurde, sind mit den zahlreichen Reisen zu erklären, die Li Baichuan in seiner Tätigkeit als Sekretär von Beamten und hochgestellten Persönlichkeiten immer wieder zu unternehmen hatte. Wie dem Vorwort zu entnehmen ist, war der Verfasser ein ausgesprochener Liebhaber von Geschichten über Geister und Gespenster (gui), die er auch im Werk in erheblichem Umfang einsetzt, um in satirischer Form auf soziale und politische Mißstände abzuheben. Im Unterschied zu den vielen mythisch-phantastischen Romanen und Erzählungen der Vergangenheit wie der Reise in den Westen oder der Investitur der Götter, wo das Thema des Strebens nach Unsterblichkeit zumeist entweder auf eine religiöse Ebene oder in einen konkret kaum faßbaren historischuranfänglichen Rahmen gehoben wird, läßt Li Baichuan das Thema als alternativen Idealweg des in der Wirklichkeit der Menschenwelt (eben der im Romantitel genannten »Wildnis«) scheiternden einzelnen erscheinen. Leng Yubing und Wen Ruyu, die beiden herausragenden Gestalten des Romans, deuten dabei unterschiedliche Wege, Stadien und Probleme in dem Vervollkommnungsprozeß an. Wo Leng seine Ambitionen einen Beamtenposten zu erlangen nach einer Reihe von Enttäuschungen aufgeben muß, sich in der Folge seine übernatürlichen Kräfte und Fähig994
995
Die Fassung in hundert Kapiteln scheint ursprünglich jene gewesen zu sein, die auf Li Baichuan direkt zurückgeht. Bei der kürzeren achtzig-Kapitel-Version handelt es sich vermutlich um eine vereinfachte Ausgabe späterer Herausgeber. Vgl. dazu die Bemerkungen bei McMahon: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 236. Aus dem ersten Jahrzehnt nach der Vollendung des Romans stammen auch die beiden anderen zum Werk verfaßten Vorworte, die auf die Jahre 1764 bzw. 1771 datiert sind.
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keiten zunutze macht, um weltliche Gegner zu narren und böse Geister zu besiegen und somit am Ende Aufnahme unter den himmlischen Unsterblichen findet, muß Wen erst sich selbst besiegen, vor allem aber einen Reinigungsprozeß in der Entsagung von fleischlichen Gelüsten durchmachen. Leng Yubing und Wen Ruyu ergänzen einander, wobei sie Züge im Wesen des Verfassers Li Baichuan erkennen lassen, ein Verfahren, auf das wir bereits im Zusammenhang mit Cao Xueqin hingewiesen haben.996 Es sei bereits hier festgestellt, daß die Szenen in diesem konkret-weltlichen Bereich des Lebens mit zu den besten zählen, die uns in der frühen Erzählliteratur Chinas vorliegen. Die Darstellung der Welt der Unsterblichen hingegen ist eher trocken und verglichen mit den großen mythischen Romanen wenig originell. Die Suche Leng Yubings nach Vollkommenheit und Wahrhaftigkeit beschreibt der Roman in den ersten Kapiteln vor dem Hintergrund seiner beruflichen Enttäuschungen und der Begegnung mit falschen Heiligen. Die Romanhandlung ist in die Mitte des 16. Jahrhunderts zur Zeit der Jiajing-Periode verlegt. In dem Kreis Cheng'an der Präfektur Guangping lebt ein gewisser Leng Song, ein wegen seiner umfassenden medizinischen Kenntnisse weithin bekannter Mann. Von Hause aus wohlhabend, erwirbt er sich als Beamter einen untadeligen Ruf, im Volksmund spricht man von ihm angesichts der harten Hand, mit der er den ihm zugewiesenen Kreis regiert nur als »Leng Bing«, was soviel heißt wie »Eiseskalt«. Nach der Rückkehr in die Heimat und der Aufgabe aller Posten bringt die Gattin einen Sohn zur Welt, der schon im frühen Kindesalter Anlaß zu den höchsten Hoffnungen gibt und vom Vater unter Bezug auf seinen eigenen Spitznamen den Namen Leng Yubing erhält (»Kälter als Eis«), womit die Hoffnung angedeutet wird, daß der Sohn den Vater einst noch übertreffen möge. Die ersten Prüfungen in der Heimat zum Bakkalaureus legt Yubing auch noch erwartungsgemäß mit Bravour ab, doch in der Hauptstadt, wohin er sich nach dem Tode des Vaters begibt, ist ihm weniger Erfolg beschieden. Als Sekretär findet er zunächst eine Anstellung im Stab von Kanzler Yan und erhält erste Einblicke in den Amtsbetrieb. Am nächsten Tag trat Leng seine Arbeit im Hause des Kanzlers an. Ständig trafen für den Kanzler neue Grußkarten und Bittgesuche der Beamten aus den verschiedensten Diensträngen in den Büros des Kabinetts ein. Hier versuchte der eine, Gunst zu erheischen, dort der andere, sein Anliegen mittels eines kleinen Geschenkes durchzusetzen. Im Mittelpunkt standen dabei immer nur die eigenen Interessen, um das Wohl des Staates und des Volkes ging es niemandem. Leng Yubing richtete dabei sein Fähnchen ganz nach dem Wind, unterwarf sich in 996
Vgl. dazu auch die Bemerkungen in dem Artikel »Würdigung der realistischen Darstellungsweise in Spuren von Unsterblichen« (Ping »Luye xianzong« de xieshi chengjiu), in: Cai Guoliang: Romane und Erzählungen der Ming und Qing (Ming Qing xiaoshuo tanyou), Hangzhou: Zhejiang wenyi 1985, S. 65–82, insbesondere S. 65f.
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Suche nach Vollkommenheit allem dem Willen des Kanzlers Yan Song. So war beiden gedient, und dies alles 997 wegen eines schön verfaßten Textes für den Geburtstagsgruß.
Im Hause des Kanzlers ist man zunächst voll des Lobes für den geschickten Leng Yubing, der sich durch seine Arbeit immer unentbehrlicher macht. Dieser Zustand dauert jedoch nicht lange an. Eines Tages kehrt Yan Song erregt und wütend heim, aufgebracht von dem Bericht eines Zensors über die Zustände in Shanxi, wo von Dürre und Flutkatastrophen die Rede ist. Es ist nun der Plan des Yan, den Zensor zu diskreditieren und eine neue Untersuchung der Zustände anzuordnen, an deren Ende dann ein beschönigender Bericht stehen soll. Er will damit Zeit gewinnen und im wesentlichen ungeschoren bleiben, den gefährlichen Zensor aber in ein schlechtes Licht rücken. Nach einem kurzen Zwist mit Yan, in dem sich Leng Yubings aufrechter Charakter offenbart, muß er alle Pläne auf eine Beamtenlaufbahn aufgeben: Er verläßt das Haus des Kanzlers, überwirft sich mit seinen Förderern und wird auf Yan Songs Betreiben hin zudem von der Liste der erfolgreichen Examenskandidaten gestrichen, wo er als bester Prüfling ganz oben stand. Leng Yubing entschließt sich zu einer Reise zu Verwandten nach Jiangxi. Der Tod eines guten Freundes bestärkt Leng schließlich in dem Entschluß, der Welt zu entsagen. Da die Familie ihn nicht ziehen lassen will, nutzt er die Gelegenheit eines Ausflugs mit Bekannten, um sich ohne einen Abschied davonzumachen. Jetzt, da er die letzten Brücken hinter sich abgebrochen hat, ist Leng Yubing endlich frei, um in seinen Bemühungen, Vollkommenheit zu erlangen, voranzuschreiten. Es ist sein Wunsch, Einsiedler und Heilige aufzusuchen, die an berühmten Bergen leben. Lengs erstes Ziel ist der »Berg der Hundert Blumen« (Baihuashan), der schon vom Namen her den Heimatort Sun Wukongs in der Reise in den Westen, gemeint ist der »Berg der Blumen und Früchte«, erkennen läßt. Die Erlebnisse, die Leng zunächst hat, sind verschiedener Art. Ohne an das gewünschte Ziel zu gelangen, findet Leng unterwegs Quartier bei einem Einsiedler namens Zou Jisu, der sich literarisch betätigt und den Gast mit seinen Werken unterhält. Besonders ein Gedicht im gufeng-Stil über den Furz findet Lengs Lob: Der stinkende Furz Furz oh Furz, woher kommt wohl dein Name? Sicher ist es, weil du Geruch besitzt, aber keine Form. Ein stinkender Furz, der aus dem Hintern fährt, wie peinlich, wenn ihn jemand riecht! In aller Stille versuche ich, den Ursachen für den Furz nachzugehen, ein leichtes Drücken in der Unterleibsgegend, dann fährt er hinaus, die leichten, reinen Fürze entweichen nach oben, die schweren, trüben Fürze sinken hinab, ein erregtes Sammeln im Afterbereich, dann fährt der Furz geräuschvoll hinaus. Die Fürze von Damen, stets heimlich und leise, ob ein großer oder kleiner, sie entweichen immer nur halb. Denn nichts zählt mehr als 997
Spuren von Unsterblichen, Kap. 2, Bd. 1, S. 18.
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DIE WELT DER GEFÜHLE der gute Anstand, wie überaus peinlich ist da ein Furz, der geräuschvoll aus dem Hintern zischt. Die Fürze von Kriegern dagegen wild und laut wie von einer Kuh, erschrocken stieben die Umstehenden beim ersten Geräusch auseinander, krachend und donnernd sucht der Furz seinen Weg, von zehnen sind neune peinlich berührt. Doch nur nicht jammern, der Kaiser liebt seine Helden. Und wenn einmal tatsächlich die Winde nach draußen gelangen, dann flugs die Luft angehalten und so tun, als habe man nichts gerochen. Und schon gar nicht gespart bei dem Essen, mein Herr. Das Beste ist gerade gut genug für Ihren Magen. 998 Pfeif auf den Darm und die Winde.
Wieder macht sich Leng auf den Weg, doch die Jahre vergehen, ohne daß er auf einen wirklichen Heiligen trifft. Ganz gleich wo er hinkommt, schildert er sein Anliegen und wird auch immer wieder mit vagen Hinweisen an entlegene Orte empfohlen, wo sich angeblich Eremiten befinden, die zu einer höheren Existenz gelangt sind, doch jedes Mal muß Leng feststellen, daß es sich um Schwindler handelt. Schließlich faßt er den Entschluß, sich an den Westsee bei Hangzhou zu begeben, denn dort gibt es Spuren des »wahrhaftigen« Ge Hong (ca. 281–341), bekannter unter dem Namen Baopuzi und Verfasser eines gleichnamigen Werks, in dem von Heiligen, der Herstellung von Unsterblichkeitsmitteln und medizinischen Rezepten die Rede ist. Die lange Zeit vergebliche Suche läßt Leng Yubing dennoch einen Blick für die Schönheiten der Natur bewahren. Innere Ausgeglichenheit und Harmonie führen schließlich zum Erfolg. Es war Abend, der Mond war an dem klaren Himmel heraufgezogen und spiegelte sich in dem Wasser des Westsees. Wie zehntausend silberne Schlangen sah das glitzernde Licht des Mondes in den Fluten des Sees aus. Yubing sah Fischchen in den Wellen tanzen, Vögel suchten in den Bäumen am Ufer ihre Nester auf. Ein sanfter, kühler Wind strich über Yubings Gesicht und ließ ihn frösteln. Mit einem Mal fühlte er, wie nichtig und vergeblich alles Hoffen war, er spürte auf einmal das Glück, wie wenn man in eine große Weite und Leere schreitet. Er hatte das Tor des Tianlan-Tempels erreicht, als er auf einem Stein daneben einen Mann sitzen sah. Der Kerl wirkte schmutzig und unansehnlich, offenbar ein Bettler, so daß Yubing seinen Schritt beschleunigte und vorübereilte. Er war bereits einige Meter weitergeeilt, als es ihm plötzlich in den Sinn kam: »Wie oft bin ich hier nicht schon vorübergekommen, und noch nie ist mir dieser Mann aufgefallen. Heute ist eine herrliche Mondnacht, man fühlt sich so einsam beim Wandern. Ich vergebe mir nichts, wenn ich mit ihm ein paar Worte wechsele.« Damit wandte er sich um und trat neben den Bettler. [Der Bettler hat ein faltiges Gesicht, doch in seinen Augen liegt ein seltsamer Glanz, so daß Leng das Gefühl nicht los wird, es handele sich um einen besonderen Menschen. Als der Mann über Hunger klagt, reicht Leng ihm etwas zu essen. Nach dem kargen Mahl sinkt der Bettler wieder in Schlaf.] 998
Ebd., Kap. 7, Bd. 1, S. 55.
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Suche nach Vollkommenheit »Einfacher und unbeschwerter kann das Leben nicht sein«, lachte Yubing, »kaum ist der Magen voll, sinkt er wieder in Schlaf.« Damit wandte er sich erneut an den Bettler und rief: »He, Alterchen, jetzt wird nicht geschlafen, ich möchte mit dir reden.« »Bin todmüde«, erwiderte der Bettler träge, »laß uns bei unserem nächsten Treffen miteinander sprechen.« Damit wandte er sich ab und schloß die Augen. »So was, mir eine derartige Abfuhr zu erteilen«, murmelte Yubing, »nun, so sage mir wenigstens deinen Namen.« Der Alte scherte sich gar nicht um den Fragenden. Unsanft rüttelte ihn Yubing darauf an den Schultern, worauf der Bettler sich mühsam aufsetzte und wütend schimpfte: »Was bildest du dir denn ein? Ich habe von dir lediglich ein paar Kekse gegessen, mich dir nicht verkauft. Wenn du mich weiterhin behelligst, dann spucke ich dir das ganze Zeug wieder vor die Füße!« »Verzeiht«, erwiderte Yubing, »doch ich spüre, daß Euch eine besondere Aura umgibt. Ich möchte von Euch lernen, wie man Unsterblichkeit erlangt. Zeigt mir den Weg an das Licht.« »Unsterblichkeit, Wege, was redet Ihr da? Davon verstehe ich nichts«, sagte der Bettler. »Gehe du nur entschlossen deinen Weg, dann wirst du auf ganz natürliche Weise den Weg zur Unsterblichkeit finden.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und fiel wieder in Schlaf. Unschlüssig rätselte Yubing eine Weile über die Worte des Mannes, er begann dunkel zu ahnen, daß er es nicht mit einem müßigen Nichtsnutz zu tun hatte. Daher warf er sich auf die Knie, stieß den Bettler an und rief: »Herr, hört mich an! Ich habe Heim und Familie aufgegeben, seit sechs Jahren irre ich durch das Land, doch erst heute traf ich Euch, einen wahrhaftigen Heiligen. Herr, erbarmt Euch meiner und weist mir den rechten Weg. Selbst wenn ich dabei Schmerz und Qual erdulden muß, werde ich Euch ewig dankbar sein!« Unwillig setzte sich der Bettler auf und schimpfte zornig: »Nein, was für ein Quälgeist Sie sind!« Damit wies er auf den Boden und rief: »Da, heben Sie das auf!« Yubing bückte sich und griff nach dem verfaulten Kadaver einer Kröte, den die Ameisen bereits zernagten. Unschlüssig wendete er das stinkende Stück toten Fleisches in der Hand, wagte jedoch nicht, es fortzuwerfen. »Was soll ich damit?« fragte er. »Wenn du das ißt«, antwortete der Bettler, »wirst du Unsterblichkeit erlangen.« Schweigend starrte Yubing eine geraume Weile auf die verfaulte, madige Kröte in seiner Hand. »Wenn er wirklich ein Heiliger ist«, dachte er, »und mich mit dieser Kröte auf die Probe stellt, dann habe ich mich nicht umsonst überwunden. Wenn er sich allerdings nur über mich lustig macht, dann werde ich mich auf schändliche Weise beflecken.« Nachdem er noch eine Weile gegrübelt hatte, kam es ihm in den Sinn: »Niemand wird auf einfachem Wege zum Unsterblichen. Ich werde hineinbeißen, selbst wenn er über mich lacht. Wenigstens der Himmel weiß dann, wie ehrlich ich es damit meine, Vollkommenheit zu erlangen, vielleicht erbarmt er sich meiner dann.« Mit diesen Gedanken hielt er den Atem an und tat einen Biß in die faulige Kröte. Der Geruch war zunächst noch ein wenig unangenehm, doch als er das Fleisch im Munde hielt, war ihm mit einem Mal, als verströme es einen unvergleichlichen Duft. Und als der Bissen schließ-
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DIE WELT DER GEFÜHLE lich in seinen Magen glitt, war ihm, als habe er flüssige Jade und Nephritgelee in sich aufgenommen. Sein Geist wurde auf die herrlichste Weise angeregt, sein 999 Blick gewann außerordentliche Klarheit.
Der Bettler lobt Yubing, weiß auch längst, wen er vor sich hat. Dann stellt er sich selber vor: Es ist Zheng Dongyang, ein Mann, der sich während der Wirren der Streitenden Reiche in die Fangshan-Berge von Shandong absetzte, um nach Vollkommenheit zu streben. Nachdem er achtzig Jahre als Vegetarier gelebt hatte, traf er auf seinen Lehrer, Fürst Donghua, der ihm eine Unsterblichkeitspille gab, dazu ein Medizinbuch sowie taoistische Schriften aushändigte. Nach zwei Jahren begriff Zheng die Lehre und erlangte Vollkommenheit. Nun hat er von der höchsten Gottheit Shangdi den Befehl bekommen, Leng Yubing zu unterweisen und ist dabei zum »Heiligen des Feuerdrachen« (Huolong zhenren) ernannt worden. Mit der Kröte hat er Leng die notwendige Medizin zur Erlangung der Vollkommenheit verabreicht. Als Waffen, von denen Yubing in Zukunft im Kampf gegen Geister und Dämonen Gebrauch machen wird, schenkt ihm der Heilige unter anderem ein hölzernes Schwert und eine Donner-Feuer-Kugel. Erster Jünger Leng Yubings nach seinen nun folgenden Siegen über verschiedene böse Mächte ist ein Affe, der den Namen »Yuan (Affe) der Aufrichtige« erhält. Es handelt sich hier um eine Umkehr der Verhältnisse in Reise in den Westen. Nicht der mythische Affe ist Leiter und Führer der weiteren Unternehmungen, sondern der aufrichtig nach Vollkommenheit strebende Mensch. Zurückgezogen in seiner »Jadekammerhöhle« übt Leng in den folgenden Jahren seinen Geist und regt die Lebensenergien in seinem Körper an, was ihm trotz seines nunmehr bereits fortgeschrittenen Alters ewige Jugend verleiht. Derart gereift, wird er von seinem Lehrer, dem »Heiligen des Feuerdrachen« sowie einem weiteren Wahrhaftigen namens Ziyang eines Tages damit beauftragt, sich hinaus in die Welt zu begeben, um sich die yin-Kräfte anzueignen. Der Weg seiner weiteren Selbstvervollkommnung besteht für Leng innerhalb der nun entsponnenen Handlung des Buches neben der Auseinandersetzung mit bösen Geistern vor allem darin, auf die unterschiedlichste Art und Weise neue Adepten um sich zu sammeln. Durch eine ausgedehnte Reisetätigkeit wird unser Held dabei immer wieder in Konflikte aufrechter Männer gegen die Machthaber verwickelt, eine Variation des eingangs am Beispiel Lengs selber beschriebenen Gegensatzes von staatlicher Machtinstanz und der vom einzelnen Individuum vertretenen Auffassung der Rechtmäßigkeit. Die herausragenden beiden Gestalten sind hier Lian Chengbi und Jin Buhuan, zwei ehemalige »aufrechte Räuber« (lülin), die sich von ihrem Lehrer immer wieder aus gefährlichen Situationen retten lassen müssen. Die zentrale Gestalt aber, um deren Seele sich Leng Yubing sorgt, ist mit Wen Ruyu weniger als Lian Chengbi und Jin Buhuan dem Abenteurertyp nachempfun999
Ebd., Kap. 10, Bd. 1, S. 79ff.
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Suche nach Vollkommenheit
den, sondern weist mit den Ausschweifungen auf die »schrecklichen« Versuchungen des Sinnenlebens hin, die die Erlangung der Heiligkeit verhindern. Liegen die Hindernisse für Lian und Jin eher in der äußeren Welt, so muß Leng Yubing im Falle Wen Ruyus seine Anstrengungen vielmehr darauf richten, sein Wesen von Grund auf zu läutern, ein, wie sich herausstellt, weit schwierigeres Unterfangen, versagt hier doch naturgemäß der Einsatz von übernatürlichen Fähigkeiten. Ruyu begegnet uns im Roman erstmals in Kapitel 36, wo wir ihn als überheblichen jungen Mann von einundzwanzig Jahren kennenlernen. Sein Vater, ein bekannter Dichter und Gouverneur von Shanxi ist früh gestorben, verwöhnt von der Mutter hat der Dandy nichts Besseres zu tun, als das beträchtliche elterliche Vermögen beim Wettspiel und im Kreise schöner Mädchen zu vergeuden. Die Grundverfassung seines Charakters sowie die häusliche Situation (Ruyu hält die um seinen Lebenswandel besorgte Mutter mit der Drohung eines Hungerstreiks in Schach) weist demnach starke Parallelen zu Tan Shaowen auf. Wie dieser, so zeigt auch der junge Herr Wen starkes Interesse an kurzweiligen Dingen und bittet Leng Yubing nach einer ersten Begegnung zu einer Vorführung seiner Zauberkünste in sein Haus. Konnte Tan Shaowen zur Orientierung in seinem Leben auf die Ermahnungen des Vaters sowie die Hilfe der elterlichen Freunde zurückgreifen, so birgt auch Wen Ruyu in seinem tiefsten Innern einen Hort positiver Eigenschaften. Denn wie Leng gegenüber seinen beiden Begleitern Chengbi und Buhuan zu berichten weiß, verfügt Wen über die Anlagen zum Unsterblichen. Er hat in einer früheren Existenz auch schon nach der Vollkommenheit gestrebt und ist dabei nur noch nicht sehr weit gediehen. Nun drohe dem jungen Mann und seiner Familie, so Lengs Vorausschau, Unglück und Gefängnis. Wie im Falle Tan Shaowens, so haben wir es auch bei Ruyu mit dem Problem der Rückfindung zu einer in ihren Strukturen bereits vorhandenen moralischen Existenz zu tun, doch ähnlich dem Helden in Laterne bleibt dem jungen Mann auch hier der Prozeß einer schwierigen Läuterung nicht erspart. Das Unglück nimmt seinen Lauf, als Ruyu bei einer Geschäftstransaktion das elterliche Vermögen einbüßt. Der erschütterten Mutter, die kurz nach seiner Rückkehr in die Heimat vor Gram stirbt, hat Wen Ruyu den Ruin der Familie eingestanden. Dem Rat von »Miao dem Glatzkopf«, einem zwielichtigen Freund der Familie folgend, veräußert der junge Mann den gesamten noch verbleibenden väterlichen Besitz und zieht in ein kleines Dorf namens Shimapo in der Umgebung, um sein Leben als Landmann zu fristen. Dort werden Ruyu und Miao von einem gewissen Su Tianyou empfangen, der den Spitznamen »Su der Pockennarbige« trägt, seines Zeichens ein heruntergekommener Bakkalaureus, durchtrieben und hinterrücks, von allen am Ort gefürchtet. Miao und Su sind sich schnell darin einig, die fette Kuh zu melken. Die Verlockungen des Etablissements, das Su der Pockennarbige unterhält, lassen Wen Ruyu seine Trauerpflichten wegen der kurze Zeit zuvor verstorbenen Mutter sowie die Bedenken wegen eines längeren Aufenthaltes in Shimapo bald
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vergessen. Besonders die junge Kurtisane Jinzhong hat es ihm angetan. Hin und her gerissen von seiner Liebe zu Jinzhong, die sich während Ruyus Aufenthalt am Ort noch einem weiteren Gast hingibt, und seinem Gewissen – nicht zuletzt erweckt durch die Ermahnungen des unvermittelt in Shimapo auftauchenden Leng Yubing – verläßt der junge Mann vorübergehend den Ort der Sünde, um am Ende jedoch stets wieder an ihn zurückzukehren. Bei seiner Aussöhnung mit Jinzhong kommt es zu einer herrlichen Situation, die nicht umsonst von der chinesischen Literaturwissenschaft als das beste gelobt worden ist, was die frühen erotischen Erzählungen im Milieu der Freudenhäuser zu bieten haben.1000 Der Abend bricht heran, Jinzhong richtet das Bett, lädt den Ruyu ein zu bleiben. Beide besteigen das Lager, wenden sich den Rücken zu und geben nur vor zu schlafen. Irgendwann erträgt Ruyu die Situation nicht mehr und erhebt sich. Als Jinzhong das merkt, steht sie auch auf, fragt ihn, was ist. Ruyu antwortet sarkastisch, für sie einen genehmen Herrn suchen zu wollen, woraufhin das Mädchen in Tränen ausbricht. Bewegt läßt sich Ruyu wieder nieder, will sie trösten, doch nun ist sie die Beleidigte. Man spricht sich aus, der Liebesakt beginnt, Ruyu ist zunächst wild und unbeherrscht, fügt ihr Schmerzen zu. Unterdessen will sich der Spanner Miao, der sich mit seiner Kurtisane Yuqing zurückgezogen hat, vom Verhältnis der beiden überzeugen. Es kommt zur folgenden Szene: Der Glatzköpfige Miao hatte sich mit Yuqing eine Weile dem Liebesspiel hingegeben, dann war man zu Bette gegangen. Als Miao nach einer Weile erwachte, kam ihm in den Sinn, sich doch einmal heimlich davon zu überzeugen, wie es mit dem Kleinen Wen und der Jinzhong stand. Vorsichtig warf er sich eine Jacke über und schlich zur Tür. »Was ist?« fragte Yuqing, die ebenfalls wach geworden war. »Muß mal austreten«, flüsterte Miao leise und schlich durch die Halle hinüber bis unter das Fenster des Ostzimmers. Angestrengt lauschte er, drinnen war nur erregtes Stöhnen und das Knarren des Bettes zu hören. Neugierig riß er eine kleine Ecke aus der Papierverkleidung des Fensters und spähte nach innen. Sein Blick fiel auf Jinzhong, deren rechtes Bein in Ruyus Händen lag, während das Linke auf seiner Hüfte ruhte. Sie trug ein leuchtend rotes Satin-Kleid und hatte bunte Schühchen mit flachen Absätzen an den Füßen, welche ihm weit zarter und graziler schienen als die Füße seiner Yuqing. Als er weiter durch das Loch in der Fensteröffnung gaffte, sah er mit einem Mal das prächtige Glied des Ruyu, wenigstens zwanzig Zentimeter lang und auch recht breit. Er fuhr damit so heftig in Jinzhongs Unterleib auf und ab, daß es den Anschein hatte, als gleite eine große Python-Schlange in ihr Nest. Das Fleisch zu beiden Seiten der Scheidenöffnung war stark nach außen gewölbt, als wolle sie das Glied verschlingen, und die Scheidenflüssigkeit troff satt. 1000
Vgl. den Hinweis bei McMahon: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 236.
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Suche nach Vollkommenheit Der Kahlköpfige Miao war nun bereits seit etlichen Jahren ein ständiger Gast in den Freudenhäusern der Gegend, doch ein schmatzendes Geräusch wie das des mächtigen Gliedes, welches in der feuchten Unterleibsöffnung auf und ab glitt, hatte er noch nie vernommen. Er sah, daß Jinzhong unterdessen ihren Kopf zur Seite gewandt hatte, das Gesicht rot angelaufen. Schlaff streckte sie die Glieder von sich, beständig schnappte sie nach Luft. Miao hatte seine wahre Freude an dem Bild. »Die Auslagen, die der Kleine Wen mit den Leuten in der Vergangenheit hatte, haben sich gelohnt«, seufzte er. »Dagegen bin ich nur ein armer Tropf.« Noch einmal nahm er die Szene, die sich ihm bot, in Augenschein. Ruyu hatte Jinzhong die Beine weit spreizen lassen und bearbeitete sie nach allen Regeln der Kunst. Jinzhongs Blick war starr nach oben gerichtet, sie hatte die Finger fest in Ruyus Schultern gekrallt und rief: »Mein Schatz, ich vergehe vor Glück« Damit sank ihr Kopf ermattet in das Kissen, ihr Atem ging schwach, fast hatte es den Anschein, als habe sie das Bewußtsein verloren. Ihr Gesicht hatte eine blasse gelbliche Farbe angenommen. Dieser Anblick war zuviel für den Miao. Er fühlte nach seinem Glied, das hart wie ein eiserner Stab war. Flugs eilte er zurück in das Westzimmer, fand jedoch Yuqing nicht auf dem Ofenbett liegend vor. Vielmehr hockte sie soeben auf dem Nachttopf, um ihr Geschäft zu verrichten. Erregt wie Miao war, beugte er sich hinab und umklammerte sie bei den Hüften, hob sie aber, da er zu heftig zugriff, zusammen mit dem Nachttopf nach oben. Erschrocken fuhr Yuqing, die nicht wußte, wie ihr geschah, zusammen. »Was ist denn in dich gefahren?« schimpfte sie. Miao erwiderte nichts, schleuderte den Nachttopf fort und legte Yuqing über den Rand des Ofenbetts, um dann sein Glied mit aller Kraft zwischen ihre Schenkel zu treiben. Er war ohnehin derart erregt, daß es nicht lange dauerte, bis er seinen Höhepunkt erreichte. Der Glatzkopf war mit seinem Glied gerade sieben- bis achtmal hinein- und hinausgefahren, als er plötzlich innehielt, den schlaffen Schwanz herauszog, sich aufrichtete und einen langen Seufzer tat. Dann zog er sich die Hosen hoch, kroch auf die Innenseite des Bettes und schlief. Yuqing setzte sich auf. Die Pisse aus dem umgestürzten Nachttopf hatte sich auf dem Boden ergossen und verbreitete einen fürchterlichen Gestank. »Du Hundsfott«, schimpfte sie und wies auf Miao. »Was soll denn das? Begibt sich in den Hof und führt sich nach der Rückkehr auf, als wäre er nicht ganz bei Verstand. So eine Schweinerei, der ganze Boden voller Pisse, und mir hat er seinen stinkenden Samen auf die Schenkel gespritzt. Nicht mal in Ruhe zu Ende pinkeln konnte ich. Nein, was für ein Hundsfott!« Miao hatte sich die Bettdecke über den Kopf gezogen und sie schimpfen lassen. Wie Yuqing so unentwegt über ihn herzog, mußte er unwillkürlich lachen, wagte 1001 aber nicht, sich zu bewegen.
Wen Ruyu geht während der nächsten Zeit ganz in der wiedergewonnenen Liebschaft auf, beschließt gar, Jinzhong gegen alle Standesregeln auszulösen, um sie 1001
Spuren von Unsterblichen, Kap. 51, Bd. 2, S. 511f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
zur Frau zu nehmen. Die Idylle der beiden jungen Menschen wird nur kurze Zeit unterbrochen, als ein Betrunkener auftaucht. Da es sich um ein gelungenes Charakterbild in der an entsprechenden Szenen aus dem Leben der einfachen Bevölkerung nicht gerade üppigen Erzählliteratur Chinas handelt, wollen wir den Vorfall hier in seiner ganzen Länge darbieten. Wen Ruyu und Jinzhong saßen am nächsten Morgen eng aneinander geschmiegt auf dem Ofenbett beisammen und sprachen miteinander, als sie plötzlich jemanden vom Hof her rufen hörten: »He, wo ist denn hier die Kammer von der Jinzhong?« »Dort drüben,« antwortete ein kleines Mädchen. Im nächsten Augenblick wurde der Vorhang an der Türe beiseite geschoben und ein riesiger Kerl wankte nach innen. Er trug eine violette Filzmütze auf dem Haupt, hatte einen grünlichen Wams aus Schafleder am Körper, darunter ein großes blaues Hemd. Um die Hüfte hatte der Kerl eine Tasche gebunden. Ohne viel zu fragen, ließ er sich auf dem Rand des Bettes nieder. Ruyu erhob sich, kauerte sich auf einen Hocker. Als Jinzhong ebenfalls von dem Bett hinabglitt, um sich einen Hocker zu suchen, rief der Kerl laut: »Hiergeblieben, setz dich schön wieder hin!« Jinzhong sah, daß er betrunken war. Wohl oder übel nahm sie Platz und fragte: »Darf ich fragen, woher Sie kommen?« »Fragst du mich?« wollte der Kerl mit halb geschlossenen Augen wissen. »Von wo soll ich wohl kommen? Von daheim natürlich.« Damit streckte er das eine Bein auf dem Bett aus und fragte an das Mädchen gewandt: »So, und du bist wohl die Jinzhong, wie?« Die junge Frau nickte. »Und wer ist der da?« wollte der Kerl wissen, wobei er auf Ruyu wies. »Das ist Herr Wen aus Taian.« erwiderte Jinzhong. »Na wenn schon. Los, sag deinem Herrn Wen aus Taian, daß ich mit ihm Brüderschaft trinken möchte!« »Herr Wen trinkt niemals mit jemandem Brüderschaft.« »Wie?« fuhr der Kerl nun auf, »ist sich wohl zu fein oder stört ihn vielleicht mein Bart, dann zupfe ich ihn mir aus.« Er begann, sich einige Barthaare aus dem Kinn zu ziehen. Nach einer Weile hielt er inne und fragte: »So, ist er damit vielleicht zu bewegen?« Jinzhong antwortete darauf nichts. Als der Kerl sie so schweigend dasitzen sah, riß er die Augen weit auf und lachte höhnisch: »Wie, warum antwortest du mir nicht? Bin ich dir nicht fein genug, hast Angst, daß ich dir dein Heim beschmutze?« »Es ist nur«, erwiderte Jinzhong, »daß Herr Wen stets bescheiden und zurückhaltend ist. Er hat noch nie mit jemandem Brüderschaft geschlossen.« »Na gut«, lachte der Kerl, »wenn er nicht mit mir Brüderschaft schließen will, dann eben du.« »Unmöglich, ich bin doch eine Frau, wie sollte das gehen?« »Macht auch nichts«, rief der Kerl, »dann schließen wir uns halt zu einem Paar zusammen. Du wirst der Mann, ich die Frau. Wie gefällt dir das?« Mittlerweile kam Jinzhong das Gerede des Mannes nicht mehr ganz geheuer vor. »Hier ist ein Gast!« rief sie mit lauter Stimme nach draußen, damit es Zheng San hörte. »Warum kommt
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Suche nach Vollkommenheit denn niemand, ihn zu empfangen?« Sie rief noch ein paar Mal, doch wußte der Teufel, wo sich Zheng San befand, auf jeden Fall erschien er nicht. Auch Ruyu wollte mit dem Mann nicht mehr in einem Zimmer sitzen, er erhob sich, um nach draußen zu eilen, doch da hatte der Kerl schon den linken Arm ausgestreckt und die Türe blockiert. Wohl oder übel nahm Ruyu wieder auf dem Schemel Platz. »Bruder Wen«, sagte der Kerl nun, »komm her und setz dich hier auf das Ofenbett neben mich. Wir trinken einen Becher zusammen.« Als Ruyu noch immer schwieg, rief der Mann: »Was, ich lade dich zu einem Becher Wein ein und du stellst dich taub? Bin ich dir etwa auch nicht fein genug? Paß bloß auf, für andere Leute magst du der Herr Wen aus Taian sein, aber meiner Faust hier ist das egal!« »Komm, setz dich neben mich«, forderte Jinzhong den Wen nun auf, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls auf dem Ofenbett platzzunehmen. Als der andere sah, daß sich Ruyu gesetzt hatte, senkte er lächelnd den Kopf. Er zog einen irdenen Krug aus der Innentasche des Wamses und machte den Stöpsel ab. Dann fischte er noch kleine Weinschälchen hervor und schenkte mit unsicherer Hand ein, wobei er sich die Hälfte des Weins über die Kleider goß. Als er das erste Schälchen eingeschenkt hatte, hielt er es Jinzhong vor den Mund: »Hier, für dich, trink!« Nachdem sie das Schälchen in den Händen hielt, zog er ein zweites aus der Tasche, schenkte wieder mit zitternden Händen ein und hielt es Ruyu vor die Nase. »Trink!« Wohl oder übel nahm Ruyu das Schälchen in Empfang. Zuletzt schenkte der Kerl sich selber ein, setzte an und kippte den Wein in einem Zug hinunter. »Ah«, schlug er sich zufrieden auf die Schenkel, »so ein Weinchen steht nicht gerne auf einem Bein.« Mit diesen Worten fischte er aus der Tasche des Wamses ein rohes Entenei und reichte es Jinzhong. »Hier, für dich.« »Wie ißt man denn ein rohes Entenei?« fragte Jinzhong erstaunt. »Paßt wohl nicht in deinen süßen Kirschmund, so ein Entenei, wie?« lachte der Kerl. »Hier, ich zeige dir, wie man das macht.« Er brach das Ei in der Mitte auseinander, daß sich etwa gleich viel Eiweiß und Eigelb in jeder Hälfte befand. Ein Teil der Flüssigkeit war ihm über die Hand und auf das Bett geflossen. Der Kerl setzte eine Schalenhälfte an die Lippen, warf den Kopf in den Nacken, wobei ihm Eiweiß und Eigelb am Mund herabfloßen. Eilig wischte er mit der Hand darüber, schmierte sich die Flüssigkeit aber in den Bart. »Herrlich erfrischend, so ein Eichen«, schmatzte er lachend. »Man hält es kaum zwischen den Fingern, schon ist es zerdrückt. Habe mir die ganzen Finger schmutzig gemacht, schnell, gib mir ein Taschentuch.« »Habe ich nicht«, entgegnete Jinzhong. »Ein Stück Stoff, hier von deinem Kleid tut’s auch, wenn du kein Taschentuch hast, gib schon!« Er wartete gar nicht ab, was Jinzhong sagte, sondern griff bereits nach dem Kleid. Erschrocken rückte sie von ihm ab, packte nach einem Kopfkissenbezug und warf ihn ihm zu. Der Kerl schnappte den Bezug, wischte sich damit zweimal über das Gesicht, wobei er sich nun die Reste der Flüssigkeit auf den Augenbrauen verteilte. Jinzhong rief nun nach der Madame, Frau Zheng, die kurze darauf aus den hinteren Räumen herbeieilte. Als sie den Betrunkenen auf dem Bett sitzen sah,
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DIE WELT DER GEFÜHLE fragte sie: »Darf ich wissen, was Sie wollen, kommen Sie, setzen wir uns in ein anderes Zimmer.« »Was?« fuhr der Mann auf und warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Ist das hier vielleicht der Kaiserpalast oder der Yamen, daß meine Anwesenheit nicht erwünscht ist?« »Sie sehen doch, daß hier bereits ein Gast ist«, erwiderte die Alte Zheng. »Wenn Sie sich unterhalten wollen, gehen wir besser ins Nebenzimmer.« »Haha«, lachte der Kerl auf, »die alte Henne will sich für das Küken opfern. Tut mir leid, aber ich mache mir nichts aus älteren Damen wie dir.« »Reden Sie doch keinen Unsinn!« »Wo, wenn nicht hier, kann ich denn noch Unsinn quatschen«, lachte der Kerl. »So, dafür bekommst du ein paar auf dein Hinterteil.« Er zog einen Schuh aus und schlug der Alten mit der Sohle auf den Hintern, daß sie fast umfiel. Erschrocken stürzte die Alte Zheng zeternd nach draußen und rief nach dem Pockennarbigen Su. »Hahaha«, lachte der Kerl. »Nun schau sich einer dieses alte Weibsstück an. Ob die früher auch so zimperlich war, bevor sie jemand flachlegte. Kaum tätschelt man ihr den Hintern, sucht sie das Weite.« Unterdessen war Miao der Glatzkopf aus der Stadt wieder nach Shimapo zurückgekehrt. Als er die beiden Zhengs nicht im Hof fand, sah er im Westzimmer nach, fand dort aber weder die beiden Alten noch Yuqing. Die junge Frau hatte sich nämlich nach ihrer kurzen Affäre mit Ruyu in die hinteren Gemächer zurückgezogen, um weiteren Verdächtigungen aus dem Wege zu gehen. Miao begab sich daraufhin zur Ostkammer, schob den Vorhang beiseite und sah, daß Ruyu zusammen mit Jinzhong auf der einen Seite des Bettes kauerten, ihnen gegenüber ein ungeschlachter Kerl in groben Kleidern, wild mit Händen und Füßen gestikulierend. Ruyu machte einen hilflosen Eindruck. Als er Miao eintreten sah, ging ein Ausdruck der Erleichterung über seine Züge, er sprang auf, und auch Jinzhong erhob sich. Über das ganze Gesicht strahlend, die Hände zum Gruß erhoben, wandte sich Miao an Ruyu und Jinzhong: »Hier bin ich wieder!« Der Kerl räusperte sich vernehmlich und hieß ihn zu schweigen. Miao fuhr zusammen und stockte, wandte dann den Kopf und musterte den Kerl. Als dieser merkte, wie Miao ihn eingehend betrachtete, fuhr er ihn wütend an: »Was gaffst du mich so an, Kerl?« Miao warf einen unsicheren Blick auf Ruyu und fragte ihn mit unterdrückter Stimme: »Wer ist denn das?« »Kenne den auch nicht«, erwiderte Ruyu mit einem Kopfschütteln. Der Kerl wies mit der Hand auf Miao und fragte an Jinzhong gewandt, wer das sei. »Das ist der Dritte Herr Miao aus Taian«, war die Antwort. »Er unterzieht sich demnächst der Prüfung zum Bakkalaureus.« »Soso«, lachte der Mann spöttisch. »Bakkalaureus, ja, aber wo hat er denn seine Haare gelassen?« »Pah«, schimpfte er weiter, als Jinzhong nach einer Weile nichts erwidert hatte, »von wegen Bakkalaureus, der Glatzkopf ist mit Sicherheit ein Mönch aus Taian, der sich als Gelehrter verkleidet hat, um hier herumzuhuren! Zieh deine Mütze ab und laß mich doch einmal nachsehen!« Wild fuchtelte er dem Miao mit der Hand vor dem Gesicht herum. Dieser zuckte erschrocken zurück, als er den Kerl mit ver-
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Suche nach Vollkommenheit drehten, weit aufgerissenen Augen reden hörte. »Es ist wohl besser, wenn ich gehe«, sagte Miao zu Ruyu und wandte sich zur Tür. Er war bereits mit dem Fuß auf der Schwelle, als der Kerl ihm drohend die Fäuste entgegenstreckte: »Wage es nicht!« Eilig begab er sich in den Raum zurück. Die Art, wie er hastig im Raum hin und her geeilt war, bot einen gar zu lustigen Anblick. Jinzhong bog den Kopf nach hinten und lachte, woraufhin auch der Kerl einstimmte. Miao nutzte einen Moment der Unachtsamkeit und schlüpfte durch den Vorhang nach draußen, gefolgt von dem Kerl, der ihm sogleich mit großen Schritten 1002 nacheilte.
Die Szene ist gemeinsam mit der zuvor beschriebenen körperlichen Vereinigung der Tiefpunkt von Wen Ruyus Verstrickungen in die Welt der Gefühle und Sinne. Doch sein Sturz in den Abgrund ist noch nicht vollendet. Mehr und mehr gerät Ruyu in Geldnot. Die in aufrichtiger Liebe zu ihm entbrannte Jinzhong rät ihm, nicht zuletzt getragen von dem Wunsch auf eine gemeinsame Zukunft, sein Geld nicht weiter in dem Etablissement zu verschwenden. Kurz flammt Hoffnung in den Herzen der beiden auf. Ruyu offenbart ihr seine Pläne, an den Prüfungen teilzunehmen und Beamter zu werden. Man verspricht einander, bis zu diesem Erfolg zu warten und erst hinterher zu heiraten, dann bricht Ruyu in die Stadt auf, will sich den Examina unterziehen. Nach einem heftigen Streit mit ihren Wirtsleuten, die sich über die zurückgelassenen Habseligkeiten Ruyus hermachen, vergiftet sich Jinzhong und stirbt. Mit ihrem zuvor geäußerten Bekenntnis, Ruyu von Herzen zu lieben (wo xinshang ai ta [Kap. 56]) – die Liebe (ai) ein Begriff,1003 der den Paaren in der Erzählliteratur in dieser Offenheit nur selten über die Lippen kommt – ist sie die Antipodin zu Leng Yubing: Während Jinzhongs Entschlußkraft allein aus der vollkommenen Leidenschaft erwächst, sucht Leng mit der gleichen Entschlossenheit die Sublimierung in der Überwindung sexueller Wünsche. Schockiert begibt sich Wen Ruyu auf die Nachricht vom Tod seiner Geliebten hin an ihr Grab. Als die gierigen Wirtsleute von ihm Geld wegen des Verlustes ihres Mädchens verlangen, flieht er entsetzt und angewidert, nur um bei seiner Rückkehr in die Stadt festzustellen, daß er die Prüfungen nicht bestanden hat und auf keine Besserung seiner Lage hoffen darf. Endlich ist der Zeitpunkt gekommen, da sich Ruyu der mahnenden Worte Leng Yubings erinnert, er macht sich auf die Suche nach ihm. Als man schließlich aufeinandertrifft, unterzieht ihn der Lehrer schweren Prüfungen. Während Leng Yubing schließlich seine Residenz auf Penglai, der Insel der Seligen bezieht, muß sich Wen Ruyu noch viele weitere Jahre bemühen, bis auch er in die himmlischen Gefilde aufsteigt.
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Ebd., Kap. 53, Bd. 2, S. 529–532. Zum Begriff des ai im Roman sowie anderen Werken der Literatur vgl. McMahon: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 243f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
Wie die vorstehenden Ausführungen zu Spuren von Unsterblichen deutlich gemacht haben, vermittelt Li Baichuans Werk dem Leser die Botschaft, daß ganz gleich, wie gebildet und edel einer ist, über was für phantastische Kräfte einer auch verfügen mag, er in der Welt der Menschen mit ihren Zwängen und Problemen damit nur scheitern kann. Die Sicht, die der Verfasser vermittelt, ist negativ und zuversichtlich zugleich: Es lohnt einfach nicht, die eigenen Talente und Fähigkeiten im alltäglichen Getriebe zu vergeuden. Die Welt ist schlecht, die Menschen sind egoistisch, rachsüchtig, machthungrig, mag man sie ihrem Kleinmut, ihrer Gefangenschaft in den sinnlichen Gelüsten überlassen. Wer dagegen die Anlagen und den Willen in sich trägt, all dem zu entsagen, wer sich innerlich reinigt und aufrichtig nach Vollkommenheit strebt, der darf auf die Aufnahme in das Reich der Heiligen und Unsterblichen hoffen. Das hier sichtbar werdende Lebenskonzept bedeutet konkret den Rückzug aus der Welt und die damit verbundene Bemühung, die eigene Person durch ständige Vervollkommnung so weit zu bringen, daß sie den Versuchungen und Anfechtungen durch die tief im eigenen Inneren wohnenden Wünsche, Ambitionen und Gelüste sowie den Ansprüchen der anderen zu widerstehen vermag. Der Sinn der Spuren von Unsterblichen ist somit letztlich vor allem didaktisch aufzufassen. Reinigt man die Helden von ihren in der existentiellen Wirklichkeit nicht erreichbaren übermenschlichen Fähigkeiten, so bleibt als Residuat der in steter Suche und Läuterung befindliche Mensch. So positiv die Erfolge, die der einzelne damit am Ende für sich selber erzielen kann auch sein mögen, er wird den Aufgaben, die ihm durch die Bindung an Familie und Gemeinschaft quasi von Natur aus mitgegeben worden sind nicht mehr gerecht. Wer sich von allem zurückzieht bzw. wer, wie es der Schluß der Spuren von Unsterblichen mit dem Austritt aus der Welt nahelegt, nicht einmal mehr als Vorbild zur Verfügung steht, der droht, seinen existentiellen Pflichten nicht mehr nachzukommen – ein gerade angesichts der auf konkrete Lenkbarkeit der Gesellschaft gerichteten Denktraditionen in China unerhörter Verstoß. Auch Xia Jingqu (1705–1787), der uns in dem Roman Betrachtungen eines Landmannes (Yesou puyan) mit seinem Helden Wen Suchen einen ganz anderen Eindruck von Vollkommenheit vermittelt, wird so oder ähnlich gedacht haben.1004 In seinen Künsten und Fertigkeiten gerade auch bei der Bekämpfung von Geistern und Dämonen, auf deren Funktion wir noch zu sprechen kommen werden dem Leng Yubing in nichts nachstehend, erweist sich Suchen jedoch als vom Konfuzianismus durchdrungener Tatmensch, der der Welt nicht entsagt, sondern die Auseinandersetzung sucht. Die Konturen dieses Supermanns werden bereits in den ersten Zeilen des Romans entworfen, wo es heißt: Wen Suchen war ein ganzer Mann, hart wie Stahl, von außerordentlichem Talent und dabei ein hervorragender Dichter, der Verse auf alle möglichen Landschaften 1004
Hier bearbeitet nach der zweibändigen Ausgabe Yesou puyan, Xi'an: Sanqin 1993.
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Suche nach Vollkommenheit hervorbrachte. Zudem besaß er eine umfassende Bildung. Obwohl er keine Stellung als Beamter anstrebte, verfügte er doch über einen klaren Verstand. Er mochte kein Frauenheld sein, konnte es aber als Liebhaber mit einem Song Yu aufnehmen, sich als Dichter mit Sima Xiangru messen. Als Stratege glich er dem Zhuge Liang. Über körperliche Stärke verfügte er ebenso wie über Mut, war, was die Wissenschaften angeht, gleichermaßen bewandert in Astronomie, Mathematik und Medizin. Freundschaft ging ihm über alles, er galt als Muster konfuzianischer Moral, dabei integer und verläßlich. Im Leben kam es ihm darauf an, den rechten Glauben hochzuhalten und Formen des Irrglaubens zu bekämpfen. Mit seiner überragenden Intelligenz war er imstande, Probleme anzugehen, die 1005 für unlösbar galten und Urteile wie kein zweiter zu fällen.
Nur eine oberflächliche Lektüre des mit einhundertvierundfünfzig Kapiteln zu den längsten chinesischen Romanen zählenden und erst 1881 rund hundert Jahre nach seiner Abfassung im Druck erschienenen Werks läßt Suchen als statische Figur erscheinen,1006 deren Größe wegen der vielen eingefügten philosophischen und wissenschaftlichen Abhandlungen dann schnell als übertrieben gelten mag, weshalb etwa Lu Xun dem Roman einen literarischen Wert abgesprochen hat.1007 Wie ein genaueres Hinsehen jedoch zeigt, muß der Protagonist trotz der überragenden Fähigkeiten, über die er von Beginn an verfügt, durchaus einen Lernprozeß durchlaufen, so daß auch hier das Moment der Bildung nicht fehlt. Ein erster grober Überblick über die Handlung zeigt bereits, welche Wechselfälle des Schicksals unser Held hinnehmen muß, bevor er zum Erfolg gelangt. Die Ereignisse um seine Person spielen zur Zeit der beiden Ming-Kaiser Xianzong (1465–1488) und Xiaozong (1488–1505).1008 Der aus dem Kreis Wujiang der Präfektur Suzhou 1005 1006
1007
1008
Ebd., Kap. 1, Bd. 1, S. 2f. Die Ausgabe von 1881 erschien in einhundertzweiundfünfzig Kapiteln, versehen mit einem Vorwort und Bemerkungen zu Titel, Aufbau und Inhalt des Buches. Bereits kurz darauf wurde im Jahre 1882 eine zweite Fassung in einhundertvierundfünfzig Kapiteln vorgelegt, in die einige, zuvor fehlende Szenen eingearbeitet worden sind. Der Unterschied zwischen den beiden Versionen besteht vor allem in der Behandlung der Sexualität. Die entsprechenden Passagen sind in der früheren Edition oftmals nur andeutungsweise wiedergegeben, Suchen erscheint dort nur als Opfer und nicht als aktiver Teilnehmer an den orgiastischen Feiern, die sich in einigen Abschnitten finden. Die entsprechenden Szenen sind dagegen in dem Text von 1882 ausführlicher beschrieben. Ob es sich hier um nachträgliche Ausschmückungen handelt oder die Herausgeber auf Entwürfe des Verfassers zurückgriffen, ist nicht mehr festzustellen. Vgl. dazu die Angaben im Anhang zu Joanna Ching-Yu Kuriyama: Confucianism in Fiction: A Study of Hsia Ching-Ch'u’s »Yeh-Sou P'u-Yen«, Ph.D. an der Harvard University, Cambridge, Mass. 1993, S. 210ff. Vgl. Lu Xun: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung, S. 332. Zur weiteren Rezeption des Werks innerhalb der chinesischen Literaturwissenschaft seit den zwanziger Jahren vgl. McMahon: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 154. Den Angaben im Roman zufolge beginnt die Handlung im Jahre 1465 und endet im Jahre 1521, das als vierunddreißigstes Regierungsjahr von Kaiser Xiaozong bezeichnet wird. Der
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stammende Wen Suchen macht sich bei der Obrigkeit unbeliebt, als er während einer Prüfung in einem Gedicht die Existenz der taoistischen Götter und Heiligen anzweifelt und Angriffe gegen den Buddhismus richtet. Aufgrund seiner ansonsten untadligen Moral kann man ihm jedoch nichts anhaben. Aus Neugier und Sorge um die Verfassung des Reiches begibt sich Suchen mit einem Diener auf eine Reise, auf der er im Kampf gegen einen Drachen, der eine katastrophale Flut verursacht hat, einen ersten Beweis seiner Künste gibt. Unterstützt von einer Reihe weiterer Großtaten, eilt dem jungen Mann bald der Ruf eines Helden voraus, so daß ihn der Präzeptor Shi bei Hofe einzuführen gedenkt. Sein Wirkungsbereich vergrößert sich noch, nachdem Suchen eine Palastrevolte niedergeschlagen und dem Kronzprinzen als rechtmäßigem Kaiser Xiaozong auf den Thron geholfen hat. Ein leuchtendes Vorbild nicht nur für die Menschen im eigenen Reich, gelingt es Suchen durch mehrere Feldzüge in die Mongolei, nach Indien, Japan usw. diese Länder ebenso zum Konfuzianismus zu bekehren wie die Staaten Europas (Ouzhou bazhou, Kap. 147). Ein Traum am Schluß des Buches deutet an, daß er unter die Heiligen aufgenommen wird. Ähnlich wie in einer ganzen Zahl von großen Romanen, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden sind und auf den vorstehenden Seiten untersucht wurden, so ist auch die Handlung in Betrachtungen eines Landmannes nicht von der Person des Verfassers zu trennen, die hinter den kargen biographischen Angaben, welche uns überliefert sind, schemenhaft hervortritt.1009 Das gesellschaftliche Umfeld, aus dem Xia Jingqu stammt, ähnelt dabei dem von Cao Xueqin. Der wohlhabende Clan, der seine Heimat in der südchinesischen Provinz Zhejiang hatte, siedelte in der Xuande-Ära (1426–1435) nach Jiangyin über und brachte in den eineinhalb Jahrhunderten bis zur Geburt des Autors zahlreiche erfolgreiche Beamte hervor, darunter Inhaber des Doktor-Grades und Gelehrte an der HanlinAkademie. Von Hause aus mit dem Studium der Klassiker vertraut, rundete Xia
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Verfasser hat hier wohl bewußt die Herrscherperiode des Xiaozong-Herrschers verlängert, um seinen Protagonisten in den ausgiebigen Genuß des »erleuchteten« Kaisers kommen zu lassen. Die für das eigentliche Todesjahr Xiaozongs 1505 angegebenen Fakten im Roman erhöhen den Status Wen Suchens zu einer Gestalt, die in den Ablauf historischer Abläufe einzugreifen in der Lage ist. In Kap. 141 erfährt der Leser, daß Xiaozong erkrankt ist und sich mit dem Gedanken der Abdankung zugunsten des Kronprinzen trägt. Der Herrscher erholt sich jedoch, nachdem er den ermunternden Worten Suchens gelauscht hat und zeigt auch nach siebenundvierzigjähriger Herrschaft zum Ende des Romans noch keine Zeichen körperlicher Schwäche. Vgl. Huang: Literati and Self-Re/Presentation, S. 136f. Der umfassendste Überblick hierzu findet sich bei Kuriyama: Confucianism in Fiction, S. 21–45. Eine eingehende chinesische Biographie des Verfassers und seines familiären Hintergrundes liegt außerdem vor von Zhao Jingshen: »Betrachtungen eines Landmannes und die Chroniken der Familie Xia« (Yesou puyan yu Xiashi zongpu), in: Überblick über die chinesische Erzählkunst (Zhongguo xiaoshuo congkao), Ji'nan: Qilu shushe 1980, S. 433–447.
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Jingqu seine Kenntnisse durch die Lektüre wissenschaftlicher Werke ab, angefangen von der Medizin bis hin zur Astronomie und Mathematik. Auf ausgedehnten Reisen durch das Reich trat er in Kontakt mit anderen zeitgenössischen Gelehrten und verschaffte sich Eindrücke von der allgemeinen Lage. Die großen Hoffnungen, über die Xia nicht zuletzt in einigen Gedichten Ausdruck gab, sollten sich jedoch nicht erfüllen. Wiederholt scheiterte er bei den Beamtenprüfungen und erlangte zuletzt nicht einmal den akademischen Titel eines Bakkalaureus. Zwar fehlte es ihm nicht an einflußreichen Freunden und Förderern, doch verhinderten unglückliche Umstände seinen Einzug in ein Amt. Die Parallelen zum Schicksal des Romanhelden Wen Suchen sind hier nur zu deutlich: Yang Mingshi (1661–1736), ein angesehener Minister bei Hofe, war so angetan von der Belesenheit Xias, daß er ihn dem Kaiser für die Kompilierung einer Geschichte der acht Banner vorzuschlagen gedachte, starb jedoch bevor er dazu kam. Getrieben von materieller Not und der Sehnsucht nach Anerkennung, führte Xia zwischen 1740 und 1760 eine rastlose Existenz, bei der er nahezu zwei Jahrzehnte lang durch das Reich wanderte. Seine Lage besserte sich erst, als es einem der Söhne gelang, den eigenen Beamtenposten auf den Vater zu übertragen. Der Beginn der Niederschrift des Romans sowie einer Reihe weiterer Essaysammlungen und wissenschaftlicher Abhandlungen dürfte auf diese relativ sorglose Zeit zurückgehen. Vollendet hat Xia Jingqu die Betrachtungen eines Landmannes dann vermutlich während der siebziger Jahres des 18. Jahrhunderts, gut ein Jahrzehnt vor seinem Tod. Die enge Verbindung zwischen Werk und Autor, hier durch die Bezüge einiger Romanszenen zur Biographie Xias bereits angedeutet, läßt sich weiterhin erhellen, wenn man Titel, zentrale Personen und Handlungselemente näher untersucht. Die Bezeichnung Betrachtungen eines Landmannes geht zurück auf eine unter der Wendung »yeren xianri« bzw. »yeren xianpu« (ein Landmann schildert dem König die Methode, wie man in der Sonne sitzt, um warm zu werden) bekannte Anekdote aus dem philosophischen Buch Liezi, das wohl aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert stammt. Der Geschichte zufolge entdeckte ein armer Bauer eines Tages, wie er sich im Leben ein wenig Komfort schaffen konnte, indem er sich unter freiem Himmel von der Sonne wärmen ließ. Stolz erklärt er seiner Gattin, diese bequeme Methode des Wärmens dem Herrscher preiszugeben in der Hoffnung, von diesem eine Belohnung zu erhalten. Die Bedeutung »jemandem seinen bescheidenen Rat anzubieten«, in der »xianpu« als Höflichkeitsform später Gebrauch fand, legt nahe, daß es sich bei dem Inhalt des Buches um eine Art von Offenbarungen handelt, die Xia Jingqu dem Leser darbringt. Doch die Bezüge zur Person des Romanverfassers sind noch weit enger. Nicht nur, daß die Klassenzeichen der Zunamen von Xia und seiner Mutter, einer Frau Tang, wesentliche Bestandteile der Namen des Protagonisten und seiner Mutter im Roman konstituieren,1010 der Autor läßt darüber hinaus wesentliche Bestandteile seiner eigenen 1010
Vgl. KURIYAMA: Confucianism in Fiction, S. 110.
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Lebensumgebung durch die Bezeichnungen für die vier Nebenfrauen des Wen Suchen im Werk anklingen, von denen jede eine der dem Helden geläufigen Literatur- und Wissenschaftsbereiche repräsentiert: Suchens in der Mathematik bewanderte Gattin Xuangu bezeichnet demnach Xia Jingqus gleichnamigen Abakus daheim; die Dichtergefährtin Xianling steht für Xias Schlafmatte, und hinter der medizinkundigen Su'e verbirgt sich eine Armstütze Xias, mit der er seinen Puls maß. Die Bezeichnung der vierten Nebenfrau Nan'er, die somit den Bereich der Militärwissenschaft präsentiert, ist nicht ganz klar, vermutlich weist ihr Name auf den Griff der Tür zu Xias Studierzimmer hin. Hinter Suchens Gattin Hongdou, die sich mit der Dame Tian die Rolle der Hauptfrau teilt, ist schließlich der Name für Xia Jingqus Siegel auszumachen.1011 Mit der bescheidenen Rückstufung zum einfachen Landmann, die deutlich im Widerspruch zu der überragenden Persönlichkeit Wen Suchens steht, deutet Xia Jingqu an, daß man seine eigenen Fähigkeiten und Qualitäten von höherer Seite nicht richtig zu würdigen verstand. Im Werk läßt er den Protagonisten jene Rolle spielen, die er wohl auch für sich selbst als die einzig angemessene betrachtet hat. In einer Art Selbstheilung läßt Xia Jingqu angesichts des eigenen beruflichen Scheiterns im Leben allerdings nicht den larmoyanten Ton anklingen, wie er noch in Cao Xueqins Traum oder, dort schon in abgeschwächter Form, in Wu Jingzis Gelehrten zu vernehmen ist. Vielmehr setzt er zu einem selbstbewußten Rundumschlag an, um mit Wen Suchen ein Beispiel dafür zu setzen, wie den mißachteten und frustrierten Gelehrten seiner Zeit wieder zu ihrem Recht verholfen werden sollte und welche Würdigung man ihnen zuteil kommen lassen möge. Die Versagung eines offiziellen Amtes allein ist weder für Xia Jingqu noch für sein Alter ego Wen Suchen ein Mangel, ja, es adelt beide gleichermaßen, ruft es doch mit dem Bild des »Heiligen nach innen und Königs nach außen« (neisheng waiwang, Kap. 87 und 88) die Erinnerung an Konfuzius selber wach, der jahrelang ohne ein Amt durch das Reich zog und als Ratgeber an den Fürstenhöfen seiner Zeit auftrat.1012 Konfuzius' Rolle bleibt dabei weitgehend auf die des Übervaters und Gründers jener Denkschule beschränkt, der Wen Suchen zum Sieg über die als heterodox aufgefaßten Glaubensformen des Buddhismus und Taoismus verhelfen möchte. Konfuzius und seine Lehre bilden die Legitimation, aus der heraus unser missionarischer Held seinen Kreuzzug startet. Seine konkreten Lebensumstände dagegen – etwa die glücksverheißenden Omina bei seiner Geburt, die vom Kaiser ungnädig aufgenommenen Memoranden an den Thron sowie die Maßnahmen der Bestrafung und Verbannung sind dem Schicksal von Männern wie Wang Yang1011 1012
Vgl. Mc Mahon: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 155. Der Name Suchens, der in einer wörtlichen Übersetzung mit »unernannter Minister« wiedergegeben werden kann, unterstützt diesen Bezug zu Konfuzius, der in der chinesischen Geschichtsschreibung u.a. als »ungekrönter König« (suwang) bezeichnet worden ist. Vgl. Huang: Literati and Self-Re/Presentation, S. 116.
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ming (1472–1528) und Sun Jiagan (1683–1753) nachempfunden, die für Xia Jingqu mit ihrem Streben nach Selbstkultivierung sowie dem Erfolg in vom Herrscher übertragenen Ämtern wesentliche Momente seines Ideals vom vollkommenen Gelehrten repräsentierten.1013 Die Art und Weise, wie Wen Suchen die Probleme meistert, hebt ihn dabei allerdings noch weit über die friedfertigen Gestalten eines Konfuzius, Wang Yangming und Sun Jiagan hinaus. Sein Hauptbetätigungsgrund zumindest während der ersten hundert Kapitel des Romans ist das Schlachtfeld, auf dem er den Feinden des Reiches vernichtende Niederlagen beibringt. Weit maskuliner als der um Affinität zur Damenwelt bemühte Jia Baoyu, weist Suchen Züge der Idealgestalt des »belesenen Ritters« (wenxia) auf, der sich als gebildeter Mann nicht hinter den Büchern versteckt, sondern mutig und entschlossen für die Belange des gesamten Staates eintritt. Xia Jingqu hebt hier deutlich auf Tendenzen im Zeitgeschmack der Literaten des 18. Jahrhunderts ab, die die Rolle des Gelehrten neu zu definieren suchten.1014 Wir werden auf die Auseinandersetzung mit Wen Suchens Ritterrolle, die nicht zuletzt von seiner Mutter einer Kritik unterzogen wird, noch zu sprechen kommen. Die Themenbreite von Betrachtungen eines Landmannes, vor allem aber seine strukturelle Besonderheit, den Handlungsfluß immer wieder mit Abhandlungen über religiöse Vorstellungen sowie solchen zu Fragen des Militärwesens, der Medizin etc. zu unterbrechen, hat dem Werk die hier durchaus abschätzig gemeinte Einordnung in die Kategorie des »Gelehrtenromans« gebracht, eine Klassifizierung, die sich Xia Jingqus Epos etwa mit Li Ruzhens Blumen im Spiegel teilt.1015 Dahinter steht die Annahme, daß der Zweck eines solchen Buches nicht in seiner Erzählung zu suchen sei als vielmehr in dem Bestreben des Verfassers, einen Beweis seiner Bildung zu liefern. Gerade im Falle der Betrachtungen eines Landmannes mag man bei oberflächlicher Lektüre schnell zu diesem Urteil gelangen. Daß Xia Jingqu mit dem kompositorischen Mittel der Abschweifung durchaus einen erkennbaren Plan verfolgte, zeigt erst die eingehendere Textanalyse. Eines der Elemente, deren sich der Autor dabei häufig bedient, sind die vielen Reisen Wen Suchens. Anstatt dem Leser wie in vielen anderen Werken der zeitgenössischen Erzählliteratur durchaus üblich allein das Resultat des Ortswechsels mitzuteilen, nutzt Xia zum Beispiel den thematisch glaubwürdigen Raum einer mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Schiffspassage aus der südchinesischen Heimat in die Hauptstadt Peking, indem er die erzählte Zeit mit allerlei gelehrigen 1013 1014
1015
Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 132–135. Vgl. Lynn A. Struve: »Ambivalence and Action: Some Frustrated Scholars of the K'ang-hsi Period«, in: Jonathan D. Spence / John E. Wills, Jr. (Hg.): From Ming to Ch'ing: Conquest, Region, and Continuity in Seventeenth-Century China, New Haven: Yale UP 1979, S. 332. Vgl. C.T. Hsia: »The Scholar-novelist and Chinese Culture: A Reappraisal of Ching-hua yuan«, in: Andrew H. Plaks (Hg.): Chinese Narrative, Princeton: Princeton UP 1977, S. 269.
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Gesprächen zwischen den Akteuren der Rahmenhandlung anfüllt. Ein Beispiel, das früh im Roman auftaucht, sind die Umstände von Wen Suchens Reise nach Peking, wo ihm ein Onkel Zugang bei Hofe verschaffen will (Kap. 10–11). Unter den Passagieren an Bord des Schiffes befinden sich unter anderem ein buddhistischer Mönch namens Fayu sowie drei Nonnen, mit denen Suchen alsbald in ein Streitgespräch gerät. Wir wollen uns den Inhalt hier zunächst ersparen und weiter unten im Zusammenhang mit der von Wen propagierten Überlegenheit des Konfuzianismus darauf zurückkommen. Interessant ist an dieser Stelle vielmehr, wie Xia Jingqu den gelehrigen Austausch von Argumenten, der sich im Buch über mehrere Seiten hinzieht mit einer knappen Beschreibung des Schiffes unterbricht, um sodann eine wiederum längere Diskussion über die Literatur anzuknüpfen, wobei Suchen seinem Kontrahenten Fayu dessen Scheitern als Dichter in Aussicht stellt. Im Anschluß daran kommen die beiden Männer auf die Schwierigkeiten der Nonnen zu reden, ein Thema, das eingeleitet wird von den unzüchtigen Blicken, die die jungen Frauen in der Begleitung des Mönchs mit Suchens Freund Shuangren austauschen. Mit einem Rat Suchens, wie die vor Sehnsucht nach Liebe bereits erkrankten Damen ihre Leiden zu heilen vermögen, indem sie nämlich in den Laienstand übertreten und Familien gründen, endet die Zusammenkunft an Bord bei dem Eintreffen am Zielort, womit der Autor wieder auf den ursprünglichen Zweck der Reise zu sprechen kommt. Wo nicht der häufige Ortswechsel Wen Suchens Anlaß für ein Gespräch mit Menschen ist, die ihm unterwegs begegnen, kann der eigentliche Rahmen der jeweiligen Handlung auch durchaus sehr kurz sein. In Kap. 64 etwa genügen wenige Zeilen, in denen kurz dargelegt wird, wie sich die Familienangehörigen in den Gemächern von Madame Shui, der Mutter Suchens, versammelt haben, um ihren sodann in einem umfangreicheren Monolog dargebotenen Ausführungen zur Bedeutung von Loyalität, Kindespietät und Humanität zu lauschen. Der Übergang erfolgt recht unvermittelt, ein Anlaß für die Wahl des Themas ist zunächst nicht erkennbar. Erst später wird deutlich, daß diese Abschweifung jene zentralen Konflikte vorwegnimmt, denen Suchen später innerlich ausgesetzt ist. Nicht zum ersten Mal erweist sich Madame Shui hier als weise Zukunftsdeuterin, ahnt sie doch, daß die drei Themen im Mittelpunkt der Bemühungen des Sohnes stehen, die Rückkehr zur Orthodoxie zu bewerkstelligen. Die jeweilige Länge der Ausflüge in die Gelehrsamkeit entgleitet dabei keineswegs der Kontrolle durch den Verfasser. Nach mehreren Seiten bzw. wie oben im Falle der Gespräche mit Fayu nach zwei Kapiteln, kehrt er regelmäßig zur Fortführung der Ausgangshandlung zurück. Selbst dort, wo ein Exkurs noch um einiges länger ist, bringt er das Thema nicht monolithisch an einem Stück vor, sondern versieht die Passage mit Auflockerungen. Eine der längsten Ausführungen, in deren Zentrum historische Betrachtungen stehen, beginnt in Kap. 71 und endet sechs Kapitel später. Wen Suchen befindet sich zu diesem Zeitpunkt in der Provinz Shandong, wo er die Region inspizieren soll und nach einem geeigneten Gatten für Xiong Feiniang sucht. Die Begegnung mit dem aufrechten Bai Yulin
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und seinen Freunden läßt ihn seine an sich dringende Arbeit zehn Tage lang unterbrechen, um im Kreise der Männer Probleme der Klassiker sowie der Geschichtsdarstellung zu erörtern. Als Rechtfertigung für die Unterbrechung der ihm übertragenen Mission wird vom Verfasser ins Feld geführt, daß die Zusammenkunft eine einmalige Gelegenheit nicht nur für Herrn Bai sei, sein Wissen zu erweitern, sondern daß auch Suchen davon profitiere, komme er doch dabei in den Genuß von Gesprächen mit zwei prominenten Gelehrten. Um der Gefahr drohender Langeweile auf seiten des Lesers zu entgehen, kleidet Xia Jingqu das Thema in die Form historischer Schauspiele, die im Anwesen von Herrn Bai zu Ehren des Gastes aufgeführt werden, um die versammelten Herren dann anschließend über den Inhalt diskutieren zu lassen. Eingefügt in die Gespräche sind Traumszenen, die von einigen Anwesenden als Hinweise auf die Heirat Suchens mit der Tochter des Hauses gedeutet werden. Wie sich am Ende herausstellt, gehen der Traum und der in der Folge auftretende Selbstmordversuch der Tochter auf die Rachegelüste eines Geistes zurück, bei dem es sich um einen ehemaligen Hausdiener handelt. Der junge Mann war einst von Herrn Bai fälschlicherweise geziehen worden, eine unzüchtige Beziehung zu unterhalten, und starb daraufhin. Nachdem der Fall mit Suchens Hilfe gelöst ist, kehrt man zur Erörterung der Fragen in einigen weiteren historischen Schauspielen zurück. Dann erst setzt Wen seine Mission fort. Die ausführlichen Exkurse erfüllen somit wesentlich zwei Funktionen: Sie bringen einerseits die Nuancen innerhalb der konfuzianischen Gedankenwelt zum Ausdruck, welche der gesamten Romanhandlung als Rahmen dienen, und sie führen andererseits eine Reihe von kleineren Nebenfiguren sowie Problemen ein, mit deren Befassung der Protagonist Gelegenheit erhält, seine überlegenen Kenntnisse praktisch unter Beweis zu stellen. Auf einer allgemeineren Ebene sind die Abschweifungen als Hinweis auf die Komplexität der realen Welt zu verstehen. Der Inhalt der Betrachtungen eines Landmannes mag mit dem Sieg der Orthodoxie über die Heterodoxie, dem Guten über das Böse als überaus simpel erscheinen. Doch die Kräfte, die der Held unterwerfen muß, sind nicht nur verschlagene Minister und durchtriebene Eunuchen. Sie werden in psychologischer bzw. moralischer Form ebenso sichtbar, etwa in den Spannungen zwischen den Ansprüchen durch Loyalität und Kindespietät. Was Xia Jingqu dem Leser hier zu vermitteln sucht, ist, daß die Fertigkeiten und Kenntnisse, der Welt die konfuzianischen Werteauffassungen nahezubringen, nicht allein mit der Beherrschung der moralischen Lehren von Konfuzius und Menzius zu erlangen sind. Diese stellen sozusagen nur den Anfang dar. Ihre praktische Umsetzung in der Wirklichkeit erfordert vielmehr Wissen aus allen möglichen anderen Bereichen, aus Astronomie und Mathematik ebenso wie aus der Medizin, der Alchemie, der Militärstrategie, der Traumdeutung usw. Wenden wir uns nach diesen präliminarischen Betrachtungen zur Verfasserbiographie und den strukturellen Besonderheiten des Werks den inhaltlichen Aspekten zu. Die Vielschichtigkeit der Betrachtungen eines Landmannes wird
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dabei am ehesten klar, wenn man sich auf die Gestalt des Wen Suchen konzentriert. Er ist der Protagonist, der dem umfassenden Buch seine Einheitlichkeit gibt und ihm den Romancharakter verleiht. Das Streben nach der Vollkommenheit auf der persönlichen Ebene, um noch einmal auf das Thema in diesem Abschnitt zurückzukommen, ist für unseren Helden in vieler Hinsicht gleich zu Beginn abgeschlossen, wie der weiter oben zitierte Abschnitt über sein Wesen und seine Fertigkeiten belegt. Wie wir jedoch noch sehen werden, muß auch Suchen in vieler Hinsicht noch einen Lernprozeß durchmachen. Aber sein Streben ist von Anfang an weniger auf die eigene Person als vielmehr auf die äußeren Bedingungen gerichtet, womit er gleichermaßen die Statur eines Missionars wie die eines Kreuzfahrers gewinnt. Sein Credo, das ihn antreibt, legt er im Gespräch mit folgenden Worten dar: »[...] Seit langem hege ich einen Traum, doch wagte ich bislang nicht, ihn deutlich in Worte zu fassen. Ihr zwingt mich nun, meine Ansichten darzulegen. Seit den Dynastien Qin und Han finden die Übel des Buddhismus und des Taoismus nun schon Jahrtausende lang bei uns Verbreitung. Obgleich Han Yu in seinem Traktat ›Erläuterungen zum Tao‹ zum Ausdruck brachte, die Anhänger der heterodoxen Lehren wieder dem rechten Menschentum zuführen zu wollen, ihre Bücher zu verbrennen und ihre Tempel und Klöster in Besitz zu nehmen, blieben dies im Grunde nur theoretische Anweisungen. Trotz der vernünftigen Vorschläge, die das Werk enthält, kam es nicht zu einer Verbesserung der allgemeinen Lage. Wenn die Zeit gekommen ist und ich einen tugendhaften Herrscher gefunden habe, so werde ich entschlossen an der Vernichtung von Buddhismus und Taoismus arbeiten, mich bedingungslos der konfuzianischen Lehre verschreiben und die Prinzipien in Han Yus zeitlosem Traktat in die Tat umsetzen. Jeder wird dann den ihm angemessenen Platz finden, und die Lehre wird vereinheitlicht werden. Die Übel und Mißstände von Jahrtausenden werden dann fortgefegt. 1016 Dies ist mein bescheidener Wunsch.«
In einer Interpretation des Gedichtes »Der Pavillon des gelben Kranichs« aus der Feder des Tang-zeitlichen Poeten Cui Hao, in dem von dem Auszug der Heiligen aus der Welt die Rede ist, hat Suchen zuvor schon die Nichtigkeit der Konzepte von »Nichts« und »Leere« sowie der Unsterblichkeit gegeißelt, wie sie in Buddhismus und Taoismus zu finden sind. Gültigkeit besitzt für ihn nur der Weg des Heiligen vor dem Hintergrund des Konfuzianismus mit seiner Weltbezogenheit. Worauf es Wen Suchen ankommt, ist, die Einheit von Glauben und Leben zu erreichen, daher sein Streben, sich in den verschiedenen Künsten zu vervollkommnen und sie immer wieder unter Beweis zu stellen. Unser Interesse soll zunächst diesen Werkzeugen dienen, mit denen der Protagonist in der Welt agiert. In einem zweiten Schritt wollen wir später den Blick auf die eher sinnlichen Reize 1016
Betrachtungen eines Landmannes, Kap. 1, Bd. 1, S. 10.
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und Lockungen richten, mit denen sich Suchen auf der emotionalen Ebene auseinanderzusetzen hat und in deren Überwindung er persönlich an Größe gewinnt. Den Ursprung für Wen Suchens Aktionismus bilden in der Regel Katastrophen, Aufstände und alle möglichen Formen des Unrechts. Wir können hier nicht ausführlicher auf alle die Talente eingehen, die Wen im Laufe der Zeit unter Beweis stellt. Einige allgemeine Anmerkungen mögen genügen. Da wir auf die wichtigeren Glaubensdinge ohnehin noch zu sprechen kommen werden, soll unser Interesse hier zunächst dem gesunden Menschenverstand dienen, der ihn, den Ratgeber ohne ein Amt, durchaus für einen Posten als Landrat qualifiziert. In Kap. 121 erfahren wir, daß Wen Suchen bei seiner Reise an einen Ort gelangt, der von einem verheerenden Sturm heimgesucht worden ist. Sogleich nimmt er Kontakt mit einem der örtlichen Beamten auf, um ihm als Verwaltungsfachmann zur Seite zu stehen. Sein Augenmerk gilt der Linderung der Not unter der Bevölkerung. Man muß die Menschen, die ihrer Vorräte beraubt sind, mit Lebensmitteln versorgen. Möglichst schnell muß dafür Sorge getragen werden, daß sie zumindest Reisbrei erhalten. Als Zentralküche bietet sich ein großer Tempel an, wo man sich einfinden mag. Die zuzuteilende Menge für Erwachsene und Kinder ist dabei ebenso zu berücksichtigen wie eine ordentliche Durchführung der Maßnahme, vor allem um Betrügereien und Diebstähle zu verhindern. Um ein effektiver Administrator selbst im kleinsten Distrikt zu sein, genügt eben nicht reines Buchwissen. Vielmehr muß der Beamte eine Reihe von praktischen Fähigkeiten in seiner Person vereinen. Er muß wirtschaftlich kalkulieren können wie ein Kaufmann, streng sein wie ein Gesetzeshüter und so wohlorganisiert wie ein Buchhalter. Nicht das geringste darf seiner aufmerksamen Sorge entgehen. Selbst dort, wo Wen Suchen wie im Falle der Niederschlagung eines Aufstandes der Miao-Nationalität dem mit der Mission beauftragten General als Berater zur Seite gestellt ist, beruft er sich nur grob auf die reichlich vorhandene Literatur zur Militärstrategie und präsentiert quasi nur deren Essenz. Ein knapper Hinweis auf den großen Militärführer Zhuge Liang aus der Zeit der Drei Reiche, der ebenfalls einen Feldzug gegen die Völkerstämme im Süden unternahm, genügt, um die richtige Strategie zu entwickeln: »[...] Wenn die Miao ungeschickt handeln, setzen wir unsere Weisheit ein; wenn sie es mit Betrügereien versuchen, setzen wir auf Vertrauen; wenn sie grausam sind, werden wir uns als gütig erweisen; zeigen sie sich stur und unnachgiebig, so laßt uns flexibel handeln; wo sie hastig auftreten, soll Vorsicht unsere Devise sein; versuchen sie uns zuzusetzen, werden wir die Ordnung wiederherzustellen wissen; haben sie Eile, so nehmen wir uns die notwendige Zeit; agieren sie zögerlich, so handeln wir entschlossen; ihre Nachlässigkeit mag an unserer Effizienz scheitern. Die Miao sind in ihrer Strategie abhängig von hohen Bergen und tiefen Schluchten, also laßt uns die Angriffe in den Tälern führen. Ihre Verstecke in dem dichten Buschwerk und den Wäldern werden wir niederzubrennen wissen.
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DIE WELT DER GEFÜHLE Nichts liegt ihnen mehr am Herzen als ihre Familien und ihr Vieh, also werden wir sie mit Nachtangriffen in Angst und Schrecken versetzen. Sollten sie sich in entlegene Gebiete zurückziehen, dann werden wir die Verfolgung dennoch unnachgiebig durchführen. Diese Maßnahmen werden letztlich zum Sieg führen. [...] Kinder werden wir nicht gefangen nehmen, ebensowenig die Alten und Kranken töten. Zeigen sie Bereitschaft zur Kapitulation, dann werden wir diese in aufrichtiger Form akzeptieren. Rebellieren sie dennoch, dann werden wir sie zu beschämen wissen. Laßt uns auf der Hut sein vor den Mutigen und Gerissenen und uns um die Einsamen 1017 und Armen kümmern.«
Es ist nicht ein einziger Weg und schon gar nicht brachiale Gewalt, die zum Sieg führt, sondern Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Lage. Von dieser Weisheit profitierte bereits Zhuge Liang, als er Meng Huo, den Anführer der Aufständischen, siebenmal gefangen nahm und ihn am Ende zur freiwilligen Kapitulation veranlaßte aus der Erkenntnis heraus, daß er gegen die überlegene Strategie des Kanzlers von Shu nichts ausrichten könne. Seine mit am bemerkenswertesten Fähigkeiten legt Wen Suchen sicherlich als Mediziner an den Tag. Konfuzianismus und Heilkunde sind für ihn aufs engste miteinander verbunden. Xia Jingqu selbst hat dies auch im Vorwort zu einem medizinischen Werk aus seiner Feder mit dem Titel Erläuterungen zur Medizin (Yixue fameng) hervorgehoben. Wo es die Aufgabe des Konfuzianismus sei, das geistigmoralische Wesen des Menschen zu bewahren, so heißt es dort, bestehe das Anliegen der Heilkunde darin, den menschlichen Körper und das Leben zu schützen. Für die Existenz des Menschen sind sowohl Konfuzianismus als auch Medizin unverzichtbar, denn seine Körperlichkeit bestehe nicht ohne den Geist und der Geist nicht ohne Körperlichkeit.1018 In der Gestalt Wen Suchens sind nun beide Grundsätze vereint. Zumeist bricht er in der Verkleidung eines Doktors zu seinen schwierigen Missionen auf, was ihm weit über die allgemeinen ärztlichen Aufgaben hinausgehende Züge eines staatlichen Chirurgen verleiht, der mit der Beseitigung der Gebrechen des Reiches befaßt ist. Dies ist freilich nur eine allegorische Deutung der Gestalt Suchens. Im konkreten, die eigentlichen Fragen der Medizin betreffenden Sinne, zeichnet sich Betrachtungen eines Landmannes durch die Breite dieser Thematik aus. Wo sonst in den Werken der Erzählliteratur wie zum Beispiel dem Jin Ping Mei oder dem Traum vor allem die eher mystischen und schon stark in den Komplex der Alchemie hineinreichenden Aspekte der chinesischen Heilkunde Beachtung fanden, wenn es um die Probleme der Herstellung von Zaubermitteln, Aphrodisiaka oder ähnlichem ging, führt Xia Jingqu eher philosophische Hintergründe, wissenschaftliche Anliegen und ethische Pflichten an, die mit der 1017 1018
Ebd., Kap. 35, Bd. 1, S. 395f. Vgl. dazu die aus der medizinischen Schrift Xia Jingqus zitierte Passage bei Kuriyama: Confucianism in Fiction, S. 81.
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Ermahnung, sich die Heilung von Kranken gleich welchen sozialen Hintergrundes zur Aufgabe zu machen, durchaus Ähnlichkeiten zum hippokratischen Eid der Ärzte in der westlichen Medizin erkennen lassen (Kap. 11). Dennoch greift auch Suchen auf mitunter phantastisch anmutende Heilmethoden zurück. Eines der bizarrsten Verfahren, derer er sich dabei bedient, ist die Kur, die er dem an einer eigenartigen Krankheit leidenden Sohn eines Stammesführers der Miao verordnet. Zunächst Suchens Diagnose, der dann die eigenartige Heilmethode folgt: »Die Krankheit des Jungen ist von Düften verursacht. Es ist nicht angezeigt, in seiner Gegenwart noch mehr von diesem Räucherwerk zu verbrennen. Wenn er noch mehr von diesen Düften aufnimmt, mag er sich vielleicht für ein oder zwei Tage erholen, doch dann muß er unweigerlich sterben. Ich verbrenne diese Essenzen jetzt nur, um seine Lebensgeister zu wecken und sicherzugehen, daß er an der Duftkrankheit leidet und nicht etwa liebeskrank ist. Doch es gibt einen Weg, ihn zu heilen, er wird wohl überleben. [...] Das Leiden deines Sohnes ist auf das übermäßige Einatmen von Düften zurückzuführen. Es kann nur mit Schmutz und Gestank beseitigt werden. Laße ein Zelt im Freien errichten. Darin mag der Junge auf eine Liege gebettet werden, die auf vier Fässern mit Mist ruht. Vier Diener sollen ihm sodann ständig den Gestank zufächern. Hat er genug davon eingeatmet, dann werden alsbald kleine weiße Würmer aus dem Mund, den Augen, Ohren, der Nase und dem After zu kriechen beginnen. Ist das Ungeziefer vollständig aus dem Körper getreten, soll er von der Liege auf die Erde gelegt werden und den frischen Humus-Geruch aufnehmen. Erst dann ist es angezeigt, ihm weitere Medikamente zu verabreichen und ihn mit ein wenig Reisschleim zu kräftigen. 1019 Die Genesung wird schließlich nicht mehr lange auf sich warten lassen.«
Die Frage, die sich einem angesichts der Effektivität dieser Fertigkeiten Wen Suchens unmittelbar aufdrängt, ist, warum er sich dennoch beständig in der Defensive zu befinden scheint: Seine Versuche, Beamter zu werden, schlagen mehrfach fehl; er wird in entlegene Gegenden verbannt und muß vor Attentätern auf der Hut sein. Diese Schicksalsschläge stehen in direktem Widerspruch zu seiner Heldenhaftigkeit, seinem Mut und seinem Drang nach moralischer Pflichterfüllung. Das ganze Ambiente, in dem Suchen seine Taten vollbringt, macht deutlich, daß es ihm zur Umsetzung des edlen Willens in praktisches Handeln vor allem an einem mangelt, nämlich an Glück. Die Voraussetzungen für seinen Kreuzzug hat er dabei bereits in der Schilderung seines Credos genannt: »Wenn die Zeit gekommen ist und ich einen tugendhaften Herrscher gefunden habe [...]«. Der Lage der Dinge zufolge ist über eine weite Spanne der Handlungszeit hinweg weder der richtige Moment gekommen, an dem er erfolgreich in den Lauf der Ereignisse eingreifen könnte, noch verfügt er über die notwendige Fortune. Sein Förderer bei Hofe stirbt, bevor er Suchen empfehlen kann, und Kaiser Xianzong ist nicht der edle Herrscher, 1019
Betrachtungen eines Landmannes, Kap. 94, Bd. 2, S. 1001f.
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der seine Mahnungen zu befolgen bereit wäre. Durch die Unzeitgemäßheit seines Auftretens wird Wen ein weiteres Mal in die Traditionslinie von historischen Gestalten wie Konfuzius, Qu Yuan und Han Yu gerückt. Trotz seines anfänglichen Scheiterns stürzt sich unser Held voller Enthusiasmus in immer neue Abenteuer. Es ist gerade hier, wo sein Lernprozeß einsetzt. Mühsam muß er sich zu der Erkenntnis durchringen, daß sein wie edel auch immer geartetes Wollen mit den äußeren Gegebenheiten in Einklang zu bringen ist. Das notwendige Quentchen Glück ist dabei nur ein Faktor. Worauf es ebenso ankommt, ist die Fähigkeit zu kritischer Selbsteinschätzung. Eben hierin weist Suchen geraume Zeit erhebliche Defizite auf. Seine Fähigkeiten mögen überragend sein, aber er bleibt dennoch ein Mensch und als solcher mit Schwächen behaftet. Der großen Kluft zwischen seinen hochtrabenden Ambitionen und den praktischen Gegebenheiten, die ihm Grenzen setzen, wird er sich erst nach und nach bewußt. Die Person, die ihn bei diesem Reifungsprozeß anleitet, ist Madame Shui, seine Mutter, die ernsthafteste, weiseste und angesichts ihrer profunden Kenntnisse der konfuzianischen Klassiker wohl philosophischste Gestalt des ganzen Romans. Sie macht dem Sohn zum Beispiel nach seinem Bericht über die Ereignisse der Vergangenheit, in deren Verlauf Suchen unter anderem buddhistische Mönche herausgefordert hat, darüber erkrankt ist und dennoch den beschwerlichen, mehrere tausend Meilen langen Weg in die Hauptstadt zurückgelegt hat, um eine Freundin zu retten, den Unterschied zwischen Ritterlichkeit und Dummheit klar. Madame Shui bemerkte in einem Ton des Unmuts: »Nach dem zu urteilen, was du vollbracht hast, gleichst du am ehesten den ritterlichen Recken des Altertums. Doch dein Auftreten ist hitzköpfig und von dem Anliegen der echten Konfuzianer meilenweit entfernt. Wenn du weiterhin in dieser Art verfährst, wirst du kühn, aggressiv und grausam werden und wie jemand sein, der auf das eigene Wohl und das seiner Eltern keinerlei Rücksicht nimmt. Was hast du gelernt? Warum bist du derart rastlos? Hast du denn gar nichts vom Geist des 1020 Konfuzianismus begriffen?«
Suchens Bruder Guxin ist der Unterschied zwischen dem Mut-Begriff der Konfuzianer und Suchens vorbehaltlosem Engagement für die in Not befindlichen Menschen nicht klar, daher erläutert seine Mutter weiter: »Du begreifst nur, daß, wenn du nicht hilfst, du wie Yang Zhu bist. Doch wahlloses Eintreten für die Belange der anderen ist auch nicht besser als das, was Mozi lehrte. Zwist und Streit finden sich innerhalb der Familien ebenso wie unter den Nachbarn am Ort. Doch die leiseste Fehleinschätzung hierbei kann verhängnisvolle Folgen haben. 1020
Ebd., Kap. 56, Bd. 1, S. 603.
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Suche nach Vollkommenheit Wenn ein Kind in den Brunnen fällt, mag es unter Umständen sterben. Doch das sollte dir nicht so nahe gehen. Wenn du vor Kummer und Gram darüber stirbst, dann werden deine Eltern darunter zu leiden haben. Außerdem wirst du dann keine Gelegenheit mehr haben, dir die Sorge um das Wohl der Menschheit zur Aufgabe zu machen. Ein Konfuzianer muß stets an das Wohl der Mitmenschen denken, an das seiner Verwandten ebenso wie an das aller Lebewesen. Doch ist er gehalten, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu handeln und sich Grenzen zu setzen. Nur wer beschränkte Gaben hat, wird sich allein auf die Selbstvervollkommnung der eigenen Person konzentrieren. Ein Erleuchteter dagegen wird um die eigene Vervollkommnung ebenso bemüht sein wie um die der anderen. Die Ansätze sind verschieden: Der eigene Bruder mag einen Bogen spannen ebenso wie jemand aus dem Staate Yue. Der Unterschied liegt in der verwandtschaftlichen Nähe. Die Hälfte der Fälle, in denen dein Bruder hilfreich in Aktion trat, gehört zur Kategorie der Auseinandersetzungen unter den Nachbarn am Ort. Indem er sich ihre Angelegenheiten zur eigenen Sache machte, hat er sein Leben für einen nutzlosen Zweck gefährdet. Dennoch spricht er davon, dem rechten Glauben zur Geltung zu verhelfen und das Ketzertum zu vernichten. Doch gleicht sein Verhalten nicht vielmehr dem des Buddha, der mit seinem eigenen Fleisch einen 1021 Tiger nährte bzw. dem Mönch, der sich von den Klippen stürzte?«
Weit davon entfernt, die eigenen Söhne zu Feigheit anzuhalten, betont Madame Shui, daß es vielmehr darauf ankomme, die Gegebenheiten richtig einzuschätzen und die Dringlichkeit einer Aktion zu erkennen. Wer dagegen bedingungslos für jedermanns Sache eintrete, der werde seinen Pflichten gegenüber den Freunden und der eigenen Familie nicht gerecht. Sehr wohl, so darf man die Worte der Mutter interpretieren, lohne es, sich für den Kampf gegen Buddhismus und Taoismus zu opfern. Hinter dem Engagement des Sohnes für Recht und Tugend steht sogar die Mutterliebe zurück. Damit definiert Madame Shui auf eindrucksvolle Weise die Rolle der Gefühle innerhalb des Konfuzianismus. Mehr als persönliches Glück und Sorglosigkeit zählen für sie die universalen moralischen Grundsätze. Sie ist damit die reinste und kompromißloseste Verkörperung konfuzianischer Ideale. Moralische Prinzipien sind in ihren Augen absolut. Vor allem in bezug auf das Verhalten des Sohnes tritt sie immer wieder in der Gestalt des spiritus rector auf. Aus Xia Jingqus Roman lassen sich allerdings nicht einfach formelhafte Belehrungen über den konfuzianischen Tugendbegriff ableiten. Die Komplexität der Betrachtungen eines Landmannes ermöglicht vielmehr Einblicke in die Bedeutung des Konfuzianismus jenseits der starren Lehrsprüche in den Textbüchern. Die Übertragung der Philosophie und Ethik in die Erzählkunst bietet Raum, um die Vielschichtigkeit gelebter Prinzipien zu erhellen und ist als Versuch zu verstehen, in der Auslegung ad fontes, d.h. zu den Ursprüngen zurückzukehren. 1021
Ebd., S. 603f.
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Die Kraft zu handeln bezieht Wen Suchen dabei nicht nur aus der eigenen Tugendhaftigkeit und dem Pflichtgefühl, sondern ebenso aus den harmonischen Verhältnissen daheim, eng verbunden mit dem Problem der Sexualität. Die Verfassung im Hause Wen gleicht einem wahren konfuzianischen Utopia, das im krassen Gegensatz zu den chaotischen Bedingungen innerhalb der gesamten »Reichsfamilie« steht. Frau Shui verbringt ihren Tag, indem sie jeweils ein Drittel der Zeit auf die Lektüre, die Web- und Strickarbeiten und die Unterweisung der Söhne und Enkelkinder verwendet. Ihrem Beispiel der Dreiteilung folgend, widmet sich Suchen entsprechend dem Studium der Klassiker, der Geschichte und der Ausübung der Kriegskünste. Als Gatte und Familienvater vergißt er nie seine Pflichten. Selbst um das körperliche und geistige Wohl innerhalb der Dienerschaft ist er bemüht, indem er sie zu gesundem Lebenswandel und der Fähigkeit anleitet, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sein Vorbild führt zu harmonischen Verhältnissen auch im Umgang der Damen im Hause untereinander. Zu Spannungen zwischen den sechs Frauen und Nebenfrauen kommt es nicht. Anders als im Jin Ping Mei, wo das Bild von Eifersucht und Intrigen geprägt war und Ximen Qing sich im Kreise seiner verführerischen Gattinnen aufrieb, ist das Heim Suchens eine Oase des Glücks, in der jeder willig die vorbestimmte Rolle übernimmt. Im Gegensatz zu den eingangs dieses Kapitels behandelten Werken der erotischen Literatur muß sich Xia Jingqu nicht für die anzüglichen Szenen im Buch mit Hinweis auf deren Verwerflichkeit rechtfertigen und dem Ganzen den Charakter einer äußerst fragwürdig bleibenden Ermahnung verleihen. Sexualität und Sinnlichkeit werden vielmehr in einen bipolaren Rahmen gestellt. Am einen Ende befindet sich Suchen, der sozusagen das Ideal definiert. Am anderen Ende stehen die zahlreichen Formen des Mißbrauchs und der Ausschweifung. Dennoch hat es mitunter den Anschein, daß die Grenzen zwischen diesen beiden Extremen mit der Zeit ein wenig verwischen. Das Modell einer vollkommenen Beziehung zwischen Mann und Frau geben Wen Suchen und Xuangu ab. Das schöne und gebildete Mädchen ist Suchen von den Eltern aus Dank als Gemahlin zugedacht worden, nachdem er ihre Schwester Su'e aus den Klauen des geilen Mönchs Song Yan im Zhaoqing-Kloster gerettet hat. Als das junge Paar die Nacht miteinander verbringt, muß sich Xuangu von ihrem Bräutigam folgendermaßen belehren lassen: »Ich habe schon einmal mit meiner Schwägerin das Lager geteilt«, sagte Xuangu, »doch wagte ich es nicht, sie zu berühren. Warum bist du derart zurückhaltend trotz unserer innigen Beziehung als Mann und Frau? Wenn ich mit dir schlafe ist es, als blieben wir eng umschlungene Zweige, zwei Fische, die Seite an Seite nebeneinander schwimmen.« »Die Freuden des Liebesaktes zwischen Mann und Frau haben ihren Ursprung in der Zuneigung«, erwiderte Suchen, »Verliebte fühlen so ausgelassen und unbeschwert wie zu Zeiten des Frühlings. Doch wenn es sich bei dem Mann um einen einfachen Bauerntölpel oder um einen vulgären Kerl handelt, der die Erwartungen einer Dame nicht erfüllen kann, und wenn die Frau nur ein dümm-
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Suche nach Vollkommenheit liches Weib ist, das auf die zarten Gefühle des Gatten nicht einzugehen vermag, dann werden sie doch nur den momenthaften Rausch ihrer allnächtlichen Ver1022 einigung erleben und daran am Ende zugrunde gehen.«
Die Idealvorstellung, die hier deutlich wird, ist gekennzeichnet durch eine intime Beziehung, bei der jedoch die körperliche Vereinigung ausbleibt. Die tiefe Zuneigung, die ein Paar füreinander empfindet, kann es Umarmungen und Küsse austauschen lassen, doch die gewonnene Harmonie bedarf des Liebesaktes nicht. Viel mehr als die fleischlichen Genüsse zählen geistige und seelische Übereinstimmung. Erfreut nimmt Suchen somit auch zunächst die mathematische Begabung seiner späteren Nebenfrau wahr, die er erst nach Zustimmung durch die Mutter heimzuführen wagt, und unterweist sie noch während der ersten Zusammenkunft auf dem gemeinsamen Lager in dieser Wissenschaft. Wo Ximen Qing im Jin Ping Mei an den Folgen seiner Gefangenschaft im Reich der Lüste stirbt und Wei Yangsheng in Andachtsmatten aus Fleisch nur mittels grausamer Entmannung den eigenen Trieben Herr zu werden vermag, wird die Sexualität im Falle von Wen Suchen gleich von Beginn an auf den Aspekt der Fortpflanzung reduziert. Der Verzicht auf die lustvolle Begierde hat wichtige physiologische und psychologische Konsequenzen. Der erwünschte männliche Nachwuchs in der Familie ist nämlich alleine dem vorbehalten, der seine sexuellen Wünsche zu unterdrücken versteht und damit sein qi rein und kraftvoll hält. Auf diese Weise zeugt Wen Suchen in der Folge mit seinen Damen nicht weniger als vierundzwanzig Söhne. Auf die Einnahme von Medizinen und Aphrodisiaka verzichtet er vollkommen. Voraussetzung für seine Zuchterfolge, so erfahren wir aus seinem Munde, sind alleine die Unterdrückung der Lust sowie der Grundsatz, den Liebesakt mit den Frauen nur einmal im Monat, abgestimmt auf ihre Zyklen, zu pflegen (Kap. 88). Vor diesem idealen Hintergrund der Sexualhygiene, verkörpert vor allem durch das Beispiel von Suchen und Xuangu, sind die sinnlichen Ausschweifungen anderswo angeordnet. Xia Jingqu macht seine Kritik insbesondere an den üblen Machenschaften innerhalb des buddhistischen und taoistischen Klerus, an den verräterischen Ministern sowie an den Praktiken unter den Anhängern des Glaubens an die Unsterblichkeit fest. Besonders die Buddhisten und Taoisten, in Suchens Augen allesamt Ketzer, kommen dabei sehr schlecht weg. Dies belegt bereits das Streitgespräch, das der Protagonist mit dem Mönch Fayu während der Schiffsreise in die Hauptstadt führt, auf die wir einleitend bereits hingewiesen haben. Angefangen mit der Kritik an den sinnlichen Genüssen, stellt Suchen den Glauben des Mönchs schließlich grundsätzlich in Frage: Am nächsten Morgen sah Suchens Begleiter Shuangren den Mönch Fayu in seiner Kabine, bekleidet mit einem dunkelgelben, schön bestickten Atlasgewebe. 1022
Ebd., Kap. 8. Die Passage fehlt in der hier vorliegenden chinesischen Ausgabe. Zit. nach Kuriyama: Confucianism in Fiction, S. 135.
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DIE WELT DER GEFÜHLE Bequem in blaue Kissen gelehnt, die mit weißen Schriftzeichen bestickt waren, hielt er in der einen Hand eine Schale aus dünnem Porzellan, in der sich fast schneeweißer Knospentee befand. Nachdem er einige Schlucke genommen hatte, stellte er die Schale auf einem runden, fein geschnitzten Rohrtischchen ab, dessen glänzender Lack einem sogleich in die Augen sprang. Mit einer leichten Bewegung des Duftwedels in der anderen Hand verscheuchte er die lästigen Fliegen. Die Augen halb geschlossenen, wandte er sich an Suchen und fragte in einem lässigen Ton: »Nun, und was treibt Sie in die Hauptstadt?« Unwillig, vom Anblick des arroganten, so wenig würdevoll und gemessen auftretenden Geistlichen noch mehr in Wut versetzt, sagte Suchen unwirsch: »Ich habe nichts übrig für Mönche, außerdem geht es Sie einen Dreck an, was ich in der Hauptstadt mache.« Die Worte Suchens hatten den Fayu kurz erröten lassen, Wut stieg in ihm auf, doch er beherrschte sich und erwiderte kühl: »Ziemlich unverschämt, was Sie da verkünden, Sie haben ein recht loses Mundwerk, wie? Nun, wenn Sie so frei sind und bekennen, sich aus Mönchen nichts zu machen, dann darf ich wohl sagen, daß mir das Laienvolk zuwider ist!« »Was geben Sie sich dann mit Laienvolk ab, wenn Ihnen nichts daran liegt?« »Zügeln Sie Ihre Worte!« rief der Mönch in scharfem Ton, »immerhin gibt es unter den Laien eine Menge Menschen, die an unsere Lehre glauben, die wir in Freundschaft und Liebe bekehren, damit sie unseren Glauben annehmen. Wie können Sie es wagen, die buddhistische Wahrheit anzuzweifeln!« »Sie wollen mir hoffentlich nicht weismachen, daß ausgerechnet Sie sich viel aus der Wahrheit des Buddhismus machen, oder? Heißt es in ihrer Lehre nicht, daß man sich in Meditation und Versenkung zu üben hat, nackt und ohne Kleider umherläuft, solange Nahrung ablehnt bis man verhungert? Wie ich sehe, sind Sie kein Anhänger dieser Lehre, so wie Sie sich hier mit Prunk und Reichtum umgeben! Sie mögen vielleicht andere zur Annahme Ihres Glaubens bewegen wollen, doch alles, was Sie annehmen, sind Schmuck, Kleider und Speisen. Ihresgleichen preßt aus den Menschen das letzte heraus, um sich ein Leben in Saus und Braus leisten zu können. Pah, und so was will mich noch zurechtweisen, passen Sie bloß auf, daß Sie Ihre Worte zügeln!« »Die Buddhisten meditieren, um der Welt zu entsagen, die wahre Existenz zu erkennen. Es ist wie am Prajna-Tag, an dem man überall für helle Beleuchtung sorgt, die Buddhas und Bodhisattvas ewig in den Herzen der Menschen bleiben. Und was die Gefahr des Verhungerns betrifft, so seid ihr armseligen Konfuzianer davon viel mehr bedroht, die ihr euch kaum zu kleiden, zu ernähren und zu verhalten wißt. Wie überragend nimmt sich doch der Buddhismus mit seiner alles durchdringenden Kraft und der Größe seiner Gesetze gegenüber eurer dürren Lehre aus! Verhungern, pah, als ob Versenkung und Meditation im Verhungern bestünden, was für ein armseliges Geschwätz!« »Sie werden mir jedenfalls recht geben müssen«, wandte Suchen lachend ein, »daß Brennholz zum Feuermachen dient, und daß das Feuer nur so lange brennt, wie Holz vorhanden ist. Der Buddhismus behauptet nun, es gebe ein Feuer unabhängig vom Brennholz, und es brenne, auch wenn das Holz schon aufgebraucht sei. Was macht es da für einen Sinn, wenn man wie beim Fasten seine Kraft
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Suche nach Vollkommenheit aufbraucht, sich also, um im Bild zu bleiben, darum bemüht, das Holz möglichst schnell zu verfeuern, obwohl das Feuer doch auch ohne Holz weiterbrennen soll? Brennholz dient zum Feuermachen, ein Feuer ohne Holz ist undenkbar. Daher heißt es, in nichts seinen Willen zu bemühen und die vom Himmel vorgegebenen Veränderungen annehmen. Ist Brennholz vorhanden, so wird man nicht wünschen, daß es fort ist, ist kein Holz mehr da, so läßt sich auch kein Feuer mehr entfachen. Doch im Buddhismus lehrt man, das Holz bleibe Holz, so einfach wie die Pflanze im nächsten Jahr wieder blühe, solange man sie nicht mitsamt der Wurzel aus dem Boden nehme; daß das Feuer bleibe, das Holz unendlich lange brenne. Ihr Buddhisten glaubt, die Lehre sei selbst in der kleinsten Bohne, jeder Rebe vorhanden. Doch ist nicht einem Gras, das man ausrupft, einer Pflanze, die man mitsamt der Wurzel aus dem Boden zieht, jeder Wachstumsdrang genommen? Immer redet ihr von Leere, aber wo ist sie bitte, diese Leere? Stets schwätzt ihr von innerem Glück und Zufriedenheit, doch wo gibt es tatsächlich Glück und Zufriedenheit? Wir Konfuzianer dagegen verkünden nur praktische Wahrheiten, das ist die einzig wahre Lehre! Wir sprechen von den fünf Beziehungen, denn nur bei deren Befolgung kann es so etwas wie Glück und Zufriedenheit geben, nur so läßt sich ein Leben in Bescheidenheit und Demut führen. Ihr und Euresgleichen jedoch verdingt Euch als Bettler, ihr bleibt auf Almosen angewiesen. Der Reichtum läßt euch ausschweifend werden, was ihr predigt, ist der Genuß. Was bei euch existiert, ist lediglich die menschliche Hülle, ein Gewissen habt ihr nicht. Mit den Gesetzen eures Glaubens mögt ihr vielleicht noch unter dem räuberischen Gesindel Anhänger finden, die Kraft, die ihr für den Buddhismus in Anspruch nehmt, wird gerade für ein paar billige Zaubertricks reichen. Was schafft ihr, was bringt ihr hervor, was erntet ihr mit den eigenen Händen – nichts: Selbst das letzte Stückchen Stoff an eurem Leib, das Reiskorn in eurer Schale, alles ist von anderen Menschen im Schweiße ihres Angesichts gewebt und geerntet. Was wäre denn jemand wie Ihr ohne das Laienvolk: Ihr glichet Fischen auf dem trockenen Land, verdorrtem Boden auf dem Grunde des Tals. Ich bin der letzte, der dummes Zeug daherschwätzt, Ihr seid es vielmehr, der mit dem leeren Gerede Empörung hervorruft!« Wütend und schweigend hatte Fayu die Worte des Suchen mit angehört. 1023 Stumm starrte er ihn jetzt an und wußte nicht, was er erwidern sollte.
Eine ähnliche Kritik am Taoismus findet sich in Kap. 59. Was Suchen hier vorträgt, sind grundsätzliche Mißstände und Übel, unter denen der Buddhismus in den Augen der Konfuzianer litt. Der Vorwurf gegen die sinnlichen Ausschweifungen des Klerus klingt nur mittelbar in der Feststellung der Prunksucht und dem Auftreten als Verführer der einfachen Menschen an. Doch in dem Rahmen der ganzen Szene taucht der Aspekt des lüsternen Mönchs deutlich auf. Das negative Bild der Mönche und Nonnen im Roman variiert nur graduell. Stets ergibt sich der gleiche Eindruck von Lasterhaftigkeit, mangelnder Feierlichkeit und ausbleibender Wahr1023
Betrachtungen eines Landmannes, Kap. 10, Bd. 1, S. 106f.
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haftigkeit der Glaubensbrüder und -schwestern. Das Unglück von Anhängern der Lehre Buddhas im Roman will es, daß ausgerechnet ihre Spielart der Tantra-Sekte Anlaß dazu bietet, den Konfuzianern als Paradebeispiel für gefährliches sexuelles Mißverhalten herzuhalten. Im Tantra-Buddhismus stellt die körperliche Vereinigung von Mann und Frau nicht lediglich eine Abberation vergeblich um Askese und Vollkommenheit bemühter Nonnen und Mönche dar, sondern spiegelt ein kosmisches Prinzip wider, das damit vollauf legitimiert wird.1024 Xia Jingqu kann hinter dieser freizügigen Lehre nur Scheinheiligkeit ausmachen, wie die Ereignisse im Verlauf der Missionierung Japans belegen. Als Botschafter des Ming-Hofes in China sind Wei Rong und Xi Qin zum Zwecke der Missionierung nach Japan gereist. Doch anstatt diplomatische Fragen zu erörtern, überkommen den Kaiser und seine Gemahlin, die beide Anhänger des Tantra-Buddhismus sind, beim Anblick der beiden stattlichen Gesandten lüsterne Gedanken. Während Wen Rong den Zudringlichkeiten des Tennos durch Selbstmord entgeht, muß sich Xi Qin im grausamen Liebesakt mit der Kaiserin von dieser in einer gar zu stürmischen Umarmung erwürgen lassen. Das Unglück der Frau will es, daß der Botschafter mit seinem überlangen Glied tief in sie eingedrungen ist und dabei ihr Herz eine tödliche Verletzung erlitten hat. Die Bestürzung des Kaisers über die Nachricht vom Tod der beiden, die eng umschlungen das Leben ausgehaucht haben, währt allerdings nur einen kurzen Moment lang. Der zur Beratschlagung herbeizitierte Lama-Mönch am Hofe weiß ihn mit seinen Schilderungen wieder aufzumuntern. »Das ist ein Zeichen für den Nirvana-Zustand des Großen Liebesbuddhas«, verkündete er, »man trifft dies nur alle zehntausend Jahre einmal an. Kein Grund also zu lamentieren. Laßt uns drei Tage fröhlich sein und jauchzen, laßt uns die Gottheit verehren und die Sutra des Großen Liebesbuddhas rezitieren! Dann werden wir die heiligen Körper der Toten präservieren und so für immer erhalten.« »Woher weißt du, daß dies der Nirvana-Zustand des Großen Liebesbuddhas ist?« wollte Kaiser Muxiu wissen. »Daß wir in unserem Tempel kein Abbild des Großen Buddhas haben, bedeutet nicht, daß wir nicht wüßten, wie er aussieht«, erklärte der Lama-Mönch. »Ich habe Euch das in der Vergangenheit bereits dargelegt. Die Existenz des Großen Buddhas der Liebe geht auf die Zeit des mythischen Herrschers Pan Gu im Westen zurück. Als dieser die Welt erschuf, kam der Buddha in Gestalt eines Mannes und einer Frau auf die Erde hinab. Durch den Liebesakt des Paares wurden nach und nach alle übrigen Buddhas gezeugt. Nach Ablauf Hunderter von Zeitzyklen erreichten die beiden im Zustand der sexuellen Vereinigung das Nirvana. Aus diesem Grunde erhielt die Gottheit die Bezeichnung als Liebesbuddha, wurde der Westen zum Ort des Paradieses. Es ist ein Omen für Glück und 1024
Vgl. z.B. Dasgupta: Introduction to Tantric Buddhism, Calcutta: University of Calcutta 1950.
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Suche nach Vollkommenheit Wohlstand Eures Reiches, daß der Liebesbuddha in seiner ältesten Erscheinung als Mann und Frau nun in den Gemächern des Palastes erneut Fleisch geworden ist. Schaut Euch nur die Gesichter der Toten an! Seht Ihr nicht, wie ihr Antlitz blüht? Wie könnten sie in diesen Zustand der Verzückung gelangt sein, wenn nicht als Wiedergeburten des Großen Liebesbuddhas! Hütet Euch daher und erzürnt die Gottheit nicht mit Eurem Lamento!« Als Kaiser Muxiu das vernahm, wollte er sich ankleiden, um dem Buddha zu huldigen, doch der Lama-Mönch hielt ihn zurück: »Vor dem Großen Liebesbuddha bedürft Ihr keiner Kleidung. Geistliche und Jünger treten stets nackt vor ihn. Nur so bleiben sie seiner glücksverheißenden Botschaft treu. Laßt ein duftendes Bad herrichten, um die Körper der Toten zu reinigen. Bringt ihnen dann dreimal am Tag Räucherwerk dar und verrichtet dreimal täglich den Liebesakt. Nach Ablauf von drei Tagen laßt die Überreste der Leichen präservieren und sie im Anschluß an die Trauerfrist von neunundvierzig Tagen in den Tempel bringen, damit alle Bürger des Landes sie von da an verehren. Hehre Männer und Frauen mögen vor den beiden Gottheiten die körperliche Vereinigung vollziehen und ihnen Almosen darbringen. Das bringt hundertmal mehr Nutzen als die tönernen und goldüberzogenen Götzen in den anderen Tempeln anzubeten. Wer als Mann eine Frau begehrt, mag sie nehmen, wem als Frau nach einem Manne verlangt, der lege sich keine Zurückhaltung auf. Alle Wünsche werden erfüllt, das ist die höchste Glückseligkeit! Der Große Liebesbuddha hat sein Nirvana im Paradies des Westens erlangt. In Eurem Reich hat er erneut Gestalt angenommen, und so wird auch Euer Reich einst zum Paradies werden. Ihr seid noch vor kurzem der Gemahl einer uralten Buddha-Gottheit gewesen, und so werdet auch Ihr bald die vollkommene Buddhaschaft erlangen und dabei noch Wenzhu und Puxian übertreffen! Alle Diener und Zofen des Palastes werden Euch als Jünger einer 1025 Gottheit aufwarten!«
In den rituellen Vorschriften kommt die Bedeutung des Liebesaktes innerhalb des Tantra-Buddhismus ebenso zum Ausdruck wie die Manipulation durch die Mönche. Im Kontrast zu dem züchtigen Verhalten, für das Wen Suchen eintritt, bilden die Darlegungen des japanischen Lamas freilich nur eine Aufforderung zu orgiastischen Ausschweifungen. Die sexuellen Praktiken zur Erlangung von Glückseligkeit und ewigem Leben, wie sie Buddhismus und Taoismus predigen, sind in Xia Jingqus Augen nur ein verwerfliches Mittel, um die Begierden zu rechtfertigen. In ihrer Konsequenz führen sie jedesmal zu Sittenverfall, Perversion und Unrecht, wie auch der Abschnitt belegt, in dem Lian Cheng und seine Zofe Chunhong, angeleitet von der taoistischen Hoffnung auf Unsterblichkeit, sich vereinigen und das Mädchen an den Folgen des aufreibendes Liebesaktes stirbt (Kap. 28). Das Treiben Lian Chengs ist insofern besonders schändlich, als er den Tod Chunhongs von vornherein in 1025
Betrachtungen eines Landmannes, Kap. 133, Bd. 2, S. 1441f.
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seinem egoistischen Kalkül billigend in Kauf nimmt. Mit einem Aphrodisiakum hat er sie willenlos gemacht. Obwohl ihn die Zofe noch während des Liebesspiels aus der Ahnung um ihren drohenden Tod heraus bittet, den Akt abzubrechen, saugt Lian erbarmungslos alle yin-Essenzen aus ihrem Körper und wird damit zum wahrhaft mörderischen Lüstling. Wir haben genügend ähnliche Gestalten bereits in vielen anderen Werken der erotischen Literatur kennengelernt. Was Männer wie Lian Cheng von Ximen Qing, Wei Yangsheng etc. unterscheidet, die trotz ihrer Triebhaftigkeit durchaus noch sympathische Züge aufweisen, ist ihre abgrundtiefe Schlechtigkeit. Die sexuellen Ausschweifungen sind in den Betrachtungen eines Landmannes in einen klaren Gegensatz von Gut und Böse gestellt. Das wird vor allem daran deutlich, daß sich Xia Jingqu in der Präsentation seines Helden Wen Suchen einer auffälligen Selbstzensur unterwirft. Hier fehlt dann nämlich eine detailgenaue Beschreibung des nächtlichen Beisammenseins mit den Gattinnen. Vielmehr läßt nur der zahlreiche Nachwuchs im Hause Wen erahnen, daß Suchen sich ab und zu auch in den Gemächern der Frauen aufhält. Keine Spur von Ausschweifung und Lust. Das Bild des Themas der Sexualität im Roman wie es bisher erscheint, deutet Extreme an: Auf der einen Seite haben wir Wen Suchen und Xuangu als Modell für den keuschen und dennoch intimen Umgang der Geschlechter, auf der anderen Seite finden sich Mönche und Herrscher, die mit ihrem unzüchtigen Gebaren die Existenz des Reiches bedrohen und Elend über die Menschen bringen. Doch dieser klare Gegensatz ist nicht durchgängig vorhanden. Es spricht für die komplexe Anlage des Charakters von Suchen, daß er durchaus Abweichungen von dem zu Beginn des Romans entworfenen Ideal erkennen läßt, womit die besondere Rolle zum Ausdruck kommt, die die Sexualität in der Verfassung der menschlichen Psyche spielt. Der erste interessante Abschnitt in diesem Zusammenhang umfaßt mehrere Kapitel, in denen der Held in die Gewalt eines in den Schlafzimmerkünsten überaus bewanderten, taoistischen Laien namens Li Youquan gerät (Kap. 65–68). Angetrieben von der Gier, zum Zwecke der Lebensverlängerung in den Besitz von möglichst viel männlicher yang-Essenz zu kommen, hat Li in der Umgebung seines Hauses Eimer aufgestellt, in die die Herrschaften des Ortes gerne ihr kleines Geschäft verrichten. Bei heruntergelassenen Hosen werden sie dabei von den Konkubinen Lis beobachtet, die ihr Augenmerk vor allem auf jene Männer mit besonders eindrucksvollem Gemächt richten. Die Größe des Penis, so ihre Annahme, ist ein Zeichen für die Menge an lebensspendendem Samen, über die ein Mann verfügt. Die aussichtsreichsten Kandidaten werden sodann von Li Youquan zu einem Gelage ins Haus gebeten, wo man ihnen betäubende Getränke serviert, vermischt mit Ingredienzen, die die sexuelle Potenz steigern. Haben die Herren erst einmal ihren Willen verloren, so ist es die Aufgabe der Damen, sie derart in Erregung zu versetzen, daß Li am Ende ihren Samen schlürfen kann. Eines Tages nun gelangt auch Wen Suchen bei seiner Wanderung vor das Haus Lis und erleichtert sich. Gebannt starren die Damen durch ihr Guckloch auf sein prächtiges
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Suche nach Vollkommenheit
Glied. Man lädt ihn ins Haus, bewirtet den Gast, und die Dinge nehmen ihren Lauf. Suchen ahnt jedoch bald, in welche Lage er geraten ist und was für gesundheitliche Schäden er nehmen kann, wenn er zuviel Samen verliert. Noch bevor man ihn betäubt und zum willenlosen Objekt der sexhungrigen Gemeinde macht, stärkt er sich innerlich, um von den bevorstehenden Verführungen möglichst unberührt zu bleiben. Suchen dachte eine Weile nach und sagte dann zu sich: »Ich habe eine Idee. In alten Zeiten waren alle Menschen unbekleidet und man sprach von den ›nackten Wesen‹. Yin und yang sind in Wirklichkeit wie die Ohren, Augen, der Mund und die Nase Teile des menschlichen Körpers. Ich werde mir das einfach immer wieder ins Bewußtsein rufen und mir um die Verführungskünste der nackten Frauen keine Sorgen machen. Was ihre schlüpfrigen Posen und Stellungen betrifft, so rede ich mir einfach ein, daß ihr Anblick den Prostituierten gleicht, und daß ihre körperlichen Reize meinen Geist und meine Seele nicht berühren. Selbst wenn ich sie ansehen und berühren muß, wird es für mich nichts anderes sein, als jemandem aus der Hand zu lesen und über den Rücken zu streichen. Ich werde meine Abscheu nicht zu erkennen geben und mir auf die Weise Lis 1026 Zorn ersparen.«
Doch diese Autosuggestion ist nur der erste Schritt. Um sicher zu sein, daß er die bevorstehenden Prüfungen auch besteht, geht Suchen noch ein Stück weiter. Mit der Hilfe von Madame Sui, seiner stillen Verbündeten im Hause Li Youquans, testet er die Festigkeit seines Willens, indem er ihren nackten Körper unentwegt anstarrt. Voller Interesse für die dargebotenen Einzelheiten, die er trotz seines Umgangs mit den Gattinnen daheim zum ersten Mal bewußt wahrnimmt, gelingt es Suchen, seine Lustgefühle unter Kontrolle zu halten. Allerdings ist dies nur ein erster, mühsam über die eigene Gefühlswelt errungener Sieg. Das, was dann mit ihm geschieht, macht ihn zunächst zum wehrlosen Opfer der Machenschaften von Erotomanen. Er erhält einen Betäubungstrunk und verliert die Fähigkeit zum eigenständigen Handeln: Jede der Frauen saugte der Reihe nach an seinem Glied. Als sie sahen, wie es anzuschwellen begann, stellten sie einmütig fest, daß es Zeit sei, halfen ihm auf und hießen die Mägde, den Herrn des Hauses herbeizubitten. »Unser Herr steht bereit«, rief eines der Mädchen von draußen. Mit diesen Worten hoben zwei der Konkubinen Suchen auf ihre Schultern, während eine dritte von hinten seine Hüften umklammerte und ihn stützte. Behutsam griff die Dienerin Xingxiao nach seinem Glied und führte es durch ein Loch in der Wand. Dann half sie den anderen dabei, Suchens Körper dicht gegen das Gemäuer zu pressen. Auf der anderen Seite der Mauer begann Li Youquan unterdessen, den offerierten Penis 1026
Zit. nach KURIYAMA: Confucianism in Fiction., S. 167.
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DIE WELT DER GEFÜHLE in seinem breiten Mund aufzunehmen und daran zu saugen. Nicht lange, und ein 1027 Schwall Sperma ergoß sich in seinen Rachen.
Nachdem Li Youquan zu einem Ende gelangt ist, kommt die Reihe an die Konkubinen. Der Hausherr ordnet an, daß alle Damen in einen Wettbewerb treten sollen, um Suchens Lust zu stimulieren. Die eindrucksvollste Darstellung, bei der es sich gleichzeitig um eine der bizarrsten Formen erotischer Kunst innerhalb der Erzählliteratur Chinas handelt, bietet die neunte Konkubine. Die neunte Konkubine legte sich rücklings auf das Bett, spreizte ihre Beine und präsentierte mit einiger Anstrengung ihre Vulva, die deutlich nach außen hervortrat. Dann krümmte sie ihren Körper zusammen und führte die Vagina hin zum Mund. Es war ein gar zu häßlicher Anblick, wie sie nun zu saugen und zu schlecken begann. Als sie damit fertig war, wölbte sie die Klitoris nach oben und blies mit dem Mund darüber, so daß ein sirrender Ton in der Luft zu vernehmen war. Die Umstehenden lauschten gespannt. Im einen Moment klang es, als fräßen Seidenraupen Blätter; dann wieder schienen Herbstinsekten mit ihren Flügeln zu vibrieren; einen Moment später, und man glaubte, duftender Tau tropfe auf die Blüten oder das Wasser eines verborgenen Bächleins gleite sanft glucksend durch den Felsengrund. Wieder einen Augenblick, und es schien, als überzöge leise knisternder Frost ein Fenster, als streiche eine Brise durch die Zweige, als sauge ein Kind am Busen der Mutter. So vielfältig waren die Geräusche, die die neunte Konkubine vernehmen ließ, daß die anderen sie verwundert anstarrten. 1028 Sie stöhnten und johlten, und ihre Hochrufe wollte kein Ende nehmen.
Die eigentliche Sexorgie de Sadescher Ausmaße erfolgt nun im Anschluß an die Darbietungen der neunten Konkubine, die als Siegerin das Recht für sich beanspruchen darf, Suchen als erste beizuwohnen. Sie öffnete ihre Augen leicht und lächelte verführerisch. Indem sie sich an die umstehenden Damen wandte, verkündete die neunte Konkubine: »Es ist genau so, wie die fünfte Schwester soeben in ihrem Gesang beschrieb. Man empfindet dabei ein derartiges Glücksgefühl, daß man darob sogar den Tod in Kauf nehmen würde. Selbst wenn ich mit seinem Schwanz im Leib stürbe, würde ich noch erfüllt und glücklich sein. Ich darf euch offen sagen, daß ich in der Lage bin, neunmal den Höhepunkt zu erreichen.« Als die anderen ihr laszives Stöhnen vernahmen und sie bei ihren verführerischen Bewegungen beobachteten, wurden auch sie erregt und hätten die neunte 1027
1028
Die gesamte Episode des Aufenthalts von Wen Suchen im Hause Li Youquans ist in der vorliegenden chinesischen Fassung stark gekürzt und von den sexuellen Ereignissen dort gereinigt. Zit. ebd., S. 160 f. Betrachtungen eines Landmannes, Kap. 67. Hier zit. nach Mc Mahon: Misers, Shrews, and Polygamists, S. 163.
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Suche nach Vollkommenheit Konkubine am liebsten von Wen Suchen heruntergerissen, um selber ans Werk zu gehen. Die schwangere achte Madame sank ohnmächtig in ihren Stuhl, faßte sich an die Vagina und wünschte, sie könne ihr Kind unverzüglich zur Welt bringen. Mit zusammengepreßten Zähnen verkündete die neunte Konkubine in zitterndem Ton: »Ah, wie wunderbar! Ich bin ganz gelähmt. Warum öffnet dieser Kerl nicht seine Augen und betrachtet Gesicht und Unterleib seiner kleinen Hure genauer? Fünfte Schwester, du weißt, wie kunstvoll das Spiel meiner Klitoris ist. Aber der Bursche ist derart tief in mich eingedrungen, daß ich gar nicht zum Zuge komme. Ich will mich auf die Seite legen und sein Glied zur Hälfte freilegen, damit ich überhaupt etwas ausrichten kann.« »Ich seh schon«, erwiderte die fünfte Schwester, »deine Klitoris ist ganz anders als die der übrigen. Es wird einfacher sein, wenn du seinen Schwanz mit deiner Klitoris zur Erregung bringst.« Die neunte Konkubine legte sich auf die Seite, zog Suchens Körper zu sich heran und ließ ein Bein auf seiner Hüfte nieder. Mit ihrer Klitoris hat sie die Eichel sanft umfaßt, saugte und rieb daran, daß das Glied langsam anschwoll. Ein Strom warmer yang-Essenz ergoß sich in ihren Leib, und verzückt rief sie aus: »Es ist wunderbar! Ich sterbe! In meinem Hals brennt es wie Feuer! Er muß eine von den Drachenpillen genommen haben, sein Same kommt nicht heraus. Aber weshalb ist das Glied derart warm? Es fühlt sich an, als habe er einen Erguß gehabt.« [...] Alle Konkubinen befanden sich in einem Zustand höchster Erregung von dem Anblick, der sich ihnen bot. Die Musik der Flöten und Zithern war verklungen, man hörte nur noch das Stöhnen und die leisen Schreie der neunten Konkubine zusammen mit dem schmatzenden Geräusch ihrer Klitoris und dem Tropfen des 1029 Taus der Lust, ein wahrhaft bizarres Orchester.
Doch die neunte Konkubine unterliegt am Ende in diesem bestialischen Kampf. Ihrer eigenen Sinne mehr und mehr beraubt, nimmt sie noch während der Vereinigung ihre wahre Gestalt einer Fuchsdämonin an. Suchen, bei dem es nicht zum Erguß gekommen ist und der Kraft und Bewußtsein nach und nach zurückgewinnt, gelingt es schließlich, sich von ihr zu befreien und die Dämonin zu erdrosseln. Die Episode endet mit seiner Flucht und der Vernichtung von Li Youquan samt seinem umfangreichem Harem. Gerade die Detailgenauigkeit mit der Xia Jingqu hier die Vorgänge im Hause Li Youquans und die Reaktion der Beteiligten schildert, weist Gegensätze zu der ansonsten kühlen und distanzierten Art und Weise auf, mit der der Autor sich anderswo im Roman zu den Fragen der Sexualität äußert. Die Szenen mögen in ihrer Übertreibung dem Zweck gedient haben, abstoßend zu wirken, doch subjektiv deutet sich in der Darstellung durchaus etwas Positives an: Die neunte Konkubine versetzt mit ihrer Vorstellung alle in den Zustand höchster Erregung und verkündet 1029
Zit. nach Kuriyama: Confucianism in Fiction, S. 161f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
die eigenen Glücksgefühle. Auch Suchen selbst bleibt nicht unberührt. Er paßt sich den Bewegungen seiner Verführerin an und sondert yang-Essenz ab. Zudem fühlt sich sein Glied an, als habe er eine Ejakulation gehabt. Stellungsspiele, Erregung, Stöhnen, Lähmung und Befriedigung, kein Aspekt des Aktes der Vereinigung wird ausgelassen. Ohne ein Urteil zu fällen, überläßt Xia Jingqu den Leser am Ende der orgiastischen Feier seinen eigenen Phantasien: Die Musik bricht ab, zu hören sind nur noch die Geräusche der erregten Körper. Noch bei einer zweiten Gelegenheit offenbart Wen Suchen gewisse Schwächen gegenüber den sinnlichen Anfechtungen, bleibt das Bild des Helden ambivalent. Suchen ist in einer Probe durch Kaiser Xianzong, die Macht der Buddhisten und Taoisten zu widerlegen, gescheitert. Für ganze sieben Jahre verliert er seinen Verstand, führt ein ausschweifendes Leben in Saus und Braus und beginnt, mit Xianzong die Freuden sinnlicher Genüsse zu teilen. Nach Ablauf dieser Frist stirbt der Herrscher, und Suchen gewinnt auf wundersame Weise sein ursprüngliches Naturell zurück. Die Hintergründe dieses vorübergehenden Absinkens in die Welt des Lasters erfährt der Leser erst geraume Zeit später aus dem Munde Madame Shuis: Auf Anraten des Kronprinzen hat der Sohn all die Zeit nur vorgegeben, ein unzüchtiges Leben zu führen, um nach seiner ungnädig aufgenommenen Eingabe an den Thron der Verfolgung durch Xianzong zu entgehen (Kap. 149). Die Frage drängt sich auf, ob es nicht würdevollere Formen des Rückzugs gegeben hätte, die es erlaubt hätten, sich selber treu zu bleiben. Wozu diese eigenartige Mimikri der Anpassung an das lasterhafte Leben des Herrschers? Ein Ziel Xia Jingqus mag es wohl gewesen sein, die Lauterkeit seines Helden zu unterstreichen, indem er ihn die Zeit der Ausschweifung unbeschadet überstehen und zu neuer moralischer Größe auferstehen läßt. Daß er dabei die Probleme der Sexualität in den Mittelpunkt stellt, belegt deren zentrale Rolle bei der Suche nach Vollkommenheit. Starre moralische Regeln scheinen diesen Prozeß nur zu behindern. Der aufrichtige Mann ist vielmehr gefordert, sich stets von neuem zu prüfen. Hier deuten sich Spielräume an. Xia Jingqu nutzt die Schilderung der Ereignisse einer Mission Wen Suchens in das Gebiet der Miao-Nationalität, um dieses Anliegen weiter zu verdeutlichen, indem er durch auffällige Wertungsfreiheit mittels der Figur des Helden Verständnis für vom Konfuzianismus vollkommen verschiedene Konzepte in bezug auf Sexualität und Beziehungen unter den Menschen anklingen läßt. Verkleidet als Arzt hat sich Wen Suchen nun im Auftrag des Kronprinzen in die bergige Region der Miao zu begeben, um deren Aufstandspläne zu erforschen. Unterwegs trifft er auf die zwei Brüder Yin Dejin und Yin Detong, die ihn zu sich nach Hause in die Sonnenblumen-Höhle einladen. Die Organisation der vier große Familien umfassenden Clan-Gemeinschaft unterscheidet sich ganz erheblich von ähnlichen Han-chinesischen Verbänden: Einen Vorsteher gibt es nicht, die vier Haushalte leiten alle Angelegenheiten gemeinsam. Entsprechend niedrig sind die zu entrichtenden Steuern, auch bei den zu unternehmenden Reisen sind die An-
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Suche nach Vollkommenheit
gehörigen kaum Beschränkungen unterworfen. Voller Freude nimmt Suchen die Gastfreundschaft der Yins an. Von den Bräuchen, die ihn bei seinem Eintreffen in der Höhlen-Gemeinde erwarten, ist er anfangs dennoch befremdet. Als ihm zum Beispiel die Frauen der Brüder vorgestellt werden, schütteln ihm die Damen sogleich die Hände. Schockiert legt sich Suchen im weiteren eine arrogant anmutende Zurückhaltung an den Tag, die als Beleidigung aufgefaßt wird. Yin Dejin muß zwischen den unterschiedlichen Sittentraditionen vermitteln. Wie Suchen bald erfahren muß, herrscht in den Grotten anders als in seiner Heimat keine strenge Trennung der Geschlechter. Männer und Frauen halten einander an den Händen, klopfen sich auf die Schultern, umarmen und küssen sich. Für die Einheimischen sind das gebräuchliche Formen der Begrüßung und des sozialen Umgangs. Dem streng konfuzianisch erzogenen Suchen hingegen ist dieses offene und herzliche Verhalten nicht geheuer, erlegt ihm doch die eigene soziale Tradition auf, daß sich »Männer und Frauen bei der Entgegennahme von Gegenständen nicht an den Händen berühren dürfen« (shoushou bu qin). Dennoch wirkt Suchen hier keinesfalls missionarisch in dem Sinne, daß er etwa die »verderbten« Sitten der Miao zu ändern gedächte.1030 Vielmehr paßt er sich den Umständen an, läßt nicht nur die einheimischen Begrüßungsformen über sich ergehen, sondern nimmt die Bräuche bei der Begegnung mit der übrigen Verwandtschaft der Yins an. Seinem ursprünglichen Auftrag getreu, beschränkt sich Suchen auf die Rolle des Beobachters. Zu Reformen ist er nach den Maßgaben des Kronprinzen nicht aufgerufen. Bemerkenswert ist der ethnologische Blick, mit dem der Erzähler die Ergebenheit unter den Miao erfaßt. Cen Meng, einer der Miao-Beamten, schildert die Hochzeitsangelegenheiten so: »Gemäß den lokalen Gepflogenheiten der Miao stimmen die Brautleute ein Lied an und machen dann Liebe. Im Anschluß daran schicken sie nach Ehevermittlern und besprechen Angelegenheiten wie das Datum der Hochzeit und die Mitgift. Am Tage der Eheschließung begleiten die Eltern der Braut ihre Tochter in das Haus des Bräutigams. Dessen Angehörige empfangen die Gäste mit einem Bankett. Unterdessen begibt sich die Braut in die Küche, macht Feuer im Ofen, wischt den Boden, füllt Wasser in die Eimer und verläßt dann still das Haus durch eine Hintertür, um sich in ihr eigenes Heim zurückzubegeben. Sollte zu der Zeit gerade Markttag sein, so singt sie ein Lied und macht Liebe mit anderen Herren, die als ›illegitime Ehemänner‹ bezeichnet werden. Wird das Mädchen schwanger, nimmt sie bei einer Feier Abschied von all ihren illegitimen Gatten. Die Niederkunft erfolgt im Hause des rechtmäßigen Ehemanns. Sollte 1030
Die sozialen Bräuche der Miao sind in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand der ethnologischen Forschung gewesen. Vgl. u.a. David Graham: »The Customs of the Ch'üan Miao«, in: Journal of the West China Border Research Society, Bd. IX (1937), S. 13–70 und Samuel Clarke: Among the Tribes in South-west China, Taipeh: Ch'eng-wen Publishing Company 1970.
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DIE WELT DER GEFÜHLE ein Mädchen niemals eine Schwangerschaft durchmachen, so kehrt sie auch nicht in das Haus ihres Mannes zurück. Andernfalls bricht sie jedoch mit der endgültigen Übersiedlung in dessen Heim alle Verbindungen zu den illegitimen Ehemännern ab. In unserer Familie werden die Töchter auf andere Weise verheiratet. Sie kehren nach der Eheschließung nicht in das Elternhaus zurück, was sich im Falle einer Schwangerschaft ohnehin erübrigt. Sollten sie von dem angetrauten Gatten jedoch kein Kind bekommen, können sie allerdings einen Mann ihrer Wahl in die Gemächer bitten und mit ihm Verkehr haben. Sollten sie daraufhin schwanger werden, können sie diese illegitimen Ehemänner entlassen. Auf diese Weise bleibt ihnen der Besuch von Märkten erspart, um dort mit ihrem Gesang nach geeigneten Herren zu suchen. Heiraten sie allerdings Männer der Han, so findet die Eheschließung gemäß deren Bräuchen statt. Ob sie schwanger werden oder nicht, 1031 ist alleine eine Frage des Schicksals.«
Auf geschickte Weise versucht Cen Meng hier, Suchen die Sitten seines Volkes nahezubringen und betont die Kompatibilität zwischen dem Brauchtum der Han und der Miao. Einem von konfuzianischer Tugend und Moral derart durchdrungenen Mann wie Suchen, dem der Anstand über alles geht, müßte die Freizügigkeit in den Ehevorstellungen der südchinesischen Völkerschaft eigentlich ein Greuel sein. Doch er reagiert erstaunlich verständnisvoll. Es scheint nicht alleine die Not des Aufenthalts in der Fremde zu sein, die ihn zu diesem Verhalten veranlaßt, aus der gesamten Reaktion des Helden spricht deutlich eine gewisse Sympathie für das von der eigenen Sittentradition so verschiedene Brauchtum der Miao. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, als Wen Suchen erfährt, daß die Gebräuche des Volkes auf die Lehren eines alten Heiligen zurückgehen und damit mythisch überhöht werden. Zudem wird damit die Erinnerung an die Herkunft der Hanchinesischen Sitten wachgerufen, die von urzeitlichen Spendergestalten wie Laotse und Konfuzius abstammen. Es ist Suo Zhu, einer der Familienvorstände in der Sonnenblumen-Höhle, der Suchen darüber Auskunft gibt: »Der alte Heilige lehrte: ›Als sich Laotse zu den Westlichen Rong begab, ahmte er ihre Sprache nach; als Xia Yu durch das Reich der Nackten zog, entkleidete er sich voller Freude. Obwohl es sich hier um beschränkte Sitten handelte, waren selbst die Heiligen nicht in der Lage, sich ihnen zu entziehen. Die Prinzipien von Himmel und Erde sind nichts anderes als yin und yang. Wenn das qi des Himmels hinabsinkt und das der Erde aufsteigt, spricht man von Frieden und Sanftheit. Vereinigen sich Himmel und Erde nicht, dann bedeutet das Unheil und Verstopfung. Halten die Frauen in den Höhlen die Hände der Männer, klopfen einem auf die Schultern, umarmen ihn und führen ihr Gesicht nah an den anderen heran, dann erlauben sie die Vermengung des qi von Himmel und Erde. Dies ist
1031
Betrachtungen eines Landmannes, Kap. 90, Bd. 2, S. 967.
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Suche nach Vollkommenheit das Prinzip der Vereinigung von yin und yang. In China dagegen, wo die Sitten es Mann und Frau verbieten, einander beim Austausch von Gegenständen an den Händen zu berühren und wo Frauen ihre Gesichter bedecken müssen, wenn sie sich außer Haus begeben, bleiben yin und yang voneinander isoliert und alles gerät in Verstopfung. Gefühle und Zuneigung der Männer und Frauen kommen auf diese Weise nicht zur Entfaltung. Die Menschen kriechen durch Löcher, steigen über Mauern und begehen alle möglichen Formen der Unzüchtigkeit. Frauen flüchten vor dem Ehemann und brennen mit dem Geliebten durch, Haß und Eifersucht kommen auf, ja selbst der Gattenmord hat hier seinen Ursprung. Verbrechen aller Art sind die Folge. Und das alles nur, weil der freie Ausdruck von Gefühlen zwischen den Geschlechtern unterbunden ist.‹ Heiraten in China werden von den Eltern und den Ehevermittlern arrangiert. Man erlaubt den Brautleuten nicht, eine eigene Entscheidung zu treffen. Von Harmonie und Übereinstimmung kann nicht die Rede sein. Besonders schlimm ist es, wenn eine anmutige Frau mit einem häßlichen Mann oder ein kluger Mann mit einer dummen Frau vermählt wird. Wen mag es wundern, daß jedermann illegitime Beziehungen anstrebt. Wären die Sitten gleich denen bei uns hier in den Höhlen, stimmten Männer und Frauen bei der Suche nach einem Partner Gesänge an, in denen sich einander Zuneigung vermitteln und heirateten sodann auf eigenen Entschluß hin, dann gäbe es keine Trennung, denn man hat 1032 sie zu nichts gezwungen.«
Die Argumente, die hier vorgebracht werden, erinnern an die Erörterung der Eheproblematik in den weiter oben behandelten Werken Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt und Essigkrug. Suo Zhu erweist sich hier dem ansonsten um Widerworte nicht verlegenen Suchen als weit überlegen, übt dieser sich doch nach diesen Ausführungen in Schweigen. Was Xia Jingqu hiermit bezweckt, ist der Eindruck von Distanz zu den eigenen überlieferten Werten und Tugenden, als deren Verkörperung sein Held ihm über weite Strecken gilt. Die Bräuche der Miao bilden eine ernstzunehmende Alternative zu den starren Traditionen des Konfuzianismus und deuten somit die Vielseitigkeit der Lebensformen in der Welt an. Eine ähnliche Skepsis gegenüber der beschränkten Rechtgläubigkeit unter den Konfuzianern ist in Xia Jingqus Behandlung der Elemente des Übernatürlichen und Phantastischen erkennbar. Wir wollen darauf nur kurz eingehen, da sich der Eindruck der Distanz zu wiederholen scheint. Taoismus und Buddhismus sowie alle ihnen in irgendeiner Form verwandten Glaubensformen sind durch ihre Verführung zum mystischen und weltabgewandten Denken in den Augen des Verfassers zweifelsohne abzulehnen, denn sie bringen den Menschen dazu, sich nicht in aufrichtiger und ordentlicher Weise der Regelung seiner Aufgaben im Leben zu widmen. Doch der Roman ist voll von glaubensneutralen Wesen und Gestalten 1032
Ebd., Kap. 94, Bd. 2, S. 1006.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
aus einer anderen Welt, die Wen Suchen bei der Durchführung seiner Missionen Hilfe leisten und gleichberechtigt mit ihm den Erfolg für sich beanspruchen dürfen. Worum es hier geht, ist eine angemessene Wahrnehmung der Gegebenheiten und Erscheinungen in der Welt. Wer als strenger Rationalist die Wunder der Existenz nicht zu akzeptieren bereit ist und auf seiner Skepsis beharrt, offenbart damit lediglich Ignoranz und eine beschränkte Erfahrung. Nur durch Suche und Erleben kann man die Geheimnisse, die einen umgeben, ergründen. Wie weise zeigt sich doch da die Äffin, die von Suchen zu ihrer Fähigkeit der Voraussage und Zukunftsdeutung befragt wird: »Alle Dinge werden mit der Zeit beseelt, denn ihre Herzen fühlen. Gleich ob der blasende Wind, eine Wolke, die am Himmel treibt, ein zwitschernder Vogel oder ein Blatt, das durch die Lüfte schwebt, sie alle sind zur Voraussage fähig. Durch ständige Auseinandersetzung und Erfahrung wird man mit den Dingen 1033 vertraut.«
Selbst wenn man dieser Auffassung von einer beseelten Natur nicht ohne Einschränkung zustimmen mag, das Anliegen Xia Jingqus wird sichtbar: Die ganze Welt bringt Zeichen hervor, die man deuten und erkennen muß, ein skeptisches Urteil wird der Komplexität des Seins nicht gerecht, und sei man auch ein noch so aufrichtiger Konfuzianer. Hier deutet der Verfasser seinen Widerspruch zu Konfuzius selber an, von dem es hieß, er habe nicht über »Zauberei, Kraftstücke, Aufruhr und Geister« gesprochen.1034
1033 1034
Ebd., Kap. 98, Bd. 2, S. 1041. Vgl. Konfuzius: Gespräche (Lunyu) VII,21, aus dem Chinesischen übersetzt und herausgegeben von Ralf Moritz, Frankfurt/M.: Röderberg 1983, S. 71.
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12. Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität in Zeiten des Umbruchs – Das 19. und frühe 20. Jahrhundert
Die vorstehenden Abschnitte haben deutlich werden lassen, daß die literarische Behandlung des Themas Liebe und Sexualität in der chinesischen Romankunst seit dem 16. Jahrhundert einen bemerkenswerten Wandel durchgemacht hat: Angefangen von den freizügigen Darstellungen in den frühesten Beispielen, die bei aller detailgetreuen Betonung der Körperlichkeit zumindest vordergründig einen moralisch-mahnenden Zweck verfolgten und wie zum Beispiel im Falle des Jin Ping Mei nicht selten allegorisch zu lesen sind, über die unter dem Zensurzwang eine ideale Liebe predigenden Werke von den Talenten und Schönheiten bis hin zu den die Sexualität und Liebe zum Mittel der Selbsterfahrung machenden Romane aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Für die letzten hundert Jahre der Qing-Herrschaft ergibt sich nun ein ganz anderes Bild. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr einzelne Details, Moral und Fragen des Selbst im Zusammenhang mit der Liebe und ihrer Körperlichkeit als vielmehr die gesellschaftlichen Aspekte des Umgangs damit. Das Thema wird sozusagen veräußerlicht und hebt soziale und politische Probleme der Zeit in den Vordergrund, auf die wir noch genauer im folgenden Kapitel über den kritischen Roman zu sprechen kommen werden. Dies deutet schon der Wandel des Kontextes an vor dem diese Milieuschilderungen spielen. Nicht mehr der Palast eines ausschweifenden Herrschers, die Klöster sexhungriger Mönche bzw. die Heime von Lebemännern werden zum szenischen Hintergrund der Handlung gewählt, sondern die Künstler- und Rotlichtviertel der großen Städte, in denen der zeitliche Umbruch vor allem zum Tragen kommt.
12.1 Vollkommene Männerliebe – Der Roman Spiegel der Augenweide an Blumen (Pinhua baojian) Das früheste Werk, das uns in diesem Zusammenhang zunächst interessieren soll, ist Chen Sens (ca. 1796–ca. 1870) in sechzig Kapiteln verfaßter Roman Spiegel der Augenweide an Blumen (Pinhua baojian).1035 Wie aus dem der ältesten erhaltenen Fassung von 1849 vorangestellten Vorwort hervorgeht, begann Chen gegen 1826 mit der Niederschrift von Spiegel der Augenweide aufgrund von eigenen Erlebnissen in den Opernhäusern und Schauspielschulen. In den folgenden Jahren 1035
Hier bearbeitet nach der zweibändigen Ausgabe Pinhua baojian, Shanghai: Shanghai guji 1990.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
unterbrach er die Arbeit an dem Roman und setzte seine schriftstellerische Tätigkeit daran erst 1837 fort, als er mit dem Schiff aus der südchinesischen Provinz Guangxi nach Peking reiste, um sich dort den Prüfungen zu unterziehen. Die Mußezeit nach den nichtbestandenen hauptstädtischen Examina erlaubte es ihm, das Werk um das Jahr 1839 zu vollenden. Die gesamte Handlung von Spiegel der Augenweide spielt im Schauspielermilieu der Pekingoper (jingju), die sich seit dem 17. Jahrhundert aus mehreren regionalen Opernformen aus dem Süden Chinas herausgebildet hatte. Im Mittelpunkt stehen dabei Schicksale jener jungen Männer, denen die weibliche Rolle der sogenannten dan zugedacht war, einem von den insgesamt zehn Rollenfächern innerhalb der Pekingoper, die nach Geschlecht, Alter, Persönlichkeit und sozialem Status der einzelnen darzustellenden Charaktere gegliedert waren.1036 Eine Besonderheit der Pekingoper bis zum Beginn dieses Jahrhunderts bestand nun darin, daß alle Rollen ausschließlich von männlichen Darstellern besetzt wurden, ein Brauch, der sich verstärkt erst während der Qing-Herrschaft herausbildete. Noch zur Zeit der YuanDynastie, als im chinesischen Drama und Theater ein enormer Aufschwung zu verzeichnen war, unterlag der Beruf der Schauspielerin weniger Beschränkungen, obgleich die Freiheiten der Tätigkeit in einer Schauspielgruppe nur schwer mit den Sittenauffassungen der konfuzianischen Gesellschaft in Einklang zu bringen waren, weshalb die Theaterdamen denn auch in ihrem sozialen Status mit den Kurtisanen gleichgesetzt wurden.1037 Wenngleich man hier durch den ungezwungenen Umgang der Geschlechter sicher nicht von vornherein »unzüchtige« Handlungen unterstellen darf, scheint doch das Bild von den Schauspielern als frei umherziehenden Wandervögeln weithin negativ geprägt gewesen zu sein, wobei man nicht vergessen darf, daß Aufführungen weniger vor einer größeren Öffentlichkeit als vielmehr in den Häusern der Reichen und Adligen gegeben wurden, um deren Bedürfnis nach Unterhaltung und Zerstreuung zu befriedigen. Die Szenen in Li Lüyuans Laterne vermitteln einen Eindruck von den Vorbehalten, die man gegen den Aufenthalt von Theatertruppen in den Anwesen der Wohlhabenden hegen mochte. Es verwundert daher nicht, daß es die der Orthodoxie und den traditionellen Moralgesetzen besondere Aufmerksamkeit schenkenden Mandschu-Herrscher waren, die den durch das Schauspielwesen verursachten Mißständen einen Riegel vorschoben, so daß Kaiser Qianlong (1736–1796), selbst als ein Liebhaber der Theaterkunst bekannt, per Erlaß die Besetzung von weiblichen Rollen durch Frauen untersagte. Diese zunächst nur für Aufführungen innerhalb des Herrscherpalastes gedachte Maßnahme stellte freilich ein Vorbild dar, dem man sich auch andernorts anpassen mußte, womit sich dem Genre zu seiner Aufrechterhaltung ganz 1036
1037
Vgl. zu den einzelnen Rollenfächern Pan Xiafeng: The Stagecraft of Peking Opera. From its Origins to the Present Day, Peking: New World Press 1995, S. 38ff. Vgl. A.C. Scott: The Classical Theatre of China, London: George Allen & Unwin 1957, S. 68.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
neue Aufgaben stellten: Es waren Männer, die sich weiblichen Habitus aneignen mußten, um die sich wiederum in sieben Charaktertypen unterteilende Rolle der dan überhaupt spielen zu können. Gerade dieser »Geschlechtssprung« war es, der der Schauspielerei in China, die im Vergleich zur realistischen Theaterkunst Europas eher der Symbolik verhaftet war, im Falle der dan viel Talent abverlangte. Es erforderte für einen Schauspieler zweifelsohne eine Menge Kunstfertigkeit, Einfühlsamkeit und Geschick, damit er als gute und anständige Frau (qingyi) ebenso überzeugte wie als noble Edeldame (zhengdan), als lebhaftes, quirliges Mädchen (huadan), als Amazone (daomadan bzw. wudan), als ältere Frau (laodan) oder als weiblicher Harlekin (caidan). Die hohen Ansprüche an die Fertigkeiten der Jungen und Männer in den dan-Rollen, führten nicht nur dazu, daß dieses Fach bald zu dem angesehensten innerhalb der Pekingoper überhaupt wurde, sondern hatten auch zur Folge, daß die seit Jahrhundertbeginn wieder verstärkt Zugang zur Theaterwelt findenden Darstellerinnen sich lange Zeit schwer taten, es mit den männlichen dan-Stars wie Mei Lanfang aufzunehmen, der in dieser Rolle brillierte und den wir weiter oben bereits im Zusammenhang mit der Dramatisierung des Traums der Roten Kammer kennengelernt haben. Die knappen Bemerkungen zur Rolle der dan mögen genügen, um andeutungsweise einen Eindruck von der Reichhaltigkeit zu geben, die dieser Stoff in seiner künstlerischen Umgestaltung bieten kann. Mit der Hervorhebung der sozialen und psychischen Zwänge des dan-Darstellers Dieyi vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen in China während der zurückliegenden Jahrzehnte hat uns der Regisseur Chen Kaige durch die 1993 erfolgte Verfilmung von Lilian Lees Roman Lebewohl meine Konkubine (Bawang bieji) in der neueren Zeit davon ein eindrucksvolles Beispiel geliefert.1038 Die Hintergründe von Chen Kaiges Filmepos und Chen Sens Roman sind freilich grundverschieden: Haben wir es im ersten Fall mit einem klar im Niedergang begriffenen Genre der Theaterkunst zu tun, so befindet sich dasselbe in Spiegel der Augenweide noch in seiner vollen Blüte. Dennoch sind die Ähnlichkeiten beider Kunstwerke aufgrund der thematischen Übereinstimmungen frappierend. Sowohl der Film als auch der Roman schildern die sexuellen Nöte der jungen Schauspieler und ihrer Suche nach der eigenen »wahren« Identität. Thematisiert wird der grausame Zwang zur Kunst im anderen Geschlecht. So wie der berühmte Sänger Farinelli (1705–1782) einst seinen gesellschaftlichen Aufstieg der Kastration verdankte, sind Dieyi im Film und Du Qinyan, der Protagonist in Spiegel der Augenweide, auf ihrem Weg nach oben immer wieder den Nachstellungen homosexueller Lüstlinge ausgesetzt. Den drei Gestalten gemeinsam ist ihre identitätsbedrohende Wahrnehmung durch die Theaterfreunde als Frau, auf die sie jedoch, um Erfolg zu haben, nicht verzichten können. Mehr noch als im Falle des arrivierten und im Vergleich mit seinen damaligen 1038
Die deutsche Fassung des Romans ist erschienen als Lilian Lee: Lebewohl meine Konkubine, übersetzt von Karl Georg, München: Goldmann 1993.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
Leidensgenossen freilich eine Ausnahme bleibenden italienischen Opernsängers wird bei Dieyi und Du Qinyan die schwierige soziale und seelische Lage eines jungen Schauspielers in der Pekingoper faßbar. Anders als ein moderner Transvestit, der zur Unterhaltung des Publikums in Damengewänder schlüpft, wurden die jungen Sänger weiblicher Opernrollen in China (gemeinhin bezeichnet als lingren bzw. xianggong [junger Herr] oder auch hua [Blume]) auch außerhalb ihrer Bühnenauftritte oft wie Frauen behandelt, Opfer der homoerotischen Neigungen ihrer Lehrer und Förderer. Dieyi muß sich noch während seiner Ausbildung die Betätschelungen durch seinen Meister, einen Eunuchen, gefallen lassen. Sein erster Liebhaber wird später der mächtige Yuan Siye, der sich erst nachdem Dieyi sich ihm hingegeben hat, bereit erklärt, ihn und den Freund Xiaolou aus der Not zu retten.1039 Man mag dahingestellt lassen, ob es, wie Doucet unter Berufung auf Magnus Hirschfelds 1964 erschienene Studie Die Homosexualität des Mannes und Weibes pauschal feststellt, zutrifft, daß im kaiserlichen China vor Ausbruch der Revolution alle Gesellschaftsklassen, vom Sohn des Himmels oder wenigstens seiner Familie herab bis zum geringsten Kuli, von Homosexualität durchsetzt waren.1040 Einschlägige Arbeiten zu dem Thema scheinen diesen Eindruck jedenfalls zu bestätigen.1041 Tatsache und für uns im Zusammenhang mit dem Thema dieses Abschnitts interessant, ist, daß es gerade die Schauspielhäuser waren, in denen die zu Homosexualität und Päderasmus neigenden Herren aus der Gesellschaft das »Objekt ihrer Begierde« fanden. Man darf vermuten, und die Eingangsszenen von Spiegel der Augenweide belegen das, wie wir sogleich sehen werden, daß die chinesischen Opernhäuser Treffpunkte der örtlichen Homoszene bildeten, wobei den Schauspielern die Rolle des käuflichen Opfers zukam. Von fast ausnahmslos niedriger sozialer Herkunft und von den Verwandten aus wirtschaftlicher Not an eine Schauspieltruppe verkauft, besaßen diese jungen Knaben in der Gesellschaft gewöhnlich ein noch geringeres Ansehen als die Prostituierten. Wie zeitgenössischen Dokumenten zu entnehmen ist, bot sich den Freudenmädchen mitunter die Möglichkeit, sich freizukaufen und als Gattin eines Herrn von Stand und Ansehen unter Umständen gar in den Adelsstand erhoben zu werden. Dieser Weg blieb Opernknaben dagegen verschlossen. Die Depravation ihres sozialen Status hatte 1039 1040 1041
Die entsprechende Szene findet sich in der Romanversion ebd., S. 110–113. Vgl. Friedrich W. Doucet: Homosexualität, München: Lichtenberg 1967, S. 49. Vgl. dazu ausführlich Xiaomingxiong Samshasha: History of Homosexuality in China (Zhongguo tongxing'ai shilu), Hongkong 1984 sowie Ameng di Wu: La manica tagliata, hrsg. v. Giovanni Vitielo, Palermo 1990 (kommentierte Übersetzung aus der späten MingZeit Aufzeichnungen der abgeschnittenen Ärmel [Duanxiu pian] mit Berichten von mehr als fünfzig Fällen der Homosexualität aus der chinesischen Geschichte). Vgl. auch R.H. van Gulik: Sexual Life in Ancient China, S. 48, Anm. 2 und S. 62. S.a. Helmut Martin: »Wolken- und Regenspiel: Die chinesische erotische Literatur« (insbesondere Abschnitt 8: Chinesische Homosexualität: Zwei Perspektiven), in: DERS.: Traditionelle Literatur Chinas und der Aufbruch in die Moderne, Dortmund: projekt-Verlag 1996, S. 37–61.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
Auswirkungen auf nachfolgende Generationen. So war es zum Beispiel in der Qing-Dynastie selbst den Söhnen und Enkeln von Opernschauspielern noch untersagt, an den Magisterprüfungen teilzunehmen und so den Aufstieg in die Nomenklatur zu schaffen.1042 Wer seinen homoerotischen Neigungen ohne die kunstvolle Verpackung in den Opernhäusern nachkommen wollte, dem stand der Besuch von Schwulenbordellen offen. Wie wir aus einer Schrift des Qing-zeitlichen Literaten Zhao Yi (1727–1814) über die Homosexualität in China wissen, gab es entsprechende Einrichtungen seit der Song-Dynastie. Die männlichen Prostituierten, so heißt es dort, hätten sich den Freiern in Frauenkleidern auf der Straße angeboten und seien in Gilden organisiert gewesen.1043 Während der repressiveren Qing-Zeit war solche Offenheit nicht mehr zulässig, dort zog man sich in »private Etablissements« (siyu) zurück.1044 Die knappen vorstehenden Bemerkungen zur Situation innerhalb der Theaterwelt sind wichtig, um zu einer angemessenen Bewertung von Spiegel der Augenweide zu gelangen. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir sind anders als David Wang in seiner kurzen Übersicht zu dem Werk, wo die Inkompetenz Chen Sens bei der Behandlung des Themas hervorgehoben wird, vielmehr der Ansicht, daß der Verfasser seiner gestellten Aufgabe durchaus gerecht wird und eine neue Tendenz einleitet, deren Einflüsse auf die spätere Bohème-Literatur unverkennbar sind.1045 Wir wollen das skizzenhaft erläutern, indem wir uns zunächst die für das hiesige Thema bedeutsamen Aspekte während der Anfänge der erotischen Romankunst Chinas noch einmal in Erinnerung rufen. Dort haben wir im Zusammenhang mit Werken wie der Inoffiziellen Geschichte des bestickten Lagers oder dem Jin Ping Mei gesehen, daß die Homosexualität vor dem Hintergrund der Ästhetisierung des Körperlichen in der Erzählliteratur zum Ende der Ming-Dynastie meist dazu diente, die großartige vitale Kraft der Protagonisten zum Ausdruck zu bringen. Die Helden sind nahezu ausschließlich Bisexuelle, die gleichermaßen Freude am gleich- wie am fremdgeschlechtlichen Verkehr empfinden und in beiden Formen ihr Können unter Beweis stellen. Homosexualität ist hier nichts Verwerfliches oder »Abartiges« sondern dient zur Abrundung des Bildes von der starken sexuellen Energie, die den Handelnden innewohnt und sich Wege zur Entladung sucht. Ein Entwicklungsschritt in der Behandlung des Themas deutet sich in Li Yüs Erzählung »Die männliche Mutter Menzius erzieht einen Sohn und zieht dreimal 1042
1043 1044 1045
Vgl. Pan Guangdan: »Materialien zum Problem der Homosexualität in China in ausgewählten Dokumenten« (Zhongguo wenxianzhongde xingbiantai ziliao), in: Fan Xiong: Untersuchung zur chinesischen Schlafzimmerkunst des Altertums (Zhongguo gudai fangzhong wenhua tanmi), Guangxi: Minzu-Verlag 1993, S. 334. Vgl. van Gulik: Sexual Life in Ancient China, S. 163. Pan Guangdan: »Materialien zum Problem der Homosexualität«, S. 335. Vgl. David D.W. Wang: »Edifying Depravity: Three Late-Qing Courtesan Novels«, in Eva Hung (Hg.): Paradoxes of Traditional Chinese Literature, Hongkong: Chinese UP 1994, S. 235.
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um« (Nan Mengmu jiaohe sanqian) an. Der bravourösen Körperkünste weitgehend entkleidet, beschreibt Li darin die Liebesbeziehung zwischen zwei Männern. Eine ähnliche Idealisierung hat Li Yu in bezug auf das Lesbentum in seinem Dramenwerk Die duftende Geliebte (Lian xiangban) vorgenommen, in dem sich die Dame Shi und das Mädchen Yunhua ineinander verlieben. Die Beziehung der beiden endet glücklich, nachdem Yunhua als Nebenfrau Aufnahme im Haus des Gatten von Frau Shi findet.1046 Sowohl die eingangs beschriebene Körperlichkeit als auch die bei Li Yu erkennbare Idealisierung lassen tendenziell eine Gleichberechtigung der Liebe zum eigenen Geschlecht erkennen. Chen Sen scheint nun in diesen Kategorien weitergedacht zu haben, wobei uns seine Art und Weise der künstlerischen Umsetzung des Stoffes durchaus nicht wie Wang meint, Anlaß für »Verachtung« und gar »sexuelle Desorientierung« bietet.1047 Wir wollen gerne zugestehen, daß Spiegel der Augenweide insgesamt ein Zwitterwerk darstellt, insofern als gerade die Einflüsse durch Traum der Roten Kammer unverkennbar sind. Als Beispiele seien hier nur die an den »Garten der Großen Innenschau« erinnernde Szenerie des »Glücksgartens« (Yiyuan) von Xu Ziyuan (Kap. 5) oder die Spiegelszene in Kapitel 10 angeführt. Die Schilderung der »echten Liebe« zwischen den jungen Männern Mei Ziyu und Du Qinyan folgt darüber hinaus in vieler Hinsicht dem gängigen Schema von Begegnung, Offenbarung der Gefühle, Hindernissen und Abwendung voneinander sowie der letztendlichen Vereinigung, das uns bereits aus den Liebesromanen des Genres über Talente und Schönheiten hinreichend bekannt ist. Dennoch ist Chen Sens Spiegel der Augenweide unserer Einschätzung nach insbesondere deshalb ein Novum innerhalb der chinesischen Romankunst, als darin trotz der zahlreichen Stereotypen ein eindeutiger Milieuhintergrund entworfen wird, vor dem die Handlung spielt. Zu keinem anderen Zweck als dies zu erhellen, dienen die einführenden Bemerkungen zur Lage der Schauspieler im chinesischen Theater. Liebe und Sexualität sind hier nicht mehr nur Beigaben der von Idealismus oder zerstörerischer Gier bzw. dem Streben nach Unsterblichkeit und Selbstverwirklichung angetriebenen Helden, sondern facettenartig den sozialen Rollen der einzelnen Protagonisten zugeordnet. Das belegen schon die Ausführungen des Verfassers in den ersten Zeilen, wo er mittels einer Erweiterung der traditionellen Auffassungen vom qing-Begriff zu seinem Thema überleitet. Was in der Welt des Schauspiels am schwierigsten zu finden ist, sind aufrichtige, ehrliche, sittsame und edle Männer [junzi] mit Gefühl sowie reine, unbefleckte Schauspieler. Selten gibt es solche Herren, die zwar Gefallen am Geschlechtlichen [se] finden, jedoch nicht allein nach der Befriedigung ihrer Lust [yin] streben. [Zehn Formen von Charakteren unter den Schauspielern werden unterschieden.] Jene, die ihre Gefühle direkt hervorbringen; jene, die sie mit Bedacht formulieren; 1046 1047
Vgl. van Gulik: Sexual Life in Ancient China, S. 163. Vgl. Wang: »Edifying Depravity«, S. 235 bzw. 239.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität jene, die Emotionen spontan und wild zum Ausdruck bringen; dann solche, die dabei Anmut und Reinheit zeigen sowie Zärtlichkeit vermitteln; jene, die sich dem Gefühlsrausch hingeben; die ganz und gar erotischen Typen und die eher Verführerischen. Unter den negativen Gestalten sind hervorzuheben solche, die zu sexuellen Ausschweifungen neigen, nicht zu vergessen die Lüstlinge, die Dummen und die Verrückten. [Die Besucher des Theaters wiederum kategorisiert Chen Sen folgendermaßen:] Man findet Männer, die in ihren Gefühlen der Zuneigung ehrbar bleiben und nach Erhabenheit und Reinheit streben. Einige Herren neigen dazu, sich in ihren Gefühlen zu verlieren, andere wiederum streben nach nichts anderem als Ritterlichkeit. Heißblütige und Verspielte kommen ebenso vor wie Männer, denen 1048 Harmonie und Erquickung über alles geht.
Von homoerotischen Neigungen geplagte Besucher der Theater und junge Schauspieler sind die Protagonisten des Romans. Sie alle sind nach der gerade erfolgten Auflistung ausgestattet mit einer Form des qing. Die vielen Schattierungen, die Chen Sen in seiner Aufstellung nennt und die an den freilich noch weit umfangreicheren Katalog in Feng Menglongs zu Anfang dieses Kapitels genannter Geschichte des Gefühls erinnert, läßt bereits erkennen, daß es ihm keineswegs darum geht, Homosexualität von vornherein anzuprangern. Sie ist in der einen oder anderen Art dem Milieu, in dem man sich bewegt, grundsätzlich mitgegeben, nur bestimmte Spielarten davon sowie Übertreibungen sind abzulehnen. Doch Chen geht noch weiter, indem er die Homosexualität als eine Form des geschlechtlichen Umgangs gleichberechtigt neben die Heterosexualität stellt. Sein Spiegel der Augenweide steht also auf eigene Art für die Wahrnehmung des einsetzenden gesellschaftlichen und politischen Verfalls in China, wie wir ausführlicher im nächsten Kapitel sehen werden. Der Roman deutet hier mit der Toleranz gegenüber dem »Abnormen« nicht nur die Aufweichung der moralischen Konturen an, sondern bringt darüber hinaus in der Preisung »verkehrter« Sexualität auch zweiflerische Tendenzen gegenüber dem Ideal des Männlichen zu einem Abschluß: Mochten erotische Künstler wie Ximen Qing trotz all ihrer Dekadenz durchaus noch Bewunderung hervorrufen, so ließen die furchtsamen Protagonisten in Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt und Essigkrug bereits keinen Zweifel mehr daran aufkommen, daß das Männerbild ins Wanken geraten war. Die desexualisierten und effeminierten Gestalten der Dichter und Gelehrten in den caizi jiaren-Romanen leiteten schließlich eine Entwicklung der Auflösung ein, die hier im Spiegel der Augenweide mit der Geschlechterverwirrung ihren Abschluß findet. Daß man seine wahren Neigungen erst finden muß, zeigt das Beispiel des Helden Mei Ziyu im Roman, einem in jeder Hinsicht unbedarften jungen Mann von siebzehn Jahren. Nach einer Reise mit dem Vater in den Süden des Reiches ist er soeben in die heimatliche Hauptstadt zurückgekehrt, wo er sich bei Li Xingquan, 1048
Spiegel der Augenweide, Kap. 1, Bd. 1, S. 1.
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einem Studienfreund seines alten Herrn auf die bevorstehenden Prüfungen vorbereiten soll. Pflichtbewußt und strebsam hockt Ziyu seitdem über seinen Büchern und läßt sich selbst durch die zahlreichen Mägde und Zofen im Hause nicht ablenken. Lediglich die Zusammenkunft mit Yan Zhongqing und Shi Nanxing, zwei jungen Herren aus der Gesellschaft, bringt ein wenig Abwechslung in sein eintöniges Leben. Eines Tages statten die beiden Freunde Mei Ziyu einen Besuch ab und berichten begeistert von einer Reihe neuer Stars in den Pekinger Schauspielhäusern. Entgegen den Erwartungen von Yan und Shi äußert sich Ziyu jedoch abfällig über die Sänger und Bühnenkünstler, die sich dazu hergäben, den Menschen mit ihrer Anspielung auf sexuelle Gefühle zu gefallen, unterwürfig seien, ihre Erfüllung in Wein und Speise suchten und mit schiefem Lächeln falsche Hingabe heuchelten. Ziyu läßt hier zunächst Standesdünkel ebenso erkennen wie ästhetische Beweggründe. Sich seines eigenen Wesens noch in keiner Weise bewußt und sexuell desorientiert, legt er Wert auf Reinheit und Natürlichkeit, seiner Auffassung zufolge die Voraussetzungen für wahre Schönheit. Die Freunde drängen Ziyu, sich durch den Besuch eines der Häuser ein eigenes Urteil zu bilden. Schönheit, so machen sie ihm klar, sei nicht alleine auf Frauen beschränkt. Man bemüht Beispiele aus der Natur: Sind nicht die Männchen bei den Hühnern, Pfauen, Phönixen und Mandarinenenten die weitaus schöneren Tiere? Schöpferische Kraft ebenso wie Schönheit sind Yan und Shi zufolge zuerst dem Männlichen und erst dann dem Weiblichen gegeben worden. Und wie stehe es um ihn, Mei Ziyu, selber? Könne er, ein hübscher Jüngling, sich etwa nicht mit jeder noch so attraktiven Frau messen? Welche Vorzüge die Gesellschaft junger Männer in Frauenkleidung jenseits aller Leidenschaft birgt, betont im Verlaufe des Romans u.a. Xu Ziyun im Gespräch mit seiner Frau, die ihm Vorhaltungen wegen seines Umgangs mit den Schauspielern macht: »Euch Frauen sind natürlich die Männer lieber«, erwiderte Ziyun, »doch wenn wir Herren nach draußen zum Zechen gehen, können wir das nicht in Damenbegleitung tun, das verstieße gegen die Sitten. Der Vorteil bei diesen Schauspielknaben ist, daß sie das Antlitz von Damen besitzen, selbst aber nicht weiblichen Geschlechts sind. Man erfreut sich an ihrem Anblick, ohne daß dabei 1049 sexuelle Wünsche aufkämen.«
Der kurze Ausspruch ist nicht nur ein Zeichen für die elegante Verbrämung der eigenen Homosexualität, hier deutet sich vielmehr ebenfalls an, daß jede Gesellschaft sich durch ihre soziale Normsetzung des natürlichen Sexualverhaltens ihre Abnormitäten selbst schafft. Selbst die spezifische Form der Homosexualität wird hier durch das Milieu, in dem man seine Gelüste zu befriedigen sucht, bereits veranschaulicht. Angefangen von edlen Gestalten wie Mei Ziyu bis hin zu abstoßenden 1049
Ebd., Kap. 11, Bd. 1, S. 151.
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Charakteren vom Schlage eines Xi Shiyi handelt es sich um Päderasten, die ihre Neigungen mehr oder weniger deutlich hinter dem Anspruch verstecken, der femininen Aufmachung der Schauspieler erlegen zu sein. Mit all diesen philosophisch untermalten Ästhetisierungen der gleichgeschlechtlichen Liebe und ihren nützlichen Zwecken wird der Leser auf die weitere Handlung eingestimmt. Halbwegs überzeugt, schließt sich denn auch Ziyu den Freunden an, und als ein lediglich zu dem ungeliebten Theaterbesuch Verführter, bleiben seine ersten Eindrücke negativ, bestätigen sich die Vorurteile gegenüber dem Gewerbe. Unterwegs trifft man auf den nach Schauspielknaben süchtigen (danpi) Wang Xun, der den gleichen Weg hat. Der Leser erhält erste Eindrücke von dem Milieu. Als Ziyu das Theater betrat, wich er im gleichen Augenblick benommen von den Menschenmassen zurück und hätte am liebsten gleich wieder kehrt gemacht. Doch Wang Xun zog ihn durch das Gedränge bis in die Nähe der Bühne. Ziyu sah sich um. Unter den Zuschauern befand sich kaum jemand, der einen positiven Eindruck bei ihm hinterließ, lediglich auf den Rängen machte er einige angenehmere Erscheinungen aus. Er sah zwei jüngere Herren, die offenbar aus besseren Kreisen stammten und umringt von einem Dienerschwarm an einem der Tische Platz nahmen. Sogleich wurde ihnen Tee und Rauchwerk vorgesetzt. Auf der Bühne führte man gerade eine Szene aus den Drei Reichen auf, laut dröhnender Trommelwirbel erfüllte den Raum, es herrschte ein unbeschreiblicher Lärm. Angestrengt musterte Ziyu die Schauspieler, die sich unter das Publikum gemischt hatten. Nicht ein einziger fand sich darunter, der auf die überschwenglichen Beschreibungen seiner Freunde gepaßt hätte. Selbst eine mittelmäßige Gestalt war nicht auszumachen. Lediglich ein paar ältere Akteure mit dunkler Hautfarbe, die nirgendwo mehr ein Engagement fanden, drängten sich zwischen Tischen und Stühlen auf der Suche nach einer Einladung zum Essen. Ziyu hatte seine Aufmerksamkeit für eine Weile der Aufführung auf der Bühne zugewandt, als er jemanden näherkommen sah, der Wang Xun grüßte. Wang wandte sich um und begann ein Gespräch mit dem Bekannten. Von gegenüber sah Ziyu einen breitschultrigen Mann in grauen Kleidern herankommen, dessen Füße in schwarzen, lehmbeschmutzten Stiefeln steckten. Er war von untersetzter Gestalt und mochte um die dreißig sein. Mit schlenkernden Armen, offenbar nicht ganz bei Verstand, schob er sich an der Gruppe vorbei, hielt einen Moment lang inne und machte dann wieder kehrt. Dieses eigenartige Verhalten wiederholte er drei- oder viermal. Jedesmal, wenn er an den Tisch trat, hielt er inne und warf einen Blick auf Wang Xun, als wolle er ihn grüßen. Doch dieser hatte sich derart in das Gespräch vertieft, daß er dem Kerl in den Stiefeln gar keine Aufmerksamkeit schenkte, worauf der Fremde sich abwandte und in einer anderen Richtung davonging. Die ganze Umgebung widerte Ziyu an, er saß wie auf heißen Kohlen. Kaum hatte Wang Xun seine Unterhaltung beendet und Platz genommen, drängte Ziyu zum baldigen Aufbruch, doch da eilte schon jemand mit einem jungen Schauspieler an der Hand an ihren Tisch, verbeugte sich grinsend und ließ sich auf einem leeren Stuhl nieder. Wang schien die beiden nicht zu kennen. Ziyu betrachtete den jungen Sänger etwas näher. Es war ein Bursche von fünfzehn oder
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DIE WELT DER GEFÜHLE sechzehn Jahren, plump und unbeholfen, mit hervorstehenden Backenknochen. Sein weißer Teint stach seltsam von den dunklen Händen ab. Der Junge tätschelte Ziyus Arm und fragte ihn nach seinem Namen, doch wurde er von dem jungen Herrn Mei keines Blickes gewürdigt. Darauf erkundigte sich Wang Xun bei dem Begleiter des Burschen und erfuhr, daß er Baozhu, »Perlchen«, hieß. Bei dem Namen mußte Ziyu unwillkürlich lachen. »Gehört er nicht in die Truppe von Gui Bao?« wollte Wang Xun wissen. »Ja«, erwiderte der Begleiter, »doch der Meister hat angeordnet, daß ›Perlchen‹ sich heute hier unter den Gästen umtun möge. Auf der Bühne haben wir genügend Darsteller.« Wang Xun nickte. »Perlchen« strich ihm über die Hand und wollte wissen: »Sollen wir noch wo hin, es ist noch früh am Abend.« »Ein andermal«, lehnte Wang Xun ab, doch der Junge ließ nicht locker und wollte, daß Wang ihn zum Essen ausführte. Unruhig rutschte Ziyu auf seinem Stuhl hin und her in der Furcht, Wang möge ihn vielleicht mitschleppen. Er entschloß sich daher zum Aufbruch und hieß seinen Diener, nach dem Wagen zu sehen. Nach einer Weile kehrte der Diener zurück und sagte, es sei alles bereit. Ziyu erhob sich und verständigte Wang davon, daß er zu gehen gedenke, worauf sich dieser ebenfalls erhob und von dem jungen Schauspieler mit dem Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit verabschiedete. Ziyus Diener zahlte für das Schauspiel. Der Junge hielt Wang unterdessen weiterhin an der Hand und folgte ihm noch ein paar Schritte zum Ausgang, ließ dann aber endlich los und verschwand in der Menge. Vermutlich hatte er eingesehen, daß aus dem gemeinsamen Essen an diesem Abend nichts werden würde. Ziyu und Wang Xun bestiegen ihre 1050 Wagen und fuhren in unterschiedlichen Richtungen davon.
Die geschilderte Schauspielhausszene schwebt als Schlüsselerlebnis Mei Ziyus eindringlich über der folgenden Handlung und wird thematisch differenziert mit Hilfe einer Reihe von negativen Figuren aus dem Milieu immer wieder aufgegriffen. Eher abgestoßen als positiv auf seine weiteren Erlebnisse eingestimmt, fährt Ziyu in seinem Wagen nach Hause, als man wegen des Gedränges auf der Straße unterwegs zum Halten gezwungen ist. Plötzlich steigt ein seltsamer, doch angenehmer Duft in die Nase des jungen Herrn, weder Moschus noch Orchidee (ein Hinweis, daß es sich nicht um Damen handelt). In dem Gefährt neben seinem nimmt Ziyu einen alten Mann in der Gesellschaft von zwei hübschen Knaben wahr, die etwas jünger als er zu sein scheinen. Benommen von dem Anblick der schönen Jungen mag Ziyu seine Augen nicht von ihrem Antlitz wenden, doch währt der Zauber nur einen kurzen Moment lang, dann geht die Fahrt weiter. Das, was durch den Rummel in dem Theater verhindert wurde, hat nun die flüchtige Zufallsbegegnung erreicht: Ziyu hat sich in einen Jungen verliebt, der die Züge eines schönen Mädchens trägt. Chen Sen bedient sich hier mit dem ersten schicksalhaften Zusammentreffen zweier Liebender sowie in der weiteren Romanhand1050
Ebd., Kap. 1, Bd. 1, S. 14f.
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lung der gängigen Klischees aus den Werken der chinesischen Liebesliteratur. Denn wie man aus den folgenden Schilderungen erfährt, handelt es sich bei einem der beiden Knaben in dem fremden Wagen um niemand anderen als Ziyus späteren Liebling Du Qinyan, einen schönen Jüngling, der in seiner Heimatregion von einem Schauspiellehrer für die Opernrolle der jungen Mädchen ausgebildet worden ist und aufgrund seiner femininen Erscheinung gar als Inkarnation von Du Liniang, der Protagonistin in dem Drama Päonienlaube beschrieben wird. Wie stark Chen seine zweite Hauptfigur im Roman den berühmten Gestalten junger Mädchen in der Vorgängerliteratur nachempfunden hat, zeigt auch die Schilderung des Wesens von Qinyan, welches klare Bezüge zu Lin Daiyu erkennen läßt. Der Sängerknabe wird dem Leser beschrieben als weinerlicher junger Mann, »dem von den Unterweltsfürsten ein Kristall ins Herz gesetzt worden sein muß, so kühl und abweisend wirkt er« (Kap. 3). Eine Traumszene deutet die verwickelte Beziehung an, die Du und Mei bis zu ihrer letztendlichen Vereinigung durchzumachen haben. Die Verlobung Ziyus mit seiner von den Eltern bestimmten Braut Jinghua verleiht dem Ganzen eine weitere pikante Note und läßt darüber hinaus Ähnlichkeiten zu den Dreiecksbeziehungen in caizijiaren-Romanen wie Yu Jiao Li oder Die zweite Pflaumenblüte erkennen. Seiner homosexuellen Neigungen und der Gefühle zu Qinyan noch nicht ganz sicher, nimmt Ziyu die Nachricht von der angesetzten Verlobung mit Jinghua denn auch eher freudig als erschüttert auf. Bislang hat er sich während der von Freunden vermittelten Begegnungen mit Qinyan stets nur an dessen weiblicher Erscheinung erfreut und ihn nicht als engen Freund gleichen Geschlechts, sondern als Frau wahrgenommen. Ein erstes intimeres Beisammensein im »Glücksgarten« des Herren Xu Ziyun, bei dem Qinyan ein promiskuitives und unzüchtiges Verhalten an den Tag zu legen scheint, endet denn auch mit einem Fiasko. Das an die Mißverständnisse der Liebenden in den Werken über Talente und Schönheiten erinnernde Debakel ist hier psychologisch überzeugend wiedergegeben, zeigt sich doch der »reine« Mei Ziyu zunächst angewidert und abgestoßen von der unverhüllten Zudringlichkeit des um seine Zuneigung buhlenden Du Qinyan, da ihm zum ersten Mal bewußt geworden zu sein scheint, auf was für eine Affäre er sich da einzulassen droht. Die Tür zum Spiegelzimmer verschloß sich, als Ziyun und Baozhu nach draußen traten. Ziyu blieb mit Qinyan alleine zurück. Der Sängerknabe ließ den jungen Herrn auf einem Sessel Platz nehmen und stellte sich neben ihn, wobei er ihn mit unentwegtem Blick anstarrte, daß Ziyu sich verlegen abwandte und seinen Kopf senkte. Qinyan drehte sich um und lehnte sich an das Ofenbett. Während er sich mit der Hand über die Wange strich, sagte er sanft: »Junger Herr Mei, Ihr habt mich doch zum Jahresbeginn bei der Aufführung in der Oper gesehen, nicht wahr?« Ziyu nickte schweigend. »Wißt Ihr, wie sehr Ihr mir gefehlt habt?« Leicht schüttelte Ziyu den Kopf. »Aber das Rätsel von der Jade-Zither [eine Anspielung auf die Person Qinyans] im Garten des Herrn Xu habt Ihr doch gelöst, oder?« Erneut nickte Ziyu.
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DIE WELT DER GEFÜHLE »Was für ein Zufall. Ihr wißt hoffentlich, was Herr Xu damit beabsichtigte.« Erneut schüttelte Ziyu den Kopf. Vorsichtig berührte Qinyan mit dem Zeigefinger die Stirn des jungen Herrn und ließ ihn zu sich aufblicken. »Ich habe von Baozhu gehört, daß Ihr Euch stets nach mir erkundigt. Laßt mich für die Gefühle danken, die Ihr mir entgegengebracht habt. Warum seid Ihr so abweisend, jetzt, da wir endlich einmal alleine sind?« In die Enge getrieben, antwortete Ziyu gezwungen: »Yunong [Rufname Qinyans], ich habe gehört, daß du stolz bist und etwas auf dich hältst. Deshalb verehre ich dich. Weshalb zeigst du dich, gerade daß du ein paar Tage in Peking bist, plötzlich ganz anders?« »Wie, Ihr verachtet mich also, wollt gar nichts mehr von mir wissen?« rief Qinyan aus. »Daher würdigt Ihr mich also keines Blickes, zeigt mir die kalte Schulter. Nun, da habe ich mir wohl umsonst Hoffnungen gemacht.« Eine leichte Röte überzog sein Gesicht bei diesen Worten. Der Sängerknabe sah den jungen Herrn an, ihre Blicke trafen sich, und Ziyu senkte die Augen, das Gesicht puterrot. Er fühlte sich unbehaglich. Schläfrig senkte Qinyan die Augen, nutzte einen Moment der Unachtsamkeit des anderen, bog sich zu dem Sessel hinab und schmiegte sein Gesicht dicht an das von Ziyu. Erschrocken wich dieser zurück, doch da hatte sich Qingyan schon ganz eng an ihn geklammert und lachte überlegen. Ziyu war innerlich aufgebracht. Er schob Qinyan fort und erhob sich. »Den gemeinen Menschen beurteilt man nach seinem äußeren Verhalten, den Edlen nach seinem Herzen. Deinem Betragen zufolge zu urteilen, scheinst du mich für einen Stammkunden eurer Etablissements zu halten.« Qin lachte: »Warum so abweisend, wo Ihr mich doch liebt? Wozu diese Zurückhaltung, wenn man einander zugetan ist und Gefühle füreinander hegt. Jede noch so starke Liebe bleibt im Verborgenen, wenn man nicht darüber spricht, miteinander umgeht und sich näherkommt. Ich scheine mich tatsächlich in Euch geirrt zu haben, Ihr seid ein Wirrkopf.« Bei diesen Worten mochte Ziyu kaum noch an sich halten. Wütend platzte es aus ihm heraus: »Jemand, der etwas auf sich hält, darf nicht bei Äußerlichkeiten wie Worten und Erscheinungen bleiben, damit werden nur lasterhafte Gefühle zum Ausdruck gebracht. Das ist eines edlen Mannes unwürdig. Jemand, der nicht nach Vollkommenheit strebt, sich vielmehr an seichtem, liederlichem Verhalten orientiert, ist schlimmer als der gemeinste Bauerntölpel. Ich habe solche Menschen stets verachtet und mir im Umgang mit ihnen größte Zurückhaltung auferlegt. Von diesem Grundsatz werde ich keinen Millimeter abweichen. Du magst nur ein Schauspieler sein, doch du kannst immerhin die Menschen mit deiner Erscheinung erfreuen und dir einen großen Namen machen. Warum gibst du dich so unzüchtig, darauf vermag ich mir keinen Reim zu machen! Anfangs dachte ich, du seist stolz und unnahbar, wolltest, daß man zu dir aufblickt. Ich scheine mich in dir geirrt zu haben. Du bist es nicht wert, daß ich meine Gefühle für dich verschwende. Das Lob von Wei Pincai über dich entbehrt jeder Grundlage, nur schade, daß auch Xu Duxiang dir in seiner Blindheit Aufmerksamkeit schenkte. Wer sich nur darauf versteht, seine äußeren Reize einzusetzen, um Genuß zu erlangen, der darf nicht hoffen, daß ich ihm weiter Beachtung
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität schenke.« Wütend wollte Ziyu nach draußen stürzen, doch die Türe des Spiegel1051 zimmers ließ sich nicht öffnen.
Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, daß sich Chen Sen bei der Verwendung des örtlichen Hintergrundes, vor dem die Szene spielt, der Spiegel-Metapher bedient, die schon im Traum eine wichtige Rolle spielte. Doch anders als im Falle von Jia Rui, für den der Spiegel das Symbol für einen zerstörerischen Narzismus darstellt und konkret das Mittel ist, mit dem er Zugang zu der gefährlichen Welt der Illusionen erhält, deutet sich in Spiegel der Augenweide darin etwas von der Komplementarität und den Gegensätzen in der Beziehung der beiden Liebenden an. Der Streit offenbart, daß ihre Gefühle getragen sind von ein und derselben Leidenschaft, doch können sie die Vorstellungen davon noch nicht in Einklang bringen. Allein Qinyan hat seine homosexuellen Neigungen offen zum Ausdruck gebracht. Ziyu dagegen ist noch ganz gefangen in dem Bild des schönen Jünglings als Frau. In den Skrupeln Ziyus bündeln sich quasi die Vorbehalte der konfuzianischen Gesellschaft gegen die Homosexualität und deren Einstufung als abnormes Verhalten. Die Abnormität wurzelt hierbei weitgehend in einer primären geschlechtlichen »Unsozialität«.1052 Wei Ziyu empfindet diese Konflikte mit den im Über-Ich zusammengefaßten Ansprüchen der Gesellschaft nach einer Zurechtweisung durch den zurückgekehrten Vater, der auf seine fragwürdigen Neigungen aufmerksam geworden ist, in einer Traumszene besonders deutlich. Kurze Zeit zuvor ist er Gast bei der Heirat im Hause eines Freundes gewesen. Das Nachtgesicht – von diesem Aufenthalt angeregt – offenbart klar die Sorgen um seine eigene bereits beschlossene Eheverbindung (die Heirat ist in Kap. 54 beschrieben). Du Qinyan hat zu dieser Zeit bereits Peking verlassen und ist in den Süden gereist. In dem Traumgebilde nun sieht Ziyu den Geliebten auf einem Schiff herbeikommen und kann sich zunächst nicht erklären, was es mit diesem unerwarteten Zusammentreffen auf sich hat. Bald liegen sich die Freunde in den Armen, werden jedoch plötzlich von einer jungen Frau unterbrochen. Hilflos wendet sich Ziyu ihr zu und erhält die Einladung zu einem Bordellbesuch, um die vorherbestimmte Vereinigung zu vollziehen. Von der Frau wird Ziyu geziehen, unlautere Gefühle in bezug auf Qinyan zu hegen und aufgefordert, den Jungen zu vergessen, um eine sittenkonforme Verbindung von Mann und Frau einzugehen. In einer heftigen Gegenwehr sucht sich Ziyu der Umarmung durch das Mädchen zu entziehen, er befreit sich und springt mit einem Satz auf ein vorüberfahrendes Schiff, wo er erneut auf Qinyan trifft. Dessen Erscheinung hat sich gewandelt. Mit trockenen Tränen, das Gesicht wachsgelb, gibt er dem jungen Herrn zu verstehen, daß er nicht hätte kommen sollen. Das plötzliche Auftreten des Vaters, der ihn mit wütender Miene der Schamlosigkeit zeiht, die Mutter klammheimlich verlassen zu haben, bereichert 1051 1052
Ebd., Kap. 10, Bd. 1, S. 144f. Vgl. HELMUT SCHELSKY: Soziologie der Sexualität, Hamburg: Rowohlt 1955, S. 71.
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die Szene zum Schluß um eine weitere Autorität, die mit ihren Forderungen der Ursprung von Ziyus Seelenqualen sind, so daß er schließlich vor Schreck erwacht (Kap. 53). Die zärtlichen Forderungen des Geliebten haben Wei Ziyu schockiert. Erst das Schluchzen des Jungen läßt seine alte Leidenschaft wieder aufleben. Es ist, als ertrüge er den Freund nur in Gestalt des weinenden und leidenden Mädchens. Qinyan wandte sich ab und wischte mit dem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht. Dann blickte er zu Ziyu auf und sagte: »Wenigstens weiß ich jetzt, wie du zu mir stehst.« Betroffen wich Ziyu zurück. War das die Stimme von Qinyan? Er sah genauer hin, da, vor ihm, war diese Gestalt göttergleicher Schönheit nicht die des jungen Knaben, den er damals in dem Wagen gesehen hatte? War das nicht die Figur auf der Bühne, die er angebetet hatte? Erschrocken fuhr Ziyu zusammen, als sei er bei einer schlechten Tat überrascht worden. Innerlich aufgewühlt fühlte er, wie ihn auf einmal eine große Zärtlichkeit zu dem Jungen dort erfüllte. Doch er 1053 brachte kein Wort heraus.
Die Versöhnung bleibt nicht aus, berauscht vom Wein liegen sich die beiden Freunde bald in den Armen. An dieser Stelle ist neben der schlichten Versöhnung zweier kurzzeitig verkrachter Liebespartner festzuhalten, daß es sich hier um den intimsten Kontakt zwischen Ziyu und Qinyan handelt, von dem wir im Roman erfahren. Der Analkoitus selbst, quasi der Vollzug einer der heterosexuellen Vereinigung ähnlichen Praktik unter Männern, bleibt Qinyan an dieser Stelle sowie in den weiteren Szenen erspart, ein nicht zu unterschätzender Faktor, der ihm am Ende den sozialen Aufstieg ermöglicht, denn damit entgeht er letztendlich der Herabwürdigung »zur Frau«. Schließlich zielte jede konkrete Form der Penetration, gleich ob vaginal, anal oder oral, auf ein als weiblich determiniertes Objekt, ein Mechanismus, der uns bereits in der Erscheinung des Päderasmus im antiken Griechenland bekannt ist, wo die unterlegene soziale Rolle des Pais, d.h. des passiven Knaben-Geliebten, klar gegen die des aus bürgerlichem Milieu stammenden Erastes, seines Liebhabers, abstach.1054 Es ist diesbezüglich bezeichnend, daß die Homosexuellen aus den besseren Kreisen wie Mei Ziyu, Wei Pincai etc. sich nicht einfach mit gleichrangigen Partnern vergnügen, sondern ihre Gefährten im Milieu der sozial tieferstehenden Schauspieler suchen. Keiner der angesehenen Herren mag sich der Schmach aussetzen, durch Zulassung der Penetration die minderwertige Rolle des »gemeinen Weibes« hinnehmen zu müssen. 1053 1054
Spiegel der Augenweide, Kap. 10, Bd. 1, S. 146. Vgl. Carola Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München: C.H. Beck 1989, hier nach der Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg, S. 192. S. zu den herausragenden Gestalten des Hetärenwesens auch Heinz Dieckmann: Hetärenkatalog, München: Heyne 1962.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
Die Freude des Beisammenseins von Ziyu und Qinyan währt nur kurze Zeit. Wei Pincai, ein eifersüchtiger Bekannter von Mei Ziyu, streut üble Gerüchte über den Sängerknaben und bringt die Liebenden auseinander. Darüber erkrankt Ziyu, erst als Qinyan aus Sorge der Mutter an sein Lager gerufen wird, bessert sich sein Zustand. Noch benommen von dem langen Leiden, erkennt der Kranke den Geliebten zunächst längere Zeit nicht. Es kommt zu einer gefühlvollen Szene des Wiederentdeckens nach der Trennung, die deutlich in Kontrast gesetzt ist zu dem oben zitierten Streit (Kap. 29). Als ständiger Begleiter des jungen Herrn Mei erhält Qinyan Zugang zu den höchsten Kreisen. Die Zeit vertreiben sich die Männer aus der Gesellschaft mit Feiern und poetischen Wettbewerben, die an entsprechende Szenen im Traum erinnern. Doch in Chen Sens Werk geht es dabei ungleich derber zu, der folgende Witz, mit dem Wang Xun seine Freunde erheitert, wirft ein Schlaglicht auf die erotischen Gelüste innerhalb der High-Society und deutet ihre Verkommenheit an. Die Kunst droht hier zu verrohen. »Paßt auf«, rief Wang, »jetzt bin ich an der Reihe. Also, da war einmal eine blinde Nutte, die trotz ihrer Behinderung stets angeben konnte, mit welcher Art von Kunden sie verkehrt hatte. Als die Freier eines Tages allesamt das Lokal verlassen hatten, stellte die Puffmutter sie auf die Probe und wollte von ihr wissen: ›So, und nun verrate mir einmal, welche drei Herren heute bei dir gewesen sind.‹ ›Der erste von den dreien muß ein Bakkalaureus gewesen sein‹, hob die blinde Nutte an, »er schob mir die Arschbacken auseinander, preßte sie mir dann wieder zusammen, bearbeitete mich schließlich von vorne und hinten und sagte dabei stets: ›Hier noch ein bißchen weniger, dort noch ein wenig mehr, etwas tiefer, etwas flacher‹ – na, wenn das nicht ein Hinweis auf die Methode zur Abfassung des achtgliedrigen Prüfungsaufsatzes war! Das kann nur ein angehender Gelehrter gewesen sein. Der zweite betätschelte mich eine Weile, nachdem er zu mir in die Kammer getreten war, prüfte mich eingehend von allen Seiten und stellte schließlich fest: ›Linke Schläfe eine Narbe, auf der rechten Brust Kratzer, Länge zwölf Zentimeter.‹ Dann hielt er inne, und ich hörte, wie er weiter sagte: ›Beine zusammen, Arme weit auseinanderstrecken‹ – ein ganz klarer Fall von einem Gerichtsmediziner. Mit dem dritten Besucher heute verhielt es sich allerdings etwas merkwürdig. Er war kaum eingetreten, als er mein Geschlecht eingehend zu studieren anfing, wobei seine starken Augenbrauen furchtbar kitzelten. Er schnupperte so ausgiebig an meinem Unterleib, daß mir sogleich klar wurde, es könne sich nur um einen Kurzsichtigen handeln. Wenn das nicht der Dumme A' 1055 gewesen ist!«
Die unverbindliche Geselligkeit im Kreise der reichen Herren hilft Qinyan freilich nur wenig, leidet er doch nach wie vor unter seinem unwürdigen Status als Schauspieler. Die Lage bessert sich zwar, als er zu Gastvorstellungen ins Haus des rei1055
Spiegel der Augenweide, Kap. 39, Bd. 2, S. 556.
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chen Herrn Hua gebeten wird, doch ziehen damit neue Probleme herauf, denn andere, weniger an der Kunst als an den fleischlichen Genüssen interessierte Herren der Gesellschaft, werden damit auf ihn aufmerksam. An ihrer Spitze steht ein gewisser Xi Shiyi, ein vermögender Mann aus Guangxi, der mit über hunderttausend Tael Silber aus dem Süden nach Peking gereist ist, um sich einen Beamtenposten zu kaufen und der sich die lange Wartezeit bis zur Zuteilung eines Postens mit Theaterbesuchen vertreibt. Unter den Sängern ist Xi bald als brutaler Vergewaltiger bekannt, der vor keiner Schandtat zurückschreckt, um seine Lust zu befriedigen. Xi Shiyi ist nun beim Anblick des Qinyan hingerissen von dessen lieblichem Antlitz. Da sich der Junge jedoch wie erwartet störrisch zeigt und ihn abblitzen läßt, heckt er einen Plan aus, um seiner doch noch habhaft zu werden. Bei einem geschickt arrangierten Klosterbesuch wird der Sänger von Xi Shiyi und seinen Freunden gestellt und muß gemeinsam mit ihnen ein Mahl einnehmen. »Ich habe hier etwas für dich«, sagte Xi Shiyi zu Du Qinyan gewandt, »ich hoffe, es gefällt dir.« Damit zog er ein Schächtelchen aus der Brusttasche hervor und öffnete den Deckel. Zum Vorschein kamen ein paar dünne, hellgrüne Anhänger aus Jade. »Mit solch einem Schatz beschenkt Herr Xi nur seine Favoriten«, bemerkte Pan Qiguan und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Etwas derart Feines kommt einem selten in die Hände. In der Stadt kostet dieses Paar gut und gerne tausend Schnüre Kupfermünzen.« Anerkennend schnalzte er ein paarmal mit der Zunge. Mit weit aufgerissenen Augen starrten Pincai und der Mönch auf das Schmuckstück. »Nicht übel, was sich der alte Xi dieses Beisammensein mit Qinyan kosten läßt«, dachte Pincai, »mal sehen, ob er es annimmt.« Doch Qinyan würdigte den Schmuck keines Blickes, senkte vielmehr den Kopf. »Leg ihn einmal um das Handgelenk«, ermunterte ihn Xi, »die Größe dürfte stimmen.« »Ich werde das auf keinen Fall annehmen«, erwiderte Qinyan mit ernster Stimme und erhob sich. »Sie müssen wissen, daß ich niemals Schmuck trage.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, streckte er die Arme aus, damit alle sahen, daß er keine Armbänder trug. Xi Shiyi nahm jedoch an, der Junge mache seine Handgelenke frei, damit er ihm das Band anlege. Sogleich packte er Qinyan am Oberarm, zog ihn mit einer kräftigen Bewegung zu sich heran. Überrascht verlor der Junge das Gleichgewicht, stürzte und landete in den Armen des lüsternen Mannes. Ohne viel Aufhebens umarmte ihn dieser, mochte seine Leidenschaft nicht mehr zügeln und küßte ihn auf das Gesicht. Dann hielt er ihn an den Händen fest, um ihm den einen Anhänger über das Gelenk zu streifen. Als er darauf seinen Griff für einen Augenblick lockerte, um den zweiten Anhänger hervorziehen, rang sich Qinyan frei, wich zurück und schrie mit weinender Stimme, ohne auf irgend jemanden Rücksicht zu nehmen: »Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie überhaupt nicht. Ich bin mittlerweile kein dahergelaufener Bengel vom Theater mehr,
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität mit dem man machen kann, was man will. Ihr habt kein Recht, mich auf solch entwürdigende Art zu behandeln. Ich werde das meinem Gastgeber melden, dann sehen wir weiter!« Mit diesen Worten stürzte Qinyan nach draußen, streifte den Anhänger ab und schleuderte ihn in den Hof, wo das Schmuckstück in drei 1056 Teile zerbrach.
Hier deutet sich an, daß sich Qinyans Lage mit dem ständigen Engagement im Haus des Herrn Hua bereits verbessert hat und er den Ruch des Sängerknaben weitgehend losgeworden ist. Doch frei darf er sich damit noch keineswegs fühlen, und aus seiner weiterhin unsicheren Stellung erwächst neues Übel, gehört er doch als käuflich erworbenes Mitglied der Truppe seines Meisters Cao Changqing immer noch zum Ensemble. Qinyan ist gezwungen, die Stadt zu verlassen. Mit der Bemühung übernatürlicher Mächte leitet Chen Sen die Suche Qinyans nach seinem wahren Selbst ein. Im Gegensatz zu Mei Ziyu, der in seiner Wahrnehmung des Freundes als Frau weitgehend eine heterosexuelle Orientierung zu erkennen gibt, handelt es sich bei Qinyan eher um den »wahren Homosexuellen«.1057 Die Schilderungen Chen Sens lassen leider keine Möglichkeit zur näheren Untersuchung des sozialen Umfeldes seines Protagonisten bis zurück in die Kindheit, um dieses Problem soziologisch anhand seiner Gestalt zu erklären. Wir sind hier auf der Grundlage des vorliegenden Materials weitgehend auf eigene Interpretationen angewiesen. Die prägende Tätigkeit Qinyans als Schauspieler, die ihn sozusagen von Berufs wegen zur Homosexualität zwingt, ist hier nur eine Seite. Wie wir in der Szene des Streits mit Ziyu gesehen haben, outet er sich dort in ganz ungezwungener Form, so daß wir unabhängig von dem vorhandenen Zwang zur Effemination – ein typischer Brauch der »passiv-femininen Homosexuellen«,1058 den schon Kaiser Caligula bisweilen pflegte – durchaus starke in seiner Natur begründete homoerotische Neigungen vermuten dürfen. Der Eindruck einer wesentlich »biologisch« bestimmten Variante der Geschlechtlichkeit des Protagonisten verstärkt sich noch durch die folgenden Ereignisse. Wir fassen Chen Sens Spiegel der Augenweide hier nicht lediglich als einfache Liebesgeschichte auf, in der er sich bedenkenlos der in der chinesischen Erzählliteratur reichlich vorhandenen Stilelemente der Phantastik bedient. Der Verfasser steht in vielfacher Hinsicht selbstverständlich in der Tradition seiner Vorgänger, befindet sich selbst aber schon an einer Grenze zur Gezeitenwende, so daß man hinter der Bemühung des Übernatürlichen wohl mehr vermuten darf als reine Übersinnlichkeit, die nichts erklärt. Nach allem, worauf Chen bei der Abfassung seines Werkes zurückgreifen konnte – und die Entwicklung kulminierte, wie wir weiter oben gesehen haben, in Cao Xueqins Roman – sind Traum und Phantastik hier als Hinweise auf bestimmte wie auch immer geartete innere Vorgänge in der physisch-psychischen Subwelt des Men1056 1057 1058
Ebd., Kap. 36, Bd. 2, S. 518f. Vgl. zur Erörterung dieses Begriffs Schelsky: Soziologie der Sexualität, S. 77. Vgl. dazu Doucet: Homosexualität, S. 56.
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schen zu begreifen. Der Weg Du Qinyans gemeinsam mit Qu Daoweng wird somit zur Schlüsselerfahrung für den Protagonisten. Die kleine Reisegruppe hat die südchinesische Stadt Yangzhou erreicht und unternimmt Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten des Ortes. Trotz der allgemein herrschenden Heiterkeit bleibt Qinyan weiterhin schwermütig. Herr Liu will ihn mit einem Ausflug zum »See Ohnesorge« (Mochouhu) aufheitern, dessen Bezeichnung auf den Namen einer Nonne aus dem Altertum zurückgeht. Bei dem Begriff kommt Qinyan sogleich ein Vers in Erinnerung, in dem das Medium während einer fuji-Séance Hinweise auf sein Schicksal offenbarte und folgendes verkündete: »Am See Ohnesorge wirst du einst unter Lotosblüten das Grab des Mädchens erblicken«.1059 Während einer Rast am Ufer des Sees, der mit roten und weißen Lotosblüten übersät ist, streift der Blick des Jungen über die Umgebung. Auf dem Wasser treiben Boote mit Mädchen, die die Blumen aus dem Grund zupfen. Das idyllische Bild wird abgerundet von Kindern, die im seichten Ufergewässer spielen. Schweigend schickt Qinyan ein Stoßgebet zum Himmel: »Ihr Götter! Ihr Götter! Gebt mir ein Zeichen zur Offenbarung meiner Herkunft. Wißt ihr nicht, wie ich mich sehne zu wissen, woher ich stamme, wie ich heiße. Warum erscheint mir nicht eine Geistergestalt, gibt es keine Erscheinung, die mir endlich Klarheit verschafft?« Als Qinyan geendet hatte, blickte er sich um, gewahrte aber auf der ganzen weiten Fläche der Umgebung kein Grab. Plötzlich jedoch bemerkte er, wie am Ende des Lotosteppichs ein Schiffchen auftauchte mit einem rotgewandeten Mädchen an Bord, das lange schwarze Haare hatte. Sie mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein und besaß ein liebliches Antlitz. Ihr Boot trieb langsam näher. Qinyan glaubte an ein Wunder, wie diese göttergleiche Schönheit gleichsam aus dem Nichts dort vor ihm auftauchte. Im Bug des Schiffchens sah er Lotosblüten, und über dem Haupt des Mädchens flatterten einige Eisvögel. Das Ganze machte einen sonderbaren Eindruck, zumal die Vögel überhaupt keine Furcht zu zeigen schienen. Qinyan bemerkte, wie ihn das Mädchen unentwegt anstarrte, und auch er konnte seine Blicke nicht von ihrer Gestalt lösen. Nach einer Weile stieß das Boot leicht ans Ufer, die Vögel stieben in den Himmel und flogen in Richtung Norden davon. Liu Xi klatschte in die Hände, um den Tieren einen ordentlichen Schreck einzujagen. »Was befindet sich denn dort in jenem Teil des Sees?« wollte Qinyan von dem Mädchen wissen und wies in die Richtung, aus der es gekommen war. »Da hinten ist die Stadtmauer,«, war die Antwort, »in deren Nähe sich das Grab der Unsterblichen Du befindet. In der Umgebung gibt es viele Orchideen und Eisvögel. Die Vögel, die gerade davongeflogen sind, stammen vom Grab der Unsterblichen. Sie haben mich hierher begleitet.« 1059
Hier Kap. 55; bei fuji handelt es sich um eine Form der Wahrsagerei, bei der ein Medium mit Hilfe von scheinbar »absichtslos« in den Sand geschriebenen Zeichen Auskunft über das Schicksal gibt.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität Als Qinyan von dem Grab der Unsterblichen Du hörte, war er seltsam berührt und fragte, in welcher Zeit diese Frau auf Erden gewandelt sei. »Das weiß ich nicht«, erwiderte das rotgewandete Mädchen, »mir ist nur bekannt, daß es sich um ein junges Mädchen aus einer Beamtenfamilie gehandelt haben soll, das vor siebzig oder achtzig Jahren gestorben ist und hier beerdigt wurde.« »Und warum spricht man von ihr als einer Unsterblichen?« fragte Qinyan erneut. »Nun, das liegt daran, daß in diesem abgelegenen Fleckchen Land seither oftmals ein junges und schönes Mädchen zu sehen war, das niemand der wenigen Menschen, die hier leben, kannte. Sie trieb meist in einem kleinen Boot, tauchte aus dem Lotos auf und verschwand dort auch wieder. Sobald jemand sie verfolgte, verschwand das Mädchen vollständig. Später entdeckte man in der Nähe ein kleines Grab, mitten in einem Hain aus Fleckbambus. Hinter der Gruft wuchs eine Klettertrompete so groß wie ein Haus. Darin nisteten lauter Eisvögel. Auch Orchideen gab es, das Seltsame war nur, daß die Pflanzen das ganze Jahr über blühten. Doch wer immer eine der Blumen pflückte und mit nach Hause nahm, der erkrankte. Daher hieß es bald unter den Menschen in der Umgebung, daß hier ein Geist sein Unwesen treibe, und niemand wagte mehr, den Hain zu betreten, so daß das Grab verwilderte. Selbst das Vieh ließ man nicht mehr zum Weiden dorthin ziehen. Nur zum Beginn und zur Mitte eines Monats fahren die Menschen gelegentlich noch einmal über den See, um am Grab der Unsterblichen Räucherstäbchen zu verbrennen.« »Ich möchte mir das auch einmal anschauen«, sagte Qinyan. »Bringst du mich hinüber?« »Steig ein, wenn du magst«, lud ihn das Mädchen ein. Qinyan hieß Liu Xi, von dem Wein und dem Räucherwerk zu nehmen, und 1060 man beauftragte die eigenen Bootsleute, auf ihre Rückkehr zu warten.
Die in Peking gemachte Weissagung hat sich damit erfüllt, Qinyan weiß nun, daß er die Wiedergeburt der Unsterblichen Du ist, in dem Mädchen ist er seinem alter ego begegnet. Daher verkündet er nach dem Eintreffen am Grab, als man die Räucherstäbchen angezündet und Opfergaben dargebracht hat gegenüber Herrn Liu: »Ich bin sie, sie ist ich«, muß sich aber in der Erwiderung des rotgewandeten Mädchens entgegenhalten lassen: »Was für ein Unsinn. Wenn es dich gibt, gibt es sie nicht, gibt es sie, bist du nicht da.« Doch die Blicke, die die beiden jungen Leute austauschen, deuten an, daß beide sehr wohl um das Geheimnis ihrer miteinander verbundenen Existenz wissen. Die Wahrheit soll vor dem anwesenden Liu verborgen bleiben. Was konkret unausgesprochen bleibt, ergibt sich dennoch eindeutig aus den mehr oder weniger versteckten Hinweisen und Umständen: Da ist zunächst das bereits genannte Orakel, durch das die gesamte Szene der Existenzoffenbarung eingeleitet sowie Ziel und Erfolge der Suche angedeutet werden. 1060
Spiegel der Augenweide, Kap., 55, Bd. 2., S. 805ff.
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Sodann teilt Qinyan mit der Unsterblichen Du den Hausnamen. Diese einfache lineare Herleitung des eigenen Ursprungs wiederum ist flankiert von einer herrlichen Naturszenerie, deren Besonderheit die vielen Blumen (hua) sind, die auch Hinweise auf Qinyans Dasein als Schauspieler sowie in diesem Zusammenhang auf seine Homosexualität geben.1061 Abgerundet wird dies durch die Eisvögel, die symbolisch für eine schöne Frau stehen und als erotisches Sinnbild eines glücklichen Liebespaares die letztendliche Vereinigung mit Mei Ziyu vorwegnehmen.1062 Du Qinyans Wesen hat somit endlich zum Einklang mit seiner Herkunft und seiner Natur gefunden, so daß auch dem gesellschaftlichen Aufstieg, der Voraussetzung für die Beziehung mit Ziyu bleibt, nichts mehr im Wege steht. Selbst Ziyus gestrenger Vater sieht nun keine andere Möglichkeit mehr, als der Verbindung mit dem Sohn zuzustimmen. Obgleich die »echte weibliche« Figur der Gattin Ziyus hier kaum entwickelt ist, kommt es zu einer glücklichen mehrgeschlechtlichen Ehe zu dritt. Im Gegensatz zu den Idealgestalten Mei Ziyu und Du Qinyan, deren Bedeutung und Rolle sich einem erst nach und nach erschließt, bedürfen die Bilder der vollkommen negativen Figuren in Spiegel der Augenweide kaum einer Interpretation. Xi Shiyi, der Anführer eines Trios von Wüstlingen, das neben ihm noch Pan Qiguan und einen Herrn Namens Zhang Zhongyu umfaßt, steht in seinen Aktivitäten als ausschweifender Bisexueller dem Ximen Qing in nichts nach und erleidet am Ende gar ein ähnliches Schicksal. Was ihn jedoch vom Protagonisten des Jin Ping Mei unterscheidet, ist seine Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Auch Xi entgeht seiner gerechten Strafe nicht, indem er von einer Geschlechtskrankheit befallen wird. Die Botschaft des Romans ähnelt der, die wir schon aus vielen anderen der früheren Werke der erotischen Literatur kennen, sie ist nur um die Homosexualität bereichert: Diese ist hinnehmbar, solange sie wie im Falle von Mei Zuyu und Du Qinyan von aufrichtiger Leidenschaft getragen bleibt. Wer dagegen lediglich nach sinnlichen Genüssen strebt und keine Liebe zu empfinden vermag, der endet als körperliches Wrack.
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Mit dem Begriff der »Blume«, hier neben der Bedeutung als Pflanze mit dem gleichen Zeichen für die Rolle der jungen Schauspieler stehend, ist gleichsam auf schöne Erscheinung und Vergänglichkeit hingewiesen. In einem längeren Gespräch zwischen drei Schauspielern thematisiert Chen Sen diesen Aspekt, als dessen Vorlage ihm zweifelsohne das »Chrysanthemengedicht« Lin Daiyus im Traum diente und in dem einer der Kernsätze lautet: »Meiner Meinung nach sollten die Blumen überhaupt nicht erst blühen.« (Das Gespräch findet sich ebd., Kap. 43, Bd. 2, S. 614f.) Zu der sexuellen Konnotation des Symbols vom Eisvogel vgl. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Geheime Sinnbilder in Kunst und Literatur, Leben und Denken der Chinesen, Köln: Diederichs 1983, S. 72.
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12.2 Von unglücklichen Freiern und Dirnen Wenden wir uns nach dem Milieu der Schauspieler dem der Dirnen und Freier zu, das den Hintergrund für eine Reihe von längeren Romanen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bildete. Das Genre ist wohl wie kaum ein anderes der zeitgenössischen Literatur dazu geeignet, einige jener Verfallstendenzen innerhalb der chinesischen Gesellschaft aufzuzeigen, die wenig später in den kritischen Werken thematisiert wurden und auf die wir im nächsten Kapitel näher eingehen werden. Das Spektrum der Romane über das Rotlichtmilieu variiert freilich. Gerade die frühen Beispiele wie Traum von Wind und Mond (Fengyuemeng) und Narben durch ein ausschweifendes Leben (Huayuehen) stehen in vieler Hinsicht noch in der Tradition der Liebesromanzen, für die nicht zuletzt die in diesem Kapitel bereits mehrfach erwähnte Tang-zeitliche Erzählung der Li Wa vor allem wegen der thematischen Ähnlichkeit sicher nicht ohne Einfluß war. Doch wo den von aufrichtiger Zuneigung getragenen Protagonisten ein Jahrtausend früher noch die Möglichkeit zu gesellschaftlichem Aufstieg offen stand, treten nun vielfach Betrug sowie der persönliche Verfall bis hin zum Tod in den Vordergrund. Mehr und mehr heben die Schilderungen dabei auch konkrete soziale Mißstände wie die Opiumsucht bzw. Zeichen politischer Unsicherheit in den Mittelpunkt, so daß uns die wichtigen Romanvertreter des Genres vor allem aus der Zeit um die Jahrhundertwende wie Die neunschwänzige Schildkröte (Jiuweigui) oder Meer des Kummers (Henhai) weit über das Prostituiertenmilieu hinaus Auskunft von den zeitgenössischen Zuständen im Land geben und dabei an Traditionen anknüpfen, für die wir weiter oben mit Yu Gui Hong bereits ein eindrucksvolles Beispiel kennengelernt haben. Es ist frappierend, daß sich nahezu gleichzeitig vor allem in der französischen Literatur bei der Wahl des Sujets starke Übereinstimmungen mit den Tendenzen in China anzudeuten scheinen, dies bei allem Unterschied in der konkreten erzählerischen Realisierung. Nicht umsonst stehen dabei auf beiden Seiten der Welt große Metropolen wie Paris und Shanghai im Zentrum, in denen sich die sozialen, politischen und geistigen Veränderungen der jeweiligen Länder bündelten. Das Dirnenmilieu ist gleichermaßen der schillerndste und der bedrückendste Hintergrund für die Entfremdung des Menschen in der zunehmend von kapitalistischen Zwängen geprägten Gesellschaft. Die Prostitution, um hier einmal Marx zu bemühen, stellt nur einen besonderen Ausdruck der allgemeinen Prostitution des Arbeiters dar. Niemand erfährt eindringlicher und umfassender als die Dirne durch Verkauf des Körpers den Warencharakter am eigenen Leib. Die käufliche Liebe wird somit verallgemeinert zu einer Metapher der Totalität gesellschaftlicher Beziehungen.1063 Gleich ob Nana in Émile Zolas gleichnamigem Roman (1880) 1063
Vgl. das Nachwort von Helmut Bachmaier zu Émile Zola: Nana, ins Deutsche übertragen von Gerhard Krüger, München: Goldmann 1985, S. 426.
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oder Yuexiang bzw. Liu Qiuhen, die chinesischen Pendants in Traum von Wind und Mond und Narben durch ein ausschweifendes Leben, sie alle sind die Verkörperung des Prinzips der gesellschaftlichen Zersetzung. So einfach und unproblematisch die Liebesbeziehung zwischen der Prostituierten und ihrem Freier zunächst sein mag, sie scheitert meist an den gesellschaftlichen Zwängen oder der wirtschaftlichen Not, der Ruin ist die Folge eines kurzzeitigen Scheinglücks. Wie Marguerite Gautier, die schrankenlos liebende, hochherzige Sünderin in Alexandre Dumas des Jüngeren Kameliendame (1848) nach der Ablehnung durch die Verwandtschaft ihres Galans Armand Duval in ihr altes Milieu zurückkehrt und schließlich vor Kummer stirbt,1064 so sieht auch Liu Qiuhen am Ende als einzigen Ausweg den Tod. Die Liebe zwischen der Grisette Fanny Legrand und dem jungen Beamten Jean Gaussin in Alphonse Daudets Sappho (1884) bleibt ebenso unerfüllt wie die zwischen Lu Shu und Yuexiang.1065 In beiden Fällen wird aus der verzehrenden Leidenschaft keine Bindung fürs Leben. Es ist die Aussichtslosigkeit der Beziehung von Mann und Frau, Geliebtem und Geliebter, Freier und Dirne, die die Mißstände hinter dem zerstörerischen Verhältnis offenbart. Opfer und Täter sind beide in gleichem Maße. Hier das Laster der ungezügelten Wollust mit seinen existenzgefährdenden Fallen, die den Mann in den Abgrund zu ziehen drohen; dort demütige Hingabe und Unterwerfung verführerischer junger Frauen, die bei aller Berechnung und Grausamkeit doch selbst nur bedauernswerte Sklavinnen der Madames in den Bordellen sind. In nahezu graziös-verspieltem Ton wird gerade auch hier in den uns interessierenden chinesischen Werken der Geschlechterkampf auf eine neue Ebene gehoben. Leichtfertige Gewohnheiten und lockere Sitten innerhalb der zum Gelehrtentum berufenen Männerwelt deuten auf das Ende der kaiserlichen Epoche hin. Sich ihrem Dienst als Beamte versagend, sich stattdessen in den Niederungen des Dirnenmilieus physisch und psychisch aufreibend, können sie der Berufung, Stützen der Gesellschaft zu sein, nicht mehr nachkommen. Es ist dieses Bild von der alles zersetzenden Intimbeziehung, das so stark von den heiteren Darstellungen vor allem über das Hetärenwesen als Form der »Edelprostitution« abweicht, welche uns aus zahlreichen Werken der frühen chinesischen Literatur und Geschichtsschreibung überliefert sind. Angefangen von Sun Qis (um 884) Aufzeichnungen über das Beili-Viertel (Beilizhi)1066 aus der TangDynastie über Xia Tingzhis Yuan-zeitliche Sammlung über das Bordellwesen (Qinglouji) aus dem Jahre 1355 bis hin zu Qian Qianyis (1582–1644) Kleine Berichte über die Gedichtsammlungen der Dynastien (Liechao shiji xiaozhuan) 1064
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Vgl. Alexandre Dumas: Die Kameliendame, aus dem Französischen von Otto Flake, München: Goldmann 1985. Vgl. Alphonse Daudet: Sappho, aus dem Französischen übertragen von Eveline Passet, mit einem Nachwort von Ute Stempel, Zürich: Manesse 1996. Übersetzt von Robert des Rotours: Courtisans chinoises à la fin des T'ang, entre circa 789 et le 8 janvier 881. Pei-li tche (Anecdotes du quartier du nord) par Souen K'i, Paris 1968
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bzw. den Vermischten Aufzeichnungen von der Hölzernen Brücke (Banqiao zaji) des Literaten Yu Huai (1616–1696) aus der Zeit des Dynastiewechsels Ming und Qing – um nur einige der wichtigsten literarischen Quellen anzuführen – erscheinen die Gelehrten und Hetären in einer wundervollen Symbiose. Der Wandel in der Darstellung vom »ältesten Gewerbe« gleich welcher Schattierung wird besser verständlich, wenn wir den sozialen Hintergrund dazu ein wenig ausleuchten. Wie aus den einführenden Bemerkungen dieses Kapitels deutlich geworden sein dürfte, war Sexualität in China ganz allgemein gesprochen nicht einfach schlechthin diffamiert, auch wenn die einzelnen Denkschulen damit unterschiedliche Anliegen und Vorstellungen verbanden: Betonte der Konfuzianismus hierbei eher die Erfordernisse zur Bereitstellung von Nachkommenschaft, so stellte Sexualität für die Taoisten vor allem eine Kraftquelle des Lebens dar. Tabuisiert wurde der Geschlechtsverkehr weder bei den Konfuzianern noch bei den Taoisten, sondern vielmehr in einen konkreten Zusammenhang mit dem jeweiligen Lebenszweck gestellt. Die in bezug auf die Gesellschaft insgesamt unmaßgeblich bleibenden Sexualpraktiken der Taoisten zur Lebensverlängerung sollen uns an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Wichtiger für uns in diesem Abschnitt sind die entsprechenden Auffassungen der Anhänger von der konfuzianischen Lehre. Die Bindung des Geschlechtsaktes an das Primat der schlichten Fortpflanzung machte dabei die idealisierende Überhöhung ehelicher Liebe weitgehend überflüssig, wie wir weiter oben schon am Beispiel von Xia Jingqus Betrachtungen eines Landmannes gesehen haben. Eine harmonische Beziehung innerhalb der Familie war wünschenswert und diente im besten Falle dem Gedeih des Clans, doch stellte schon die von den Herren praktizierte und zulässige Form der Polygamie einen wichtigen Grundsatz der Liebe in Frage, nämlich die Ausschließlichkeit und die Konzentration auf einen Partner des anderen Geschlechts. Wir wollen uns hier nicht auf einen zweifelsohne interessanten Kulturvergleich der Liebesauffassungen zwischen dem konfuzianisch geprägten China und dem der Tradition christlicher Wertvorstellungen verpflichteten Abendland einlassen, sondern lediglich die Erscheinungen im Reich der Mitte umreißen, wo die Monogamie geschlechterspezifisch verstanden wurde und als angemessene Eheform lediglich für die Frau galt. Es war ihr anders als dem Manne angesichts der herrschenden Sittenvorstellungen nicht erlaubt, etwaige Mängel oder fehlende Qualitäten des Gatten durch die Wahl weiterer Partner auszugleichen. Viel eher schon – die Hausdrachen-Gestalten in den Romanen Ehegeschichten und Essigkrug haben es gezeigt – ließ sich die sozial definierte Unterlegenheit der Frau durch Machtansprüche innerhalb der Familie kompensieren. Wir können hier freilich nur einige grundlegende Tatsachen über die traditionelle chinesische Ehe und Familie darlegen und wollen durchaus nicht anzweifeln, daß Eheleute sich in China nicht auch aufrichtig geliebt und echte Zuneigung für den anderen empfunden haben. Es wäre wohl vermessen zu behaupten, daß die chinesische Ehe aufgrund der beschriebenen Konstellationen von vornherein und in jedem Fall unglücklich gewesen sei. Der Weg hin zu einer
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differenzierteren Betrachtung scheint uns jedoch zumindest aufgrund der zeitlichen Distanz und dem Mangel an schriftlichen Zeugnissen aus der Hand von Frauen verwehrt. Wesentlich günstiger ist die Quellenlage in bezug auf den Mann, um den es als »Verursacher« der Prostitution ja hier im wesentlichen geht, wobei gleichzeitig das Bild der weiblichen Idealgestalten in Form der Hetären Konturen annimmt. Wir wählen hier bewußt den Begriff der an die antiken griechischen Symposienteilnehmerin erinnernden Hetäre, da sie es sind, die innerhalb der chinesischen Oberschicht über geraume Zeit hinweg die Erscheinung der käuflichen Geliebten bestimmten und ganz wesentliche Eigenschaften einer Phryne oder Aspasia, der Gattin des Perikles, teilten.1067 Wir wollen es angesichts der gerade beschriebenen Schwierigkeiten von der konkreten Faßbarkeit emotionaler Verhältnisse innerhalb der chinesischen Ehe dahingestellt sein lassen, ob die käuflichen Geliebten bei den Männern der gehobenen Beamtenschaft lediglich die »reine« Ehefrau komplementierten oder vielmehr umgekehrt die »mangelnde emotionale und geistige Ausstattung der ehelichen Beziehung« kompensierten.1068 Aus den uns überlieferten Schilderungen geht jedenfalls deutlich hervor, daß die jungen Frauen in den Bordellbetrieben früh zu Objekten romantischer Liebe und erotischer Phantasien stilisiert wurden. Hier, in den Rotlichtvierteln von großen Städten wie dem Beili des Tang-zeitlichen Chang'an oder dem Qinhuai des Nanking zu Zeiten der Ming war es, wo die Herren der Gesellschaft eine Art persönlichen Freiraum genossen und jenseits der vorgeschriebenen Rollen als Beamte und Gelehrte heitere Formen der Unterhaltung genossen bzw. erotische Abenteuer suchten. Um den Erfordernissen des Beisammenseins mit gebildeten Männern gerecht zu werden bzw. bei gesellschaftlichen Anlässen wie Feiern und Banketten auftreten zu können, erteilte man den früh in die Freudenhäuser gelangten Mädchen um das zehnte Lebensjahr Musikunterricht, brachte ihnen Lesen und Schreiben bei und förderte individuelle künstlerische Gaben bis hin zur Dichtkunst.1069 Welches Ansehen die literarischen Elaborate der Hetären schon zu frühen Zeiten genossen, zeigen die beiden Damen Su Xiaoxiao und Yao Yujing aus der Dynastie der Südlichen Qi (485–535), deren Gedichte in die Sammlung der Musikamtslieder (Yuefu shiji) bzw. in die Annalen des Südens (Nanshi) aufgenommen wurden. Einen Glanzpunkt der Hetärendichtkunst erreichten zur Tang-Zeit die Poeme Xue Taos (768–831) und Yu Xuanjis (ca. 844–871), doch sind auch sie nur die herausragendsten Vertreter neben einer 1067
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Zum Hetärenwesen in Griechenland vgl. Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, S. 80–162. Ein Hetärenkatalog für China ist aufgestellt worden von Wan Xianchu: Berühmte Hetären Chinas (Zhongguo mingji), Guilin: Lijiang-Verlag 1993. Vgl. Renate Scherer: Das System der chinesischen Prostitution dargestellt am Beispiel Shanghais in der Zeit von 1840 bis 1949, Dissertation an der Freien Universität Berlin 1993, S. 174. Vgl. ebd., S. 191.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
Vielzahl anderer Gedichte. Immerhin finden sich in der Vollständigen Kompilation von Tang-Gedichten (Quan Tangshi) die Werke von nicht weniger als neunzehn Frauen aus dem Kurtisanenmilieu. Wie anregend die Gesellschaft der Hetären auch auf die großen Dichterfürsten der Tang-Dynastie wirkte, belegen die Gedichte von Li Bai (701–762), Du Fu (712–770) oder Meng Haoran (689–740), die in ihren Werken mit Titeln wie »Reise mit einer Hetäre zum Ostberg« (Xie ji dongshan qu), »Drei Poeme über Puderköpfe« (Yanqu san shou) und »Nächtliches Angesicht einer Hetäre in der Kammer des Anwesens von Yan Cuiming« (Yan Cuimingfuzhai ye guan ji) Auskunft über ihr Treiben in den Rotlichtvierteln geben. Einzelne Genres innerhalb der anspruchsvollen Literatur sind nicht ohne die Interpretation von gebildeten Damen aus dem Umkreis der Bordelle zu denken. Die Darbietung der vertonten ci-Gedichte aus dem Ende der Tang und dem Beginn der Song war ein ausschließliches Privileg der Hetären. Doch die gleichberechtigte Aufnahme einzelner Künstlerinnen in den Kreis der hehren Dichter ist nur eine Seite der erkennbaren Verehrung, die diesen Damen von der Männerwelt entgegengebracht wurde. Die Käuflichkeit alleine wurde nicht als Mangel empfunden, sie tat dem Streben nach Reinheit, Ehre, Treue und patriotischer Verbundenheit mit den Geschicken des Reiches keinen Abbruch, wie uns Yu Huai in den Vermischten Aufzeichnungen von der Hölzernen Brücke wissen läßt, wo er uns mit seinen Biographien über die »Acht hervorragenden Freudenmädchen von Nanking« (Jinling ba jue) Vorbilder an moralischer Integrität und größter Entschlossenheit unter den Mädchen des Qinhuai-Viertels überliefert hat.1070 Kommen wir nach diesen einleitenden Bemerkungen zu den Romanen der »traurigen Bordelliteratur«, die uns in diesem Abschnitt interessieren. Bewußt ruft der Verfasser des frühesten der hier vorliegenden Werke, Traum von Wind und Mond (Fengyuemeng) in Titel und Vorwort die Erinnerung an den ein halbes Jahrhundert zuvor erschienenen Traum der Roten Kammer wach, in dessen Tradition er sich gerade in bezug auf das entworfene Stimmungsbild sieht und auch sonst bei dem Vorgänger eine Reihe von Anleihen macht.1071 Über den Verfasser des zweiunddreißig Kapitel langen Werks, der uns nur unter dem Pseudonym »Mongole aus Hanshang [Jiangsu]« (Hanshang Mengren) bekannt ist, weiß man bis auf den Umstand, daß er aus dem südchinesischen Yangzhou stammt, weiter nichts. Dreißig Jahre lang, so die Angaben des auf das Jahr 1848 datierten Vorworts, habe der Autor schmerzliche Erfahrungen in der Liebe durchmachen müssen. Die vielen 1070
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Eine englische Übertragung der Schrift Yu Huais liegt vor mit A Feast of Mist and Flowers. The Gay Quarters of Nanking at the End of the Ming, Übersetzung mit Anmerkungen von Howard S. Levy, erschienen im Selbstdruck in Yokohama 1967. Der Roman wurde hier bearbeitet nach der Ausgabe Fengyuemeng, Peking: Beijing daxue 1990. Vgl. auch den Aufsatz von PATRICK HANAN: »Fengyue Meng and the Courtesan Novel«, in: HJAS, Vol. 58 (1998), S. 345–372.
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falschen Gefühle und Schwüre erschienen ihm nur mehr als Traum, so habe er sich ans Werk gemacht, um wenigstens die Leser wachzurütteln. Das Vorwort verlängernd, schildert der »Mongole aus Hanshang« im ersten Kapitel zunächst seine jahrzehntelangen Erlebnisse in den Bordellen des Handlungsortes Yangzhou, leitet dann aber zügig zu der männlichen Hauptfigur des Romans über, einem gewissen Lu Shu, der mit seinen zweiundzwanzig Jahren am Beginn seiner Karriere steht und auf Geheiß des dem Sohn allzu viele Freiheiten lassenden Vaters in der Stadt bei Verwandten lebt, um seine Studien voranzutreiben. Unzufrieden mit seiner zwar häuslichen, doch unansehnlichen Gattin, gibt sich Lu Shu alsbald den Reizen der blühenden Stadt hin. Während eines Bootsausfluges lernt er das Freudenmädchen Yuexiang kennen, die ihn mit ihren Liedern über Lin Daiyu und Wang Xiren aus dem Traum der Roten Kammer in ihren Bann zieht. Bald ist Lu Shu ständiger Gast im »Jadeturm« bei seiner Geliebten, überhäuft sie mit Schmuck und Kleidern. Das sechzehnjährige Mädchen seinerseits, angetan von dem sanften und spendablen Galan, träumt von einem Leben an Lu Shus Seite und dem Freikauf durch ihn, doch lenkt Madame Su, ihre Herrin, der drohenden Gefahr eines Verlustes für ihr Etablissement bewußt, die Neigungen der Yuexiang in eine ganz andere Richtung und heißt sie, den Liebhaber ordentlich auszunehmen. Lu Shu wird bei der Entjungferungsfeier derart betrunken gemacht, daß er nicht in der Lage ist festzustellen, ob seine Braut noch Jungfrau ist oder nicht. In heitere Feierszenen gepackte Lieder künden von den Nöten des Paares, als ein Sänger folgende Verse vorträgt: »Alle reden über die Liebe, wer nicht, der muß ein Heiliger sein; Liebe ist am Morgen und Abend gleichermaßen schön; Wer gäbe nicht Geld für ein Lächeln, Liebe – süßer als Honig; Ach, nur die Furcht, Liebe zu verlieren, 1072 Ach, nur die Furcht, nicht mehr geliebt zu werden.«
Eifersucht und Zweifel an der Treue des anderen führen schließlich zur Entfremdung zwischen den Geliebten. Kaum hat Lu Shu seinerseits einen Konkurrenten ausgeschaltet, der sich für Yuexiang interessiert, wird er das Opfer der Verführungskünste der »Großfüßigen Frau Ma«. Während des Liebesaktes von Yuexiang entdeckt, macht das Mädchen eine große Szene, erst nach den Vermittlungsbemühungen der gemeinsamen Freunde versöhnt sich das Paar. Doch dem Glück ist keine Zukunft beschieden, spätestens als sich Lus Mittel nach und nach zu erschöpfen beginnen, erwidert Yuexiang auf Geheiß der Madame seine Werbungen merklich kühl. Im Streit verläßt Lu Shu das Haus seiner besorgten Verwandten und verschafft sich Geld bei Bekannten, um seinen Aufenthalt im Jadeturm zu finanzieren. Ein Traum jedoch verheißt ihm die bevorstehende Trennung von der 1072
Traum von Wind und Mond, Kap. 12, S. 97.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
Geliebten: Yuexiang hat sich mit eigenen Ersparnissen und seinem Geld freigekauft. Gemeinsam will man fortziehen und mietet zu diesem Zweck ein Schiff. Am Hafen taucht allerdings plötzlich ein Mann auf, der sich als Yuexiangs Gatte ausgibt, das Mädchen wendet sich von Lu Shu ab, hält ihm in grausamen Worten vor: »Anfangs hattest du Geld, da besaß ich keinen Gatten. Heute ist all dein Reichtum verbraucht, wie sollte ich da auf ein Leben an der Seite eines ehrbaren 1073 Mannes verzichten?«
Als der vermeintliche Gatte Yuexiangs Lu Shu mit dem Messer bedroht, erwacht dieser. Nicht lange, da ist nun auch sein geliehenes Geld aufgebraucht, Lu zur Rückkehr in die Heimat gezwungen. Yuexiang hat sich zu diesem Zeitpunkt längst mit anderen wohlhabenden Herren getröstet. Von einer weit tragischer endenden Liebesgeschichte im Bordellmilieu berichtet Wei Xiuren (1818–1874) in seinem zweiundfünfzig Kapitel langen Roman Narben durch ein ausschweifendes Leben (Huayuehen), der wenig später als Traum von Wind und Mond in den fünfziger Jahren verfaßt worden ist, wie das Vorwort von 1858 andeutet.1074 In der sentimentalen Stimmung des ganzen Werks, über dessen einzelnen Szenen oftmals ein Hauch von Leid schwebt, deutet sich die Gefühlslage des Autoren an, dessen eigenes Schicksal von zahlreichen Wechselfällen geprägt war. Die allgemeine Unsicherheit schlägt sich nieder in Feststellungen wie dieser, als es unter den Freunden Wei Chizhu und Han Hesheng ans Abschiednehmen geht: Vergangenheit und Zukunft liegen beide gleichermaßen wie in dichtem Nebel verborgen, entziehen sich unserem Blick. Freude und Schmerz, Trennung und 1075 Wiedervereinigung – über all das hat der Mensch keine Gewalt.
Die Biographie Wei Xiurens ist einigermaßen faßbar. Aus der südchinesischen Küstenprovinz Fujian stammend, legte er in seiner Jugend erfolgreich die Prüfungen zum Bakkalaureus und Magister ab, versagte dann aber bei den anschließenden hauptstädtischen Examina und bekleidete in Chengdu das Amt eines Hochschuldekans, was ihm vorübergehend ein Leben in Ansehen und Wohlstand ermöglichte. Aufgrund eines örtlichen Aufstandes zur Flucht gezwungen, verlor Wei seinen gesamten Besitz und verbrachte die letzten Jahrzehnte in Armut. Der eigentlichen Handlung vorangestellt ist eine kurze Abhandlung über das Problem der Gefühle (qing), in der er gleichsam die Botschaft des Buches zu erkennen gibt: Gefühle, 1073 1074 1075
Ebd., Kap. 21, S. 149. Hier bearbeitet nach der Ausgabe Huayuehen, Zhengzhou: Zhongzhou guji 1993. Ebd., Kap. 14, S. 139.
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so die Forderung, sollten am rechten Ort und in aufrichtiger Weise eingebracht werden. Wer einen ausschweifenden Lebensstil pflege, drohe, seine Emotionen zu verschwenden. Das Resümmee ist gekennzeichnet von Resignation, die zu einer Klage gegen den Zeitgeist führt: Die Menschen verbergen ihr wahres Gesicht, setzen sich Masken auf und spielen lediglich Rollen. Die seelische Zerrissenheit und Not der Protagonisten spiegelt sich dabei auf eindrucksvolle Weise in dem Bild des von Aufständen und Unruhen bedrohten Reiches. Nichts ist mehr sicher und als gegeben annehmbar. Neu und für die Krise der chinesischen Gelehrten zum Ende des 19. Jahrhunderts kennzeichnend, ist die direkte Verbindung zwischen dem eigenen inneren emotionalen Zustand und der äußeren politischen Lage, das Versteck hinter Symbolen wird somit überflüssig. So äußert sich Han Hesheng an einer Stelle folgendermaßen über Wei Chizhu: »Was für ein seltsames Ding doch unsere Gefühle sind und wie willkürlich sie von uns Besitz ergreifen. Vom Zufall an einen Ort verschlagen, bringen wir dort mitunter all unsere Emotionen ein. Der Zufall hat Chizhu hierher geführt, er traf auf Qiuhen und schenkte ihr all seine Liebe. Und welch seltsamer Wandel auch bei dieser. So abweisend sie sich früher gegenüber anderen verhielt, so sehr gab sie sich Chizhu hin. Wenn man nur wüßte, was den beiden für eine Zukunft be1076 schert ist.«
Diese allgemeine Verunsicherung wird noch klarer, wenn man die Ereignisse der ersten Kapitel näher betrachtet, in denen der Verfasser ein prägnantes Bild seiner eigenen Zeitumstände entwirft. Am Taoran-Pavillon der Hauptstadt wird Wei Chizhu, der jahrelang durch das Reich gewandert ist und sich nun zu den Prüfungen nach Peking begeben hat, auf einen jungen Mann aufmerksam, dessen feine Erscheinung ihn anrührt. Gleich Wei ist Han Hesheng mit der Absicht in den Norden gekommen, sich den Examina zu unterziehen, doch müssen beide Männer ernüchtert abreisen, da alle Prüfungen aufgrund der unsicheren Lage im Lande bis auf weiteres ausgesetzt worden sind. Während Han sich nach Taiyuan in den Schutz der Truppen seines Verwandten, dem General Ming Jinglüe begibt und dort als Kriegsstratege nicht unwesentlich zum Sieg über die aufständischen Gelbturbane beiträgt, bricht Wei zunächst nach Chang'an auf. Unruhen zwingen ihn jedoch bald, den Ort zu verlassen. Allerdings ist ihm der direkte Weg zurück in das heimatliche Fujian wegen der marodierenden Truppen versperrt, so daß er gezwungen wird, in Taiyuan längere Zeit Quartier zu nehmen, wo er die Kurtisane Liu Qiuhen, seine spätere Geliebte kennenlernt, die von den Eltern in ein Bordell verkauft worden ist und unter ihrer Madame viel zu leiden hat. Mehr und mehr zieht sie Wei, der eine schlechtbezahlte Stelle als Sekretär in einer Militärbehörde erhält, durch ihre Dichtkunst in den Bann. Die 1076
Ebd., Kap. 15, S. 140.
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kritische Lage im Reich hat bald Auswirkungen auf das einander in inniger Liebe zugetane Paar. Die Spekulationen der Bordellmutter, durch den Verkauf Qiuhens an den jungen und wohlhabenden Gelehrten einen ordentlichen Gewinn zu erzielen, erfüllen sich nicht, da Chizhu aufgrund seiner unsicheren Situation und stets betonend, daß er sich nur vorübergehend in Taiyuan aufhalte, keinerlei Zusagen machen mag. Die Madame verliert das Interesse an dem Gast und macht Qiuhen Vorwürfe wegen des weiteren Umgangs mit Chizhu. Die Lage eskaliert kurzzeitig, als sie das Mädchen verprügelt und bei ihm zum ersten Mal Gedanken an Selbstmord aufkommen läßt. Dennoch gelingt es den jungen Leuten, sich immer wieder zu treffen und sich die Zeit bei Balladen und Gedichten zu vertreiben, doch schwebt über allem der Eindruck des Gezwungenen. Krampfhaft versuchen beide, eine Stimmung des Glücks und der Zufriedenheit zu produzieren, doch sie scheitern. Alles was bleibt, ist Langeweile (wuliao), einer der Schlüsselbegriffe in diesen Szenen. Nach dem Balladenvortrag Qiuhens über die »Klage wegen des Opiums« soeben noch in heiteres Gespräch über Liebe und Kunst vertieft, kippt der Dialog und endet traurig. Dazu ein Beispiel: Qiuhen lachte und tippte Chizhu mit dem Finger auf die Stirn. »Schämst du dich nicht, hast wohl vergessen, daß heute der Tag zur Verehrung des Herdgottes ist, wie?« »Wie käme jemand wie ich, der sich fern der Heimat befindet, dazu, gerade den Herdgott zu verehren?« fragte Chizhu mit einem Ausdruck von Wehmut. »Siehst du«, lachte Qiuhen, »mir fehlt noch mehr. Ich habe weder Vater noch Mutter und schon gar keinen eigenen Herd.« »Ich besitze wohl eine Mutter zu Hause«, sagte Chizhu, »doch hier komme ich mir vor wie eine Waise. Was nutzen mir heimatliches Haus und Herd, wo ich alleine in der Fremde weile? Jahre bin ich von Ort zu Ort gewandert, daheim die kranke Mutter wissend. Was nutzt es ihr, wenn ich mich hier in der Ferne aufhalte, getrennt voneinander verspüren Mutter und Sohn nur Schmerz.« Der kurze Vers, in dem er seine Worte vorgetragen hatte, verursachte in Chizhu selbst mit einem Mal einen unsäglichen Schmerz. Traurig blickte Qiuhen ihn an, ergriff seine Hand und führte sie an ihren Mund. »Verzeih, meine Worte 1077 haben dich traurig gemacht, das wollte ich nicht.«
Jede Feier, die gewöhnlich im Kreise der Angehörigen begangen wird, ist für die heimat- und elternlosen Liebenden Anlaß zu Trauer und Schmerz. Die Böller auf den Straßen während des Neujahrsfestes lassen beide in Tränen ausbrechen. Der zeitbedingten Trennung von daheim bei Chizhu entspricht die elterliche Verstoßung bei Qiuhen. Hier der politisch und geschichtlich entwurzelte Beamtenanwärter, dort die sozial entwurzelte Prostituierte. Beide Gestalten sind Opfer der Verhältnisse, in denen sie leben, da reicht auch die gemeinsame Liebe nicht mehr, um die 1077
Ebd., Kap. 31, S. 346f.
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Beziehung zu einem glücklichen Ende zu bringen. Das Umfeld stimmt nicht mehr, läßt ein Happy-End nicht zu. Auch die Freiheit, die Qiuhen nach dem Tode der Bordellbesitzer, welche bei einem Brand ums Leben kommen, erlangt, kommt zu spät. Das Mädchen will zu Wei Chizhu ziehen, muß jedoch feststellen, daß dieser in der Zwischenzeit bereits einer längeren Krankheit erlegen ist. Erschüttert wählt sie den Freitod und erhängt sich an einem Baum. Eine wieder andere Herangehensweise an das Thema des Bordellmilieus wählte Yu Da (gest. 1884), der Verfasser des vierundsechzig Kapitel umfassenden Romans Traum von Grünen Pavillons (Qingloumeng), der ebenfalls unter dem Titel Spiegel der duftenden Wangen und der Frühlingsnächte (Xiangsai chunxiao jing) bekannt ist und im Jahre 1878 erschien.1078 Die erste der genannten Titelbezeichnungen des Buches legt eine bewußt gewählte Anspielung auf Cao Xueqins Rote Kammer nahe, und tatsächlich weist der Roman Yu Das eine Anzahl von Bezügen zu dem nahezu ein Jahrhundert zuvor erschienenen Vorgänger auf. Zu nennen wären hier neben dem Thema Liebe vor allem der mythische Rahmen sowie einzelne Protagonisten, auf die namentlich abgehoben wird. Dennoch ist der Traum von Grünen Pavillons keinesfalls etwa als Folgewerk von Caos Epos zu betrachten, bei dem Begriff qinglou handelt es sich nicht etwa um eine Analogbildung zu honglou, sondern vielmehr um ein spätestens seit der Yuan-Dynastie bekanntes Synonym für »Bordell«. Nur entfernt jedenfalls lassen die Mädchenfiguren bzw. Motive wie Trauer über die Vergänglichkeit o.ä. den Einfluß des Traums spüren. Von dem Romanverfasser Yu Da ist kaum mehr als sein Herkunftsort Suzhou und das Todesjahr bekannt. Ein wenig besser ist es mit der Kenntnis um seine weiteren Schriften bestellt, doch ergibt sich auch hier wie schon im Falle des Erzählwerkes kaum das Bild eines klassischen Gelehrten, denn die siebenundsiebzig Anekdoten umfassende Neue Ausgabe erotischer Seltsamkeiten (Yanyi xinbian) aus seiner Feder weicht thematisch kaum von dem Roman ab und die detaillierten Beschreibungen des Bordellbetriebs zeugen von den Erfahrungen, die Yu im Laufe seines Lebens innerhalb des Rotlichtmilieus gesammelt zu haben scheint.1079 Der für den Traum von Grünen Pavillons gewählte mythische Rahmen erlaubt es Yu Da, die Romanhandlung in den Kontext des »Sündenfalls« zu stellen, ein beliebtes Konstruktionsmittel, das uns in ähnlicher Form bereits aus einer Reihe anderer Werke bekannt ist. Die irdischen Erlebnisse der Gestalten sind eine Strafe für Verfehlungen insbesondere gegenüber dem sittlichen Reinheitsgebot innerhalb der himmlischen Gefilde. Mittels des Erdenaufenthaltes sollen die fleischgeworde1078
1079
Hier bearbeitet nach der Ausgabe Xiangsai chunxiao jing, Guangzhou: Huacheng-Verlag 1993. Vgl. zu den Anekdoten die Anmerkungen bei Cai Guoliang: Romane und Erzählungen der Ming- und Qing-Dynastie (Ming Qing xiaoshuo tanyou), Hangzhou: Zhejiang wenyi 1985, S. 131–134.
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nen Sünder ihre Taten bereuen, um am Ende wieder in die göttliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Die Einflüsse, die Yu Da von zentralen Werken der mythischen Erzählkunst empfangen hat, sind unverkennbar. Die Figuren der Blumengeister etwa, derer sich der Verfasser bedient, hat er deutlich Li Ruzhens Blumen im Spiegel entnommen. Eintritt in die Welt und der Wiederaustritt aus ihr stecken klar den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen die Ereignisse der Lösung zuzuführen sind. Vergänglichkeit der Liebe in den Freudenhäusern und kurzzeitige Verbindungen mit den Kurtisanen, ein Motiv, das dem Genre per definitionem innewohnt und noch in Traum von Wind und Mond sowie Narben auf realistischere Weise an unüberwindbaren sozialen Schranken der Milieus von Freiern und Prostituierten bzw. zeitbedingten Erscheinungen wie der allgemeinen Unsicherheit festgemacht wurde, erscheinen hier nun mythisch-phantastisch überhöht. Ähnlich bleiben sich alle drei Werke dieses Abschnitts trotz der unterschiedlichen Herangehensweise an das Thema allerdings in dem resignativen Ton. Bei der Hauptfigur Jin Yixiong im Traum von Grünen Pavillons handelt es sich ursprünglich um ein himmlisches Wesen namens Goldknabe (Jintong) aus dem Gefolge des Mondherrn (Yuelao). Aus Zorn darüber, daß Goldknabe und das gleichermaßen in überirdischen Regionen lebende Jademädchen (Yunü) sich weltlichen Genüssen hinzugeben wünschen, verurteilt der Jadekaiser die beiden zu einer Existenz unter den Menschen. Gemeinsam mit ihnen ziehen sechsunddreißig weitere junge Mädchen auf die Erde hinab, allesamt Göttinnen, die verschiedenen Blumen zugeordnet sind und sich mit der Sehnsucht nach einem Aufenthalt unter den Erdenbewohnern eines Verstoßes gegen das himmlische Reglement der Entsagung schuldig gemacht haben. Eine frühe Charakterisierung des Goldjungen kurz nach seiner Wiedergeburt im Hause Jin, die auf das weitere Schicksal verweist, bietet ein ambivalentes Bild: Da heißt es, daß er sich ebenso dem ausschweifenden Leben unter den Singmädchen hingeben werde, wie er auf der anderen Seite schöne Frauen beschützen, Freundschaft hochhalten und es im Beruf zu etwas bringen werde, nur um am Ende schließlich doch Reichtum und Ehrungen zu entsagen. Wir lernen Goldjunge alias Jin Yixiong im Roman im Alter von sechzehn Jahren kennen, als er sich an die Ausführung seines himmlischen Auftrages macht und die Gesellschaft von Kurtisanen sucht, mit denen er sich vereinigen muß, bevor er am Ende die Sinnlosigkeit dieses Tuns begreift. In einem Traum erscheint Yixiong eines Tages Lin Daiyu, die ihm von seiner Ähnlichkeit mit Jia Baoyu berichtet. Dieser hatte dem weiblichen Geschlecht genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt. Szenen mit immer neuen Singmädchen in seiner Umgebung, untermalt von Feiern und Gesängen, wechseln einander ab. Bei einem dieser Feste, an dem u.a. vierzehn Schönheiten teilnehmen, veranstaltet man ein Spiel, das den Teilnehmern vorschreibt, in die Rollen der Personen aus dem Traum der Roten Kammer zu schlüpfen (Kap. 7). Hier ein Eindruck von der verhaltenen Erotik,
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durch das sich Werke wie Traum von Grünen Pavillons auszeichnen: Yixiong begegnet dem Freudenmädchen Niu Aiqing, das, wie im Traum verkündet, einmal seine Hauptfrau werden wird. In dem Etablissement verkehrt er jedoch auch weiterhin mit einem anderen Singmädchen namens Yuesu, um deren Gesundheit er sich besorgt zeigt, als er sie eines Nachts nur leicht bekleidet im Bett vorfindet und wachrüttelt. Erschrocken fuhr Yuesu aus dem Schlaf. Als die Yixiong erblickte, gähnte sie, drehte sich um, um weiterzuschlafen und brummte: »Stör’ mich bitte jetzt nicht, ich habe die ganze Nacht wegen des Lärms der Mäuse im Gebälk kein Auge zugetan. Bin ganz zerschlagen, laß mich in Ruhe!« »Sicher kannst du ruhen«, sagte Yixiong, »aber du solltest aufpassen, daß du dich nicht verkühlst, wenn du einschläfst. Komm, ich lege mich ein wenig zu dir, dann vergißt du die Müdigkeit.« Yuesu blinzelte ihn mit schläfrigen Augen an: »Mit mir ist heute wirklich nichts los, ich will meine Ruhe haben. Geh so lange zu einem der anderen Mädchen und komm später wieder.« »Heißt das, du wirfst mich hinaus?« fragte Yixiong säuerlich. Yuesu mußte unwillkürlich lachen, als sie das hörte: »Na gut, wenn du unbedingt hierbleiben möchtest, dann setz dich dort drüben hin und verhalte dich still.« Als Yixiong dies hörte, senkte er sich zu ihr hinab, stieß sie sanft an und rief leise: »Los, du Faulpelz, aufgewacht...« Yixiongs Atem verströmte den Geruch von Schnaps. Er schien angeheitert zu sein. »Wo hast du dich wieder herumgetrieben?« fragte Yuesu. »Ich war bei Schwester Wan. Stell dir vor, sie hat mich doch glatt vor die Tür gesetzt, solch eine Frechheit! Jetzt komme ich zu dir, doch du machst dir offenbar auch nichts aus mir.« »Wirklich, ich kann jetzt nicht, bin viel zu müde«, sagte Yuesu. »Am besten, du gehst zurück zu Schwester Wan, machst dich frisch und ißt ein Süppchen, dann bist du bald wieder nüchtern.« Yixiong erwiderte nichts, sondern ließ sich, angezogen wie er war, neben Yuesu aufs Bett fallen. »Nur wegen dir habe ich mir bei Schwester Wan eine Abfuhr geholt, und jetzt zeigst du mir die kalte Schulter. Wenn das so weitergeht, lasse ich euch alle sitzen und werde Mönch.« Yuesu glaubte, in Yixiongs Worten ein wenig Wut und Enttäuschung herauszuhören. Sie richtete sich auf und setzte sich rittlings auf Yixiongs Körper. »Ich mache doch nur Spaß«, lachte sie, »nimm bloß nicht alles so ernst, hörst du? Untersteh’ dich und werde Mönch!« Damit begann sie, ihn zu kitzeln. »Bitte nicht kitzeln«, bettelte Yixiong, »ich halte das nicht aus. Ich verspreche ja, daß ich kein Mönch werde.« »Du ergibst dich also?« »Wenn du mich weiter so quälst, bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als doch ins Kloster zu gehen.«
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität »Fängst du schon wieder damit an, hast wohl noch immer nicht genug?« 1080 »Doch, bitte bitte, verschone mich.«
Die Szene ist gleichsam der Höhepunkt des Ausgeliefertseins und der Verbundenheit mit der Welt. Erst der Schmerz, von all den Geliebten getrennt worden zu sein, wird Yixiong am Ende tatsächlich ein Mönchsdasein anstreben lassen. All das heitere und sorglose Treiben verhindert indes nicht, daß Yixiong Gelegenheit erhält, seine ritterlichen Eigenschaften unter Beweis zu stellen, als er zum Beispiel eine Frau vor einem Überfall rettet. Auch gegenüber dem jungen Mädchen Xiao Su, das bei einer Kurtisane Dienst tut, verhält sich Yixiong erstaunlich zuvorkommend und respektiert ihren Wunsch, sich mit ihm erst in der Zukunft zu verbinden. Nach der Ehe mit Niu Aiqing und einigen Nebenfrauen ist auch für Yixiong schließlich die Zeit der Ausschweifungen im Kreise der Freudenmädchen vorüber. Zahlreiche der Kurtisanen haben selber geheiratet und sind fortgezogen. In seinem Schmerz wünscht sich Yixiong, die Mädchen nie gekannt zu haben. Dem privaten Erfolg folgt der berufliche, auf einem niederen Landratposten in Hangzhou bewährt er sich und steigt bald zum Präfekten auf. Doch auch dies bleibt nur eine Episode auf dem Weg zurück in die himmlischen Gefilde, denn eines Tages erscheint ein Dienerpaar aus dem Gefolge des »Herrn vom Südpol« und verkündet, die Zeit der irdischen Existenz des Goldknaben und seiner Begleiterinnen sei abgelaufen. Tod und Trennung von den einstigen Gespielinnen verstärken zudem Yixiongs eigenen Wunsch nach Entsagung. Alles Schöne ist vergangen, erscheint ihm wie ein Traum. Er bereut, sich derart stark mit seinen Gefühlen an die Frauen gebunden zu haben. Ich bin von früher Jugend an stets sehr gefühlsbetont gewesen, habe den schönen Frauen um mich Mitgefühl und Liebe geschenkt. Dies alles war vorherbestimmt. Obwohl ich mit meinem Herzen an all den Lieben hing, mußten wir uns trennen, wurden grausam auseinandergerissen. Es war alles wie ein Traum, der Traum eines närrischen Liebhabers, ach, wie sehne ich mich nach dem Gelächter und heiteren Geplauder in fröhlicher Runde zurück. Amt und Stellung sind mir nicht versagt geblieben, doch auch das scheint auf einmal weit fort, ist Traum und dahin. Was bleibt, sind Kummer und Melancholie über die vergangenen Freuden. Ich habe alles gegeben, um den Lieben meinen Schutz und meine Wärme zu gewähren, doch nun sind sie alle fort, alle Illusionen sind dahin, um mich herum ist das Leben trübe und eintönig geworden. Der Pfirsichbaum mag tausend Jahre blühen, doch das menschliche Leben dauert nur einen Augenblick, Glück und Zufriedenheit sind uns nur für wenige Momente gewährt. Ich habe mein Leben gelebt, bin den Eltern mit Respekt und Gehorsam begegnet und habe Nachkommen gezeugt. Nun gibt es nichts mehr, was ich noch erwarten könnte. Die 1080
Traum von grünen Pavillons, Kap. 13, S. 78f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE Gespielinnen von einst sind von mir gegangen, die Zeit der süßen Geheimnisse an der Seite der Geliebten ist vorbei. Der Schmerz, noch mehr von den Lieben um mich zu verlieren, wäre zu groß. Ich werde daher der Welt entsagen, durchs 1081 Land wandern und mich tief in die Berge zurückziehen.
Es ist diese Larmoyanz, die an Jia Baoyus Verfassung im Traum der Roten Kammer erinnert. Derart geläutert, bleibt Yixiong auch die Hilfe von außen nicht versagt. Ein Mönch erscheint und lobt seinen Entschluß, den irdischen Freuden und Leiden zu entsagen und die »Schranken der Gefühle« zu überwinden (po qingguan). Der Geistliche klärt ihn auf über die diversen Schattierungen der Gefühle, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, eine Anspielung auf Feng Menglongs Geschichte des Gefühls (Qingshi): Was Yixiongs Wesen am stärksten kennzeichnet, ist das »Gefühl der Vernarrtheit in die Schönen« (chiqing), das sich positiv von der reinen sexuellen Gier (haose) unterscheidet und in dem sich nach den Worten des Mönchs Ehrlichkeit und Anteilnahme finden. Damit zusammen hängen auch eine Reihe weiterer emotionaler Zustände wie das »ehrliche Gefühl der Zuneigung« (zhenqing), die »Sorge, einst von den Gespielinnen getrennt zu werden« (liqing) bzw. der »Trübsinn, die Schönen nicht an seiner Seite gehalten zu haben« (chouqing) und nicht zuletzt auch »Erschütterungen ob der erlebten Vorgänge« (beiqing). Heimlich und ohne ein Wort des Abschieds bricht Yixiong auf, um Einsiedler zu werden. Als die Zeit der Erlösung gekommen ist, kehrt er an der Seite der Blumengöttinnen in den Himmel zurück.
12.3 Shanghai – Sittenbild vom Bordellmilieu im »Paris des Ostens« Ein wesentliches Charakteristikum der Szenen aus den Romanen des vorstehenden Abschnitts ist die örtliche Ungebundenheit der beschriebenen Phänomene. Anknüpfungspunkt war weniger das konkrete Schicksal als vielmehr die Problematik der Liebe. Einige wichtige Merkmale der Prostitution werden hier faßbar, das Geschehen als zeitbedingte Erscheinung deutlich, doch entbehren die frühen Werke des Genres noch weitgehend die Verdichtung zum echten Milieu. Dies ändert sich nun zum Ende des 19. Jahrhunderts, als sich vor allem Shanghai mehr und mehr zum Zentrum der sozialen und politischen Bewegungen in China herausbildete und damit auch mehrere recht namhafte Schriftsteller veranlaßte, sich in ihren Büchern mit den Geschehnissen in den Rotlichtvierteln der Stadt auseinanderzusetzen. Ähnlichkeiten mit den Frühwerken bestehen nur noch in dem Topos selbst, fort von Schmerz und Trauer über unerfüllte Liebe, Trennung und Tod wenden sich die Verfasser nunmehr verstärkt der sozialen Situation ihrer Protagonisten zu, wodurch sich wenigstens teilweise ein realistisches Gesellschaftsbild innerhalb der Yangtse-Metropole zum Ende der Qing-Dynastie ergibt. 1081
Ebd., Kap. 58, S. 344.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
Wohl kaum eine andere Stadt in China hat im 19. Jahrhundert einen solch rasanten Aufschwung erlebt wie Shanghai, begünstigt vor allem durch die Lage in der Mündungsregion des Yangtse, die über eine Vielzahl von Flüssen und Kanälen den Zugang zum Landesinneren erleichterte. Mit den Kaufleuten änderte sich auch der Charakter des einstigen Fischerdorfes. Zog die geschäftige Hafenstadt zunächst buntes Volk aus allen Teilen des Reiches an, so fanden spätestens nach den Opiumkriegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Ausländer den Weg hierher. Äußerlich wohl getrennt in die Konzessionsgebiete, die die westlichen Großmächte der chinesischen Regierung abgerungen hatten, und der Chinesenstadt, wurde vor allem das Geschäft der Berührungspunkt zwischen Fremden und Einheimischen. Alles wurde käuflich; vor allem das Geld und die Hoffnung auf schnellen Reichtum bestimmten die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen. Insbesondere die internationalen Settlements der Briten, Amerikaner und Franzosen gerieten zu einer Spielwiese für die Prostituierten. Ihre Zahl wuchs schnell, vor allem aus Nanking, das 1853 von den Taiping-Rebellen zur Hauptstadt erklärt und infolge des strikten Regimes mit einem Verbot der käuflichen Liebe belegt worden war, strömten die Freudenmädchen in die Stadt. Zu ihnen gesellten sich alsbald Damen der Halbwelt aus großen Zentren wie Suzhou und Hangzhou, nachdem diese ebenfalls unter die Herrschaft der Taiping geraten waren. Frauen und Opium bildeten die wesentlichen Güter der schnell blühenden Vergnügungsindustrie Shanghais. Geheimgesellschaften und eigene Verbrechergilden sorgten dafür, daß der Nachschub an beidem nicht abriß.1082 Wir wollen es bei diesem kursorischen Überblick belassen und uns vielmehr wieder der Romanliteratur zuwenden, die diese Erscheinungen innerhalb des Rotlichtmilieus auf unterschiedliche Weise thematisierte. Das erste Werk, das uns hier interessiert, ist die zwischen 1892 und 1894 als Serie in insgesamt vierundsechzig Kapiteln erschienene und von Han Ziyun (1856–1894) verfaßte Erzählung über die Singmädchen von Shanghai (Haishang hualiezhuan).1083 Über Han, der in der Literatur oftmals auch unter einem weiteren Rufnamen Bangqing bekannt ist, liegt außer Informationen über seine Herkunftsprovinz Jiangsu nur wenig biographisches Material vor. Wie den spärlichen Angaben zu seiner Person zu entnehmen ist, lebte er während der Jugend gemeinsam mit dem Vater, einem Regierungsbeamten, in Peking, begab sich aber später in den Süden des Reiches, um dort an den Prüfungen teilzunehmen. Der geringe Erfolg, der ihm dabei beschieden war, 1082
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Zu der Situation im Opiumhandel vgl. ausführlich Scherer: Das System der chinesischen Prostitution dargestellt am Beispiel Shanghais in der Zeit von 1840 bis 1949, S. 110. Hier bearbeitet nach Haishang hualiezhuan, Zhengzhou: Zhongzhou guji 1993. Der Roman wurde von der Schriftstellerin Zhang Ailing aus der Wu-Mundart in die dem Hochchinesischen angeglichene Variante übersetzt. Eine von Zhang angefertigte vollständige Übersetzung ins Englische ist abgesehen von einem kurzen Fragment daraus nie publiziert worden.
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veranlaßte Han Ziyun schließlich, alle Hoffnungen auf eine Karriere als Beamter zu begraben und eine schriftstellerische Tätigkeit in Shanghai aufzunehmen. Selber mit einer Kurtisane liiert und in ihrem Quartier lebend, erwarb er Kenntnisse über das Bordellmilieu quasi aus erster Hand. Neben der Erzählung über die Singmädchen von Shanghai liegen aus seiner Feder eine Reihe von Geschichten, abgefaßt im Idiom des klassischen Chinesisch vor, die sich an Pu Songlings Sammlung Liaozhai zhiyi orientierten.1084 Zur Gestaltung eines Panoramablicks über die Shanghaier Prostituiertenwelt, bedient sich Han Ziyun der ansonsten in der frühen chinesischen Erzählkunst wenig gebräuchlichen Technik einer nur schwach miteinander verknüpften Episodenstruktur, wie sie etwa in Wu Jingzis Gelehrten, auf die der Verfasser im Romanvorwort auch Bezug nimmt, verdeutlicht wird. Mittels »indirekter Erzählung« (chuancha) und »unterbrochener Enthüllung« (cangshan) kommt es so zu einer gewissen Uneinheitlichkeit des Ganzen, der ansonsten beeindruckende Panoramablick geht auf Kosten eines Zusammenklangs der Handlung. Nichts wird sogleich wie in der ansonsten üblichen auktorialen Erzählweise offenbart, erst nach und nach erlangt der Leser Auskunft über die einzelnen Zusammenhänge. Han Ziyun verstärkt dies noch, indem er die Gestalt des fiktiven Erzählers extrem zurücknimmt und sich vielmehr des Dialogs bedient, um die Aktualität des Geschehens zu unterstreichen. Die in der örtlichen Mundart des Wu-Dialekts verfaßten Gespräche betonen zudem die Bemühung Han Ziyuns, ein hohes Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit hervorzurufen, was die Lektüre des Werks für einen dieses Idioms nicht mächtigen Leser erheblich erschwert und auch das geringe zeitgenössische Echo innerhalb der Literatur erklärt.1085 Diese narrative Distanz zu den Schicksalen im Roman wird untermauert durch einen mythisch gefaßten Vorspann, in dem der Erzähler unter dem Pseudonym »Blumen lieben mich auch« (Hua ye lian nong) davon berichtet, im Traum auf einem Meer von »Blumen« zu wandern, ein chinesischer Euphemismus für die Prostituierten. Der Anblick sinkender, welker Blüten erschrickt ihn derart, daß er aus großer Höhe zu stürzen beginnt und sich bald auf der Lu-Brücke wiederfindet, d.h. der Grenze zwischen dem alten Chinesenviertel und den ausländischen Konzessionsgebieten. Ein Träumer im Traumland, nimmt 1084
1085
Vgl. dazu die Anmerkungen bei Stephen Cheng: »Sing-song Girls of Shanghai and its Narrative Methods«, in: Liu Ts'un-yan (Hg.): Chinese Middlebrow Fiction, from the Ch'ing and Early Republican Eras, Hongkong: The Chinese UP 1984, S. 111f. Es handelt sich bei diesem Aufsatz um einen Teil von Chengs im Jahre 1979 an der Harvard University vorgelegten Dissertation, die den Titel »Flowers of Shanghai« and the Late-Ch'ing Courtesan Novel trägt. Die Sprache des Romans ist ausführlich gewürdigt worden bei Casacchia Giorgio: »The lexic of the Su-chou Dialect in the 19th Century Novel Sing-song Girls of Shanghai«, in: Cahiers de linguistique: Asie Orientale, hrsg. von dem Pariser Centre de Recherches Linguistiques sur l'Asie Orientale, 1984, June 13(1), S. 101–109 und 1984, Dez. 13(2), S. 241–263.
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der Erzähler einen jungen Mann wahr, mit dem die eigentliche Handlung dann beginnt. Die dialogische Gewichtung hat bei der geringen psychologischen Ausarbeitung der darin behandelten Themen zur Folge, daß der Leser kaum etwas über die Gedanken der Protagonisten geschweige denn ihr gesellschaftliches Umfeld, Erscheinung, Alter, Beruf etc. erfährt. Alles soll für sich selber sprechen. Erläuternde Rückblenden, in denen Zusammenhänge verdeutlicht werden könnten, fehlen. Selbst die beim Großteil der Romane üblichen Erzählformeln am Kapitelschluß kommen nicht vor. Lediglich die Kapitelüberschriften geben äußerlich Aufschluß über die bewußte Strukturierung durch einen Verfasser. Die Intention, die Han Ziyun mit Singmädchen von Shanghai gemäß seinen Angaben im Vorwort verbindet, ist – wie sollte es anders sein – eine Mahnung an seine Zeitgenossen. Mittels der Lektüre möge der Leser die Geheimnisse der Kurtisanenwelt erforschen, um der Schlechtigkeit der käuflichen Frauen, welche oft »tödlicher als das Gift von Schlangen und Skorpionen« seien, gewappnet gegenübertreten zu können. Damit wird ein Unterschied zu den zuvor behandelten Werken deutlich: Nicht die gescheiterte Liebe im Dirnenmilieu, mithin eigene Betroffenheit ebenso wie die implizierte Verwerflichkeit veranlassen den Autor zur Mahnung, sondern die Verfassung des Rotlichtbezirks. Der Liebhaber wird so zum Opfer stilisiert.1086 Die eigentliche Handlung des Romans ist denkbar einfach. Männliche Hauptfigur ist ein junger Mann von siebzehn Jahren namens Zhao Puzhai, der in Shanghai seinen Onkel Hong Shanqing besucht. Ständiger Gast in den Bordellen, gerät er bald in Konflikt mit dem Verwandten, der ihn in seine Heimat zurückschickt. Doch angelockt von den Versuchungen der Stadt, kehrt Zhao nach kurzer Zeit vor Ort zurück, scheitert jedoch bei seinen Versuchen, auf eigene Faust eine Existenz aufzubauen und endet als Rikschafahrer. So weit das, was in knapper Zusammenfassung wie das traurige Schicksal eines Protagonisten aussieht und dem Werk eine gewisse romanhafte Einheitlichkeit verleiht. Insgesamt bleiben die einzelnen Episoden aus Zhaos Leben schwach und wenig ausgeprägt und geben für sich genommen nicht viel her. Realistischer ist das Bild von den Prostituierten, faßbar schon am Schicksal von Zhaos eigener Schwester, die vom sozialen Abstieg des Bruders mitgerissen wird. Als Onkel Hong den Neffen eines Tages bei der Verrichtung seines mühsamen Tagewerks als Rikschakuli auf der Straße erkennt, schreibt er der Mutter, die daraufhin aus Sorge gemeinsam mit Puzhais kluger Schwester Erbao nach Shanghai reist. Nachdem man einander endlich gefunden 1086
Lu Xuns Angaben in seiner Kurzen Geschichte der chinesischen Erzählkunst, S. 367 zufolge, verband Han Ziyun mit seinem Werk ein ganz konkretes Anliegen. Danach soll Han versucht haben, den tatsächlich existierenden Zhao Puzhai mit den Darstellungen über das Leben unter den Prostituierten zu kompromittieren, um von ihm eine größere Summe Geldes zu erpressen. Lu Xuns Hinweisen zufolge hat Han den Roman nach Zahlung des Geldes mit Kapitel 28 abgebrochen und wurde erst in der Folge von lukrativen Angeboten für eine Veröffentlichung des positiv beurteilten Werks zu einer Fortsetzung veranlaßt.
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hat, beschließen die Zhaos gegen den Rat des Onkels, in Shanghai zu bleiben. Wie erwartet ist das Geld schnell aufgebraucht, selbst für eine Rückkehr in die Heimat reichen die Mittel nicht mehr. Erbao wird daraufhin eine gefeierte Prostituierte, an der der reiche Herr Shi Gefallen findet und sie zu heiraten verspricht. Für die Ausstattung der Hochzeit leiht sich Erbao viel Geld, um Juwelen und Kleider zu kaufen. Der Bräutigam bleibt jedoch aus, hat sich vielmehr entschlossen, eine Kurtisane aus Yangzhou zu ehelichen. Um ihre Schulden zurückzahlen zu können, ist Erbao gezwungen, auch weiterhin als Prostituierte zu arbeiten, alle Illusionen auf ein besseres Leben sind dahin. Die episodische Struktur des Romans läßt eine nähere inhaltliche Betrachtung der einzelnen Szenen nicht zu. Im Mittelpunkt von Hans Schilderungen stehen ca. zwanzig Kurtisanen, über deren Schicksale und Wesen mehr oder weniger ausführlich Auskunft gegeben wird. Abgesehen von dem Bericht in Kapitel 29 über einen Ausflug aufs Land beschränkt sich der szenische Hintergrund auf das Rotlichtmilieu in Shanghai. Wir wollen hier mit der Übersetzung einer kleinen Episode über die Prügel, die das Freudenmädchen Zhu Jinhua ertragen muß, einen Eindruck von Stil und Erzählweise des Verfassers geben. Jinhua zog die Hosenbeine hoch und hielt ihr Bein der Cuifeng hin. Die Unterund Oberschenkel waren übersät mit blauen Flecken und Striemen von Peitschenschlägen. An einer Stelle des Oberschenkels erblickte Cuifeng rotnarbige Punkte auf der Haut, die wie ein Sternenhaufen am Nachthimmel aussahen. Offenbar hatte man Jinhua glühende Stäbchen auf die Haut gesetzt. »Ich habe dir immer gesagt, du sollst fleißiger sein bei der Arbeit«, sagte Cuifeng, erschüttert vom Zustand der Freundin, »das kommt nur, weil du nicht auf mich hörst.« »Das stimmt nicht«, verteidigte sich Jinhua, »die Alte schlägt mich, ganz gleich, ob ich anschaffe oder nicht. Weißt du, was sie mir kürzlich gesagt hat? Selbst wenn ein Kunde schon drei- oder viermal bei mir gewesen sei, verdiente ich Prügel!« »Aber warum wehrst du dich dann nicht? Sag ihr, daß du nicht geschlagen werden möchtest«, schlug Cuifeng erregt vor. »Hab’ ich doch«, ereiferte sich Jinhua, »ich habe mich genau so verhalten, wie du es mir beim letzten Mal empfohlen hast. Ich habe ihr gesagt, daß, wenn ich arbeite und Geld verdiene, ich nicht auch noch geschlagen werden möchte. Prügele sie mich weiterhin, so weigerte ich mich, weiterhin Kunden zu bedienen. Doch kaum hatte die Alte das gehört, schloß sie die Tür zu meiner Kammer ab, holte die Alte Guo, und die beiden begannen auf mich einzuprügeln, während ich auf dem Bett kauerte. Sie schlugen furchtbar lange auf mich ein, draußen war es darüber schon wieder hell geworden. Zum Schluß wollten sie von mir nur noch wissen, ob ich jetzt wieder zu arbeiten gedenke.« »Wenn sie dich schlagen, dann mußt du stur darauf bestehen, keinen einzigen Kunden mehr zu empfangen. Sollten sie dennoch weiterprügeln, dann mach dir nichts daraus, das bißchen Schmerz verkraftest du schon.«
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität »Du hast gut reden«, erwiderte Jinhua daraufhin und runzelte die Stirn, »ich bin damals halb verrückt geworden vor Schmerzen, hatte am Ende gar nicht mehr die Kraft, ihnen noch irgend etwas zu verweigern.« »Wenn du derartige Angst vor dem bißchen Pein hast«, bemerkte Cuifeng kühl, »dann hättest du eins von den Dämchen in den Beamtenfamilien werden sollen anstatt Prostituierte.« Jin Feng und Zhu Feng, die beiden anderen Mädchen im Raum, lachten bei diesen Worten. Jinhuas Gesicht lief rot an. »Ist noch von dem Opium da?« wollte Cuifeng wissen. »Eine ganze Dose voll«, antwortete Jinhua, »das Zeug macht einen süchtig, deshalb bin ich vorsichtig damit. Ich habe gehört, wenn man Opium roh ißt, zerreißt es einem den Magen und man krepiert, das wäre was.« Cuifeng wies mit dem Finger auf Jinhua: »Du bist mir eine, was du so er1087 zählst.«
Weit geschlossener als noch in dem vorstehenden Roman ist die Handlung in einem weiteren bekannten Werk des Genres, das unter den beiden Titeln Traum von Blumen und Weiden (Hualiumeng) bzw. Traum von der blühenden Stadt Shanghai (Haishang fanhuameng) bekannt ist, zum Ende der Qing-Dynastie in seiner Ursprungsfassung sechzig Kapitel umfaßte und dann zwischen 1900 und 1908 von dem lediglich unter seinem Pseudonym »Unsterblicher, der aus dem Traum schreckt und über die Liebe rätselt« (Jingmeng chixian) erwähnten Verfasser auf insgesamt zweihundert Kapitel erweitert wurde.1088 Es handelt sich um eines der thematisch ausgefeilteren Bücher, das durch Rückgriff auf die traditionelle Erzählweise und Beschränkung auf wenige Protagonisten ein anschauliches Bild von den Verlockungen und Gefahren der Hafenstadt Shanghai bietet. Die Botschaft besteht auch hier wieder in einem Appell an die Sittlichkeit und dem Aufruf zur Läuterung des Verhaltens: Der Wein allein macht niemanden betrunken, es ist der Mensch selber, der sich durch seinen Genuß berauschen läßt. Auch das Geschlechtliche fesselt niemanden 1089 ohne eigenes Zutun, es ist der den Gelüsten Verfallene, der sich fesseln läßt.
Der Eindruck des Sündenbabels Shanghai wird verstärkt durch den Umstand, daß es sich bei den männlichen Protagonisten um bis zu ihrem Umzug in die Metropole unbescholtene Männer aus dem nahegelegenen Suzhou handelt, die den Verlockungen immer mehr zu erliegen drohen. Die ausschnitthafte Beschränkung auf die Übel des Ortes am Huangpu-Fluß betont dessen Ausnahmecharakter und 1087 1088
1089
Singmädchen von Shanghai, Kap. 37, S. 325. Der Bearbeitung liegt hier die folgende zweibändige Ausgangsfassung in sechzig Kapiteln zugrunde: Hualiumeng, Jilin: Shidai wenyi 1993. Ebd., Kap. 1, Bd. 1, S. 3.
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läßt ihn angesichts der wirren gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb des gesamten Reiches in nicht ganz realistischer Weise als Insel der Ausschweifungen in einem ansonsten von Ruhe und Unveränderlichkeit geprägten Meer der Ordnung erscheinen. Erst Neunschwänzige Schildkröte wird hier den Blick auf andere Städte der gesamten unteren Yangtse-Region erweitern. Der Eintritt in die Welt des Lasters im Falle von Blumen und Weiden dagegen wird zur Prüfung des eigenen Charakters stilisiert, wie schon die Vorwortbemerkung andeutet. Zum Romanauftakt ist die Rede von dem aus Suzhou stammenden Bakkalaureus Xie Youan, der daheim in geordneten Verhältnissen mit seiner Frau lebt. Benommen vom Wein hat er während des Laternenfestes einen Traum, der wenig Gutes verheißt und Ungemach ankündigt. In Begleitung seines Freundes Du Shaomu, wie er selber ein Mann von strengen Moralprinzipien, begibt sich Xie an einen fremden Ort, an dem ihn Du plötzlich alleine zurückläßt. In dem entstehenden Getümmel nimmt Xie den anderen auf einmal umringt von einer Traube Menschen wahr. Auf seine Rufe hin reagiert der Freund nicht, vielmehr sieht Youan, wie Shaomu ganz unvermittelt sein Schwert zückt, um sich die Menge vom Leibe zu halten. Mit dieser Szene erwacht Xie schließlich schweißgebadet. Er ist noch dabei, mit seiner Frau den Traum zu deuten, als Du Shaomu auftaucht und von dem aufregenden Leben in Shanghai berichtet, wohin er sich begeben will. Gewarnt durch das Traumgesicht, sieht Youan sich veranlaßt, ihn zu begleiten. Wie erwartet lassen sich die beiden Männer, schnell von der sinnenfrohen Stadt gefangennehmen. Vor allem der nicht wie Youan vorgewarnte Shaomu findet während der Feiern im Kreise der gemeinsamen Freunde vor Ort sogleich Gefallen an den Liedern der Singmädchen. Er läßt sich von Straßendirnen ansprechen und ist innerhalb kürzester Zeit ständiger Gast im Hause der Wu Chuyun, einer angeblich stadtberühmten Kurtisane, bei der man ihn eingeführt hat. Die Ausgaben für Schmuck und Kleider, mit denen sich Shaomu die Gunst des Mädchens erkauft, wachsen bald ins Astronomische, der besorgte Youan ermahnt ihn und drängt zur Rückkehr nach Suzhou, doch umsonst. Verabredete Termine werden immer wieder verschoben. Kein Ort für aufwendige gesellschaftliche Vergnügungen, angefangen von der Pferderennbahn bis zu »Zhangs Garten«, der nicht besucht wird. Beim Spiel gewonnenes Geld wird sogleich wieder in neuem Geschmeide für die Geliebte angelegt. Daheim beginnt man sich wegen des monatelangen Ausbleibens der Männer zu sorgen, Shaomus Frau schreibt an ihren Gatten, drängt auf seine Rückkehr, doch dieser scheint bereits zu stark in die Affäre mit Chuyun verstrickt. Als er seine Abreise andeutet, zieht die Kurtisane neue Register, gibt sich gekränkt und verlegt sich aufs Mitleiderhaschen, indem sie dem Geliebten eine Geschichte ihres traurigen Schicksals auftischt: Aus einer verschuldeten Familie in Suzhou stammend, habe sie die Heimat verlassen müssen, um sich ihren Lebensunterhalt als Freudenmädchen zu verdienen. Für nur vierhundert Tael sei sie in der Lage, sich freizukaufen. Gerührt verspricht Shaomu Hilfe, vor abbrennenden Räucherstäbchen leisten beide den Schwur ewiger Treue. Man richtet sich behag-
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lich in einem großen Anwesen ein. Shaomu leiht Geld bei einem bekannten Verleger, das von seiner Familie im heimatlichen Suzhou zurückgezahlt werden soll. Resigniert ob des Lebenswandels seines Freundes, kehrt Youan alleine zu den Seinen zurück. Den lästigen Mahner endlich los, stürzt sich Shaomu in neue Abenteuer. Von Yan Ruyu, einem Singmädchen in der Nachbarschaft, erfährt er, daß Chuyuns früherer Liebhaber Pan Shaoan wieder aufgetaucht ist und seine »Braut« in Beschlag nimmt. Der eifersüchtige Shaomu läßt Chuyun fallen und wendet sich Ruyu zu, wird aber in Zukunft häufig aufgrund der räumlichen Nähe mit Pan aneinandergeraten, weil dieser ihm auch seine neue Geliebte streitig macht. Auf der Ebene der nunmehr vollständig eingeführten Protagonisten entwickelt sich ein kompliziertes Viererverhältnis mit unterschiedlichen Paarungen. Doch Shaomus Stern scheint im Sinken begriffen, zu allem Überfluß auch noch opiumsüchtig geworden, lebt er weit über seine Verhältnisse und gerät in finanzielle Not, da die Zuwendungen von daheim nach den erschütternden Berichten seines Freundes auf einmal ausbleiben. Er beginnt, stärker zu haushalten, gibt sich kleinlich. Ruyu macht ihm deshalb eine Szene, doch über eine frisch gestopfte Opiumpfeife söhnt man sich wieder aus. Ruyu holte eine Kerze herbei und entzündete das kleine Öllämpchen. Sie ließ sich rechts des Lämpchens nieder, Shaomu nahm auf der linken Seite Platz. Durch die rußige Flamme hindurch blinzelte er Ruyu an. Sie hatte die Schminke bereits abgelegt, und man sah, daß die Haut ein wenig angegriffen war. Dennoch machte die junge Frau, so wie sie da neben ihm lag, einen adretten Eindruck, angetan mit einer hellen Bluse aus Kreppseide, dazu ein Paar enge blaue Hosen. Um die Hüften trug sie einen beigefarbenen Gürtel, die Füßchen waren zur Hälfte aus den blauen, mit Schmetterlingsmotiven bestickten Pantoffeln geglitten. Ruyu griff mit der einen Hand nach dem silbernen Pfeifenkopf, nahm mit der anderen einen metallenen Stopfer und preßte das angewärmte Opium fest. Nachdem sie ein ziseliertes silbernes Mundstück auf die Pfeife gesetzt hatte, reichte sie diese an Shaomu. Dankbar nahm er ihr das Rauchgerät aus den Händen. In wenigen Zügen hatte er die Pfeife leergeraucht und gab sie zurück an Ruyu zum Nachfüllen. Bald begann das Opium, seine Wirkung zu tun, und nach etwa fünf 1090 Minuten fühlte er ein Wohlgefühl in sich aufsteigen.
Zwar warnt Ruyu ihren Liebhaber ob der Gefahren seiner Sucht, doch da sie selber ihm nur zu willig das Pfeifchen stopft, wirkt die geäußerte Sorge nicht echt. In seinem Opium- und Liebesrausch, hier auf bemerkenswerte Weise miteinander in Beziehung gesetzt und den traditionellen qing-Begriff in eine Dimension physischpsychischer Bedrohung rückend, aus der sich der Held aus eigener Kraft nicht mehr befreien kann, droht ihm die vollständige Vernichtung. Die Hilfe kommt schließlich von außen. Angeführt von Xie Youan trifft die aufgeschreckte männli1090
Ebd., Kap 28, Bd. 1, S. 324.
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che Verwandtschaft Shaomus in Shanghai ein. Es dauert jedoch noch geraume Zeit, bis er sich aus allen sinnlichen Verstrickungen gelöst hat, zumal der mitgereiste Onkel Qian selber ein Opfer der Verführungskünste durch die Schönen der Stadt zu werden droht. Die Konflikte zwischen den Handelnden spitzen sich zu, allein Gewalt und Tod bringen am Ende die Lösung. Die zwanghafte Gier nach Genuß und fleischlicher Liebe, der Ausgangspunkt in den frühen erotischen Romanen aus der Ming-Dynastie, von denen am Beginn dieses langen Kapitels die Rede war, nimmt hier in ganz anderer Form wieder Gestalt an und kennzeichnet wie Jahrhunderte zuvor den gesellschaftlichen Niedergang. Der schwierige Weg zur Läuterung des Helden setzt ein mit einer Schlägerei zwischen Pan Shaoan und Du Shaomu, als dieser seinen Widersacher bei Ruyu vorfindet. Alle Pläne einer Heirat sind damit für Shaomu dahin, doch erringt Pan mit dem Freikauf Ruyus und dem Bezug eines gemeinsamen Quartiers nur einen kurzfristigen Sieg, erhält man doch bald Nachricht, daß er von einem anderen Liebesrivalen erschossen worden ist. Weniger tragisch endet die zwischenzeitliche Wiederaufnahme der Liaison mit Chuyun, als diese sich in die Ehe mit einem anderen Mann flüchtet. In einem kurzen Aufsatz mit dem Titel »Worte des Bedauerns über die Welt der Illusion« legt Du Shaomu am Ende sein Bedauern darüber dar, sich auf das Treiben in der Halbwelt eingelassen zu haben. Sein Bruder Shaofu ist es zufrieden, ahnt er doch, daß Shaomu nun endgültig geheilt ist, so daß man sich gemeinsam zurück nach Suzhou begibt. Den Abschluß dieses Kapitels sollen mit Neunschwänziger Schildkröte und Meer des Kummers zwei Werke bilden, die aufgrund ihrer späten Entstehungszeit und des übrigen literarischen Schaffens ihrer Verfasser schon deutliche Züge der kritischen Literatur zum Ende der Qing-Dynastie aufweisen, welche uns ausführlicher in dem noch folgenden Komplex beschäftigen wird. Wir wollen die beiden Bücher der Reihenfolge nach hier einer eingehenderen Würdigung unterziehen. Mit seinen einhundertzweiundneunzig Kapiteln entsprechend breit angelegt, stößt der zwischen 1906 und 1910 veröffentlichte Roman Neunschwänzige Schildkröte (Jiuwei gui) aus der Feder des aus Changzhou stammenden Schriftstellers Zhang Chunfan (?–1935) auf eindrucksvolle Weise auch in zeitgegebene thematische Bereiche vor, die mit dem Rotlichtmilieu scheinbar kaum verknüpft sind, bei genauerem Hinsehen jedoch durchaus Bezüge dazu aufweisen und die entworfene Szenerie um so lebendiger erscheinen lassen.1091 Das entworfene Panorama über das Leben und Treiben im Milieu der Freudenmädchen, welches dem Werk die Bezeichnung 1091
Der Roman wurde hier bearbeitet nach der vierbändigen Ausgabe, die unter der für das Werk neben Neunschwänziger Schildkröte ebenso geläufigen Titelbezeichnung Kammer von Wind und Mond (Fengyuelou), Qingdao: Qingdao-Verlag 1992 erschienen ist. Verfasser Zhang ist nebenbei bekannt unter seinem Pseudonym »Kammer am Shuliu-Berg« (Shuliushan fang).
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»Kompaß für den Umgang im Bordellbetrieb« (piaojie zhinan) eingetragen hat,1092 wird durch die starke Verwendung des Wu-Dialektes in den Dialogen nicht nur lokal bzw. sozial konkretisiert und mit Hilfe des Bewegungsbildes einiger zentraler Protagonisten räumlich erweitert, sondern hebt mittels des Einbaus von Szenen über das Milieu der Edelkurtisanen auf wichtige geschichtliche Ereignisse um die Jahrhundertwende ab. Im Mittelpunkt steht hierbei die Gestalt der Sai Jinhua, auf die wir weiter unten noch ausführlicher im Zusammenhang mit Zeng Pus Schlüsselroman Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua) zu sprechen kommen werden. Die Komplexität des Romans Neunschwänzige Schildkröte, die sich hinter diesen knappen einführenden Bemerkungen andeutet, wird ebenso deutlich in der zunächst merkwürdig anmutenden Titelbezeichnung, über die der Verfasser in einem Prolog nähere Aufschlüsse gibt: Es gibt dreibeinige Schildkröten und solche mit neun Schwänzen. Das Lexikon Erya bemerkt dazu: »Im Süden finden sich die neunschwänzigen Schildkröten, deren Anblick dem Betrachter Ehre und Reichtum verspricht.« In den alten Zeiten galten das Einhorn, der Phönix, die Schildkröte und der Drache als die »Vier übernatürlichen Wesen«, was zeigt, in welchem Maße die Schildkröten Verehrung genossen. Doch heutzutage, da sich die Dinge verändert haben, ist der Begriff zu einem der schlimmsten Schimpfwörter geworden, bezeichnet »Schildkröte« den von der untreuen Ehefrau zum Hahnrei gemachten Gatten. [...] Der vorliegende Roman Neunschwänzige Schildkröte erzählt die Geschichte eines hochstehenden Beamten unserer Zeit, dem trotz seines Reichtums und seiner Macht die Herrschaft über die Frauen in seinem Hause entglitt und der 1093 deshalb zum Symbol des Niedergangs wurde.
Die Diskrepanz zwischen den Angaben in den Vorbemerkungen zu dem folgenden Inhalt offenbart sich bald während der Lektüre, sucht man doch lange Zeit vergeblich nach der angekündigten Gestalt des hochgestellten Hahnreis, die ihren Auftritt schließlich erst in zwei längeren Episoden der Kapitel 79–81 sowie der Kapitel 115–127 hat und hinter der sich ein fiktiver Gouverneur der Provinz Jiangxi namens Kang Jisheng verbirgt. Dieser scheinbare Bruch in der ursprünglichen Struktur des Romans hat verschiedentlich Anlaß zu der Vermutung gegeben, Zhang Chunfang habe während der Abfassung offensichtlich Skrupel darüber empfunden, die zwar fiktiv angelegte, doch durch die Charakterisierung als Schlüsselfigur zu entlarvende Person des Provinzgouverneurs zum Mittelpunkt seiner Darstellungen 1092
1093
Eine Bezeichnung, die keineswegs erst auf die entsprechenden Anmerkungen Hu Shis bzw. Lu Xuns zu dem Werk zurückgeht, wie z.B. Jean Duval: »The Nine-Tailed Turtle: Pornography or ›Fiction of Exposure‹?«, in: Milena Dolezelová-Velingerová (Hg.): The Chinese Novel at the Turn of the Century, Toronto u.a.: Toronto UP 1980, S. 177 feststellt, sondern sich im Roman selber findet, wie wir weiter unten sehen werden. Neunschwänzige Schildkröte, Bd. 1, Kap. 1, S. 1.
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zu machen, die entsprechenden Szenen in der Folge gekürzt und in die Ereignisse um einen weniger verfänglichen Protagonisten eingefügt.1094 Wiewohl solche Bedenken mit Blick auf Maßnahmen der staatlichen Zensur nicht ganz von der Hand zu weisen sind, lassen die Vorbemerkungen doch in gewisser Weise einen dichotomischen Werkaufbau erkennen, der sich bei der Lektüre schließlich noch bestätigt und der die Hinweise auf den Begriffswandel von der »Schildkröte« seit den Zeiten des Erya als eine Art hermeneutischen Code zum Verständnis des Romans erscheinen läßt. Konkret ausgedrückt handelt es sich hierbei um den Niedergang vom idealen Sollzustand des Altertums zum schmachvollen Istzustand der Gegenwart, festgemacht vor allem an der Figur des Protagonisten Zhang Qiugu, dem eigentlichen Handlungsgeber, dessen Gestalt auf unterschiedliche Weise auch mit jenen Szenen in Verbindung steht, die dem Leser über das Ambiente des Rotlichtmilieus hinaus Ausblicke auf die Lage im chinesischen Reich zur Jahrhundertwende eröffnen. Angefangen von seiner Heimatstadt Changshu, in die Zhang Qiugu zwischendurch immer wieder zurückkehrt, um im Kreise seiner dort ansässigen Familie zu regenerieren, folgt man ihm auf seiner Reise quer durch China mit Stationen in Suzhou, Shanghai, Tianjin, Peking und Nanking, bis er am Ende in der Stadt Kanton angelangt, wo der Verfasser ihn unter Hinweis auf eine geplante Fortsetzung über das Halbweltleben in Südchina aus der Handlung entläßt und sein Werk gleichzeitig zum Abschluß bringt.1095 Ausgangs- und Endpunkt dieser ausgedehnten Odyssee sind Zhangs Erfahrungen im Kreise der Freudenmädchen, deren Gesellschaft er allerorts in dem Streben nach Erlangung persönlichen Glücks sucht. Dieses Streben steht in deutlichem Kontrast zu seinen Ambitionen, sich auch beruflich eine erfolgreiche Laufbahn zu eröffnen. Es ist Zhang Qiugus persönliche Geschichte, die den erzählerischen Hauptstrang des Buches bildet und von der aus in diversen mehr oder weniger umfangreichen Nebenhandlungen bzw. Episoden auf Erscheinungen in der zeitgenössischen Gesellschaft abgehoben wird. Die Anlage des Protagonisten als eine Mischung aus kämpferischem Helden und belesenem Talent, die in beiden Erscheinungen deutlich in der Tradition ihrer Vorgänger aus den wuxia- und caizi jiaren-Romanen steht, erlaubt es dem Verfasser dabei, ein umfangreiches Erlebnis- und Erfahrungsspektrum abzudecken. Durch diese Verknüpfung der bis dahin in der traditionellen Literatur eher als unvereinbar miteinander erscheinenden Kunst von Krieg und Erotik entsteht eine neue Form. Im Roman begegnet Qiugu dem Leser zunächst als junger und strebsamer Mann von glänzender Erscheinung und Begabung. Getragen von dem Kummer über seine von den Eltern in früheren Jahren arrangierte Verbindung mit der blassen 1094
1095
Vgl. dazu die Bemerkungen bei Jean Duval: »The Nine-Tailed Turtle: Pornography or ›Fiction of Exposure‹?«, S. 178. Die in vielen Fällen der späten chinesischen Romanliteratur gängige Ankündigung einer Fortsetzung konnte auch hier nicht verifiziert werden.
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und insgesamt recht durchschnittlichen Gattin, einer Frau Zhang, nimmt Qiugu alsbald unter dem Vorwand dringender Geschäfte Reißaus nach Suzhou. Der emotional-triebhaft motivierte Aufbruch, verbrämt durch die Suche nach persönlichem Glück, führt den Helden in eines der besten örtlichen Etablissements mit dem Namen »Pavillon der überragenden Düfte«, wo er eine Affäre mit der berühmten Kurtisane Jin Yuelan beginnt, welche nach der Flucht aus einer Beziehung mit dem sie vollkommen vereinnahmenden Militärgouverneur Huang Borun von Hangzhou über mehrere Stationen in Suzhou angelangt ist. Yuelan ist die erste einer Reihe von ähnlich starken und auf ihre Unabhängigkeit pochenden Damen aus dem gehobenen Kurtisanenmilieu, mit denen Zhang Chunfan seinen Roman angereichert hat und die sich deutlich von den in der Hierarchie unter ihnen stehenden Freudenmädchen abheben, wie wir sie etwa in Han Ziyuns Erzählung über die Singmädchen von Shanghai finden. Verunsichert wegen der möglichen Ansprüche der verwöhnten Yuelan, reagiert Qiugu auf deren Werbungen hin zunächst sehr reserviert. Erst nach und nach wird sein Verhalten in diesem Bildungsprozeß, dem er sich freiwillig ausgesetzt hat, gekonnter und bestimmter. Zu Beginn ist er dagegen noch ein Opfer der kunstreich vorgetragenen Umgarnung. Als Yuelan gezielt ihre Nöte vorträgt, um Mitleid zu erregen, liest sich das folgendermaßen: »Sieh nur, was aus mir geworden ist, ach, was soll ich nur tun? Mir bleibt nichts mehr übrig, als einen aufrechten Mann zu suchen, der mich liebt, mir ein Auskommen ermöglicht und mich vielleicht gar zur Frau nimmt. Wie leid mir das alles tut, oh, wie bereue ich meine Fehler von früher, was soll ich nur tun?« Während sie sprach, röteten sich Yuelans Augen. [Der Erfolg bleibt für Yuelan nicht aus, wie die folgenden Zeilen beweisen, nachdem Qiugu ihre Gefühle erwidert.] Yuelan wandte sich um und warf sich an seine Brust. »Du grausamer Kerl«, schluchzte sie, »mich so lange zappeln zu lassen, wo du weißt, wie groß die Not ist, in der ich mich befinde.« Mit diesen Worten senkte sie ihren Kopf und wischte ihre Tränen fort. Ihr Anblick glich Pfirsichblüten im Regen. Die Wangen gerötet, wog Yuelan die schlanken Hüften. Der zarte Duft, den ihr Haar verströmte, stieg Qiugu in die Nase. Benommen von ihrer Erscheinung fühlte er mit einem Mal, wie ihn ein Gefühl starken Mitleids ergriff, und er dachte: »Nun, wo sie sich mir derart an den Hals wirft, sollte ich es wohl einmal mit ihr versuchen. Später werden wir sehen, was sich daraus entwickelt. Einer wie ich fällt nicht so leicht auf eine Kurtisane herein.« Mit diesen Gedanken griff er nach einem Tuch und wischte Yuelans Tränen fort, wobei er mit ruhiger Stimme auf sie einsprach. In der folgenden Nacht wurden die beiden ein Paar und liebten 1096 sich bei Sternenglanz.
1096
Neunschwänzige Schildkröte, Bd. 1, Kap. 3, S. 20ff.
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Als Qiugu nach einem kurzen Aufenthalt in Changshu schließlich in Shanghai angelangt, trifft er dort auch wieder auf Yuelan, doch meint er, daß hinter ihrer Anhänglichkeit nicht nur der Wunsch steht, ein sicheres Auskommen zu haben, sondern daß sie ihn als Mann und Liebhaber attraktiv findet. Qiugu ist sich durchaus darüber im klaren, daß die Verbindung mit einer Kurtisane sich nicht mit seinem Ethos verträgt; er ist bestrebt, die Affäre nach außen hin geheimzuhalten und weigert sich, sie als Nebenfrau offiziell in sein Haus aufzunehmen. Vielmehr bringt er sie an seinem Heimatort in einem eigens eingerichteten Liebesnest unter, das er streng bewachen läßt, um den Bewegungsspielraum Yuelans auf ein Minimum zu reduzieren. Da diese ihm vorhält, sich wie eine Gefangene zu fühlen, sieht sich Qiugu nach einer Weile gezwungen, sie zurück in die Etablissements Shanghais zu entlassen, wohin er ihr schließlich ebenfalls folgt, um, wie er behauptet, »etwas von der Welt zu sehen«. Der Ortswechsel bleibt nicht ohne Folgen für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Obgleich der nunmehr einsetzende Reifungsprozeß recht unvermittelt kommt, findet Qiugu bald auch Zugang zu politischen Kreisen der Stadt. Zum ersten Mal tritt der Protagonist in der Gestalt eines geschichtlich orientierten Helden in Erscheinung, als während einer Feier, die Qiugu ausrichtet, Begriffe wie »Revolution«, »Sklaverei« etc. fallen und der mangelnde Patriotismus in China beklagt wird.1097 Interessant hierbei ist, daß sich Zhang Chunfan in diesem Zusammenhang unter Abwandlung des überlieferten direkten Erzählmodus der Form eines belauschten Gesprächs über die Vorgänge während der Feier bedient und die Gestalt dieses Lauschers, hinter dem sich ein junger Mann namens Fang Youhui verbirgt zu einem weiteren Handlungsstrang ausbaut. Dieser Fang, selber in die unglückliche Affäre mit einem Freudenmädchen verwickelt, muß sich nach der Bekanntschaft mit dem inzwischen in Fragen des Umgangs mit Kurtisanen bereits wesentlich geläuterten Qiugu dessen Belehrungen über das Wesen des Rotlichmilieus anhören, womit wir zu eben jener zentralen Stelle vorgerückt sind, die dem Werk die oben bereits erwähnte Bezeichnung als »Kompaß für den Umgang im Bordellbetrieb« eingetragen hat. Vorausgeschickt sei an diesem Punkt noch, daß Qiugu zu der Zeit bereits mit einer Kurtisane namens Chen Wenxian liiert ist, die sich für ihn als ideale Partnerin entpuppt und später gar Aufnahme als Nebenfrau in sein Heim findet. Die Elaborate unseres Helden zum Rotlichtmilieu selbst gipfeln nun in der abgeklärten Feststellung, daß die Freudenmädchen Shanghais anders als zu früheren Zeiten, zu denen man noch aufrichtig liebende Damen der Zunft fand, nunmehr ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil aus sind und zu Oberflächlichkeit neigen. Als Idealbild der Vergangenheit gilt Qiugu die Gestalt der Du Shiniang, auf die wir weiter oben bereits hingewiesen haben, und nach der man, wie der Protagonist bekundet, in seiner Zeit vergeblich sucht. Seine Ermahnungen an den neuen Freund Fang münden in die folgenden Feststellungen: 1097
Die Passage findet sich Kap. 7.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität »Früher legten die Mädchen zuerst einmal Wert auf das Finanzielle, dann kamen das Aussehen und schließlich Talente sowie Gefühle des Gastes. Die Mädchen in Shanghai heutzutage dagegen sehen an erster Stelle auf Stellung und Auftreten ihrer Kunden, erst dann spielen für sie finanzielle Aspekte sowie Erscheinung eine Rolle. Von den Talenten, die einer mitbringen sollte, ist dagegen überhaupt keine Rede mehr. Ich hoffe, du weißt, was ich dir mit Begriffen wie Stellung und Auftreten sagen will. Damit sind vor allem ein forsches Benehmen, Großzügigkeit, beflissene Rede und ein gepflegtes Äußeres gemeint. Wenn sich ein Mädchen mit solch einem Gast einläßt, wird jeder sie beneiden, auch wenn er nicht mit Geld um sich wirft. Soviel nur zu den Gepflogenheiten, die man nach außen hin berücksichtigen muß. Was hingegen die Beziehung zu den Mädchen selber angeht, so ist dabei folgendes zu beachten: Zunächst sollte einem jeden Freier klar sein, daß die Damen es nicht mögen, wenn man sie einfach angrapscht, es heißt also schön die Hände bei sich behalten. Sodann sollte man sich den Mädchen nicht aufdrängen und stets ihren Festen und Gelagen beiwohnen wollen. Einige Gelegenheiten im Monat für Feiern werden sich schon finden. Fällt einem jedoch auf, daß die eigene Herzensdame knapp bei Kasse zu sein scheint, dann sollte man sich nicht lumpen lassen, sondern großzügig eine Festlichkeit für sie ausrichten. Wird der Umgang schließlich vertrauter und erklären sich die Mädchen bereit, einen für die Nacht dazubehalten, dann möge man darauf ruhig eingehen. Doch ist auch hierbei auf Überlegung und Maß zu achten und man möge es nach Umständen vermeiden, sogleich ständiges Quartier bei seiner Geliebten zu nehmen. Es ist vielmehr angezeigt, zunächst Distanz zu wahren und erst später, wenn es sich schließlich nicht mehr vermeiden läßt, ganz zusammen zu ziehen. Denn eines sollte von Beginn an klar sein und keinerlei Zweifel unterliegen: Alle Mädchen locken ihre Freier mit deren Lust und Gier, je mehr man ihnen nach der Pfeife tanzt, desto fordernder werden sie mit der Zeit. Dagegen kann selbst die geschickteste Kurtisane nichts gegen einen Mann mit Haltung und Würde ausrichten. Am besten fährt man, wenn man sich immer wieder klarmacht, daß die ganze Affäre nicht ernst gemeint ist, daß es sich bei allem nur um ein Spiel handelt, und daß alle Worte, die man einander in zärtlicher Umarmung zuflüstert, nur Lüge sind. Wer dagegen glaubt, es gehe um echte Gefühle, der wird schnell auf die Mädchen hereinfallen. Merke dir gut, was ich dir gesagt habe, nur wenn du dir die Ermahnungen aus diesem ›Kompaß für den Umgang im Bordellbetrieb‹ zu Herzen nimmst, wirst du in der Halbwelt be1098 stehen.«
Doch hat es vor dem Hintergrund der folgenden Episoden, mit denen der Verfasser die von ihm entworfenen Rotlichtszenen ein ums andere Mal schmückt, den Anschein, daß alleine Qiugu jenes Augenmaß bewahrt, mit dem er sowohl sich selbst als auch nahestende Freunde immer wieder aus der Not und den zahlreichen Betrügereien befreien kann. Alle Opfer, die nicht von dem mutigen und geschickten Eintreten seines Helden zu profitieren vermögen, werden von Zhang 1098
Ebd., Bd. 1, Kap. 9, S. 68f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
Chunfan an einer Stelle mit einer pauschalen Klage über die schlimmen Zustände bedacht. »Verehrter Leser, ist es nicht schlimm, mit was für raffinierten Mitteln die Mädchen in den Bordellen Shanghais ihre Kunden zu umgarnen verstehen? Nur wer einen kühlen Kopf bewahrt, vermag ihnen zu entgehen. Doch wehe dem, der sich auf ihr Treiben einläßt, er wird sich aus den Maschen, die man um ihn zieht, nicht zu befreien vermögen. Nicht nur seelisch und moralisch verfällt er ihnen ganz und gar, auch sein Ansehen, ja, selbst den Familienbesitz droht er einzubüßen. Wie viele Helden und Talente mögen wohl im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wegen ihrer Lust und der Gier nach fleischlicher Liebe alles geopfert haben, sind vor den käuflichen Geliebten zu willenlosen Kindern geworden und haben ihr gesamtes Talent vergeudet. Sagen Sie selbst, ist das nicht 1099 erschreckend?«
Unter den zahlreichen ritterlichen Eroberungen Qiugus, die er vor allem im Kreise der Kurtisanen macht und zum Schluß durch die Affäre mit Sai Jinhua krönt, welche ihrerseits, so will es die literarische Überlieferung, mit hochstehenden Persönlichkeiten ihrer Zeit im In- und Ausland in Verbindung stand,1100 sticht eine hervor, die sich im »normalen Leben« abspielt und den Protagonisten in ein wenig günstiges Licht rückt. Die Szene (Kap. 108–112) zeigt, daß der lange Umgang mit den Damen des Rotlichtmilieus Qiugus Blick für die Realitäten getrübt zu haben scheint bzw. sein Verhalten in negativer Weise geprägt hat und ihm die Maßstäbe für einwandfreies moralisches Handeln abhanden gekommen sind. Begriff und Vorstellung von der Liebe verschwimmen mit einem Mal. Verhalten und Prinzipien, die Qiugu anfangs laut eigenem Bekenntnis auf seine Bekanntschaften unter den Kurtisanen beschränkt haben möchte, finden plötzlich Anwendung auf die Äffäre mit einem Fräulein Wu, der unbescholtenen Tochter eines Shanghaier Konfiseriebesitzers, welche Qiugus Interesse bei einer Begegnung im berühmten Garten des Herrn Zhang zu wecken besteht. Hingerissen von ihrem Anblick wundert sich der Held bald selber, wie intensiv er sich mit der jungen Dame befaßt. Weibliche Schönheit und Anmut, die ihm unter den Freudenmädchen dank seines Auftretens und des familiären Wohlstands bis dahin nahezu von selber zufielen, haben sich zu einem Bild ohne Anspruch an Lauterkeit verdichtet, dessen soziale Dimensionen Qiugu nicht mehr ohne weiteres zu erkennen vermag. Verwundert stellt er über sich fest: 1099 1100
Ebd., Bd. 2, Kap. 41, S. 308. Die längere Episode über Sai Jinhua findet sich zwischen Kap. 172 und 177. Der Verfasser verweist in Kap. 172 auf Zeng Pus Blumen im Meer der Sünde, dessen er sich für die Darstellung des Stoffes bedient hat. Da wir auf Sai Jinhua im Zusammenhang mit Zeng Pus Schlüsselroman während des nächsten Kapitels noch ausführlicher zu sprechen kommen werden, wollen wir es an dieser Stelle bei diesen knappen Hinweisen lassen.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität »Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Ich habe doch schon mit vielen Frauen zu tun gehabt, darunter eine ganze Menge, die dieser hier beileibe nicht an Schönheit nachstanden. Wie kommt es nur, daß ich ständig ihr Antlitz vor mir 1101 sehe und ganz benommen bin von den sehnsüchtigen Gedanken an sie?«
Ohne auch nur die geringsten Skrupel an der Rechtmäßigkeit seines Vorgehens zu hegen, startet Qiugu einen Eroberungsversuch, der ohne die Mithilfe einer Hausangestellten (die er sich durch Verführung gefügig gemacht hat) sowie Fräulein Wus Gouvernante (die mit reichen Geschenken bestochen worden ist) wohl zum Scheitern verurteilt wäre. Die Rigorosität und Rücksichtslosigkeit, mit der Qiugu an sein Ziel gelangt, reduziert nicht nur seinen Status als Held, sondern ist darüber hinaus als ein Hinweis auf die Entwertung des traditionellen Liebesverständnisses zu begreifen, für das in dem »Sündenbabel« Shanghai die Grundlagen zu fehlen scheinen. Ungeachtet des hier kurz angeführten charakterlichen Mangels bleibt Qiugus Persönlichkeit im übrigen ohne Fehl, und er findet am Ende gemeinsam mit seiner zur anerkannten Nebenfrau aufgestiegenen Geliebten Chen Wenxian glücklich zurück in den Kreis der Familie. In der Verfolgung seiner beruflichen Ambitionen bleibt ihm der Erfolg jedoch versagt. Anders als seine idealen Vorgängergestalten in den Romanen über Talente und Schönheiten bringt es Qiugu nicht zustande, ein angesehener Beamter zu werden, womit der gesamte Zeithintergrund, vor dem das Werk spielt, seine eigentliche Bedeutung erlangt. Die ausführliche Schilderung des Ablaufs der Prüfungen, zu deren Zwecke sich Qiugu nach Nanking begeben hat, um dort seinen Magistertitel zu erlangen, deutet ein kritisches Bewußtsein in bezug auf die soziale und politische Verfassung Chinas um die Jahrhundertwende an. Von der Strenge und Würde, mit der diese Examina in der Vergangenheit durchgeführt worden sein mögen, findet sich keine Spur mehr. Alles scheint in Auflösung begriffen, der Lächerlichkeit preisgegeben, wie zum Beispiel eine Szene zeigt, bei der Qiugu und die anderen Kandidaten vom Lärm in einer benachbarten Prüfungszelle gestört werden (Kap. 182). Wie die Nachforschungen ergeben, hat sich dort ein Prüfling an seinem Kochgerät zu schaffen gemacht, um eine Ente zu braten. Nicht nur, daß Qiugu aus einem erneuten Anflug von Hilfsbereitschaft bei dem entstehenden Streit vermittelt, seine tatkräftige Unterstützung weniger belesener Mitstreiter macht das angesetzte Magisterexamen schließlich endgültig zur Farce. Mit entsprechendem Optimismus in bezug auf seine eigenen Fähigkeiten kehrt Qiugu in seine Heimat zurück, doch bleibt ihm der Erfolg versagt, wie wir in einem der späteren Kapitel erfahren, wo in einem zwei Jahre später stattfindenden Gespräch zwischen Freunden des Protagonisten Rückschau auf sein Schicksal während dieser Zeit gehalten wird. Wie dabei zum Ausdruck kommt, ist Qiugu das Opfer von Machenschaften eines bestechlichen Prüfers ge1101
Neunschwänzige Schildkröte, Bd. 3, Kap. 108, S. 759.
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worden, der an seiner Stelle zahlungskräftigeren Kandidaten den Vorzug gegeben hat. Dem sittlich-moralisch implizierten Verfall innerhalb der Gesellschaft fallen schließlich auch Qiugu und seine Verwandten zum Opfer. Es droht gar Verarmung. Ernüchtert muß der Held feststellen, daß er all die Jahre über seine Verhältnisse gelebt hat und daheim wegen seines mutigen Eintretens für das Glück und Wohl anderer auf nachlässige Weise die Zügel hat schleifen lassen. Die Betrügereien eines Geschäftsführers,der die Leitung des von der Familie gehaltenen Pfandhauses innehat, bringen den finanziellen Ruin. Qiugu kann sich nur mit der Fälschung von Belegen helfen, er gerät in Konflikt mit den amtlichen Behörden und weiß am Schluß keinen anderen Ausweg, als als Lehrer in Kanton sein Glück zu suchen. Dem hier in einer knappen Zusammenfassung beschriebenen beruflichen Mißerfolg Zhang Qiugus gehen als kurze Nebenhandlungen oder kleinere Episoden gefaßte Ereignisse voraus, die das soziale Umfeld der Romanvorgänge markieren und insgesamt ein düsteres Bild entwerfen. Die darin verwobenen Protagonisten tauchen weitgehend als Stereotypen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen auf, seien es nun gierige und betrügerische Singmädchen, geizige Freier, gerissene Ehefrauen oder machthungrige Beamte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind diese Vertreter in der Mehrzahl negativ gekennzeichnet, ihr Antrieb besteht allein in der unmittelbaren Befriedigung materieller bzw. fleischlicher Gelüste. Zhang Qiugu kommt hierbei die Rolle eines Mediums zu, dessen sich der Verfasser auf unterschiedliche Weise bedient. Eine der beliebteren Formen ist dabei die Gestalt als aktiver Gesprächsteilnehmer, wie wir ihn oben bereits vor seiner Bekanntschaft mit Herrn Fang kennengelernt haben. Daneben tritt Qiugu aber auch als Lauscher auf. Als er sich zum Beispiel auf eine Schiffsreise begibt, wird er Zeuge einer angeregten Unterhaltung zwischen zwei Männern, die über die aktuelle Lage Chinas debattieren. Themen des Gesprächs sind, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die in der zeitgenössischen Literatur umfassend dokumentierten Sorgen über die Unterwürfigkeit der Chinesen, den fehlenden Zusammenhalt im Volk und das mangelnde Ansehen als Nation aufgrund der Schwächen innerhalb der politischen Führung. Um zu dokumentieren, wie der Autor dieses Sittenbild garniert, wollen wir kurz den Blick auf eine Anekdote innerhalb des belauschten Gesprächs werfen, in deren Mittelpunkt Li Hongzhang (1823–1901) steht, der führende Außenpolitiker Chinas zum Ende der Qing-Dynastie, der u.a. 1896 von Kaiser Wilhelm II. empfangen wurde. »Als Li Hongzhang sich damals in Amerika befand, kam er in einem teuren Hotel unter. Die für ihn bereitgestellte Suite sollte hundertfünfzig US-Dollar am Tag kosten, ein Betrag, der umgerechnet in mexikanische Silberwährung weit über dreihundert Dollar betrug. Li beklagte sich über den horrenden Preis und zog in ein einfacheres Zimmer um, sein Gefolge nahm mit den billigsten Quartieren der dritten Kategorie vorlieb. In Amerika rümpfte man daraufhin die Nase über so viel Sparsamkeit: Einer der führenden Politiker Chinas zog in ein ge-
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität wöhnliches Hotelzimmer! Unvorstellbar, eine Persönlichkeit vom Range des Außenministers, die nicht weiß, was für das Ansehen seines Landes schicklich 1102 ist und den eigenen Ruf wegen des schnöden Mammons aufs Spiel setzt!«
Neben derartigen feuilletonistischen Bildern, die alleine der Information des Lesers dienen, ansonsten aber wenig mit der Handlung im Roman an sich zu tun haben, finden sich auch Beispiele, die das Eintreten Zhang Qiugus in stärkerem Maße erfordern und seinen Charakter als Streiter für Recht und Ordnung unterstreichen. Naturgemäß ist die Thematik hierbei weniger auf der höchsten Staatsebene angesiedelt, sondern mit dem unmittelbaren Aktionsumfeld des Rotlichtmilieus verbunden. Durch den kunstvollen szenischen Entwurf gelingt es jedoch auch hierbei mitunter, eine Vielzahl von Problemen miteinander zu verknüpfen, wie das folgende Beispiel zeigt, bei dem Qiugu zunächst wieder einmal nur Zeuge einer in lautstarkem Ton geführten Unterhaltung zwischen aus dem Ausland zurückgekehrten Studenten wird, die sich in Vergleichen von japanischen Geishas mit chinesischen Singmädchen ergehen. An sich schon eine Farce, da das Ambiente des Etablissements von Chen Wenxian für die Herren Studiosi doch mehr als unwürdig erscheint, spitzen sich die Dinge bald zu und rufen Qiugu auf den Plan, dessen Rolle hier vom passiven Lauscher zum aktiv Handelnden wechselt. Die drei Studenten riefen sechs von den Mädchen herbei. Einer der jungen Männer zog eines der Dinger zu sich heran und ließ es auf seinem Schoß Platz nehmen. Während er dem Mädchen mit der einen Hand über die Brust strich, zwickte und begrabschte er es mit der anderen an allen möglichen Stellen. Die junge Frau wollte aufspringen, versuchte, sich dem Griff des Burschen zu entwenden, doch umsonst. Beschämt, das Gesicht rot angelaufen, rief sie in einem fort: »Oh nein, bitte nicht.« Die übrigen Mädchen, welche fürchteten, daß mit ihnen das gleiche geschehen würde, wandten sich kichernd um oder erhoben sich und verließen den Raum. Qiugu lächelte frostig beim Anblick der Studenten und wandte sich ab. Xin Xiufu, der ihm von hinten über die Schulter gelangt hatte, hockte sich neben Qiugu auf das Geländer und seufzte: »Für gewöhnlich hält man die Studenten, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind für die Elite. Daß sich diese jungen Leute nicht schämen für ihr Auftreten! Man darf nur hoffen, daß nicht alle Studenten so sind.« [Gereizt von dem Anblick der unwürdigen Szene, äußert sich Qiugu im folgenden lautstark über das Gebaren der Studenten, um sie zu provozieren.] »Mag schon sein, daß Studenten, die einmal im Ausland gewesen sind, die geistig-moralische Elite im Lande darstellen, doch es scheint mir unter ihnen auch genügend abschreckende Beispiele zu geben. Viele glauben, sich die Zöpfe abzuschneiden und in westliche Kleidung zu schlüpfen mache schon einen guten Studenten aus. Auf solche Herrschaften können wir aber nach meinem Dafür1102
Ebd., Bd. 4, Kap. 142, S. 955.
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DIE WELT DER GEFÜHLE halten auch sehr gut verzichten. Stets schwafeln sie von blutiger Revolution, fordern Unabhängigkeit und Freiheit, treten großspurig auf und fühlen sich überhaupt jedermann überlegen. Sie tun, als würden sie sich im Interesse des Volkes den Schlächtern ausliefern, doch kommt es einmal hart auf hart, von einer blutigen Auseinandersetzung ganz zu schweigen, dann machen sie sich in die Hose vor Angst. Bestimmt sind sie schon bei jedem Stockschwenken in der 1103 Schule zusammengefahren.«
Naturgemäß reagieren die Studenten empört, als sie die Worte Qiugus vernehmen. Es kommt zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf einer der Studenten eine Pistole zieht und auf unseren Helden richtet. Mit einer geschickten Bewegung schlägt Qiugu dem Angreifer die Waffe jedoch aus der Hand und beeindruckt am Ende alle Anwesenden mit seinem Großmut und seiner Gelassenheit. Diese und eine Unmenge weiterer ähnlicher Episoden im Roman verknüpfen sich am Ende zu einem eindrucksvollen Sittenbild. Ein konzentriertes Gegenbild, da kontrastiv zu Qiugu entworfen, gibt lediglich die oben bereits angeführte Gestalt des Provinzgouverneurs Kang Jisheng ab, dessen Erscheinung und Auftreten das vollkommene Gegenteil von Qiugu bildet: Wird Qiugus Handlung weitgehend von Mitgefühl und Anteilnahme geleitet, so bilden Gier und Lust die einzigen Antriebe Jishengs. Seine zahlreichen eigenen Verfehlungen, von denen wir hier nur sein unzüchtiges Verhalten während der Trauerzeit um den verstorbenen Vater, Korruption und Amtsmißbrauch nennen wollen, färbt auch negativ auf seine familiäre Situation ab. Wo Qiugus heimische Situation weitgehend intakt bleibt, bringt Jisheng durch die Verbindung mit zwielichtigen Prostituierten viel Unglück über sein Haus. Aufgrund seiner Schlechtigkeit in vollem Maße selber verantwortlich für das eigene Scheitern, gehen ihm der Idealismus und das Mitgefühl Qiugus ganz und gar ab. Jishengs Scheitern ist daher am Ende endgültig, anders als im Falle Qiugus, der zu neuen Ufern aufbricht. In Kang Jishengs Erscheinung kulminiert daher das abschätzige Urteil, das Qiugu an einer Stelle abgibt, indem er die Welt der Beamten mit der der Freudenmädchen verknüpft: »Die Prostitution weist starke Ähnlichkeiten zum Beamtentum unserer Zeit auf: Natürliche Schönheit und Talent werden als wertlos betrachtet, was zählt, sind 1104 alleine die äußere Erscheinung und Schmeichelei.«
Die Verknüpfung zeigt, daß das in Neunschwänziger Schildkröte entworfene Milieu der Welt der Freudenmädchen im Gegensatz zu dem in früheren Werken des Genres angelegten Umfeld weniger als mimetisches Bild taugt, sondern sich bereits zum Mittel der sozialen Kritik gewandelt hat. Mit seinem Entwurf eines wenigstens 1103 1104
Ebd., Bd. 2, Kap. 70. S. 520f. Ebd., Bd. 1, Kap. 16, S. 122.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
innerhalb der Familie Qiugus noch intakten Gefüges, das den Helden Möglichkeit zum Schutz und Rückzug bietet, wirken die Figuren von Qiugu, seiner Mutter, Gattin Zhang und Nebenfrau Chen Wenxian wie Vertreter aus einer längst vergangenen Epoche. Ihr aufrichtiges Mitgefühl und die gegenseitige Anteilnahme in einer vom Verfall bedrohten Welt, sind ein Privileg, das die Helden der letzten hier zu behandelnden Romane nicht teilen dürfen. Die Prostituiertenwelt Shanghais ist in den beiden folgenden Erzählwerken aus der Mitte des ersten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert weder Ausgangs- noch Mittelpunkt der entworfenen Handlung. Vielmehr werden die Ereignisse um die im Zentrum stehenden Liebespaare dort zu einem Abschluß gebracht, nicht ohne auch hier wieder in der Rotlichtszene zu kulminieren, was das Bild der Yangtse-Metropole metaphernhaft zu einem Moloch verdichtet, der nicht nur Glücksrittern aller Art Aufenthalt gewährt, sondern bis dahin unbescholtene, vom Schicksal in seine Fänge getriebene Menschen erbarmungslos zu verschlingen droht. Steine im Meer (Qinhaishi) und Meer des Kummers (Henhai),1105 die Titel der Romane, die uns hier interessieren und die aus der Feder Fu Lins bzw. Wu Woyaos stammen, bringen in diesem Zusammenhang auch die in dem vorliegenden Kapitel angesprochene Thematik von den Gefühlen zu einem Abschluß, wobei in der Verflechtung mit den Zeitereignissen die Problematik der traditionellen Liebesauffassung auf eindrucksvolle und mitunter innovative Weise zum Ausdruck kommt.1106 Beide Werke erschienen innerhalb weniger Monate im Jahre 1906 und gehen in ihrem Titel auf einen uralten chinesischen Mythos zurück, demzufolge die Tochter des Feuergottes Yandi einst im Ostmeer ertrank und als Vogel Jingwei wiederkehrte, um gleich den vergeblichen Versuchen eines Sisyphus das feindliche Meer mit Steinen aus den Westbergen aufzufüllen. In der zeitgenössischen Literatur Chinas galt der Mythos als Bild für die tragischen Konsequenzen der Liebe und Ehe, wurde entsprechend verarbeitet und wird uns unter anderem während des nächsten Kapitels noch in Verbindung mit dem Werk der Frauenrechtlerin Qiu Jin begegnen. 1105
1106
Beide Romane sind seit kurzer Zeit gut dokumentiert durch die Übertragung des amerikanischen Sinologen Patrick Hanan, erschienen unter dem Titel The Sea of Regret. Two Turn-of-the-Century Chinese Romantic Novels, Honolulu: University of Hawai'i Press 1995. Während für Steine im Meer keine chinesische Version zur Verfügung stand, wurde bei der Bearbeitung von Meer des Kummers die Ausgabe Henhai, Zhengzhou: Zhongzhou guji 1985 herangezogen. Die zwei Werke sind mit jeweils zehn Kapiteln etwa gleich lang. Daß das Thema der Liebe Wu Woyao neben seinem sonstigen, vor allem der Zeitkritik zugewandten Schaffen auch in einigen weiteren Werken beschäftigte, belegen zwei weitere in diesem Zusammenhang wichtige Romane, die wir hier zumindest dem Titel nach nennen wollen. Es handelt sich um Eine wundersame Geschichte von der Elektrizität (Dianshu qitan, erschienen von 1903 bis 1905 in vierundzwanzig Kapiteln) sowie den 1907/1908 herausgegebenen Roman Asche nach der Katastrophe (Jieyuhui) in sechzehn Kapiteln.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
Um wen es sich bei der Verfasserperson des kurze Zeit vor Meer des Kummers erschienenen Romans Steine im Meer handelt, ist nicht mehr auszumachen. Vermutlich stellt Fu Lin das Pseudonym eines auf Anonymität bedachten Autoren dar, das nur bei der ersten Erscheinung auftaucht und auf das in späteren Wiederauflagen wie denen aus den Jahren 1909 bzw. 1913 verzichtet worden ist. Das Thema von Sexualität und Liebe ist aufgrund seiner literarischen Behandlung in den zurückliegenden Jahrhunderten in Werken wie Westzimmer oder Traum der Roten Kammer und wegen der dort zum Ausdruck gebrachten tendenziellen Verfestigung von Anliegen, die insbesondere auf eine Verbesserung der familiären Situation der Frauen zielten, aus dem Forderungskatalog reformerischer Kreise um die Jahrhundertwende nicht fortzudenken. Wir werden darauf im Rahmen des kritischen Romans noch ausführlicher zu sprechen kommen. Angeregt wurde die zeitgenössische Diskussion nicht zuletzt auch durch eine über vermehrte Übersetzertätigkeit erreichte Wahrnehmung von entsprechender Literatur außerhalb Chinas, wie die Reaktionen auf den oben bereits angeführten und 1899 zum ersten Mal in einer chinesischen Fassung präsentierten Roman Kameliendame bzw. H. Rider Haggards 1905 von Lin Shu übertragenes Werk Joan Haste zeigen, deren Einfluß auch auf die beiden hier behandelten Bücher nicht unterschätzt werden darf.1107 In einen aktuellen zeitlichen Rahmen gerückt, gehen Lin Fu und Wu Woyao mit ihren Geschichten der Kontroverse über die Rolle der Gefühle innerhalb des moralischen Verhaltens des einzelnen nach: Wird moralisches Verhalten von den Leidenschaften gesteuert oder unterliegt es einem Lernprozeß auf der Grundlage der Pflicht? Kann die Macht der Leidenschaften im positiven Sinne für moralische Zwecke eingesetzt werden? Weit stärker als Wu Woyao bleibt Lin Fu dem anklagenden Ton seiner Epoche verhaftet, wenn er hinter der unglücklichen Liebesbeziehung zwischen dem Ich-Erzähler und der ihm versprochenen A'ren das despotische Familienystem ausmacht, das eine frühe Verbindung der einander versprochenen Brautleute verhindert und der Grund dafür ist, daß sie einander in den Wirren des Boxer-Aufstands aus den Augen verlieren und sich erst wieder begegnen, als die in das Shanghaier Prostituiertenmilieu verschlagene A'ren bereits auf dem Totenbett liegt. Wir wollen es bei dieser knappen Zusammenfassung des Romans belassen. Im Vordergrund stehen die Rechte und Ansprüche der beiden Protagonisten auf Erfüllung ihrer Leidenschaft, die Liebe wird zum regierenden Prinzip, dem alles unterzuordnen ist, angefangen von den Pflichten des Kindes gegenüber den Eltern bis hin zu den Forderungen an das Individuum als Bürger der Nation. Doch wo Lin Fu die Lehre des Menzius als Ursache für den starren Pietätsbegriff im chinesischen Familiensystem ausmacht und in seinen der eigentlichen Romanhandlung vorausgehenden Ausführungen anprangert, lehnt Wu Woyao an der gleichen Stelle seines eigenen Romans einen vorbehaltlos auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern reduzierten Liebesbegriff ab, ein Umstand, der ver1107
Vgl. dazu die Ausführungen im Vorwort von Hanan: The Sea of Regret, S. 2 und S. 5.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
muten läßt, daß sich sein kurzes Werk als bewußte Antwort auf Steine im Meer verstehen läßt, wenngleich mangels ausdrücklicher Bemerkungen des Autoren ein schlüssiger Beweis in dieser Frage letztendlich nicht zu liefern ist. Alles, was wir über den Entstehungsprozeß von Meer des Kummers wissen, ist, daß Wu für die Anfertigung nur wenig mehr als zehn Tage benötigte und sein Manuskript dann ohne nochmalige Durchsicht an den Verlag sandte, ein Vorgehen, das, so zeigt die überaus positive Aufnahme unter der damaligen Leserschaft, dem Werk insgesamt nicht geschadet hat.1108 Ähnlich wie in seiner Neuen Geschichte des Steins läßt Wu Woyao nun auch in der Liebesgeschichte um Bohe und Dihua etwas von seinem Kulturkonservatismus durchblicken, als dessen Grundtendenz eine Abneigung gegen übertriebene Innovationen oder wie in diesem Falle die Ablehnung des von Lin Fu beanspruchten Konzepts der »Liebe zwischen den Geschlechtern um jeden Preis« zu erkennen ist. In dem einleitenden Traktat zum Roman, das wir wegen seiner Wichtigkeit sogleich anführen wollen, erhöht Wu den Begriff der Leidenschaft, indem er ihn zur treibenden Kraft hinter jedem menschlichen Verhalten erklärt, ganz gleich ob moralisch oder unmoralisch. Bei richtiger Anwendung, so sein Argument, das auf traditionelle Konzepte innerhalb der konfuzianischen Lehre zurückgreift, führe die Leidenschaft zu einem angemessenen moralischen Auftreten und finde ihre Ausformung in einer pietätvollen Sorge um das elterliche Wohl ebenso wie in der Liebe der Eltern gegenüber den Kindern, der Loyalität gegenüber dem Herrscher sowie wahrer Freundschaft. Gleich der Moralität, die sich seiner Auffassung zufolge sehr wohl innerhalb des konfuzianischen Kontextes zu entwickeln vermag, ist auch Liebe in der arrangierten Ehe möglich. Wie Wu Woyao das verstanden haben möchte, erläutert er folgendermaßen: Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist ein Roman über das Gefühl (qing xiaoshuo). Ich habe stets die Ansicht vertreten, daß der Mensch von Geburt an über Gefühle verfügt und damit etwas besitzt, das ihn als Mensch auszeichnet. Wie wichtig Gefühle sind, zeigt die Tatsache, daß es sich bei dem Weinen und Lachen der Babies um eben nichts anderes als den Ausdruck von Gefühlen handelt und dieses eben nichts ist, was erst in den Herzen heranwachsender Jugendlicher zur Blüte gelangt, wie man im Volksmund sagt. Dort heißt es, Gefühle beschränkten sich auf den Umgang von Mann und Frau, während ich darin etwas sehe, was den Menschen von Geburt an mitgegeben ist und im Laufe der Zeit auf die unterschiedlichste Weise zum Ausdruck kommt: Als Treue gegenüber Land und Herrscher; als Pietät gegenüber den Eltern; als Liebe gegenüber den eigenen Kindern und als Aufrichtigkeit gegenüber den Freunden. All diese Dinge nehmen ihre Entwicklung aus dem Gefühl. Das Gefühl zwischen den Geschlechtern dagegen ist nur Verblendung, es handelt sich um etwas, das den Namen Gefühl eigentlich gar nicht verdient. Wenn jemand seine Emotionen tatsächlich in diesem Bereich vergeudet, dann kann er nur verhext sein. 1108
Vgl. ebd., S. 6.
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DIE WELT DER GEFÜHLE Und noch etwas: Unsere Vorfahren haben stets behauptet, daß keusche Witwen vertrocknetem Holze und ausgedörrten Brunnen glichen, bar jeder Leidenschaft. Dieser Ansicht bin ich nun ganz und gar nicht. Die Unerschütterlichkeit der Witwe ist nur ein Zeichen dafür, wie viel Kraft sie aus ihren Gefühlen der ersten Liebe zu schöpfen vermag. Es ist zu einfach, wenn man gemeinhin nur den Umgang der Geschlechter als Liebe gelten läßt. Unzählige Werke der Literatur haben für sich beansprucht, über das Gefühl zu berichten, doch in Wirklichkeit war dort nicht Liebe sondern Sexualität das Thema – eine Schande ohnegleichen. Wenn ich aber nun meine kleine Geschichte erzähle, so sei klargestellt, daß ich über Gefühle und nicht über fleischliche Gelüste berichte. Um zu wissen, worum 1109 es geht, möge der Leser seinen Blick auf den folgenden Bericht werfen.
Mit dem Ziel der Rückbesinnung auf ein eher traditionelles Liebesverständnis, das weit über das Geschlechtliche hinausgreift und eine umfassende Dimension beansprucht, die Anklänge an das konfuzianische Konzept der Menschenliebe (ren) erkennen läßt, stellt Wu Woyao Tendenzen infrage, wie sie sich in der chinesischen Literatur seit dem Westzimmer und dem Traum der Roten Kammer abzeichneten, zwei Werke, auf die er, wie zeitgenössische Kommentatoren bemerkt haben, in seiner Vorbemerkung deutlich abzielte.1110 Doch das allein begründet nicht das Lob, das Wus Roman zu einem der beliebtesten Erzählwerke um die Jahrhundertwende machte. Vielmehr sind es die diversen kompositorischen und stilistischen Mittel, die dynamische, psychologische Darstellung innerhalb eines sehr konzis gehaltenen Handlungsrahmens, die den Ruhm von Meer des Kummers ausmachten und auf die wir unser Augenmerk nunmehr richten wollen. Hintergrund der Erzählung sind die Geschicke dreier aus den südchinesischen Orten Kanton bzw. Suzhou stammender Familien, die in Peking ein Anwesen bewohnen. Die mitgeführten Kinder, allesamt im gleichen Alter, wachsen gemeinsam auf, der enge Kontakt, den man miteinander pflegt, läßt die Eltern nach einigen Jahren Pläne für die Zukunft schmieden: Juanjuan, die Tochter des Herrn Wang und seiner Gattin Jiang, wird mit Zhong'ai, dem Sproß des Ministerialbeamten Chen und der Frau Li verlobt. Dihua dagegen, das Kind von Herrn Zhang und Frau Bai, verspricht man Zhong'ais älterem Bruder Bohe. Die jungen Leute haben das Alter von siebzehn bzw. achtzehn Jahren erreicht, als die Boxerunruhen eine jähe Veränderung in den Verhältnissen der bis dahin unbeschwerten Gemeinschaft herbeiführen. In den Mittelpunkt der folgenden Ereignisse rücken Dihua und Bohe, die gemeinsam mit Dihuas Mutter und dem Diener Li Fu die Stadt verlassen. Die engen Verhältnisse der Reise bauen zwischen dem bis dahin auf keusche Trennung bedachten Brautpaar eine eigentümliche Spannung auf. Gerührt von der Fürsorge und Rücksicht ihres künftigen Gatten, keimt in Dihua ein Gefühl der Liebe auf, das sie die Schranken der vom strengen Sittlichkeitsanspruch gefor1109 1110
Meer des Kummers, Kap. 1, S. 1f. Vgl. Hanan: The Sea of Regret, S. 4f.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
derten Kontaktvermeidung mit Bohe überwinden läßt, nicht ohne sie allerdings in schamhaftes Weinen ausbrechen zu lassen, als die Mutter eines nachts entdeckt, wie sie Bohe heimlich eine Decke überzieht, damit dieser auf dem Lager nicht friert. Noch bevor jedoch daraus eine echte Romanze wird, reißen die dramatischen Ereignisse die kleine Gruppe auseinander, als bei der Nachricht von der drohenden Ankunft der Boxeraufständischen eine Panik unter der Bevölkerung ausbricht. Hier gehen nun auch die Handlungsstränge innerhalb des Romans auseinander. Die Schilderung der Suche Bohes nach seinen Begleitern erfolgt im traditionellen Erzählstil und treibt mit den Abenteuern, die er erlebt, die unterlegte äußere Aktion voran. Weit moderner, da in der chinesischen Romankunst bis dahin wenig gebräuchlich, mutet dagegen die Darstellung der Situation Dihuas an, bei der sich Wu Woyao weitgehend auf Eindrücke ihrer psychischen Verfassung konzentriert, um den inneren Aufruhr, in dem sie lebt, zu kennzeichnen und damit die Turbulenzen im Reich mit dem seelischen Innenleben der Protagonistin in Übereinstimmung bringt. Ein erstes Beispiel dafür ist ein Traum über Bohe, der mit einem Wagen an ihr vorüberfährt ohne sie wahrzunehmen. Interessant ist, wie Dihua darauf reagiert und sich ihren Zustand erklärt. Die Szene ist bewußt so gehalten, daß die Grenzen zwischen Realität und Imagination verschwimmen, ein Stilmittel, dessen sich Wu Woyao in bezug auf Dihua des öfteren bedient, wenn der Wechsel von Erzählung und innerem Monolog, während dem sich die Protagonistin ihre Verfassung geläufig zu machen sucht, für den Leser nicht mehr erkennbar ist.1111 Sie rief sich noch einmal die Szenen des Traumes in Erinnerung. Warum war Bohe einfach an ihr vorübergefahren? Vermutlich hatte sie tagsüber viel an ihn gedacht. Und was wohl der Kutscher bedeuten mochte, der vorne auf dem Bock gesessen hatte? Ihr fiel ein, wie sie und die Mutter den Kutscher losgeschickt hatten, um nach Bohe zu suchen. In der Gegenwart des Mannes war von dem Silber und den Geldanweisungen die Rede gewesen, die Bohe bei der Trennung noch bei sich trug. Sollte der Kutscher womöglich böse Absichten hegen und Bohe Schaden zufügen wollen? Sie lebten in Zeiten des Aufruhrs, da zählten Recht und Gesetz nicht viel. Alles war nur ihre eigene Schuld. Sie dachte viel an ihn, da war es ganz natürlich, daß ihr Bohe im Traum erschien. Aber warum der Kutscher? Je mehr sie darüber grübelte, desto verwirrter wurde sie. Erregt 1112 wie sie war, brach sie in Schweiß aus und fing schließlich an zu weinen.
Mitunter spiegelt der Verfasser die psychische Zerrüttung Dihuas in eindrucksvollen Szenen wider, so etwa, als Dihua wieder einmal bei Gedanken an Bohe in Tränen ausgebrochen ist, nur um plötzlich ganz von den Ereignissen um sie her1111
1112
Vgl. dazu auch die Anmerkungen bei Michael Egan: »Characterization in Sea of Woe«, in: Milena Dolezelová-Velingerová (Hg.): The Chinese Novel at the Turn of the Century, S. 171. Meer des Kummers, Kap. 5, S. 39f.
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um in Anspruch genommen zu werden, wo die Atmosphäre von Unsicherheit und Aufruhr, in der man lebt, einen Höhepunkt erreicht. Dihua lehnte nach dem Abendessen in den Kissen, als sie plötzlich erschrocken hochfuhr. Von draußen drang wildes Geschrei an ihr Ohr. Sie schob den Vorhang beiseite, um besser sehen zu können, doch nahm ihr ein großes Schiff, das neben ihnen ankerte, die Sicht. Zitternd kauerte sich Frau Bai zusammen. »Hab’ keine Angst, Mutter«, sagte Dihua, »ich werde einmal fragen, was passiert ist.« Sie hob den Vorhang ganz hoch und rief nach Li Fu, doch dieser war in den Bug des Bootes gestiegen und hörte nicht, wie sie nach ihm verlangte. »Kein Grund zur Sorge, Mutter, ich möchte mich nur einmal umsehen.« »Sei bloß vorsichtig, Kind«, rief ihr die Mutter zu. »Weiß schon«, erwiderte Dihua, wobei sie sich bückte, aus der Kajüte stieg und vorne in den Bug kletterte. »Obacht, Fräulein«, warnte Li Fu, als er das Mädchen näherkommen sah. Dihua stieg ganz bis an die Spitze des Bootes. Vor ihren Augen bot sich ein erschreckender Anblick. An sechs oder sieben Stellen züngelten Flammen empor, ein rötlicher Schimmer zog über den Nachthimmel. Der flackernde Schein des Feuers ergoß sich über die Gesichter der Menschen, die sich auf den anderen Schiffen versammelt hatten. Weinen und Jammern aus der Ferne übertönten das leise Raunen der Zuschauer. Es war eine furchterregende Szene. »Was ist denn passiert?« wollte Dihua an Li Fu gewandt wissen. »Ich weiß auch nichts Genaues«, erwiderte dieser. »Es heißt, die Boxer hätten an mehreren Stellen Kirchen in Brand gesteckt.« Noch einmal ließ Dihua ihren Blick über die Szene schweifen und sah, wie sich ein Schwarm aufgeschreckter Krähen aus den Bäumen erhob und durch den vom Feuerschein erleuchteten Nachthimmel davonflog. Im Glanz der Flammen waren ihre Konturen deutlich auszumachen. Selbst der Mond hatte sich in dem flackernden Inferno rötlich verfärbt. Besorgt eilte Dihua zurück in die Kajüte. Auf ihren Zügen waren Furcht und Schrecken zu lesen. »Was ist dort draußen geschehen?« wollte die Mutter wissen. »Am Ufer ist ein Feuer ausgebrochen«, erklärte Dihua. »Die Leute ringsum machen viel Aufhebens wegen der Sache. Es ist nicht viel, mach dir keine Gedanken.« Mit diesen Worten setzte sie sich neben die Mutter und strich ihr über die Hand. Wo sich Bohe wohl gerade aufhalten mochte? Ob er der Feuersbrunst entkommen war, wenn er sich noch in Tianjin befand? Sie kam fast um vor Sorgen, wagte aber nicht, der Mutter gegenüber davon zu sprechen und unter1113 drückte die Tränen so gut es ging.
Das einzige, was in dieser Welt aus Aufruhr, Kummer und Schmerz Bestand hat, ist allein Dihuas Liebe zu Bohe. Nur auf sich gestellt, hat dieser in der Verkleidung eines Angehörigen der Boxer seine nackte Haut gerettet und kommt sogar noch in die glückliche Lage, während der wirren Zustände in den Besitz einer Kiste voller 1113
Ebd., Kap. 6, S. 48f.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
Schmuck und Geld zu gelangen. Zumindest materiell abgesichert, nimmt er Zuflucht in Shanghai. Anders als in den traditionellen chinesischen Romanen weitgehend üblich, wo die Ereignisse der jeweiligen Handlungsstränge in der Regel umständlich in aller Ausführlichkeit aufgearbeitet werden, rafft Wu Woyao am Ende des Werks die Zeit und läßt den Leser aus dem Munde von Bohes Schwiegervater Zhang Heting wissen, wie es um das weitere Schicksal des Protagonisten bestellt ist. Zhang ist zu diesem Zeitpunkt mit seiner Tochter Dihua in Shanghai zusammengetroffen, wohin sich diese im Anschluß an den Tod der Mutter begeben hat. Durch Zufall bringt man in Erfahrung, daß Bohe in schlechte Gesellschaft geraten und mittlerweile vollkommen verarmt ist. Das Geld für seine Bordellbesuche und den Opiumkonsum verschafft er sich durch Bettelei. Auf Drängen Dihuas verspricht der Vater, nicht zu streng mit Bohe zu verfahren, doch alle Versuche, diesen auf den rechten Weg zurückzubringen, scheitern. Die Nachricht vom Raubmord an seinen Eltern hat ihn vollkommen entwurzelt, so daß er Dihua, die immer noch an eine gemeinsame Zukunft glaubt, bei ihrem Besuch in seinem Quartier mit harten Worten empfängt und ihr alle Illusionen raubt. »Selbst wenn mein Vater noch einmal zum Leben erwachte und mich aufforderte, von dem Opium zu lassen – ich käme nicht mehr fort davon«, sagte Bohe zu Dihua gewandt. »Sieh mich doch an, ich bin arm wie eine Kirchenmaus, wer denkt da noch an eine Heirat! Soviel steht für mich fest: Wird etwas aus uns, um so besser. Wenn nicht, dann werde ich eben Mönch.« Erschrocken wich Dihua bei diesen Worten zurück. Wie hatte sich Bohe verändert! Sie suchte nach Worten, als sie plötzlich draußen jemanden an der Türe hörte. Die Zofe kam und sagte, ihr Vater sei eingetroffen, um mit Peng Banyu nach dem Kranken zu sehen. Eilig entschwand Dihua durch eine Hintertür und zog sich in eine Kammer zurück. Wie kühl und abweisend Bohe gewesen war, sollte es wirklich nicht möglich sein, ihn zur Umkehr zu bewegen? War vielleicht alles ihre Schuld, war sie nicht aufrichtig und ehrlich genug? Hatte sie die falschen Worte benutzt, um ihn zu überzeugen? Ach, könnte sie nur ihr Herz herausreißen und ihm ihr wahres Inneres offenbaren! Sie versank in grüblerischen 1114 Gedanken. Langsam rannen ihr ein paar Tränen die Wangen hinab.
Der hier eigentümlich anmutende Schuldbegriff Dihuas, den sie aus Selbstvorwürfen ableitet, geht zurück auf ihr eigenes Verhalten im Zusammenhang mit der traditionell vorgeschriebenen Kontaktvermeidung zwischen den Verlobten, wie sie sich in einem Monolog nach der Trennung (Kap. 3) eingesteht. Ihre Vorwürfe gegen sich selbst gipfeln in der Feststellung, Bohe womöglich gerettet und ihm Kraft gespendet haben zu können, wenn sie in der Vergangenheit aufgeschlossener und bereit gewesen wäre, mit ihm zu reden anstatt sich ihm ständig zu entziehen. In dem Elend, das Bohe umfangen hat, lösen sich die strengen Ansprüche an Sitt1114
Ebd., Kap. 9, S. 80f.
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DIE WELT DER GEFÜHLE
lichkeit, Konventionen und traditionelle Überlieferungen nun plötzlich auf und machen einer Liebe Platz, die sich aus dem Gefühl der Anteilnahme und Mitmenschlichkeit speist. Sogar die Opiumsucht verzeiht man Bohe, durch die Heirat mit Dihua, auf die Herr Zhang drängt, will man versuchen, den jungen Mann doch noch zu retten. Doch Bohe entzieht sich dieser Anteilnahme und flüchtet. Als Dihua ihn schließlich ausfindig macht, liegt er bereits im Sterben. Alle Skrupel wegen ihres Status als keusche Braut überwindend, will das Mädchen auch nachts nicht von seiner Seite weichen, um ihm die notwendige Pflege zukommen zu lassen. Angesichts der dramatischen Zustände in einer dem totalen Wandel unterworfenen Zeit wird Dihua ständig gezwungen, sich mit ihrer kulturell und sozial definierten Rolle auseinanderzusetzen und die internalisierten Wertvorstellungen zu hinterfragen, womit auch der Begriff des qing in seiner Rolle als Weltprinzip dem Verhalten der edlen Persönlichkeit angemessen redefiniert wird. Dihua richtete die Liege aus Rohrstock her und hieß die alte Zofe, Bohe aufzuhelfen. Dieser stützte sich mit einer Hand auf die Schulter seiner Braut, die ihrerseits eine Hand um seine Hüften schlang und ihn hinüber zu der Liege begleitete. Als Bohe Platz genommen hatte, warf er ihr ein Lächeln zu. Dihua errötete zunächst, doch dachte sie dann: Ich habe mich bereits entschlossen, ihn hier zu pflegen und ihm seine Medizin zu verabreichen. Wenn er mich anlächelt, ist das ein Zeichen, daß er mich mag. Kein Grund also, mich zu schämen und ihm womöglich wegen meines Verhaltens Kopfzerbrechen zu bereiten. Wenn ein Kranker sich in guter seelischer Verfassung befindet, wird ihm sein ganzer Zustand leichter, das unterstützt die Genesung. Es ist meine Aufgabe, ihm dabei zu helfen, daß er sich wohlfühlt. Sie lächelte also zurück und half Bohe dabei, sich 1115 auf der Liege hinzulegen.
Was auffällt ist, daß Dihuas oben angeführte Hingabe gegenüber Bohe jedesmal im Einklang mit der Einwilligung durch die Eltern steht, womit das Prinzip der Kindespietät gewahrt bleibt. Indem Dihua also ein korrektes Verhalten gegenüber den Eltern an den Tag legt, kommt sie am Ende zu dem richtigen Vertändnis von qing. Zuletzt scheint somit auch Bohe von der Liebe Dihuas ergriffen. Ein Wandel in seinem kühlen und abweisenden Wesen deutet sich an. In den letzten Worten bevor er sein Leben aushaucht, gibt er gegenüber der Braut zu verstehen, tief in ihrer Schuld zu stehen. Erschüttert beschließt Dihua, Nonne zu werden. Doch wo ist echte Schuld auszumachen? Es hat vielmehr den Anschein, als seien es die Erschütterungen der Zeit, die eine eindeutige Zuweisung unmöglich machen. Dem Werk liegt denn auch durchaus keine simple Moral in dem Sinne zugrunde, daß Schlechtes mit Schlechtem und Gutes mit Gutem vergolten würde, wie das Beispiel von Zhong'ai und seiner Braut Juanjuan zeigt. Anders als sein Bruder Bohe 1115
Ebd., Kap. 10, S. 87f.
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Käufliche Liebe: Literarische Tendenzen zum Thema Liebe und Sexualität
widersteht zwar Zhong'ai den Lockungen der Bordellszene, in die er nach seiner Flucht nach Xi'an gerät, aber dennoch erfüllt sich seine Liebe zu der ebenfalls in die Fremde verschlagenen Juanjuan, auf die er erst bei einer Reise nach Suzhou in Gestalt einer Edelkurtisane wiedertrifft, nicht. Der Schock darüber ist für ihn so groß, daß er dem weltlichen Treiben entsagt und sich in die Berge zurückzieht. Das Leben hat es mit keinem der Protagonisten gut gemeint. Das glückliche Ende, eine obligatorische Forderung in den überlieferten Liebesromanen, bleibt aus. Zwar bedient sich auch Wu Woyao des gängigen Zirkels aus Trennung und Wiedervereinigung, doch führen die Ereignisse anders als zum Beispiel in den stereotypen Romanen über Talente und Schönheiten nicht zu einem für alle Seiten befriedigenden Schluß, was Meer des Kummers auf die Ebene einer gesellschaftlichen Tragödie hebt, die die weitgehend existenzbejahende Haltung der meisten Vorläufer in der chinesischen Erzählliteratur hinter sich läßt.1116
1116
Vgl. dazu auch Nieper: Neun Tode, ein Leben, S. 197.
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Teil V Schmerzvolle Begegnung mit der Welt – Infragestellung der Traditionen und Suche
1. Der kritische Roman Chinas vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert Die hieß man Schurken, nicht als solche Benannt warn die seriösen Strolche: In jedem Amt war Mauschelei Und kein Beruf von Arglist frei. [...] Den Königen diente man – nur wie! Ihre Minister täuschten sie: Die Krone, der er untertan, Bestahl so mancher Ehrenmann. Der Lohn war karg, man schwelgte doch Und rühmte sich dann redlich noch. Sie beugten Recht, um zu verdienen, Was Akzidenzien hieß bei ihnen, Und riefen, was durchschaut die Tour: »Das sind Emolumente nur!« Und alle schwiegen vor sich hin, Befragt' man sie nach dem Gewinn, Denn jedermann kassierte mehr, Nicht als verdient, mein ich, als er Gestand den andern, die bezahlten, Wie Spieler gern für sich behalten, Warn sie auch fair, was sie bekommen Von denen, die sie ausgenommen. (Mandeville: Die Bienenfabel)
Als Lu Xun in den frühen zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts eine Reihe von Romanwerken zum Ende der Qing-Dynastie mit dem Begriff der »Anklage« bzw. »Enthüllung« (qianze) verband, beschrieb er damit recht treffend eine ganz wesentliche Eigenschaft der Erzählkunst, die seit dem Opiumkrieg 1840/42 mehr und mehr zutage trat.1117 Wie in keinem anderen Abschnitt der langen chinesischen Geschichte zuvor wurde das Reich der Mitte enormen Erschütterungen ausgesetzt, deren Nachwirkungen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zu spüren waren. Die inneren Konflikte wie die Taiping-Rebellion zur Mitte des 19. Jahrhunderts und die erniedrigenden Angriffe der Großmächte, die erhebliche Einschränkungen der chinesischen Souveränität auf dem eigenen Territorium zur Folge hatten, sind da1117
LU XUN: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung, S. 385–401. Das Buch entstand auf der Grundlage von Vorlesungen Lu Xuns, die dieser zwischen 1920 und 1924 an der Universität Peking hielt.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT
bei nur ein Faktor. Die Konfrontation mit den aggressiv auftretenden Staaten des Imperialismus zwang das Land zu einer schmerzvollen Selbstreflexion, die, wie wir noch sehen werden, ihre Anfänge jedoch weit früher nahm. Die Erfahrung der eigenen Schwäche war um so schmerzhafter, als China militärisch und kulturell zum ersten Mal mit einem zumindest gleichwertigen, aus Sicht vieler damals aber vermutlich überlegenen Gegner konfrontiert wurde. Hatten in der Vergangenheit vornehmlich Einfälle der Nomadenstämme die Grenzen im Norden und Westen des Reiches bedroht, jedoch nie die chinesische Kultur an sich in Frage gestellt, so tauchten im Gefolge der anfangs noch sporadischen europäischen Seefahrer plötzlich Vertreter der Großmächte auf, die aus dem Anspruch der eigenen Überlegenheit heraus China ihrerseits das eigene System aufoktroyieren wollten und anders als die »kulturlosen« Barbaren der Steppe keinerlei Anstalten machten, sich von der chinesischen Kultur assimilieren zu lassen. Die einzelnen Stationen dieser Konfrontation – zu nennen sind etwa der Opiumkrieg (1840/1842), der Einfall der englischen und französischen Truppen in Peking (1860), die erzwungene Öffnung von Handelshäfen (1876), die französische Okkupation des chinesischen Tributlandes Annam, dem heutigen Vietnam (1885), die Niederlage gegen Japan 1894/95 mit der folgenden Abtretung der Südmandschurei und der Insel Taiwan sowie die Gebietsabtretungen in Shandong an Deutschland 1897, die Niederschlagung des Boxeraufstandes durch alliierte Truppen unter Führung von General Waldersee (1900) – sind weitgehend bekannt und sollen hier nicht weiter erörtert werden. Die einseitige Betonung dieser Faktoren verstellt zudem den Blick auf die Vorgänge innerhalb der chinesischen Gesellschaft, welche für unser Thema des chinesischen Romans nämlich von weit größerer Bedeutung sind. Um zu verstehen, auf welchen Grundlagen die von chinesischen Schriftstellern zum Ende der Qing-Zeit vehement vorgetragene Kritik an den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen ihres Landes basiert, ist es notwendig, die entsprechende Entwicklung der Jahrhunderte zuvor mit besonderem Blick auf die Lage der Literaten zu begreifen, die schließlich mehr und mehr zu den Förderern der Romanliteratur geworden waren. Es sind vor allem die eben angedeuteten Erschütterungen des 19. Jahrhunderts, die aus der Sicht späterer Zeiten gerade in bezug auf das Jahrhundert davor den Eindruck einer friedlichen, harmonischen Epoche entstehen ließen. Um es mit den Worten Etienne Balazs’ auszudrücken, wurde so zumindest der Anschein erweckt, als handele es sich um »einen der am wenigsten unglücklichen Abschnitte« in der chinesischen Geschichte.1118 Diese Ansicht mag bei oberflächlicher Betrachtung nicht zuletzt angesichts der langen Regierungszeiten der ersten Generationen von Qing-Kaisern eine gewisse Berechtigung haben: Kangxi (reg. 1662–1722) und Qianlong (reg. 1736–1796) regierten nahezu die halbe Zeit der der Qing-Dynastie 1118
ETIENNE BALAZS: Political Theory and Administrative Reality in Traditional China, London: School of Oriental and African Studies, University of London 1965, S. 73.
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Der kritische Roman Chinas vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert
zubemessenen zweihundertsiebzig Jahre. Es war zudem die Ära Qianlongs zu Ende des 18. Jahrhunderts, die dem chinesischen Reich seine größte territoriale Ausdehnung seit der Zeit der mythischen Kaiser bescherte.1119 So gab es bezüglich Macht, Einfluß und Reichtum enorme Statusunterschiede zwischen einer geringen Minderheit von einflußnehmenden Han-Eliten an der Spitze der Hierarchie und der großen Zahl von gewöhnlichen Amtsträgern und Gelehrten, denen der entsprechende Genuß versagt blieb. Doch die äußerliche Ruhe täuschte. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die sozialen Entwicklungen Chinas der betreffenden Zeit näher zu schildern. Die hier angesprochenen Tendenzen und Probleme bleiben mit ihrem Zuschnitt auf die Literatenzirkel mithin unvollständig, stellen aber gerade jene Gruppe in den Mittelpunkt, aus der sich seit Ende der Ming-Dynastie vielfach jene »frustrierten Gelehrten« rekrutierten, die der Erzählkunst neue Impulse verliehen hatten. Kritische Stellungnahme an sich vor allem durch den Mahner war in China nichts Neues. Doch sie trat insbesondere in Gestalt des Ministers oder Beamten auf, der sich nicht scheute, Mißstände gegenüber dem Herrscher beim Wort zu nennen, und sie erfaßte damit meist nur – wenn auch recht wesentliche – Ausschnitte des Ganzen. Dabei gab die chinesische Literatur den Schriftstellern aufgrund ihrer Tradition durchaus Mittel an die Hand, mit Hilfe der Kritik (fengce) Dinge anzuprangern und bloßzustellen anstatt nur zu unterhalten.1120 Literarisch hatte sich die Kritik wenn auch zunächst noch diffus und mitunter allegorisch verbrämt vor dem 18. Jahrhundert vereinzelt in Erzählwerken wie den Drei Reichen oder der Reise in den Westen einen Weg gesucht. In beiden Werken ist etwas von dem aufkeimenden Unbehagen an der Bürokratie zu spüren. Das Jin Ping Mei wiederum weist mit seinen realistischen, anklagenden Bildern über das Leben in der Schicht wohlhabender Kaufleute bereits den Weg zur Beschreibung der eigenen häuslichen Umgebung, eine Form, der sich später auch Cao Xueqin für seinen in einem sehr pessimistischen Ton gehaltenen Traum der Roten Kammer bediente. Überhaupt ist es in diesem Zusammenhang bezeichnend, wie sehr die Bedeutung der eigenen Biographie und des eigenen Schicksals in den Vordergrund trat. Was Männer wie Cao Xueqin und Li Ruzhen, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen, miteinander verbindet, ist die literarische Bewältigung des Niedergangs der eigenen Familie, das berufliche Versagen bzw. 1119
1120
Wir beziehen uns hier und im weiteren Verlauf der Ausführungen zu der innerchinesischen Entwicklung seit der Gründung der Qing-Dynastie auf PAUL S. ROPP: Dissent in Early Modern China. Ju-lin wai-shih and Ch'ing Social Criticism, Ann Arbor: University of Michigan Press 1981, vor allem Kap. 1, 6 und 7. Zur Tradition des kritischen Romans vgl. WU CHUNBANG: Die kritische Kunst im kritischen Roman zum Ende der Qing-Dynastie (Wan Qing fengce xiaoshuode fengce yishu), Shanghai: Fudan daxue 1994, insbes. S. 1–7. Vgl. TIMOTHY C. WONG: Wu Ching-Tzu, Boston: Twayne 1978, S. 50. Zu einer vollständigen Übersetzung des Wenfu siehe u.a. die englische Ausgabe The Art of Writing, übers. von SAM HAMHILL, Minneapolis: Milkweed Editions 1991.
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die Vorenthaltung eines Amtes. Niemand faßte dies in seiner Zeit jedoch spitzer und prägnanter als Wu Jingzi mit seiner Inoffiziellen Geschichte des Gelehrtenwaldes (Rulin waishi), die sowohl inhaltlich als auch strukturell richtungsweisend für viele Romane aus der späten Qing-Zeit wurde und mit der wir diesen Abschnitt über den kritischen Roman beginnen wollen. Während Wus Werk in einem feinen satirischen Ton gehalten ist, sollten – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie vielleicht Li Ruzhens Blumen im Spiegel – nahezu hundert Jahre vergehen, bevor die kritische Erzählkunst in freilich viel vehementerer Form als je zuvor erneut ihre Stimme erhob, womit wir unseren Blick auf die Entwicklung zum Ende der QingDynastie insbesondere auf die Jahre zwischen 1890 und 1911 lenken wollen. Um die literarische Situation im ausklingenden 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Romankunst in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, ist es wichtig, sich noch einmal vor Augen zu halten, in welchem Ausmaß man auf den starken Veränderungen aufbaute, die das Genre im Jahrhundert davor durchgemacht hatte. Nicht nur das Wesen der Romankunst selbst hatte sich verändert, auch ihr Status hatte eine starke Aufwertung erfahren. Man hatte sich vom starren Schema der geschichtlichen Vorlagen gelöst und einen eigenen Stil gewonnen, der sich vor allem durch den persönlichen, emotionaleren Ton kennzeichnete. Selbstbewußt hatten Autoren wie Wu Jingzi damit begonnen, sich bei der Abfassung ihrer Werke von der idealbildenden klassischen Schriftsprache zu lösen und selbst Passagen, die vordem fast ausschließlich dieser Variante vorbehalten gewesen waren, in der baihuaForm abzufassen, die der gesprochenen Sprache angenähert war.1121 So ging man Ende des 19. Jahrhunderts dazu über, die künstlerischen Eigenschaften der Erzählkunst mit gezielten politischen und sozialen Aufgaben zu verbinden, insgesamt also eine Abkehr von den ästhetischen Betrachtungen hin zu eher pragmatischen Zielen vorzuzeichnen. Lu Xun faßte das, was sich in den Herzen vieler Leser und Autoren um die Jahrhundertwende abgespielt haben mochte, bei seiner Niederschrift der Geschichte der chinesischen Erzählkunst in folgende Worte: Während des 19. Jahrhunderts wurden viele innere Aufstände niedergeschlagen, einschließlich des Weißen-Lotos-Aufstandes und den Taiping-, Nian- und HuiAufständen. Aber auch fremde Mächte wie Großbritannien, Frankreich und Japan drangen in China ein. Auch wenn die städtische Bevölkerung bei einer Schale Tee immer noch mit Interesse romantische Geschichten über die Unterdrückung von Rebellen anhören mochte, so erkannten intelligente Männer doch die Notwendigkeit von Veränderungen und begannen, für politische Reformen und patriotische Taten zu agitieren. Dabei betonten sie die Notwendigkeit, das Land reich und stark zu machen. Zwei Jahre nach dem Fehlschlag der Reform von 1121
Zum Problem der Konkurrenz baihua / wenyan bzw. der Übersetzungstätigkeit vgl. den Überblick bei MILENA D2/(ä(/29È-VELINGEROVÁ: »The Origins of Modern Chinese Literature«, in: MERLE GOLDMAN: Modern Chinese Literature in the May Fourth Era, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1977, S. 18–25 bzw. 33–35.
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Der kritische Roman Chinas vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert 1898 entstand als Ergebnis des vollständigen Mißtrauens in die Regierung die Yihetuan-Bewegung. Die Tendenz in der Literatur war Enthüllung sozialer Mißstände und Geißelung der gegenwärtigen Politik, manchmal auch der gesell1122 schaftlichen Konventionen.
All die Veränderungen in der literarischen Szene hätten nicht entstehen können ohne den tiefgreifenden Wandel, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der chinesischen Gesellschaft und der Verfassung des Landes allgemein eingestellt hatte.1123 Kritische Stimmen unter den jungen chinesischen Autoren und Denkern profitierten in der Zeit nach dem Opiumkrieg nicht zuletzt von der Sicherheit, die sich ihren publizistischen Aktivitäten in den Konzessionsgebieten von Städten wie Shanghai bot. Im Schutze der ausländischen Mächte war man dort dem Zugriff der chinesischen Gerichtsbarkeit weitgehend entzogen. Stil, Inhalt sowie die Art und Weise der Veröffentlichung von Roman- und Erzählwerken zeigten zudem die überaus starken Einflüsse durch das aufkommende Pressewesen, so daß man ihnen in späteren Zeiten aufgrund ihres »reißerischen« Wesens und den Versuchen, um jeden Preis zu enthüllen und anzuprangern jeglichen literarischen Charakter absprach. Hinzu kam, daß ein ganz neuer Typus von Autoren entstand. Männer wie Wu Woyao (1866–1910) oder Li Boyuan (1867–1906) betrieben ihr Gewerbe berufsmäßig, nicht als Zeitvertreib. Sie hatten ihre Beamtenposten aufgegeben oder nie angetreten und widmeten sich voller Hingabe den neuen Aufgaben als Schriftsteller oder Herausgeber. Als Medium diente ihnen das Pressewesen, das in der Folge des Opiumkriegs vor allem in der Region um Shanghai unter westlichem Einfluß aufzublühen begann. Veröffentlichte die früheste literarische Zeitschrift »Yinghuan suoji«, die ab 1872 erschien, zunächst nur englischsprachige Romane und Erzählungen, so änderte sich dies, als seit den neunziger Jahren Autoren selber gleichzeitig als Zeitungsherausgeber auftraten, um ihren Werken ein Forum zu geben. So rief etwa Han Ziyun, der Verfasser des Romans Erzählung von Blumen aus Shanghai (Haishang hualiezhuan) 1892 die Zeitschrift »Haishang qishu« ins Leben, gefolgt von zahlreichen weiteren Beispielen. Die meisten der bekannteren Romane aus dem Ende der Qing-Dynastie, die wir im weiteren behandeln werden, erschienen in den vier wichtigsten Zeitschriften, nämlich in der von Liang Qichao (1873–1929) im Jahre 1902 in Japan gegründeten »Neue Erzählkunst« (Xin xiaoshuo, erschien zwischen 1902 und 1910), in Li Boyuans »Bebilderte Erzählkunst« (Xiuxiang xiaoshuo, 1903–1906), in Zeng Pus »Wald der Erzählkunst« (Xiaoshuolin, 1907–1908) und in Wu Woyaos »Monatliche Erzählkunst« (Yueyue xiaoshuo, 1906–1909), doch gab es je nach 1122 1123
LU XUN: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung, S. 385. Gerade die autochthonen Tendenzen in der Entwicklung der Literatur zum Ende der Qing sind vor einiger Zeit in der Studie von DAVID DER-WEI WANG: Fin de Siècle Splendor: Repressed Modernities of Late Qing Fiction, 1849–1911, Stanford: Stanford UP 1997.
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Themenschwerpunkt noch eine ganze Reihe anderer Blätter.1124 Die Zeitschriften besaßen allesamt eine etwas andere Zielsetzung, hatten sich aber durchweg die Bereitstellung eines Forums für die zeitgenössische kritische Literatur Chinas zur Aufgabe gemacht und verfolgten darüber hinaus den Anspruch, auch repräsentativen Werken der abendländischen Literatur Raum zu bieten. Liang Qichaos »Neue Erzählkunst« allein druckte eine Anzahl der umfangreicheren Werke Wu Woyaos wie Seltsame Begebenheiten oder Neun Tode ab, legte darüber hinaus aber auch Übersetzungen vor und zeigte den chinesischen Lesern zum ersten Mal Bilder von Schriftstellern wie Tolstoi, Shaw, Goethe, Schiller, Sienkiewicz u.a. Li Boyuan brachte es in seiner »Bebilderten Erzählkunst« auf stattliche siebzehn Originalwerke von sich selbst und seinen chinesischen Zeitgenossen, nicht mitgezählt die Übersetzungen von Werken wie Tausendundeine Nacht oder eines Romans von Mark Twain.1125 Die Qing-Regierung tat zwar ihr möglichstes, um die Verbreitung der aus ihrer Sicht »verführerischen« Literatur zu verhindern, doch gelang ihr das in dem Fall, daß eine Zeitschrift außerhalb der Konzessionsgebiete erschien nur selten. Auf welcher theoretischen Basis spielte sich nun der Wandel in der Literaturauffassung zum Ende der Qing-Dynastie ab? Wie wir in der Einleitung gesehen haben, reichte die positivere Bewertung der Fähigkeiten und Möglichkeiten der Erzählkunst bis zum Beginn der Qing-Dynastie zurück. Zwar finden sich auch zum Ende der Mandschuren-Herrschaft keine systematischen und zusammenhängenden Erörterungen zu diesem Aspekt, bleiben viele der Essays über das Wesen der Literatur fragmentarisch und verstreut in den Literaturzeitschriften der Zeit, doch ist ein Wandel in der allgemeinen Auffassung nicht zu leugnen.1126 Es sollte jedoch immer noch bis zum Jahre 1897 dauern, bis sich Yan Fu (1854–1921) und 1124
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Vgl. dazu im einzelnen die Quellenangaben zu den weiteren unten behandelten Romanen aus dem Ende der Qing-Dynastie. Zu anderen als den hier genannten Zeitschriften siehe z.B. E. PERRY LINK, JR.: Mandarin Ducks and Butterflies. Popular Fiction in Early TwentiethCentury Chinese Cities, Berkeley u.a.: University of California Press 1981, S. 125f. Für einen ersten Überblick über das Pressewesen zum Ende der Qing vgl. SHU-YING TSAU: »The Rise of ›New Fiction‹«, in: MILENA D2/(ä(/29È-VELINGEROVÁ: The Chinese Novel at the Turn of the Century, Toronto: Univ. of Toronto Press 1980, vor allem S. 24ff. Zusätzliche Informationen sind darüber hinaus den entsprechenden Abschnitten in einschlägigen chinesischen Publikationen aus neuerer Zeit zu entnehmen wie z.B. SHI MING: Romane aus dem Ende der Qing-Zeit (Wan Qing xiaoshuo), Shanghai: Shanghai guji 1989. Auf die Einflüsse der Übersetzungen aus Werken westlicher Sprachen kann hier nur am Rande verwiesen werden. Vgl. dazu den Beitrag von MILENA D2/(ä(/29È-VELINGEROVÁ: »The Origins of Modern Chinese Literature«, vor allem S. 33ff. An Arbeiten zur Literaturtheorie am Ende der Qing-Dynastie ist vor allem vorzuheben A QING: Anthologie zur Literatur der späten Qing: Forschungsmaterial zur Kunst von Erzählung und Drama (Wan Qing wenxue congchao: xiaoshuo xiqu yanjiu juan), Peking: 1960. An entsprechenden Werken in westlichen Sprachen sind insbesondere zu nennen die Dissertation von CHENG GEK NAI: Late Ch'ing Views on Fiction, Ph.D. Stanford Univer-
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Der kritische Roman Chinas vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert
Xia Zengyou (1865–1924) in einer Ausgabe der in Tianjin erscheinenden »Nationalzeitung« (Guowen bao) mit dem Aufsatz »Verlautbarung über unsere Maßnahme zum Druck einer Literaturbeilage« (Benguan fuyin shuobu yuanqi) für den Wert der xiaoshuo-Literatur aussprachen und sie der traditionellen Kritik des trivialen, beiläufigen Werks der inoffiziellen Geschichtsschreibung enthoben. Es kennzeichnet diesen Aufsatz und die meisten weiteren der im folgenden noch zahlreich erscheinenden Abhandlungen über Sinn und Zweck der Erzählliteratur, daß man mit ihm einen zumeist sehr praktischen Nutzen verband, der eher politischsozialen als Zwecken der Unterhaltung geschweige denn ästhetischen Anliegen wie im Falle Huang Moxis diente.1127 Die Verwicklung von Schriftstellern in die politischen Veränderungen ihrer Zeit führten dazu, daß viele ihrer Werke propagandistische Züge annahmen und an literarischem Wert einbüßten, eine Tendenz, die man angesichts der Intensität, mit der die chinesische Geschichte und Kultur zur damaligen Zeit aufgearbeitet wurde, im nachhinein bedauern muß. Doch ist hier gerade was die Auseinandersetzung mit den konkreten Werken angeht offensichtlich noch nicht das letzte Wort gesprochen. Alleine die Menge, die Vielfalt und der schwierige Zugriff auf oftmals nur kurze Zeit erscheinende Zeitschriften, in denen publiziert wurde, haben bisher in dieser Frage nur eine ganz ungenügende Forschung zugelassen.1128 In ihrer Bedeutung für die Entwicklung der modernen chinesischen Literatur insgesamt, insbesondere für die realistische Erzählkunst seit der Vierten-Mai-Bewegung von 1919, ist der Beitrag auch der Literaturtheorie zum Ende der Qing-Zeit nicht zu unterschätzen. Den größten Einfluß auf die theoretische Ausformulierung der Literaturtheorie und ihre praktischen Bezüge am Ende der Qing-Zeit hatte jedoch Liang Qichao. Nach seiner Flucht ins kaiserliche Japan legte Liang in zwei Artikeln aus den Jahren 1898 bzw. 1902 seine Ansichten zur Literaturtheorie dar und wies den Schriftstellern eine ganz neue Richtung ihres Schaffens. In dem »Vorwort zur Übersetzung und Veröffentlichung von politischen Romanen« (Yiyin zhengzhi xiaoshuo xu), das erstmals 1898 in der in Yokohama erscheinenden »Qingyi bao« veröffentlicht wurde, richtete Liang unter dem Einfluß von englischen Schriftstellern wie
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sity 1982; ADELE A. RICKETT (Hg.): Chinese Approaches to Literature from Confucius to Liang Ch'i-ch'ao, Princeton: Princeton UP 1978 bzw. KIRK A. DENTON: Modern Chinese Literary Thought. Writings on Literature, 1893-1945, Stanford, Cal.: Stanford UP 1996. So trat Huang etwa für die Enthaltung einer zu großen Detailfreude ebenso ein wie für den Entwurf einer zusammenhängenden Form, die nicht nur willkürlich Materialien und Eindrücke aneinanderreiht. (Vgl. dazu CHENG GEK NAI: Late Ch'ing Views on Fiction, S. 192) Auf die einschlägige Literatur in westlichen Sprachen sowie in China wurde in den Anmerkungen zu diesem Abschnitt verwiesen. Eine umfangreichere Zusammenstellung von Werken aus jener Zeit, die bislang in der Literaturwissenschaft wenn überhaupt so nur am Rande erwähnt wurden, liegt mit der mehrbändigen Ausgabe Große Reihe der neueren chinesischen Erzählliteratur (Zhongguo jindai xiaoshuo daxi), 1993 hrsg. vom Baihuazhou wenyi-Verlag in Nanchang vor.
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Bulwer-Lytton und Benjamin Disraeli zum ersten Mal den Blick auf die politischen Bezüge und Erfordernisse der Romankunst. Als ein der breiten Öffentlichkeit verständliches Medium seien die Werke der Erzählkunst in noch stärkerem Maße als die Geschichtswerke sowie die klassischen Philosophien und Dichtungen in der Lage, Auskunft über die Vergangenheit des Landes zu geben. Daher taugten sie in hervorragender Weise zur Schulung des politischen Bewußtseins. Liang Qichao rief in diesem Zusammenhang zu einer »Revolution in der Erzählkunst« auf und prägte den Begriff der »Neuen Erzählkunst« (xin xiaoshuo), deren Aufgaben er in seinem zweiten richtungsweisenden Artikel »Über das Verhältnis des Romans und die Befindlichkeit der Massen« (Lun xiaoshuo yu qunzhi de guanxi), welcher 1902 in der Zeitschrift »Xin xiaoshuo« von Yokohama erschien, wie folgt umriß: Wer unter den Menschen im Lande eine Neuerungsbewegung hervorrufen möchte, der muß die Erzählliteratur erneuern; neue Formen der Moral, Religion, Politik, Sitten und Bräuche sowie der Kunst sind daher an die Erneuerung der Erzählkunst geknüpft. Unverzichtbar ist die Erzählkunst auch für die Schaffung einer neuen Persönlichkeit (renge) und eines neuen Gewissens (renxin). Warum das so ist? Weil die Erzählkunst über die Fähigkeit verfügt, den Menschen [in 1129 seiner Humanität] anzuleiten (xiaoshuo you bu kesiyizhi li zhipei rendao).
Die Ausführungen Liang Qichaos sind eine Mischung aus buddhistischen Heilskonzepten und autochthonen chinesischen Auffassungen zur Kraft der Emotionalität. Daneben ist jedoch vor allem der Einfluß der zeitgenössischen Diskussionen zum politischen Roman (seiji shô setsu) in Japan zu spüren, der sich dort während der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts überaus großer Beliebtheit erfreute. Liang Qichao war nach dem Scheitern der Reformbewegung 1898 nach Japan geflüchtet, wo er sich für die kommenden Jahre aufhielt. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß Liang dabei auch mit den Arbeiten von Tsubouchi Shooyoo (1859–1935) bekannt wurde, der seit den achtziger Jahren als Übersetzer und Romancier aufgetreten war und der zeitgenössischen japanischen Literaturwissenschaft mit seiner 1885/1886 vorgelegten Untersuchung Das Wesen des Romans (Shoosetsu Shinzui) neue Wege gewiesen hatte. Tsubouchi Shooyoo blieb dabei allerdings mit Bemerkungen zum künstlerischen Charakter, der Genre-Problematik etc. in weit größerem Umfang dem Bereich der Literatur verhaftet als später Liang Qichao in seinen theoretischen Ausführungen, wo er viel stärker das politische Anliegen der Verfasser von Erzählwerken in den Mittelpunkt stellte.1130 1129
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Hier übersetzt nach dem Originalzitat bei SHI MING: Romane aus dem Ende der Qing-Zeit, S. 16. Eine vollständige englische Übersetzung des Textes findet sich u.a. in KEIKO KOCKUM: Japanese Achievement, Chinese Aspiration: A Study of the Japanese Influence on the Modernisation of the Late Qing Novel, Stockholm: Plus Ultra 1990, S. 104–109. Der politische Roman Japans war zur Zeit von Liangs Aufenthalt dort bereits im Schwunge. Unter den Autoren, die sich an diesem Genre versuchten, sind Namen anzuführen wie Suhiro
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Der kritische Roman Chinas vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert
Die Resonanz, die Artikel wie die von Liang Qichao unter den Literaten hervorriefen, war beachtlich. Wie Pilze schossen Verlage und Literaturmagazine aus dem Boden, in denen man den über tausend Titeln der Erzählkunst, die zu Beginn des Jahrhunderts verfaßt wurden, ein Forum bot. Dem Engagement im Hinblick auf die Zeitkritik, wie es in der Wahl sozialkritischer Themen zum Ausdruck kam, war selbst in Werken, die ursprünglich eher der Liebesdichtung zugehörig waren, wie wir im Zusammenhang mit dem Schaffen von Wu Woyao bereits gesehen haben, nicht zu entgehen. Thematisch beschreiben alle Romane jener Epoche – mitunter historisch verbrämt – das China zwischen 1880 und 1910. Erscheinungen der Zeit werden aufgegriffen: die Reformbewegung von 1898 ebenso wie der Boxeraufstand, der Einfall der alliierten Armeen und der Verfall der zentralen administrativen Macht. Der Zusammenbruch der traditionellen Ordnung wurde weithin fühlbar. Noch nie war die chinesische Erzählkunst so authentisch und greifbar gewesen. Stets war nur verbrämt durch Hinweise auf vergangene Epochen ein Bezug zur Gegenwart hergestellt worden. Nun stand endlich einmal die aktuelle Jetzt-Zeit im Mittelpunkt der Darstellung. Der gesamte Rahmen der Handlungen wird in die konkrete Gegenwart gehoben. Ferne Länder bleiben nicht wie noch in der Reise in den Westen mythisch-fremd, das Schicksal von Studenten und Arbeitern in der Fremde wird wirklich faßbar. Zum ersten Mal wird auch verstärkt Wert auf durchgängige Bezüge zu allen Klassen und Schichten der Gesellschaft gelegt. Nicht nur die wohlhabenden Beamten und Kaufleute treten auf, sondern ebenso die Militärs, Kaufleute, Kompradoren, Studenten bzw. zeitgenössische Gruppen wie Revolutionäre, Anarchisten etc. Auch die Ausländer spielen zum ersten Mal in der Darstellung eine wichtigere Rolle. Es ist daher nicht zu weit hergeholt, wenn man der Erzählliteratur zum Ende der Qing-Zeit bescheinigt, daß sie auf eindrucksvolle Weise die Gesellschaft ihrer Zeit in ihrer ganzen Komplexität und Unsicherheit erfaßt hat. Der Vielzahl der gesellschaftlichen Aspekte, die die historische Epoche um die Jahrhundertwende vorgab, entsprach die unterschiedliche Erklärungsweise durch die zeitgenössischen Literaten sowie der unterschiedliche Werkaufbau. So favorisierten eine Reihe von Autoren wie z.B. Wu Woyao in seinen Augenzeugenberichten in dem Bestreben, einen möglichst umfassenden Überblick über die aktuellen Zustände zu geben, die Form der Panoramaschau.1131 Andere griffen – wie Li Boyuan in seinen Bürokraten mit der Beamtenwelt – ein bestimmtes Thema
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Tetchô (1849–1896), Shiba Shirô (1852–1922) u.a. Vgl. C.T. HSIA: »Yen Fu and Liang Ch'i-ch'ao as Advocates of New Fiction«, in: ADELE AUSTIN RICKETT (Hg.): Chinese Approaches to Literature from Confucius to Liang Ch'i-ch'ao, Princeton, N.J.: Princeton UP 1978, S. 235. Zur Analyse der Struktur von Erzählwerken aus dem Ende der Qing-Zeit vgl. MILENA D2/(ä(/29$-VELINGEROVA: »Typology of Plot-Structures in Late Qing Novels«, in: DIES.: The Chinese Novel at the Turn of the Century, S. 38–56.
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auf und fügten – nicht zuletzt in Anlehnung an Vorbilder wie Wu Jingzis Gelehrte – die zyklischen Bilder aneinander. Die eher kürzeren Romane – ein typisches Beispiel haben wir mit dem Kriminalroman Neun Tode aus dem Œuvre Wu Woyaos bereits kennengelernt – bevorzugten dagegen die kompaktere Form der einsträngigen Geschichte. Hier gab es ebenso Bezüge zu Vorgängern wie bei der Anlehnung an überlieferte Genreformen. Wus unvollendeten Roman Schmerzvolle Geschichte haben wir als Abschluß des historischen Romans schon behandelt. Doch blieben auch andere Erzählformen lebendig, wie das Beispiel von Fu Lins Vogel, Meer und Stein zeigt, das in Inhalt, Aufbau und Länge deutliche Einflüsse durch den traditionellen Roman über Talente und Schönheiten aufweist. Unterschiedlich ist auch die Vehemenz und die ideologische Ausrichtung, aus der heraus die Anliegen der Verfasser vorgetragen wurden. Traten Wu Woyao und Li Boyuan etwa für reformerische Strömungen ein und hatten offensichtlich in Anlehnung an traditionelle Erzählweisen die Indoktrinierung der Leser im Auge, so neigten Liu E und Zeng Pu eher dazu, in objektiverem Ton verschlüsselte Botschaften zu übermitteln, die von dem gebildeteren Publikum, an das man sich wandte, erst entziffert werden mußten. Doch trotz all der Unterschiede ergibt sich immer noch ein recht homogenes Bild, das gespeist wird aus den Empfindungen und Erschütterungen der Zeit.
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2. Falsche Gelehrte und korrupte Beamte Gelehrsamkeit und Beamtentum waren im traditionellen China lange Zeit eng miteinander verknüpfte Bereiche. Um die Bedeutung dieses Umstandes zu begreifen, muß man sich in Erinnerung rufen, daß der Erwerb eines Amtes die entscheidende Größe für den sozialen Aufstieg darstellte. Als Mittel zur Auswahl der Beamten waren die Examina in China spätestens seit der Tang-Dynastie bekannt, doch stellten sie bis zum Beginn der Ming-Herrschaft neben willkürlichen Ernennungen, Empfehlungen und Sonderberufungen nur eine von vielen Rekrutierungsformen dar. Mit dem Zuwachs kaiserlicher Macht und der Einbuße von Pfründen durch die Aristokratie wurde das Auswahlsystem mehr und mehr objektiven Kriterien unterworfen. Die Mandschuren nun übernahmen das Prüfungssystem der Ming in Gänze und machten es zur Grundlage für die Auswahl von Beamten aus der Han-Bevölkerung. Die stark ansteigende Zahl der Kandidaten sowie eine allgemeine Bildungszunahme verstärkten den Wettbewerb und zwangen die Prüfer in noch größerem Maße zur Anwendung objektiver Kriterien, die sich bald in reinen Gedächtnisleistungen und der Berücksichtigung formaler literarischer Gesichtspunkte bei der Anfertigung von Gedichten und Essays in der klassischen Schriftsprache erschöpften.1132 Inhaltlich hatten sich die Aufsätze mit dem streng umrissenen Kanon der »Vier Bücher« (Gespräche des Konfuzius, Großes Lernen, Buch der Mitte und Menzius) und »Fünf Klassiker« (Buch der Lieder, Buch der Urkunden, Buch der Wandlungen, Buch der Riten und Frühlings- und Herbstannalen) zu befassen, wie er von Zhu Xi (1130–1200), dem konfuzianischen Philosophen der Song-Zeit, festgelegt worden war. Die unzufriedenen Gelehrten speisten sich aus dem Heer jener, die die Prüfungen nicht bestanden hatten.
2.1 Satirische Bestandsaufnahme – Wu Jingzis Inoffizielle Geschichte des Gelehrtenwaldes (Rulin waishi) Es ist nicht einfach, angesichts der umfangreichen und aufgrund der realistischen Darstellungen von Kummer, Übel und allerlei Mißständen deutlich auf kritische Betrachtung hin abhebenden Werken der frühen chinesischen Erzählliteratur einen Ausgangspunkt für die kritischen Romane zum Ende der Qing-Dynastie auszumachen, die schonungsloser als je zuvor in der chinesischen Literaturgeschichte Mißstände in Staat und Gesellschaft anprangerten. Wie wir in den entsprechenden Kapiteln gesehen haben – und die kurzen Erläuterungen in der Einführung zu diesem 1132
Vgl. dazu CHING-I TU: »The Chinese Examination Essay: Some Literary Considerations«, in: Monumenta Serica, Bd. XXXI (1974–75), S. 396.
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Abschnitt haben dies noch einmal bestätigt – stoßen wir in den meisten großen Romanen seit der Ming-Dynastie auf den einen oder anderen zeitkritischen Aspekt. Niemand jedoch brachte das verbreitete Mißbehagen auf so feine und zurückhaltende Art und Weise zum Ausdruck wie Wu Jingzi im 18. Jahrhundert mit seinem Roman Die inoffizielle Geschichte des Gelehrtenwaldes, der in vieler Hinsicht beispielgebend für die weitere Romanentwicklung in diesem Genre wirkte.1133 Ohne persönliche Bosheit, in einem Stil voller Wärme und Humor, sanft und ironisch prangerte Wu die sozialen Mißstände in der Welt der Literaten an.1134 Die satirische Betrachtung der Welt und ihrer mangelhaften Erscheinungen war dabei nicht neu oder gar außergewöhnlich. Bediente man sich in der Reise in den Westen jedoch noch einer eher mystisch verbrämten Form zur Kritik an der Oberschicht oder stellte wie im Falle der Erzählung von Zhong Kui eine unschwer als Kritik aufzufassende Verbindung der Mächtigen mit der Welt der Geister und Dämonen her, gelang es Wu Jingzi als einem der ersten, mittels nüchterner Darstellung verbreitete Schwächen wie die skrupellose Gier nach Erfolg, Reichtum und Rang bloßzustellen.1135 In dem wohl fälschlicherweise zu früh auf das Jahr 1736 datierten Kommentar zur »Wo xian caotang«-Ausgabe von 1803 hob der Verfasser mit dem Pseudonym »Alter Mann aus dem Studio der Müßigkeit« (Xianzhao laoren) in einem Kapitelkommentar bereits die dem Werk gebührende besondere Stellung in der chinesischen Erzählliteratur hervor, nachdem der Vorwortschreiber der Ausgabe von 1803 zuvor den Wert der alten und neueren Werke der fiktionalen Literatur mit den Hauptvertretern wie Drei Reiche, Die Reise in den Westen und Jin Ping Mei generell in Frage gestellt hatte.1136 Ich habe einst einem Freund gesagt, daß ein Gelehrter stets einen Grund haben solle, wenn er etwas schreibe. Vor allem sollte es ihm dabei um die Förderung der Moral unter den Menschen und in der Welt gehen. [...] Die fiktionale Literatur [baiguan] befaßt sich heute oft mit Beamten, die gezwungen werden, Räuber in Sümpfen zu werden [Hinweis auf Die Räuber]. Unser Buch hingegen ermutigt 1133
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Der Bearbeitung liegt hier die vollständige deutsche Übertragung zugrunde: WU JINGZI: Der Weg zu den weißen Wolken. Geschichten aus dem Gelehrtenwald, aus dem Chinesischen von YANG ENLIN und GERHARD SCHMITT. Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer 1962/1989, 2 Bde. Als chinesische Ausgabe wurde hinzugezogen WU JINGZI: Rulin waishi, Hongkong u.a.: Shangwu yinshuguan 1958. Zu dieser Beurteilung vgl. LU XUN: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung, S. 300. Vgl. zur literarischen Bearbeitung des Literaten-Themas auch STEPHEN JOHN RODDY: »Rulin waishi« and the Representation of Literati in Qing Fiction, Ph.D. an der Princeton University 1990. Zu den Zielen im Mittelpunkt der Satire vgl. das Nachwort von EVA MÜLLER zu Der Weg zu den weißen Wolken, Bd. 2, S. 418–432. Die Übersetzung des Vorworts findet sich in ROLSTON: How to Read the Chinese Novel, S. 249ff.
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Falsche Gelehrte und korrupte Beamte alle beherzten und selbstlosen Menschen, sich auf dem Schlachtfeld für die Belange des Reiches einzusetzen. Es ist wahr, wenn ein edler Mann ein Buch 1137 schreibt, wird er dadurch Unsterblichkeit erlangen.
Wesentliche Kulturgüter und Bräuche wurden von Wu Jingzi in seinem Werk auf den Prüfstand gehoben. Das Prüfungssystem gelangte ebenso in die Kritik wie der korrupte und heuchlerische Machtapparat. Doch nicht alleine das »System« wurde verantwortlich gemacht. Hinter einer Vielzahl von Übeln tauchte die »kranke«, unvollkommene Persönlichkeit auf, Typen wie der pietätlose Sohn, der falsche Gelehrte, der Scharlatan, der Einfältige – sie alle trugen die Möglichkeit, sich für das Gute, Wahre, Aufrechte zu entscheiden in sich. Freilich waren auch Wu Jingzi ähnlich wie den oben bereits genannten zeitgenössischen Kritikern vom Schlage Gu Yanwus oder Wang Fuzhis Grenzen gesetzt. Sein Blick, so klar er die Mängel der eigenen Zeit auch erkennt, ist bezüglich der angebotenen Lösungen rückwärtsgewandt und hält dem Leser das Ideal längst vergangener Zeiten vor. Wie wir im weiteren noch sehen werden, weisen Die Gelehrten ganz deutlich biographische Bezüge auf, so daß es sinnvoll ist, zunächst einen Blick auf die Person des Verfassers Wu Jingzi zu werfen.1138 Der junge Jingzi erblickte 1701 im Bezirk Quanjiao der Provinz Anhui am Nordufer des Yangtse das Licht der Welt. Ursprünglich der bäuerlichen Schicht entstammend, war es dem seit Generationen in der Gegend siedelnden Clan der Wu mit der Zeit gelungen, in die Elite der Gelehrtenschaft aufzusteigen. Der Höhepunkt dieses gesellschaftlichen Erfolges wurde im 17. Jahrhundert erreicht, als es gleich vier Familienangehörigen der Wus gelang, den begehrten Doktortitel des jinshi zu erlangen. Einer der erfolgreichsten dabei war Wu Guodui (1618–1680), Jingzis Großvater, der seine Doktorwürde in der frühen Mandschu-Zeit erhielt, aus den Palastprüfungen von 1658 als Drittbester hervorging und Mitglied der Hanlin-Akademie wurde. Die direkten Vorfahren Jingzis dagegen waren nicht mehr in demselben Maße erfolgreich, Vater Wu Linqi etwa bekleidete nur noch einen geringen Posten in der Beamtenhierarchie. 1137 1138
Übersetzt nach der englischen Fassung der Kapitelkommentare in ebd., S. 287. An originären chinesischen Quellen zur Biographie Wu Jingzis liegen eine ganze Reihe von Betrachtungen und Angaben chinesischer Zeitgenossen aus der Region, in der Wu lebte, vor. Auf die Darstellungen zur Person Wus in der westlichen Literatur wird neben der oben bereits zitierten Arbeit von ROPP: Dissent in Early Modern China, S. 59–88 in den folgenden Ausführungen hingewiesen. Neuere Publikationen der chinesischen Forschung liegen in dieser Hinsicht vor mit MENG XINGREN / MENG FANJING: Kritische Biographie zu Wu Jingzi (Wu Jingzi pingzhuan), He'nan: Zhongzhou guji 1987 sowie CHEN MEILIN: Kritische Biographie zu Wu Jingzi (Wu Jingzi pingzhuan), Nanjing: Nanjing daxue 1990. In China war es 1920 bzw. 1922 Hu Shi, der sich als einer der ersten Gelehrten der Moderne mit Wu Jingzi auseinandersetzte und biographische Daten zu seinem Leben zusammenstellte. (Vgl. HU SHI: »Wu Jingzizhuan«, in: Gesammelte Werke von Hu Shi [Hu Shi wencun], Shanghai: Yadong tushuguan 1921–1940, Bd. 1, juan 4, S. 225–235).
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Angesichts der Erfolge der Vorfahren läßt sich der spätere Roman Jingszis über die Gelehrten in vieler Hinsicht als »Entschuldigung« für sein diesbezügliches Versagen auffassen.1139 Stolz und wehmütig erinnerte sich Jingzi der glänzenden Stellung, die seine Vorfahren bekleideten, als er etwa 1733 in dem Gedicht »Abschied aus der Heimat« (Yijiafu) den Umzug von Quanjiao nach Nanking schilderte und von dem vergangenen Ruhm der Familie erzählte. Doch schon die frühe Jugend brachte Ortswechsel, so etwa, als der Vater einen kleinen Posten als Beamter in einem Kreis an der Küste von Jiangsu annahm, um erst 1722 als bereits kranker Mann wieder in die Heimat zurückzukehren und kurz nach Jingzis Erwerb des Bakkalaureus-Titels 1723 zu sterben. Die Gefühle des Jingzi, der den kranken Vater zurückläßt, um an den Prüfungen teilzunehmen, finden später Ausdruck in der Romangestalt Kuang Chaoren. Der Tod des Vaters bald darauf stellte den jungen Erben vor die neue Aufgabe, den Haushalt zu leiten, wenngleich eine reichliche Hinterlassenschaft ihn erst einmal der materiellen Not enthob. Machten ihm zunächst Gier und Neid anderer zu schaffen, so trug Wu Jingzi aufgrund seines verschwenderischen Lebensstils in dem Vergnügungsviertel am Qinhuai-Kanal von Nanking schließlich selber zu seinem finanziellen Ruin bei. Nur sechs Jahre nach dem Tod des Vaters hatte Jingzi das Familienvermögen größtenteils durchgebracht und war von Armut bedroht. In seiner Heimatstadt Quanjiao verlor er an Ansehen, wurde Gegenstand des Spotts, nicht besser ging es ihm in Nanking selbst, wo er in seinem Wohnbezirk bald als verrufene Person galt. Als Schmach wird Wu Jingzi nicht zuletzt den Verweis eines Beamten zur Begutachtung der Lebensführung von Lizentiaten empfunden haben, den man ihm 1729 wegen seines zur Schau gestellten Betragens erteilte. Es findet sich nirgendwo ein Hinweis darauf, ob Wu Jingzi sich in der Folge noch einmal aktiv darum bemühte, mittels Teilnahme an weiteren Prüfungen unter Umständen den Magistertitel zu erwerben oder ein Amt anzunehmen. Spätestens jedoch um die Zeit seines endgültigen Umzugs nach Nanking 1733 dürfte er die Entscheidung getroffen haben, an keiner weiteren Prüfung mehr teilzunehmen, ein Entschluß der Wu nicht leichtgefallen sein wird, seinem Blick auf die allgemeinen Übel im Umfeld der Prüfungsangelegenheiten aber erst die richtige Schärfe verliehen haben dürfte. Wenigstens in der inoffziellen Literatenwelt erwarb er sich eine gewissen Berühmtheit als Dichter und Gelehrter. Noch einmal bot sich ihm angesichts des in der Zwischenzeit erworbenen Ansehens 1736 die Möglichkeit zur Erlangung der Amtswürde, als Kaiser Qianlong landesweit in seinem ersten Regierungsjahr belesene Männer mittels einer Sonderprüfung der »Großen literarischen Gelehrsamkeit« (Boxue hongzi) für seine Dynastie zu gewinnen suchte und Wu Jingzi als Kandidat vorgeschlagen wurde. Jingzi legte eine Vorprüfung auf Provinzebene zwar erfolgreich ab, zog seine weitere Bewerbung jedoch dann mit Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit zurück. Der Vorgang wird in der Forschung unter1139
Zu dieser Auffassung gelangt WONG: Wu Ching-Tzu, S. 17.
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schiedlich bewertet. Während die Darstellung im Roman mit der Vortäuschung einer Krankheit des alter ego Du Shaoqing (Kap. 34) durchaus die Deutung zuläßt, daß Wu Jingzi tatsächlich ein Simulant war, belegen neuere Ergebnisse hinsichtlich der Biographie des Romanverfassers, daß er in der Tat an körperlichen Gebrechen litt, die seine Prüfungsteilnahme verhinderten.1140 Jedenfalls war Wus weiteres Leben gekennzeichnet von zunehmender materieller Armut, die er nur mit Hilfe literarischer Gelegenheitsarbeiten und Zuwendungen aus dem Freundeskreis lindern konnte. Die zahlreichen ernsthaften literarischen Arbeiten, die Wu neben seinem Roman vorlegte, zeugen von einer rastlosen Schaffensperiode. Bereits um 1740 publizierte er unter dem Titel Die Gebirgsklause von Wenmu (Wenmu shanfang ji) eine Sammlung seiner Lyrik, legte daneben aber auch eine längere, jedoch nicht erhaltene Abhandlung über Die Lieder (Shishuo) sowie Arbeiten zu Geschichtswerken wie den Aufzeichnungen des Großhistorikers bzw. den Annalen der Han (Hanshu) vor. Trotz der überlieferten Angriffe gegen Wu und Schmähungen seines Lebensstils, belegt das aus seiner Feder entstandene Œuvre, daß er durchaus kein undiszipliniertes, ausschweifendes Leben führte, sondern sich vielmehr in die Klassiker vertiefte und die konfuzianischen Werte verteidigte. Seinen Glauben an die konfuzianische Grundordnung gab Wu nicht auf. Dies kommt, wie wir sehen werden, vor allem in der Idealgestalt zu Beginn der Gelehrten zum Ausdruck. Und noch auf andere Weise kennzeichnet Wu Jingzi im Roman seine Verbindung mit der antiken Gelehrtenwelt. Nicht umsonst wird der chinesische Titel der Gelehrten auf die Ähnlichkeit zu den sogenannten »Gelehrtenbiographien« (Rulin liezhuan) hinweisen, d.h. jene Abteilung der chinesischen Chroniken, in denen die Biographien der Gelehrten festgehalten wurden, die sich um die Lehre des Konfuzius verdient gemacht hatten. Wu Jingzi starb überraschend 1754 in mittlerem Alter wohl in Folge eines Schlaganfalls, als er zu Besuch bei seinem Freund Cheng Jinfang (1718–1784) in Yangzhou weilte. Ein Trost mag Jingzi in vieler Hinsicht die Tatsache gewesen sein, daß Wu Lang, der älteste von vier Söhnen, eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn einschlug und seit Anfang der 50er Jahre im Großsekretariat von Peking arbeitete. Darüber hinaus war Wu Lang auch ein bekannter Mathematiker seiner Zeit. Seine Arbeit an den Gelehrten dürfte Wu Jingzi um 1736 begonnen und zwischen 1748 und 1750 beendet haben. Der Roman wurde posthum zwischen 1768 und 1779 von Wus Freund Jin Zhaoyan in Yangzhou veröffentlicht. Im Gegensatz zu vielen der anderen bekannten Romanen aus der Zeit der Ming und Qing sind die quellenhistorischen Probleme der Gelehrten verhältnismäßig gering. Weder wird an Wus Autorenschaft gezweifelt noch existieren stark voneinander abweichende Textversionen. Die einzige Frage, die der Wissenschaft bislang immer noch Rätsel 1140
Vgl. zu den diesbezüglichen Erörterungen ROLAND ALTENBURGER: Eremitische Konzepte und Figuren im Roman Rulin waishi. Eine intertextuelle Studie, Bochum: Brockmeyer 1994 (Chinathemen Bd. 84), S. 18.
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aufgibt, ist die nach der Zahl der Kapitel, die von Wu Jingzi selber angefertigt worden sind. So soll die heute leider nicht mehr vorliegende »Urversion«, die Jin Zhaoyan herausgab, einen Umfang von fünfzig Kapiteln besessen haben, und die Wissenschaft hat seither nichts unversucht gelassen, um aus dem überlieferten Textkorpus aufgrund von sprachlichen und stilistischen Analysen jenen Urtext aus der Hand Wus herauszuschälen.1141 Doch wenden wir uns nach diesen Vorbemerkungen endlich dem Roman selber zu und betrachten seine Struktur. Es fällt auf, daß Die Gelehrten bei der ersten Lektüre anders als eine Reihe weiterer Romane der Zeit wie etwa Der Traum der Roten Kammer oder Die Laterne an der Straßenkreuzung, die das Episodenhafte der früheren Werke bereits überwunden haben, eine überaus lockere Struktur besitzt, die das Werk zunächst als eine Folge nur lose miteinander verbundener Kurzgeschichten erscheinen läßt. Während sich die diesbezügliche Kritik der Literaturwissenschaft bis in die späte Qing-Zeit hinein in Grenzen hielt – griffen doch namhafte Autoren der Epoche wie Wu Woyao die Anregungen des Vorbildes für die auf ein umfassendes Gesellschaftsbild hin angelegten Entwürfe ihrer eigenen Romane auf – erweckten Die Gelehrten unter Kritikern der folgenden Zeit den Eindruck einer mangelhaften Komposition. Offenbar brachen Zeiten heran, in denen durchkomponiertere Werke mehr und mehr in Mode gerieten. Die Vorwürfe gegen Wu Jingzis Roman gipfelten in dem Argument, die darin geschilderte Handlung sei an jeder beliebigen Stelle abzubrechen bzw., metaphorischer gefaßt, das Werk gleiche einem Gewächs, welches Zweige, aber keinen Stamm besitze.1142 Dieser Eindruck wird bestätigt durch den Umstand, daß Die Gelehrten weder einen durchgehenden Handlungsstrang noch einen zentralen Helden besitzen. Keine der zahlreichen Gestalten ist vom Beginn bis zum Ende hin an dem Geschehen beteiligt. Äußerlich konzentrieren sich die meisten Kapitel auf eine Person bzw. eine Gruppe von Personen und führen dazu eine Reihe von Nebenfiguren auf, wodurch eine bestimmte soziale Situation entsteht. Stets folgt der Roman dabei einem thematischen Entwurf. Personen und Ereignisse sind in einer Weise zusammengefügt, die darauf abzielt, verschiedene Aspekte eines Themas zu beleuchten, was den Eindruck der Variationen eines Musikthemas hervorruft. Einzelne Episoden sind zu Zyklen zusammengefaßt, in denen wiederum Vorgänge miteinander kontrastiert, Figuren bzw. Figurengruppen nebeneinander- bzw. einander gegenübergestellt werden. Wu Jingzi entwickelt dabei in seinem Roman eine 1141
1142
S. die Angaben ebd., S. 21f. Zu den sprachlichen Besonderheiten des Romans vgl. u.a. ROLAND ALTENBURGER: Anredeverhalten in China um 1750. Soziolinguistische Untersuchungen am Roman Rulin waishi, Bern u.a.: Peter Lang 1997; DERS.: Eremitische Konzepte und Figuren im Roman Rulin waishi, S. 22f. sowie WONG: Wu Ching-Tzu, S. 127ff. Hier wird auf eine Sammlung von literaturwissenschaftlichen Aufsätzen aus dem Jahre 1918 abgehoben, vgl. SHUEN-FU LIN: »Ritual and Narrative Structure in Ju-Lin Wai-Shih«, in: ANDREW H. PLAKS (Hg.): Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton: Princeton UP 1977, S. 245.
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eigene Kompositions- und Erzählweise. Formelemente aus der mündlichen Erzähltradition wie die Kapiteleinleitungen, Überschriften in Parallelsätzen sowie formelhafte Wendungen an Kapitelanfang und -schluß werden beibehalten. Dagegen verzichtet Wu auf Verseinschübe, abgesehen von je einem Gedicht im ersten und letzten Kapitel. Auf die Verse in Parallelprosa, in denen die traditionelle Erzählkunst gerne verdichtende Szenen- und Ortsbeschreibungen zum Ausdruck brachte, wird bei den Gelehrten verzichtet. Vielmehr baut der Autor selbst längere Erzählpassagen gekonnt in die übrige Erzählung ein. Ein schönes Beispiel ist etwa die stimmungsvolle Beschreibung Nankings: Nanking wurde vom ersten der Ming-Kaiser zur Hauptstadt des Reiches auserkoren. Die innere Stadtmauer weist dreizehn, die äußere achtzehn Tore auf. Die Stadt mißt im Durchmesser fünf Meilen, man müßte mehr als fünfzehn Meilen zurücklegen, um die gesamte Außenmauer der Stadt zu umschreiten. In den Dutzenden von Hauptstraßen und in den Hunderten von Gassen wimmelt es von Menschen. Golden und in allen Farben glänzen Türme und Terrassen. Der Fluß, der sich mehr als eine Meile vom Ostwassertor bis zum Westwassertor durch die Stadt schlängelt, heißt Qinhuaihe. Wenn die Fluten steigen, tummeln sich Tag und Nacht prächtige Boote auf dem Fluß, und Flötentöne und Trommelwirbel erschallen. Innerhalb und außerhalb der Stadtmauern gleißen die azurnen Ziegel und die roten Sparren stattlicher Paläste und buddhistischer Tempel. In alter Zeit gab es hier vierhundertachtzig Tempel, inzwischen sind es mehr als viertausendachthundert geworden. An großen und kleinen Weinschenken in den Straßen und Gassen zählt man an die siebenhundert. Teehäuser wird es sicher mehr als tausend geben. Selbst wenn man in die entlegenste Gasse käme, fände man sicher noch eine Teestube, vor der ein Lampion baumelt. Frische Blumen duften in den Vasen, und in den Kesseln brodelt das klarste Regenwasser für den Tee. [...] Beim Schein des Mondes gleiten, wenn die Nacht schon tief vorgerückt ist, unter leisen Flötenklängen und getragenem Gesang Schiffe auf dem Fluß heran, und die Luft ist erfüllt mit feierlichen, weithin hörbaren, herzergreifenden Tönen. Die Mädchen in ihren leichten Seidengewändern, Jasminblüten im Haar, heben dann die Bambusvorhänge und lehnen so lauschend über die Geländer der Balkone am Ufer. Sobald der erste Trommelschlag von den erleuchteten Barken ertönt, werden die Vorhänge aufgerollt, und die Fenster öffnen sich. Die Weihrauchdüfte, die den Häusern am Fluß entschweben, vereinigen sich mit dem Mondenschimmer und dem Abendnebel über dem Wasserspiegel. Die Lauschenden kommen sich vor wie Götter aus dem Feenland oder wie Göttinnen im Nephritpalast des Westhimmels. Und dann gibt es noch sechzehn öffentliche Freudenhäuser, deren Dirnen in funkelnden Kleidern und in gleißendem Schmuck freundlich lächelnd die Reisenden aus allen Himmelsrichtungen empfangen. Unwillkürlich kommen einem, wenn man dies alles sieht, die Verse in den Sinn: »Morgen für Morgen Frühlingsfesttrubel, Nacht für 1143 Nacht Laternenfest«. 1143
Der Weg zu den weißen Wolken, Kap. 24, S. 442f.
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Doch die Fortschritte Wu Jingzis in der Erzähltechnik gehen weit über derartige formale Elemente hinaus. So enthält er sich weitgehend des kommentierenden Eingriffs und zieht es vor, gleich einem konfuzianischen Gelehrten die Tatsachen darzustellen bzw. Gespräche aufzuzeichnen und dem Leser die Deutung zu überlassen. In der Darstellungsweise äußert sich das etwa in der Verwendung lebhafter, individualisierender Dialoge. Die Technik des »Zeigens« hat gegenüber der traditionellen kommentierenden Schilderung den Vorteil, die Abneigung des Lesers gegenüber dem didaktischen Stil der Unterweisung zu neutralisieren. Der Roman ist auf Überzeugung mit Hilfe künstlerischer Mittel hin angelegt. Auf die charakterlichen Schwächen und Defizite der Handelnden wird im Text nicht explizit hingewiesen. Dies soll sich von selbst aus den präsentierten Fakten ergeben. Die Glaubwürdigkeit der Darstellung soll den Leser dazu bringen, sich selbst und sein Verhalten zu überprüfen. Auffallend ist dabei insgesamt, wie eng die Darstellung inhaltlich auf den Bereich des Beamtentums beschränkt wird. Trotz der angeführten strukturellen Lockerheit bleibt somit der Eindruck nicht aus, ein geschlossenes Gebilde vor sich zu haben, da allen Episoden der gleiche Gegensatz zugrundeliegt: nämlich der Unterschied zwischen dem wahren Gelehrten, dem »wahren Menschen«, welcher die überlieferten Werte verkörpert und den nur an Macht und Reichtum interessierten Männern. Dabei ergänzen und spiegeln die jeweiligen Episoden einander, eine Gestalt ruft die nächste hervor, so daß insgesamt ein differenziertes Bild der Zeit entsteht.1144 Bezogen auf seine gesamte Struktur läßt sich der Roman Die Gelehrten gut in drei größere Teile gliedern. Der erste umfassendere Abschnitt besteht dabei aus den Kapiteln zwei bis dreißig, in denen das Streben von Menschen nach Ruhm und Reichtum angeprangert wird. Abschnitt zwei besteht aus den Kapiteln einunddreißig bis siebenunddreißig und bildet gleichsam das »moralische Rückgrat« des Buches, versinnbildlicht am Tempelbau des Du Shaoqing und seiner Freunde. Der letzte größere Abschnitt von Kapitel siebenunddreißig bis vierundfünfzig beinhaltet eine Reihe unterschiedlicher Geschichten ohne erkennbare Gesamtstruktur. Einige davon passen zu den satirischen, didaktischen Motiven der Teile eins und zwei, andere wiederum entsprechen einer konventionelleren Auffassung.1145 Mit Hilfe der knappen zeitlichen Angaben, die dem Handlungsrahmen von Kapitel zwei bis vierundfünfzig beigegeben werden, läßt sich ein grobes Gerüst entwerfen, das die Zeit zwischen 1487 und 1595 umfaßt. Nicht nur von seinem Zeitbezug her, sondern auch inhaltlich davon abgehoben, ist die Geschichte um die Dichter- und Gelehrtengestalt Wang Mian (1287–1359) in Kapitel eins – dem hier kontrapunktisch zur Idealfigur erhobenen Mann, der unbeirrbar nach Wissen und Vervollkommnung strebt. 1144 1145
Vgl. das Nachwort von EVA MÜLLER zu Der Weg zu den weißen Wolken, Bd. 2, S. 425. Vgl. zu dieser Aufteilung C.T. HSIA: »Die Gelehrten«, in: DERS.: Der klassische chinesische Roman, S. 253.
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Da es zu weitschweifig und ermüdend wäre, die Problematik einer größeren Anzahl der etwa einhundertundachtzig im Roman auftauchenden Gestalten eingehender zu betrachten, wollen wir uns hier auf eine repräsentative Auswahl von Typen beschränken. Ohnehin ist die Gewichtung in der Darstellung, mit der die einzelnen Gestalten bedacht werden, unterschiedlich, was in einigen Fällen zum Entwurf einer regelrechten Biographie führt. Recht ausführlich ist etwa das Schicksal von Zhou Jin dokumentiert, auf den der Leser gleich zu Beginn des ersten großen Romanteils in Kapitel zwei stößt. Er wird uns zunächst als eine der »Verlierergestalten« präsentiert, von denen sich im Roman mehrere Beispiele finden. Obwohl mit seinen sechzig Jahren schon recht betagt, fristet Zhou ein karges Leben als Hauslehrer, da er nie über die dörflichen Vorexamina hinausgekommen ist und den Titel des Bakkalaureus entbehrt. Zhou Jin gibt sich gerade gegenüber wesentlich jüngeren Männern wie Mei Jiu bescheiden, die jedoch aufgrund ihres akademischen Status über ihm stehen. Dies führt mitunter zu Peinlichkeiten. Darüber hinaus neigt Zhou zu Naivität, Leichtgläubigkeit und einer gewissen Weltfremdheit. So verliert er angelegentlich des Anblick einer Prüfungszelle die Besinnung, als man ihm im Dorf den Abschied gegeben hat und er sich in der Provinzhauptstadt seinen Lebensunterhalt als Schreiber verdienen möchte. Zufällig anwesende Kaufleute haben Mitleid mit dem Mann und legen für einen Prüfungsplatz zusammen. Die Examina besteht Zhou Jin dann mit Glanz, legt in der Folge auch die kaiserlichen Prüfungen ab und bringt es am Ende bis zum Zensor, um schließlich Prüfungskommissar in Kanton zu werden. Aufstieg und Erfolg sind wie bei anderen Gestalten auch hier mit einem Charakterwandel verbunden. In der Hauptstadt Peking, wo Zhou Jin, wie wir aus einer Szene in Kapitel acht wissen, es bis zum Vizepräsidenten der Kaiserlichen Akademie gebracht hat, zeigt er keine Spur mehr von Bescheidenheit und weist Bittsteller brüsk ab. Mit Zhou Jins Biographie eng verbunden ist die des Fan Jin, auf den Zhou bei der Prüfungsabnahme in Kanton aufmerksam wird. In Wahrheit schon im mittleren Alter von vierundfünfzig, gibt sich Fan für dreißig aus, um sein zwanzigmaliges Scheitern bei den Prüfungen zu verdecken, das ihm die falsche Abfassung der Aufsätze eingebrockt hat. Auch Zhou Jin ist von der Lektüre des Essays, den Fan vorgelegt hat, nicht beeindruckt, nimmt ihn sich aber nach einer Weile noch einmal vor und findet am Ende so viel Gefallen daran, daß er eine gute Note daruntersetzt. Überglücklich begibt sich Fan Jin heim, muß sich aber von Schwiegervater Hu, einem Metzger, sogleich Vorhaltungen machen lassen, als dieser ihn zurechtweist, sich bloß nichts auf seinen Bakkalaureus einzubilden. Als Fan Metzger Hu schließlich um Geld für die Reise in die Stadt angeht, um das Provinzexamen abzulegen, gibt man ihm kurzerhand zu verstehen: »Willst du wieder deine Zeit mit solchem Unsinn vergeuden?« schrie ihn der Metzger an. »Du bildest dir wohl gar auf deinen Bakkalaureus etwas ein. Ha, dieser Frosch will wohl Schwanenfleisch fressen! Übrigens erzählen sich die
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Leute überall, du hättest deinen Bakkalaureus keineswegs deiner Aufsätze wegen bekommen, sondern der Kommissar hätte dich nur aus Mitleid, weil du schon so alt bist, nicht durchfallen lassen. Jetzt bist du so närrisch, dir einzubilden, du könntest Magister werden. All diese Magister sind Sterne am Himmel der Bildung. [...] Sie haben ein würdiges Aussehen und nicht wie du eine spitzmaulige, hohlwangige Fratze! Pinkle doch eine Pfütze und schau dir dein Spiegelbild an! Weder Fisch noch Fleisch! Und so ein häßlicher Wurm will Schwanenfleisch 1146 kosten!«
Metzger Hu heißt seinen Schwiegersohn, sich eine Stelle als Schreiber zu suchen, doch gelingt es Fan, Geld aufzutreiben und die Provinzprüfungen erfolgreich zu absolvieren. Als die frohe Botschaft vom Bestehen eintrifft, wird Fan Jin zunächst bewußtlos und verliert daraufhin am Ende gar den Verstand. »Ei, wie schön! Ich habe bestanden!« Dann stürzte er laut lachend davon, rannte zum Tor hinaus, zum nicht geringen Schrecken der Boten und der Nachbarn. Unweit des Hauses stolperte er und rutschte in den Dorfteich hinein. Als er wieder ans Ufer geklettert war, hingen ihm die Haare wirr ins Gesicht, seine Hände waren mit braunem Schlamm bedeckt und er war pudelnaß. Den Leuten gelang es nicht, ihn festzuhalten. Immerfort in die Hände klatschend und unter lautem Gelächter rannte er schnurstracks zum Markt. Dort erregte er das größte Auf1147 sehen [...]
Die Stelle ist eines der vielen Beispiele für die gelungene Absicht Wu Jingzis, seine fragwürdigen Helden mittels satirisch-humorvoller Schilderungen der Lächerlichkeit preiszugeben und auf der anekdotischen Ebene ein gutes Maß an Elementen einzufügen, die offensichtlich in der schlichten Absicht vorgelegt werden, zu unterhalten.1148 Die Informationen zu den einzelnen Protagonisten sind mitunter weit über den Text verstreut, was dem gesamten Werk einen homogenen Charakter verleiht. Ein Beispiel ist Xun Mei. In Kapitel zwei treffen wir das erste Mal auf ihn als sechsjährigen Knaben, von dem Wang Hui geträumt hat, daß er einst die Hauptstadtprüfungen bestehen wird. Schon in der nächsten Schilderung in Kapitel sieben hinterläßt Xun Mei einen ungünstigen Eindruck. Der Leser erfährt, daß Xun Mei nach bestandenen Prüfungen in der Hauptstadt Aussicht auf einen Beamtenposten hat, als ihn die Nachricht vom Tode der Mutter erreicht. Wang Hui rät, die Nachricht zu unterschlagen, um von der vorgeschriebenen Trauerzeit nicht am weiteren Aufstieg gehindert zu werden. Xun Mei beantragt daraufhin, die Trauerzeit aus1146 1147 1148
Ebd., Kap. 3, S. 57f. Ebd., S. 61. Vgl. dazu ausführlich ZBIGNIEW SLUPSKI: »Three Levels of Composition of the Rulin waishi«, in: HJAS, Bd. 49, Nr. 1, 1989, S. 5–53.
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zusetzen, was jedoch mit Blick auf das nur geringe Amt, das er erwarten kann, abgelehnt wird. Auch hier sprechen alleine die Tatsachen wieder für sich. Wie wir aus einem Kapitelkommentar zu der Szene erfahren, bediente sich Wu Jingzi eines traditionellen Schilderungsstils, den man im Altertum »Schilderung des Vorfalls ohne Bewertung« nannte.1149 Die Stelle belegt zudem Wu Jingzis Betonung der Rolle des li, also des Rituals und der Zeremonie, einer der Hauptwerte der konfuzianischen Ethik und als Mittel zur Regelung des Umgangs in der Gesellschaft eine wichtige Voraussetzung für Kultiviertheit schlechthin. Als Protagonist in direkter Schilderung taucht Xun Mei ab diesem Zeitpunkt nicht mehr auf. Der Leser erfährt in weiteren Kapiteln lediglich aus Erzählungen anderer etwas über die Gestalt. Wie vielschichtig das Bild ist, welches Wu Jingzi entwirft, zeigt der Umgang mit dem Einsiedlerthema, das bereits zu Beginn des Romans unter Bezug auf die Idealgestalt Wang Mians aufgeworfen wird.1150 Daß auch hier viel Scharlatanerie im Spiel ist, belegt das Beispiel der Gestalt des »Quan Wuyong« (Vollkommener Nichtsnutz). In seiner Belesenheit und Weisheit erinnert Quan zunächst an die Philosophen und Staatsmänner der Vergangenheit. Dennoch bleibt er anders als Wang Mian ein stilisierter Einsiedler, da ihm für den Rückzug ins Eremitentum der genaue ethische Kontext fehlt, der für den aufrichtigen Mann darin besteht, in chaotischen Zeiten bzw. in Zeiten politischer Wirren die Übernahme von Ämtern zu verweigern und damit seine eigene Integrität zu wahren. Nicht alle Figuren in den Gelehrten werden in einem derart negativen Licht dargestellt. Gerade in dem zweiten größeren Romanabschnitt, in dem es im wesentlichen um den Bau des Taibo-Tempels geht, trifft man auf eine Reihe positiver Gestalten. Da ist zunächst Du Shaoqing, Sohn des Präfekten von Ganzhou in der Provinz Jiangxi. Wichtige Eigenschaften, mit denen die Gestalt Dus umrissen wird – zum Beispiel der Hinweis auf ein reiches Erbe, das jedoch aufgrund der Unfähigkeit ordentlich zu wirtschaften, dahinschwindet – lassen hier wohl das alter ego Wu Jingzis selbst zum Vorschein kommen. Aufgrund seines verschwenderischen Lebensstils ist Du Shaoqing denn auch bald gezwungen, seinen Grundbesitz zu verkaufen und nach Nanking überzusiedeln. An einer Sonderprüfung für den Erwerb eines Amtsposten nimmt er zwar nicht teil, doch reift in ihm gemeinsam mit anderen Freunden der Plan, einen Tempel zu Ehren Wu Taibos zu bauen, 1149 1150
Vgl. ROLSTON: How to Read the Chinese Novel, S. 263. An Literatur zu dem Thema vgl. u.a. ALTENBURGER: Eremitische Konzepte und Figuren im Roman Rulin waishi, S. 6; vgl. außerdem VERVOORN: Men of the Cliffs and Caves: The Development of the Chinese Eremitic Tradition to the End of the Han Dynasty, Hongkong: Chinese University 1990; WOLFGANG BAUER: »The Hidden Hero: Creation and Disintegration of the Ideal of the Eremitism«, in: Individualism and Holism: Confucian and Taoist Values, D. MUNRO (Hg.), Ann Arbor: University of Michigan 1985, S. 157–197; FREDERICK W. MOTE: »Confucian Eremitism in the Yuan Period«, in: The Confucian Persuasion, ARTHUR F. WRIGHT (Hg.), Stanford: Stanford UP 1960, S. 202–240.
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einem Heiligen aus Nanking, der im vorchristlichen Jahrtausend lebte und sich – da ein jüngerer Bruder den Thron erhielt – in den Süden des Reiches absetzte, wo er die Gestalt eines Kulturspenders für die dortigen »unzivilisierten« Völkerschaften annahm. Tatsächlich finden sich auch hier Bezüge zur Biographie Wu Jingzis, von dem man aus zeitgenössischen Quellen weiß, daß er mit einem Tempelprojekt in Nanking befaßt war. Die Gruppe von Männern, die sich bei dem Projekt des Tempelbaus um Du Shaoqing zusammenfindet, besteht aus Chi Hengshan und Zhuang Shaoguang. Letzterer ist ein angesehener Gelehrter, der bei einer Gelegenheit zur Privataudienz beim Kaiser vorgelassen wird und später mit einem vorgelegten Memorandum beeindruckt. Doch eine amtliche Bestallung findet sich für ihn nicht, da er kein Palastexamen abgelegt hat. Zurückgezogen lebt er daraufhin am Yuanwu-See, den ihm der Kaiser geschenkt hat. Hier tritt er mit seinen Freunden in die Beratungen um den Tempelbau ein, dessen Fertigstellung eine große Feier folgt.1151 Was in dem dritten und letzten größeren Romanabschnitt folgt, sind einzelne Geschichten, die sich auf eine breitere Gesellschaft hin orientieren und nicht nur Gelehrtenschicksale umfassen. Der gewonnene Ausblick ist dabei jedoch ebensowenig verheißungsvoll wie zuvor. Kritik an Formen des Aberglaubens wie z.B. der Geomantie wird ebenso deutlich wie die Forderung nach Gesetzen. Die Vergeblichkeit aller weltlichen Mühen wird versinnbildlicht an dem Verfall des TaiboTempels, zu dem einige der befreundeten Bauherren einen Ausflug unternehmen. Mit einem Zeithinweis auf das Jahr 1595 endet der Roman, nicht ohne hervorzuheben, daß alle berühmten Gelehrten Nanking verlassen hätten und man dort kaum noch einen Weisen fände. Halb ernst, halb ironisch wendet sich der Autor vor seinem Schlußgedicht mit der Frage an den Leser, ob es in Zukunft noch einmal Gelehrte geben werde, die würdig seien, in eine Chronik aufgenommen zu werden. Ausnahmen sind lediglich vier Männer, die sich dem Streben nach einem Amt widersetzen. Ihre Eigenschaft als Hoffnungsträger verkörpern sie nicht zuletzt durch ihre Verbindung zu traditionellen Formen der chinesischen Kunst: Schach, Kalligraphie, Malerei und Musik. In den Versen selber werden in verdichteter Form sodann noch einmal der Wunsch nach Unabhängigkeit, der Wunsch nach Aufbruch in die Heimat, aber auch Enttäuschung und der Wunsch nach Entsagung zum Ausdruck gebracht. Wie wir im folgenden im Zusammenhang mit dem Roman zum Ende der QingDynastie sehen werden, hat Wu Jingzi vor allem mit seinem Thema und der szenenhaften Darstellung ganz erheblichen Einfluß auf spätere Generationen kritischer Schriftsteller und Verfasser von Werken wie Bürokraten, Kleine Geschichte der Zivilisation oder Eitles Geschwätz beim Sonnenbad ausgeübt. Doch bei diesem 1151
Vgl. zur Bedeutung der Szenen um den Bau des Taibo-Tempels in Kap. 33–37 WEI SHANG: »Ritual, Ritual Manuals, and the Crisis of the Confucian World: An Interpretation of Rulin Waishi«, in: HJAS, Vol. 58 (1998), S. 373–424.
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Einfluß blieb es nicht. Bis in die Zeit der Vierten-Mai-Bewegung von 1919 hinein blieb Wu Jingzis Werk auch als ein Beispiel von Bedeutung, das auf vorbildhafte Weise den Gebrauch unverfälschter Umgangssprache in der Literatur verkörperte und lange Zeit als Leitbild für den Prosastil im Roman diente.
2.2 Vom Beamten zum schonungslosen Kritiker seiner Zeit – Li Boyuan und sein Werk Den wenigsten herausragenden Schriftstellern zum Ende der Qing-Dynastie war es von Beginn an bestimmt, mit ihrem Werk eine karge Existenz als Kritiker ihrer Zeit zu fristen. Traditionell hatten die meisten Verfasser von Erzählliteratur in der Vergangenheit aus einer materiell mehr oder weniger gesicherten Position heraus geschrieben, doch daß sich jemand nahezu ausschließlich auf die Abfassung von Literatur verlegte, um damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, war wohl ein absolutes Novum. Es war das vom Patriotismus genährte Gefühl einer Verantwortung für die Lage des Landes, die Männer wie Li Boyuan einer möglichen Karriere im Beamtenapparat den Rücken kehren ließ, um sich vornehmlich der für China sehr spät kommenden »Aufklärung« zu widmen. Im Jahre 1867 wurde Li in Wujin, Provinz Jiangsu, geboren.1152 Da sein Vater früh verstarb, übernahm ein Onkel namens Li Nianzhi, welcher einige Jahre das Amt eines Präfekten innegehabt hatte, die Erziehung des Knaben. Später kaufte sich Li Boyuan den Posten eines Hilfsbeamten, weigerte sich jedoch, in dieser Funktion nach Shandong zu gehen und gelangte in der Folge nach Shanghai, wo er 1897 die Zeitschrift »Wortschnipsel« (Yuxibao) gründete und seine literarische Tätigkeit aufnahm, der er sich zumal nach der Ausschlagung eines Beamtenpostens in Hu'nan, welchen man ihm 1901 anbot, und einer nicht bestandenen Prüfung zum Magister voll und ganz widmete, bevor er 1906 in jungen Jahren starb.1153 Nur mit Mühe war es Li Boyuan zuvor noch gelungen, sich vor den Zensurmaßnahmen der Qing in die Konzessionsgebiete von Shanghai zu retten. Bereits 1900 hatte man stattliche zehntausend Tael Belohnung für die Ergreifung von Liang Qichao und Kang Youwei ausgesetzt und den Kauf sowie die Lektüre ihrer Schriften unter Strafe gestellt. Großkanzler Zhang Zhidong hatte 1903 die Maßnahmen mit der Anordnung zur Unterdrückung von Schriften mit »neuen« Inhalten 1152
1153
Li Boyuan ist neben diesem Namen auch als Li Baojia bzw. unter seinem Pseudonym »Hüter des Südlichen Pavillons« (Nanting tingzhang) bekannt. Frühe Schilderungen zur Biographie Li Boyuans gehen auf einen Nachruf Wu Woyaos sowie Darstellungen bei Lu Xun, Hu Shi und Gu Jiegang zurück. Spätestens seit den siebziger Jahren fand die Gestalt Lis jedoch auch in der westlichen Sinologie stärkere Beachtung, wie die entsprechende Literatur zu Person und Werk belegt. Zum biographischen Hintergrund vgl. insbesondere DOUGLAS LANCASHIRE: Li Po-Yuan, Boston: Twayne Publishers 1981.
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noch verschärft, so daß man auch nach Li Boyuan zu fahnden begann, der sich 1900 bereits mit seiner tanci-Dichtung über den Boxeraufstand »Ballade über die Rebellion aus dem Jahre gengzi (1900)« einen Namen gemacht hatte. Daneben befaßte sich Li aber auch mit heiklen Themen, wie das ihm zugeschriebene Werk Li Lianying, das sich mit dem Lieblingseunuchen der Kaiserinwitwe Cixi befaßt, belegt. Seinen literarischen Ruhm in der Nachwelt gründet Li Boyuan freilich auf sein Opus Die Bürokraten (Guanchang xianxingji), das mit sechzig von ursprünglich geplanten einhundertzwanzig Kapiteln allerdings unvollendet blieb und seit 1903 nach und nach in der Zeitschrift »Shanghaier Jahrhundertblüte« (Shanghai shiji fanhuabao) erschien, bis 1906 eine Buchversion herauskam. Li Boyuan nutzte jedoch die Publikationsmöglichkeiten, die sich in Japan boten und veröffentlichte unter dem Autorennamen Nihon Yoshida Taro 1903 eine Teilausgabe des Werks in der japanischen Zeitung »Riben Zhixinshe«. In dem der Ausgabe beigefügten Vorwort Ouyang Juyuans, einem Freund und Mitarbeiter Lis, der nach dessen Tod auch einen letzten Romanabschnitt fertigstellte, kommen bereits die wesentlichen Anliegen des Buches zum Ausdruck: Wer im Reiche gehaßt wird, sind keine anderen als Räuber und Diebe. Räuber und Diebe aber sind nur zeitweilig da, die Beamten dagegen ständig. Wer im Reiche verachtet wird, ist niemand anderes als der Feind. Feinde stehen im Licht der Öffentlichkeit, die Beamten hingegen im Dunkel. [...] Ist der Staat schwach, sind die Beamten stark, ist der Staat arm, sind die Beamten reich; die alten Tugenden Pietät, Brüderlichkeit, Loyalität und Aufrichtigkeit sind durch die Beamten zerstört worden. Die Traditionen der Sitte, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Schamgefühl sind durch die Hand der Beamten verdorben. So ist es nicht das Ergebnis eines Morgens und eines Abends, sondern es ist ganz allmählich dazu gekommen, daß die Beamten von ihren Mitmenschen als Schande be1154 trachtet und verachtet werden.
Die Hauptklagepunkte in Bürokraten wie Mißstände im Prüfungswesen, Ämterkauf, Korruption, Fehljustiz etc. sind den Themen nicht unähnlich, wie wir sie bereits in den Gelehrten angetroffen haben, dem Werk, dessen »Dominostruktur« auch den vorliegenden Roman aus der Feder Li Boyuans in seinem Aufbau inspiriert hat. Darüber hinaus finden sich vor dem Hintergrund der Zeit jedoch auch speziellere Aspekte wie die Terrorisierung des Volkes durch Beamte, die Kriecherei vor den Ausländern etc. Die Einheitlichkeit der Romanstruktur mag angesichts der unerschöpflichen Zahl von Szenen, die sich um die mehr als achthundert Personen im Werk entwickeln, womöglich gelitten haben, doch dürfte die Kritik Hu Shis, Bürokraten stellte lediglich eine »Zusammenstellung von Klatschgeschichten« 1154
Zit. nach CHRISTEL RUH: Das »Kuan-Ch'ang Hsien-Hsing Chi« – Ein Beispiel für den »Politischen Roman« der ausgehenden Ch'ing-Zeit, Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1974, S. 19.
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dar, überzogen sein. Dennoch darf nicht geleugnet werden, daß Li Boyuan bei der Abfassung statt auf die eigene Anschauung weitgehend auf Presseberichte und in der Bevölkerung kursierende Gerüchte zurückgriff. Dementsprechend lassen sich hinter einer Reihe von Romangestalten tatsächliche historische Persönlichkeiten nachweisen, wenngleich damit nicht der Status eines Schlüsselromans wie im Falle von Zeng Pus Blume erreicht wird.1155 Der Vorwurf, Bürokraten besitze weder einen Plan, noch sei keine Gestalt im Roman wirklich ausgeprägt, wird wohl auf eine ganze Reihe ähnlicher Panoramawerke aus der Zeit zutreffen. Schon gewichtiger könnte demnach Lu Xuns und Hu Shis Kritik sein, Li Boyuan berichte nur Negatives, es finde sich kein einziger guter Mensch im Roman, überhaupt glichen alle Figuren lediglich »einem Haufen gieriger Hunde, die in allen Tonarten bellen.«1156 Wie sich jedoch aus einem Vorwortabschnitt Ouyang Juyuans folgern läßt, hatte Li anscheinend ursprünglich in dem nicht mehr fertiggestellten Romanteil versuchen wollen, Beamte zu schildern, die ihrer Arbeit aufrichtig nachgehen und den Staat ordentlich verwalten.1157 Vermutlich sah Li Boyuan aufgrund der so umfassenden Probleme seiner Zeit gar keine andere Möglichkeit, als die wichtigsten Gebiete in einem Panoramabild anzusprechen. Sein 1904 erschienener und mit zwölf Kapiteln ebenfalls unvollendet gebliebener Roman Die derzeitige Lage Chinas (Zhongguo xianzaiji), der die korrupten Tendenzen der Beamtenschaft und des Klerus an Orten wie Shaoxing, Changzhou und Shandong beschreibt, ist ein weiteres Beispiel für diese Technik. Will man angesichts der Vielfältigkeit der geschilderten Aspekte dennoch eine grundlegende Intention in dem für ein »Fragment« überaus umfangreichen Roman Bürokraten erkennen, so dürfte sie am ehesten darin bestehen, die Beamtenschaft mittels des Wechsels von Ironie, Spott und banalem Witz lächerlich zu machen. Zudem wird durch den Entwurf einer Anzahl von thematischen Zyklen mit jeweils einem bestimmten Beamtentypus eine gewissen Einheitlichkeit im Werk hergestellt. Das Bild wird abgerundet durch den Umstand, daß ähnliche Phänomene im ganzen Land auftreten und ebenso in Shandong anzutreffen sind wie in Shanghai, Hangzhou, Kaifeng, Peking oder Nanking, um nur einige der Orte zu nennen, an denen die Handlung spielt. Wie logisch Li Boyuan dabei seine Sicht präsentiert, belegt ein Abschnitt im ersten Kapitel, wo einführend eine Charakterisierung der Beamtenschaft vorgenommen wird. Ort der Handlung ist ein kleiner Kreis in der Präfektur Tongzhou von Shanxi. Im Dorf herrscht Aufregung, da bekannt geworden ist, daß der junge Zhao Wen die Prüfungen zum Magister bestanden hat. Herr 1155
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Als erster hat Hu Shi die entsprechenden Nachweise vorgenommen und etwa herausgefunden, daß der Obereunuch Hei Dashu eben Li Lianying, Lieblingseunuch der Cixi ist und es sich bei Großsekretär Hua Zhongtang um Rong Lu (1836–1903), einen Vertrauten der Kaiserinwitwe handelt. (Vgl. Materialsammlung von Werken des Hu Shi [Hu Shi wencun], Bd. 3 bzw. hier nach RUH: Das »Kuan-Ch'ang Hsien-Hsing Chi«, S. 25.) Ebd., S. 30. Ebd., S. 20f.
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Fang, der mit der Familie Zhao in Verwandtschaftsbeziehungen treten will, ist ganz benommen vom Erfolg des Zhao Wen, so daß man seinen Sohn Lao San endlich auch heißt, sich den Prüfungen zu unterziehen. Wang Ren, ein Freund der Familie, bringt dem einfältigen Burschen die Vorteile des Beamten näher. Wang Ren zog Lao San an der Hand zu sich heran und sagte zu ihm: »Du weißt hoffentlich, warum sich dein Vater heute in solch einem bedenklichen Zustand befindet, oder?« »Keine Ahnung«, erwiderte Lao San. »Nun, ganz einfach, wegen dir!« »Wieso wegen mir?« »Hast du nicht gehört, daß Zhao Wen heute die Nachricht über die bestandene Prüfung zum Magister erhalten hat?« »Na und, was hat das mit mir zu tun?« »Du siehst das zu einfach«, sagte Wang Ren, »natürlich hat das direkt nichts mit dir zu tun, wenn jemand die Prüfungen zum Magister besteht. Deinem Vater hingegen gibt das schon zu denken.« »Was hat das wieder mit mir zu tun, wenn etwas Vater zu denken gibt?« wollte Lao San wissen. »Siehst du, gerade diese Auffassung ist falsch.« »Was ist falsch?« »Du bist der einzige Sohn deines Vaters, verständlich, daß er sich wünscht, du mögest fleißig sein und in deinem Studium vorankommen, um einmal so erfolgreich zu sein wie Zhao Wen und vielleicht gar Magister zu werden.« »Und was habe ich vom Titel eines Magisters?« »Nun, wenn man einmal Magister ist, sieht man zu, daß man auch noch den Doktortitel erringt und sich einen Posten in der Hanlin-Akademie verschafft. Das bringt eine Menge Vorteile.« »Und welche sind das nun wieder?« »Ganz einfach: Wer Mitglied der Hanlin-Akademie ist, schaut, daß er sich einen hohen Beamtenposten ergattert und damit richtig Geld macht. Wer womöglich das Amt eines Richters erlangt, der verhängt Prügelstrafen und läßt seine Ankunft beim Rundgang durch die Stadt von eigenen Trommlern verkünden. Aber bitte, diese Privilegien sind nur durch ein fleißiges Studium zu erreichen, und ohne einen Magistertitel spielt sich schon gar nichts ab.« Lao San war zwar noch ein junger, einfältiger Kerl, doch als er vernahm, daß man als Beamter Geld verdienen könne, beschäftigte ihn das schon. Schweigend grübelte er einen Augenblick, bevor er sich plötzlich mit einer Frage an Wang Ren wandte: »Meister, jetzt sagt mir nur eins: Ihr seid doch selbst Magister, warum habt Ihr nicht auch den Doktortitel errungen und euch einen Beamten1158 posten verschafft?« 1158
Bearbeitung und Übersetzung erfolgte nach der Ausgabe LI BOYUAN: Guanchang xianxingji, Peking: Renmin wenxue 1985, hier Kap. 1, S. 4f. Die deutsche Fassung in 45 Kap. erschien unter dem Titel LI BOYUAN: Das Haus zum gemeinsamen Glück, übersetzt von
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So berechtigt die Frage ist, mutet sie dennoch derart frech an, daß Lao San sich kräftige Schelte gefallen lassen muß. Wie sich bald herausstellt, hat freilich auch Zhao Wen mit dem Magister den Gipfel der eigenen Gelehrsamkeit erreicht, scheitert er doch bei der folgenden Doktorprüfung. Schildert der Dialog zu Beginn noch die zweifelhaften Vorzüge des Beamtenpostens, so schließt Li Boyuan am Ende sein Resümee zur chinesischen Bürokratie mit einem vernichtenden Urteil über die Minister in einer direkten Ansprache an den Leser ab: Wie Sie wissen, verehrter Leser, verhält es sich mit den chinesischen Ministern folgendermaßen: Der Weg an die Spitze eines Ministeramtes ist lang und beschwerlich. Bis jemand den roten Ministerknopf an seiner Kappe tragen kann, ist sein Bart meist weiß, sind die Ohren taub. Alle Kraft und Ausdauer haben sie bei dem beschwerlichen Aufstieg verbraucht. Den letzten Rest an Energie büßen sie nun ein, wenn sie selbst in hohem Alter Tag für Tag frühmorgens an den Hof eilen müssen und es Mittag wird, bis die Audienz beendet ist. Wer wollte es den Ministern verdenken, wenn sie es angesichts ihres aufreibenden Berufes mit der Arbeit nicht mehr so genau nehmen. Je weniger sie sich um die Amtsgeschäfte kümmern, desto mehr Zeit bleibt, zu ruhen und sich zu pflegen. Einem Minister noch einen einzigen Satz zu entlocken, bevor er wieder zu Kräften gelangt ist, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Ganz gleich auch, wie eine Sache ausgeht, stets handelt ein Minister nur nach dem einen Grundsatz: Hauptsache es geschieht nicht in meinem Amtsbereich und niemand belangt 1159 mich.
Die erste ausführlichere Episode im Roman handelt von Tao Ziyao, einem Beamten, der zum Kauf von Maschinen nach Shanghai gesandt wird. Wir begegnen Tao in den Kapiteln sieben bis elf, wobei sein Schicksal tragikomisch anmutet: Durch einen geschickten Trick an einen Posten gelangt, beginnt Tao alsbald zu trinken und Bordelle zu besuchen, wo er schließlich die »Neue Schwägerin« kennenlernt, welche ihn nach allen Regeln der Kunst ausnimmt. Zwischen dem Paar entspannt sich an einer Stelle ein interessanter Dialog, der den Beamten und die Prostituierte als gar nicht so wesensfremd erscheinen läßt. Tao und die Neue Schwägerin begannen angeregt miteinander zu plaudern. »Wir Beamte«, brüstete sich Tao Ziyao, »kommen viel herum. Heute sind wir hier, morgen dort. Wohin man uns schickt, darüber befinden wir selber nicht, wir sind und bleiben die Diener fremder Herren.« »Aha«, erwiderte die Neue Schwägerin. »Dann haben Sie als Beamter etwas gemeinsam mit den Bordsteinschwalben.«
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MARIANNE LIEBERMANN und WERNER BETTIN, mit einem Nachwort von WERNER BETTIN, Berlin: Rütten & Loening 1964. Ebd., Kap. 58, S. 1024.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Tao Ziyao begriff nicht sogleich und erkundigte sich, worum es sich bei den »Bordsteinschwalben« handele. Als er erfuhr, daß damit die »Fräulein in den Freudenhäusern« gemeint waren, unterbrach er die Neue Schwägerin und rief mit empörter Stimme: »Unmöglich, diese Bezeichnung. Wir nennen die Töchter aus vornehmen Häusern ›Fräulein‹. Die Frauen in den Bordellen sind einfach ›Mädchen‹.« »In Shanghai sagen wir jedenfalls ›Fräulein‹«, insistierte die Neue Schwägerin, »und die Besucher in den Bordellen heißen bei uns ›Herr‹.« »Wie geht das an?« fuhr Tao Ziyao auf. »Kommst du mir schon wieder mit derartigen Seltsamkeiten. Die Bezeichnung ›Herr‹ benutzen wir nur für die Ausländer, keinesfalls jedoch für die Besucher der Bordelle.« Spätestens jetzt hatte die Neue Schwägerin erkannt, daß ihr Gast sich nicht sonderlich gut in dem Gewerbe auskannte. Sie lachte und sagte: »Laßt gut sein, ganz gleich, ob ›Fräulein‹ oder ›Herr‹, die Mädchen verkaufen ihren Körper, um Geld zu verdienen und Schulden zu bezahlen, sind also nicht mehr ihr eigener Herr. Über Sie als Beamten verfügen auch andere, was ist da der Unterschied zu den Freudenmädchen?« »Unsinn«, schimpfte Tao Ziyao, »wir Beamte kaufen unsere Posten für Geld. Wir verkaufen doch nicht unseren Leib wie ihr. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Das kann man beim besten Willen nicht vergleichen.« Während er 1160 sprach, hatte Taos Gesicht einen säuerlichen Ausdruck angenommen.
Mit vollen Händen gibt Tao das ihm für die Durchführung der Geschäfte anvertraute Geld aus und kann sich, als seine Vorgesetzten den Betrag schließlich einfordern, nur mit Hilfe von Freunden retten. Mit dem Hinweis, den Leser mit weiteren Berichten über das Treiben Taos nicht zu ermüden, bricht der Verfasser die Ausführungen zu ihm ab. Die Selbstcharakterisierung der Gestalten im Roman wird durch die von Li gewählte Dialogform besonders eindringlich. Die beiden vorstehend zitierten Passagen mögen hier als Beispiel für diese Form der »Handlungsepisode« dienen.1161 Daß er daneben jedoch auch mit erzählerischen Mitteln in der Lage ist ein Setting zu schaffen, in dem die Schwächen der Beamten sichtbar werden, belegt die folgende Episode. Im Mittelpunkt steht diesmal eine Figur aus dem Militärapparat: Oberst Hu Hua ist von Gouverneur Dai beauftragt worden, in Yanzhou, Provinz Zhejiang, nach dem Rechten zu sehen, wo angeblich Banditen ihr Unwesen treiben. Ohne große Hast reist Oberst Hu daraufhin mit dem Schiff in das »Kampfgebiet«. Zur Stärkung der Moral sind Freudenmädchen an Bord, mittels umständlicher Vorbereitungen wird ein günstiger Tag zur Aufnahme des Kampfes abgewartet. Nachdem sich die meisten Teilnehmer bei der Ankunft in Yanzhou ohnehin im 1160 1161
Ebd., Kap. 7, S. 114. Der Terminus findet sich bei DONALD HOLOCH: »A Novel of Setting: The Bureaucrats«, in: D2/(ä(/29È-VELINGEROVÁ: The Chinese Novel at the Turn of the Century, S. 77.
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Opiumrausch befinden, scheint niemand traurig darüber, als die Nachricht eintrifft, es existierten gar keine Banditen. Um die Mission dennoch nicht sinnlos erscheinen zu lassen und Nutzen aus der Anwesenheit am Ort zu schlagen, wird Hu nun geraten, sich in der Stadt unter dem Vorwand festzusetzen, in den umliegenden Bergen nach Räubern zu suchen. In einem wenig heroisch anmutenden »Feldzug« tritt man alsbald dem angeblichen »Feind« entgegen. Sie waren bereits geraume Zeit unterwegs, überall schien die Lage ruhig, und Oberst Hu war in seiner Sänfte eingenickt. Die Stadt lag schon ein gutes Stück hinter ihnen, als sie die ersten Dörfer erreichten. Hu stieg aus der Sänfte und überzeugte sich selber davon, daß nirgendwo Banditen vorhanden waren. Dennoch, Dorfbewohner sind nun mal ein einfältiges Volk: Der ungewöhnliche Anblick der Truppen versetzte sie in Furcht, ängstlich zogen sie sich in ihre Häuser zurück und warteten, bis Hu und seine Truppen abgezogen waren. Schon der Anblick der Pferde ließ sie das Weite suchen, so daß bald nirgendwo mehr ein Bewohner zu sehen war. Als sich Oberst Hu nach dem Zug durch mehrere Dörfer überall das gleiche Bild verlassener Ortschaften bot, kam ihm mit einem Mal der Verdacht, daß es sich um aufgegebene Schlupfwinkel der Banditen handeln könne. Kaum war daher die Hauptstreitmacht eingetroffen, hatte ein großer Teil der Bewohner das Weite gesucht. Hu gab Anweisung, die Hütten abzubrennen. Die Nachricht war soeben an die einzelnen Truppenteile weitergegeben worden, als auch schon unzählige Soldaten damit begannen, die Häuser zu durchkämmen und vereinzelt Frauen und Kinder aus ihren Verstecken hervorzuzerren. Hu erteilte Befehl, daß die Truppen rigoros gegen jedes Gesindel vorzugehen hätten, im übrigen aber Ordnung halten sollten, so daß Hauptmann Zhou bemüht war, die Durchführung der Befehle sicherzustellen. Sodann ordnete Oberst Hu an, die gefangenen Dorfbewohner hinter seiner Sänfte herziehen zu lassen und in der Stadt einem Verhör zu unterwerfen, um weitere Maßnahmen zu ergreifen. Er hatte gerade die notwendigen Anweisungen erteilt, als etwas weiter vorne ein Feuer ausbrach. Im Nu traten die Truppen der Vorhut in Aktion und fielen plündernd über die Häuser her. Innerhalb kürzester Zeit war das Dorf dem Erdboden gleichgemacht, es kam zu Brandschatzungen, Vergewaltigungen und anderen schrecklichen Verbrechen. Jedes Eingreifen von Oberst Hu kam zu spät. Noch einmal ordnete er an, die Dörfer der Gegend in einem weiten Umkreis zu durchkämmen, und als er sah, daß sich ihnen kein Feind entgegenstellte, nahm er an, einen großen Sieg errungen zu haben. Bei der Rückkehr nach Yanzhou ordnete er daher an, die Truppen in Reih und Glied Aufstellung nehmen und trommelwirbelnd durch das Stadttor ziehen zu lassen. Schon etliche Meilen vor der Stadt eilten ihm der örtliche Präfekt, der Kreisvorsteher und zahlreiche Honoratioren zur Begrüßung entgegen, so daß er sich vorkam wie der Heeresmarschall bei der Rückeroberung Nankings von den aufständischen Taiping1162 Rebellen. 1162
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Die Freude über den »Sieg« währt freilich nur kurz. Dorfvorsteher erzählen von aufgebrachten Dorfbewohnern, die von den Übergriffen der Regierungstruppen Bericht erstattet haben. Während Oberst Hu am Ende sein Amtsschiff besteigt, versammelt sich eine Menge am Ufer, man weist weinend auf das Schiff. Für einen Moment kommt der Eindruck einer rührenden Abschiedsszene auf, doch dann vertreiben Soldaten die Menschen mit Stöcken und Peitschen. Stimmenfetzen dringen herüber: »Die räuberischen Regierungstruppen, sie haben uns Kummer und Leid zugefügt.« Hu vernimmt deutlich, was man ihm entgegenwirft, tut aber, als habe er nichts gehört und setzt sich mit dem Schiff in Bewegung. Der Kreis schließt sich zum Ende dieser Episode von acht Kapiteln: Der Oberst, der kam, um nach Räubern zu suchen, ist nun selber einer. Die in dem oben übersetzten Abschnitt deutlich gewordene Einbeziehung der Verfassung auf dem flachen Land und in den Dörfern – ein Aspekt, der in den meisten frühen Erzählwerken der chinesischen Literatur wenig gewürdigt wird – rundet das komplexe Bild der chinesischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende ab. Angedeutet werden soll der umfassende Wandel, in dem sich das gesamte Land befindet. Der Charakter des einzelnen Protagonisten selbst bzw. seine Entwicklung tritt zurück gegenüber dem Bild, das sich aus den vielen einzelnen Mosaiksteinen der Handlungen einzelner Personen gleich welcher Stellung und an welchem Ort ergibt. Dieser Stil macht ein bewertendes Kommentieren des Verfassers zwar weitgehend überflüssig, doch ganz vermag auch Li Boyuan nicht auf Kommentare verzichten, so etwa, wenn er an zahlreichen Stellen mit dem tadelnden Einwurf: »Ein Beamter nimmt die Mühen einer Reise von tausend Meilen auch nur deshalb auf sich, weil Reichtum winkt.« (Qian li wei guan zhi wei cai) die Bürokratie aufs Korn nimmt. Die mehr oder weniger knappen Episoden, die wie im vorstehenden Fall mit der Abreise Oberst Hus zu einem Abschluß gebracht worden sind, lassen sich ohne weiteres an anderer Stelle in der einen oder anderen Form wieder aufgreifen. So wird weiter unten im Text etwa von dem Zensor Tong Ziliang berichtet, den man von Peking aus in den Süden des Landes schickt, wo er in Wuhu den Fall des Gouverneurs von Anhui, Jiang Yuzhai, untersuchen soll, welcher derart rigoros gegen Banditen vorgegangen sein soll, daß auch die Bevölkerung darüber in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Obwohl der Befehl zum Massaker ganz eindeutig auf Jiang zurückgeht, entzieht er sich nach Bekanntwerden der Klage jeder Verantwortung, indem er seine Kommandanten Huang, Hu und Gai als Täter angibt. Damit ist klar, wie sich im Falle einer Überprüfung auch Oberst Hu aus dem oben angeführten Abschnitt aus der Affäre ziehen würde. Die überwiegende Zahl der Figuren in Bürokraten entstammt dem heimischen Beamtentum bzw. dem Militär. Im Mittelpunkt stehen die kriecherische Anbiederung zur Erlangung eines Postens, Unregelmäßigkeiten bei den Yamen-Geschäften, Verschwendung und Bestechlichkeit sowie die Unterdrückung der Bevölkerung durch amtliche Willkür. Die Auseinandersetzung mit dem Ausland ist zu Beginn des Romans eher ein peripheres Thema, der Ausländer spielt eine untergeordnete
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Rolle und dient in seiner Romangestalt vielmehr als Katalysator, wenn etwa Tao Ziyao beim Maschinenkauf in Shanghai von Fremden übers Ohr gehauen wird. Li Boyuan mag wohl geahnt haben, daß sein umfangreiches Katastrophenszenario über die innerchinesischen Zustände unvollständig geblieben wäre, hätte er nicht auch die Gefahr aufgezeigt, die sich für das Reich in seiner Gesamtheit etwa durch den Verlust der Souveränität ergab. Folgerichtig lenkt er wie im nachstehenden Gespräch zwischen einigen hochstehenden Persönlichkeiten die Aufmerksamkeit des Lesers zu Ende des Romans auf das Thema des »Ausverkaufs« Chinas. »Ein guter Teil des Reiches ist schon in der Gewalt des Auslands. Andere Gebiete haben die Fremden zwar noch nicht direkt unter ihre Kontrolle gebracht, doch geben sie dort zumindest den Ton an. Nehmen wir zum Beispiel einmal die Lage bei uns hier in der Gegend des Yangtse-Deltas. Der neue Militärgouverneur wird auch bald das letzte Fleckchen Land an die Ausländer verkauft haben.« »Unmöglich«, sagte Herr Lao. »Und wenn schon, ganz gleich, wem das Land hier entlang des Yangtse gehört und welcher Kaiser darüber herrscht – auf das Volk kann niemand verzichten. Wir brauchen uns nur still und ruhig zu verhalten, dann wird man uns schon annehmen.« »Sehr richtig, was der ehrenwerte Herr Lao da sagt«, pflichtete ihm Mei Yangren bei. »Aber nicht nur das einfache Volk braucht sich nicht zu sorgen, auch wir Beamten werden nichts zu befürchten haben. Wenn die Ausländer irgendwann wirklich einmal unser Gebiet hier in ihren Besitz gebracht haben, werden sie auf unsere Kräfte in der Verwaltung nicht verzichten wollen. Wer sonst könnte ihnen denn helfen, über das Volk zu herrschen? Deshalb keine Bange. Laßt sie ruhig das Land besetzen, uns Beamte kümmert das nicht. Stimmt’s oder habe ich recht, verehrter Herr Lao?« »Aber sicher doch, Sie sprechen mir aus der Seele!« stimmte ihm Herr Lao eifrig bei. [...] »Herr Lao, ich sehe da nur ein Problem«, wandte Mei Yangren nach einer Weile ein. »Wie verhalten wir uns gegenüber unserem Militärgouverneur, wenn die Gegend einmal ganz in der Hand der Ausländer ist? Sie wissen, es ist mit ihm nicht ganz einfach. Kaum war er damals in sein Amt eingeführt, da habe ich mir gleich einen Rüffel eingehandelt. Mittlerweile gehöre ich zwar schon eine Zeitlang zu seinem Stab, doch ich werde den Eindruck nicht los, daß er keine gute Meinung von mir hat. Sagen Sie doch selber, wir Leute in abhängigen Stellungen haben ein hartes Los.« Herr Lao hatte bis hierher geredet, als ihm Herr Feng ins Wort fiel. Schweigend hatte er die ganze Zeit über dem Gespräch gelauscht. Angewidert von dem leichtfertigen Gerede bemerkte er nun spöttisch: »Da machen Sie sich mal keine Sorgen, verehrter Herr Mei. Wenn die Ausländer erst einmal vollkommen das Sagen haben, sind Sie so gut wie aus dem Schneider. Jetzt haben Sie zwar noch Vorgesetzte, doch im Ausland legt man Wert auf Gleichberechtigung, da gibt es unter den Kollegen keine Bezeichnungen mehr wie ›Exzellenz‹ oder ›Meine Wenigkeit‹. Als Beamte sind Sie dann dem Ausländer an der Spitze gleichgestellt. Einziger Vorgesetzter bleibt womöglich nur noch ein fremdländischer Souverän,
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT doch der hat Ihnen genausowenig zu sagen wie Sie ihm. Worüber sich also noch 1163 Sorgen machen!«
Der Roman schließt in Kapitel sechzig mit dem apokalyptischen Traum des Herrn Zhen. Noch einmal analysiert Li Boyuan Staat und Gesellschaft Chinas, faßt die Hauptideen des Werks zusammen. Die wilden Tiere, von denen Zhen träumt, symbolisieren die chinesische Beamtenschaft, achtzehn Stufen eines Hauses stehen für die entsprechende Zahl von Provinzen des Reiches. Ein Buch zur Rettung Chinas, mit dem deutlich auf Bürokraten hingewiesen wird, fällt bei einem Feuer zur Hälfte den Flammen zum Opfer, wird dann aber veröffentlicht. Unschwer ist auch die Kernaussage auszumachen: Beamte sind unmenschlich, die kaiserliche Bürokratie ändert sich nicht. Gegen die Unterdrückung hilft nur Revolution, Reformen allein führen keinen Wandel herbei. Weit pointierter noch als in den Bürokraten richtete Li Boyuan in seinem anderen bekannten Roman Kleine Geschichte der Zivilisation (Wenming xiaoshi)1164 sein Augenmerk in einem teils moralistisch-beschreibenden, teils aggressiv-kritischen bzw. entlarvenden Ton auf die Probleme einer Gesellschaft im Umbruch. Die Kleine Geschichte erschien zunächst zwischen 1903 und 1905 in der von Li publizierten Zeitschrift »Bebilderte Erzählkunst« unter dem Pseudonym »Hüter des südlichen Pavillons« (Nanting tingzhang), kam dann aber im Jahre 1906 als Buchausgabe in Shanghai heraus. Deutlicher wie in kaum einem anderen Werk der zeitgenössischen Erzählkunst leuchtet der Autor hier die Probleme bei der Auseinandersetzung um die Übernahme von Elementen aus fremden Kulturen aus. Die treibenden Kräfte des in Gang gekommenen Zivilisationsprozesses und somit die Protagonisten des ganzen Romans sind Jugendliche aus vornehmen Häusern und Studenten, die zum Studium ins Ausland reisen und Fremdsprachen lernen. Unverkennbar hält es Li Boyuan dabei mit denen, die sich zwar westliches Wissen und Technologie zunutze machen, ansonsten aber nichts weiter mit dem Ausland zu tun haben wollen. Die Ausländer sind in diesem Sinne gleichermaßen Plage durch ihr Auftreten als Aggressoren als auch Objekt, an dem sich zweifelhafte Verhaltensweisen der eigenen Landsleute wie Servilität und Unterwürfigkeit darstellen lassen. Schon der Titel der Kleinen Geschichte macht ein ambivalentes Verhältnis zum Kulturbegriff deutlich. Die »Zivilisation« steht im Text ganz offen1163 1164
Ebd., Kap. 54, S. 960f. Hier nach der sechzig Kapitel umfassenden Ausgabe Wenming xiaoshi, Shanghai: Shanghai guji 1982. Eine Übersetzung des Romans aus neuerer Zeit ist LI BOYUAN: Modern Times. A Brief History Enlightenment, übers. von DOUGLAS LANCASHIRE, Hongkong: The Chinese University of Hongkong, Renditions Book 1996. In deutscher Sprache liegt zu dem Roman eine größere Studie vor, OTTO GAST: Wen-ming hsiao-shih. Eine Prosasatire vom Ende der Ch'ing-Zeit, Diss. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1982.
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sichtlich für die wahrgenommenen Bereiche des Auslands wie Europa, Amerika, Japan und die ausländischen Siedlungen Chinas, doch hinterfragt der Autor hier ebenso Werte und Schwächen der eigenen Kultur. Stärker noch als in der Kleinen Geschichte, wo sich die Betroffenheit und Hoffnungslosigkeit Lis oftmals hinter ironischen Angriffen etwa auf die Oberflächlichkeit der Reformeiferer verbirgt, hat er seine Bedenken in bezug auf die Entwicklung seines Landes in dem zu Beginn des Jahrhunderts verfaßten Werk mit dem Titel »Die derzeitige Lage in China« (Zhongguo xianzaiji) vorgetragen, in dem das ganze Dilemma bei der Suche nach einem gangbaren Weg für die Lösung der Probleme sichtbar wird. In einer zentralen Passage heißt es dort: Wie ist es um China derzeit bestellt? Manche Leute sagen: »Überall in China herrschen Unwissenheit und Zerrissenheit, das ganze Land ist rückständig, selbst die militärischen Auseinandersetzungen werden noch mit Bogen und Schwert ausgetragen. Nicht besser ist es im Bereich der Kultur bestellt. Dort erschöpft sich die Betätigung mit der Abfassung von Spruchbändern. Wir leben in einer Zeit des Verfalls!« Darauf erwidern andere: »Warum sprecht ihr nur über die Schwächen und Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden und hebt nicht auch die Erfolge hervor?« Woraufhin sogleich jemand einstimmt: »China widmet sich heute vermehrt den wirtschaftlichen Aktivitäten, man schenkt der militärischen Ausrüstung in zunehmendem Maße Beachtung. Noch eine Weile, und unser Land wird ein gleichwertiger Partner unter den Ländern in der Welt sein!« Doch auch diese Ansicht läßt alsbald Widerstand aufkeimen, meint doch jemand: »Wieviel Zeit mag über diese Veränderungen vergehen? Das ist Zukunftsmusik, so lange mag ich nicht warten. Schließlich gibt einer kund: »[...] Wir leben in der Gegenwart, losgelöst von Vergangenheit und Zukunft, unabhängig von allen Zeitbezügen. Vor und hinter uns gibt es nur eine große, leere Weite. Mit unserer Vergangenheit verbinden sich nur Abscheu und Verärgerung, die Zukunft, die sich unserem Zugriff entzieht, bietet nur vage Hoffnung. Ich mag mich noch so sehr um die Ausrottung von Übeln und den rechten Weg 1165 bemühen, doch wer schenkt meinen Mahnungen Beachtung?« [...]
Seine in der restlichen, hier nicht übersetzten Passage des Werkes vorgebrachten politischen Anliegen wie der Kampf gegen falsche Reformen, Korruption und das Engagement gegen revolutionäre Bestrebungen griff Li Boyuan ebenfalls in Kleine Geschichte wieder auf, wobei er auch Textpassagen verwendete, die nicht aus seiner eigenen Feder stammten.1166 1165
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Der zwölf Kapitel lange Roman »Die derzeitige Lage in China« erschien als Fortsetzung in der Zeitschrift Shibao. Hier zitiert aus einer Passage des Vorworts von A YING (1955), in: Kleine Geschichte der Zivilisation (Wenming xiaoshi), S. 3f. Es handelt sich hierbei um das Textproblem von Kapitel 59 der Kleinen Geschichte. Dort hat Li Boyuan einen kurzen Abschnitt von eintausendfünfhundert Zeichen aufgenommen, die ursprünglich aus Kapitel elf der Reisen des Lao Can von Liu E stammten. Beide Romane
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Die Kleine Geschichte ist wie viele andere Werke der zeitgenössischen chinesischen Erzählliteratur ebenfalls in mehrere Episoden untergliedert. Ein abgerundetes Bild der kulturell-politischen Auseinandersetzungen Chinas mit dem Ausland ergibt sich durch den Umstand, daß der Blick zunächst auf verschiedene Aspekte innerhalb Chinas geworfen wird, später aber auch Schicksale einzelner Repräsentanten der chinesischen Kultur im Ausland erfaßt. Der Roman hebt an mit dem umfangreichsten Episodenkomplex, der die ersten dreizehn Kapitel umfaßt und der den Leser tief in das Landesinnere nach Yongshun in die Grenzregion der Provinzen Sichuan und Hu'nan führt.1167 Die wichtigsten Themen des Werkes – das fragwürdige Gebaren der Beamten, das Bildungs- und Erziehungssystem und die Ausländerproblematik – sind hier im wesentlichen bereits angelegt. Die Darstellungen in den folgenden Episoden bilden weitgehend Variationen dieser Themen. Die ursprüngliche Idylle von Yongshun, die auch der neue Präfekt Liu Jixian zunächst noch genießt, ist bald dahin, als es wegen eines lächerlichen Vorfalls zwischen drei Ausländern und Einheimischen zu Unruhen kommt. Ein Herbergswirt hat einem fremden Gast angeblich unersetzliches Porzellan zertrümmert, Schadensersatzforderungen werden gestellt, Liu nimmt sich des Falls an. Das zuvorkommende Verhalten des Präfekten erweckt bald Mißtrauen in der eigenen Bevölkerung, man beginnt zu munkeln, Liu Jixian wolle die einheimischen Berge an die fremden Bergbauingenieure verkaufen. Ein Gelehrter, der Magister Huang Zongxiang, nutzt die Lage für sich aus und setzt sich mit den Forderungen an die Spitze der Aufständischen, die Ausländer zu töten und den Präfekten zu verjagen. Die Angelegenheit eskaliert, als Liu Truppen herbeiruft und den Magister Huang verprügeln läßt, eine Beleidigung, die die örtliche Gentry nicht auf sich sitzen läßt, hätte doch Huang als erste Strafe zunächst der Gelehrtentitel aberkannt werden müssen. Der lästigen Ausländer entledigt sich der Präfekt mit der Zahlung einer Abfindungssumme, wird aber wegen seiner Entscheidungsschwäche von dem Generalgouverneur der Doppelprovinz Huguang (d.h. Hunan und Hubei) – hier
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erschienen ab 1903 zeitgleich in der »Bebilderten Erzählkunst«. Bei der Redaktion der dreizehn Kapitel des Werkes von Liu E hatte Li den Text von Kapitel elf eigenmächtig zurückgehalten, woraufhin Liu die weitere Veröffentlichung in der Zeitschrift einstellte und seinen Roman nochmals in einer Zeitschrift in Tianjin veröffentlichte. Li Boyuan setzte Teile aus dem zuückgehaltenen Kapitel in Kapitel neunundfünfzig seines eigenen Romans ein. In der kurzen Passage ging es um Angriffe gegen die Boxer-Bewegung und die Revolutionspartei, die Namen der Protagonisten veränderte man. In der 1906 erscheinenden Buchausgabe von Kleine Geschichte ließ man die übernommene Passage fort und fügte sie später auch bei Lao Can wieder an der richtigen Stelle ein. Es ist nicht bekannt, warum Li Boyuan Manuskriptteile aus Liu Es Werk für eigene Zwecke brauchte, doch nimmt man mitunter an, daß nicht Li, sondern die Redaktion seiner Zeitschrift dafür verantwortlich ist. Eine vollständige Übersetzung dieses Abschnitts findet sich bei GAST: Wen-ming hsiao-shih, S. 253–438.
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wird die historische Gestalt des Zhang Zhidong (1837–1909) erkennbar,1168 der diesen Posten zwischen 1889 und 1907 mit kurzen Unterbrechungen innehatte – abgesetzt. In teilweise recht überspitzter Weise werden in den folgenden Episoden weitere Aspekte bei der Adaption fremden Kulturgutes durch die junge chinesische Bevölkerung problematisiert. Nicht zufällig verlagert sich das folgende Geschehen immer mehr an die Peripherie des chinesischen Reiches, insbesondere nach Shanghai, das Einfallstor der fremdländischen Kultur im 19. Jahrhundert. So begeben sich die drei Brüder Jia – glühende Verehrer der westlichen Zivilisation – gegen das Verbot der Mutter gemeinsam mit ihrem Lehrer Yao Wentong in die Hafenmetropole an der Mündung des Yangtse. Das bizarre Gebaren von allerlei Sonderlingen läßt bald das Anliegen des Verfassers deutlich werden, Klage zu führen gegen die verschiedenen Formen von Pseudoreformern, die unter dem Anspruch von Fortschrittlichkeit und Aufklärung an ihren verderbten Sitten festhalten. Der obskure »Reformer« Guo Zhiwen, der seine Opiumsucht als Freiheitsrecht ausgibt (Kap. 18) wird dafür ebenso als Beispiel angeführt wie die von »neuen Lehren« (xinxue) schwafelnden Chinesen, die ihrem Gebaren vor allem durch das Anlegen ausländischer Kleidung Ausdruck verleihen. Nach und nach wird bei aller Kritik Li Boyuans Programm sichtbar. Seine Einschätzung gegenüber ausländischer Technologie und Wissenschaft ist ebenso positiv wie die Betonung der Wichtigkeit von Bildung für Frauen. Wogegen er sich wendet, ist die Oberflächlichkeit und der Mißbrauch, mit dem vielversprechende Verbesserungsversuche zunichte gemacht werden. Dort, wo nur Raffgier, Geltungssucht, Eitelkeit und Egoismus herrschen, lassen sich keine ernsthaften Reformen durchführen. Man muß nicht lange raten, um hinter der ätzenden Kritik des Hanlin-Gelehrten Zhou die Ansichten des Verfassers selber zu erkennen. »Unsere Beamten im auswärtigen Dienst besitzen weder Rückgrat noch Grundsätze. Sie lassen sich immer wieder übers Ohr hauen, treffen stets ungünstige Vereinbarungen, es kommt ihnen immer nur darauf an, daß nichts passiert. Die Belange Chinas sind ihnen dabei gleichgültig. Mit solchen Waschlappen haben die Ausländer natürlich leichtes Spiel, sie behandeln unsere Beamten wie kleine Kinder, die jedes Zuckerchen gerne schlecken, selbst wenn sich Gift darin befindet. Um die Lehranstalten ist es auch nicht viel besser bestellt, einfach lächerlich, was da passiert. Die meisten wissen gar nicht, was das heißt ›Erziehung‹. Überall vernimmt man, es gebe in China keine Talente, demgemäß lautet die Parole, die von Behörden im Erziehungssektor ausgegeben wird eben, ›Talente heranzuziehen‹. Um diesen behördlichen Ansprüchen zu genügen, tut man in den privaten Lehranstalten sehr geschäftig und engagiert, ändert die Namen 1168
Auf Zhang geht die damals gängige Parole zurück, die chinesischen Lehren als Basis und die westlichen zur praktischen Nutzanwendung zu nutzen (Zhongxue wei ti, xixue wei yong).
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT der eigenen Einrichtungen, schafft sich neue Materialien und Bücher an. Das ›Schulgeld‹ wird umbenannt in ›Studiengebühren‹. Damit gibt man sich fortschrittlich und genügt den von oben gestellten Anforderungen. Schlimm sind auch die hohen Akademiker und Hanlin-Gelehrten, die die neuen Lehranstalten nur benutzen, weil sie glauben, damit zu Ruhm und Ehre zu gelangen und sich dabei mit einem kümmerlichen Gehalt zufrieden geben. Die sind so hochnäsig, daß sie bei den Schülern in den Klassen stets glauben, irgendwelche Bauernlümmel vor sich zu haben. In ihrer Haltung sind sie überaus nachlässig, verlangen aber, daß man ihnen immer mit Respekt begegnet und schmeißen oft den ganzen Unterricht beleidigt hin. So darf es nicht weitergehen, das muß einfach besser 1169 werden.«
Die Handlung in der zweiten Romanhälfte ist im wesentlichen von der Problematik der chinesischen Diaspora bestimmt. Wechselnde Schauplätze sind Japan, Hongkong, die USA und Kanada, wo sich allerlei buntes Volk tummelt, das die Heimat mehr oder weniger freiwillig verlassen hat. Flüchtige Attentäter finden hier ebenso Aufnahme wie Studenten und Glücksritter. Thematisiert wird immer wieder die Unbeholfenheit, mit der sich Lis Landsleute im Kampf mit den Tücken der westlichen Zivilisation auf der Weltbühne zurechtfinden müssen und dabei zum Gespött der Ausländer werden. Die zentrale Gestalt ist hier der Beamtenanwärter Rao Hongsheng, der aus Gründen des Ansehens einen Spezialauftrag des Generalgouverneurs übernimmt, um in Japan, den USA und England Maschinen einzukaufen. Wie täppisch er sich dabei anstellt, belegen die Vorkommnisse während einer Schiffsreise. Da Rao die Gewandtheit und Erfahrung fehlt, um sich in der internationalen Gesellschaft zu bewegen, die sich an den Normen der westlichen Reisenden orientiert, kommt es zu zahlreichen Peinlichkeiten: Er war kaum zehn Tage in Japan, als er begann, des Landes überdrüssig zu werden. Als er erfuhr, daß ein Schiff der »Sherry Line« in wenigen Tagen nach Amerika aufbrach, kaufte er eine Fahrkarte für Kabine zwanzig und schiffte sich ein. Der Übersetzer erhielt eine Unterbringung zweiter Klasse, Diener und Gehilfen mußten mit den einfachen Pritschen in der »Asien«-Klasse vorlieb nehmen. Frühmorgens begab man sich an Bord des Schiffes, überall herrschte hektisches Treiben, so daß sich Rao anfangs nicht zurecht fand. Zum Glück kannten sich der Übersetzer und ein weiterer Gehilfe bald aus und brachten ihm nach einer Weile den Kabinenschlüssel. Man verstaute das gesamte Gepäck in der Kabine, stellte aber bald fest, daß vieles offenbar überflüssig war, da es an nichts fehlte: Vor den Kabinenfenstern hingen seidene Vorhänge, den Boden schmückte ein bestickter Teppich; auf dem Bett hatte man weiche Matratzen und Kissen ausgebreitet, auch in Bad und Toilette gab es eine exklusive Ausstattung. Selbst der Spucknapf war aus feinem Porzellan. Nun wunderte sich Rao Hongsheng nicht mehr, warum man ihm so einen horrenden Preis für die 1169
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Falsche Gelehrte und korrupte Beamte Schiffsfahrkarte abgenommen hatte. Aber das war es ihm wert. Als man Herrn Rao soweit bei allem geholfen hatte, ließ sich der Übersetzer zu seiner eigenen Kabine bringen. Die Passagiere der ersten Klasse verfügten alle über einen Steward, der sich um Essen und Getränke für die Gäste kümmerte. Der Steward von Herrn Rao wies diesen kurz in die Ordnung auf dem Schiff ein: So war das Opiumrauchen strengstens verboten, fanden sich dennoch Opium bzw. die entsprechenden Gerätschaften an Bord, so würde man diese unverzüglich ins Meer werfen und vernichten. Bei der Einnahme von Mahlzeiten im Dining-Room müsse man sich unbedingt solcher Anstoß erregenden Dinge wie Haarekratzen und Nägelschneiden enthalten. Rao Hongsheng bestätigte mit einem Nicken, daß er alles verstanden hatte. Als zur Mittagszeit eine Glocke zweimal ertönte, begab sich Rao mit seiner Frau zum Dining-Room. Der Übersetzer hatte ihm gesagt, daß die Glockensignale jeweils zu den Mahlzeiten ertönten. Vor dem Saal warteten bereits zahlreiche ausländische Passagiere. Erst bei dem dritten Glockenton wurde die Türe geöffnet, und die Leute begaben sich in den Saal. Jeder suchte sich seinen Platz, zum Glück fand Rao bald einen Steward, der ihn an die Plätze für sich und seine Frau führte. Man saß an einem langen Tisch zusammen mit zahlreichen Männern und Frauen, am Kopf der Kapitän. Zunächst nahm man gemeinsam eine Suppe ein, dann wurde Fisch auf einem silbernen Tablett gereicht, den der Kapitän zerteilte und jedem Gast am Tisch davon gab. Anschließend sah Rao, wie die übrigen Fahrgäste nach der Speisekarte griffen, um nach dem Hors d’œuvre die eigentlichen Gerichte nach Wunsch zu wählen. Schließlich gelangte die Speisekarte auch zu Rao Hongsheng. Dieser verstand zwar nicht, was dort in der fremden Schrift stand, war aber immerhin in der Lage, die arabischen Zahlen neben den Gerichten zu entziffern. Da man mit Suppe und Fisch bereits zwei Gerichte eingenommen hatte, wies er mit dem Finger auf die Zahl drei, als ihn der Steward um seine Bestellung bat. Der Steward schüttelte kurz mit dem Kopf, zog sich dann aber diskret zurück und erschien nach kurzer Weile mit einem Teller Früchte. Die Nummer drei auf der Speisekarte stand für »Grüne Oliven«. Als man Rao den Teller vorsetzte, lief er über und über rot an im Gesicht. Der Steward beugte sich hinab zu ihm und sagte mit leiser Stimme: »Sie müssen nicht so tun, als kennten Sie sich aus, ich werde Ihnen etwas zum Essen bringen, in Ordnung?« Rao warf ihm einen dankbaren Blick zu, merkte jedoch nicht, wie sich der Steward über ihn lustig machte. Nach einer Weile hatte man tatsächlich Lammfleisch, Gänsebraten und das Dessert serviert, anschließend wurde Kaffee gereicht. Die Leute um Rao lachten, als er den Löffel in der Tasse ließ, nachdem er seinen Kaffee leergetrunken hatte. Es war der Steward, der ihm zu verstehen gab, daß man den Löffel nach dem Trinken auf den Unterteller neben die Tasse lege. Am Ende brachte man noch einen Teller mit Früchten. Als Raos Frau die frischen Feigen sah, griff sie eilig danach und stopfte sich eine Handvoll in die Tasche. Erneut war belustigtes Kichern unter den übrigen Gästen am Tisch zu hören. Verlegen senkte Rao den Blick. Nach einer Weile erhob man sich, und nachdem Rao Hongsheng seine Frau auf ihre Kabine gebracht hatte, folgte er,
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT nur in Schlappen und mit einer Wasserpfeife in der Hand, den übrigen Gästen an Deck. Rao und sein Dolmetscher, der Pfeife rauchte, standen an der Reling und unterhielten sich, als plötzlich ein Ausländer an die beiden herantrat, Rao eingehend musterte, dann seinen Hut abnahm und ihn mit einer Verbeugung grüßte. Befremdet wandte sich Rao an seinen Dolmetscher und hörte nur, wie dieser zu dem Ausländer sagte: »No no, not Ainu!«, woraufhin sich der Fremde verlegen abwandte, zu einem glatzköpfigen Herrn hinüberging und mit diesem eine Weile diskutierte, bis sich beide unter Deck in ihre Kabinen zurückzogen. Rao wollte von dem Übersetzer wissen, was vorgefallen sei, und nachdem dieser dem Gespräch der Fremden eine Weile angestrengt gelauscht hatte, brachte er in Erfahrung, daß der Fremde ihn für einen japanischen Eingeborenen der Ainu gehalten hatte und mit dem Glatzkopf eine Wette eingegangen war. Bei den Ainu handelt es sich um eingeborenes Inselvolk in Japan, das sein Haar offen trägt und sehr verwahrlost wirkt. Rao Hongsheng hatte an dem Tag seine Kleider nicht gewechselt, wirkte, wie er da im Wind stand, tatsächlich zerzaust und schmuddelig. Auch sein Haar war unordentlich, gab es doch an Bord alles mögliche, nur keinen chinesischen Friseur. Seit Tagen schon lag er seiner Frau in den Ohren, ihm einen neuen Zopf zu flechten, doch da sie sich selber die Haare meist von einer Dienerin richten ließ, schenkte sie dem Zopf des Gatten nur geringe Beachtung, mit dem Erfolg, daß ihm das zerzauste Schläfenhaar abstand. Kein Wunder, daß die Fremden Wetten auf seine Herkunft abschlossen. Dem Dolmetscher war dies alles klar, doch wagte er nicht, mit Rao darüber zu sprechen, aus Angst, diesen gegen sich aufzubringen. Man unterhielt sich noch eine 1170 Weile, dann begaben sich beide zurück in ihre Kabinen.
Bei so viel Ungeschick wundert es nicht, daß die gesamte Mission Raos nicht sehr erfolgreich ist. Nach enttäuschenden Erlebnissen in Japan und Amerika bricht er seine Reise nicht zuletzt aus Geldmangel ab, spart sich den Abstecher nach Europa ganz und kehrt in die Heimat zurück. Unter den weiteren Werken, die Li Boyuan zugeschrieben werden wie Haitian xueji, ein unvollendeter Roman in zwanzig Kapiteln über die Halbwelt von Shanghai, oder Li Lianying, den Lieblingseunuchen der Kaiserinwitwe Cixi, ragt vor allem Lebendige Hölle (Huo diyu) heraus, eine zwischen 1903 und 1906 entstandene Sammlung von sechzehn unabhängigen Geschichten, die je zwischen ein und acht Kapitel umfassen und in bitteren Worten die üblen Machenschaften der Beamten schildern. Nach dem Tode Lis im Jahre 1906 schrieben Wu Woyao und Ouyang Juyuan noch einige Kapitel der Sammlung, die aber letztlich unvollendet blieb. Ein weiteres Werk, das häufig im Zusammenhang mit Li Boyuans Namen genannt wird und sowohl thematisch als auch stilistisch aus seiner Feder stammen 1170
Ebd., Kap. 51, S. 328ff.
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könnte, ist ein unvollendet gebliebener Roman in dreißig Kapiteln mit dem Titel Plaudereien im winterlichen Sonnenschein (Fupu xiantan).1171 Im Vorwort zu einer 1933 erschienenen Ausgabe des Romans bemerkte Xu Yishi, daß sich hinter dem ansonsten nicht zuzuordnenden Verfasserpseudonym »Der neue Herr des Bambusgartens« (Quyuan xinzhe) eben niemand anders als Li Boyuan verberge, ein Hinweis, der zwei Jahre darauf von A Ying in seiner Geschichte des Romans der späten Qing-Zeit (Wan Qing xiaoshuoshi) wiederum in Frage gestellt wurde.1172 Selbst wenn Li Boyuan nicht der eigentliche Autor der Plaudereien war, so handelt es sich, wie neuere Forschungen ergeben haben, mit Ouyang Juyuan als möglichem Buchverfasser zumindest um eine Person aus dem näheren Bekanntenkreis von Li. Dem literarischen Wert der Plaudereien tut die vorgenannte Kontroverse ohnehin keinen Abbruch, kommen darin doch mit der Konzentration auf die dekadenten Erscheinungen im Bereich der Beamtenschaft, des Prüfungswesens sowie der Reformbewegung die Mißstände der Zeit auf anschauliche Weise zum Ausdruck. Mit der Wahl des bereits hinreichend bekannten Panorama-Schemas schildert der »Neue Herr des Bambus-Gartens« in den ersten zwanzig Kapiteln zunächst die fragwürdigen Bemühungen einiger junger Gelehrter, sich über die Beamtenprüfungen den Aufstieg in der Bürokratie zu sichern – ein Anliegen, das mit den folgenden Hinweisen von Machenschaften schon auf den unteren Ebenen der Zivil- und Militärverwaltung sogleich hinterfragt wird. Den geographischen Hintergrund dieser sowie der sich anschließenden Szenen über einige Reformeiferer bildet die Gegend der Provinzen Jiangsu und Zhejiang. Das Bild wird in weiteren zehn Kapiteln abgerundet durch die Darstellung des dekadenten Gehabes einer Reihe wohlhabender Vertreter in der Reformbewegung, die in der Provinz Kanton ebenso zu finden sind wie in dem hauptstädtischen Peking. Die Auswahl einiger kleiner Episoden mag den eindringlichen Stil der Plaudereien verdeutlichen. Im Mittelpunkt der ersten Szene steht ein gewisser Lu Peng, der Sohn eines Grundbesitzers aus der Gegend des Kreises Wu in der Provinz Jiangsu. Engstirnigkeit und Überheblichkeit in der Familie, die sich mit einigen Hektar Ackerland, einem ziegelgedeckten Haus mit drei oder vier Räumen, drei Kühen sowie ein paar Doppelzentnern Getreide, die man jährlich einfährt, für wohlhabend und herrschaftlich hält, nehmen den Leser nicht eben für die Leute ein. Noch weniger Sympathie gewinnt der Sproß Lu Peng selber, ein altkluges Bürschchen, das sich in den paar Jahren auf 1171
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Der Roman erschien in den Jahren 1903/04 in der Zeitschrift »Bebilderte Erzählkunst« und wurde hier nach der Ausgabe Shanghai: Shanghai guji 1985 bearbeitet. Die Übersetzung des Buchtitels folgt einer dort von den Herausgebern gegebenen Erläuterung des Begriffs »fupu«. A Yings für eine Übersicht über den späten Qing-Roman immer noch wichtiges Werk wurde in der Folge stets neu verlegt und liegt hier in einer Version aus der jüngsten Vergangenheit vor (Peking: Dongfang-Verlag 1996). Die entsprechenden Einwände A Yings finden sich dort in Kapitel drei, S. 34f.
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der Dorfschule ein bißchen Wissen angeeignet hat und sich während einer Feier anläßlich des bevorstehenden Tempelfestes für die Gottheit Guandi vor Freunden ganz weltmännisch gibt. Im Nu hatte man den Tisch mit großen Schüsseln und Tellern voller Speisen aus Sojabohnenkäse, Weizenstärke, Gemüse und Nudeln angerichtet. Am Tisch saßen neben dem alten Herrn Wang und Lu Peng auch einige Kaufleute, die der Mönch Fayu hinzugebeten hatte. Während Lu Peng die Tafel eröffnete und nach den Speisen griff, erklärte er: »Bei meinem letzten Besuch in der Präfektur hat man uns zum Abschied zu einem Bankett geladen. Da wurde nur vom Allerfeinsten aufgetischt: Schwalbennestersuppe, Haifischflossen, Seegurken, es fehlte an nichts von den Köstlichkeiten, die die große Amtsküche zu bieten hat. Man hatte eine Gans zubereitet, die gefüllt war mit einem Huhn. Das war wiederum gestopft mit einer Taube, welche zuletzt als Füllung einen Spatzen besaß. Eine wahre Köstlichkeit, das sage ich euch.« »Oh, barmherziger Buddha«, rief einer der Kaufleute am Tisch und legte seine Stäbchen beiseite, »gleich vier Leben für ein einziges Gericht geopfert. Welch eine Sünde!« »Pah«, wandte Lu Peng ein und legte eine strenge Miene auf, »für solch arme Schlucker wie euch ist jede Speise eine Sünde. Das kann man von unsereins nicht sagen.« »Sie sind demnach ein Glückskind, junger Herr Lu, stimmts oder hab ich recht?« wandte einer der anderen ein. »Etwa nicht?« sagte Lu Peng, dem die Röte ins Gesicht gestiegen war, »immerhin hat der Präfekt selbst einen Toast auf uns ausgesprochen. Man müßte schon ein einfältiger Kerl sein, würde man sich darüber nicht glücklich schätzen. Oder glaubt ihr etwa, er hätte das nur so zum Spaß getan?« Niemand von den Männern am Tisch erwiderte daraufhin etwas. Als man zu Ende ge1173 speist hatte, zerstreute sich die Runde alsbald.
Nicht viel besser ist es um die selbsternannten »Reformer« bestellt, die den eitlen Gelehrten in ihrer Oberflächlichkeit, Naivität und Dummheit in nichts nachstehen. Wie sehr die ernsten Inhalte vom Wohle und der Gerechtigkeit für die Menschen zu reinen Floskeln und Gesten verkommen, zeigt eine Episode, die der »Neue Herr vom Bambusgarten« um Herrn Yin Biyou entwirft. Nur mit Ach und Krach hat Yin die Magisterprüfungen hinter sich gebracht und sich zumindest den Titel eines »Magister des.« gesichert. Zu seinem großen Ungemach lebt er nun aber in einer Zeit, da die Veränderungen in der Welt auch eine Reform der althergebrachten Prüfungsgewohnheiten zwingend gemacht haben. Mit Schrecken vernimmt Yin Biyou, daß der Kaiserhof die Abschaffung des achtfüßigen Essays verfügt hat und stattdessen die Abfassung einer politischen Abhandlung fordert, die sich nicht mehr mit dem überlieferten Klassiker-Kanon befassen darf. Yin bleibt also nichts übrig, als sich angesichts bevorstehender weiterer Prüfungen eine größere Allgemeinbildung anzueignen. Auf welche Art der Lektüre er dabei zurückgreifen muß, sagt uns der Autor der Plaudereien im folgenden Abschnitt: 1173
Plaudereien im winterlichen Sonnenschein, Kap. 1, S. 4.
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Falsche Gelehrte und korrupte Beamte Mit der Zeit war man auch in Zhenjiang aufgeschlossener geworden. Es war, als ob am Ende eines dunklen Tunnels endlich ein wenig Licht sichtbar würde, doch allzu stark waren die Strahlen freilich noch nicht. Ein paar Studenten hatten einen Lesezirkel gegründet und sich aus Shanghai allerlei Publikationen und Übersetzungen der neuesten Zeit kommen lassen. Man stellte die Werke den Interessierten zur Verfügung, um eine allgemeine Aufklärung der Menschen herbeizuführen. Yin Biyou nutzte die Kontakte seiner Wirtsleute nach Shanghai und ließ sich von dort eine Reihe guter Bücher und Zeitungen kommen, um es Su Qin gleichzutun, der in der Zeit der Streitenden Reiche nach intensivem Studium seine neue Lehre im ganzen Reich verbreitet hatte. Die Monate gingen ins Land, und nach einem halben Jahr hatte sich Yin einige Begriffe aus der Weltgeschichte der vergangenen zweitausend Jahre sowie der Lage auf den fünf Kontinenten angeeignet. Im Gespräch fügte er davon immer wieder gerne das eine oder andere ein, was ihm bei den Bakkalaurei in seiner Umgebung bald den Spitznamen »Reformer« eintrug. Sehr zufrieden mit dieser Bezeichnung, entblödete sich Yin alsbald nicht mehr, stets auf die »Starrköpfigkeit« und den »Konservatismus« der Menschen hinzuweisen, die nicht die gleiche Bildung 1174 genossen hatten wie er.
Es bleibt nicht aus, daß sich Yin Biyou damit den Zorn der altehrwürdigen Literaten am Ort zuzieht und sich nach Shanghai begibt, um seine Studien dort zu vervollkommnen. Die Beschreibung der Reformerkreise, in die er gerät, läßt freilich von Beginn an wenig Gutes erwarten. Shanghai war zu jener Zeit das Eldorado der Reformpartei. Wer über Geld und Talent verfügte, der gründete eine Zeitung; wer kein Geld, sondern nur Talent besaß, der machte sich an die Übersetzung von Büchern. Wer aber weder über das eine noch über das andere verfügte, der verübte unter dem Deckmantel des Reformers allerlei Scharlatanerie. Wem es so gelang, irgendwo wieder ein wenig Geld lockerzumachen, der fuhr bald im prächtigen Wagen durch die Stadt und protzte mit seiner Erscheinung. Wer nicht so glücklich hantierte, der lief weiterhin in schäbigen Kleidern herum und sah zu, daß er sich irgendwie durchs Leben schlug. Als Bezeichnung hatten die Herrschaften allesamt für sich die des »Aktionisten« gewählt. Bald hieß es, Shanghai und Peking seien wie zwei riesige Öfen, die die Menschen jeden Typs zu einem Haufen zusammenbackten. Wen verwundert es da, daß ein so talentloser Angehöriger der Reformpartei wie Yin Biyou, der ohnehin weder Umsicht noch Weitblick besaß, nach seiner Ankunft in Shanghai bald von der allgemeinen Strömung mitgerissen wurde. Man nahm ihn an irgendeiner Lehranstalt auf, Yin richtete sich bescheiden ein und begann, sich seinen Studien zu widmen. Vormittags paukte er Fremdsprachen, am Nachmittag vertiefte er sich in die chinesische Lektüre. In beiden Fächern wurde er während des Unterrichts von seinem starken Heimatdialekt behindert, was ihm einige Kopfschmerzen bereitete. Das gab sich erst, als er seinen Lehrern und 1174
Ebd., Kap. 12, S. 59.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Kommilitonen genauer zugehört hatte und ähnlich sprach wie sie. Es war Vorschrift der Lehranstalt, daß man sich außerhalb des Unterrichts in seinem eigenen Kämmerlein wenigstens für zwei Stunden in Eigenarbeit mit dem behandelten Stoff befaßte. Verehrter Leser, so lautete vielleicht die Vorschrift, in Wahrheit diente die freie Zeit den Studenten zu nichts anderem, als sich der Ruhe und Muße hinzugeben. Nur wenige hielt es auf ihren Zimmern, viel lieber stattete man sich untereinander Besuche ab. Die anständigeren Herrschaften plauderten dann über irgendwelche Alltäglichkeiten, weniger anständige fanden sich in kleinen Grüppchen zusammen, um über ihre Erlebnisse in den Rotlichtvierteln 1175 der Stadt in allen Einzelheiten zu berichten.
In eigener Anschauung kann sich der neugierige Yin davon freilich nur an den freien Sonntagen ein Bild machen, bleiben die Studenten ansonsten doch die Woche über in der Anstalt eingeschlossen. An einem dieser Sonntage nun zieht Yin Biyou mit Da Youren, einem wohlhabenden Bürgersöhnchen los, der ihn in die Vergnügungsviertel der Stadt führt. Da Youren ist in dem Etablissement, das man aufsucht, kein Unbekannter, und alsbald treffen weitere Gleichgesinnte zu der feiertäglichen Runde ein. Angeführt wird der illustre Kreis von einem gewissen Li Pingdeng (»Li Gleichheit«), der seiner ehrenvollen Gesinnung durch das Tragen eines Napoleonhutes Ausdruck verleiht und als Abgesandter der Volksversammlung (Guominhui) vorgestellt wird. Nachdem man die Speisen bestellt und die Damen zur Unterhaltung an den Tisch gebeten hat, beginnt man unter fröhlichen Gesprächen das Gelage. Am engagiertesten zeigte sich Li Pingdeng, der unablässig seine Meinungen über dieses und jenes kundtat. Als man auf die Probleme in der Bürokratie zu sprechen kam, hob er die Augenbrauen, warf sich in die Brust und erklärte mit feierlicher Stimme: »Verehrte Anwesende, laßt euch eines sagen: Alle Beamtenposten sind mit Geld erworben, über Beförderungen und Nachbenennungen entscheidet allein der Betrag, den man bereit ist zu geben. Ein Gelehrter der kaiserlichen Hanlin-Akademie wird man aufgrund schöner Essays und einer sauberen Schrift, hohe Beamte und Minister erlangen ihr Amt aufgrund ihrer Erfahrung, die das hohe Alter mit sich bringt. Nur wer über die notwendigen finanziellen Mittel und ausreichende Geduld verfügt, bringt es einmal bis dahin. Was heißt es denn, Wohltaten durch den Fürsten und den Staat genießen? Wer von Staat und Herrscher nichts erhält, der wird auch seinerseits nichts geben wollen und kein Engagement zeigen. Das ist der Grund, warum wir die Revolution fordern!« Die Anwesenden bedachten Lis Rede mit Applaus und tosendem Beifall. Yin Biyou warf einen Blick auf Chen Tiexue, der sanft sein Haupt wog. Als sich die allgemeine Unruhe gelegt hatte, ergriff Chen das Wort. Seine Sprache war gefärbt von der Mundart Hangzhous, je länger er redete, desto weniger verstanden ihn die Anwesenden. Man hörte nur, wie er in deutlichen und extra 1175
Ebd., S. 60.
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Falsche Gelehrte und korrupte Beamte betonten Worten verkündete: »Der abendländischen Philosophie zufolge unterscheidet man beim Menschen zwei Auffassungen in bezug auf das Gemeinwohl, wobei man zwischen vier Schulen differenziert.« Er hatte gerade bis hierhin gesprochen, als ein Singmädchen leichten Schrittes dahergetänzelt kam, Chen von hinten auf die Schulter tippte und fragte: »Na, was faselst du denn für ein Zeug daher?« Erschrocken fuhr Chen herum und erkannte seine Lieblings1176 dame. Er empfing sie mit einem erfreuten Lächeln und sprach nicht weiter.
Es bleibt auch im folgenden bei derart floskelhaft eingeworfenen Ansichten, denn schon die zweifelhafte Umgebung macht eine tiefschürfendere Diskussion unmöglich. Dem Ganzen haftet etwas Unzüchtiges und Unehrliches an, wobei die staatliche Repression ihren guten Teil dazu beiträgt, den »Reformern« einen mitunter vollkommen unverdienten Dissidentenstatus zu verleihen, was auch der »Neue Herr des Bambusgartens« klar erkennt. Mit der folgenden Feststellung wollen wir die Bemerkungen zu den überaus lesenswerten Plaudereien abschließen. In der Reformpartei hatte man erkannt, daß das Ausland von Tag zu Tag an Stärke gewann, wogegen es mit China zunehmend bergab ging. Voller Engagement und mit großem Enthusiasmus ließ man nichts unversucht, um in dem Kampf ums Dasein, wie ihn Darwin in seiner Entstehung der Arten beschrieb, zu bestehen. Die chinesische Regierung wiederum setzte alles daran, die Reformpartei zu unterdrücken, man zieh sie der Unruhestifterei und Verführung des Volkes. Verehrter Leser, wie sollten Menschen, die die Luft der Freiheit einmal genossen hatten, solchen repressiven Mief wohl hinnehmen mögen? Man verfaßte Bücher, hielt Reden, in denen gnadenlose Angriffe gegen Regierung und Bürokratie gerichtet wurden. Unter dem ausländischen Schutz der Shanghaier Konzessionsgebiete, zu denen jedermann Zugang hatte, wuchs der Mut der Reformer. Mit der Zeit nahmen ihre Forderungen einen drängenderen Ton an. In einem der Parks hatte man 1177 ein Podium errichtet, auf dem an jedem Sonntag Reden gehalten wurden.
2.3 Ein Schlüsselroman über die Diplomatie und Nomenklatura – Zeng Pus Roman Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua) Auch Zeng Pus Roman Blumen im Meer der Sünde blieb wie viele literarische Arbeiten seiner Zeitgenossen nur Stückwerk.1178 Offenbar angeregt von der schriftstellerischen Produktion anderer Autoren arbeitete Zeng Pu in seinem »PanoramaRoman« wesentliche Strömungen und Entwicklungen der späten Qing-Gesellschaft 1176 1177 1178
Ebd., Kap. 13, S. 63f. Ebd., S. 65f. Hier bearbeitet nach der Ausgabe Niehaihua, Shanghai: Shanghai guji 1991. Vgl. auch die deutsche Ausgabe Blumen im Meer der Sünde, aus dem Chinesischen von THOMAS ZIMMER, München: iudicium 2001.
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innerhalb kürzester Zeit auf und legte 1905 innerhalb weniger Monate stattliche zwanzig Kapitel der Blumen vor. Dann ruhte das Romanprojekt zunächst mehr als zwei Jahrzehnte bis sich Zeng Pu Ende der zwanziger Jahre erneut an die Arbeit machte, um das Werk einer Revision zu unterziehen. Da er auch hier zu keinem Abschluß kam, blieb die Fertigstellung des Romans einem anderen überlassen. Blumen ist anerkanntermaßen einer der stringentesten und sprachlich ausgefeiltesten Romane zum Ende der Qing-Dynastie und daneben eines der ersten Werke, das den Blick auf die Welt außerhalb Chinas richtet. Auch die Themengewichtung ist anders: Nicht einfache fiktive Gelehrten- und Beamtengestalten treten auf, sondern Kaiser und Zaren sowie Männer aus dem hohen Diplomatenkorps, hinter deren literarischen Gestalten sich unschwer konkrete historische Persönlichkeiten ausmachen lassen. Damit wird Blumen zum Schlüsselroman seiner Zeit.1179 Doch wir wollen den Dingen hier nicht vorgreifen und zunächst den Blick auf die Biographie des Autors lenken, über dessen Kindheit und Jugend wir mit dem 1927– 1929 abgefaßten und mit stark autobiographischen Zügen ausgestatteten Roman Der Herr von Lu: Liebe (Lu Nanzi: lian) gut informiert sind,1180 beschreibt Zeng Pu darin doch die Zeit bis zur Ablegung der Prüfung als Bakkalaureus.1181 Neben der autochthonen chinesischen Literatur läßt das Denken und Fühlen des jugendlich-romantischen Romanhelden auch eine mögliche Orientierung an Vorbildern wie Goethes Werther oder Romain Rollands Jean-Christophe erkennen. Zeng Pu nun stammte aus Changshu in der Provinz Jiangsu, wo er 1872 als einziger Sohn einer großen und traditionsreichen Familie, die seit dem 12. Jahrhundert in der Stadt wohnte und zahlreiche Minister, Gelehrte und Generäle hervorgebracht hatte, geboren wurde. Neben einer literarischen Begabung über die der junge Zeng Pu verfügte, fand er in seiner familiären Umgebung auch entsprechende Förderung nicht zuletzt bei dem Vater, der ein anerkannter Essayist war und der Großmutter, die ihn mit der Balladenform der tanci bekannt machte. Angeregt durch die Lektüre des Traums der Roten Kammer, dessen Anziehungskraft für junge Leute selbst in unruhigen Zeiten nichts eingebüßt hatte, schien sich Zeng Pu mit dem Romanhelden Jia Baoyu zu vergleichen, ein Umstand, dem ein konkretes Erlebnis, nämlich die unglückliche Liebesaffäre mit seiner Cousine, Fräulein Ding, zugrunde liegt. Im Alter von siebzehn Jahren trennte man die beiden, da die Verbindung gegen die verwandtschaftlichen Tabus verstieß. Tief betroffen, sollte Zeng Pu den darüber empfundenen Schmerz wohl nie ganz verwinden. Eindrucksvoll schilderte er später im Herrn von Lu die seelischen Kämpfe, die der 1179
1180 1181
Dieser Aspekt der Stellung des Romans in der zeitgenössischen chinesischen Literatur ist u.a. gewürdigt worden bei BLANKA HINZ: Der Roman »Eine Blume im Sündenmeer« (Niehaihua) und sein Platz in der chinesischen Literatur, Bochum: Brockmeyer 1995. Erschienen u.a. in der Ausgabe Taipeh: Wenhua tushu gongsi 1985. Die biographischen Notizen folgen hier weitgehend den Darstellungen bei PETER LI: Tseng P'u, Boston: Twayne 1980.
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Protagonist aufgrund einer unglücklichen Liebesangelegenheit durchzumachen hatte. Einziger Trost blieb die Gewißheit, die Liebe zur Angebeteten »rein« gehalten zu haben. In düsteren Farben entwarf Zeng Pu in einem Gegenbild das Schicksal eines Freundes namens Zhu Xiaoxiong, der die Freuden der Liebe ungehemmt mit seiner Partnerin genoß und alle Tabus überschritt, was das Pärchen am Ende in den Selbstmord trieb. Nachdem der Vater Zeng Pu zu den Prüfungen in die Hauptstadt befohlen hatte, wo er 1892 den Magistertitel erwarb, nahm er seine literarische Tätigkeit auf und kam um 1907 in Kontakt mit dem berühmten Übersetzer Lin Shu, war von diesem aber enttäuscht, als sich herausstellte, daß Lin keine Fremdsprachen beherrschte, auf fremde Hilfe angewiesen war und zudem in das klassische Idiom der wenyan übertrug. Zeng Pus eigenes Interesse galt vor allem den französischen Autoren sowie dem französischen Lebensstil mit den Salons, der Romantik und dem spontanen Charakter der Menschen. Zwischen 1910 und 1920 übersetzte Zeng Pu aus dem Werk diverser französischer Autoren wie Balzac, Molière, Zola sowie Hugo, von dem er ganz besonders stark beeinflußt worden ist. So übertrug Zeng 1913 Hugos Quatre-vingt Treize, dem 1916 die chinesische Version des Schauspiels »Lucrèze Borgia« folgte. Die Bande zum Abendland wurden noch enger geknüpft, als Zeng Pus Sohn Yaozheng 1919 ein Medizinstudium in Europa aufnahm. Die literarische Arbeit war allerdings auch für Zeng Pu stets nur eine vorübergehende Beschäftigung, wie sein politisches Engagement zwischen 1908 und 1926 auf verschiedenen Posten in der Provinz Jiangsu belegt. Der Nachwelt ist Zeng Pu freilich insbesondere aufgrund seines Romanfragments der Blumen in Erinnerung geblieben, dessen Entstehung verschlungen genug ist. So gehen erste Szenen des Werks auf einen gewissen Jin Songcen (1874– 1947) zurück, der 1903 unter dem Eindruck der Bedeutung der chinesischrussischen Beziehungen einige Romankapitel unter eben dem vieldeutigen Titel Blumen im Meer der Sünde zu Papier gebracht hatte und zuvor bereits als politischer Aktivist, Verfasser von Essays über die Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft sowie als Übersetzer russischer und japanischer Werke an die Öffentlichkeit getreten war. Das »Meer der Sünden« ist dabei unschwer als Metapher für die der Vergeltung unterliegenden Übel durch die Herrscher und Beamten zu deuten, die China in den vergangenen Jahrhunderten zugrunde gerichtet hatten. Was sich hier bereits andeutet, ist das umfassende Bild eines sich wandelnden Chinas mit seiner starken Verwicklung in außenpolitische Angelegenheiten und den neuen Kultureinflüssen. Der Ton ist insgesamt weniger anklagend als in anderen zeitgenössischen Werken, doch ist Zeng Pus Schilderung nichtsdestoweniger schonungslos offen, wenn er die Verknüpfungen des chinesischen Schicksals mit dem unbeholfenen Wirken seiner hohen Beamtenschaft darlegt. Auf den Romanstoff und seinen ersten Verfasser Jin wurde Zeng Pu 1904 aufmerksam, nachdem er gemeinsam mit Freunden den Verlag »Wald der Erzählkunst« (Xiaoshuolin she) gegründet hatte. Zeng war von Blumen derart beeindruckt, daß er
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sich entschloß, das Werk fortzuschreiben. Dabei beließ er die ersten Kapitel unverändert und arbeitete mit Jin Songcen einen Plan für insgesamt sechzig Romankapitel aus. Daß sich hinter den Pseudonymen »Freiheitsliebender« (das ursprünglich von Jin gewählte Verfasserpseudonym) bzw. dem »Kranken Mann Ostasiens« der ersten Publikation von 1905 Hinweise auf die beiden Mitverfasser der Blumen verbargen, mag vielleicht nur einem ganz kleinen Kreis Eingeweihter bekannt gewesen sein. Zeng Pu jedenfalls lüftete das Geheimnis erst 1928. Die Arbeit am Roman kam zunächst gut voran, beide Autoren hatten sich schnell auf die Kapitelüberschriften für das Werk geeinigt. Abrupt brach Zeng Pu schließlich jedoch seine Tätigkeit nach der Niederschrift von zwanzig Kapiteln in nur drei Monaten im Jahre 1905 und weiteren fünf Kapiteln, die bis 1907 erschienen ab, um sich der Blumen erst mehr als zwei Jahrzehnte später wieder anzunehmen. Im Jahre 1928 nämlich revidierte Zeng Pu das Romanfragment und legte bis zum Ende der zwanziger Jahre eine Erweiterung bis auf fünfunddreißig Kapitel vor. Ganz spurlos ist die lange Unterbrechung am Werke freilich nicht vorübergegangen, so sind stellenweise deutlich Stimmungswechsel zwischen anfänglicher Verdammung der Protagonisten und einer distanzierteren zynisch-satirischen Darstellung in späteren Passagen festzustellen. Vermutlich waren gesundheitliche Gründe der Anlaß dafür, daß Zeng Pu seine Arbeit erneut unterbrach. Als Zhang Hong (1867–1941), ein Freund der ebenfalls aus Changshu stammte und als Konsular in Japan eine diplomatische Karriere hinter sich gebracht hatte, Zeng Pu zu einer Weiterführung des Romanprojekts anregte, befand sich dieser schon in einem zu gebrechlichen Zustand, um an eine weitere Tätigkeit dieser Art zu denken. Vielmehr schien Zeng die Aufgabe zur Fortsetzung in die Hände Zhangs selber zu legen, so ist er wenigstens den Angaben in dem Vorwort zum Folgeroman zu entnehmen, an den sich Zhang Hong 1935 unmittelbar nach dem Tode Zeng Pus machte.1182 Tatsächlich gelang es Zhang, der sich selbst bereits im hohen Alter von fast siebzig Jahren befand, das ursprüngliche Romanprojekt von sechzig Kapiteln noch vor seinem eigenen Tod zu einem Ende zu führen. Zunächst als Serie bis in die frühen vierziger Jahre in der Zeitschrift »Zhonghe yuekan« abgedruckt, erschien dann schließlich 1943 posthum eine gebundene Buchausgabe des Werks.1183 Zhang Hongs Fortsetzung knüpft in Kapitel einunddreißig unmittelbar an die letzten Szenen der Dreißig-Kapitel-Fassung von Blume an. Kurz werden noch einmal die Ereignisse in Erinnerung gerufen, als Caiyun sich während der Rückfahrt in den Süden von der Familie des verstorbenen Gatten absetzt. In der Folge werden dann bis Kapitel sechzig die historischen Ereignisse bis zum Boxeraufstand von 1900 eingearbeitet mit der Hervorhebung von Caiyuns verdienstvollem Einwirken auf Waldersee und mit dem Bestreben, die bewußte Schmähung Chinas durch die 1182
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Unter anderem erschienen als Fortsetzung zu Blumen im Meer der Sünden (Xu Niehaihua), Shijiazhuang: Huashan wenyi 1994. Und zwar im Zhen Mei Shan-Verlag.
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Errichtung des Siegesbogens für den ermordeten deutschen Gesandten Kettler gering zu halten.1184 Was ist es nun, das die offensichtliche Beliebtheit der Blumen zu Beginn des Jahrhunderts ausgemacht hat? Wie wir aus Bemerkungen Zeng Pus wissen, brachte es Blumen im Meer der Sünde nach dem ersten Erscheinen auf ganze fünfzehn neue Auflagen, die insgesamt stattliche fünfzigtausend Exemplare umfassten.1185 Mit den zahlreichen Darstellungen von Feiern und Banketten sowie den eingefügten Gedichten und Liedern ruft Blumen entfernt die Erinnerung an die Atmosphäre im Traum der Roten Kammer wach. In geschickter Form gelang es Zeng Pu darüber hinaus, in Anlehnung an eine Reihe der beliebtesten Stoffe der Erzählkunst wie das Thema von den Talenten und Schönheiten sowie unter Ausnutzung struktureller Novitäten, von denen Die Gelehrten einen Eindruck gegeben hatten, ein panoramaartiges Bild der politischen und gesellschaftlichen Zustände in China während der Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende zu geben und dabei den Blick auf die gesamte Welt zu erweitern. So weist der Handlungsaufbau in Blumen deutlich Parallelen zu der Struktur in den Gelehrten auf. Doch während dort die meisten Protagonisten nur einmal genannt werden und dann zu einer nächsten Episode überleiten, und auch Wu Woyao in seinen Seltsamen Ereignissen nur mit Hilfe des Ich-Erzählers eine Klammer um die ansonsten weitgehend unzusammenhängenden Geschichten bildet, entwickelt Zeng Pu dieses System zu einer Art »Komplexform« weiter: Um die beiden Gestalten Jin Wenqing und Fu Caiyun sind eine Reihe von Nebenfiguren angeordnet, die mehr oder weniger oft in Erscheinung treten und ein facettenreiches Bild verschiedener Aspekte der Gesellschaft geben.1186 Wie sehr sich Zeng Pu bei der Umarbeitung seines Romans Ende der zwanziger Jahre möglicherweise bereits den neuen Kunstformen seiner Zeit verpflichtet fühlte, zeigt sein Hinweis, er habe die politischen und sozialen Veränderungen im China vor der Jahrhundertwende auf »kinematographische Weise« darzustellen versucht – eine Bemerkung, mit der er Hu Shis Kritik an der zu lockeren Struktur der Blumen zu entkräften versuchte.1187 In anekdotischer Art und Weise gibt Zeng Pu scheinbar Einblicke in Entscheidungs1184
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Vgl. dazu u.a die Untersuchung der Beziehung zwischen Ausgangs- und Folgewerk bei SHI MENG: »Die letzten fünf Kapitel von Blumen im Meer der Sünde und Fortsetzung zu Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua hou wu hui yu Xu Niehaihua«, in: DERS.: Forschungen zu Zeng Pu (Zeng Pu yanjiu), Shanghai: Shanghai guji 1982, S. 119–131. Vgl. dazu die Angaben Zeng Pus im 1928 stattgefundenen Gespräch über Blumen im Meer der Sünde, hier abgedruckt in WEI SHAOCHANG: Materialien zu »Blumen im Meer der Sünde« (»Niehaihua« ziliao), Shanghai: Shanghai guji 1982, S. 129. Bei dem Begriff »Komplexform« handelt es sich um die Übersetzung des Terminus cuozongshi, den ZHOU XIFU in seiner Monographie Über »Blumen im Meer der Sünden« (Xianhua »Niehaihua«), Hongkong: Zhonghua shuju 1989, S. 131 nennt. Vgl. dazu die Bemerkungen in PETER LI: »The Dramatic Structure of Niehai hua, in: D2/(ä(/29È-VELINGEROVÁ: The Chinese Novel at the Turn of the Century, S. 150f.
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prozesse der obersten Staatsbürokratie, was dem Werk eine Art Enthüllungscharakter verleiht. Mittels einer politisch wesentlich engagierteren Form als etwa bei Liu E sind die starken anti-mandschurischen Tendenzen des Autors unverkennbar, ist die Anerkennung für Aktivitäten der Geheimgesellschaften sowie der Revolutionäre unüberhörbar. Russische Nihilisten werden ebenso genannt wie chinesische Revolutionäre, die reformistische Philosophie der Gongyang-Schule der Sozialphilosophie Saint-Simons gegenübergestellt. Seinen Charakter als Schlüsselroman zum Verständnis der zeitgenössischen Vorgänge verdankt Blumen schließlich dem Umstand, daß sich hinter nahezu allen Protagonisten konkrete historische Persönlichkeiten verbergen, angefangen bei Jin Wenqing alias Hong Jun (1840– 1893), einem Schwurbruder von Zeng Pus Vater, und dem Freudenmädchen Fu Caiyun alias Sai Jinhua (ca. 1872–1936), die Zeng Pu nach eigenen Angaben persönlich gekannt hat.1188 Feng Guifen (1809–1874) schließlich ist ein Gelehrter und progressiver Denker seiner Zeit, und hinter der Romangestalt Xue Shuyuns verbirgt sich in Wahrheit Xue Fucheng (1838–1894), seines Zeichens Minister und zeitweise Gesandter in England und Frankreich. Doch hinter dieser Garnitur von Protagonisten tauchen im Roman die Bilder noch weit berühmterer Berater der Qing wie etwa Li Hongzhang, Zhang Zhidong oder Li Ciming auf.1189 Jin Wenqings Scheitern und Niedergang im Roman bezeichnen den Niedergang der traditionellen chinesischen Aristokraten und Gelehrten schlechthin. Schonungslos werden Schwächen wie die Vorliebe für unpraktisches Buchwissen, Mißverständnis in bezug auf die Welt sowie übertriebener Stolz auf Ruhm und den eigenen Namen angeprangert. Der Auftakt zum Roman Blumen im Meer der Sünde ist wohl in Anlehnung an die traditionelle Erzählkunst mit einem Vorspann zur Herleitung der späteren Handlung aus überirdischen Verhältnissen versehen. Zeng Pu berichtet dabei zunächst von einer fernen Insel namens »Sklavenfreude« (Nuledao), die eben im »Meer der Sünden« liegt. Unschwer werden die Parallelen zu China erkennbar, wenn betont wird, daß die Menschen auf der Insel die Mächtigen verehren und sich – steht die Insel doch in keiner Verbindung mit dem Ausland – in ihrer Unkenntnis von Begriffen wie Freiheit willig mit der Befriedigung elementarster 1188
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Den Angaben zufolge hat Zeng Pu Sai Jinhua in der frühen Republikzeit (also nach Abfassung der ersten Romankapitel) kennengelernt und sprach damals von ihr als einer stark geschminkten Frau von ca. fünfzig Jahren. Wie Zeng in den dreißiger Jahren betonte, habe Sai den Schilderungen in Blumen nur in zwei Punkten widersprochen: Danach sei sie weder die Tochter eines Kulis gewesen noch habe sie auf der Schiffsreise nach Europa ein Verhältnis mit dem Kapitän gehabt. Vgl. bezüglich der Zuordnung von Namen der Protagonisten zu Namen der historischen Gestalten den Beitrag von SHI MENG: »Planungsentwurf und Panoramaperspektive in Blumen im Meer der Sünde« (»Niehaihua« chuangzuo guihua quanmao guankui), in: DERS.: Forschungen zu Zeng Pu, S. 132–164.
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Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Kleidung begnügten und es schon für eine Gunst des Schicksals halten, eine brave Frau an der Seite zu haben und vielleicht noch zu ein wenig Ruhm zu gelangen. Nach dieser Einleitung schlägt der Autor die Brücke zur Gegenwart, erhoben sich doch fünf Jahrzehnte zuvor (also zur Mitte des 19. Jahrhunderts) mit einem Mal große Wellen um die Insel, doch erkannten die Menschen die Gefahren nicht und frönten weiterhin allerlei irdischen Genüssen, so daß der Untergang im Jahre 1904 nicht mehr aufzuhalten war, als die Insel in den Fluten versank. Erhalten blieb lediglich eine Landbrücke zur chinesischen Stadt Shanghai, wo der »Freiheitsliebende« (Ai ziyouzhe) eines Tages in den Besitz der vorliegenden Geschichte gelangt und sie an seinen Freund, den »Kranken Ostasiens« (Dongya bingfu) zur Veröffentlichung weitergibt. Recht unvermittelt wird dann zu der männlichen Hauptperson der Blumen übergeleitet, Jin Wenqing, einem hohen Gelehrten aus der Provinz Jiangsu, seines Zeichens zhuangyuan, der bei den Palastprüfungen den ersten Platz errungen hat, ein zweifelhafter Ruhm freilich, wie sich später angesichts der Tollpatschigkeit des Helden herausstellen wird und wie Zeng Pu in einigen Sätzen mit unverhohlener Ironie hervorhebt. Ich glaube, die Bürger, welche nie die Listen der Prüflinge an den staatlichen Akademien eingesehen haben, können die Bedeutung eines zhuangyuan gar nicht ermessen. Ein derartiges Gelehrtentum ist einfach einmalig auf der Welt, etwas derartiges gibt es nur in China. Nur einmal in drei Jahren erlangt einer diese Weihen, und nur, wer die Verdienste der Generationen vor ihm in Anspruch nehmen kann, wer stets ein geregeltes Leben geführt hat und über Beziehungen in der Hauptstadt genauso verfügt wie über die Fähigkeit zur Abfassung eines Aufsatzes, nur bei jemandem, bei dem sich alle diese Dinge in Einklang befinden, der darf sich Hoffnung auf den Titel machen. Ein zhuangyuan, das ist der »Prinz der Unsterblichen«, »ein Schüler des Himmelssohnes«. Selbst Gelehrte wie Su Dongpo, Dichter wie Li Taibo müssen vor der überragenden Intelligenz und Nobilität eines zhuangyuan weichen, ganz zu schweigen von Denkern wie Bacon 1190 und Rousseau.
Damit wird der erste Abschnitt des eigentlichen Romans eingeleitet, in dem von dem erfolgreichen Aufstieg Jin Wenqings die Rede ist, dessen historisches Pendant Hong Jun 1869 als Bester aus den Palastprüfungen hervorging, in der Folge verschiedene Ämter in der Provinz bekleidete und es bis zum Vizekanzler im Großsekretariat brachte, bevor man ihn 1887 zum kaiserlichen Gesandten Chinas für Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn sowie die Niederlande ernannte. Gekonnt wird mittels der literarischen Gestalt die Karriere Hongs nachgezeichnet. Nachdem sich Jin Wenqing einmal entschlossen hat, einen Posten in dem 1861 eingerichteten 1190
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Außenamt (Zongli yamen) anzustreben, begibt er sich nach Peking zum Studium der Außenpolitik und macht dabei gute Fortschritte. Immer wieder finden sich neben dem eigentlichen Handlungsstrang Hinweise auf die Ereignisse der Zeit wie etwa das erfolgreiche französische Vordringen in Vietnam (1883–1885), das der Tatsache zu verdanken ist, daß die chinesische Militärführung es nicht versteht, militärische Siege zu nutzen. Die Menschen beginnen nach und nach zu ahnen, wie schlecht es um das eigene Land und die Fähigkeit seiner Politiker eine erfolgreiche Außenpolitik zu betreiben bestellt ist. Doch viel davon ist Schein, auch Jin Wenqings Empörung über das schamlose Treiben Da Xings, des Gouverneurs von Jiangxi, der sich nur seinen Vergnügungen hingibt, ist aufgesetzt, mißachtet er doch das Gebot der einjährigen Trauerzeit um die Mutter, als er sich nach ihrem Tod von Freunden zur Teilnahme an einer Feier überreden läßt, bei der es trotz seinem Wunsch, keine Singmädchen hinzuzubitten, zur ersten Begegnung mit der späteren Geliebten kommt. Damit ist die weibliche Hauptfigur der BlumeN auch endlich eingeführt. Wie bei Jin Wenqing handelt es sich um eine historische Gestalt, um deren Existenz sich allerdings eine Unzahl von Gerüchten gesammelt haben. Die Unsicherheit fängt schon bei den Namen an, unter denen die Heldin in Literatur und Geschichte auftaucht. Sie tritt mal als Zhao Caiyun, Fu Caiyun, Cao Menglan oder Fu Yulian in Erscheinung, doch dürfte der gebräuchlichste Name immer noch Sai Jinhua sein, unter dem sie seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt ist.1191 Unklar bleiben auch die biographischen Angaben der Heldin. Soweit bekannt ist, stammte die spätere Diplomatenfrau aus bescheidenen Verhältnissen in Suzhou. Während sie selber das Jahr 1874 als Datum ihrer Geburt angab, kann dies aber auch gut zehn Jahre früher angesetzt werden, realistisch dürfte 1872 sein. Mit zehn Jahren dann wurde die Tochter eines Tagelöhners in ein Freudenhaus in Shanghai gegeben, wo sie 1886 ihren künftigen Ehemann, den Staatsbeamten Hong Jun kennenlernte. Hong, der kurz nach der Aufnahme Sai Jinhuas als Nebenfrau in seinen Haushalt zum Gesandten bestellt worden war, fand in der jungen Gattin offenbar eine interessierte und weltoffene Partnerin an seiner Seite, der er für seine Mission in Europa den Vorzug vor der Hauptgattin gab, galt die Teilnahme der Frauen am diplomatischen Verkehr in der Gesellschaft doch nach konfuzianischen Vorstellungen als wenig schicklich. Dennoch ist den blumigen Erzählungen über Sai Jinhuas Umgang auf der diplomatischen Bühne in Berlin, St. Petersburg usw. – denen sie auch durch entsprechende Schilderungen in ihren Memoiren aus den dreißiger Jahren Glaubwürdigkeit zu verleihen versuchte – eher mit Mißtrauen zu begegnen, 1191
Der Gestalt Sai Jinhuas ist zuletzt in einer hervorragenden Studie nachgegangen worden, auf die hier überwiegend zurückgegriffen wurde. STEPHAN VON MINDEN: Die Merkwürdige Geschichte der Sai Jinhua. Historisch-philologische Untersuchung zu Entstehung und Verbreitung einer Legende aus der Zeit des Boxeraufstands, Stuttgart: Franz Steiner 1994 (Münchener Ostasiatische Studien Bd. 70).
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galt Hong Jun doch als ein eher konservativer Mann, der seiner Gattin nicht allzu viele Freiheiten erlaubt haben dürfte. Beschreibungen von Begegnungen mit Bismarck oder Audienzen beim deutschen Kaiser sind daher mit Sicherheit aus der Luft gegriffen.1192 Nach dem Tode Hong Juns kam Sai Jinhua wieder in Berührung mit ihrem früheren Gewerbe, was ihr nach der Verwicklung in den Todesfall eines Mädchens aus dem Etablissement eine gerichtliche Klage einbrachte, deren Konsequenzen sie sich aber aufgrund guter Beziehungen bald entziehen konnte. Es gelang Sai Jinhua schließlich nach der Rückkehr nach Shanghai und der Heirat mit einem Beamten in gehobener Stellung bis in die frühen zwanziger Jahre einen angesehenen gesellschaftlichen Status zu halten, doch fristete sie spätestens nach dem Tode des Gatten 1922 ein eher ärmliches Leben in der Pekinger Südstadt und fiel der Vergessenheit anheim. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als die Presse zu Beginn der dreißiger Jahre ihren Fall noch einmal aufgriff. Ihre kurze Zeit darauf 1934 erschienenen Memoiren Erinnerungen der Sai Jinhua (Sai Jinhua benshi), die nichtsdestoweniger in hohem Maße eine »Selbstinszenierung« blieben,1193 dürften ein später Triumph für die Frau mit Vergangenheit gewesen sein. Das unerwartete Publikumsinteresse bot zudem Gelegenheit, Einfluß auf die Geschichtsbilder zu nehmen, die vor allem in der literarischen Ausgestaltung des Themas der Lebedame an der Seite des Diplomaten seit den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts kursierten. Schon bevor sich Jin Songcen des Stoffes Anfang des Jahrhunderts annahm, hatte Fan Zengxiang in seinem Gedicht »Lied von der Bunten Wolke« (Caiyun qu) im Sommer 1899 die anzüglichen Ereignisse um die Mission Hong Juns beschrieben, die Handlung dabei jedoch nach England verlegt. Und selbst nachdem Zeng Pu die Arbeit am Roman eingestellt hatte, fanden sich bis in die dreißiger Jahre sowie auch darüber hinaus immer wieder Autoren, die die Vorlage dankbar aufnahmen und phantasievoll ausmalten, was umso einfacher war, als lange Zeit niemand die wahre Identität des Verfassers von Blumen kannte. So legte Lu Shi'e 1910 seinen Roman Neue Blumen im Meer der Sünde (Xin niehaihua) vor, doch hat das Werk inhaltlich nicht das geringste mit Zeng Pus Vorlage zu tun. Immerhin widmete er in seinem zwei Jahre darauf erschienenen Folgewerk Fortsetzung zu Blumen im Meer der Sünde (Niehaihua xubian) mehrere Kapitel der Affäre der Kurtisane mit dem fremden General. Auch als Drama und Oper wurde der Stoff über die Jahrzehnte immer wieder verarbeitet. Ziel der Angriffe Sai Jinhuas in ihren Memoiren blieb jedoch 1934 die Person Zeng Pus. Es selber mit der Trennung von Dichtung und Wahrheit nicht sonderlich ernst nehmend, berichtete Sai Jinhua, mit Zeng Pu in ihrer Jugend gut bekannt gewesen zu sein. Laut ihrer Darstellung war der junge Mann bis über beide Ohren verliebt in sie und habe nur aus Wut und Enttäuschung darüber, daß sie den 1192 1193
Vgl. ebd., S. 111ff. Vgl. zu dieser Einschätzung ebd., S. 43.
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Gelehrten Hong Jun geheiratet habe, seinen Roman verfaßt. Zeng wies in seiner Erwiderung auf die Vorwürfe den Verdacht einer Liebe zu Sai Jinhua stets von sich, was einigermaßen überzeugend klingt, war er doch selbst einige Jahre jünger als Sai Jinhua und zählte zur fraglichen Zeit gerade einmal dreizehn Jahre.1194 Doch sehen wird weiter, wie sich die Geschichte entwickelt. In kurzen Szenen entwirft Zeng Pu nach der Einführung der literarischen Gestalt der Sai Jinhua sodann die weitere Handlung, die mit der Ernennung Jin Wenqings zum Gesandten in den zweiten größeren Romanteil einmündet. Fu Caiyun und ihr Gatte haben sich nach der Anreise über Genua und Jin Wenqings Akkreditierung in Berlin niedergelassen. Den zeitlichen Hintergrund bilden der Tod Wilhelm I. 1888, die Thronbesteigung durch Friedrich III., dem nach nur neunundneunzig Tagen schließlich Wilhelm II. auf den Thron folgt. Die exotische Gestalt Caiyuns wird zum Mittelpunkt der gesellschaftlichen Ereignisse. Ihre Bekanntschaft mit Kaiserin Viktoria II. gerät zu einem der Höhepunkte des Aufenthalts in Berlin. Die Darstellung des Lebens der Potentaten an den Höfen Europas steht dabei in starkem Kontrast zu den Affären im chinesischen Kaiserhaus, in die Zeng Pu zu Ende des Romans kurz Einblick gibt. Im Mittelpunkt stehen dort die Auseinandersetzungen zwischen Cixi und ihrem Sohn, Kaiser Guangxu, dem sie seine Sympathien für die reformerischen Tendenzen während der neunziger Jahre wohl nie verziehen hat. Immer wieder versucht der junge Kaiser, gegen die Mutter aufzubegehren. Mit der Nachricht von der Rückkehr Jin Wenqings nach China (die tatsächliche turnusmäßige Abberufung Hongs erfolgte 1890) wird nun zu dem dritten und letzten Romanteil übergeleitet. Die Fäden, an denen der Autor beim Bericht über den Niedergang des Diplomaten weiterspinnt, sind dabei schon erkennbar, weiß doch der Leser aus den vorherigen Schilderungen bereits vom teuren Kauf geheimer Karten, die China von Vorteil bei den Grenzverhandlungen mit Rußland sein sollen. Vermittler des anrüchigen Kaufs ist ausgerechnet Pierre, der Hypnotiseur von der »Sachsen«. Lediglich Caiyun, die dem Gespräch zwischen ihrem Gatten und Pierre beiwohnt, ahnt von dem Betrug, dem Wenqing aufzusitzen droht und spricht sich gegen den Kauf der tausend Pfund teuren Karte aus, wird aber von Wenqing dann fortgeschickt. Er läßt nach Abschluß des Geschäfts farbige Kopien der Karten anfertigen und zur Aufbewahrung nach Peking senden. Wie wenig Jin Wenqing auf seiner Mission ins Ausland gelernt hat, zeigen seine Äußerungen in Gesprächen mit Freunden nach der Rückkehr nach Shanghai. Man spricht über Fragen der Außenpolitik. Leichtgläubig wiederholt Wenqing Worte des Zaren, Rußland sei saturiert und hege keinerlei Absicht, sein Gebiet in Asien zu erweitern. Die Bemerkungen werden zu Recht mit genügend Skepsis aufgenommen. Lebendig zeichnet Zeng Pu hier die Diskussionen in seiner Zeit nach. Taixias Vorschläge werden mit dem Hinweis relativiert, daß politische Veränderungen in 1194
Vgl. ebd., S. 146f.
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China angesichts der jahrtausendealten Kaiserherrschaft schwierig seien, Erfolge dagegen eher im Erziehungsbereich zu erwarten sind. Doch auch daran meldet ein konservativerer Teilnehmer der Runde wieder Bedenken an: Vor der Einrichtung von Schulen müßten zunächst Werke wie Rousseaus Contrat Social und Montesquieus Esprit des lois vernichtet werden, sonst würden Schüler mittels der Bildung fehlgeleitet, redeten nur noch von »Revolution«, »Gleichberechtigung« und »Freiheit«. Mit der zuletzt hervorgehobenen Rolle der Literatur in dem Prozeß der Selbststärkung rückt Zeng Pu das Medium, dessen er sich selber bedient, noch einmal in den Mittelpunkt. Zu wenig habe man in der Vergangenheit die Fähigkeit des Dramas und der Erzählkunst genutzt, um die Menschen emotional zu erreichen und auch politische Themen zu transportieren. Vielmehr sei die Literatur seit alters her mit fragwürdigen Themen wie den unsinnigen Geschichten von Talenten und Schönen oder abergläubischen Inhalten wie in der Reise in den Westen befrachtet gewesen. Nach diesen Ausflügen in die hohe Politik holt die Wirklichkeit freilich auch Jin Wenqing bald ein. Kurze Zeit nachdem er im Pekinger Außenamt einen neuen Posten angetreten hat, erreicht ihn die Hiobsbotschaft, Rußland erhebe unter Berufung auf die einst von ihm in Europa teuer erworbene Karte Gebietsansprüche im Pamirgebirge. Zwar bringt die Unterstützung von Freunden in der Kartenfrage noch einmal Erleichterung, als sich herausstellt, daß die Probleme im Pamir nicht erst mit dem Dilettantismus Wenqings begonnen haben, doch versetzen ihm die über Kutscher herangetragenen Gerüchte, Caiyun führe ein wildes Leben und treibe sich in Schauspielhäusern herum, einen tödlichen Stoß. Tatsächlich starb auch Hong Jun 1893 in Folge der Auseinandersetzung über die Kartenfrage. Geraume Zeit verbleibt Caiyun unter der Versicherung einen tadellosen Lebenswandels zu pflegen noch im Haus der Familie des Gatten, flüchtet dann aber am Ende mit ihrem Geliebten, einem Schauspieler namens Sun San'er nach Süden.
2.4 Weitere Romane zum Problemkomplex des chinesischen Beamtentums Mit den oben einigermaßen ausführlich behandelten Schriftstellern und ihrem Werk sind die Hauptvertreter der kritischen Erzählliteratur zum Ende der QingDynastie vorgestellt worden, die sich thematisch mit der Bloßstellung von Praktiken innerhalb der Bürokratie befaßten, was angesichts der vorherrschenden Bedeutung dieser gesellschaftlichen Gruppierung für die konkrete staatliche Verfassung Chinas und das Leben der Menschen nicht verwundert. Wir wollen der Vollständigkeit halber in der Folge noch eine Reihe kleinerer Werke aus diesem Bereich anführen und uns danach einigen weiteren Themen wie z.B. der Frauenfrage, der Lage der Chinesen im Ausland und der Kaufmannschaft zuwenden, um ein umfassendes
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Bild über die literarische Wahrnehmung der aktuellen Probleme durch die Schriftsteller jener Zeit zu gewinnen. Die hier im weiteren angeführten Beispiele müssen wohlgemerkt eine kleine Auswahl bleiben.1195 Ohnehin sind die wichtigsten Aspekte aus diesem Bereich in den Werken von Verfassern wie Li Boyuan und Wu Woyao hinreichend abgedeckt. Unterschiede sind jedoch in der Sichtweise und der Vehemenz zu erkennen, mit der einzelne bislang nicht genannte Schriftsteller ihre Anliegen vortrugen, so daß sich Untersuchungen dazu durchaus rechtfertigen.1196 Ein früher Roman, der sich mit dem Komplex der Probleme in der Bürokratie befaßte, ist das 1905 erschienene Werk Welt der Beamten (Guan shijie) in zweiunddreißig Kapiteln, dessen unbekannter Autor sich hinter dem Pseudonym »Der alte Nachtschmetterling vom Gipfel Shu« (Shugang huosou) verbirgt. Erzählt wird die Geschichte des Bao Xinyu, Sproß einer Beamtenfamilie, der um die Jahrhundertwende in Peking lebt. Während der Besetzung der Hauptstadt durch die Alliiertenverbände, die die Boxer vertreiben, findet Bao seine Kollegen aus dem Kriegsministerium und zahlreiche Freunde nicht mehr vor. Er heißt seine Gattin, sich als Gesellschafterin und Mätresse der Fremden durchzuschlagen und verläßt sein Heim. Als er nach der Niederschlagung der Unruhen dorthin zurückkehrt und nur noch einen Trümmerhaufen vorfindet, erklärt ihm die Gattin, daß sein Zuhause bei den Kämpfen zerstört worden ist. Mit dem verbliebenen Geld, das Bao noch zur Verfügung steht, verschafft er sich einen Beamtenposten in der Provinz Sichuan, wo er mit allerlei üblen Tricks wieder zu Wohlstand gelangt. Welt der Beamten endet mit wenig ermutigenden Tönen: Während die meisten Angehörigen des üblen Gelichters um Bao die gerechte Strafe des Schicksals ereilt, gelingt es diesem selbst, sich mittels seiner Machenschaften den Aufstieg in der Beamtenhierarchie zu sichern. Zeitgleich zu Welt der Beamten erschien mit Blütenträume aus zwanzig Jahren (Ershi zai fanhuameng) ein längerer Roman ähnlichen Hintergrundes aus der Feder Huang Xiaopeis (1872–1912),1197 den wir bereits als Verfasser der Erzählung über Hong Xiuquan sowie einigen weiteren historisch-politischen Romanen kurz ken1195
1196
1197
Zu weiteren Titeln aus diesem Themenkomplex vgl. RUH: Das Kuan-Ch'ang Hsien-HsingChi, S. 11, wo eine Übersetzung der entsprechenden Zusammenstellung von Kap. 11 in A YINGS Geschichte des Romans der späten Qing-Zeit angeboten wird. Der Bearbeitung lagen hier zwei von neun Bänden der Reihe Große Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas (Zhongguo jindai xiaoshuo daxi), hrsg. vom Baihuazhou wenyi-Verlag in Nanchang 1993 zugrunde. Der ursprünglich 1905 als Serie in der Hongkonger Zeitschrift »Bebildertes Zeitgeschehen« (Shishi huabao) veröffentlichte Roman wird hier bearbeitet nach der Ausgabe des Pekinger Verlags Zhongguo wenlian aus dem Jahre 1996.
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nengelernt haben und bei dem es sich um einen der produktivsten Schriftsteller seiner Zeit handelt.1198 Armut zwang den aus der südchinesischen Provinz Kanton stammenden Huang, seine Heimat in jungen Jahren zu verlassen und sich einen Lebensunterhalt in den Ländern Südostasiens zu suchen, wo er sich an der Bewegung zur Stärkung Chinas beteiligte. Erst 1903 kehrte er nach Hongkong zurück, um dort als Reporter zunächst für die »China-Zeitung« (Zhongguo ribao) zu arbeiten und später zu anderen Blättern in Kanton zu wechseln. Seit Oktober 1905 engagierte sich Huang Xiaopei in der kurz zuvor gegründeten Revolutionären Allianz (Tongmenghui) und wurde zum Kontaktmann der Partei in Hongkong gewählt. Seine politische und publizistische Arbeit riß auch in den folgenden Jahren nicht ab. Als sich die Provinz Kanton nach dem Aufstand von Wuchang im Jahre 1911 für unabhängig erklärte, übertrug man Huang das Amt der Freikorpsbewegung (Mintuanju). Durch den Warlord Chen Jiongming 1912 unter dem Vorwand der Unterschlagung von Soldgeldern zum Tode verurteilt, fand Huangs bewegtes Leben ein tragisches Ende. In Blütenträume aus zwanzig Jahren nun entwirft Huang Xiaopei die Geschichte des Zhou Yongyou, der nach dem Tod des Vaters Aufnahme bei seinem Onkel Fu Cheng findet. Dies ist freilich nicht der beste Umgang für den ohnehin aufgrund seiner Wettleidenschaft stets in Geldnöten steckenden Yongyou, hat sich doch der Onkel als kleiner Zollbeamter in Kanton Mittel und Wege geschaffen, um sich mit Hilfe seines geringen, aber einträglichen Postens ein erkleckliches Zubrot an illegalen Einnahmen zu sichern. Der aufgeweckte Neffe findet gerade noch rechtzeitig Einblick in die unrechtmäßigen Praktiken Fu Chengs und kauft ihm sein gewinnbringendes Amt ab, ist doch der Onkel nach der Ankunft eines neuen Gouverneurs alsbald gezwungen, das Weite zu suchen und sich nach Hongkong abzusetzen. Die eigene finanzielle Lage sichergestellt, wendet sich Zhou Yongyou seinem persönlichen Glück zu. Er kehrt in seinen Heimatort zurück und strebt die Heirat mit der jungen Frau Deng an. Die schönen Worte, mit denen die eingeschaltete Vermittlerin Liu vorgebrachte Bedenken zertreut und das Leben in Reichtum und Wohlstand der Gattin eines Zollbeamten schildert, geben ein plastisches Bild von dem Treiben in diesem Zirkel. »Himmel, erspare mir dein schönes Gerede«, rief die junge Frau Deng, an Vermittlerin Liu gewandt, »mir ist zu Ohren gekommen, daß dieser junge Herr Zhou ein recht unnützer Bursche sein soll. Warum verheimlichst du mir das?« »Du irrst«, erwiderte Liu, »Wie heißt es so schön: ›Weise ruhig einen grauhaarigen Bewerber zurück, aber schlage nie den Antrag eines jungen Mannes aus, nur weil er arm sein mag‹. Herr Zhou hat seinen Onkel nach dessen Flucht vor 1198
Neben den hier und im Kapitel über den historischen Roman vorgestellten Romanen stammen aus der Feder Huang Xiaopeis noch Werke wie Wu ri fengsheng, Chen Kai yanyi, Dangrenbei u.a.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Gouverneur Zhang in seinem Amt als Zollbeamter beerbt und wird in wenigen Jahren ein hervorragendes Auskommen haben. Es ist doch wenig schicklich, sich als junge Dame mit Gedanken an die Verbindung mit einem alten Gelehrten herumzuschlagen, nicht wahr?« »Nun, wenn das so ist«, lenkte Frau Deng ein, »aber sag mir, was bringt denn ein solcher Posten als Zollbeamter für Vorteile?« »Ich habe gehört«, sagte Liu, »daß man im Zollamt stets zwei Bücher führt, in denen die Einnahmen und die Zahlungen aufgelistet werden. In dem einen stehen die echten Beträge, und dieses Buch wird nur von dem Zollinspektor sowie seinem Beamten eingesehen. In das andere Buch trägt man die gefälschten Zahlen ein, die dann an den Kaiserhof in Peking weitergegeben werden. Die gesamten Zolleinnahmen in Millionenhöhe gehen durch die Hand des Zollbeamten, er allein regelt alle Angelegenheiten, der Inspektor kümmert sich nicht weiter darum. So ein Zollbeamter kann die eingestrichenen Gelder zinsbringend verleihen, oder er investiert damit in anderweitige Geschäfte. Außerdem steht ihm eine weitere Quelle zur Bereicherung offen. Bevor der Zollbeamte die jährlichen Zahlungen an die Behörden in der Hauptstadt vornimmt, hebt er die Devisenkurse an und verständigt sich diesbezüglich mit den großen Wechselstuben. Man darf also gewiß sein, daß die Einnahmen eines solchen Beamten im Jahr gut und gerne an die zweihunderttausend Silber-Tael ausmachen. Sag also selbst, wird jemand 1199 wie Herr Zhou da nicht bald jeden anderen Bewerber ausstechen?«
Trotz einiger weiterhin bestehender Zweifel willigt die junge Frau Deng am Ende in die Heirat mit Zhou Yongyou ein, zieht sich aber schnell den Unwillen ihres jungen Gatten zu, als sie an dessen protzendem Gehabe keinen rechten Gefallen findet. Wie befürchtet, läßt Zhou auch bald seine ganze Schlechtigkeit erkennen, zumal er sich nach dem Unfrieden daheim und angesichts der Möglichkeiten, die ihm sein Reichtum bietet, anderswo Vergnügen schafft. Bis zu seiner Flucht aus China zwanzig Jahre später wird sich Zhou in Kanton und Hongkong mehrere Liebesnester geschaffen haben, in denen er abwechselnd mit seinen zehn Nebenfrauen wohnt. So weit ist es freilich kurz nach der Heirat mit Frau Deng noch nicht, doch nimmt sie sich die ersten Affären ihres Mannes und die Nachrichten über das immer unverschämtere Treiben in Geldsachen derart zu Herzen, daß sie nicht lange darauf vor Kummer stirbt. Zuvor hat Zhou nämlich den Zollinspektor Jin Xian auf einer Reise nach Peking begleitet und eignet sich dessen Börse mit mehreren hunderttausend Tael Silber an, als Jin auf dem Rückweg überraschend in Shanghai stirbt. Von dem neuen Inspektor hat Zhou ebensowenig zu fürchten. Selbst reichlich mit Geld ausgestattet, verhilft er dem mittellosen Lian Yuan zu eben diesem Posten, allerdings unter vorheriger Absprache, daß Lian wohl das Amt bekleiden dürfe, die privat abgezweigten Beträge aus den Zolleinkünften aber geteilt würden. Auch im familiären Bereich bleibt Zhou nicht lange tatenlos und verbindet sich nach dem Tode der Frau Deng mit der ebenso geldgierigen wie 1199
Blütenträume aus zwanzig Jahren, Kap. 2, S. 327f.
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machthungrigen Frau Ma als neuer Hauptgattin. Das aufwendig eingerichtete Heim mit wertvollen Möbeln fällt später einer Feuersbrunst zum Opfer, die den Niedergang der Familie andeutet. Zhou Yongyous Aktivitäten lassen ihn mit der Zeit in die gehobenen Kreise der Provinz aufsteigen, wo man über den neuen Bundesgenossen sehr erfreut ist und ihn in der Clique um Gouverneur Zhang an neuen Formen der Bereicherung beteiligt. Wie phantasievoll man dabei vorgeht, zeigt das folgende Beispiel, das auch die ganze Verrottung dieser Gesellschaftsschicht belegt. Wie heißt es doch so schön: Glück dem Tüchtigen! Die Gegend im Süden machte in jenen Jahren eine seltene wirtschaftliche Blüte durch, und der Kaiserhof hatte wieder einmal die Durchführung von Beamtenprüfungen auf der Kreisebene angeordnet. Gouverneur Zhang hatte in diesem Zusammenhang eine neue Geldquelle aufgetan, deren Einnahmen offiziell der Finanzierung der Küstenverteidigung und dem Kampf gegen Schmugglerbanden dienen sollten. Im Volksmund freilich sprach man diesbezüglich nur von einer Namenslotterie. Ursprünglich ging es dabei auch noch ziemlich gerecht zu. Mit jedem Lotterieschein erwarb man einen bestimmten Namen, und je nachdem, wie häufig und auf welcher Position der entsprechende Name später auf den veröffentlichten Namenslisten der erfolgreichen Prüfungskandidaten auftauchte, berechnete sich der Gewinn. Bei dem allgemeinen Unwesen, das man in der Beamtenschaft trieb, war es allerdings kein Wunder, daß in dem Lotteriespiel bald allerlei Unregelmäßigkeiten auftraten, indem man nämlich die maßgebliche Person in der Prüfungsinstanz bestach. Entscheidend war, daß man mit dem Prüfer die Liste der Prüflinge sowie der gesetzten Namen abstimmte und außerdem festlegte, welcher Name an die erste Stelle gesetzt wurde. Den bestochenen Prüfer entlohnte man entweder mit einer Kopfprämie für jeden gesetzten Namen oder man bot ihm die Hälfte des Lotteriegewinns für den an erster Stelle gesetzten Namen an. Nur die bekanntesten Gentry-Mitglieder der Provinz wagten es, sich an diesem Gemauschel zu 1200 beteiligen.
Das Ansehen und Prestige Zhou Yongyous nimmt unentwegt zu und erreicht einen ersten Höhepunkt, als man ihn in eine Delegation zum Empfang des englischen Prinzen in Hongkong aufnimmt. Später werden ihn einflußreiche Freunde in Peking als Gesandten für eine Mission in England vorschlagen, doch wird die gemeinsame Reise mit der Gattin aufgrund unerfreulicher Ereignisse mit den örtlichen Behörden in Singapur abgebrochen. Um auch auf die Freuden der Liebe nicht verzichten zu müssen, richtet Zhou während des Aufenthaltes in der Kronkolonie Hongkong ein Quartier für die frisch erworbene Kurtisane Guixiang ein, neben den aufgenommenen Geschäftsbeziehungen am Ort ein angenehmer Grund, der Zhou in Zukunft immer wieder geraume Zeit dort verbringen lassen wird. 1200
Ebd., Kap. 6, S. 349.
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Geblendet von Reichtum und Erfolg, beginnt Zhou Yongyou jedoch mit der Zeit, die eigene Stellung und seinen Einfluß zu überschätzen. Es folgt eine Anklage wegen fehlerhafter Amtsführung. Alle noch greifbaren Familienangehörigen der betroffenen Clans werden unter Hausarrest gestellt und verhört. Als man die Zhous in Ketten abführt, bieten sie ein Bild des Jammers: Ausfindig gemacht worden waren drei Nebenfrauen, eine leibliche Tochter, die einer anderen Familie bereits in die Ehe versprochen worden war sowie zig Mägde, Dienerinnen, Köche und Knechte, die man allesamt vorerst nach Nanhai schaffte. Die Züge der Nebenfrauen und der Tochter waren von Kummer und Sorge gezeichnet. Das Haar wirr herabhängend, in zerrissenen Kleidern und teilweise ohne Schuhe an den Füßen, waren sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Mit hängenden Köpfen, nicht wagend, den Blick zu heben, zog man an der unübersehbaren Menschenmenge vorüber, die sich entlang des Wegs angesammelt hatte. Überall war ein leises Raunen zu vernehmen und man hörte Bemerkungen wie: »Woher kamen diese Zhous überhaupt, das konnte ja kein gutes Ende nehmen.« »Der reiche Herr Zhou hat die Armut seiner Jugend schnell vergessen. Bei dem ausschweifenden Leben, das er all die Jahre genoß, konnte das nur so enden. Tja, Hochmut kommt eben vor dem Fall.« »Wundert’s? Dieser Zhou hatte doch immer nur sein Amt und den eigenen Vorteil im Kopf. Stets nur Frauen und Gelage, immer nur nach dem Vorteil in den höheren Kreisen schielend. Wann hat er sich denn einmal um die Belange der Menschen und der Allgemeinheit gekümmert. Nie hat er etwas Gutes vollbracht. Für seine Geschäfte in Südafrika brachte er ganze fünftausend Silberdollar auf, aber die Linderung der Not in Tianjin war ihm nicht einmal fünfzig Tael wert. Geschieht ihm ganz recht, wenn man heute seinen gesamten Besitz konfisziert.« »Der Herr Zhou war gar kein so übler Mensch. Er hat sich über die Verfehlungen in seiner Umgebung nie öffentlich ausgelassen und das alles im Familienkreis gehalten. Das zeugt von einer gewissen Aufrichtigkeit, die man ihm durchaus anrechnen sollte. Viel übler war da seine spätere Gattin, diese Frau Ma. Was hatte die nicht für ein hochmütiges Betragen! Niemand war in ihren Augen so reich und voller Würde wie die eigene Familie. Auf andere hat sie immer nur herabgesehen. Und wie verschwenderisch die gelebt hat! Opium mußte sie rauchen, die edelsten Duftwasser verwenden, nichts war ihr gut genug. Selbst dem Sohn hat sie mit ihrer Hochmütigkeit die frühe Ehe untersagt, keine Verbindung erschien ihr standesgemäß. Seit sie das Zepter führte, schwebte Unglück über der Familie. Man kann nur froh sein, daß sie nur die Frau eines hohen Hauptstadtbeamten war. Hätte sie im Palast Verwendung gefunden, wäre aus ihr mit Sicherheit eine zweite Wu Zetian geworden. Das Unglück, das die Familie jetzt ereilt hat, ist 1201 nur ihrem schlechten Einfluß zuzuschreiben.«
Der Roman endet mit der Flucht Zhous ins Ausland, »ein Frühlingstraum ist nach zwanzig Jahren der Blüte und des Reichtums ausgeträumt«, so die letzten Zeilen 1201
Ebd., Kap. 37, S. 539f.
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des Werks, das in erstaunlich realistischer Weise Aspekte des Treibens der Beamten schildert. Blieben die Gestalten in Blütenträume aus zwanzig Jahren weitgehend fiktiv, so wandte sich Huang Xiaopei in dem 1908 in zweiunddreißig Kapiteln erschienenen Roman Wogen des Beamtentums (Huanhaichao) über den Außenpolitiker Zhang Yinhuan (1837–1900) einer konkreten historischen Gestalt seiner Tage zu. Zhang hatte Mitte der achtziger Jahres des neunzehnten Jahrhunderts Diplomatenposten in den Vereinigten Staaten sowie Spanien bekleidet, war jedoch nach Verwicklung in die gescheiterte Reformbewegung von 1898 nach Singkiang verbannt und dort 1900 ermordet worden. Wie Huang in dem Vorwort betonte, war er ähnlich wie schon in seinem Werk über Yuan Shikai um eine ausgewogene Schilderung der Vorgänge bemüht und setzte damit bewußt andere Akzente, mit denen er sich von der oftmals zur einseitigen Verurteilung neigenden Literatur seiner Tage abgrenzen wollte. Ein Beispiel für ein derart tendenziöses Werk liegt etwa mit dem Roman Schamlose Sklaven (Wuchi nu) vor, der aus der Feder des ansonsten biographisch nicht weiter faßbaren Autors Su Tong stammt, der den Leser über seine Intentionen bei der Anfertigung des Buches durch folgende Bemerkungen im ersten Kapitel nicht lange im unklaren läßt.1202 Verehrter Leser, Sie werden wissen wollen, warum ich meinem Buch ausgerechnet den Titel Schamlose Sklaven gegeben habe. Nun, damit hat es seine eigene Bewandtnis. Ich bin zwar noch jung an Jahren, doch in dem Jahrzehnt, in dem es mich an vielerlei Orte des ganzen Landes verschlagen hat, habe ich die merkwürdigsten Dinge erlebt und bin mit allen möglichen Menschen zusammengetroffen. Von dem Treiben der sklavischen Beamten und dem schmutzigen Pack der Kaufleute ist mir nichts verborgen geblieben. Es gibt da nichts, was ich nicht erlebt hätte, mein Leben glich dem Besuch eines Panoptikums mit den kuriosesten und abstoßendsten Gestalten. Verehrter Leser, Sie mögen sich vielleicht über den sarkastischen Ton in meinem Buch mokieren, doch Sie sollten sich keinerlei Illusion über die Verkommenheit des Beamtenapparates und das Fehlen jedweden patriotischen Geistes hingeben. Genauso schlecht ist es um die Verfassung unserer Kaufmannschaft bestellt, in der jeder raffgierig nur nach dem eigenen Vorteil strebt – nicht die Spur von Zusammenhalt und Corpsgeist. Wen wundert’s, daß da Söhne gegen ihre Väter, Brüder gegen Brüder antreten, einander mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auszustechen versuchen. Ich habe es mir in meinem Roman beileibe nicht zum Prinzip gemacht, andere Menschen mit Schmutz zu bewerfen, sondern ich schildere lediglich, 1203 was ich in den zehn Jahren gesehen und gehört habe. 1202
1203
Erschienen 1907 in vierzig Kapiteln. Hier vorliegend in einer Ausgabe der o.g. Reihe Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas . Schamlose Sklaven, Kap. 1, S. 8.
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Seine Ressentiments gegen das schändliche Treiben in den angegriffenen Kreisen der Gesellschaft arbeitet Su Tong an der Romangestalt des Jiang Nianzu ab, Enkel eines aufrichtigen Literatenbeamten unter Kaiser Qianlong. Anstatt die Familienehre hochzuhalten und sich den selbstvergessenen und ehrwürdigen Großvater zum Vorbild zu nehmen, nutzt der mißratene Nachkomme jede sich nur bietende Gelegenheit, um sich zu bereichern und versteht es dabei aufs Wunderbarste, stets seine eigene Haut zu retten. Es ginge vielleicht noch an, wenn der angerichtete Schaden auf Gelddinge beschränkt bliebe, doch der schändliche Jiang Nianzu geht buchstäblich über Leichen, als er während militärischer Aktionen in Taiwan einfach Befehle mißachtet und die ihm übertragenen Truppen schmählich dem Feind ausliefert. Zu einer Läuterung ist er nicht fähig, selbst Flucht, Gefängnis und Prügel führen zu keiner Besserung. Er ist sich am Ende sogar nicht zu schade, sich in Shanghai mit dem Freudenmädchen Chen Cailin abzugeben und sie, nachdem er sie schamlos ausgenutzt hat, an einen Ausländer namens Anbishi weiterzugeben, um sich bei diesem anzubiedern. Als genügte die Drastik seiner recht überzogenen Schilderung noch nicht, fügt Su Tong an Stellen wie dieser mit Vorliebe Kommentare ein, in denen er die ganze Schlechtigkeit seines Protagonisten hervorhebt. Das klingt dann folgendermaßen: Ursprünglich hatte sich Jiang Nianzu mit der Chen Cailin nur aus dem Grunde zusammengetan, da ihm zu Ohren gekommen war, daß sie einiges Geld auf der hohen Kante hatte. Doch nun, nachdem er sie ausgenommen hatte wie eine Weihnachtsgans und die Frau keinen Pfennig mehr besaß und es an ihm war, sie zu unterstützen, wurde er ihrer überdrüssig und wollte sie wieder loswerden. Kurzerhand gab Jiang die Cai als seine eigene Tochter aus und bot sie Anbishi als Konkubine an. Wer dermaßen schändlich und ohne jedes Ehrgefühl handelt, muß schon ein rechter Schweinehund sein. Von Begriffen wie Aufrichtigkeit und Schande hatte Jiang wohl noch nie etwas vernommen, für ihn zählte immer nur der eigene Vorteil. Wer immer ihn um etwas bat, der durfte nicht viel auf Hilfe hoffen, mußte dagegen auf der Hut sein, nicht selber von Jiang in den Schmutz gezogen zu werden. Jemand wie Jiang konnte sich nur glücklich schätzen, in einem Land wie China geboren zu sein, wo die Moral nur schwach ausgeprägt ist, wo man keinen kämpferischen Geist findet und wo sich niemand mehr um allgemeine Grundsätze schert. Hätte solch ein gesellschaftsschädigendes und ohne Rücksicht auf die Belange seiner Landsleute handelndes Subjekt in Europa oder Japan gelebt, hätte man es sicherlich beizeiten zu Tode geprügelt. 1204 Dort duldet man nämlich Hunde wie diesen Jiang keineswegs.
Es mag an der Vordergründigkeit liegen, mit der Su Tong seine Botschaft vermitteln will, daß die Romangestalten insgesamt leer und oberflächlich bleiben. Wie erwartet, scheitert Jiang Nianzu am Ende privat ebenso wie geschäftlich. Was Werke wie die von Su Tong dennoch wohltuend von der traditionellen Er1204
Ebd., Kap. 11, S. 74.
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zählliteratur abhebt ist der Umstand, daß auf schicksalhafte Fügungen, Bezüge zu Taten im früheren Leben etc. ganz und gar verzichtet wird und Ereignisse vollkommen auf den gesellschaftlichen Bereich fixiert bleiben. Su Tongs Schamlose Sklaven mag hier beispielhaft für eine Reihe ähnlicher Werke jener Zeit stehen, deren negative Sicht der Dinge nicht von den Erlebnissen und der Biographie ihrer Verfasser zu trennen ist. Gleichzeitig darf man selbstverständlich vermuten, daß die stereotype Kritik der Intellektuellen und Schriftsteller sich auch ein gutes Stück an allgemein akzeptierten Haltungen orientierte, mit denen man auf die Herausforderungen der Zeit reagierte. Wer sich nicht für einen der vielen zeitgenössischen Lösungsansätze entschied, deren Problematik wir in der weiter unten vorgestellten Reformliteratur noch anschneiden werden, der war vor die Notwendigkeit gestellt, seine Ideale entweder ins Reich der Phantastik zu verlagern wie das Wu Woyao mit seiner Neuen Geschichte vom Stein tat oder aber in fremden ausländischen Regionen zu suchen, wie das Su Tong recht kursorisch in dem oben zitierten Abschnitt praktizierte. Darüber hinaus barg für viele alleine die Vergangenheit noch Gewähr dafür, überhaupt etwas Positives wahrnehmen zu können. Auch Su Tong mag so empfunden haben, als er gleichzeitig zu Schamlose Sklaven unter dem Titel Aufzeichnungen über Marionetten (Kuileiji) eine Sammlung von Geschichten über positive und negative Vorkommnisse in der Beamtenschaft vorlegte, deren Schicksale in dem Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 angesiedelt sind. Die Schilderungen sind nur teilweise fiktiv, denn Su Tong bediente sich für seine Darstellung einer Reihe zeitgenössischer Aufzeichnungen der Prosaliteratur. Der gesamte Tenor des kleinen Werkes ist weit positiver als der in Schamlose Sklaven, was schon die erste Episode über den Stoffhändler Lu Zengrong deutlich macht, der seiner Geschäfte eines Tages überdrüssig wird und sich mit seinem Reichtum den Posten eines Landrates sichert. Die eigenen Fähigkeiten aber weit überschätzend, gesteht Lu bei einer Audienz vor dem Kaiser ungeschickterweise sein Anliegen ein, das Amt nur aus Gründen weiterer Bereicherung angestrebt zu haben und wird daraufhin fortgejagt. Daß anders als in der Gegenwart die Gerechtigkeit am Ende doch siegt, belegt das Beispiel des unbestechlichen Amtmannes Zhao Zhongtang in der folgenden Episode. Dieser hat in der aus kaiserlichem Geschlecht stammenden Hofschranze De Xing zwar einen mächtigen Gegner gefunden und muß vorübergehend eine Reihe von Erniedrigungen hinnehmen, doch am Ende obsiegt er, wird doch De Xing an die Grenzen des Reiches verbannt. Freilich begeht Su Tong nicht den Fehler, die Vergangenheit in allzu rosigen Farben zu malen, so daß sich in seinen Aufzeichnungen über Marionetten auch eine Reihe ungestraft bleibender Übeltäter gängigen Formats finden, deren nähere Betrachtung wir uns hier aber ersparen wollen. Auch in dem zwanzig Kapitel langen Roman Beamte (Huanhai) des Zhang Chunfan (?–1935), Verfasser des bereits vorgestellten Romans Neunschwänzige Schildkröte, aus dem Jahre 1909 finden sich Beispiele für aufrichtige Beamtenfiguren, doch
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ist ihr Kampf gegen Korruption, Bestechung und Amtsmißbrauch angesichts der allseits verkommenen Sitten anders als in Marionetten von vornherein zum Scheitern verurteilt. Beamte, dessen geographischen Handlungshintergrund wiederum die Provinz Kanton bildet, ist ganz ähnlich wie Li Boyuans Bürokraten aufgebaut, wobei die Episoden um die einzelnen Beamtengestalten sowohl nur ein oder zwei als auch mehrere Kapitel umfassen. Beherrschendes Thema ist die Geldunterschlagung durch Amtsinhaber in der reichen Südprovinz zum Zwecke der illegitimen Bereicherung durch Wettgeschäfte. Die Szenen sind darüber hinaus bevölkert mit allerlei zwielichtigem Gesindel, angefangen bei Räubern und Dieben bis hin zu Freudenmädchen. Ganze Brigaden von Beamten werden aus der Hauptstadt zur Unterbindung der Mißbräuche und Wiederherstellung der Ordnung in den Süden entsandt, doch ihre Erfolge sind immer nur kurzfristig, und sie scheitern letztendlich stets ebenso an der Uneinsichtigkeit der mächtigen Gentry-Familien wie an dem zähen Widerstand ihrer korrupten Amtskollegen. Was für weite Kreise das ungesetzliche Treiben selbst in den eigenen Familien der aufrichtigen Amtsinhaber gezogen hat, zeigt das Beispiel des aus der Hauptstadt entsandten Jin Fangbo, der zunächst mit aller Macht gegen die Übeltäter im Wettgeschäft vorgeht und sich eines Tages zum Gespräch mit dem vorgesetzten Yamen-Vorsteher Li einfindet. Anlaß ist die Person des Lu Congjin, die Jin sehr zum Unwillen der Amtsoberen gegen den Wang Muwei ausgetauscht und mit der Beaufsichtigung der Wettbüros beauftragt hat. »Nun, wie steht es nun in der Angelegenheit um ihren Herrn Lu?« wollte Vorsteher Li wissen. Jin Fangbo stockte einen Moment lang bei dieser Frage und antwortete dann: »Die Justizbehörden haben ihn bereits wieder auf freien Fuß gesetzt, warum fragen Sie?« »Sie sollten in der Sache nicht allzu streng vorgehen«, sagte Li mit einem leichten Lächeln, »andernfalls könnten Sie selber auf die eine oder andere Weise in Mitleidenschaft gezogen werden.« »Was soll das heißen?«, fragte Jin, »die Justiz tut nur ihre Pflicht.« Seltsamerweise reagierte Li gar nicht empört auf den Einwand, sondern bemerkte nur ganz lässig und ohne das spöttische Lächeln auf seinem Gesicht zu verlieren: »Nun, wenn das so ist, dann wird man auch in diesem Fall nicht anders als streng nach dem Gesetz handeln können.« Mit diesen Worten zog er ein Dokument aus dem Ärmel und reichte es an Jin. »Nun, wie sollen wir in der Sache vorgehen?« Jin warf einen Blick auf das Papier und las in der ersten Zeile: »Der Sohn des Herrn Jin hat sich der Bestechlichkeit und des Mißbrauchs eines Amtsstempels schuldig gemacht.« In der folgenden Anklageschrift beschuldigte man Jin Fangbos Sohn, von Lu Congjin die Summe von zehntausend Tael angenommen und eine Quittung ausgestellt zu haben, die mit dem Amtsstempel des Vaters versehen 1205 war. 1205
Beamte, Kap. 3, hier zitiert nach der bei A YING: Geschichte des Romans der späten QingZeit, S. 161 wiedergegebenen Passage.
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Ohne Rücksicht auf die familiären Bindungen fordert Jin von Amtsvorsteher Li die Festnahme und Hinrichtung des Sohnes, doch erhält dieser Wind von der bevorstehenden Verhaftung und flüchtet. Kummer und Empörung machen Jin daraufhin derart zu schaffen, daß er erkrankt und kurz darauf stirbt.
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3. Der Panoramablick auf die Misere Chinas Der Begriff des Panoramas ist im Zusammenhang mit Wu Jingzis, Li Boyuans und Zeng Pus Werken bereits einige Male gefallen. Blieb bei den ersten beiden Autoren die Thematik noch stark an Themen aus der Bürokratie gebunden, so nutzte vor allem Zeng Pu die Technik des »Raumromans«, um die Schicksale seiner Protagonisten in ein weltweites Ambiente einzubinden. Dennoch blieb die Thematik noch weitgehend im Umfeld der mit Staatsgeschäften befaßten Figuren verhaftet. Welche Möglichkeiten solch ein Standort- und Szenenwechsel darüber hinaus eröffnete, um einen umfassenden Überblick über die Mißstände in ganz China zu geben, deuteten zwei weitere wichtige Vertreter der kritischen Romankunst Chinas um die Jahrhundertwende in ihrem Werk an.
3.1 Der allegorische Abschied vom alten China – Liu Es Roman Die Reisen des Lao Can (Lao Can youji) Liu Es Reise des Lao Can sticht in mehrerer Hinsicht aus der Masse der Veröffentlichungen hervor und entbehrt weitgehend noch des drängenden, fordernden, bisweilen auch beißenden oder gar larmoyanten Stils der zeitgenössischen Literatur.1206 In mehr als einer Hinsicht läßt sich die Nähe zu den Gelehrten aufzeigen, wofür hier nur etwa die großartigen Prosaschilderungen in beiden Werken oder die Kritik an der Bürokratie der jeweiligen Zeit als Beispiele angeführt sein mögen. Freilich ist Liu Es Blick dabei alles andere als rückwärtsgewandt. Was er mit seiner Generation von Schriftstellern unzweifelhaft teilt, ist die Wahrnehmung der Schwächen des eigenen Landes und der eigenen Kultur. Nachdem er seine Klage über die Welt als Jammertal losgeworden ist, macht er seinem Kummer im Vorwort zum Roman mit folgenden Worten Luft: Doch ich lebe in der heutigen Zeit. Mich berührt nicht nur mein eigenes Schicksal, mich bewegen auch die Geschicke der Familien und des Reiches, ebenso wie gesellschaftliche Belange und die Lehren der alten Meister. Weil ich vor diesen Dingen nicht teilnahmslos bleiben kann, überkommt mich tiefe Traurigkeit. Meine Verzweiflung bewog mich, den »hundertfach Gestählten« aus 1207 Hongdu, Die Reisen des Lao Can niederzuschreiben. 1206
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Die Überschrift zu diesem Abschnitt wurde dem Titel des Nachwortes von HELMUT MARTIN zu HANS KÜHNERs Übertragung des Romans aus dem Chinesischen (LIU E: Die Reisen des Lao Can, Frankfurt/M.: Insel 1989) entlehnt, die dieser Bearbeitung zugrundelag. Als chinesische Quelle wurde hinzugezogen LIU E: Lao Can youji, Peking: Renmin wenxue 1982. Die Reisen des Lao Can, S. 12f.
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Wer war nun dieser Liu E, der 1857 in der Ortschaft Liuhe der Provinz Jiangsu geboren wurde? Als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften wird man wohl sein vielseitiges Talent nennen müssen, das er, mit allerdings unterschiedlichem Erfolg, immer wieder in den Dienst der Zeit stellte, um Einfluß auf eine Entwicklung zum Besseren zu nehmen. Zunächst hat es den Anschein, als wollte er den Weg des Vaters beschreiten, der wie zahllose Generationen Gebildeter vor ihm die Beamtenlaufbahn einschlug und es immerhin zum Bezirkspräfekten (daotai) von He'nan brachte. Dem eigenwilligen Sohn jedoch sollte die Laufbahn verschlossen bleiben, abschätzig wandte er dem Treiben der Bürokraten den Rükken, als einer der Prüfer bei den staatlichen Examina, denen sich Liu unterworfen hatte, ihm die erfolgreiche Ablegung mit dem Hinweis verweigerte, Rousseau, aus dessen Werken Liu zitiert hatte, gehöre nicht zum chinesischen Literaturkanon.1208 Jedenfalls hatte Liu bereits in frühen Jahren seinen Blick erweitert, als er sich neben dem traditionellen Studium der klassischen chinesischen Literatur bei katholischen Priestern u.a. in der Mathematik und in der französischen Sprache fortbildete. Offenbar angelockt von den Möglichkeiten, die sich in der Metropole Shanghai boten, versuchte er sich dort eine Zeitlang als Arzt und Unternehmer, jedoch mit wenig Erfolg.1209 Daß er dennoch mit einem guten Geschäftssinn ausgestattet war, bewiesen Liu Es erfolgreiche Grundstücksspekulationen in der Yangtse-Region. Als er Nachricht vom Bau der Eisenbahn Tianjin-Pukou (bei Nanking) erhielt, erwarb er in der Gegend mehr als tausend Hektar Land und schlug es später mit erheblichem Gewinn wieder los. Ebenso glücklich wickelte Liu E ein Projekt zur Erschließung von Eisenerzvorkommen in Shanxi ab, für das er westliche Investoren gewinnen konnte. Der ausgehandelte Vertrag sah dabei vor, daß das Eigentum an der Mine nach dreißig Jahren an China zurückgegeben werden solle. Als diese Klausel in der Folge nicht eingehalten wurde, nahmen Gegner Lius dies zum Anlaß, ihm landesverräterische Absichten zu unterstellen und trugen damit in nicht geringem Maße zu dem Unheil bei, das Liu am Ende ereilen sollte. Zunächst jedoch hatte der Verfasser der Reisen allen Grund, seinen Erfolg in großen Zügen zu genießen. In seiner Zeit galt Liu E als ein wohlhabender Mann mit Häusern in Städten wie Peking, Suzhou und Shanghai. Seinen exzentrischen Neigungen folgend, ließ er etwa in einem der Häuser in Nanking ein Zimmer vollkommen mit Backstein aus der Han-Zeit ausmauern. Doch beließ es
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Der Hinweis findet sich in JAROSLAV P5â(.: »Liu O et son Roman ›Le Pèlerinage du Lao Ts'an‹«, in: DERS.: Chinese History and Literature, Dordrecht (Holland): D. Reidel 1970, 6I3UãHNEH]LHKWVLFKKLHUDXI%ULHIHXQG7DJHEXFKHLQWUDJXQJHQYRQ=HLWJHQRVVHQ des Liu E. Diese und die folgenden Angaben finden sich in der Einführung der englischen Ausgabe LIU E: The Travels of Lao Can, übers. von YANG XIANYI und GLADYS YANG, Peking: Panda Books 1983, S. 3–10.
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Liu nicht bei dem unbekümmerten Genuß seines Wohlstands. Als 1888 die Dämme des Gelben Flusses in Shandong und He'nan brachen und eine verheerende Flutkatastrophe hervorriefen, wurde er aufgrund seiner Kenntnisse in Fragen der Flußregulierung von Gouverneur Zhang Yao aus Shandong für die Zeit von 1890–1893 als Berater für Wasserbau in amtliche Dienste genommen. Anders als die meisten mit den Flußbauarbeiten befaßten Fachleute in seiner Umgebung trat Liu E jedoch mit mehreren Memoranden nicht für eine Erweiterung des Flußbetts ein, sondern wollte dieses vertiefen. Hier schuf er sich in der mandschurischen Banner-Beamtenschaft Todfeinde, der Roman bringt einen guten Teil dieser Spannungen zum Ausdruck. Nur kurze Zeit später ließ sich Liu E ein weiteres Mal in den Staatsdienst aufnehmen, als er um 1894/95 während des sino-japanischen Krieges die Bedeutung des Aufbaus einer chinesischen Industrie und des Aufbaus des Eisenbahnnetzes erkannte und für eine Weile als Regierungsberater bei dem Bau der Eisenbahn Peking-Hankou wirkte. Offensichtlich einem altruistischen Drang folgend, der immer wieder auch bei der Romanfigur des Liu Can zum Ausdruck kommt, begab sich Liu 1900 in der Folge der Niederschlagung des Boxeraufstands und der Besetzung der Hauptstadt durch die ausländischen Truppen nach Peking, wo eine Hungersnot unter der chinesischen Bevölkerung drohte. Als Liu E erfuhr, daß die kaiserlichen Lebensmittelspeicher zwar von russischen Truppen konfisziert, aber nicht genutzt wurden, erwarb er den gelagerten Reis zu einem günstigen Preis und ließ ihn an die Bevölkerung verteilen. Doch auch dies sollte ihm nicht zum Guten gereichen. Feinde aus dem Kreis um Yuan Shikai klagten Liu E 1908 unter dem Vorwurf der Verschleuderung von Staatseigentum an, ein Argument, das noch verstärkt wurde durch die Behauptung, er habe für Ausländer Land angekauft. Man stellte Liu E vor Gericht und verbannte ihn in die Westprovinz Xinjiang, wo er kurz darauf im Jahre 1909 an den Folgen des strapaziösen Transports starb. Hast und Unruhe, die das unstete Leben Liu Es kennzeichnen, schlagen sich nicht zuletzt auch in dem Fragment gebliebenen Roman nieder. Entsprechenden Bemerkungen Liu Dashens über die Arbeitsweise seines Vaters ist zu entnehmen, daß Liu E frei heraus und ohne großen Plan schrieb, was die Tatsache der scheinbar beziehungslos nebeneinandergestellten größeren Sinneinheiten des Werks unterstreicht. Bewußt, so der Sohn, habe der Vater seine Leserschaft im unklaren über den Verfasser gelassen, um eventuellen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. So blieb lange Zeit ungewiß, wer sich hinter dem »Hundertfach Gestählten aus Hongdu« (Hongdu bailiansheng) verbarg, eben dem Pseudonym, unter dem Liu E schrieb. Die stückweise Veröffentlichung des Romans erschwerte die Beschreibung seiner Entstehung ganz erheblich, glich Liu E doch auch in diesem Punkt vielen seiner Zeitgenossen, die ihre Werke in mehreren Fortsetzungen veröffentlichten und dabei nicht immer zu einem Abschluß brachten. Im Falle der Reisen des Lao Can haben wir aber wegen des großen Forscherinteresses eine befriedigende Materialbasis, so daß sich die einzelnen Stationen der Romanabfas-
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sung gut nachvollziehen lassen.1210 Die Textgeschichte des Basistextes der ersten zwanzig Kapitel ist dabei weitgehend unproblematisch. Die Qualität dieses als künstlerisch am gelungensten einzustufenden Teils spricht für eine konzentrierte Niederschrift. So erschienen die Kapitel eins bis neun, der größte Teil von Kapitel zehn sowie die Kapitel zwölf bis vierzehn zwischen September 1903 und Januar 1904 in rascher Folge in der Zeitschrift »Bebilderte Erzählkunst« (Xiuxiang xiaoshuo). Die ausgesparten Textteile fielen entgegen einer Absprache der Zensur durch den Herausgeber Li Boyuan zum Opfer, worauf sich Liu E nach einem anderen Publikationsorgan umsah. Auf diese Weise fanden die ersten zehn Romankapitel schließlich 1904 Aufnahme in die in Tianjin erscheinende »Mingxin wenbao«. Liu Houze, ein Enkel Liu Es, erwähnt in seinen Schriften einen vollständigen Abdruck des Basistextes in der »Mingxin wenbao« mit Teilen aus einmal acht und einmal zwölf Kapiteln. Da die Zeitungsausgabe jedoch undatiert ist, bleibt die Frage des ersten Veröffentlichungsdatums offen, wobei als mögliches Jahr 1906 sehr wahrscheinlich ist. Nicht ganz geklärt ist nach wie vor die Frage nach der Länge des Folgeteils. Liu Dashen zufolge umfaßte dieser Abschnitt ursprünglich vierzehn Kapitel, wohingegen heute nur neun erhalten sind. Diese Neunundzwanzig-Kapitel-Ausgabe ist Grundlage der meisten Veröffentlichungen. Den Aussagen des Sohnes zufolge entschloß sich der Vater 1907 zur Fortführung des Romans, nachdem er aufgrund geschäftlicher Mißerfolge nunmehr die Muße besaß, sich wieder mehr der Literatur zuzuwenden. Ein baldiges Erscheinen dieses Folgeteils scheiterte am traurigen Schicksal seines Verfassers, erst 1929 entdeckten Verwandte den entsprechenden Textteil, dessen Veröffentlichung Liu Dashen zu untersagen suchte. Eine sechs Kapitel umfassende Version dieser Fortsetzung gelangte dennoch in die Hände des Literaten Lin Yutang, der daraufhin die Übersetzung und Veröffentlichung vornahm,1211 Anlaß für eine Reihe nachfolgender Publikationen, diese Sechsundzwanzig-Kapitel-Ausgabe zur Grundlage ihrer Veröffentlichung zu machen. Man nimmt an, daß Liu E außer dem Folgeteil ein zusätzliches Fragment abgefaßt hat, dessen Originalmanuskript sechzehn Seiten umfaßte und wie der Folgeteil 1929 entdeckt wurde. Insgesamt ist dieses zweite Fragment jedoch ohne weiteren Belang für die künstlerische Bewertung Liu Es. Problematisch bleibt nach wie vor das elfte Romankapitel, welches 1903/04 in der »Bebilderten Erzählkunst« ausgespart worden ist und auch in der Tianjin-Ausgabe fehlt. Nach seiner gescheiterten Veröffentlichung hat Liu E das gesamte Kapitel wohl umgeschrieben und dürfte diese Arbeit bis Oktober 1905 beendet haben. Zu allem Überfluß tauchte in den letzten Jahren der Republikzeit 1210
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Ausführlich ist dieser Frage TIMOTHY C. WONG nachgegangen, auf den im folgenden Bezug genommen wird: »Notes on the Textual History of the Lao Ts'an Yu-Chi«, in: T'oung Pao LXIX, 1–3 (1983), S. 23–32. Die Publikation erfolgte als »A Nun of Taishan and Other Translations«, Shanghai: Commercial Press 1936.
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noch eine Vierzig-Kapitel-Fassung auf, bei deren zweiter Romanhälfte es sich allerdings um eine Fälschung handelt.1212 Doch wenden wir uns nach diesen einführenden Bemerkungen endlich dem Werk selbst zu. Mit seiner Mischung aus realistischen und überwirklichen Elementen im Romanauftakt bietet sich die Möglichkeit zu einer allegorischen Teilinterpretation des Werkes an. Wie zuvor Wu Jingzi in seinem Roman mit Wang Mian das Ideal des Weisen heraufbeschwor, so gelang es Liu E mit dem gleich zu Beginn genannten Begriff des Paradiesberges Penglaishan ähnliche Bezüge zu evozieren. Auch die Gestalt des Lao Can ist nicht als die eines gewöhnlichen Mannes aufzufassen. Er ist nicht einfach, wie Prusek meint, das Idealbild eines Gelehrten, der unabhängig von allen Pflichten und Bindungen seinen Interessen und Neigungen nachgeht.1213 Vielmehr verkörpert er die Rolle eines Heilers, dessen Wirkungskraft sich nicht nur auf die einzelne Person, sondern auf das ganze Staatsgebilde erstreckt. Darauf weist der Autor selber mit einer Reihe von Allegorien zu Beginn seines Werkes hin. Zunächst ist da der Name des Protagonisten, der eigentlich Tie Ying (»Eisenheld«) heißt, viel lieber aber zu dem Pseudonym Bu Can (»Das Kranke, Gebrechliche gesund machen«) greift, ein Name, der zurückgeht auf den Mönch Lan Can aus der Tang-Dynastie und dessen zweitem Bestandteil nun Liu E die Bezeichnung des »Ehrwürdigen« (lao) voranstellt. Die übrigen biographischen Angaben des Helden bleiben knapp gehalten, bis zum dreißigsten Lebensjahr hat er studiert, jedoch keine der Prüfungen zum Beamten abgelegt. Selbst der Weg, Privatgelehrter zu werden, ist ihm daher versagt. Da sich Lao Can ansonsten zu keinem anderen Geschäft berufen fühlt, erlernt er bei einem Taoisten die Heilkunst und begibt sich mit einem Klingelstock auf Wanderschaft. Damit wird klar, daß der Protagonist nicht unbeteiligter Zuschauer oder Kommentator von Ereignissen bleibt, sondern auf seiner allegorischen Reise von Episode zu Episode voranschreitet. Als Arzt heilt Lao Can auf seiner Reise seelische ebenso wie körperliche Gebrechen, nicht ohne dabei die gesellschaftlichen Übel im Auge zu behalten, womit seine Gestalt Züge eines Reformators gewinnt. Die kriminalistischen und technisch-praktischen Kenntnisse, die er im Laufe der Zeit zur Lösung verschiedenster Probleme einsetzt, runden das Bild ab. Am Ende gewinnt Lao Can gar religiöse Züge, als er davon träumt, Buddha zu werden – die Figur des Heiligen scheint perfekt. Liu E nimmt ganz unterschiedliche Elemente in seinen Roman auf, gerade die thematische Vielfalt dürfte ihm, der auf der gesellschaftlichen Bühne bereits regen Umgang gepflegt hatte, nicht schwergefallen sein. Starke biographische Bezüge werden etwa in Gesprächen erkennbar, die die Romangestalt Lao Can bei der Reise durch Ji'nan mit dem örtlichen Gouverneur über Themen wie Wasserbau führt. Geschickt nutzt der Verfasser darüber den Wechsel der Jahreszeiten aus, 1212 1213
S. den Hinweis im Nachwort von HELMUT MARTIN, Die Reisen des Lao Can, S. 449. Vgl. P5â(.: »Liu O et son Roman ›Le Pèlerinage du Lao Ts'an‹«, S. 164.
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um seiner Szenerie eine bestimmte Atmosphäre zu verleihen. So handelt der erste Teil des Romans durchweg in der Herbst- und Winterzeit, woraus sich Bilder entwerfen lassen, die von Kälte, Verlassenheit und einer düsteren Stimmung geprägt sind. Eine solcherart beeindruckende Schilderung liest sich dann etwa folgendermaßen: Der Himmel war bedeckt, als Lao Can am nächsten Morgen aufwachte. Zwar wehte der Wind aus Nordwesten nicht besonders stark, aber dennoch hatte Lao Can das Gefühl, als flatterte sein wattierter Mantel um den Körper wie die dünnen Gewänder eines Unsterblichen. Nachdem er sich gewaschen hatte, kaufte Lao Can zum Frühstück ein paar Stangen Ölgebäck. In niedergedrückter Stimmung schlenderte er eine Weile die Straßen auf und ab. Dann beschloß er, auf die Stadtmauer zu steigen und von dort die Aussicht zu genießen. Doch da sah er auf einmal unzählige Schneeflocken durch die Luft wirbeln. Bald war er in ein wahres Schneegestöber geraten, das immer dichter wurde. Hastig begab er sich wieder in sein Gasthaus und bat einen Diener, eine Schüssel mit Holzkohle zu bringen. Ein großer Streifen Papier, mit dem die Fensteröffnung verschlossen war, hing halb abgerissen herunter, und immer wieder trieb der Wind das schneenasse Papier mit hörbaren Schlägen gegen den Rahmen. Die kleineren Papierstreifen an der Seite machten zwar keinerlei Geräusche, doch auch sie schwangen ununterbrochen im Winde hin und her. Der eisige Luftzug, der bis in den letzten Winkel des Zimmers fuhr, verstärkte noch den Eindruck der Verlassenheit und 1214 Trostlosigkeit.
Doch Liu E verharrt nicht bei der reinen Naturbetrachtung. Vielmehr versteht er es, die Stimmung auf die Verfassung des eigenen Landes zu übertragen. So erblickt Lao Can ein paar Krähen und Spatzen, die sich vor der Kälte unter den Dachvorsprung geflüchtet haben. Ihr hungriger und verfrorener Anblick dauert ihn zunächst, doch dann kommt er zu folgendem Schluß: »Die Vögel mögen zwar hungern und frieren, aber wenigstens schießt niemand auf sie und niemand will ihnen weh tun; keine Fallen sind aufgestellt, um sie einzufangen. Und wenn sie jetzt auch Hunger und Kälte ertragen müssen, so kommt doch der Frühling wieder, und dann können sie sich wieder in vollen Zügen ihres Lebens erfreuen. Die Bevölkerung von Caozhou dagegen hat in all den Jahren nichts als Elend und Unterdrückung gekannt, denn sie sind mit diesem ›Vater‹, einem grausamen Beamten geschlagen, der jeden willkürlich festnimmt, egal, was er getan hat, ihn sodann eines Verbrechens beschuldigt und schließlich im Käfig kläglich verenden läßt. So sehr hat er die Menschen in Angst und Schrecken versetzt, daß niemand auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen wagt. Zu Kälte und Hunger hat sich Angst gesellt – sind sie nicht noch schlimmer dran als alle Vögel?« Während er so seinen Gedanken nachhing, konnte er die 1214
Die Reisen des Lao Can, Kap. 6, S. 86.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Tränen nicht mehr zurückhalten. Da hörte er, wie auf einmal die Krähen ein paarmal laut aufkrächzten. Es klang nicht gerade, als klagten sie über Kälte und Hunger. Vielmehr schienen sie auf ihre freie Meinungsäußerung aufmerksam zu machen und zugleich die Bevölkerung von Caozhou verspotten zu wollen. So groß war seine Empörung jetzt, daß ihm die Haare zu Berge standen. Nur eines tat ihm leid: Daß er der Wut in seinem Herzen nicht Luft machen und den Präfekten 1215 erschlagen konnte.
In diesem ersten Romanabschnitt von sieben Kapiteln beschränkt sich Lao Cans Rolle weitgehend auf die des Mahners und Ratgebers. Seine Gegenüber sind meist Beamte in führenden Positionen, denen der reisende Heiler Auskunft erteilt. Als Lao Can im Gespräch mit dem Kreisbeamten Shen Dongzao nun auf eine Bande von Räubern zu sprechen kommt, rät er, sich der Hilfe eines weisen Mannes namens Liu Renfu zu versichern, der in der Kampfkunst bewandert ist und gerne in militärischen Angelegenheiten zu Rate gezogen wird. Der Hinweis auf den Wohnort des Weisen – der sich am Pfirsichblütenberg befinden soll – ist wie zuvor die Insel Penglai eine Anspielung auf den Paradiesgedanken. Mit dem Botengang zu Liu wird ein Verwandter Shens namens Shen Ziping beauftragt, der damit in den Mittelpunkt der weiteren Schilderung rückt. Mit viel Mühe dringt Shen Ziping in die Berge vor und gelangt endlich zu einer Siedlung. Die sich nun anschließenden Szenen, d.h. die wesentlichen Teile der Kapitel neun bis elf, beinhalten die zentrale philosophische und politische Botschaft des Romans. In den Gesprächen Shen Zipings mit der jungen Yugu bringt der Verfasser die zentralen Anschauungen der Taigu-Sekte zum Ausdruck, der er selber angehörte.1216 Die besagte Sekte ist nach einem gewissen Zhou Gu (1780–1843) benannt, scheint aber in ihren Ursprüngen bereits auf sektiererische Strömungen des 16. Jahrhunderts zurückzugehen. Als führende Gestalt wird hier ein Li Zhaoen genannt.1217 Sein Nachfolger Zhou Taigu jedenfalls berief sich bei seinen Überlegungen auf einen Urzustand des Konfuzianismus, den er in seiner frühen Form als eine an Idealen der Menschlichkeit und Toleranz orientierte Lehre begriff. In den zentralen Kapiteln dieses Romanabschnitts erläutert Liu E die wesentlichen Inhalte des Glaubens der Taigu-Sekte vor dem Hintergrund des Lebens in den Bergen. Die Gestalt des »Gelben Drachen« (Huang longzi) dürfte wohl der Person des Patriarchen Zhang Jizhong (1806–1866) der Nördlichen Schule nachempfunden sein. Die im 1215 1216
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Ebd., S. 87f. Zu der Taigu-Sekte liegt von HANS KÜHNER, dem Übersetzer der Reisen des Lao Can, mittlerweile eine eigene Studie vor, die unter dem Titel Die Lehren und die Entwicklung der »Taigu-Schule«. Eine dissidente Strömung in einer Epoche des Niedergangs der konfuzianischen Orthodoxie, Wiesbaden: Harrassowitz 1996 erschienen ist. Die folgenden Angaben beziehen sich weitgehend auf die in den Anm. S. 469f. der Romanübersetzung beigefügten Informationen. Vgl. dazu P5â(.: »Liu O et son Roman«, S. 156.
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Text stark in den Vordergrund gerückte Yugu verkörpert demnach den Frauentyp, der die Beschränkungen und Fesseln der konfuzianischen Moral abgeworfen hat. Nach Erörterung einer Reihe von Wesenheiten des Konfuzianismus erläutert der mittlerweile eingetroffene »Gelbe Drache« seine Sicht zum Lauf der Weltendinge und deutet den Zustand der letzten Jahre der Qing-Herrschaft an: Zunächst werde es zu kleineren Unruhen kommen, in deren Verlauf sich nach fünf Jahren dann ein Sturm erhebe, der die Wellen der Veränderungen aufpeitsche. In spätestens zehn Jahren dann werde nichts mehr so sein wie einst, der Wende zum Schlechteren folgten unweigerlich auch bessere Zeiten. Die Schilderungen des Gelben Drachen im Gespräch mit Shen Ziping gipfeln in einer auf mehrere Jahrzehnte hin angelegten Vorhersage, die dem gesamten Werk den Ruf eines Weissagungsbuches eingebracht hat. »[...] darf ich auch erfahren, welche Veränderungen die nächsten drei JiaDekaden bringen werden?« »Den Aufstand der Boxer im Norden und der Revolutionäre im Süden«, lautete die Antwort des »Gelben Drachen«. »Der Geheimbund der Boxer entstand im Jahr Wuzi (1888), bis zum Jahr Jiawu (1894) wuchs die Regierung, und im Jahr Gengzi (1900) werden Ratte und Pferd in einem gewaltigen Aufprall aneinandergeraten, und der Aufstand wird zum Ausbruch kommen. Ihr Untergang wird sich jedoch ebenso rasch vollziehen wie ihr jäher Aufstieg – das sind die Mächte des Nordens. Zu ihren Anhängern werden Bewohner des Palastes ebenso gehören wie Generäle und Minister, und ihre Forderung wird lauten: Unterdrückt die Han-Chinesen! Die Bewegung der Revolutionäre hingegen wird im Jahr Wuxu (1898) ihren Anfang nehmen und bis zum Jahr Jiachen (1904) an Stärke gewonnen haben. Im Jahre Genxu (1910) müssen Drache und Hund aufeinanderstoßen, und der Aufstand wird ausbrechen. Ihr Aufstieg geschieht jedoch allmählich, und ihr Niedergang wird unmerklich sein – soweit zu den Mächten des Südens. Ihre Gefolgschaft wird von einfachen Gelehrten bis hinauf zu Generälen und Ministern reichen, und ihre Forderung wird lauten: Verjagt die Mandschu! Diese beiden rebellischen Lager brüten Unheil aus, aber gleichzeitig werden sie auch das Tor zu einer neuen Blüte der Kultur aufstoßen. Der Aufstand der Boxer wird unaufhaltsam die Reformen des Jahres Jiachen erzwingen, und die Unruhen der Revolutionäre werden unweigerlich die Reformen des Jahres Jiayin bewirken. Nach Jiayin (1914) wird die Kultur aufblühen, das Mißtrauen zwischen Chinesen und Ausländern und der Argwohn, der Mandschu und Han voneinander trennt, verschwinden. Wei, der Erleuchtete, sagt in seinem Buch Can Tong Qi: ›Am Anfang des Jahres sprossen die Triebe‹. Damit ist das Jahr Jiachen gemeint. Chen ist dem Boden zugeordnet, und alle Pflanzen entspringen aus dem Boden; daher ist die Zeit nach Jiachen die Zeit, wo die Knospen der Kultur austreiben, so wie ein Baumsamen, dessen Triebe durch die Samenhülle stoßen, oder wie eine Bambussprosse, die ihre Haut durchbricht. Zwar sind äußerlich nur der Same und die geschlossene Haut erkennbar, doch darinnen verbergen sich bereits die lebenden Triebe. In den folgenden zehn Jahren werden sie Hülle
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT und Haut allmählich durchbrechen und sich bis Jiayin (1914) voll entfaltet haben. Yin ist dem Holz zugeordnet, und außerdem ein Symbol der Blüte. Die Jahre nach Jiayin werden der Kultur eine Blütezeit bescheren, doch obwohl sie großartig auf den Betrachter wirken wird, erreicht sie es noch nicht, gleichrangig neben den Kulturen der anderen Länder zu stehen. Erst im Jahr Jiazi (1924) wird die Zeit kommen, wo alles Früchte trägt und wir wieder allein bestehen können. Danach wird eine neue Kultur aus Europa zu uns gelangen und unsere alte glorreiche Kultur der ›drei Herrscher und fünf Kaiser‹ wieder zum Leben erwecken; wie im Flug werden wir eintreten in das Zeitalter der großen Gemeinschaft. Doch dies liegt noch in weiter Ferne. Mehr als dreißig oder gar fünfzig 1218 Jahre werden bis dahin noch vergehen.«
Mit einem Schwenk zu religiösen Inhalten legt der Gelbe Drache seine Auffassungen von der Macht der himmlischen Gewalten dar und trägt Zweifel an der Allmacht des Himmelsherrschers Shangdi vor, die sich aus vielen religiösen Überlegungen der Theodizee nähren: Dämonen und Kräfte des Bösen schadeten dem Menschen, ein mitfühlender Gott würde das nicht zulassen. Verbunden mit einer politischen Deutung der zeitgenössischen Vorgänge im Reich ergibt sich daraus die Warnung vor den Revolutionären im Süden bzw. der Boxer im Norden, die in beiden Fällen vom König der Dämonen gesandt sind. Es ist in Passagen wie diesen, in denen Liu Es Anliegen der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie am ehesten zum Ausdruck kommt. Mit dieser Darlegung wendet sich die Romanhandlung wieder dem eigentlichen Anliegen Shen Zipings zu, der den gesuchten Liu Renfu am Ende tatsächlich für sich gewinnen kann. In der folgenden Episode, die stark an die Tradition der chinesischen Kriminalgeschichten angelehnt ist, sind ganz andere Qualitäten des mittlerweile wieder in den Mittelpunkt getretenen Lao Can gefragt.1219 Der plötzliche Tod von dreizehn Mitgliedern einer Familie Jia ruft in dem Flecken Qidong und Umgebung großes Aufsehen hervor, nichts deutet jedoch zunächst auf eine mörderische Vergiftung hin. Lao Can, der der Gerichtsverhandlung beiwohnt, bildet sich bald ein eigenes Urteil und stellt als Arzt Untersuchungen vor Ort an. Er findet heraus, daß den Vorgängen ein Liebesdrama zugrundeliegt und daß die Wirkung des verabreichten Gifts mittels eines bestimmten Krauts rückgängig gemacht werden kann. Wiederbelebung der Opfer und Bestrafung der Täter schließen diesen Teil ab.1220 In dem folgenden Romanteil greift Liu E nochmals das Thema der Lage der Frauen auf, das er zuvor bereits mit der Figur der Yugu angerissen hat. Den Hinter-
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Die Reisen des Lao Can, Kap. 11, S. 158f. Die Kriminalgeschichte umfaßt die Kapitel 15–21. In der o.g. chinesischen Ausgabe ist der bei Kap. 21 einsetzende Abschnitt als zweiter Teil angegeben und mit einem eigenen Vorwort versehen, dessen Inhalt sich mit Vergänglichkeit und Traum befaßt.
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grund bilden die Ereignisse am Berge Taishan, den Lao Can auf seiner Reise besucht. Das Nonnenkloster, in dem man Quartier bezieht, ist der taoistischen Göttin Doumu gewidmet, d.h. der Mutter des Sternbildes vom Großen Wagen. Die gesuchte Nonne Jingyun trifft man nicht an. Anders als erwartet scheinen die Vorgänge im Kloster Anlaß für bestimmte Anstößigkeiten zu sein. So verrichten die belesenen Nonnen nicht nur Gebete, sondern bemühen sich auch, die zahlreichen hochgestellten und wohlhabenden Pilger zu unterhalten, ist das Kloster doch zum Unterhalt auf die Einkünfte, die diesem Umgang entspringen, angewiesen. Trotz der aufkommenden lockeren Sitten ist es den Nonnen untersagt, mit den Gästen zu schlafen, was am Ende aber nicht verhindert, daß intensivere Liebesbeziehungen entstehen. Der seelische Konflikt, den die Nonne Yiyun nun in ihrem Verhältnis mit dem verheirateten Ren Sanye aus der Umgebung auszutragen hat, steht im Mittelpunkt der an psychologischer Tiefe bis dahin einmaligen Schilderung in der chinesischen Erzähltradition. Sie schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung, malt sich ein Leben in schönsten Bildern an der Seite des Geliebten aus und schmiedet Pläne, wie sie das Geld aufbringen kann, um sich aus dem Kloster freizukaufen, ist doch Sanye außerstande, die Summe bereitzustellen. So plant Yiyun für einen Augenblick, sich mit anderen wohlhabenden Bewerbern einzulassen, nur um Gelegenheiten zu schaffen, auch mit Sanye zusammenzutreffen. Im nachhinein schildert sie ihren inneren Kampf: »Wenn ich alles zusammenrechnete, kam ich auf mehr als zwanzig Tage im Monat, die ich mit Niu, Ma, Zhu oder Gou zu verbringen hätte, und für Sanye fielen dann gerade noch zwei oder drei Tage ab. Für jede glückliche Nacht, müßte ich zehn Nächte lang Qualen erleiden – da schien es mir doch besser, von einem solchen Vorschlag Abstand zu nehmen. Dann sagte ich mir: ›Du bist wirklich ziemlich einfältig. Was machst du dir Gedanken darüber, wer alles ein Recht auf dich hat, wenn du Ma oder Niu die erste Nacht schenkst?‹ Wenn nämlich Sanye der Auserwählte bliebe, dann wäre das zwar besser für mein Ansehen im Kloster, und er hätte Anrecht auf ein paar Nächte mehr, die ihm niemand streitig machen könnte – aber wie lange würde er denn bleiben? Würde er seine Frau ganz verlassen? Nein, gewiß nicht, letzten Endes wäre er doch meist zu Hause, während ich hier die anderen bedienen müßte! Bei der Vorstellung schleuderte ich den Spiegel auf den Boden und dachte: ›Der Spiegel ist an allem Schuld. Hätte er mich nicht betrogen und zum Pudern und Schminken verführt, würde mich kein Mensch beachten, und ich müßte meine schlaflosen Nächte nicht in diesen Höllenqualen verbringen. Ich wäre ein glückliches Mädchen geblieben, geehrt und ohne Sorgen, und alle irdischen Verlockungen könnten mir nichts anhaben. Von heute ab will ich nichts mehr mit Männern zu tun haben. Sofort 1221 schneide ich meinen Zopf ab und schlafe bei der Oberin.‹«
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Die Reisen des Lao Can, Kap. 24, S. 364f.
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Den Forderungen durch die Welt um sie herum kann Yiyun am Ende nach der Erreichung der wahren Erkenntnis nur durch eine innere Spaltung entgehen, die sie später folgendermaßen schildert: »Seitdem habe ich beschlossen, mich in zwei Personen aufzuspalten. Die eine ist die Yiyun dieser Welt, die Nonne im Doumu-Kloster, und in dieser Gestalt will ich alles tun, was man von mir erwartet. Will sich jemand mit mir unterhalten, rede ich mit ihm. Will jemand mit mir feiern, mache ich mit, und wenn mich einer umarmen und küssen will, lasse ich es auch zu. Nur werde ich mich keinem ganz hingeben. Mein anderes Ich ist die Yiyun der anderen Welt, die es liebt, sich in ihren freien Stunden mit Konfuzius, Buddha und Laotse zu unterhalten, und sich am Wechselspiel von Himmel und Erde, Sonne und Mond erfreut 1222 und darin ihre Erfüllung findet.«
Der letzte und unvollständig gebliebene Teil des Romans endet wenig später mit der Traumszene über den Unterweltbesuch Lao Cans und die erlangte Buddhaschaft.
3.2 Literat und Provokateur – Das gesellschaftskritische Hauptwerk des Wu Woyao Bei einem weiteren Vertreter der Schriftsteller, die die Möglichkeiten des uns hier interessierenden Panoramaromans nutzten, handelt es sich um Wu Woyao, womit wir bei einem der produktivsten und profiliertesten Verfasser von chinesischer Romankunst zum Jahrhundertbeginn angelangt sind, dessen Werk uns in den vorstehenden Kapiteln bereits einige Male beschäftigt hat. Innerhalb von nur wenig mehr als einem Jahrzehnt legte Wu Woyao (1866–1910) die beachtliche Zahl von sechzehn Romanen und Kurzromanen vor, wobei es nicht aFusblieb, daß einige davon aufgrund der hektischen Schaffensweise des Autors Fragment blieben. Selbst ein traditioneller Gelehrter, der seine Ausbildung in den Klassikern erhalten hatte, hatte Wu das Streben nach einer sicheren Beamtenstellung früh aufgegeben und sich der schriftstellerischen Laufbahn zugewandt mit dem Ziel, Gerechtigkeit für das Volk unter einer ehrlichen Regierung zu erreichen, die Selbststärkungsbewegung zu unterstützen und mittels der Aneignung modernen Wissens den Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Wu Woyao war dabei jedoch kein Revolutionär und neigte insgesamt eher der Reformbewegung zu. Die Vorstellung einer Übernahme westlicher Werte und Haltungen blieb ihm fremd, er fürchtete sich vor dem Verlust der kulturellen Identität Chinas. Wenn eine Botschaft aus seinem umfangreichen Erzählwerk herausklingt, dann die, daß es keine einfachen Lösun1222
Ebd., 372. Mit Kapitel 27 endet dieser Romanabschnitt über die Klosterszene und das Psychogramm der Nonne Yiyun.
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gen gibt: Rufe nach Reformen und einer Verfassung alleine genügen nicht, es sind die Menschen selber, die sich ändern müssen. Um die Impulse hinter Wus Schaffen richtig zu begreifen, lohnt es, einen kurzen Blick auf seine Biographie zu werfen.1223 Wu Woyao entstammte einer ursprünglich einflußreichen Beamtenfamilie aus der Provinz Kanton, wo die Sippe seit der Song-Dynastie in dem Ort Foshan siedelte. Ihre besten Jahre hatten die Wus bereits hinter sich, als Woyao 1866 in der Pekinger Amtswohnung seines Großvaters geboren wurde. Noch sein Urgroßvater Wu Rongguang (1773–1843) hatte alle Ehren auf dem Haus der Familie versammeln können, als er im Anschluß an die 1799 abgelegte Doktorenprüfung eine glänzende Karriere als Beamter einschlug und es zwischen und 1831 und 1836 nach einer Tätigkeit als Zensor und Finanzkommissar bis zum Gouverneur der Provinz Hunan brachte. Das Bild des trefflichen Gelehrten-Beamten wird abgerundet durch die Tatsache, daß Wu Rongguang neben seiner beruflichen Tätigkeit auch als hervorragender Literat und Sammler von Antiquitäten galt. Zwar mochten die Geschwister Rongguangs und deren Kinder den angesehenen Status der Familie noch eine Weile aufrechterhalten, doch war den direkten Nachkommen des mächtigen Ahnen ein solches Schicksal nicht mehr vorbehalten. Wohl läßt sich über die näheren Umstände zu Woyaos Kinderzeit nichts genaues mehr in Erfahrung bringen, doch ist davon auszugehen, daß er diese Jahre in relativer Armut verbrachte, nachdem die Familie kurze Zeit nach dem Tod des Großvaters von Peking nach Foshan zurückgesiedelt war. Bei dem Besuch der höheren örtlichen Lehranstalten dürfte Woyao mit den Grundlagen der Geschichte und Kultur Chinas vertraut gemacht worden sein, doch weigerte er sich bald vor dem Hintergrund der Erkenntnis der die Nutzlosigkeit des Bücherwissens, staatliche Prüfungen abzulegen. Seine Feuerprobe sollte der junge Mann alsbald im frühen Alter von sechzehn Jahren bestehen, als 1882 sein Vater starb und ihn als neues Oberhaupt der Familie zurückließ. Die spürbare materielle Not zwang Woyao, sich in Shanghai eine Arbeit zu suchen, wo er hernach auch die meiste Zeit seines Lebens verbringen sollte. Im Jahre 1883 erhielt er eine Anstellung als Schreiber in dem Shanghaier Jiangnan-Arsenal, wo er mit kleineren Unterbrechungen bis zur Mitte der neunziger Jahre arbeitete. Das Arsenal war 1865 unter der Schirmherrschaft Li Hongzhangs (1823–1901) zum Zweck der Herstellung von Waffen, Schiffen und Maschinen in Zusammenarbeit vor allem mit britischen und französischen Ingenieuren gegründet worden, doch hatte man der Einrichtung früh eine Übersetzerabteilung angegliedert, der die Übertragung von technischen Handbüchern ins Chinesische oblag. Die technischen Kenntnisse, die sich Wu dabei mit der Zeit aneignete, haben in zahlreichen seiner späteren Werke Spuren hinterlassen. 1223
Die Darstellung folgt hier weitgehend den Studien von ANN C.B. GOLD: Wu Jianren and the Late-Qing »New Fiction« Movement, Ph.D. thesis an der University of London 1987 und KAI NIEPER: Neun Tode, ein Leben. Wu Woyao (1866–1910). Ein Erzähler der späten Qing-Zeit.
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Seine publizistische Karriere begann Wu Woyao spätestens 1897/98 nach dem Ausscheiden aus dem Jiangnan-Arsenal, als er seine Tätigkeit bei der Tageszeitung »Shanghaier Zeichenwald« (Zilin Hubao) aufnahm. Während der kommenden Jahre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wechselte Wu zu immer neuen Blättern, die zwar in satirischer Form aktuelle Probleme der Tagespolitik aufgriffen, daneben aber auch stets sehr stark der Boulevardpresse verhaftet blieben. Neben ersten Erzählungen Wus, die in den Zeitungen erschienen, scheint er zur gleichen Zeit mit Die vier großen Diamanten unter den Shanghaier Kurtisanen (Haishang mingji si da jingang qishu) auch einen längeren Roman über das Leben Shanghaier Kurtisanen verfaßt zu haben.1224 Im nachhinein hat Wu diesen Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn sehr kritisch und als eher sinnlos betrachtet.1225 Herausgefordert durch die aktuelle politische Entwicklung in China zeichnete sich für ihn als der einzig gangbare Weg neben einem politischen Engagement die verstärkte literarische Betätigung als Möglichkeit, Einfluß auf die Ereignisse zu nehmen ab. Wie sehr sich kritische chinesische Intellektuelle zu Beginn des Jahrhunderts spätestens nach der gescheiterten Hundert-Tage-Reform von 1898 dem System entfremdet hatten, belegt zudem der Umstand, daß sich Wu Woyao gemeinsam mit einer Reihe profilierter Pressevertreter Shanghais weigerte, sich für die 1901 ausgeschriebene kaiserliche »Sonderprüfung zur Staatskunst« (Jingji teke) nominieren zu lassen. Ohne die Bürde einer Beamtenstellung ließ sich viel freier agieren. Nichts macht das deutlicher als das Engagement in den nach dem Boxeraufstand von 1900 immer stärker werdenden nationalistischen Strömungen. So stellte etwa Wu Woyao sein Rednertalent bei einem ersten öffentlichen Auftritt unter Beweis, als er sich 1901 an dem »Anti-Russischen-Protest« beteiligte, zu dem es gekommen war, nachdem sich die russische Regierung mit der Stationierung von Soldaten in der Mandschurei die quasi-Annexion der dortigen Gebiete vertraglich bestätigen lassen wollte. Blieb eine vorübergehende Tätigkeit bei der »Tageszeitung von Hankou« (Hankou ribao) im Jahre 1902 für Wu Woyao zunächst noch ohne viel Belang für seine weitere literarische Tätigkeit, so ließ der im gleichen Jahr erscheinende kurze Prosatext »Wu Jianren weint« (Wu Jianren ku) bereits die Kernthemen seiner weiteren gesellschaftskritischen Romane und Erzählungen erkennen.1226 Der Text gibt zudem Aufschluß über die Beweggründe Wus zur Aufnahme seiner schriftstellerischen Betätigung. Die Unfähigkeit der Beamten zur Lösung der gesell1224
1225 1226
Der Roman erschien im Jahre 1898 unter dem Pseudonym »Der Mann, der die Fäden zieht« (Chousi zhuren). Die Verfasserschaft Wus ist zwar nicht mit letzter Sicherheit nachgewiesen, doch machen die biographischen Umstände seiner häufigen Besuche im Shanghaier Rotlichtmilieu zu jener Zeit es durchaus wahrscheinlich, daß Wu dort gesammelte Erfahrungen zu Papier brachte (vgl. dazu die Bemerkungen im Anhang von NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 373). Vgl. d. Zitat ebd., S. 63. Bei Wu Jianren handelt es sich neben der Bezeichnung »Ich, der Mann aus Foshan« (Wo Foshanren) um eines, der am häufigsten von Wu Woyao verwendeten Pseudonymen.
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schaftlichen Probleme wird dort ebenso angeprangert wie die Mißstände in der Erziehung und die allgemeine Uneinsichtigkeit bei der Durchführung von Reformen. Dabei war Wu Woyao weit davon entfernt, die alten Lehren Chinas über Bord zu werfen. Vielmehr plädierte er dafür, unter Beibehaltung des eigenen kulturellen Erbes den Blick für nützliche Erkenntnisse des Westens im Bereich der Politik, der Erziehung und Wissenschaft zu erweitern. In überzeugendem Ton heißt es da u.a.: Kluge und herausragende Gelehrte haben erkannt, daß die alten Lehren nicht mehr verläßlich sind und sich daher um die neue Lehre bemüht. Die Theorien, die sie bei Gelegenheit verbreiteten, führten zu zahlreichen neuen Einsichten. Einige rückständige Starrköpfe aber begriffen diese Einsichten nicht und klammerten sich an ihre alten Lehren. Sie verleumdeten die neue Lehre als ketzerisch und häretisch und lehnten sie rundheraus ab. So pflegten Außenstehende bald zu sagen: »Dies ist die neue Partei, jenes die alte Partei.« [...] Die Starrköpfe betrachten die neue Lehre als Verrat an den Klassikern und ihren Inhalten; auf der anderen Seite verunglimpfen diejenigen, die sich oberflächliche Kenntnisse westlicher Lehren angeeignet haben, bei jeder Gelegenheit Chinas klassische 1227 Schriften – Wu Jianren weint.
Was Wu Woyao von der es an klagenden Tönen nicht mangeln lassenden Literatenwelt der Vergangenheit unterscheidet, ist, daß er anders als diese keine Nabelschau betreibt und die Kritik am eigenen Schicksal aufzieht, sondern den Blick auf die Lage der Menschen im ganzen Lande richtet – ein Umstand, der womöglich dem Einfluß von Anhängern marxistischer Strömungen zu verdanken ist, die die Belange der »Massen« in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellten. Wer die »Massen« einmal als Konstituenten des Staates erfaßt hat, macht diesen selbst schnell als den Verantwortung tragenden Gegner aus, wie Wu Woyao eindrucksvoll darlegt: Die Bevölkerung lebt innerhalb der Grenzen des Staates, das macht sie zur Bevölkerung dieses Staates. Doch von der Geburt bis zum Tode geht es den Menschen so: Ob sie etwas lernen können oder nicht, das ist dem Staat egal, und der Gebietsverwaltung ebenso; ob sie ihren Lebensunterhalt erwerben können oder nicht, das ist dem Staat egal, und der Gebietsverwaltung ebenso. Von der Geburt bis zum Tode kommen sie keinen einzigen Tag in den Genuß der Ausbildung oder der Fürsorge des Staates. Ohne Ausbildung, ohne Fürsorge werden sie von Hunger und Not überwältigt – da erlernen sie das Räuberhandwerk, und nun läßt sie der Staat durch seine Ortsbeamten ergreifen und hinrichten! Gibt es auf dieser Welt ein größeres Unrecht? Daher weint Wu Jianren, wenn ein Räuber 1228 gefesselt zur Richtstätte geführt wird. 1227 1228
Zit. nach NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 82. Zit. nach ebd., S. 84.
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Es war kein einzelnes Erlebnis, das Wu Woyao veranlaßte, mit seinen Schriften in den Ablauf der Dinge einzugreifen und seine Ansichten zu artikulieren. Vielmehr spielte er mit bestimmten literarischen Formen, verwarf Stile, griff neue auf. Eine komplizierte seelische Verfassung kam hinzu. Immer wieder machten ihm depressive Zustände zu schaffen, er fühlte sich erniedrigt angesichts der Verachtung, mit der die Fremden der chinesischen Bevölkerung begegneten. Selbstzweifel an den eigenen Fähigkeiten kamen in ihm auf; er bezweifelte auch, überhaupt etwas verändern zu können.1229 Es ist kennzeichnend für den Ton in Wus Werken und denen zahlreicher Zeitgenossen, daß man nach Wegen suchte, seinen Klagen Luft zu machen. Tiefe Niedergeschlagenheit, so resümierte Wu später, habe sich bei ihm in Beschimpfungen entladen, im Übermaß des Grams habe er schließlich zur Schriftstellerei gefunden. Die traditionelle Erzählliteratur der vorangehenden Jahrhunderte bot kaum Vorbilder. Gefragt war etwas Neues, fort von den Werken, in denen man gegen »Naturgewalten wetterte und Berge erschütterte«, oder »Geister zu Tränen rührte«. Auch mit der Literatur der Jugend, der übertriebenen Detailverliebtheit, der Kennerschaft von Mond und Morgentau, ihren verborgenen Kümmernissen und bewegten Formulierungen mochte ich mich nicht abgeben. Erst als meine Verdrossenheit über die Welt und ihre Gebräuche sich immer weiter vertieft hatte und mein Vorsatz, Torheit und Unwissenheit zu beseitigen, immer deutlicher geworden war, begann ich, mich in einer Literatur des frohen Gelächters und wütenden Schimpfes zu üben, und reihte mich unter die verborgenen Mahner 1230 ein.
Im Jahre 1903 sandte Wu Woyao schließlich die Anfangskapitel von drei Romanen nach Yokohama zur Veröffentlichung in Liang Qichaos Zeitschrift »Neue Erzählkunst«.1231 Gleichzeitig mit den Augenzeugenberichten über seltsame Ereignisse in den letzten zwanzig Jahren (Ershi nian muduzhi guai xianzhuang) erschienen die Wundersame Geschichte über Elektrizität (Dianshu qitan) und Schmerzvolle Geschichte. Wenig später folgten Neun Tode sowie Anekdotensammlungen und diverse Notizen bzw. Kommentare. Man darf davon ausgehen, daß für dieses hektische Schaffen nicht nur Wus Suche nach Möglichkeiten zur Einflußnahme über die Literatur ausschlaggebend war, sondern durchaus auch finanzielle Erwägungen eine Rolle spielten, lebte der Autor zu dieser Zeit doch ausschließlich von seiner Schriftstellerei. Daß er dennoch nicht zum Vielschreiber verkam, wird 1229
1230 1231
Vgl. die Bemerkungen bei GOLD: Wu Jianren and the Late-Qing »New Fiction« Movement, S. 125. Zit. nach NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 92 Die Redaktion der Zeitschrift wurde erst 1905 nach Shanghai verlegt, wo das Blatt noch im gleichen Jahre einging.
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daraus deutlich, daß sich Wu ganz unterschiedliche Genres für seine Werke auswählte und auch stilistisch neue Wege beschritt. Wohingegen Augenzeugenberichte eher der Form des Gesellschaftsromans verpflichtet blieb, war Wundersame Geschichte mehr den Liebesromanen zuzuordnen. Die Schmerzvolle Geschichte hingegen brachte ihre Botschaft in Anlehnung an die Tradition des historischen Romans vor. Anders als in seinen frühen Schriften – »Wu Jianren weint« ist noch ganz im Idiom der klassischen Schriftsprache gehalten – bediente sich Wu Woyao zudem nun einer Variante, die der gesprochenen Sprache angeglichen war. Zum Zeitpunkt der Boykottbewegung 1904/05, mit der man sich gegen Maßnahmen der USA wandte, die Einwanderung chinesischer Arbeitskräfte zu untersagen, befand sich Wu Woyao in Hankou. Erst 1907 thematisierte Wu Woyao die Ereignisse um die Boykottbewegung in Teilen seines Liebesromans Asche nach der Zerstörung (Jieyuhui). Wieder in Shanghai, wandte sich Wu Woyao nach dem Intermezzo auf der politischen Bühne nun erneut seiner literarischen und publizistischen Tätigkeit zu. Es erschien sein Folgewerk zum Traum der Roten Kammer, die utopische Neue Geschichte vom Stein. Gleichzeitig setzte er nach Li Boyuans Tod die Arbeit an dessen Lebendiger Hölle fort und übernahm die Stelle als Schriftleiter der 1906 von Wang Weifu in Nachfolge zu »Neue Erzählkunst« und »Bebilderte Erzählkunst« gegründeten Monatsschrift »Monatliche Erzählliteratur« (Yueyue xiaoshuo), in der er auch eigene Werke wie den historischen Roman Geschichte der beiden Dynastien Jin herausbrachte, der jedoch wie andere Schriften aus seiner Feder unvollendet blieb. Unterdessen nahmen während der letzten Jahre der Kaiserdynastie die Auseinandersetzungen zwischen den Revolutionären um Sun Yat-sen, die sich 1905 mit der Revolutionären Allianz (Tongmenghui) eine Partei geschaffen hatten, und den Reformkräften um Liang Qichao mehr und mehr zu. Streit entbrannte vor allem an der Frage der Notwendigkeit einer gegen das Kaiserhaus gerichteten Revolution. Während Liang eine Revolution für überflüssig hielt und eine aufgeklärte Autokratie vor dem Übergang zur Republik forderte, trat die Fraktion um Sun angesichts der Bedrohung des Bestands Chinas selbst durch die fremden Mächten für den Sturz des Kaiserhauses ein.1232 Auch Wus Veröffentlichungen aus dieser Zeit sind zu einem guten Teil von diesen Auseinandersetzungen geprägt und lassen seine kritische Haltung gegenüber den Revolutionären erkennen, wie sein 1907 erschienener Kurzroman Unterwegs in Shanghai (Shanghai youcanlu) belegt. Anders als noch in der zuvor verfaßten Schmerzvollen Geschichte steht nun für Wu nicht mehr das Problem der mandschurischen Fremdherrschaft im Vordergrund, sondern vielmehr die Bedrohung durch die Kolonialmächte, deren Gefahr Wus Einschät1232
Vgl. dazu ausführlicher u.a. MERIBETH E. CAMERON: The Reform Movement in China 1898–1912, Stanford UP, Cal. 1931.
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zung zufolge von den Revolutionären unterschätzt wurde. In dem Roman wird geschildert, wie man den jungen und mittellosen Gelehrten Gu Wanyan in einem Dorf verhaften will, da er gegen die Unterdrückung der Bevölkerung durch die Truppen protestiert hat. Gu flieht daraufhin nach Shanghai, wo er in revolutionäre Kreise gerät. Es ist nicht verwunderlich, daß Wu Woyao am Ende des Jahrzehnts nach jahrelangem hektischen Schaffen zur Durchsetzung seiner politischen und gesellschaftlichen Ziele irgendwann einmal Bilanz zog, um festzustellen, was er eigentlich erreicht hatte. Die Feststellung wird nicht sonderlich positiv ausgefallen sein angesichts des Umstands, daß sich die Gesellschaft weiterhin im Niedergang befand und kaum Aussicht auf Wandel bestand. Mehr und mehr trat Wu Woyaos publizistische Tätigkeit in den letzten Lebensjahren in den Hintergrund, und er widmete sich noch einmal neuen Betätigungsfeldern. So wurde er Mitbegründer der Shanghaier Landsmannschaft für Guangdong und Guangxi (Liang Guang tongxianghui) und übernahm 1908 die Leitung der kurz zuvor von der Landsmannschaft gegründeten Guangzhi-Volksschule, in der man die Kinder von in Shanghai ansäßigen Südchinesen unterrichtete. Vermutlich war Wu bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1910 an der Schule beschäftigt, wo ihm, wie man weiß, die Erstellung von Lehrplänen sowie die Berufung von Lehrern oblag. Über eine Lehrtätigkeit Wus selber, die man wohl vermuten darf, ist dagegen mit letzter Sicherheit keine Aussage zu machen. Jedenfalls schließt sich hier der Kreis seines umfassenden Engagements, waren doch die Tätigkeiten als Schriftsteller und Lehrer vor dem zeitlichen Hintergrund zur Jahrhundertwende nicht so weit voneinander entfernt, wie man es zunächst vermuten mag. So hatten Reformer wie Liang Qichao bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts gefordert, die Erzählliteratur auch im Schulunterricht einzusetzen, und Wu Woyao selbst war es gewesen, der mit seinen historischen Romanen die Rolle des Lehrers für sich beanspruchte.1233 In dieser knappen Übersicht über Wu Woyaos Leben und Schaffen konnten wohlgemerkt nur die zentralen Aspekte seiner Biographie hervorgehoben werden. Die repräsentativsten Werke aus seinem Œuvre sind bereits in den vorstehenden Kapiteln vorgestellt worden, so daß sich eine weitere Erörterung hier erübrigt.1234 Wir wollen an dieser Stelle hingegen den Blick auf jenen Roman richten, der gleichermaßen untrennbar mit Wus Person in Verbindung steht und in der Tat sein literarisches Hauptwerk darstellen dürfte, wenngleich die zahlreichen kürzeren Arbeiten vor allem in künstlerischer Hinsicht nicht zurückstehen und gleichermaßen Lob für sich beanspruchen dürfen. Die Rede ist von den Augenzeugenberichten über seltsame Ereignisse in den letzten zwanzig Jahren, an denen Wu 1233 1234
Vgl. NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 141. Zu einem ausführlichen Werkverzeichnis der Erzählliteratur Wu Woyaos vgl. den Anhang bei NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 359–378.
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nahezu die gesamte Zeit seiner literarischen Schaffensperiode über gearbeitet hat und die nach den ersten im Jahre 1903 vorgelegten Kapiteln mit dem letzten der einhunderundacht Kapitel nicht vor 1909 zum Abschluß kamen.1235 Augenzeugenberichte ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert und zeugt von dem innovativen Geist, mit dem Wu Woyao der Erzählliteratur zum Ende der Qing-Zeit neue Impulse gab. Das gesamte Werk wird aus der Sicht eines IchErzählers geschildert, eine bis dahin in China kaum zu findende Darstellungsweise. In der Form von Memoiren berichtet der Erzähler, wie er als Gehilfe eines befreundeten Beamten seine Karriere beginnt und später dessen Geschäftspartner wird. Die Schilderungen fußen auf Beobachtungen, die er auf Geschäftsreisen durch das Land über zwei Jahrzehnte hinweg macht und die den Zeitraum zwischen 1894 und 1904 umfassen dürften. Dabei tritt er zunächst eher als der fragende, unwissende Außenseiter auf, dem die Zustände allerorts erläutert werden, der sich aber mit der Zeit eine satirische Sichtweise aneignet, die letzten Endes in Resignation und Verbitterung umschlägt, wodurch dem Werk Züge des Bildungsromans verliehen werden. Als Schwerpunkt der Beobachtungen lassen sich Themen wie Korruption und Inkompetenz von Beamten, Mangel an Patriotismus, Unwissenheit und Falschheit, Mißachtung der traditionellen Werte, Mängel im Erziehungssystem, Aberglaube etc. ausmachen – lauter »Seltsamkeiten«, die Männern wie Wu Woyao auf den Nägeln brannten. Geschickt gelingt es dem Verfasser dabei, die nahezu zweihundert Episoden, Anekdoten und Ereignisse, die auf mehreren Erzählebenen vorgetragen werden, mittels verschiedener Mechanismen in eine einheitliche Form zu bringen, so daß der Charakter als ein geschlossenes Werk zumindest ansatzweise erhalten bleibt. So bedient sich Wu zunächst der Gestalt eines fiktiven Herausgebers namens »Sili Taosheng« (Knapp-am-Tod-vorbei) aus Shanghai, dem das Manuskript eines Tages auf der Straße von einem Fremden zur Veröffentlichung angeboten wird. Aufgrund einer schnell festgestellten Geistesverwandtschaft zu dem Memoirenschreiber »Jiusi Yisheng« (Neun Tode, ein Leben, i.S.v. mehr tot als lebendig) kommt er diesem Wunsch nach und sendet das in Romanform gebrachte Buch – die Herausgeberfigur bleibt mit diversen Randglossen, Kapitelkommentaren und einem Schlußkommentar weiterhin sichtbar – an die Zeitschrift »Neue Erzählliteratur« in Yokohama, womit der Bezug zur Person Wu Woyaos hergestellt ist, der die Augenzeugenberichte sowie diverse andere Werke ebendort veröffentlichte. Erschüttert durch die Enthüllungen des Buches zieht sich Sili Taosheng alsbald in die Wildnis zurück. Die eigentliche Erzählhandlung findet sodann auf zwei Ebenen statt. Im Mittelpunkt der ersten steht die Gestalt des Memoirenschreibers Jiusi Yisheng, dessen Familie sowie der 1235
Der Bearbeitung lag hier die Ausgabe Ershi nian muduzhi guai xianzhuang, Peking: Renmin wenxue 1985 zugrunde. An Übersetzungen liegt eine englische Auswahlfassung vor: Bizarre Happenings Eyewitnessed Over Two Decades, übers. von SHIH SHUN LIU, Hongkong: Chinese University 1975.
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nähere Bekanntenkreis. Vor dem Hintergrund der prägenden Erlebnisse seiner Zeit erläutert der Erzähler die Herkunft seines eigenartigen Namens folgendermaßen: Ich bin ein anständiger Mensch. Mein ganzes Leben lang habe ich mich von großen Affären und Bedrohungen ferngehalten, und es hat auch niemand 100.000 Silberunzen auf meinen Kopf ausgesetzt – wie kommt es also, daß ich meinen elterlichen Namen verberge und mich »Mehr-tot-als-lebendig« nenne? Der Grund ist: In den zwanzig Jahren, die ich mich in der Welt umgetan habe, sind mir, wenn ich es recht bedenke, nur drei verschiedene Wesen begegnet. Erstens Schlangen, Würmer, Ratten und Ameisen, zweitens Hyänen, Wölfe, Tiger und Leoparden, drittens bösartige Kobolde und feindselige Dämonen. [Randglosse: Keine Menschen, wie erbärmlich!] Zwanzig Jahre habe ich mich in ihrer Mitte aufgehalten, ohne von den ersten zernagt, von den zweiten verschlungen oder von den dritten verschleppt worden zu sein. Da ich dem nun tatsächlich entgangen bin, kann man da etwa nicht sagen, ich sei mehr tot als lebendig? Also 1236 dient dieser Name auch zu meiner Erinnerung.
Die gesamte Handlung des Romans sowie die eingefügten Anekdoten, die Jiusi Yisheng während seiner zwanzigjährigen Erlebnisse mit der Verwandtschaft und auf seinen Reisen durch das Reich zusammenträgt, ist vor dem Hintergrund dieser Aussage zu betrachten, die seine Erfahrungen in einem Resümee zusammenfaßt. Die Ereignisse der ersten Erzählebene, die gleichsam die Rahmengeschichte bilden, sind schnell berichtet. Wir erfahren dort, wie der Erzähler im Alter von fünfzehn Jahren seinen Vater verliert und das Familienvermögen einem Onkel anvertraut wird, der vorgibt, es in Shanghai gewinnbringend anzulegen und die Familie von den Zinsen zu unterstützen. Spätere Anfragen, wie es um das Geld bestellt ist, bleiben jedoch geraume Zeit unbeantwortet. Jiusi Yisheng begibt sich daraufhin nach Nanking, um persönlich beim Onkel Erkundigungen anzustellen, trifft diesen aber nicht an. In seiner finanziellen Not nimmt sich ein Freund namens Wu Jizhi des jungen Mannes an. Wu hat bei seinem Studium die höchsten Doktorehren in der Hauptstadt erlangt und bekleidet ein Amt in der Provinz Jiangsu, betreibt aber nebenbei Geschäfte, in die er nach und nach auch Jiusi Yisheng einbindet. Erst nach geraumer Zeit gelingt es Jiusi, Kontakt mit seinem Onkel aufzunehmen, der aber nur einen geringen Teil des einst übertragenen Vermögens auszahlt. Mittels eines gefälschten Telegramms lockt man den jungen Erben zurück in seine Heimat, wo der Familienclan unter dem Vorwand der hohen Kosten für die Restaurierung eines Ahnentempels bemüht ist, Jiusi Yisheng und seine Mutter zu schröpfen. Empört lehnen beide dies ab und ziehen gemeinsam mit der Schwester und einer weiteren Tante nach Nanking, wo man eine Bleibe in der unmittelbaren Nachbarschaft Wu Jizhis findet. Sein Auskommen für sich und 1236
Augenzeugenberichte, Kap. 2, S. 6. Hier zitiert nach NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 155f.
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die Angehörigen findet Jiusi Yisheng, indem er im Auftrage Wus zahlreiche Geschäftsreisen durch das ganze Land unternimmt, was ihn über die Nachbarstädte Suzhou und Shanghai hinaus auch in die entfernteren Orte Kanton und Peking führt, wo er sich längere Zeit (Kap. 60–106) aufhält. Als eines Tages die Nachricht vom Tode eines Onkels in der Provinz Shandong eintrifft, überführt Jiusi Yisheng den Sarg mit dem Toten und nimmt die beiden Waisenkinder zu sich. Mittlerweile hat jedoch Wu Jizhi Bankrott gemacht, woraufhin sich der Erzähler, verfolgt von Gläubigern, nach der Aushändigung der Memoiren an einen Freund, in seine Heimat zurückbegibt. Diese kurze Zusammenfassung mag bereits verdeutlichen, wie es Wu Woyao am Ende gelingt, dem Leser ein panoramaartiges Bild über den Zustand der Gesellschaft seiner Zeit zu vermitteln, ein Umstand, der durch die vielen zeigenössischen Persönlichkeiten, die sich hinter einer Reihe sprechender Namen im Roman verbergen, erhärtet wird.1237 Die unerfreulichen Erlebnisse des Ich-Erzählers mit seiner Verwandtschaft decken dabei den zwischenmenschlichen Bereich ab, dessen Erschütterungen in den traditionellen Familienromanen wie Jin Ping Mei und Traum der Roten Kammer bis dahin nur unzureichend zum Ausdruck kamen. Wo dort noch der Eindruck einer Bastion des eigenen Clans gegen die Anfechtungen der Welt außerhalb der Mauern des eigenen Heims vorherrschte, trennt die Familie in der Heimat des Erzählers in ihrem raffgierigen Gebaren nur wenig von den selbstsüchtigen Beamten und Politikern im Reich, über die man im Buch durch die auf der zweiten Erzählebene vorgetragenen Anekdoten erfährt, welche an den Erzähler während seiner Reisen durch das Land herangetragen werden. Hier wird nicht mehr nur das »System« in Frage gestellt. Der ganze Roman will vielmehr einen Eindruck davon vermitteln, wie verfault die Gesellschaft, die Menschen selbst von grundauf sind. Es zeichnet einen Künstler wie Wu Woyao, der in anderen seiner Werke durchaus kein Vertreter leiser Töne war aus, daß er es in den Augenzeugenberichten fertigbringt, sich nicht in pauschalen Verurteilungen der Gesellschaft oder der Beamten zu verlieren – ein Stil, der manch anderem seiner zeitgenössischen Kollegen eigen war – sondern durchaus Abstufungen schafft und damit die ganze menschliche Schwäche seiner Helden offenbart. So weist Wu Jizhi als Freund und Gönner der Familie Jiusi Yishengs durchaus eine Reihe positiver Aspekte auf. Auch in seiner Funktion als Beamter und Geschäftsmann zeigt er sich zunächst erfolgreich und ohne Tadel. Freilich offenbart sich bald sein ganzes billiges Mitläufertum, als er nach einem Gespräch mit dem jungen Freund über Korruption im chinesischen Militär sein fragwürdiges Berufsethos mit den folgenden Worten umschreibt:
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Vgl. dazu ausführlicher die Angaben im Anhang bei NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 353–356, wo mit Hilfe textkritischer Arbeiten, die Klarnamen dieser Personen aufgeführt werden.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Wer wird schon Geld ausschlagen, wenn es ihm angeboten wird? Sicher, es wäre einfach, sich als Saubermann auszugeben und die Unregelmäßigkeiten der Menschen in seiner Umgebung anzuprangern. Aber man würde sich damit vollkommen isolieren. Nimm zum Beispiel nur einmal meine hiesige Arbeit als Zollinspektor. Schmiergeldzahlungen sind gang und gebe, doch glaube mir, ich nehme sie nur mit dem größten Widerwillen an. Aber soll ich mir etwa den Zorn meiner Nachfolger zuziehen, indem ich ablehne? Ohnehin ist es seit jeher Brauch, dieses Geld einzustreichen. Solange ich mich nicht sonstwie auf ungesetzliche Weise bereichere, gelte ich auch weiterhin als aufrechter Mann und 1238 genieße einen untadeligen Ruf.
Die Ironie will es freilich, daß Wu Jizhi am Ende selbst seines Amtes enthoben wird, als er sich weigert, Bestechungsgelder zu zahlen. Ebensowenig erfolgreich ist seine Tätigkeit als Geschäftsmann. Am Ende macht er Bankrott. Wie gesagt, das sind Zwischentöne, die Gestalt Wus bleibt ambivalent und damit besonders menschlich. Was seiner Erscheinung positive Züge verleiht, ist die Fähigkeit der Einsicht, faßt er doch am Ende seine Einschätzung folgendermaßen zusammen: Die ganze Welt ist ein einziger Betrug. Du kennst doch die Salons der Kurtisanen: Wie herzlich und zuvorkommend sie dich bedienen! Aber im Herzen sind sie alle falsch. Wir durchschauen die Zusammenhänge und erkennen ihre Falschheit, aber wer immer sich dort vergnügt, will unbedingt glauben, sie seien wirklich so. Weißt du, die Welt der Kurtisanen ist leicht zu durchschauen, aber die Welt, in der wir leben, ist es nicht. Nur deshalb ist das Leben der Menschen noch ein einziges Mühen und Drängeln, denn würden sie alles durchschauen, 1239 gäbe es keine Welt mehr.
Die weitaus eindrucksvollere Negativgestalt des ganzen Romans ist der mandschurische Beamtenanwärter Gou Cai (homophon zu »Hundetalent«, also etwa mit »Hundling« zu übersetzen), ein Mann aus der Nachbarschaft Wu Jizhis, den man bis zum Schluß (er taucht zwischen Kapitel vier und hundertfünf immer wieder auf) nie ganz aus den Augen verliert und der damit eine wichtige Klammerfunktion der episodischen Handlung erfüllt. Sein Beispiel mag zudem die Verknüpfung der beiden Erzählebenen erläutern. Wir werden zum ersten Mal auf Gou Cai aufmerksam gemacht, als der Erzähler ihn eines Tages dabei beobachtet, wie er in prächtigen Kleidern vor das Haus tritt und einen Gast verabschiedet. Ein Schild am Hause des Mandschuren gibt Auskunft über dessen hohe Stellung. Als Jiusi Yisheng seinem Freund und Gönner Wu Jizhi davon berichtet, wehrt dieser weitere Nachfragen mit einem Lächeln ab und übergeht das Thema. Erst bei ganz anderer Gelegenheit kommt Wu Jizhi 1238 1239
Augenzeugenberichte, Kap. 14, S. 119. Ebd., Kap. 86, S. 799, hier zitiert nach NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 165.
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wieder auf Gou Cai zu sprechen und berichtet ausführlicher, womit die Schilderung um den Mandschuren aus der ersten Erzählebene zunächst als Geschichte in der Geschichte auf die zweite gehoben wird. Man erfährt, daß sich Gou Cai in der Vergangenheit mit einem Memorandum über die öffentlichen Finanzen bei den lokalen Vorgesetzten unbeliebt gemacht hat und sein Amt einbüßte, sich nach nunmehr drei Jahren aber wieder um ein Amt bemüht. Gou Cai ist und bleibt die zentrale Negativgestalt der zivilen und militärischen Beamtenschaft, jener Thematik, die in weiten Teilen des Buches immer wieder aufgegriffen wird. Mehrere Episoden kreisen dabei in der Regel um ein bestimmtes Problem bzw. eine bestimmte Person. Während sich Wu Woyao zu Romanbeginn vornehmlich mit der Problematik des Beamtentums befaßt, rückt er mit Hilfe der fortschreitenden Reise seines fiktiven Memoirenschreibers nach und nach auch andere Themen in den Mittelpunkt. In der Mitte des Werkes greift er etwa die Problematik von Liebe, Ehe und Familie auf. Jiusi Yisheng befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Südchina. Wu Woyao nimmt in dem Komplex die Verbindung von Liebe und Verbrechen wieder auf, welche entfernt an den Inhalt seines Kriminalromans Neun Tode erinnert. Eine weit rührendere Geschichte wird in der zweiten Anekdote geboten, die man Jiusi Yisheng bei seinem Aufenthalt in Hongkong berichtet. Die Rede ist dabei von einem Glückspilz, der »an einem alten Brunnen gegraben« hat, womit jemand bezeichnet wird, der die Gunst einer wohlhabenden Witwe bzw. eines Freudenmädchens ergattert hat. Der Held dieses Abschnitts ist der Bauernsohn Yun A'lai, der nach einem Streit mit dem Vater den heimatlichen Hof verlassen hat und nach Hongkong gezogen ist, um dort als Kuli sein Brot zu verdienen. Er tritt in den Dienst einer Dame ein und beraubt sie, dann kehrt er mit dem Geld in sein Heimatdorf zurück. Voller Mißtrauen erkundigt sich der Vater nach der Herkunft des Geldes und erfährt alles. Er zwingt A'lai, mit ihm nach Hongkong zu reisen und das gestohlene Geld zurückzuerstatten. Dankbar über so viel Ehrlichkeit nimmt ihn die Herrin wieder auf und heiratet A'lai am Ende. Es wäre sicherlich übertrieben, anhand dieser kleinen Episode unterstellen zu wollen, Wu Woyao hätte die einfachen Menschen vom Lande als Hoffnungsträger für eine Erneuerung erkannt. Dazu waren und sind die Bauern trotz ihrer überwiegenden Zahl politisch kaum zu organisieren. Der Verfasser der Augenzeugenberichte dagegen war noch viel zu sehr dem städtischen Kulturbetrieb verhaftet, wo die Mißstände selbst bei den mit noch so geringen Machtbefugnissen ausgestatteten Beamten der unteren Organisationsebenen viel stärker zutage traten. Ein Beispiel dafür ist der kleine Amtsschreiber Bu Shiren (homophon für »Unmensch«), der nach dem Ausscheiden aus dem Dienst folgendes über seine Erfahrungen zu berichten weiß: Die Wichtigkeit eines Beamtenpostens nimmt mit der Summe des investierten Geldes zu. Wer viel anlegt, erhält einen hohen Posten, wer nur wenig gibt, einen entsprechend geringeren. Die Regeln der Etikette hat man schnell erlernt, das ist
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT reine Übungssache: Kotau, Gruß, richtige Aufstellung – ein Kinderspiel. Am Anfang wird man dabei immer noch ein wenig linkisch wirken, aber das hat sich bald. Vieles kann man auch durch die richtige innere Einstellung erlangen. Wer sich nur richtig aufs Kriechen und Einschmeicheln versteht, wird seinen Weg schon machen. Ich sage es dir, wie es ist. Wer Opfer bringt, dem stehen alle Möglichkeiten offen. Du bist noch jung und unverheiratet. Aber einmal angenommen, du hättest eine Gattin und ein Vorgesetzter hätte ein Auge auf sie geworfen, um sie als Dienerin in seine Dienste zu nehmen, eine Verwendung im Amt fände sich da auch für dich in kürzester Zeit. Voraussetzung für den Aufstieg als Beamter ist, daß man stets tut, was einem von oben gesagt wird und sich aufs Schöne-Worte-Machen versteht. Bedenken und Skrupel oder gar Scham sind da nicht angebracht, denn du kannst sicher sein, daß sich dein Vorgesetzter gegenüber denen, die über ihm stehen, ebenso verhält und ihnen gleichfalls Honig ums Maul schmiert. Ein kleiner Schreiber wie ich wirbt um die Gunst des Landrats, dieser wiederum redet dem Präfekten nach dem Wort, welcher sich selbst dann mit allen Mitteln bei dem Gebietsvorsteher einschmeichelt. Doch auch dieser darf nur auf die Gnade des Gouverneurs hoffen, wenn er schöne Worte macht. Um es kurz zu sagen: Alle verhalten sich so, kein Grund also, sich zu schämen. Wenn du es nur verstehst, dich nicht zu genieren, dann wirst du es als Beamter weit bringen, andernfalls darfst du nicht auf ein Fortkommen hoffen. Dies sind meine Erfahrungen, die ich über viele Jahre im Amt gesammelt 1240 habe.
Das alles bleibt freilich noch recht allgemein im Vergleich zu dem Treiben des Gou Cai, der die hier beschriebene »Wertlosigkeit« schon vollkommen internalisiert zu haben scheint und mit dessen Beschreibung wir dieses Kapitel abschließen wollen. Mittlerweile ist Jiusi Yisheng in Peking eingetroffen, wo ihm ein Beamter aus dem Kriegsministerium von einer Art Freibrief berichtet, welchen seine Kollegen bei sich führen, um Strafen zu entgehen, falls man sie bei einem verbotenen Bordellbesuch ertappt. Die Briefe hat man eingeführt, nachdem einmal drei hohe Beamte und Minister von einem Zensor im Freudenhaus überrascht worden waren. Die Angelegenheit endete in einer Tragödie, als die Männer zu fliehen suchten, jedoch gefaßt wurden und sich, da sie ihre wahre Identität aus Furcht nicht preisgaben, einer erniedrigenden Prügelstrafe unterziehen mußten und sich vor Scham dann umbrachten. Ein Zensor ist es wiederum nun auch, der unseren Gou Cai in Bedrängnis bringt. Gou hat zu diesem Zeitpunkt mit dem Verlust eines Sohnes schon beträchtliches Unglück auf seiner Person vereint. Nicht genug damit, ist ein kaiserlicher Zensor unterwegs in die Gegend um Yangzhou, um dort Berichten über Amtsverfehlungen nachzugehen, bei denen auch Gou Cais Name gefallen ist. Glück im Unglück ist es für Gou nach der Einbuße seines Amtes nur, daß er 1240
Augenzeugenberichte, Kap. 99, S. 926.
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Der Panoramablick auf die Misere Chinas
nicht zu den Verhafteten gehört. Das tatenlose Warten ist dennoch unerträglich. Ein Freund weiß so auch bald Rat, so daß Gou Cai auf eine erneute Verwendung durch den Generalgouverneur hoffen darf. Dieser hat nämlich vor kurzer Zeit seine Lieblingskonkubine verloren, wäre es da nicht möglich, ihm die Frau des verstorbenen Sohnes als Nebenfrau anzubieten und sich derart die Gunst des mächtigen Mannes zu erschleichen? In einer bewegenden Szene versucht Gou Cai nach dem einmal gefaßten Plan, die junge Witwe zu überreden und erbittet ihre Hilfe. »Ich bin nur eine schwache Frau«, erwiderte die junge Witwe, »wie könnte ich dir dabei behilflich sein, wieder ein Amt zu erlangen? Doch sprich nur, sei gewiß, daß ich alles in meinen Kräften stehende tun werde, um dich zu unterstützen.« Als er diese Worte vernommen hatte, warf Gou Cai seiner Gattin einen Blick zu. Sie stand auf, trat neben die Schwiegertochter und drückte sie auf den Stuhl, woraufhin Gou Cai zuerst vor der Jungen Aufstellung nahm und dann niederkniete. Erschrocken wollte die Schwiegertochter aufspringen, wurde jedoch von der Mutter auf ihrem Platz gehalten, die dann ebenfalls niederkniete und die Knie der Sohnesfrau fest mit beiden Händen umklammert hielt. Nun streifte Gou Cai seine Mütze ab und verrichtete einen dreifachen Kotau vor der Schwiegertochter, die höchste Form der Ehrerweisung, die man ausschließlich gegenüber dem Kaiser und gegenüber den Ahnen zum Neujahrsfest darbrachte. »Was tust du da, Vater?« rief die Schwiegertochter mit zitternder Stimme, als sie sah, was vor sich ging. »Dein Gruß steht der Frau deines toten Sohnes nicht zu.« »Kind«, rief Gou Cai, »sei gnädig mit mir, rette mich. Was ich von dir erbitte, kannst nur du vollbringen.« »Was ist es, das ich tun soll?« fragte die Schwiegertochter erregt. »Ich gehe sogleich in den Tod, wenn ihr es von mir verlangt, nur erhebt euch zunächst und sprecht.« Während Gou Cai weiterhin vor ihr kniete, begann er zu erklären: »Unser Generalgouverneur hat im vergangenen Monat eine Konkubine verloren und erklärt, daß er nie wieder glücklich werden könne, wenn er nicht eine ebenso schöne Frau finde, die ihm über diesen schmerzlichen Verlust hinweghelfe. Da nun du von solch erlesener Schönheit bist, vor der der Mond sich beschämt abwendet und vor der die Blumen sich verneigen, weiß ich, daß du seinen Ansprüchen in vollem Maße gerecht würdest. Ich habe ihm daher vor zwei Tagen durch einen Vertrauten bestellen lassen, daß ich dich ihm als Nebenfrau zukommen lassen würde, und voller Freude hat er mein Angebot angenommen. Ich möchte dich daher bitten, dich über dein Keuschheitsgelübde hinwegzusetzen und das große Opfer zum Wohle der Familie auf dich zu nehmen.« Wie vom Donner gerührt erstarrte die Schwiegertochter. Ihr wurde schwarz vor den Augen, sie brach in kalten Schweiß aus, und die Kraft wich aus ihren Gliedern. Erst nach geraumer Weile kam sie wieder zu sich. Dann brach sie in Tränen aus. [...] Immer noch verrichtete Gou Cai seinen Kotau vor ihr, doch durch ihren Tränenschleier nahm die jung Frau nichts mehr wahr. Erneut umklammerte die Schwiegermutter die Knie der Jungen und drängte: »Mein Kind, nimm es dir nicht so zu Herzen. Tu es für deinen verstorbenen Gatten, opfere dich für die Familie. Dein Mann wird es dir selbst noch im Jenseits danken!« Als die Tochter diese Worte vernahm, rief sie mit tränen-
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT erstickter Stimme: »Himmel, welch ein Unglück hat mich da ereilt! Oh Vater, 1241 wie konntest du mich so hilflos zurücklassen!«
Nachdem auch die übrige Verwandtschaft nach dem Bekanntwerden der Pläne Gou Cais der jungen Schwiegertochter immer wieder zusetzt, bricht deren Widerstand am Ende. Erschüttert löst sie den tragischen Konflikt in ihrer Seele, indem sie sich in Irrsinn und Zynismus flüchtet. Die junge Frau stand auf und ging hinaus, hin zur Seelentafel ihres verstorbenen Mannes. Dort löste sie die Spangen aus ihrem Haar und ließ es mit einem Kopfschütteln durcheinanderfallen. Sie beugte sich nach vorn und saß heftig weinend und klagend auf dem Boden. Wahrhaftig, dies war das Weinen einer Wiedergeburt! Die Nebenfrau [Gou Cais], die Dienerinnen und Mägde, alle versuchten, sie zu besänftigen, doch mit welchem Erfolg! Zwei Doppelstunden lang weinte sie ununterbrochen, bis der Schmerz die Oberhand gewann und sie ohnmächtig wurde. In größter Aufregung trugen die erschrockenen Familienmitglieder sie auf ihr Bett und holten sie mit Akupressur, mit heißem Wasser und Ingwerbrühe schließlich ins Leben zurück. Sie erwachte, richtete sich mit einem Ruck auf und rief: »Nebenfrau! Jetzt bin ich nicht mehr traurig. Wozu Treue bis in den Tod – das ist doch ein einziger Betrug. Wozu die ganze Selbstkasteiung – das ist doch nur die Dummheit der Alten. Wenn ich ein Liedchen singe, muß mir auch jemand zuhören, erst dann bekommt es Ausdruck und Sinn; wer außer einem Dummkopf wird sich denn die Seele aus dem Leib brüllen, wenn vor der Bühne ein Haufen Blinder und Tauber sitzt? Laßt Räucherwerk und Kerzen bereitstellen, meine Trauerzeit ist vorbei! Bald geht’s auf die Hochzeit, sagt ihnen, sie sollen mich rasch holen!« Bei diesen Worten kam Gou Cai, der draußen auf Neuigkeiten gewartet hatte, eilig herein und meinte ehrerbietig: »Frau Gouverneur sollten sich noch zwei Tage erholen und die verweinte Kehle pflegen, dann wird es gut sein.« »Ach was! Zwei Portionen kräftige Schwalbennestersuppe, und mir geht’s schon besser. Was soll ich hier noch herumsitzen!« Sofort rief Frau Gou, die in der Nähe stand: »Schnell, putzt Schwalbennester! Und macht es ordentlich – wenn ich nur das kleinste Federchen finde, werden euch die Augen ausgekratzt und die Finger zerquetscht!« Die Dienerinnen liefen hinaus. Inzwischen hatte die Nebenfrau das Haar der Schwiegertochter neu zurechtmachen lassen. Diese ging zur Seelentafel des Verstorbenen und erwies ihm ihre Ehrerbietung, dann tauschte sie das Trauerkleid mit einem Seidengewand und saß 1242 ganz alleine blöde kichernd da.
Anders als erhofft, erhält Gou Cai nach der Verheiratung der Schwiegertochter nicht sogleich das erstrebte Amt, da der Generalgouverneur zunächst in den Norden versetzt wird, wo ihn Gou dann aufsucht und um einen Posten bittet. Gou Cai 1241 1242
Ebd., Kap. 88, S. 816f. Ebd., Kap. 89, S. 830f., hier zitiert nach NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 172f.
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Der Panoramablick auf die Misere Chinas
erkrankt und stirbt am Ende unter maßgeblicher Einwirkung seines Sohnes Longguang sowie des Schwagers Chenghui, die es beide auf das Geld und die Konkubinen im Harem des Alten abgesehen haben. Anstatt sich an den strengen Diätplan für den Kranken zu halten, setzen die beiden ihm das verbotene Gericht teurer Abalonen vor und beschleunigen damit seinen Tod. So besteht selbst für die nächste Generation wenig Hoffnung, hat sich doch die Bösartigkeit des Vaters schon im Herzen des Sohnes festgesetzt, der den Alten am Ende noch übertrifft. Man darf wohl annehmen, daß hier verschlüsselt Wu Woyaos pessimistische Einschätzung über die künftige Entwicklung in China zum Ausdruck kommt. Die lange Schaffensperiode an den Augenzeugenberichten hatte Wu Woyao mit der Gestalt des in der Ich-Form vortragenden Jiusi Yisheng sehr stark auf eine persönliche Erzählweise festgelegt und dem Werk damit eine betont autobiographische Note verliehen. In dem Bemühen, eine objektivere Perspektive zu gewinnen und die Zeitereignisse seit der Jahrhundertwende stärker berücksichtigen zu können, legte Wu Woyao noch im Jahr seines Todes 1910 mit der Neuesten Geschichte gesellschaftlicher Niedertracht oder Seltsame Ereignisse der letzten zehn Jahre (Zuijin shehui wochuo shi [Jin shi nian zhi guai xianzhuang]) ein Folgewerk in zwanzig Kapiteln vor, das am Ende aber unvollständig bleiben mußte.1243 Über den Anlaß zu dieser Veröffentlichung gibt Wu selber in dem dazu verfaßten Vorwort Auskunft: Das Buch Seltsame Ereignisse aus zwanzig Jahren umfaßt hundert Kapitel mit 500.000 Wörtern. Am Beispiel eines einzigen Mannes beschreibt es allerlei Seltsamkeiten der Gesellschaft, die ich in den zwanzig Jahren zuvor mit eigenen Augen und Ohren erfahren und unter Mühen zu Papier gebracht hatte. Nach sieben Jahren ist das Buch noch nicht vollständig veröffentlicht. Bislang sind achtzig Kapitel nach und nach gedruckt worden, die restlichen zwanzig sind zwar abgeschlossen, müssen aber noch besprochen werden. [...] Ich dachte, daß die Vorfälle aus zwanzig Jahren damit abgehandelt sind – doch von wievielen Seltsamkeiten der späteren Zeit werden sie nicht übertroffen! Warum sollte es also keine Fortsetzung zu dem vorherigen Werk geben? Als mir dieser Gedanke kam, war mir plötzlich, als tanzten vor meinen Augen Gespenster und Kobolde, und Rinderteufel und Schlangengeister schwirrten in meinem Kopf herum. Dies alles festzuhalten hieße gewiß, ein Panorama der Gesellschaft zu zeichnen. So sammelte ich, was in den letzten Jahren an seltsamen Szenen zu verfolgen war, setzte die Reihenfolge fest, wählte aus und ließ fortfallen, änderte die Schreibtechnik (das vorige Buch verwendet eine persönliche, das jetzige eine berichtende Erzählform) [...], und so entstand Tag für Tag ein Stückchen des Textes, den ich nun meinen Lesern vorlege, um unsere gegenseitige literarische Bindung zu 1244 erneuern. 1243 1244
Der Roman erschien seinerzeit in der »Zhongwai ribao«. Zit. nach NIEPER: Neun Tode, ein Leben, S. 290f.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT
Selbst ohne diesen Hinweis würde die Verbindung zum Vorgängerroman der Augenzeugenberichte schnell deutlich, knüpft Wu Woyao doch unmittelbar an dessen Erzählgestalt Jiusi Yisheng an und gibt dessen »wahre Identität« preis. Man erfährt, daß es sich dabei um einen gewissen Yi Sicheng handelt, der nach der Übergabe seines Manuskripts mehrere Jahre in seiner Heimat zugebracht hat und dann wieder nach Shanghai gezogen ist, wo er eine Anstellung im Büro eines alten Bekannten findet. Schnell verwickelt man Yu dort in betrügerische Aktivitäten im Minengeschäft und rät ihm zur Flucht. In einem weiteren Panoramabild werden die Themen des verkommenen Gebarens der Beamten und windige Geschäfte der Kaufleute beschrieben. Der Wechsel zu einem auktorialen Erzähler in dem Folgewerk erlaubt es Wu Woyao, seine Anteilnahme am Geschehen in den Hintergrund treten zu lassen und eine distanzierte Haltung am Geschehen zu betonen. Damit ist auch die Notwendigkeit verschwunden, die gesamte Handlung in einen Bezug zum Ich-Erzähler zu setzen, was den Episodencharakter unterstützt. Dennoch gelingt es Wu, durch Konzentration auf wenige Protagonisten die Geschlossenheit der Neuesten Geschichte zu wahren. Einer ganz ähnlichen Thematik hatte sich Wu Woyao auch in seinem 1906 erschienenen, jedoch mit zwölf Kapiteln unvollendet gebliebenen Kurzroman Die Welt in Unordnung (Hutu shijie) bedient,1245 der in lockerer Episodenfolge satirisch das Treiben der Beamtenschaft attackiert. Die Struktur ist dabei stark an Wu Jingzis Gelehrte angelehnt, Nebenfiguren des einen Kapitels reifen zu Protagonisten der folgenden Episode heran. Die Aussage ist mehr als deutlich: Der Bruch der Ordnung in China ist vornehmlich auf die Korruption in der Gesellschaft zurückzuführen. Auch die kleinen Beamten bleiben von der Kritik nicht verschont, ist ihr Streben doch ähnlich wie der der Vorgesetzten allein auf den eigenen Vorteil bedacht. Wu Woyaos Werk im Bereich des gesellschaftskritischen Romans wird schließlich abgerundet durch den nur zehn Kapitel langen Roman Der Schlüssel zum Erfolg oder Die gelben Sklaven (Facai mijue [Huangnu waishi] aus den Jahren 1907/1908.1246 Die darin beschriebene Geschichte spielt zwischen den Jahren 1856 und 1872. Die Thematik der Beamtenschaft taucht diesmal nur am Rande auf. Im Mittelpunkt steht dagegen eine Gruppe von Tagedieben und karrieresüchtigen Geschäftsleuten, die vor nahezu keinem Mittel zurückschrecken, um zu Reichtum und Wohlstand zu gelangen. Schon lächerlich geringe Fremdsprachenkenntnisse – eine Farce des chinesischen Bildungsideals – reichen diesen Individuen aus, um sich bei den Ausländern als Kompradoren zu verdingen und den geschäftlichen Erfolg zu sichern. Schlüssel zum Erfolg weist deutlich Spuren von der Wut und Enttäuschung des Verfassers über den mißlungenen Boykott der amerikanischen Händler im Jahre 1905 auf, welcher seine Hoffnungen bezüglich der Shanghaier Geschäftswelt zunichte machte. 1245 1246
Erschienen in der »Shijie fanhuabao« und mit einem Vorwort von OUYANG JUYUAN versehen. Erschienen in der Zeitschrift »Monatliche Erzählliteratur« jener Jahre.
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4. Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, versuchte man, inhaltlichen Zugriff auf eine größere Zahl der Romane zu gewinnen, die in dem letzten Jahrzehnt der Qing-Herrschaft erschienen. Neueren Forschungen zufolge sind in den etwa ein Dutzend umfassenden umgangssprachlichen Zeitungen und den wenigstens dreißig Literaturmagazinen jener Zeit sage und schreibe an die eintausendfünfhundert Romane zumeist in Form einer Serie erschienen, von denen später ca. tausend als Einzelveröffentlichungen in Buchform herauskamen.1247 Doch selbst damit ist das ganze literarische Schaffen dieser Zeit nur unzureichend erfaßt. Ohne seine Aussage weiter zu differenzieren und unter Verzicht auf die Nennung konkreter Zahlen läßt uns A Ying in seiner Geschichte des Romans der späten Qing-Zeit wissen, daß seinen Schätzungen zufolge die rege Übersetzertätigkeit zum Jahrhundertbeginn die Anzahl der autochthonen chinesischen Werke noch weit in den Schatten stellte, machten doch die Übertragungen aus den abendländischen und japanischen Literaturen gut zwei Drittel der seinerzeit erschienenen Werke aus.1248 Wir wollen im folgenden versuchen, wenigstens einige wichtige Aspekte in der Romanliteratur Chinas zur Jahrhundertwende anzudeuten, wobei uns wie in den vorstehenden Abschnitten vor allem die thematischen Bezüge und ihre literarische Realisierung interessieren.
4.1 Reform oder Revolution? Ein politischer Streit und seine Reflexion in der Literatur Eine ganze Reihe weiterer Romane über die Verfehlungen der chinesischen Bürokratie zum Ende der Qing-Dynastie ließe sich nennen, doch wollen wir es bei dieser Auswahl an repräsentativen Werken belassen. Mit der bislang nur am Rande behandelten Reformproblematik wenden wir uns vielmehr einem weiteren Themenkomplex zu, der die Frage nach Lösungsmöglichkeiten für die allgemeine staatliche Misere Chinas in dieser Zeit von einem ganz anderen Standpunkt aus behandelte und in mehreren zeitgenössischen Erzählwerken Ausdruck fand. Das Spektrum, in dem sich die Forderungen nach konstitutionellen Veränderungen in den folgenden Erzählwerken bewegten, umfaßte den Bereich der konstitutionellen Monarchie bis hin zur Revolution.1249 Es war hier Liang Qichao, der im 1247 1248 1249
Diese Zahlenangaben entnehmen wir GAST: Wenming hsiao-shih, S. 24. A YING: Geschichte des Romans der späten Qing-Zeit, Kap. 14, S. 210. Einen guten Überblick über das Thema der Reformen in der Erzählliteratur der späten Qing-Dynastie gibt HELMUT MARTIN: »Opportunist Reformers in Late ch'ing Hsiao-shuo«, in: Tamkang Review, Bd. XV, Nr. 1,2,3,4, S. 509–522.
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Jahre 1902 die Diskussion aufgriff und seine Anliegen in den als Roman angelegten, jedoch mit nur fünf Kapiteln unvollendet gebliebenen Aufzeichnungen über die Zukunft des neuen China (Xin Zhongguo weilaiji) vortrug.1250 So wichtig die Rolle Liangs in der politischen Diskussion seiner Zeit und als Impulsgeber für die Entwicklung der Erzählliteratur am Ende der Qing-Dynastie war, so mäßig blieb sein Erfolg als Schriftsteller. Roter Faden der nur schwach durchgeformten Handlung sind die Erlebnisse der beiden vom Studium in Europa zurückgekehrten Protagonisten Huang Yibo und Li Qubing (»Li, der seine Krankheit besiegte«) im reformbegeisterten China. Vor dem Hintergrund ihrer Begegnungen und Diskussionen mit einer Reihe politischer Aktivisten in Peking, Shanghai und Hongkong arbeitet Liang Qichao seine Vorstellungen auf, die er sich nach Aufenthalten in Japan und den Vereinigten Staaten zu eigen gemacht hatte. Während ihm die USA mit ihren verbreiteten Erscheinungen wie Korruption, Rassismus und Imperialismus kaum positive Aspekte für eine Übernahme in der Heimat boten, zeigte er sich um so mehr angetan von den etatistischen Ideen, wie er sie in Japan vorfand. Ohne sich großen Illusionen über die Dauer eines Wandlungsprozesses in China hinzugeben, kam Liang Qichao zu dem Schluß, daß die Herausbildung eines selbständigen chinesischen Bürgertums nur über eine lange Periode der Vormundschaft durch den aufgeklärten Herrscher an der Spitze des Reiches zu erlangen war. Diese Auffassung ist auch die Quintessenz der Aufzeichnungen über die Zukunft des neuen China, wo sich Liang an mehr als einer Stelle in satirischer Weise über die mitunter wirren und unausgegorenen Gesellschaftsvorstellungen ausläßt, wie sie in den intellektuellen Kreisen der großen Städte Chinas zirkulierten. Ähnlich wie die späteren Verfasser von Werken über die Reformproblematik bleibt auch Liang Qichao in seinem Romanfragment weitgehend der Kritik an den negativen Erscheinungen in diesem Bereich verhaftet, ohne die eigenen Auffassungen näher zum Ausdruck zu bringen. Angesichts der wichtigen Rolle Liangs in der Reformbewegung und aufgrund des frühen Erscheinungsdatums der Zukunft des neuen China lohnt jedoch ein intensiverer Blick auf das zentrale fünfte Kapitel des Werks, in dem der Verfasser quasi die Sicht- und Schilderungsweise zahlreicher Epigonen vorwegnimmt. Das Kapitel schildert zunächst, mit welcher Freude Li Qubing und Huang Yibo während ihres Aufenthaltes in Peking die Nachricht von den landesweiten Protesten gegen den neuen chinesisch-russischen Geheimvertrag aufnehmen. Begeistert, doch ohne, wie Liang lakonisch bemerkt, angesichts ihrer langen Abwesenheit von der Heimat mit den Sitten der neueren Zeit vertraut zu sein, begeben sich die beiden nach Shanghai, wo sie hoffen, auf Gleichgesinnte zu treffen. Wie wir aus 1250
Das Romanfragment erschien 1902 als Serie in der Zeitschrift »Neue Erzählkunst«. Die Bearbeitung erfolgte hier nach dem Abdruck in A YINGs Auswahlsammlung zur Literatur der späten Qing (Wan Qing wenxue congchao), Peking: Zhonghua shuju 1960, Bd. 1, S. 1–82.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie
den Romankapiteln davor wissen, sind die beiden Freunde auf den Stationen ihrer Reise allerorts Zeugen der Auseinandersetzung mit reformerischem und freidenkerischem Gedankengut geworden. In einer der eindrucksvolleren Szenen (Kap. 4) wohnen die beiden einem Vortrag aus dem Werk des Dichters Byron bei, der angesichts seines Märtyrertodes während der Teilnahme an dem griechischen Freiheitskampf zur Heldenfigur verklärt wird. Über einen Onkel Huangs, bei dem er und sein Freund nach ihrer Ankunft in Shanghai unterkommen, gelangen die beiden jungen Männer alsbald in Kontakt mit den örtlichen Reformkräften. Eines Tages stellt sich bei ihnen ein junger Mann namens Zong Ming vor, der sich auf einer Visitenkarte als »Angehöriger des revolutionären chinesischen Reiches« und »Verbindungsmann für die Volksvereinigung exmatrikulierter Studenten an der höheren Schule von Nanking« ausgibt – eine angesichts des Bildungsanspruchs der Gelehrten zu denen auch Liang zählte überaus zweifelhafte Gruppierung. Wenig überzeugend ist auch die Erscheinung Zong Mings, der zopflos, mit schulterlangem Haar und in westlichen Schuhen und Kleidern vor seine Gastgeber tritt. Das politische Programm mit dem Zong bei den Neuankömmlingen wirbt, mutet dürftig an. Der interessierte und gewissenhafte Li Qubing muß erfahren, daß die Vereinigung erst wenige Tage alt ist und sich einfache Lösungsansätze ins Programm geschrieben hat, die Zong Ming in knappen Worten folgendermaßen zusammenfaßt: »[...] Für das heutige China hilft nur die Revolution. Es muß eine Revolution geben, nur die Revolution kann helfen. Die mandschurischen Diebe, diese Sklaven, sie müssen allesamt mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Das ist die chinesi1251 sche Volksmeinung, die sich unsere Vereinigung aufs Panier geschrieben hat.«
Die Einladung zu einer sonntäglichen Versammlung der Gruppierung nimmt Li Qubing zurückhaltend auf mit dem Hinweis, man sei aus familiären Gründen unter Umständen gezwungen, die Stadt bereits sehr bald schon wieder zu verlassen. So viel traditionelles Familiengefühl ist einer »aufgeklärten« und um Abschaffung aller Traditionen bemühten Gestalt wie Zong Ming freilich suspekt, und er läßt sich zu der Bemerkung hinreißen, daß die alten chinesischen Philosophen mit ihrer Betonung der Bindungen innerhalb der Familie ein Volk von Sklaven hervorgebracht hätten und jede Rücksichtnahme auf die Verwandtschaft daher unangebracht sei. Empört tut Li darauf diesen polemischen Einwand mit dem Hinweis ab, daß jemand, der die eigenen Eltern nicht mehr liebe, wohl auch nicht in der Lage sein werde, Fürsorge für das Volk insgesamt zu zeigen. Liangs Anliegen, das in den Reaktionen Li Qubings und Huang Yibos immer deutlicher auftaucht, ist von ganz grundlegender Art. Mit seiner satirischen Schilderung von selbsternannten Revolutionären wie Zong Ming spricht er all jenen, die kulturelle Tra1251
Zukunft des neuen China, Kap. 5, S. 63.
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ditionen nicht mehr anerkennen, sich einen unchinesischen Habitus zurechtgelegt haben und ihre Auffassung in stereotype Floskeln kleiden jede Befähigung zur ernsthaften Herbeiführung von Veränderungen schlechthin ab. War der Ton der Darstellung auf den ersten Seiten des Kapitels zunächst noch heiter-ironisch, so nimmt er im Laufe der Zeit immer ernstere Züge an. Da Li Qubing und Huang Yibo keine rechtzeitige Schiffspassage erhalten und weiterhin in Shanghai festsitzen, entschließen sie sich, die Einladung Zong Mings wahrzunehmen und der Versammlung beizuwohnen, für die als Hauptredner der Lehrer Zheng Bocai angekündigt ist. Wie erwartet wird die Versammlung zur Farce, die Redebeiträge bleiben inhaltlich dürftig, und auch der auftretende Zong Ming macht sich mit der Wiederholung der eingangs zitierten Revolutions-Floskeln vor den beiden Freunden lächerlich. Lediglich in der im Anschluß an die Redeveranstaltung stattfindenden Diskussion mit Zheng Bocai und weiteren Teilnehmern im kleinen Kreise wird die Revolutionsproblematik eingehender behandelt. In ihrer Einschätzung der kritischen Lage Chinas, der Beschränkung der Reformbewegung auf einige Küstenstädte und einiger weiterer Punkte liegen die Auffassungen Zhengs und der beiden Freunde gar nicht so weit auseinander. Lediglich der Weg, den man zur Herbeiführung von Veränderungen beschreitet, ist verschieden, unpolemisch trifft Argument auf Argument. »Meinem Dafürhalten nach«, so bemerkte Bocai, »wird China an einer Revolution nicht vorbeikommen. Was wir heute tun müssen, ist, die Revolution ernsthaft vorbereiten und unter den Menschen ein revolutionäres Potential heranziehen. Was meint Ihr dazu?« »Ich war in der Vergangenheit ganz Eurer Auffassung«, erwiderte Keqiang, »doch in letzter Zeit bin ich zu dem Schluß gelangt, daß man in China auf keinen Fall eine Revolution anstreben sollte.« »Wie bitte?« fragte Bocai erstaunt. [In der folgenden Passage entzieht sich Keqiang einer näheren Erläuterung seiner Vorstellungen mit dem Hinweis, diese in absehbarer Zeit in einem Buch ausführlicher zu schildern.] »Ich weiß«, sagte Bocai nach diesem kurzen Hinweis, »wie schwierig es ist, eine Revolution in China durchzuführen, doch darf das kein Grund sein, es nicht zu versuchen. Nichts auf der Welt ist einfach, und wir sollten weiter darüber diskutieren, wenn Ihr euer Werk erst einmal herausgebracht habt. Nur soviel, ganz gleich ob die Revolution einmal durchzuführen sein wird oder nicht, sollten wir sie dennoch anstreben. Warum? Nun, da gibt es mehrere Punkte zu beachten. Zunächst ist es doch einmal so, daß wir heute nicht wissen, welchen Weg man in China einst beschreiten wird, um rettende Veränderung herbeizuführen. Noch viel weniger vermag man aus jetziger Sicht zu sagen, wer dann die Macht im Lande innehaben wird. Wenn wir es jetzt versäumen, entsprechende Persönlichkeiten heranzubilden, dann sind wir später, wenn sich vielleicht einmal die Möglichkeit bietet, zur reinen Zuschauerrolle verdammt. Zweitens kann es kein Nachteil sein, wenn man vorbereitet ist und das allgemeine Bewußtsein der Menschen schärft. Die einstigen Machthaber werden dann gewarnt sein, gegebenenfalls von ihrer zerstörerischen Gesinnung ablassen und Schritte zu einer friedlichen Revolution zulassen, was
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie meint Ihr dazu?« Mit einem Kopfnicken bekräftigte Qubing seine Zustimmung zu den Ausführungen Bocais, und es war Keqiang, der erneut anhob: »Was Ihr da sagt, klingt nicht übel. Doch habe ich zweierlei Einwände vorzubringen. Ihr mögt ja die Revolution fest im Visier haben, aber wie wollt Ihr sie durchführen? Im Altertum hieß es ganz zu Recht: ›Die Macht anzustreben und dafür Anhänger unter den Menschen zu gewinnen, das sind zweierlei Dinge‹. Für die konkreten Maßnahmen, die es heute durchzuführen gilt, gibt es keine Gewähr auf Erfolg. Wer heute lauthals Parolen herausschreit, der verhält sich wie ein Dieb, der mit einer Klingel umherläuft und auf sich aufmerksam macht. Das einzige, was damit erreicht wird, ist, daß die Regierung gewarnt ist, keine Studenten ins Ausland mehr entsendet und die Schulen schließt. Das kann wohl kaum Sinn und Zweck revolutionärer Unternehmungen sein. Darüber hinaus macht es nach meinem Dafürhalten nur Sinn, die Menschen mit Kampfschriften und Parolen wachzurütteln, damit sie sich für einen günstigen Augenblick in der Zukunft bereithalten, wenn man sie mit konkreter Macht ausstattet. Diese konkrete Macht für die Menschen ist am schwierigsten zu erreichen. Um ihre Herausbildung sollte man zuallererst bemüht sein. Die Schärfung des allgemeinen Bewußtseins ist im Vergleich dazu einfach herbeizuführen und läßt sich auch noch erreichen, wenn sich ein konkreter Weg zur Macht auftut. Mittels der Publikationsorgane und öffentlicher Institutionen läßt sich die allgemeine Unterstützung dann leicht innerhalb weniger Monate erreichen. Wer dagegen heute stets blindlings von Revolution und Zerstörung der überkommenen Werte und Traditionen schwafelt, der behindert sich selber auf dem Weg zur Macht. Wieso ich das meine? Nun, man sollte den Hitzköpfen, die derzeit immer nur von ihrer Bewegung und ihren Aktionen reden keineswegs das Feld überlassen. Was haben wir wohl zu erwarten, wenn diese Aktionisten ohne jegliche Bildung und Bezug zu der Tradition weiter am Ruder bleiben? Sie mögen sich mit diesem räuberischen Gesindel aus irgendeiner Gruppierung zusammenschließen, aber was hilft das schon? Innerhalb von zwei oder drei Monaten werden sie sich in einer ausweglosen Situation befinden, die größte Zahl der talentierten Kräfte unter ihnen, die man ihnen zuvor vollkommen nutzlos in die Arme trieb, abgesprungen sein werden. Viel schlimmer noch: Da glauben diese jungen unerfahrenen Hitzköpfe, etwas sehr Bedeutsames vernommen zu haben und loben die neuen Lehren voller Begeisterung in den Himmel. Konfroniert man sie später einmal mit ganz gewöhnlichen und allgemeinen Inhalten, dann halten sie das alles für unnützes Geschwätz, engagieren sich nur noch in der Studentenbewegung und besuchen die Schulen nicht mehr. Sie werden sich in hitzigen, unsinnigen Diskussionen erschöpfen, die zu nichts führen. Wenn sich ihnen dann noch zahlreiche weitere anschließen, dann ist es aus mit dem Wunsch, den Menschen im Land zu mehr 1252 konkreter Macht zu verhelfen. Stimmts oder hab ich recht?«
Das Gespräch hat nun einen Punkt erreicht, an dem es sich im Spekulativen zu verlieren droht. Man geht auseinander, Huang Yibo und Li Qubing begeben sich 1252
Ebd., S. 75f.
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zu einer weiteren Veranstaltung im Garten des Herrn Zhang, treffen dort aber dieselben Gesichter an wie schon bei den Reden zuvor und beginnen spätestens jetzt zu ahnen, daß die Reformszene in Shanghai stets die gleichen Leute anzieht und man das meiste kennt, wenn man an einer ihrer Veranstaltungen teilgenommen hat. Der Roman endet mit der Abreise der beiden Freunde und ihrer Ankunft in Hongkong. In der Tonlage ganz ähnlich wie Liang Qichaos Aufzeichnungen über die Zukunft des neuen China ist der 1907 erschienene sechsundzwanzig Kapitel lange Roman Die zukünftige Welt (Weilai shijie) eines Verfassers, der seinen wahren Namen hinter dem Pseudonym Chun Fan (»Frühlingssegel«) verbarg.1253 Dort wird die Notwendigkeit einer Revolution ebenso verworfen wie die Machterhaltung durch das Kaiserhaus. Vielmehr fordert der Verfasser die allmähliche Ausarbeitung einer Verfassung mit Neuordnungen im Familienwesen, in der Beziehung der Geschlechter und dem Bildungssektor. Angesichts der zahlreichen Erfolge, die man im Anschluß an die umfassende Verfassungsreform erzielt, bleiben in der idealistischen Sicht Chun Fans auch Erfolge in der Außenpolitik nicht aus. China erringt einen Sieg über Rußland und wird in der Folge wieder zu einer starken Nation in Ostasien. Übertrieben pathetisch endet der Roman mit mehreren Hochrufen auf den Verfassungsstaat. Im gleichen Jahr wie Die zukünftige Welt erschien von einem anonymen Verfasser das Werk Geist der Verfassung (Xianzhi hun), welches von einem ähnlichen Geist wie der vorstehende Roman getragen und recht deutlich in zwei Teile gegliedert ist. So schildern die ersten neun Kapitel auf realistische Weise die katastrophale Lage Chinas vor der Ausarbeitung einer Verfassung, während die neun Abschnitte des zweiten Teils in rosigen Farben die Erfolge danach behandeln und damit ebenso spekulativ und idealisierend bleiben wie Die zukünftige Welt. Während kaum einer der kritischen Literaten zum Ende der Qing-Zeit die Notwendigkeit von Veränderungen und Reformen ernsthaft in Frage stellte, gab es doch vereinzelt auch Stimmen, in denen Widerspruch zumindest gegen die beherrschenden Persönlichkeiten der Reformszene laut wurde. Im Mittelpunkt der Kritik standen dabei vor allem Kang Youwei und Liang Qichao selbst, die bereits von Li Boyuan in einer Episode seiner Kleinen Geschichte der Zivilisation (Kap. 46) angegriffen worden waren und noch viel schlechter in umfassenden Romanwerken wie etwa Huang Xiaopeis Der große Rosstäuscher oder der Historischen Erzählung über Kang und Liang (Kang Liang yanyi) wegkamen.1254 Neben dieser recht polemischen und persönlichen Kritik gab es auch Zwischentöne, in denen man insbesondere jene opportunistischen Kräfte aufs Korn nahm, die die Reform1253 1254
Als Serie erschienen in der Zeitschrift »Monatliche Erzählkunst«. Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel zum historischen Roman.
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bewegung lediglich zum Zwecke der persönlichen Bereicherung und des beruflichen Fortkommens ausnutzten. Beispielhaft sollen hier die beiden folgenden Romane kurz angeführt werden. Unter dem Pseudonym »Langdang nan'er« (»Der Herumtreiber«) erschien im Jahre 1905 der Roman Die Reformpartei Shanghais (Shanghaizhi weixindang) in fünfzehn Kapiteln. In einem Vorwort erläutert der Autor seine Gründe für die Abfassung des Buches mit Hinweis auf das eigene Entsetzen, mit dem er auf das Treiben in der Reformbewegung reagiert hat. In ihrer Korruptheit, ihrem ausschweifenden Lebensstil und ihrer Geldgier, so seine Vorwürfe im gesamten Werk, überträfen die falschen Reformer noch die Anhänger der alten Partei und entbehrten daher bezüglich der Herbeiführung positiver Veränderungen jeder Glaubwürdigkeit. Noch ausgefeilter als in Die Reformpartei Shanghais, da an einer Reihe von zentralen Protagonisten festgemacht, beschreibt der anonyme Verfasser des ein Jahr später veröffentlichten Romans Aufzeichnungen über Reformen im Beamtentum (Guanchang weixinji) in sechzehn Kapiteln, wie sich karriereorientierte Kräfte die Tendenzen ihrer Zeit zunutze machen.1255 Auf den Rat seines Cousins Yuan Xixian hin investiert Yuan Bozhen sein Geld zunächst zum Kauf eines Beamtenpostens. In der nüchternen Erkenntnis, daß alle wahren Reformer in Japan, Frankreich und Italien wie etwa Garibaldi eines grausamen Todes starben, entschließt sich Yuan Bozhen zur rücksichtslosen Verfolgung seiner eigenen Ziele. Unter dem Aushängeschild eines Angehörigen der Reformpartei engagiert er sich in der Folge zunächst bei dem Aufbau einer japanischen Schule und später in einem Bergbauprojekt, welches jedoch scheitert, als die Arbeiter sich gegen das korrupte Management erheben. Wie wenig Yuan Bozhen zum modernen Pädagogen taugt, zeigen die von ihm ausgearbeiteten Statuten für eine weitere Schule, die sich allein an den Lehren der alten Klassiker orientieren und neuen Inhalten in der Erziehung wenig Beachtung schenken. Durch die Freundschaft mit einem Ausländer, den er als Berater für sich gewinnt, glaubt Yuan zudem, auch auf internationalem Parkett bestehen zu können, hat aber aufgrund seiner Ungeschicktheit und seiner Unterwürfigkeit stets das Nachsehen. Zwar scheitert Yuan Bozhen mit seinen Projekten zur Einrichtung einer Besserungsanstalt für Kriminelle und als Rektor einer Schule ebenso wie in der Vergangenheit, doch hat er sich in den Augen der Bürokratie damit die notwendige Qualifikation erworben, um am Ende zum Leiter des Amtes für Erziehung und Finanzen sowie zum Befehlshaber über lokale Truppenverbände ernannt zu werden. Begünstigt durch die Tendenzen ihrer Zeit, weiß auch Fräulein Guan, die weibliche Protagonistin des Romans, ihren Weg zu gehen. Nach ihrer Rückkehr aus 1255
Die Bearbeitung des auch in den einschlägigen chinesischen Nachschlagewerken nicht dokumentierten Werks folgt hier der ausführlichen Untersuchung in MARTIN: »Opportunist Reformers in Late ch'ing Hsiao-shuo«.
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dem Ausland freundet sie sich ohne Einschaltung einer Vermittlerin mit Yuan Bozhen an, beide heiraten in der Folge nach westlicher Manier. Den angesehenen Status einer Beamtengattin einmal sichergestellt, verfolgt Fräulein Guan ihre ganz eigenen Pläne und begibt sich nach Shanghai, um an einem Kurs für Frauenstudien teilzunehmen. Unter dem Schein, eine medizinische Ausbildung anzustreben und sich in einem sozialen Projekt für Arbeiterinnen zu engagieren, führt Fräulein Guan jedoch in Wahrheit ein Lotterleben mit ihrem neuen Liebhaber und trennt sich am Ende von ihrem Gatten. Unter Hinweis auf die westliche Evolutionstheorie spricht der Autor seinen Protagonisten einen echten menschlichen Charakter ab und beendet sein Werk mit folgendem bissigen Kommentar: Die Anthropologen und Evolutionstheoretiker aus dem Westen haben recht, wenn sie behaupten, der Mensch stamme vom Affen ab und der Affe vom Hund. Schließlich war der Hund zum Beginn der Weltgeschichte das erste Wesen, welches aufrecht sitzen und mit dem Blick in die Ferne eigenen Gedanken nachhängen konnte. Nach und nach verwandelte er sich zum Affen, und da dessen Geisteskraft noch stärker war als die des Hundes ging er mit der Zeit in den Zustand des Menschen über. Ich bin der Auffassung, daß der frühe Reformprozeß in China eben der Zeit des Wandels vom Hund zum Affen entspricht, während die spätere Phase der Reformen dem Stadium der Verwandlung vom Affen zum Menschen ähnelt. Was ich daher mit der Romangestalt des Yuan Bozhen verband, war die bescheidene Hoffnung, daß die sogenannten Reformer der Gegenwart mittels Veredelung und Entwicklung einst zu echten Menschen und aufrechten Reformern würden. Unser Yuan Bozhen lebte in einer Phase des Wandels vom Hund zum Affen und vom Affen zum Menschen. Man kann ihn beim besten Willen nicht als einen echten Menschen mit einem eigenen Wesen bezeichnen, doch wenn man ihn als Hund oder Affen bezeichnete, hätte er dem sicherlich ebensowenig zuge1256 stimmt.
Bei aller Kritik, die der Verfasser seinen Helden aufbürdet, wird hier zumindest die schwache Hoffnung erkennbar, daß einst die Zeit einen Wandel herbeiführen möge. Wer nicht so geduldig war oder nicht an die Möglichkeit friedlicher Veränderungen glaubte, der schien keine andere Wahl zu haben, als sich dem Gedanken an eine Revolution zu verschreiben. Wie diese abzulaufen habe, war nun angesichts der Besonderheiten der chinesischen Geschichte gar nicht so einfach vorzustellen. Selbst fremdländische Eroberer hatten die Erfahrungen eines Kaisers vergangener Zeiten teilen müssen, daß man ein Reich zwar auf dem Rücken der Pferde erobern, jedoch nie von dort aus regieren könne. So hatte China zwar in den zurück1256
Reformen im Beamtentum, Kap. 16, hier zit. nach MARTIN: »Opportunist Reformers in Late ch'ing Hsiao-shuo«, S. 518f.
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liegenden Jahrtausenden eine große Zahl von Dynastiewechseln durchgemacht, doch selbst wo nicht mit Macht begabte Fürsten, lokale Potentaten oder Angehörige der Machtelite aus der Umgebung des Herrscherhauses den Kaiserthron eines Tages für sich beanspruchten und die kritische Lage im Reich vielleicht wie im Falle des Ming-Gründers Zhu Yuanzhang einem »klassischen« Revolutionärstypen aus den unteren Volksschichten den Weg an die oberste Spitze des Reiches bahnte, war man angesichts der riesigen bäuerlichen Bevölkerung und einer nur dünnen Eliteschicht – aus der schließlich die Beamten für die Verwaltung rekrutiert werden mußten – notgedrungen zur Fortführung der Traditionen gezwungen und nicht in der Lage, im gesellschaftlichen Bereich zu echten Neuerungen zu gelangen. Daher darf man zu Recht fragen, ob der lediglich unter seinem Pseudonym »Huairen« (»Der Gnädige«) bekannte Verfasser des mit nur zwölf Kapiteln recht schmalen und jedenfalls vor 1908 erschienenen Werkes Der Geist Rousseaus (Lusuohun) dem im Buchtitel deutlich gemachten Anspruch als geistige Quelle der Revolution gerecht wird, zumal er bei der Gestaltung der Handlung stark von den Vorlagen historischer Romane wie den Drei Reichen oder Die Räuber vom LiangshanMoor beeinflußt worden ist. Da werden allzu kursorisch und in der Ausformulierung stark den Mechanismen der chinesischen Erzähltradition verhaftet westliche Gesellschaftskonzepte in einen chinesischen Hintergrund hineinkopiert. So schildert der Verfasser im Vorwort, wie die Seele Rousseaus gen Osten gewandert sei und dort in den Unterweltbewohnern Huang, Zhan und Chen neue Gestalt angenommen habe. Der Aufstand der drei Schwurbrüder gegen den Unterweltsfürsten Yama mißlingt jedoch, so daß sie in die Menschenwelt flüchten und dort in einer neuen Identität als Bürger des Landes Tang (= China) den Kampf gegen die seit dreihundert Jahren herrschenden »Manschu« aufnehmen, womit ganz zweifellos die Qing-Machthaber gemeint sind. Nach der Ausschaltung eines lokalen ManschuDespoten sammeln der kriegerische Zhu Zhou und seine beiden Freunde (eben die Wiedergeburten der Unterweltbewohner) mutige Männer um sich und flüchten auf den Berg Han, wo sie vom »Gipfel der Unabhängigkeit« und dem »Tal der Freiheit« aus dem Sturm der Manschu trotzen. Man hat zwar Zulauf von einer Reihe patriotischer Studenten, die aus dem Ausland zurückkehren und sich zum HanBerg begeben, doch die Suche nach Unterstützung durch die alten Kräfte und durch die neue Partei der Reformer, die das Geld alleine für Versammlungen, Wein und den Genuß »revolutionärer Speisen« ausgeben, verläuft enttäuschend. Allein mit der Rekrutierung kampferprobter Helden vermag man der Bewegung die notwendigen militärischen Kräfte zuführen, um schließlich mit dem eroberten Staatsschatz der »Glocke der Freiheit« eine allgemeine Erhebung einzuläuten, in deren Verlauf dann die Manschu-Machthaber hinfortgefegt werden. Was der Roman Der Geist Rousseaus von den oben beschriebenen eher reformorientierten Werken unterscheidet, ist allein die Forderung nach dem bewaffneten Widerstand. Im übrigen bleiben die darin formulierten Ziele der Revolution, Freiheit und Unabhängigkeit ebenso floskelhaft wie zuvor auch.
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4.2 Von Spielern, Zockern und Tycoons – Die Geschäftswelt im Roman zum Ende der Qing-Dynastie Versucht man die ökonomischen Verhältnisse in China während der Zeit nach dem Opiumkrieg 1840 in knappen Sätzen zu skizzieren, so fällt vor allem auf, daß die allgemeine Entwicklung in diesem Bereich insbesondere durch die Anbindung der bis dahin weitgehend autarken chinesischen Wirtschaft an den Welthandel gekennzeichnet ist. Dieser Prozeß verliefen jedoch bei weitem nicht so freiwillig, wie es gängige Formulierungen dieser Art nahelegen. Die zunächst zögerliche Kontaktaufnahme von Missionaren, Reisenden und Kaufleuten aus den europäischen See- und Handelsnationen mit dem Reich der Mitte sowie der Austausch von Gesandtschaften kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das zunehmend aggressive Auftreten, bei dem man auch nicht vor dem Einsatz kriegerischer Mittel zurückschreckte, von dem Wunsch geprägt war, der kolonialen Beute in Afrika und Amerika ein weiteres Prunkstück hinzuzufügen. Wenngleich dies auch in größerem Umfang mißlang, so dürfte doch die Einschätzung richtig sein, daß China angesichts der erzwungenen Öffnung seines Marktes und der andauernden Einflußnahme fremder Mächte auf sein Territorium über Jahrzehnte hinweg den Status einer Halbkolonie hinzunehmen hatte. Die Frage, der wir hier im folgenden nachgehen wollen lautet, was die Gründe für diesen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozeß waren, in dessen Verlauf sich die chinesische Gesellschaftsund Staatsstruktur während des 19. Jahrhunderts mehr und mehr auflöste, wobei der Schwerpunkt dieses Abschnitts besonders auf den ökonomischen Aspekten liegen soll.1257 Vor dem Hintergrund der immer deutlicher zutage tretenden Schwächen in Bereichen wie Politik und Wirtschaft war man sich in den führenden Kreisen spätestens seit den sechziger Jahren bewußt, daß man in der chinesischen Wirtschaftsgesinnung umdenken mußte. Die bis dahin weitgehend akzeptierte Fixierung auf die Aufrechterhaltung der dirigistischen Funktion von Regierung und Beamtenschaft sowie die einseitige Entwicklung der traditionell als wirtschaftliche Basis betrachteten Landwirtschaft, sollte aufgegeben werden.1258 Daneben erkannten 1257
1258
Zu dem Streit zwischen den Ökonomen und den um Erklärung aufgrund kultureller Phänomene bemühten Wissenschaftlern vgl. u.a. MARK ELVIN: »Warum hat das vormoderne China keinen industriellen Kapitalismus entwickelt? Eine Auseinandersetzung mit Max Webers Ansatz«, in: Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus. Interpretation und Kritik, hrsg. von WOLFGANG SCHLUCHTER, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 114–133, wo als Erklärungsmodell für China u.a. die Theorie von der »Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau« angegeben wird. Zu diesem Abschnitt vgl. ausführlich Das chinesische Kaiserreich, S. 326–329 sowie JÜRGEN OSTERHAMMEL: China und die Weltgesellschaft vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München: C.H. Beck 1989, S. 189–201 und ALBERT FEUERWERKER: »Chinese Economic History in Comparative Perspective«, in: PAUL S. ROPP: Heritage of China's Con-
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Männer wie Zeng Guofan (1811–1872), Li Hongzhang (1823–1901) und Zhang Zhidong (1837–1909) auch die Notwendigkeit, dem Inlandsmarkt verstärkt zur Behauptung gegen die Ausländer zu verhelfen und die Technik insgesamt zu modernisieren. Man muß sich trotz der Vehemenz, mit der die chinesischen Intellektuellen der Jahrhundertwende allgemein auf die geschilderten Entwicklungen reagierten davor hüten, die Lage klischeehaft zu dramatisieren. Die Wahrnehmung der Zeitzustände angefangen bei der Pauperisierung bis hin zur Auflösung staatlicher Instanzen dürfte vor allem durch den Schock über die erlittenen Erniedrigungen und das Aufwallen nationalistischer sowie patriotischer Gefühle zu erklären sein. Die Tatsache, daß die Ausländer auf dem chinesischen Markt trotz ihres aggressiven Auftretens nur in begrenztem Maße Fuß fassen konnten, erhärtet diese Einschätzung noch. Das Leben der großen Bevölkerungsmehrheit blieb von der Anwesenheit nur einiger tausend Ausländer auf dem chinesischen Territorium weitgehend unberührt, und es gelang der einheimischen Wirtschaft wie bisher, den meisten Menschen zumindest das Existenzminimum zu gewähren. Dies bedeutete nicht vollkommene Stagnation. Neue Berufszweige tauchten auf, und die Grenzen zwischen der grundbesitzenden Gentry sowie den Kaufleuten verblaßten. Bürokratische Unternehmer wie Hu Xueyan, dem ein weiter unten vorzustellendes Erzählwerk gewidmet ist, vereinigten die Funktionen von Kaufleuten und Beamten in gleichem Maße auf sich. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn man sich in Teilen der kritischen Literatur Chinas eben diesem gerade auch in der Erzählkunst bis dahin weitgehend ausgeklammerten Themenbereich zuwandte und bemüht war, das Potential für Veränderungen auszuloten. Zwar sind uns beispielsweise mit Ximen Qing im Jin Ping Mei eindrucksvolle Bilder vom reichen Kaufmann der alten Gesellschaft überliefert, doch spielen die eigentlichen wirtschaftlichen Aktivitäten dort thematisch eine ebenso marginale Rolle wie in der Darstellung des Schicksals vom Clan der Jia in Der Traum der Roten Kammer, wo wir abgesehen von der minutiösen Aufführung der Einkünfte aus den Pachteinnahmen des Clans an einer Stelle sowie den hohen Aufwendungen für die luxuriöse Ausstattung des Anwesens nur wenig Konkretes über das Finanzgebaren dieser großen Familie erfahren, die am Ende trotz der engen Verbindung zum Kaiserhaus (eine Tochter wird Nebenfrau des Herrschers) den Niedergang nicht aufhalten kann. Lediglich in der Erzählung vom Muschelturm (Shenlou zhi) aus der Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert rücken Themen der Geschäftswelt verstärkt in den Mittelpunkt, bleiben allerdings auch dort auf wenige Szenen zu Beginn des Buches beschränkt. temporary Perspectives on Chinese Civilization, Berkeley u.a.: Univ. of Cal. Press 1990, S. 224–241. Zu den zeitgenössischen Reflexionen dieser Entwicklungen s. SSU-YÜ TENG, JOHN K. FAIRBANK u.a.: China's Response to the West, a Documentary Survey 1839-1923, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1954.
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Wenden wir uns nach diesen einleitenden Bemerkungen nun endlich jenen Werken zum Ende der Qing-Zeit zu, in denen die Geschäftswelt zum zentralen Thema wird. Ein von seinen stofflichen Bezügen her überaus interessanter Roman liegt mit der Inoffiziellen Erzählung von Hu Xueyan (Hu Xueyan waizhuan) vor, der im Jahre 1903 unter dem Verfasserpseudonym »Shi Yu von der großen Brücke« (Da qiao Shi Yu) in zwölf Kapiteln erschien.1259 Bei dem Protagonisten handelt es sich um eine historische Gestalt aus dem Ende der Qing-Dynastie, deren Reichtum und Stellung recht gut mit dem Ansehen und Wohlstand der Augsburger Familie Fugger zu vergleichen sind. Der aus Anhui stammende Hu Xueyan (gest. 1885) war als wohlhabender Bankier mit Geldhäusern in Hangzhou, Ningbo und Shanghai ein weit über seine Zeit hinaus im ganzen Reich berühmter Mann und verdankte seinen Ruf nicht zuletzt der Stellung als Provinzgouverneur. Selbst nach dem Zusammenbruch seines Finanzimperiums in den frühen achtziger Jahren besaß Hu noch immer großen Einfluß bei Hofe und in der Gesellschaft, doch starb er vor einem neuen Wiederaufstieg. Eine eingehendere Biographie dieses mächtigen Mannes hätte sich sicherlich genügend interessanten Stoffes und zahlreicher kursierender Anekdoten bedienen können; dies belegen auch die beiden offiziellen Schilderungen, die dem Romanwerk im Anhang beigefügt sind.1260 Leider beschränkt sich der Verfasser der Inoffiziellen Erzählung jedoch darauf, in einigen Szenen das prunksüchtige Gebaren Hu Xueyans zu schildern, um einen Eindruck des zu diesem Zeitpunkt bereits im Niedergang befindlichen Beamten und Bankiers zu geben. Die gesamte Handlung ist um den Bau des neuen Sidi-Parks und das dortige Leben der Familie angelegt und weist starke Bezüge zum Traum der Roten Kammer auf. Es wird erzählt, wie Hu Xueyan den kaiserlichen Baumeister Yizhi nach Hangzhou bittet, um dort für ihn am Ufer des Westsees einen Park zu errichten. Eines Tages trifft Yizhi nun auf einen alten Mann namens Yuan Gong, der ihm prophezeit, daß Hus Stern bereits im Sinken begriffen sei. Die Aussage ist umso weniger anzuzweifeln, als Yuan in der Folge in der Geistergestalt eines weißen Affen gen Himmel schwebt. Aus Furcht, in Unannehmlichkeiten verwickelt zu werden, überträgt Yizhi das weitere Bauvorhaben an den jungen Architekten Wei Shifu und kehrt daraufhin in die Hauptstadt zurück. Geschickt nutzt Wei nun seine Chance, um sich in der Gesellschaft des wohlhabenden Hu selber zu bereichern und schindet bewußt Eindruck mit dem Hinweis, den Sidi-Park in nur fünfzig Tagen vollenden zu können. Die Last der Verantwortung trägt freilich nicht Wei Shifu selbst, sondern der Trupp der Bauleute, für deren tägliche Entlohnung sich der Architekt eine besondere Gemeinheit einfallen läßt. Um die Baukosten niedrig zu halten und die Arbeiter um ihren gerechten Lohn zu prellen, 1259
1260
Hier bearbeitet nach einer Ausgabe der o.g. Reihe Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas. Bei A YING: Geschichte des Romans der späten Qing-Zeit, S. 78f. findet sich zudem ein zeitgenössischer Tagebuchauszug über Hu Xueyan aus dem Jahre 1883.
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läßt Wei das Geld an einem hohen Gerüst anbringen, von dem sich jeder am Ende eines Tages aus eigener Kraft bedient. Naturgemäß gehen dabei vor allem die kleinwüchsigen Bauleute leer aus. Auch kritische Stimmen sind in der Umgebung Wei Shifus nicht wohl gelitten. Abschätzige Bemerkungen während der Abnahme jedes Bauabschnitts durch Hu Xueyan haben die unweigerliche Entlassung zur Folge. Dramatisch sind die Ereignisse während der Errichtung des künstlichen Berges, bei der zahllose Arbeiter unter den schweren Felsen begraben werden und ihr Leben lassen müssen. Die große Einweihungsfeier unter Anwesenheit der Honoratioren Hangzhous wirkt angesichts dieser Vorkommnisse deplaziert und bekräftigt nur die allgemeine Dekadenz. Nicht genug, daß die Söhne, Töchter und Nebenfrauen Hu Xueyans in den sechzehn errichteten Höfen eine überaus luxuriöse Unterkunft gefunden haben, läßt Hu nach der Fertigstellung des Parks von ausländischen Fachleuten noch eine Telefonanlage installieren, um mit den Familienangehörigen bequem in Kontakt zu bleiben. Ohne Einsicht in die Verkommenheit seines schwelgerischen Treibens, vergleicht sich Hu Xueyan mehrmals mit dem Sui-Kaiser Yangdi, dem Sinnbild für verschwenderischen Luxus und Rücksichtslosigkeit in China schlechthin. Auch eine von Hu Xueyuan veranstaltete Reisspende zu Wohltätigkeitszwecken wird am Ende zur Farce und belegt nur, wie sehr er sich bereits der allgemeinen Bevölkerung entfremdet hat. Das betrügerische Verhalten der mit der Verteilung beauftragen Handlanger führt am Ende dazu, daß jeder Bittsteller nur noch wenige Gramm Reis empfängt. Unaufhaltsam rennt die Familie Hus in ihr Verderben. Unerwartete Geschäftseinbrüche vernichten am Ende den gesamten Besitz, vorgelegte Rechnungen für die Errichtung des Parks können nicht mehr beglichen werden, man steht vor dem Ruin. Im Gegensatz zu dem biographischen Ansatz der Inoffiziellen Erzählung von Hu Xueyan, der leider ungenutzt bleibt, hat sich »Ji Wen«, der Verfasser des 1905 in der Zeitschrift »Bebilderte Erzählkunst« erschienenen Romans Stimmen des Marktes (Shisheng) die angewandte Episodenstruktur zunutze gemacht, um im Anklang an das dem Buch vorangestellte Motto »Roman über das Unternehmertum« (Shiye xiaoshuo) einen umfassenden Überblick über das Wirtschaftsleben seiner Zeit zu geben.1261 Das Besondere von Stimmen des Marktes, das den Roman auch gerade so lesenswert macht und angenehm von ähnlichen Werken der Zeit unterscheidet, ist seine Konkretheit sowie das Bemühen Ji Wens, neben der Verurteilung von üblen Erscheinungen in der Geschäftswelt wie z.B. Ausschweifung und Betrug auch Wege aus der Misere aufzuzeigen, womit er ein wesentliches Anliegen der Reformliteratur teilt. Auf diese Weise ergibt sich ein realistisches Bild, in dem 1261
Die Bearbeitung erfolgte wiederum nach einer Ausgabe der o.g. Reihe Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas. Die ersten fünfundzwanzig Kapitel des Romans erschienen 1905 als Serie in der »Bebilderten Erzählkunst«, 1908 kam dann die vollständige Fassung in einer sechsunddreißig Kapitel langen Ausgabe der Shangwu yinshuguan heraus.
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neben Spekulanten, Dieben und Betrügern auch reformfreudige und aufrichtige Geschäftsleute ihren Platz finden. Nicht alle Gestalten im Mittelpunkt der Episoden sind gleichermaßen ausgeformt und zu Ende geführt, doch läßt ein Stamm von Protagonisten, die bis zum Ende des Buches auftauchen durchaus einen roten Faden erkennen. Wie ein Gelenk ist in der Romanmitte (Kap. 17–20) die Geschichte des Fäkaliensammlers A Dali eingefügt, der gemeinsam mit seiner Frau buchstäblich »aus Scheiße Geld macht«, indem er den Abtransport der Exkremente aus den Shanghaier Konzessionsgebieten organisiert und dabei zu erheblichem Wohlstand gelangt. Doch gibt sich A Dali nicht mit dem Status eines ehrlichen Händlers zufrieden, sondern strebt nach Macht und Ansehen, was ihn zum Kauf eines Amtes veranlaßt. Sein ungeschicktes Auftreten im Kreise der örtlichen Honoratioren läßt A Dali schnell den Ruf eines Emporkömmlings anhaften und ruft eine Reihe heiterskurriler Situationen hervor. Die überaus ironisch gehaltene Episode um A Dali bleibt Intermezzo. In dem ansonsten eher ernst gestatlteten Handlungsrahmen wird zunächst die Geschichte von dem reichen Kaufmann Hua Daquan aus der Nähe von Ningbo erzählt, der sich nach Shanghai begibt, um im Wettbewerb mit ausländischen Händlern sein Glück zu suchen. In dem Gespräch, das Hua nach seinem Scheitern bei der Rückkehr in die Heimat mit einem Nachbarn führt, spricht der Verfasser bereits eine Reihe von Aspekten an, die er am Ende des Buches in ein umfassendes Reformprogramm einbringt. »Unter den chinesischen Geschäftsleuten stammen die wohlhabendsten hier aus Ningbo«, seufzte Hua Daquan. »Man hat uns im ganzen Land stets darum beneidet, wie wir es fertigbringen, uns bei Geschäften zusammenzuschließen und mit vereinter Kraft auf dem Markt aufzutreten. Überall zollte man uns Anerkennung für unseren Ehrenkodex, selbst die Ausländer wagten nicht, uns herauszufordern. [...] Wenn alles so geblieben wäre, hätte es nichts gegeben, was wir nicht fertiggebracht hätten. Doch hier in Zhejiang ist nichts mehr wie früher. Selbst wenn ich mein Geld in gemeinsamen Geschäften mit Kompagnons aus dem gleichen Ort investiere, kann ich sicher sein, daß aufgrund von Betrügereien innerhalb von zehn Jahren alles futsch ist. Von wegen Ehrenkodex, ans Geschäftemachen ist nicht mehr zu denken. Es mag noch angehen, daß sich einer beizeiten auf schmutzige Art und Weise bereichert, das Schlimme ist, er schadet damit der Gemeinschaft. Warum sein Geld nicht zur Verfügung stellen, damit alle auf Dauer davon etwas haben? Es ist eine Schande, alles auf einmal zu 1262 verwenden, um vielleicht einen kurzfristigen Vorteil zu nutzen.«
Wie sich aus dem weiteren Gespräch ergibt, verbirgt sich hinter diesen Ansichten die Philosophie, »Reis für tausend Tage und nicht nur für einen einzigen Tag zu haben«, und folgerichtig beschließt Hua Daquan, gemeinsam mit einer Reihe rei1262
Stimmen des Marktes, Kap. 1, S. 92.
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cher Geschäftsleute eine Handelsschule zu gründen, um einer größeren Allgemeinheit die Prinzipien korrekten Wirtschaftens zu vermitteln, damit man im Wettbewerb mit den Ausländern (die als die Ursache des Übels betrachtet werden, wie man an einer Stelle mit Hinweis auf den Zusammenbruch der Geschäfte Hu Xueyans betont) bestehen kann. Schicksale von darbenden Handwerkern wie dem Zinnschmied A Wu oder dem Malermeister Zhang, die zum Neujahrsfest wegen Geldes für die Bezahlung ihrer Schulden vorstellig werden, runden das Bild von der allgemeinen Misere ab. Freilich differenziert der Verfasser sehr wohl und macht mit den durch die Gattin eines Spenders vorgebrachten Einwand, daß die schlechte Qualität der Korbstühle eines Bittstellers der Grund für die schlechte Nachfrage sei deutlich, daß auch in China klappern zum Handwerk gehört. Weit ab von diesen ländlichen Szenen spielt sich das dargestellte Geschäftslebens weitgehend vor dem merkantilen Hintergrund der Metropole Shanghai ab. Dort wird der Leser als erstes mit Qian Bolian aus Suzhou bekannt, der bei einem größeren Unternehmen als Einkäufer fungiert und unter Ausnutzung örtlicher Preisunterschiede auf den Warenmärkten für Baumwolle, Tee und Öl zu Reichtum gelangt. Wie er das praktiziert, schildert Ji Wen in dem folgenden Abschnitt: Die Produktion auf dem Baumwollmarkt von Shanghai war ursprünglich bei weitem nicht mit der von Tongzhou zu vergleichen. Für die Deckung der Nachfrage war man in der Metropole zu Ankäufen in den umliegenden Ortschaften angewiesen. Da dort niemand bereit war, seine Baumwolle ohne einen anständigen Preis zu verkaufen, kam es zu beträchtlichen Margen, von den Preisen in Shanghai selbst ganz zu schweigen. Qian Bolian hatte den Ablauf der Vorgänge bald durchschaut. Zwar besaß er zunächst noch Skrupel, die Preisunterschiede zum eigenen Vorteil zu nutzen, doch nachdem er sicher sein konnte, daß sein Chef nicht prüfte, was er mit dem ihm anvertrauten Geld für die Einkäufe unternahm, wurde er mit der Zeit mutiger und nahm mit der Aussicht auf Gewinn die Mühen der öfteren Reise nach Shanghai auf sich, um, wie er dem Chef gegenüber angab, günstige Abschlüsse zu tätigen, in Wahrheit jedoch Preise und Geschäftsentwicklung zu studieren. Perspektiven für einen Gewinn von bis zu eintausendachthundert Yuan taten sich ihm auf. Mit ein wenig Glück gelang es Qian Bolian etwa, die Baumwolle zu einem Preis von neun Yuan einzukaufen und in Shanghai zu zehn Yuan wieder loszuschlagen. Als gemachter Mann nahm er Quartier in der Herberge von Xindengfeng und war bald in den Freuden1263 häusern der Stadt ein oft gesehener Gast.
Es bleibt nicht aus, daß man in der Firma eines Tages auf Qians unrechtmäßiges Treiben aufmerksam wird. Ein Mitarbeiter schwärzt ihn bei dem Vorgesetzten an, und Qian verliert seinen einträglichen Posten, was ihn freilich wenig schmerzt, da er in Shanghai bereits über eine Reihe von Kontakten für weitere Aktivitäten ver1263
Ebd., Kap. 3, S. 106f.
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fügt. So tut sich auch schon bald ein neues Betätigungsfeld auf, denn über den Kompradoren Zhou Zhonghe und den wohlhabenden jungen Fabrikbesitzer Fan Muli erfährt Qian von dem einträglichen Geschäft mit Seidenraupen, eine Thematik, der sich später zu Beginn der dreißiger Jahre auch der Schriftsteller Mao Dun (1896–1981) in seinen beiden Erzählungen »Seidenraupen im Frühling« (Chuncan) und »Herbsternte« (Qiushou) annahm.1264 Nur mit geliehenem Geld ist Qian angesichts der Größenordnung freilich am Ende in der Lage, seinen Anteil am fälligen Vorschußbetrag aufzubringen, mit dem die Transaktion abgewickelt werden soll. Herausragendste Figur der folgenden Ereignisse ist Fan Muli, eine der differenziertesten Unternehmergestalten des Romans. Er erweist sich im weiteren als naturgemäß gewinnorientierter Geschäftsmann, doch bringt er mit der Bereitschaft, selbst verschuldete Einbußen auf die eigene Kappe zu nehmen ein gutes Maß an Aufrichtigkeit mit sich und findet am Ende Zutritt zu den reformorientierten Kräften seiner Branche, bei denen er sich durch die Unterstützung sozialer Projekte ein hohes Ansehen erwirbt. Fan Muli ist es auch, der von der Kaufmannsrunde nach Abschluß eines gemeinsamen Vertrages mit dem Einkauf der Seidenraupen in der Umgebung von Shanghai beauftragt wird. Wie sich bald herausstellt, hat man mit Fan allerdings den denkbar schlechtesten Mann gewählt. Zwar wird er bei seinem Aufbruch angesichts der starken Konkurrenz auf dem Seidenraupenmarkt zur Eile angehalten, doch vertrödelt Fan schon auf seiner ersten Station in Suzhou während eines Wiedersehens mit Cui'e, einer ehemaligen Geliebten aus dem Milieu der Kurtisanen, wertvolle Zeit. Als der Kaufmann schließlich in Wuxi anlangt, muß er feststellen, daß man ihm zuvorgekommen ist und sich der Handel mit den Seidenraupen bereits in vollem Schwunge befindet. Trotz der geringer gewordenen Gewinnspanne nimmt Fan immerhin mehr als tausend Zentner der Ware ab und lernt am Ende beim Gespräch mit dem Fachmann Sun sogar eine ganze Menge über die Probleme bei der Aufzucht der Seidenraupen. Als Herr Sun seine prächtigen Seidenraupen präsentiert, ahnt Fan Muli, daß er in der Eile selbst nicht die beste Ware ergattert hat. Es sind Abschnitte moderner Gelehrigkeit wie der folgende, die in der chinesischen Erzählliteratur bis dahin beispiellos dastehen. Entsprechende weitere Beispiele über Maschinen zur Trocknung und Abfüllung von Tee (Kap. 8), zur Glasbläserei (Kap. 12) etc. finden sich im ganzen Text. »Man muß die Seidenraupen bei Schnee nach draußen legen und sie berieseln lassen, damit sie dick und prächtig werden«, erklärte Herr Sun. »Man spricht dann von Winterschneeraupen. Jene Raupen, die nur in einer Salzmutterlauge aufgezogen werden, bleiben dagegen schmal und dünn. Aus Gründen des schnellen 1264
Beide Erzählungen liegen in einer deutschen Fassung vor in MAO DUN: Seidenraupen im Frühling, aus dem Chinesischen von FRITZ GRUNER, JOHANNA HERZFELDT, EVEGRET MEITZ, München: C.H. Beck 1987.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie Gewinns und der Bequemlichkeit bevorzugen die meisten Seidenraupenzüchter bei uns natürlich die Aufzucht in der Salzmutterlauge. Richtige Experten sind selten, davon, wie man die schwierigen Krankheiten der Raupen heilt, hat kaum jemand eine Ahnung. Im Westen ist es gelungen, die Krankheitserreger als ›Krebs‹ mit dem Mikroskop ausfindig zu machen. In der gängigen chinesischen Medizin spricht man von der ›Pfefferschwanzseuche‹, doch ist die Krankheit auch unter dem westlichen Begriff der ›Seidenraupenepidemie‹ bekannt. Sie ist leicht übertragbar und kann die Eier eines Bestandes in Kürze vernichten. In Frankreich hat es in der Vergangenheit einen Wissenschaftler namens Pasteur gegeben, der herausgefunden hat, daß die Epidemie nicht nur von einer Raupe auf die andere weitergegeben wird, sondern sich über die Eier des Seidenspinners auch von einer Generation auf die nächste überträgt. Die Krankheit tritt niemals im Winter auf, sondern im Frühjahr beim Schlüpfen der Raupen. Pasteur entwickelte eine Methode, bei der er die Seidenspinner während der Paarung mit Hilfe eines Holzspatels oder eines Bambusrings voneinander trennte, sodann markierte und die Tiere nach der Eiablage zerkleinerte, um sie einzeln unter dem Mikroskop zu betrachten. Die krebskranken Tiere wurden schließlich samt der Brut vernichtet, so daß sich die Krankheit nicht weiter ausbreiten konnte. Man spricht hier von der ›Methode zur Raupentrennung‹. Ausgefeilt und umsichtig ist auch, was man in Japan herausfand. Dort stellte man fest, daß die Seidenspinner aus den Höhenlagen besser sind als die aus der Ebene. Sie werden sich fragen warum. Nun, die Untersuchungen zeigten, daß die Raupen aus den Höhenlagen aufgrund der geringeren Dichte der Brut kräftiger waren als die aus der Ebene, wo die entsprechende Dichte wesentlich höher war. Die Seidenspinnereien aus den Höhenlagen versah man mit einem Siegel und bot sie zum Verkauf an, nicht ohne zuvor jedoch Fachleute für die Aufzucht bereitgestellt zu haben, die den Käufern entsprechende Unterweisungen gaben. Die Gewinne aus der Seidenraupenzucht stiegen daraufhin um ein Vielfaches. Was in Japan von staatlicher Seite für das Wohl der Bevölkerung getan wurde, können wir hier mit ein wenig Aufmerksamkeit auch erreichen. Wenn man den Leuten nicht gerade das Blaue vom Himmel erzählt, wird selbst bei dem ungebildetsten Züchter etwas hängenbleiben. Sorge bei der Fütterung der Raupen, der Behandlung der Maulbeerblätter, der fachgerechten Umbettung vor und nach dem Ruhestadium, Beheizung der Bruträume sowie Trennung der Tiere nach der Eiablage, das ist alles nichts Besonderes. [...] Die Betrachtung der Seidenspinner unter dem Mikroskop sollte am besten von Frauen vorgenommen werden. Es heißt, die Arbeiterinnen im Ausland könnten täglich bis zu vierhundert Tiere inspizieren. Meiner Auffassung nach krankt die zurückgegangene Seidenraupenzucht in China während der letzten Jahre an einer Reihe von Gründen. Die Maulbeerhaine sind zu dicht bepflanzt, die Bruthäuser stehen zu eng beieinander, so daß sich Krankheiten leicht übertragen können. Zusammengefaßt heißt das, daß man das Problem an der Wurzel packen muß. Wenn wir wissen, wo die Fehler liegen, 1265 liegt es an uns, sie anzugehen und zu verbessern.« 1265
Shisheng, Kap. 4, S. 115f.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT
So viel Wissenschaft läßt die Aufmerksamkeit des nur an Geschäften interessierten Fan Muli jedoch bald erlahmen, im Stillen heißt er Sun einen lästigen Schwätzer und wendet sich schließlich kommentarlos ab. Unterdessen sind die Kompagnons von Fan in Shanghai in heller Aufregung, als geraume Zeit jede Nachricht von ihrem Einkäufer ausbleibt und die Preise aufgrund der ausländischen Konkurrenz auf dem Seidenmarkt zu sinken drohen. Man muß fürchten, bei einem Wiederverkauf selbst den Einstandspreis nicht mehr zu erzielen. Nach der Rückkehr von Fan und dem Eintreffen der Ware bleibt die Sache zunächst noch geraume Zeit in der Schwebe. Inzwischen hat sich zumindest Qian Bolian nach einer neuen Einnahmequelle umgesehen und bringt dabei etwas über die Vorzüge sowie die Notwendigkeiten des Teehandels in Erfahrung. »Wir planen eine Teefabrik aufzumachen«, sagte Daishan, »uns ist aufgefallen, daß der Rückgang der Teeproduktion in China auf den gewachsenen Anteil des Tees aus Sri Lanka zurückgeht. Die Organisation von Pflanzung und Ernte des Tees hat man dort Firmenmitarbeitern übertragen, die Verarbeitung des Tees erfolgt maschinell. Ausländer bevorzugen solchen Tee und ziehen ihn in jedem Fall dem faden Tee aus China vor. Ich erinnere mich gut, daß die chinesische Teeausfuhr noch vor etwas mehr als zehn Jahren eine Million und achthundertneunundachtzigtausend Zentner betrug, mittlerweile jedoch auf gerade noch eine Million zweihunderttausend Zentner gesunken ist. Mit dem Teehandel ist es derzeit nicht zum Besten bestellt. Wir haben uns daher vorgenommen, uns Indien zum Vorbild zu nehmen und mit den Plantagenbesitzern Absprachen zu treffen, denen zufolge wir ihnen den Tee abnehmen und für sie vertreiben. Ziel muß es sein, die Plantagenbesitzer und Händler in Vereinigungen zusammenzuschließen und ausgefeiltere Beschäftigungsmethoden wie die Saisonarbeit zu verwenden. Doch darüber später mehr. Was dem Teemarkt in China am meisten schadet, sind die falschen Teesorten, die angeboten werden. Grüner Tee wird durch künstliche Farbstoffe noch leuchtender gemacht, schwarzer Tee erhält durch Beimischung von Erde einen dunkleren Ton. Wer einmal auf solch ein Gebräu hereingefallen ist oder in seinem Tee gar Gewächse fand, die dort nicht hingehören, der wird in Zukunft auf diesen zweifelhaften Genuß verzichten können. Mißstände dieser Art lassen sich vermeiden, wenn Händler und Plantagenbesitzer sich zusammenschließen und entsprechende Kontrollen vornehmen. Wer weiß, vielleicht findet unser Tee dann auch wieder verstärkt Zugang zum ausländischen Markt und wir gelangen mit den fremden Unternehmern zu einer vertraglichen 1266 Zusammenarbeit.«
Bevor Qian Bolian jedoch zu neuen Unternehmungen veranlaßt wird, erfährt er zu seiner Freude, daß der Deal mit den Seidenraupen gut ausgehen wird. Fan Muli hat nämlich einen Kontakt zu dem reichen und reformorientierten Unternehmer Li 1266
Ebd., Kap. 5, S. 126.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie
Bozheng hergestellt, dessen Familie als Salzhändler von Yangzhou zu Wohlstand gelangt ist. Um den Ausländern das Geschäft zu verderben, kauft er Seidenraupen auch zum höheren Preis an und importiert teure Webmaschinen aus dem Westen, damit er Stoffe mit attrakiven Mustern auf dem chinesischen Markt anbieten kann. Li Bozheng sammelt im weiteren zahlreiche finanzkräftige Reformkräfte um sich sowie findige Ingenieure und Bastler wie etwa den aus dem Ausland zurückgekehrten Liu Haosan oder den Bauern Yu Zhihua, welcher nach seiner Aufnahme an eine eingerichtete Industrie- und Handelsschule mit Entwürfen von selbstgefertigten Ernte- und Häckselmaschinen beeindruckt. Es ist schwierig, gerade am Ende des Buches noch von einer ausgefeilten Handlung zu sprechen, da es sich meistens um theoretische Erörterungen zur Reformproblematik handelt und sich mitunter seitenlange Abhandlungen zu einem Aspekt finden. Teilweise sind die in der Einleitung zu diesem Abschnitt angeführten Ansichten hier bereits angedeutet, so daß ein vergleichender Blick lohnt. Was den Verfasser von einigen seiner zur Schwarzmalerei neigenden Zeitgenossen unterscheidet, ist seine zugegeben etwas übertrieben wirkende idealistische Hoffnung auf die Kraft zur Besserung. Stolz und Glaube an die eigene Kraft angesichts der früheren Größe sind ihm nicht fremd, so daß hinter vielen Phänomenen die einfache Frage »Warum die anderen und nicht wir« auftaucht. Die Komplexität der Gründe, warum bestimmte Entwicklungen im Ausland und nicht in China stattgefunden haben, offenbart sich dem Leser Stück für Stück. Die allgemeine technologische Entwicklung, so erfährt man zum Beispiel aus dem Munde Liu Haosans, läßt sich mittels Anreizen fördern. »[...] Einmal angenommen, der Staat förderte die Technologien, indem er aktiv in ihren Entstehensprozeß eingriff oder Patente verteilte, dann würden sich von alleine viel mehr Menschen diesem Bereich im Studium zuwenden und man hätte nicht zu fürchten, ohne Technologien dazustehen. Die großartigsten Dinge würden dann entworfen, man träte in Wettbewerb miteinander, selbst die Ausländer kämen zu uns, um sich die neuen Kenntnisse anzueignen. Die Arbeiter erhielten nun einen gerechten Lohn für ihre Arbeit, die Unternehmer verzeichneten größere Einnahmen. Matrosen bekämen pünktlich ihren Sold, wir könnten Kriegsschiffe produzieren und würden in die Reihen der Großmächte dieser Welt aufgenommen. Lassen sich die Prinzipien der Neuen Politik heute wirklich noch in Frage stellen? Von anderen Dingen einmal ganz abgesehen, aber ist es in der Tat notwendig, daß wir uns bei der Steuerung moderner Dampfschiffe fremdländischer Kapitäne bedienen? Schaffen wir selbst das etwa nicht? Mitnichten, doch einem chinesischen Schiffsführer würde stets vorgehalten, er könne es nicht, eben weil er Chinese sei und als solcher alles durcheinander bringe, die ganze Sache zu verderben drohe. Wie mag es wohl den Ausländern ergangen sein, als sie das erste Mal ein modernes Schiff vom Stapel ließen. Auch ihnen wird es nicht leichtgefallen sein, es wird Schwierigkeiten gegeben haben, doch warum haben sie sich nicht davor gefürchtet? Oder wie war das bei den ersten Ballonfahrten im Ausland, bei denen zahlreiche Passagiere ihr Leben lassen mußten? Stets fanden sich neue Freiwillige, die sich bei der Regierung um eine
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Ballonfahrt bewarben und gewillt waren, dem Tod gefaßt ins Auge zu sehen. Für Chinesen scheint so etwas unvorstellbar. Für mich steht jedenfalls fest, daß man bei uns schon lange damit hätte beginnen müssen, Leute in der modernen Schiffahrt zu unterweisen, um mittels Prüfungen geeignete Kapitäne auszubilden. Ausbildung und Wissen sind ebenso unverzichtbare Bestandteile der Geschäftswelt. Nur sollte es stets Grundsatz sein, sich Wissen in vollem Umfang anzueignen und Änderungen ohne Wenn und Aber durchzuführen. Es gibt nichts Schlimmeres, als nur halbe Sachen zu machen, lediglich an der Oberfläche zu 1267 kratzen und dann von sogenannten Reformen zu reden. [...]«
Im Gespräch zwischen Liu Haosan, Yu Zhihua und Fan Muli kommt später die Frage auf, ob sich die Investition in teuren Shanghaier Boden und den Aufbau neuer Industrien lohnt zumal befürchtet wird, daß man den Bauern ihre Existenzgrundlage raubt. »Meine Sorge ist nur«, erwiderte Fan Muli, »daß zuviel von dem Shanghaier Grund und Boden in den Besitz der Ausländer übergeht. Wenn wir nicht schnell handeln, bleibt für uns am Ende nicht viel. Wo einzelnen Käufern das Geld fehlt, sollte man sich zu Gemeinschaften zusammenschließen. Die Existenz der Bauern wäre davon keinesfalls bedroht. Schließlich könnten sie mit dem Geld für ihren Boden irgendeinen Handel aufnehmen. Selbst wenn es oberflächlich zunächst so aussehen mag, als brächten wir die Armen um ihren gerechten Gewinn, am Ende werden auch sie davon profitieren, so lange nur wir Chinesen selber es sind, die die neuen Unternehmungen in Angriff nehmen.« Als Liu Haosan diese Worte vernahm, senkte er den Kopf und dachte: »Was Muli da sagt, entspricht ganz den Prinzipien der Ökonomie. Schließlich werden die Unternehmer bei Zusammenschlüssen in zahlreiche Betriebe investieren. Jeder dieser Betriebe wird Arbeiter in Lohn und Brot bringen. Kein Wunder, daß die ländliche Bevölkerung aus der Gegend um Shanghai bereits heute weniger Hunger leidet als die Menschen weiter im Landesinneren. Der Grund sind die vielen Betriebe und die Arbeitsmöglichkeiten. Nur die Starrköpfe weigern sich, Methoden aus dem Westen zu übernehmen und die Interessen der Armen scheinbar zu verletzen. Dem Bergbau stehen sie mit Hinweisen auf die Geomantik ablehnend gegenüber; die Eisenbahn steht in dem Ruch, Lokführern Gelegenheit zum Aufstand zu geben. Wieviele Gelegenheiten mußten wir angesichts solcher überflüssiger Diskussionen bereits verstreichen lassen? Das Eisenbahnwesen wäre in China sonst längst entwickelt, und wir wären auch in vielen anderen Dingen nicht so ins Hintertreffen gegenüber den Ausländern geraten. [...] Die Technologie spielt eine entscheidende Rolle. Bei hohem Absatz wird auch der Gewinn steigen. Aufgabe der Händler ist es, Absatzwege zu schaffen, dann wird keine Stagnation bei der Nachfrage auftreten. Eine Bedingung muß dabei allerdings erfüllt sein: Die Einnahmen durch unsere Exportschlager
1267
Ebd., Kap. 14, S. 187f.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie für weitere Innovationen müssen gesichert sein, der einheimische Handel und die Industrie werden wohl kaum aus eigener Kraft in der Konkurrenz mit den 1268 Produkten aus dem Ausland bestehen.«
Neben Spekulationen und viel Zukunftsmusik geht die in immer neuer Zusammensetzung stattfindende Diskussion oftmals auch ins Grundsätzliche, werden traditionelle Sitten und Bräuche wie im folgenden Beispiel die Stellung der Kaufleute etc. hinterfragt. »Bei den Aktivitäten der reichen Unternehmer wie im Bereich des Maschinenbaus oder bei der Errichtung von Fabriken«, sagte Chengfu, »handelt es sich um große Unternehmungen. Es ist für den Staat von großem Belang, wie und wo das Kapital konzentriert und eingesetzt wird. Gibt es viele reiche Kaufleute, ist auch der Staat selber reich, ein Prinzip, das sich im Altertum in der Wendung ›das Volk reich werden lassen‹ ausdrückte. Es verwundert angesichts dieser Auffassungen allerdings, daß die Kaufleute nie großes Ansehen genossen. Es begann zur Zhou-Zeit, als man die Händler verfolgte, und das Übel setzte sich mit Diskriminierungen der gesamten Kaufmannschaft noch weit bis über die HanDynastie hinaus fort. Das ist doch bezeichnend, oder etwa nicht? Was meinen Sie dazu?« »Die chinesische Wirtschaft mit den fetten und ertragreichen Böden im Kernland zwischen den beiden Strömen Yangtse und Huanghe hatte ihren Schwerpunkt stets in der Landwirtschaft«, hob Haosan in seiner Antwort an. »Der Frage des Verkehrswesens schenkte in der Vergangenheit niemand große Beachtung. Abgesehen von imposanten Kaisern wie Wudi aus der Han-, Taizong aus der Tang- und Shizu aus der Yuan-Dynastie, die Freude an den Feldzügen genossen, war kaum ein Herrscher, auch wenn er sich noch so als ›Gnädiger Himmelssohn‹ oder ›Heiliger Fürst‹ bezeichnete an militärischen Dingen sehr interessiert. Man war bemüht, das alte System aufrechtzuerhalten, und aus Furcht, die Bauern würden bei einer Hungersnot die Arbeit auf den Feldern einstellen oder Aufstände anzetteln, tat man seit frühester Zeit alles, um den Belangen der ländlichen Bevölkerung zu entsprechen, was unweigerlich zu einer Geringschätzung der Kaufleute führte. Erst heute ist man sich über die große Bedeutung der Kaufmannschaft und der noch weitaus überragenderen der Arbeiterschaft bewußt geworden. Die Erkenntnis kommt bedauerlicherweise spät, aber nicht zu spät, um noch rettende Veränderungen vornehmen zu können.« »Ganz richtig«, pflichtete Chengfu bei, »allerdings bin ich der Auffassung, daß die Kaufmannschaft bei all der Bedeutung, die ihr zukommt, nicht die Existenzgrundlage für alle Landsleute schaffen kann. Dafür ist jeder selbst verantwortlich. Die Händler und Kaufleute können lediglich unterstützend eingreifen, das ist ihre Pflicht. Abgesehen von den Intellektuellen ist es heute die Kaufmannschaft, die am aufgeklärtesten und am besten über den Lauf der Welt informiert
1268
Ebd., Kap. 32, S. 306.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT ist. Die Welt der Bauern und der Arbeiter dagegen ist viel zu sehr abgeschlossen nach außen, ein Bauer beackert alleine seine Felder und tritt mit der Geschäftswelt so gut wie nie in Verbindung. Wenigstens die Arbeiterschaft steht in direktem 1269 Kontakt mit den Unternehmen.
Abseits von diesen grundsätzlichen Diskussionen werden auch konkrete Maßnahmen angesprochen. So geht Chengfu in seinen Ausführungen so weit, von Ausstellungshallen bzw. Lagern (chenliesuo) zu sprechen, denen gildenähnliche Einrichtungen (fupantuan) angeschlossen sind, über die Kaufleute Unterstützung jeglicher Art (Nahrung, Kleidung etc.) bis hin zum Absatz ihrer Waren erhalten. In einem größeren Umfang wird die Gründung von Industrie- und Technologieparks gefordert, in denen sich dann die unterschiedlichsten Unternehmen ansiedeln können. Alles, so der Eindruck, der vermittelt werden soll, ist machbar. Die Zweifel an der eigenen zivilisatorischen Kraft sind ausgeräumt angesichts der Erkenntnis, daß hinter der gesamten Zivilisationsproblematik letztlich nur die Machtfrage steht. («In der heutigen Welt geht es weniger um die Auseinandersetzung zwischen Zivilisation und Nicht-Zivilisation, als um den Machtkampf. Wer aus einem reichen und militärisch starken Land kommt, der wird als zivilisiert betrachtet und darf sich durchaus auch einmal einen barbarischen Akt leisten. Wer dagegen aus einem armen und militärisch schwachen Land kommt, der wird als zivilisatorisch rückständig betrachtet und muß sich einen Barbaren heißen lassen.« [Kap. 35, S. 326]) Ist jemand einmal derart weit in seinen Betrachtungen vorgedrungen, so ist es nur noch ein Schritt bis hin zu der Erkenntnis, daß man die bestehenden Möglichkeiten nur richtig nutzen muß und ansonsten für sein Schicksal alleine verantwortlich ist. Der optimistische Ton in Stimmen des Marktes bestätigt diese Sicht und weist damit ganz andere Züge auf als etwa Wu Woyaos zwei Jahre später verfaßter Roman Schlüssel zum Erfolg, der weiter oben bereits ausgesprochen worden ist. Weitere Romane dieses Themenbereiches über das Treiben in der Wirtschaft wie Dämonen in der Geschäftswelt (Shangjie guiyuji),1270 Aktuelle Erscheinungen im Landadel und bei den Unternehmern (Shen dong xianxingji),1271 Mammon der sechs Wege (Liu lu caishen)1272 oder Aktuelle Erscheinungen in der Geschäftswelt (Shangjie xianxingji)1273 ließen sich anführen, doch reicht keiner auch nur annähernd an die umfassende, ja programmatische Betrachtung in Stimmen des Marktes heran. 1269 1270
1271
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Ebd., Kap. 33, S. 311f. Erschienen 1907 in acht Kapiteln unter dem Verfasserpseudonym »Der Krüppel des neuen China« (Xin Zhongguozhi feiwu). Erschienen 1908 in zehn Kapiteln unter dem Pseudonym »Der Herr der weißen Lotusklause« (Bai lianshi zhuren). Erschienen im Jahre 1910 in zwölf Kapiteln aus der Feder von Lu Shi'e. Erschienen 1911 in sechzehn Kapiteln unter dem Pseudonym »Himmelsplage über den Wolken« (Yunjian tianzhuisheng).
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie
4.3 Zugvögel – Vom Schicksal der Auslandschinesen Jeder Mensch definiert sich in seinen Entwürfen und sozialen Bezügen bewußt oder unbewußt zu einem guten Teil durch Rückgriff auf Traditionen und Sitten aus früherer Zeit. Heimat als örtliche Umschreibung für die Herkunft des Menschen gemeinsam mit all dem, was ihn im Laufe seines Heranwachsens sprachlich, sozial und kulturell geprägt hat, bleibt ein sehr schwammiger Begriff und kann von jedem anders definiert werden, abhängig von dem eigenen Empfinden und der Verfassung der frühen Erlebniswelt. Die Trennungsvorgänge von dem, was man als Heimat wahrnimmt und für sich bestimmt, werden wohl überall auf der Welt ganz ähnlich als Verlust, Entwurzelung, Abkehr u.ä. empfunden. Selten jedoch findet man Bindungen an und Beschränkungen durch Heimat auf so vielfältige und umfassende Weise ausgestaltet wie in China. Familien- und beziehungsorientiert wie die vorherrschende Denk- und Sittenschule des Konfuzianismus war, wurde hier im konkret auf den eigenen Abstammungsort gemünzten und immer wieder durch die Ahnenverehrung betonten Verhalten des Einzelnen die Empfindung der gesamten Staats- und Kulturnation als »Familie« vorweggenommen. Das Gefühl der Zugehörigkeit zum »Vaterland« (guojia), die Wahrnehmung der fürsorglichen staatlichen Repräsentanten als »elterliche Beamte« (fumu guan) mit dem Kaiser als Übervater nahmen nur das voraus, was schließlich im Konzept der clanähnlichen Abgrenzung des »Reiches der Mitte« von den fremden »Völkerfamilien« seinen Höhepunkt fand. Es verwundert vor diesem hier nur ganz knapp beschriebenen Kulturhintergrund nicht, daß die Gestalt des fahrenden Ritters und Abenteurers, der die Heimat aufgibt, um den Gefahren in der Fremde zu trotzen, in China weitgehend unbekannt ist. Dennoch darf man sich die Bevölkerung nicht als eine Nation von Stubenhockern vorstellen, wenngleich das Reisen und Fahren in China oftmals viel handfestere Gründe gehabt zu haben schien als es bei den abenteuerlustigen Gestalten des Abendlandes der Fall war. Die Menschen im Reich der Mitte besaßen einen so ausgeprägten Realitätssinn, daß sie angesichts lockender Geschäfte den riesigen Reichsraum zur inneren Migration ebenso nutzten wie sie die natürlichen Grenzen durch Meere, Wüsten und Gebirge hinter sich zu lassen wußten, zumal Hunger und Krieg als Auslöser riesiger Wanderungsbewegungen in China ebensowenig fehlten wie anderswo auch. Es sind die eben angesprochenen Faktoren wie Geschäfte, Krieg und Hunger, die weite Teile der chinesischen Bevölkerung schon vor dem Sturz der MingDynastie im siebzehnten Jahrhundert ihr Glück im Ausland suchen ließen, als Vietnam chinesische Flüchtlinge aufnahm. Die seeorientierten Kaufleute vor allem aus Südchina hatten bereits seit den ersten historisch nachweisbaren Spuren in diesen Gebieten im neunten Jahrhundert Handelskontakte nach Südostasien hergestellt und lange vor der Ankunft der Portugiesen, Spanier, Engländer und Holländer Siedlungen in Malaya sowie Java errichtet, wo sie bald eine beherrschende Stel-
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lung im Außenhandel einnahmen.1274 Der zunehmende Bevölkerungsdruck und die dramatische Lage in der Heimat zur Mitte des 19. Jahrhunderts – angefangen bei der blutigen Niederschlagung der Rebellionen durch die Taiping, die GelaoBruderschaft und die Sekte des Weißen Lotos bis hin zum Eindringen der Großmächte – hatten die Bereitschaft großer Bevölkerungsteile zur Emigration wesentlich erhöht. Angelockt von der bis heute ungebrochenen Kraft der euphemistischen chinesischen Bezeichnung »Schönland« (meiguo) für die Vereinigten Staaten von Amerika suchten die Menschen ihr Glück in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht des neuen Kontinents. Das zentrale Erzählwerk, das sich der Thematik der Auswanderungsproblematik annahm, ist der 1905 anonym erschienene Roman Bittere Gesellschaft (Ku shehui) in achtundvierzig Kapiteln, in dem ausführlich die Gründe für die Emigration, die bestialischen Zustände während der Reise sowie die Kümmernisse bei der Ankunft in der Fremde geschildert werden.1275 Da ist zunächst Ruan Tongfu, der nach dem Tode der Eltern mit seiner Frau in das heimatliche und einst wohlhabende Suzhou zurückkehrt, dort aber kein Auskommen findet. Er teilt das kümmerliche Schicksal mit Li Xindun, einem Lehrer, der unter der drückenden Mietlast leidet und zum Verkauf eines wertvollen Bildes aus dem Familienerbe zu einem lächerlichen Preis gezwungen ist. Wenig glücklich sind auch Zhuang Mingqing und Teng Zhuqing, die in Suzhou ein Geschäft eröffnen, jedoch aufgrund der maroden Wirtschaft nach nur drei Monaten die Tore ihres Ladens wieder schließen müssen. Nirgends besteht noch die geringste Aussicht, sich irgendwie durchschlagen zu können. Eine verheerende Lage überall. Auf den Feldern fand sich bald kein Fleckchen bebaubaren Bodens mehr. Selbst die Halme der abgeernteten Reispflanzen waren im Nu in die hungernden Mägen gewandert, kein Baum, der noch ein Blatt trug, kein Stamm, der nicht zerkleinert und als Feuerholz verkauft worden wäre. In den Häusern der Menschen nur wurmstichige Schemel und Tische, sollte man das klapprige Bettgestell auseinandernehmen, um seinen Hunger daran zu stillen? In den von der Hitze ausgelaugten Körpern der Menschen nisteten sich Krankheiten ein, ein am Morgen noch gesunder Mann sagte der Welt am Abend womöglich schon für immer ade. Mal starb in der einen Familie eine Frau, in der anderen schieden zwei Männer aus dem Leben. Keine Sekunde, in der nicht irgendwo das jammernde Klagen über irgendeinen Toten zu hören gewesen wäre. 1274
1275
Vgl. einführend zu diesem Problemkomplex u.a. EDUARD J. SOLICH: Die Überseechinesen in Südostasien, Frankfurt/M. u.a.: Alfred Metzner Verlag 1960. S.a. allgemein zur Lage der Auslandschinesen gerade in der neueren Zeit STEPHEN FITZGERALD: China and the Overseas Chinese, A Study of Peking's Changing Policy 1949-1970, Cambridge, Cambridge UP 1972. Hier bearbeitet nach einer Ausgabe der Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie Doch mit der Zeit wurden die Stimmen schwächer. Warum? Krankheit und Elend wüteten auch weiterhin, doch bald überwog die Zahl der Toten die der Lebenden. Wo das letzte Mitglied einer Familie hinweggerafft worden war, er1276 klangen auch bald keine Schreie des Kummers mehr.
Gemeinsam mit einem weiteren gescheiterten Freund namens Lu Jiyuan begibt sich die Gruppe nach Shanghai, wo man Rettung in einem Aufruf zur Anwerbung von Arbeitskräften in Übersee zu finden glaubt und sich schließlich in Kanton einschifft. Die Unterbringung an Bord läßt bereits nichts Gutes erahnen, wie die folgende Szene zeigt. Am Ende des Monats ließ Aufseher Xie verkünden, daß sich die Reisenden am Abend des nächsten Tages an Bord des Schiffes einfinden sollten. Die drei Männer machten ihr Bettzeug fertig und kauften einen Lederkoffer für die Kleidung. Als sie sich zur angegebenen Zeit schließlich bei Aufseher Xie meldeten, hieß dieser sie, sich mit dem Gepäck unter Deck zu begeben, wo man ihnen eine kleine Kabine zuwies. Der Raum mit den vier Pritschen war so eng, daß sie zunächst einen hießen, sich auf der oberen Pritsche einzurichten, um die Sachen zu ordnen. Als die drei Männer ihr Bettzeug ausgebreitet hatten, trat Xie auf den Gang und zog hinter sich die Türe zu. Mit einem Mal war es stockfinster in der Kabine. »Zhuqing, Mingqing, wo seid ihr?« rief Jiyuan aufgeregt. »Warum ist es auf einmal so dunkel?« »Ich bin hier unten«, antwortete Zhuqing, »man hat vergessen, die Luke zu öffnen. Ich werde die Türe wieder einen Spalt aufmachen, damit wir das Fenster finden.« Er rappelte sich auf und tastete nach der Türe, doch so sehr er sich auch bemühte, sie war nicht zu öffnen. »Mingqing«, rief er schweißgebadet, »sie werden uns hier doch nicht eingesperrt haben?« Auch Jiyuan kam das seltsam vor, und er wandte sich an den vierten Passagier, der vor ihnen eingetroffen war und auf einer der oberen Pritschen lag. »Zu spät, es ist alles zu spät«, antwortete der Mann, »ich war gerade in Ohnmacht gefallen. Erst als ich eure Stimmen hörte, kam ich wieder zu mir. Doch seid lieber still.« Schweigend zogen sich die drei Männer auf ihre Pritschen zurück. Nach etwa einer Stunde drang plötzlich ein Lichtstrahl in die Kabine. Eine kleine Luke in der Türe wurde geöffnet, jemand warf acht dunkle, harte Dampfbrötchen nach innen und verschloß die Luke dann wieder. Wütend tasteten die vier Männer nach der Nahrung. Es mußte wieder eine Stunde vergangen sein, als nach und nach lärmende Geräusche in den Kabinen um sie herum aufkamen. Man hörte deutlich, wie jemand schimpfte, dann die dumpfen Schläge einer Peitsche, gefolgt vom Rasseln einer Kette, dann Weinen. Erst nach einer geraumen Weile legte sich der gröbste Lärm wieder. Nur noch ein leises Schluchzen ließ sich vernehmen. Jiyuan preßte sein Ohr gegen die Kabinenwand. Die Geräusche kamen von nebenan, ein Mann und eine Frau schienen dort mit unterdrückter Stimme zu sprechen. Seltsam, das klang nicht nach südchinesischem Dialekt. Er verstand 1276
Bittere Gesellschaft, Kap. 19/20, S. 45.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT zwar nicht genau, was da geredet wurde, doch schien man in der Mundart von Suzhou zu sprechen. »Mingqing, hast du gehört? Das muß jemand aus unserer Heimat sein.« »Ja«, erwiderte Mingqing, »wer weiß, wen es da erwischt hat.« »Schlimm genug ist diese Behandlung für Männer wie uns«, ließ Zhuqing vernehmen, »aber die da nebenan sind noch viel elender dran.« Sie hörten, wie die Schiffssirene dreimal ertönte, Wellen schlugen gegen die Bordwand, man schien 1277 abgelegt zu haben.
Nach und nach werden die Männer mit der traurigen Lage der Reisenden auf dem Schiff vertraut und erfahren von den falschen Versprechungen, mit denen man sie an Bord gelockt hat, spüren die grausame Behandlung durch den peruanischen Schiffsherren am eigenen Leib. Wie sie bald herausfinden, ist in der Nachbarkabine Ruan Tongfu mit seiner Familie untergebracht. Man hat Ruan bereits übel zugerichtet, doch Zhuqing und seinen Freunden gelingt es, einen Aufseher zu bestechen und dem Opfer wenigstens die Ketten abnehmen zu lassen. Die Rettung erfolgt freilich zu spät, denn am Tage darauf erliegt Ruan Tongfu seinen Verletzungen und wird über Bord geworfen. Er ist allerdings nur die erste von hundertfünfzig Personen, die die Reise nicht lebend überstehen. Wenigstens Jiyuan kann seine Haut retten, nachdem ihn einer Aufseher als Buchhalter einstellt und damit von den harten Arbeiten entbindet. Endlich erreicht man Peru. Einheimische Aufseher bringen die eintausendachthundert Arbeiter an Land und desinfizieren sie mit großen Spritzen. Das Schiff wird gesäubert, die Toten ins Meer geworfen. In einem mörderischen Marsch über Lima bringt man die Leute zu ihrem Bestimmungsort, einem Lager in den Bergen. Auch dort erwartet die Eintreffenden nichts Gutes. Pah, über die Unbarmherzigkeit der Peruaner wollen wir besser gar nicht reden. Aber was lag dem Himmel in Peru daran, den Chinesen so übel mitzuspielen? In der zweiten Nachthälfte kam ein heftiger Wind auf. Eisige Kälte drang durch die offenen Türen der Baracken ins Innere, die Menschen froren und zitterten erbärmlich. Als der Wind sich gelegt hatte, zuckten grelle Blitze über den Himmel, gefolgt von krachendem Donner. Ein Sturzregen setzte ein, es goß, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet. O weh, auch das noch, die Baracken waren undicht. Wasserperlen tropften den Leuten vom Gesicht, bald waren sie am ganzen Körper naß. Das mußte das Ende sein! Nun strömte auch noch das Wasser von draußen herein, stand im Nu fußhoch im Raum. Himmel, was für ein Unwetter. Man verstand in dem Getöse kaum noch, was der Nachbar sagte. Die Chinesen, die es hierher verschlagen hatte, mochten sich die Seele aus dem Leibe schreien, aber wer hörte sie schon. Das war ja schlimmer als die Unter1278 bringung in einem Schweinestall. 1277 1278
Ebd., Kap. 23/24, S. 54f. Ebd., Kap. 29/30, S. 73.
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Der an Bord des Schiffes verbliebene Lu Jiyuan vertieft sich nach dem Ablegen in Geschichtslektüre. Er liest von den Massakern, die spanische Eroberer einst bei der Inbesitznahme der Philippinen unter der örtlichen chinesischen Bevölkerung anrichteten und beginnt zu ahnen, was für ein Schicksal seinen Landsleuten in Peru bevorsteht. Wie Lu bei der Rückkehr nach Hongkong allerdings feststellen muß, weiß man nur in den größeren Orten an der Küste von dem traurigen Los der Arbeiter in Übersee, in den kleineren Ortschaften im Landesinneren kommen auch weiterhin unzählige Menschen den Werbungsangeboten nach. Erneut sticht man in See, diesmal geht es nach San Francisco. An Bord trifft Jiyuan auf seinen Landsmann Li Xindun, der erschüttert ist über die Nachricht vom Tode Ruan Tongfus. Die Warnung Jiyuans, daß er in den Vereinigten Staaten nicht auf günstige Geschäfte hoffen dürfe, schlägt Li Xindun freilich zunächst in den Wind. Der eine geblendet von seinen Erwartungen auf Erfolg, der andere angesichts der eigenen Erlebnisse ohne große Illusionen über die Lage der Chinesen, entspannt sich zwischen den Männern ein interessanter Dialog. »Ich habe bei meinen Geschäften schon häufig mit den Amerikanern zu tun gehabt«, erklärte Xindun auf die Frage Jiyuans, warum er ausgerechnet in die Vereinigten Staaten wolle. »Die Gegend um San Francisco ist noch nicht lange erschlossen, da bieten sich allerlei Möglichkeiten. Wie es wirklich ist, wird man nach der Ankunft sehen. Die Vereinigten Staaten sind seit jeher ein freies Land, dort wird man seiner Freiheit nicht so einfach beraubt. Die Kontakte mit China sind schon immer gut und eng gewesen, ich glaube nicht, daß es große Probleme geben wird.« »Das siehst du falsch«, hielt Jiyuan ihm vor. »Die Freiheit, von der du sprichst, ist heutzutage alleine die Freiheit der Weißen, nicht die der Asiaten. Die Weißen haben Geld, machen Geschäfte im großen Stil, mit jemandem, der nicht über den notwendigen finanziellen Hintergrund verfügt, geben sie sich gar nicht ab, dem bleiben vielleicht gerade die Arbeiter unter den eigenen Landsleuten als Kunden. Wer sich in die Geschäfte der Weißen einmischt, ihnen gar den Profit wegzuschnappen droht, der muß ihren Zorn fürchten. Mach dir keine Illusionen, die Löhne unserer eigenen Landsleute, mit denen du Geschäfte machen darfst, sind niedrig, es reicht gerade einmal für das Nötigste. Denen wirst du nicht viel verkaufen können. Mir war das alles zunächst auch nicht bekannt, doch mir ist viel zu Ohren gekommen. Nimm dich also in acht.« »Ich glaube, du übertreibst«, erwiderte Xindun. »Schließlich haben wir in den Vereinigten Staaten eine Botschaft und Konsulate. Dort ist es anders als in Peru. Wir können uns mit unseren Sorgen jederzeit an die Vertretung wenden. Die Amerikaner werden es nicht wagen, die mit unserer Regierung eingegangenen Verträge zu verletzen, geschweige denn Gewalt anzuwenden.« »Nun, du magst meine Worte in den Wind schlagen«, erklärte Jiyuan, »aber ich hoffe, du wirst so klug sein, dich nach drei oder vier Jahren von dort zurückzuziehen. Dann hätte ich mit 1279 meinen Warnungen doch ein wenig erreicht.« 1279
Ebd., Kap. 33/34, S. 84f.
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In der Tat werden Li Xindu schon bald nach seiner Ankunft in San Francisco die Augen geöffnet. Von dem alteingesessenen Gu Zifeng, der einige Jahre zuvor eingetroffen ist und einen Tabakhandel eingerichtet hat, muß er sich sagen lassen, daß die Zeiten, da Chinesen als Helfer bei der Erschließung des Landes willkommen waren, längst vorüber sind und sie mittlerweile als lästige Konkurrenten auf dem umkämpften Markt empfunden werden. Die freundliche Werbung von einst sei in Haß umgeschlagen, man stecke Heime der Chinesen in Brand, der Mob bringe Menschen um, auch die Botschaft könne wenig ausrichten. Wesentlich besser als den Chinesen gehe es den Japanern, die nicht in so großer Zahl eingetroffen seien, entschlossener auf Erniedrigungen reagierten und effektiver von ihrer Vertretung unterstützt würden. Wie recht Jiyuan mit seinen Warnungen hatte, muß Li Xindun bald am eigenen Leibe erfahren. Er macht mit Hilfe Gu Zifengs eine Näherei auf und tätigt zunächst auch gute Geschäfte. Doch die Lage auf dem Arbeitsmarkt spitzt sich zunehmend zu, als die Einwanderungsgesetze immer strikter ausgelegt werden und Li gezwungen wird, Arbeiter in die Heimat zurückzuschicken. Nachkommende Verwandte und Freunde werden oft schon gar nicht mehr an Land gelassen und von den Einwanderungsbeamten sogleich nach China zurückgesandt. Selbst die diplomatische Vertretung der Qing bleibt am Ende nicht vor Erniedrigungen verschont. Eines Tages ergreifen Polizisten einen Attaché der Botschaft und verprügeln ihn. Vor lauter Kummer bringt sich das Opfer schließlich um. Dennoch gelingt es Li Xindun immerhin, sich fünfzehn Jahre lang in den USA aufzuhalten, bei den dort getätigten Geschäften gelangt er zu bescheidenem Wohlstand. Als die immer restriktiveren Gesetze kaum noch Aussicht auf weitere erfolgreiche Beschäftigung bieten, beschließen Gu Zifeng, Li Xindun sowie die weiteren Teilhaber den Tabakhandel, die Näherei und alles, was sie sich aufgebaut haben aufzugeben und in die Heimat zurückkehren. Unterwegs zeigen sie sich entschlossen, ihr Glück in China zu suchen und den amerikanischen Markt in Zukunft zu boykottieren. Von einer anderen Warte aus als noch Bittere Gesellschaft rückt der ebenfalls anonym im Jahre 1905 erschienene Roman Hartes Studentenleben (Ku xuesheng) in zehn Kapiteln die Aspekte vom Los der chinesischen Auslandstudenten in den Mittelpunkt.1280 Der Ton ist ähnlich patriotisch, wie schon die ersten Szenen des Buches zeigen. Mit einer eindrucksvollen Darstellung des Treibens in der Tierwelt, die deutlich auf die politische Lage Chinas in der Welt abhebt, scheint der Autor unbewußt das vorwegzunehmen, was den Chinesen Jahrzehnte später im Ausland die abwertende Bemerkung über die »blauen Ameisen« einbrachte. Erzählt wird die Geschichte von dem jungen Gelehrten Qi Youzi, der sich nach dem 1280
Hier ebenfalls bearbeitet nach einer Ausgabe der Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas. Ursprünglich erschien das Werk in einer Ausgabe der »Bebilderten Erzählkunst«.
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Kühlung bringenden Sommerregen im Garten niedergelassen hat und seinen Durst mit einer frischen Wassermelone stillt, deren Schalen und Kerne er achtlos auf den Boden wirft. Plötzlich nimmt er einige Ameisen an der Mauer wahr. Sein Blick fiel auf ein Ameisennest am Fuße der Ostmauer. Das Ungeziefer war zunächst vor dem Regen zurück in die Löcher geflüchtet, doch angelockt von dem Duft des Obstes krochen die Ameisen jetzt wieder hervor und fielen in Scharen über die Reste her, die auf dem Boden verstreut umherlagen. Wild krabbelten sie durcheinander und schienen zunächst nicht zu wissen, wo sie mit dem Fest beginnen sollten. Doch plötzlich richtete sich eine der Ameisen auf und stürzte, gefolgt von einer Masse der übrigen Tierchen auf eine der Melonenschalen, die bald vollständig von dem Ungeziefer übersät war. Qi Youzi sah dem Treiben genauer zu und stellte fest, daß es sich um einen Stamm gelber Ameisen handelte. Er war gerade in die Betrachtung des Gewimmels vor seinen Füßen vertieft, als sein Blick auf einen weißen Streifen am Fuße der Westmauer fiel. Ameisen mögen zwar winzige Tierchen sein, doch selbst dort läßt sich zwischen überlegenen und unterlegenen Rassen unterscheiden. Qi sah, daß die Ameisen von der Westmauer in Trupps von zehn Tierchen gingen, angeführt von je einer größeren weißen Ameise an der Spitze. An der Grenze des Reviers machten sie halt und nahmen Aufstellung. Ihm fiel eine besonders kräftige Ameise auf, bei der es sich um die Anführerin zu handeln schien. Zusammen mit den Truppenenführern bildete sie einen Kreis, als wolle sie eine Beratung abhalten und weitere Befehle erteilen. Schließlich stoben die Ameisen wieder auseinander und bildeten erneut Truppen von jeweils zehn Tierchen. Je hundert Ameisen bildeten eine Kolonne, und aus vier Stoßrichtungen rückte man in Richtung der noch unberührten Melonenschalen auf dem Boden vor. Im Nu hatten die weißen Ameisen die Obstreste verzehrt und richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Schalen, an denen sich die gelben Ameisen zu schaffen machten. Diese waren so mit ihrem Mahl beschäftigt, daß sie gar nicht gewahr wurden, wie sie von den weißen Gegnern umzingelt wurden. Ehe sie die Gefahr bemerkten, hatten die Widersacher von der Westmauer ihren Angriff vorangetrieben und wenigstens die Hälfte der gelben Ameisen totgebissen. Nur ein paar ganz winzige Tierchen mit Köpfchen so klein wie Nadelspitzen entkamen dem Gemetzel. Sie wichen ein paar Schritte zurück, bildeten eine Formation und schlugen die Angreifer in einem mutigen Vorstoß bis zur Westmauer zurück. Sie waren gerade dabei, in das Nest der weißen Ameisen vorzudringen, um ihnen den Garaus zu machen, als diese unerwartet Verstärkung erhielten. Angesichts der Übermacht traten die gelben Ameisen den Rückzug zu ihren Löchern in der Ostmauer an. Qi Youzi hatte dem Kampfgeschehen von der Mauer aus zugesehen. Als er sah, wie sich die Situation gefährlich zuspitzte und die gelben Ameisen von der Übermacht der weißen Gegner zurückgedrängt wurden, träufelte er etwas von dem Melonenwasser auf das dichte weiße Getümmel vor seinen Füßen, worauf die weißen Ameisen in Panik auseinanderstoben. Die Szene ging Qi nicht aus dem Kopf und zurück in seiner Kammer grübelte er darüber nach, was der
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Grund für Sieg und Niederlage der beiden Ameisenstämme sein mochte. Da fiel es ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen: Unordnung und mangelnder Zusammenhalt waren der Grund für die Niederlage der gelben Ameisen, Organisation und Gemeinschaftlichkeit beim Handeln der Grund für den Sieg der gegnerischen weißen Ameisen gewesen. Es war das Gesetz, das dem Unterlegenen seinen Untergang bereite und dem Überlegenen sein Fortbestehen sicherte. O weh, und was tat China? Seit zweitausend Jahren hatte man das Wissen alleine auf die Prüfungen abgestellt, war jeder gegen jeden angetreten und hatte dabei doch nur leeres Geschwätz geliefert. Mit konkreten und praktischen Dingen hatte man sich nie beschäftigt. Wo der Lebenskampf vornehmlich auf Weisheit 1281 und Wissen abgestellt war, schien die Niederlage unvermeidlich zu sein.
Schmerzlich wird sich Qi Youzi seiner eigenen Lage bewußt. Bestand nicht auch sein Wissen aus nicht viel mehr als ein paar Gedichten und Anleitungen, wie man einen achtgliedrigen Aufsatz anfertigte, geschmückt mit leeren Floskeln? Nein, er verstand sich auf nichts, womit man einen echten Beitrag für die Gesellschaft leisten konnte. Qi ist noch vollkommen in Gedanken versunken, als ihm jemand eine Zeitung mit Nachrichten über das Leben der Studenten im Ausland bringt. Beim Durchblättern bleibt sein Blick auf dem kurzen Bericht über einen Studenten namens Huang Sun haften, der sich zum Studium nach Amerika begeben und dort Anerkennung durch die Gelehrtenwelt erworben hat. Mit Gedanken über Huang Sun nickt Qi Youzi schließlich ein und träumt, wie es dem jungen Mann wohl bei seinem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten ergangen sein mag. Der gesamte folgende Roman ist also eine einzige lange Traumszene. Der Leser erfährt, daß Huang Sun aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Hu'nan stammt. Nach dem frühen Tode des Vaters sorgt die Mutter dafür, daß der Sproß eine gründliche Schulbildung in der Provinzhauptstadt Changsha erhält, doch erkennt der Junge bald die Grenzen, die ihm in der Heimat gesetzt sind. Schweren Herzens billigt ihm die Mutter genügend Geld zu, um ein achtjähriges Studium in Japan und Amerika zu absolvieren. Die drei Jahre in Japan sind schnell herum, und mit seinem Diplom in der Tasche schifft sich Huang nach Amerika ein. An Bord wird er mit dem Stipendiaten Wen Lin bekannt, einem jungen Mann aus reichem mandschurischen Adelsgeschlecht, der damit prahlt, in Peking die besten Lehranstalten besucht zu haben und plant, seine akademische Karriere mit einem Universitätsabschluß in den USA zu krönen. Abgestoßen von der überheblichen Art seines Landsmannes versucht Huang Sun, ihm aus dem Weg zu gehen und sucht vielmehr die Gesellschaft der einfachen Passagiere der dritten Klasse unter Deck. Wie wenig er auf seine Herkunft im Ausland zählen kann, muß Wen Lin erfahren, als man den kalifornischen Hafen von San Diego erreicht. Vor den peniblen Beamten der Einwanderungsbehörde sind alle gleich, 1281
Hartes Studentenleben, Kap. 1, S. 131f.
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beanstandet man sein chinesisches Gesundheitszeugnis doch ebenso wie den japanischen Studienabschluß Huang Suns und droht beiden, sie in die Heimat zurückzusenden. Doch der in den Weltdingen erfahrenere Huang weiß Rat und ist mit Hilfe des eingeschalteten japanischen Konsuls, der aufgrund seines bestimmten Auftretens die Anerkennung des Diploms bei den Behörden durchsetzt, am Ende schneller an Land als Wen Lin, der sich wohl die Unterstützung durch den chinesischen Konsul sichern kann, dabei insgesamt aber ungeschickter agiert. Erst zu Ende des Romans erfährt man mehr darüber, wie es dem erfolgsverwöhnten Adelssohn bei seinem Studium ergangen ist. Huang Sun nun begibt sich ausgestattet mit Empfehlungsschreiben quer durch das Land nach Washington, trifft aber den wohlhabenden Zeitungsverleger Zhe Mengxiong, einen reichen Überseechinesen aus Manila, mit dem er Kontakt aufnehmen soll, nicht an. Da seine Mittel knapp werden, läßt er sich eine Arbeit in der Fabrik des Amerikaners Forster vermitteln, der sich bereit erklärt, dem wissensdurstigen Chinamann durch bequeme Arbeitszeiten in seinem Betrieb den gleichzeitigen Besuch einer Schule zu ermöglichen. Angeschwärzt jedoch durch mißgünstige Kommilitonen, die Huang Sun seinen Erfolg neiden, ist er alsbald gezwungen, die Stelle bei Forster aufzugeben, verstößt er mit seiner Tätigkeit doch gegen das bestehende Arbeitsverbot für Chinesen. Auch die Einwände seines Arbeitgebers bei den Behörden fruchten nichts. Gleichzeitig verliert er wegen der Tätigkeit in der Fabrik seinen Studentenstatus. Huang nimmt Verbindung mit seiner Botschaft auf, um sich um ein Stipendium zu bewerben, wird aber abgewiesen. Verzweifelt wandert er durch die Stadt und gelangt vor ihren Toren in eine kleine Ortschaft. Seine Erscheinung erweckt in der kleinen ansässigen Chinesengemeinde Aufsehen, und man bringt den jungen Mann mit dem chinesischen Lehrer Hua Sheng zusammen, der vor dreißig Jahren während des Goldrausches ins Land gekommen ist. An Huas kleiner Schule findet Huang eine Anstellung als Lehrer und hat damit die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der mittlerweile aus den Philippinen zurückgekehrte Verleger Zhe bietet ihm an, sein Studium in eigener Anstrengung voranzutreiben mit dem Ziel, doch noch einen Abschluß zu erwerben und verfaßte Essays und Artikel in seiner Zeitung zu veröffentlichen. Tatsächlich ist damit die Basis für Huangs weiteren Erfolg gelegt, und ausgestattet mit einem Diplom verläßt er nach vier Jahren das Land, um über London und Indien den Rückweg nach China anzutreten. Bei seiner Ankunft in Shanghai trifft er auf Wen Lin, der wenig Gutes zu berichten hat. Mit einiger Genugtuung erfährt Huang, daß sein einstiger Widersacher gescheitert ist und bei seinem Aufenthalt in New York in die Kreise von Spielern und Prostituierten gelangt ist, wo er das halbe Vermögen der Familie durchgebracht hat. Mit diesen Szenen erwacht auch Qi Youzi wieder aus seinem Traum. In seiner Anlage komplexer als die beiden vorstehenden Romane ist ein Werk, das unter dem Titel Welt des Goldes (Huangjin shijie) im Jahre 1907 erschien. Auch der Verfasser dieses zwanzig Kapitel langen Buches ist unbekannt und gibt
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mit der Bezeichnung »Inhaber der grünen Lotoshalle« (Biheguan zhuren) lediglich sein Pseudonym an. Der Romanauftakt knüpft an bereits aus der Bitteren Gesellschaft hinlänglich bekannte Szenen an und schildert, wie der Amerikaner Boulger und sein chinesischer Komplize Fu Rengou, ein flüchtiger Spielteufel aus Macao mit einer Reihe von Aufsehern unter Anwendung übler Tricks in der Bevölkerung Männer und Frauen anwerben, um Plantagen auf Kuba zu erschließen.1282 Ihre ersten Opfer sind A Jin und seine Frau Chen, die an Bord des Schiffes, das sie in die Karibik bringt, gemeinsam mit den übrigen vierhundert Passagieren allerlei Leid zu ertragen haben. Frau Chen erkrankt unterwegs jedoch, kann flüchten und wird von Bewohnern einer Insel gerettet. Nach ihrer Genesung begibt sie sich auf eigene Faust nach Kuba, um den Gatten zu suchen, wird aber ausgewiesen, da sie ohne einen Paß eintrifft. Es gelingt ihr, nach London zu kommen und ein Studium aufzunehmen, in dessen Folge sie erneut den Weg nach Kuba antritt. Da sie auch jetzt keine Spur von ihrem Mann findet, beschließt sie, in ihre Heimat zurückzukehren. An Bord des Schiffes trifft sie schließlich ihren Gatten A Jin wieder, der in der Gemeinschaft mit einem reichen New Yorker Chinesen namens Xia Jiancheng reist, welcher beschlossen hat, in China dafür zu sorgen, daß den Schlepperorganisationen ein für alle Mal das Handwerk gelegt wird. Hiermit endet die Schilderung des Schicksals der Auslandschinesen, die Thematik wendet sich den Aktionen um eine Organisation der Boykottbewegung gegen die Verlängerung des amerikanischen Einwanderungsverbotes der USA für Chinesen sowie verschiedenen Reformanliegen zu. Im Mittelpunkt dieser Szenen steht Xia Jiancheng, der auf öffentlichen Veranstaltungen in Shanghai Stimmung unter den Kaufleuten macht, sich dem Boykott gegen die Einfuhr amerikanischer Waren anzuschließen und darüber hinaus Frau Chen sowie eine Gruppe von aufgeklärten Frauen in ihrem Anliegen unterstützt, Lehranstalten einzurichten. Abgesehen von vereinzelten Erfolgen in Shanghai gelingt es jedoch nicht, eine größere Anhängerschaft auch in den übrigen Provinzen zu mobilisieren, so daß die Gruppe um Xia Jiancheng am Ende beschließt, auf die utopische »Schneckeninsel« auszuwandern, um dort eine ideale Zivilisation zu gründen. Hatte Welt des Goldes durchaus noch einen romanhaften Handlungsrahmen aufzuweisen, so tritt dieser in einer Reihe von weiteren Werken, die sich weit stärker noch dem Boykottanliegen gegen die 1904 von der US-Regierung mit den Qing angestrengten Verhandlungen zur Verlängerung des Einwanderungsverbots widmeten, nahezu vollständig in den Hintergrund. In kaum noch als Erzählwerke zu identifizierenden Büchern wie den Seltsamen Gesprächen über den Boykott (Ju yue qitan, 1906 in acht Kapiteln) oder den Aufzeichnungen über den Boykott (Dizhi jin yue ji) finden sich seitenlange Redepassagen, die wie Mitschnitte öffentlicher Vortragsveranstaltungen zu diesem Thema wirken, immerhin aber die 1282
Der Roman liegt ebenfalls in einer Ausgabe der Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas vor.
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konkrete Politisierung der Probleme der Auslandschinesen kennzeichnen, wie sie zuvor in Werken wie der Bitteren Gesellschaft anschaulich aufgezeigt worden waren.
4.4 Die Romanliteratur zur Emanzipation der Frauen Das Bild der chinesischen Erzählliteratur zum Beginn des 20. Jahrhunderts bliebe unvollständig ohne den wichtigen Komplex zur Lage der Frauen. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der chinesischen Literatur nutzte man in der Damenwelt die Möglichkeiten des Romans, um auf die eigene Situation aufmerksam zu machen. Sicher hatten auch davor immer wieder Frauen mit ihrem Werk wertvolle Beiträge zur Literatur des Landes geliefert, doch hatten sie sich dabei vor allem der angesehenen Genres innerhalb der Dichtkunst bedient. Jetzt jedoch, in den zehn Jahren nach dem Boxeraufstand, traten sie mit Werken der Erzählkunst an die Öffentlichkeit, um ihren Forderungen nach der Überlassung der »zweiten Hälfte des Himmels« vehement Ausdruck zu verleihen und den Schriftstellerinnen der kommenden Jahrzehnte neue Wege aufzuzeigen. Die in den Büchern vorgebrachten Anliegen konzentrierten sich vor allem auf drei Bereiche, die insgesamt auf eine vollständige Gleichstellung mit den Männern zielten: Das Recht, sich wie ein normaler Mensch bewegen zu dürfen und nicht mit verkrüppelten, eingebundenen Füßen umherlaufen zu müssen; das Recht auf Bildung verbunden mit der Forderung, sich beruflich in der Gesellschaft betätigen zu dürfen sowie zum Schluß der Anspruch auf einen grundlegenden Wandel der Familienverhältnisse, dokumentiert vor allem in der freien Partnerwahl. Das Bedürfnis nach Veränderung der Zustände war aufgrund der allgemeinen Infragestellung überlieferter Werte und Sitten derart stark, daß selbst dort, wo nicht die Frauen selbst sich »ihrer« Themen annahmen, vollkommen neue Leitbilder des Weiblichen und Männlichen entworfen wurden. Dies war neu und für weite Kreise auch fremd anmutend vor allem deshalb, weil es im eigenen Land kaum Vorbilder gab, woran man sich bezüglich des eingeforderten Wandels orientieren konnte und folglich gezwungen war, bei den Idealfiguren starke Anleihen im Abendland zu machen, das auf eine reiche literarische Tradition zur Frauenfrage zurückblicken konnte. Was war die Ursache für die gesellschaftlichen Tendenzen und Geisteshaltungen, die das Leben der Frauen derart stark belasteten? Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, daß in der sozialen Verfassung Chinas seit jeher ein hierarchisches Denken dominierte, welches sich auch auf den Umgang der Geschlechter miteinander übertrug. Zwar gibt es, wie wir seit den Arbeiten Marcel Granets (Catégories matrimoniales et relations de proximités dans la Chine ancienne, 1939) sowie Claude Lévi-Strauss (Les structures élémentaires de la parente, 1949) wissen, Hinweise auf Matriarchatsvorstellungen in Zeiten frühester chinesischer Geschichte, doch entziehen sich diese Epochen aufgrund des Mangels konkreter schriftlicher Quellen weitgehend der historischen Nachprüfbarkeit, so daß ihnen allenfalls der
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Status utopischer Vorstellungen zukommt, wie wir sie zum Beginn zahlreicher anderer Kulturen auch finden.1283 Auch das ursprünglich als Modell zur Wahrnehmung der Welt angelegte Konzept von yin und yang, mit dem zunächst die harmonische Vereinigung von Phänomenen wie Feuchtigkeit und Trockenheit, Helligkeit und Dunkelheit, Kälte und Hitze, Winter und Sommer etc. angedeutet worden war, gewann durch die Befrachtung mit Gegensätzen wie Ruhe-Bewegung, Weichheit-Härte, Männliches-Weibliches sowie deren Übertragung auf den Kosmos ebenso wie die Gesellschaft einen dualistischen Charakter, in dem die Dominanz des männlichen yin über das weibliche yang faßbar gemacht wurde.1284 Nicht anders verhält es sich mit den altchinesischen Mythen, wo dieser Antagonismus ebenfalls zum Ausdruck kommt. Neben den vielen männlichen Gottheiten, die als Kulturstifter oder Erfinder zentraler Bereiche des menschlichen Lebens wie Ackerbau oder Medizin auftreten, findet sich nur eine geringe Zahl weiblicher Göttergestalten, denen als Herrscherinnen etwa über das Wasser oder das Wetter untergeordnete Bereiche des bereits Gegebenen zugeordnet sind. Lediglich die beiden Göttinnen Nüwa, welche das Universum vor dem Einsturz rettete und die Menschen aus Erde schuf sowie Xiwangmu, die über die Unsterblichkeit befand, ragen als gegenteilige Konzepte heraus. Die hier notwendigerweise nur recht knapp und schematisch vorgetragenen Strukturen und Erscheinungen können sich wohlgemerkt nur auf die gesellschaftlich dominierenden Schichten beziehen, über deren Verhältnisse wir aufgrund der Quellen besser informiert sind und in denen die aufkommenden feudalistischen Denkweisen voll zum Tragen kamen. Ausgeklammert bleiben muß die Lage der Frauen in der gesamten seit jeher riesigen Landbevölkerung Chinas, wo sich die Verhältnisse größtenteils ganz anders dargestellt haben werden.1285 Wie wir weiter oben in dieser Übersicht nicht zuletzt mit Blick auf literarische Bearbeitungen und Dichterinnenschicksale gesehen haben, waren kritische Werke zur Lage der Frau auch dort, wo diese selbst als Verfasserinnen auftraten, nur in geringer Zahl vorhanden. Erst im Strom der allgemeinen Gesellschaftskritik an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts nahm man sich verstärkt dieser Problematik an. Die Formen, mit denen man dem Protest Ausdruck verlieh, glichen denen der übrigen Reformbewegung jener Zeit. Parallel zu den politischen Vereinigungen entstanden solche, die sich schwerpunktmäßig mit den Frauenfragen befaßten, wobei vor allem die Problematik der eingebundenen Füße im Mittelpunkt stand. Für uns interessanter sind die zahlreichen Presseorgane, mit denen den Frauen ein 1283 1284 1285
Vgl. KRISTEVA: Die Chinesin, S. 13. Vgl. GUDULA LINCK: Frau und Familie in China, München: C.H. Beck 1988, S. 30f. Vgl. dazu den Abschnitt ebd., S. 50-55. S.a. HEMMEL V. / P. SINDBJERG: Women in Rural China. Policy Towards Women Before and After the Cultural Revolution, London: 1984 sowie WOLF, M. / R. WITKE: Women in Chinese Society, Stanford/Cal.: Stanford UP 1978.
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öffentliches Forum für ihre Anliegen geschaffen wurde. Die seit 1900 erscheinenden Zeitschriften dieser feministischen Propaganda wurden in der Regel ausschließlich von Frauen aufgemacht und herausgegeben, darunter Blätter wie die »Frauenzeitschrift« (Nübao, seit 1902) bzw. die kurz darauf gegründete »Monatszeitschrift für Frauen« (Nüjie yuekan) oder die »Frauenzeitung für Peking« (Beijing nübao, seit 1905). Die Ziele, welche man sich in der aufkommenden Frauenbewegung gesetzt hatte, reichten neben den ureigenen chinesischen Anliegen wie dem Widerstand gegen die körperliche Verstümmelung, über die Bildungsfrage und eher reformerischen Anliegen wie sie das oft zitierte Beispiel der Madame Roland (1754– 1793), Führerin der gemäßigten Republikanerpartei der Girondisten, repräsentierte bis hin zu gewaltsamen Aktionen, für die die russische Zarenattentäterin Sofia Perowskaja (1853–1881) das willkommene Vorbild darstellte.1286 Überhaupt war es schwer, die in einem fiktiven Erzählrahmen vorgetragenen Wünsche nach Veränderungen in Familie, Staat und Gesellschaft noch von dem konkreten Handeln und der politischen Aktion zu trennen. Die wohl prominenteste Figur in der frühen chinesischen Emanzipationsbewegung dürfte Qiu Jin (1875–1907) gewesen sein. Da ihr Lebensweg zur Schriftstellerin und Revolutionärin in der Forschung mit am besten dokumentiert ist, wollen wir ihn hier kurz beispielhaft skizzieren.1287 Kindheit und Jugend der aus Südchina stammenden Qiu Jin sind noch unauffällig, obwohl man sie neben den für die Mädchenerziehung vorgesehen Werken auch mit dem klassischen chinesischen Bildungsgut konfronierte. Daß gewisse liberale Tendenzen der Familie nicht ganz fremd waren, belegt der Umstand, daß Qiu Jin nach ihrer Übersiedlung in die Nähe von Shaoxing reiten lernte und in verschiedenen Kriegskünsten unterwiesen wurde. Wie einen Schock muß sie daher ihre 1896 erfolgte Verheiratung mit einem wohlhabenden und von Hause aus auf konservative Gesinnung und Traditionsbewußtsein bedachten Kaufmann empfunden haben, dessen Clan in Verbindung mit Zeng Guofan (1811–1872) stand, welcher einst maßgeblich an der Niederwerfung der Taiping-Rebellen beteiligt gewesen war. Mit ihrem Gatten, der dort eine neue Stelle antrat, begab sich die junge Mutter zum Jahrhundertbeginn nach Peking, wo die zahlreichen Berichte über Männer und Frauen, die sich zum Studium nach Übersee begeben hatten, in ihr den Entschluß reifen ließen, ihrem Schicksal eine Wende zu geben. Vor welchem Hintergrund sie ihre folgende Entscheidung 1286
1287
Vgl. zum Thema der Frauenbewegung jener Zeit ausführlich MICHAEL FREUDENBERG: Die Frauenbewegung in China am Ende der Qingdynastie, Bochum: Brockmeyer 1985. S. dazu auch die eingehende Untersuchung von IRMY SCHWEIGER: »Sinologie und Frauenforschung. Methodische Bemerkungen zu Freudenbergs Frauenbewegung« in: Orientierungen 1/92, S. 53–64. Eine ausführliche Biographie findet sich u.a. bei GIPOULON: Qiu Jin. Die Steine des Vogels Jingwei, München: Frauenoffensive 1977, S. 114–140.
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getroffen haben mag, darüber gibt eine Passage aus dem von Qiu Jin selbst verfaßten tanci Auskunft, in der eine Freundin der Protagonistin Jurui ihren Kummer äußert: »Welch ein Jammer. Die Frauen gelten gar nicht als menschliche Wesen. Wenn ein Mädchen geboren wird, so spricht man von einem Unglück, weil sie später einer anderen Familie angehören wird. [...] Man geht sogar so weit, zu sagen, daß es für ein Mädchen ein schlechtes Omen ist, wenn es Geistesgaben besitzt. Aber sind wir denn, wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, wirklich so viel weniger wert? Wir verfügen über die gleichen Fähigkeiten wie die Männer, und wenn wir lernen dürften und hinausgehen könnten, um Geld zu verdienen, könnten wir auch unsere Eltern ernähren. Darin und in nichts anderem liegt nämlich die Ursache unseres Unglücks: Da wir unser Leben in unseren Häusern eingesperrt verbringen müssen, haben wir nicht die Möglichkeit, Geld zu verdienen. [...] Ich fühle mich oft dazu bereit, eine Laufbahn einzuschlagen, aber das ist unmöglich. Ich verfluche das Schicksal, das mich als Frau hat auf die Welt kommen lassen. [...] Warum lassen wir uns darauf ein, als unterwürfige 1288 Weibchen zu leben? Ich bin entrüstet über so viel Ungerechtigkeit.«
Qiu Jin brach schließlich mit der Familie und reiste 1904 zum Studium nach Japan. Dort beteiligte sie sich nicht nur an den Aktivitäten der revolutionären chinesischen Studentengemeinde, sondern begann auch mit ihrer schriftstellerischen Arbeit, in deren Folge neben zahlreichen Gedichten und Artikeln auch das in Form eines tanci abgefaßte und aufgrund des frühen Todes der Verfasserin unvollendet gebliebene Werk von den Steinen des Vogels Jingwei (Jingweishi) entstand. Als die japanische Regierung nach Absprachen mit dem mandschurischen Hof in Peking Ende 1905 beschloß, die Freiheiten der chinesischen Studenten im Land einzuschränken, begab sich Qiu Jin zu Beginn des folgenden Jahres zurück in ihr Heimatland. Sie arbeitete zunächst für einige Zeit als Lehrerin an einer Mädchenschule, schloß sich aber bald in Shanghai der Restaurationsgesellschaft (Guangfuhui) sowie der Revolutionären Allianz Sun Yat-sens an und nahm mit der Vorbereitung von Aufständen in Hu'nan und Jiangxi ihre konkrete revolutionäre Arbeit auf.1289 Nach einer selbstmörderischen Aktion im Juli 1907, bei der der Provinzgouverneur von Anhui ums Leben kam, wurde Qiu Jin als eine der Drahtzieherinnen verhaftet und noch im gleichen Monat in Shaoxing enthauptet. Diese kurze Skizze mag verdeutlichen, welche Wirkung Qiu Jin vor allem angesichts ihrer politischen Tätigkeit und den tragischen Folgen daraus, die ihr alsbald den Status der ersten chinesischen Märtyrerin in der Neuzeit einbrachten, 1288 1289
Jingweishi, Buch IV, s. ebd., S. 85f. Die Restaurationsgesellschaft wurde 1904 von einem Vetter Qiu Jins ins Leben gerufen. Die Gesellschaft spielte auch nach dem Zusammenschluß der meisten revolutionären Vereinigungen zur Revolutionären Allianz Sun Yat-sens bis 1911 eine Sonderrolle.
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zumindest auf die radikaleren Kreise in der Frauenbewegung ausübte. Ihr zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenes Werk hingegen, in dessen Mittelpunkt die Steine des Vogels Jingwei stehen, konnte seine ganze Wirkkraft erst nach dem Erscheinen Jahrzehnte später entfalten. Der Titel dieses tanci geht zurück auf eine Legende, derzufolge sich die im Ostmeer ertrunkene Tochter des mythischen Kaisers Yandi nach ihrem Tode in eben den Vogel Jingwei verwandelte und damit begann, das Meer trockenzulegen, indem sie es mit herbeigeholten Steinen auffüllte. Als Redewendung grimmige Entschlossenheit beim Verfolgen eines Zieles versinnbildlichend, besteht die Legende bis heute in der chinesischen Sprache fort. Zum Ende der Qing gebrauchte man die Redewendung häufig als Metapher für die entschlossenen Anstrengungen vor allem jener Frauen zu handeln, die mit allen Mitteln um ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpften. Der Begriff taucht unabhängig vom Werk Qiu Jins in einer Gedichtzeile des in der Folge noch zu behandelnden Romans Blumen in der Frauenhölle (Nüyuhua) aus dem Jahre 1904 auf und ist auch im Titel des 1906 erschienenen, mit nur zehn Kapiteln aber unvollendet gebliebenen Erzählwerkes Erzählung vom Vogel Jingwei, der das Meer auffüllt (Jingqin tianhaiji) aus der Feder einer gewissen Qin Meizi vorhanden. Im Mittelpunkt dieses um die Mitte des 17. Jahrhunderts spielenden historischen Werkes über den Widerstand gegen die Bedrohung durch die Mandschuren steht mit Qin Liangyu (1574–1648) eine Frau, die wegen ihrer Treue zur Ming-Dynastie berühmt geworden ist. Qiu Jin hingegen zeichnete in ihrem tanci anhand der Geschichte der Jurui, die einem reichen Mann in die Ehe versprochen wird und sich nach langen Gesprächen mit ihren Freundinnen zur Flucht nach Japan entscheidet wichtige Stationen ihres eigenen Lebens nach. Wenden wir uns nach diesen dem besseren Verständnis dienenden Vorbemerkungen mit der literarischen Reflexion der Frauenfrage endlich dem eigentlichen Thema dieses Abschnitts zu. Auch hier kann aufgrund der schieren Zahl der Erzähl- und Romanwerke, die zu diesem Komplex während des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts erschien1290, nur ein Überblick über die repräsentativsten Vertreter gegeben werden.1291 Unberücksichtigt bleiben müssen ebenfalls die vielen Bearbeitungen durch andere literarische Genres, wie etwa die beiden tanciDichtungen Eine Heldin aus Frankreich (Faguo nü yingxiong, 1904) über Madame 1290
1291
Das Handbuch Annotierter Gesamtkatalog zu der volkstümlichen Erzählkunst Chinas (Zhongguo tongsu xiaoshuo zongmu tiyao), veröffentlicht von einem Herausgeberkollektiv der Akademie für Sozialwissenschaften in Jiangsu, Peking: Zhongguo wenlian 1990, S. 1342 führt dort alleine unter dem Stichwort »Frau« (nü) zwanzig Titel zur Frauenproblematik in der Zeit des Jahrhundertbeginns auf. Vgl. für weitere Werke zum Thema vor allem Kapitel neun »Das Problem zur Befreiung der Frau« bei A YING: Geschichte des Romans der späten Qing-Zeit, S. 120–133 sowie GIPOULON: Qiu Jin, S. 187ff.
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Roland und Das Licht der Zivilisation für die Frau des 20. Jahrhunderts (Ershi shijie nüjie wenming deng, 1910) bzw. Dramenbearbeitungen mit Titeln wie »Der Schmuckgürtel der Viktoria« (Weiduoliya baodaiyuan), »Das China der Frau« (Nü Zhonghua) etc. Wie weiter oben bereits hervorgehoben und auch an den Titeln der soeben genannten Werke ersichtlich, nahm man in der zeitgenössischen Literatur thematisch des öfteren bei historischen Frauengestalten der abendländischen Geschichte Anleihe. Gerade Madame Roland war seit der Übersetzung entsprechender biographischer Werke über die französische Suffragette durch den Japaner Tsubouchi Shooyoo im Jahre 1886 sowie der darauf fußenden Übertragung durch Liang Qichao eineinhalb Jahrzehnte später ein fester Begriff in der neueren Erzählliteratur.1292 Mit der russischen Anarchistin Sofia Perowskaja steht jedoch eine weit radikalere Kämpferin im Mittelpunkt eines frühen Romanwerks über die Lage der Frauen. Das zwar nur fünf Kapitel lange und unvollendet gebliebene, insgesamt aber recht umfangreiche Werk erschien im Jahre 1902/1903 unter dem Titel Eine Heldin aus Osteuropa (Dong'ou nü haojie).1293 Die Romanheldin Perowskaja, im Werk selbst nur bei ihrem Vornamen »Sofia« genannt, hatte als führendes Mitglied der »Narodnaja Wolja« am 1. März 1881 maßgeblich an dem erfolgreichen Attentat gegen Zar Alexander II. mitgewirkt und diente einer Reihe von chinesischen Kämpferinnen ebenso als Vorbild wie als Namensgeberin für literarische Gestalten.1294 Im Gedenken an die Russin hatte sich die, der Revolutionären Allianz angehörende Zhang Mojun (1883–1965), die 1911 die Stadt Suzhou gemeinsam mit dem Vater Zhang Tongdian in die Hände der Partei Sun Yat-sens überführte, den Namen Sophia M.K. Chang zugelegt, und noch die Schriftstellerin Ding Ling (1904–1986) hatte wohl nicht zufällig für die Bezeichnung der Heldin in einem ihrer bekanntesten Bücher Das Tagebuch der Sophia (Suofei nüshi de riji, 1928) eben diesen geläufigen Frauennamen gewählt.1295 Hinter dem Pseudonym »Dame im Federkleid aus dem Gebiet südlich der fünf Hügelketten« (Lingnan yuyi nüshi) der Verfasserin von Heldin aus Osteuropa könnte sich eine Dame namens Zhang Zhujun aus der Provinz Guangdong verbergen. Vermutlich bediente sich die Verfasserin in dem biographischen Roman, zu dessen Inhalt ein Einstieg mittels der 1292
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Shooyoos Übersetzung fußte auf einer 1860 von PHILIP und GRACE WHARTON unter dem Titel The Queens of Society vorgelegten Biographiensammlung. Erschienen eben 1902/1903 als Serie in der Zeitschrift »Neue Erzählkunst« und hier bearbeitet nach dem Abdruck in A YING: Auswahlsammlung zur Literatur der späten Qing, Bd. 1, S. 83–166. Zum Schicksal der Perowskaja vgl. die biographischen Schilderungen ihrer Mitkämpferin VERA FIGNER: Nacht über Rußland. Lebenserinnerungen einer russischen Revolutionärin, übersetzt aus dem Russischen von LILLY HIRSCHFELD und REINHOLD VON WALTER, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, insbesondere S. 125–132. Deutsch erschienen in der Übersetzung durch den Arbeitskreis Moderne Chinesische Literatur am Ostasiatischen Seminar der FU Berlin, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980.
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Problematik der im Ausland studierenden Chinesen geschaffen wird, entsprechender Aufzeichnungen aus der Feder eines gewissen Luo Pu, die dieser während seines Studiums in Übersee anfertigte. Der Roman hebt an mit der Schilderung vom Los der jungen Chinesin Hua Mingqing, die nach ihrer übernatürlichen Geburt (die leibliche Mutter zählt bereits siebzig Jahre) ausgesetzt und durch eine zufällig in der Nähe weilende Amerikanerin gerettet wird. Mingqing wächst in den Vereinigten Staaten auf und begibt sich nach dem erlangten Schulabschluß im Jahre 1873 in die Schweiz, um ein Philosophiestudium zu absolvieren. Alsbald gelangt sie dort in Kontakt mit einer Gruppe junger russischer Studenten. Eines Tages nun, Mingqing hat sich soeben in die Lektüre von Rousseaus Gesellschaftsvertrag vertieft, erhält sie überraschenden Besuch von ihrer Kommilitonin Emi, die gekommen ist, um Abschied zu nehmen, liegen doch zwingende Gründe vor, die die Rückkehr der jungen Russin in ihre Heimat notwendig machen. Emi läßt gegenüber Mingqing durchblicken, daß sie einer verschworenen Gemeinschaft gegen das zaristische Unterdrückersystem angehört. Die folgende Schilderung der Gründe für die Flucht Emis und ihrer Genossen ins Ausland erhöht die Brisanz des mit der Thematik um die Anarchistin Perowskaja ohnehin reichlich Sprengstoff bergenden Romans, lassen sich die dargestellten Verhältnisse doch ohne weiteres auch auf das spät Qing-zeitliche China übertragen und regen zur Nachahmung an. Wie man zudem in einem dem zweiten Kapitel angefügten Kommentar erfährt, sollen mit Sofia Perowskaja, einer unerschrockenen Anarchistin aus dem Adelsgeschlecht, vor allem die fragwürdigen Reformkräfte Chinas bloßgestellt werden, die im Schutze der Konzessionsgebiete leere Reden schwingen und sich einem ausschweifenden Leben hingeben. Doch zurück zum Roman. Auf die Frage Mingqings nach der Ursache für die überstürzte Abreise der Freundin antwortet diese folgendermaßen: »[...] Im zaristischen Rußland herrscht ein berühmt berüchtigtes und dabei durch und durch unzivilisiertes Despotentum, das sich mit viel Prunk und Pomp umgibt. An der Spitze steht ein affektierter Schwächling, der sich Zar aller Russen nennt und für sich beansprucht, Erster unter dem Himmel zu sein, dessen Heiligkeit angeblich unverletzlich ist. Bei aller Hybris, die diesem Anspruch gemessen an den allgemeinen menschlichen Grundsätzen sowie der Gerechtigkeit innewohnt, gibt es auch kaum jemanden, der ihm wahrhaftige Hochachtung entgegenbrächte, und als einzelne Erscheinung für sich wäre der Zar als ausstaffierte Marionette gerade noch hinnehmbar. Das Üble ist nur, daß sich in seiner Umgebung jenes barbarische und sittenlose Adelsgezücht aufhält, das hochmütig auf die Bevölkerung herabblickt, die gewöhnlichen Menschen wie Sklaven behandelt, mit denen es nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Sie machen uns für alles taub, legen uns Fesseln an wo sie nur können, pressen das Blut aus unseren Adern und vergiften unsere Herzen. Unzählige Menschen sind ihrer Herrschaft zum Opfer gefallen, die meisten vegetieren in Verhältnissen, die weder zum Leben noch zum Sterben reichen. Doch gab es zahlreiche junge Menschen
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT im Land, die ihre Augen und Ohren vor den Verhältnissen nicht mehr länger verschließen wollten. Nach ihren betroffenen Klagen über die Ungerechtigkeit der Welt und die Leiden der Menschen beschlossen sie, die Massen zu retten. Sie verbreiteten ihre Ansichten unter der intellektuellen Elite des Landes, und 1296 Tschernyunter dem Einfluß der Worte und Taten von Vorreitern wie Herzen, 1297 1298 und Bakunin gründeten sie eine aktive Volkspartei. Ich habe schewski dir die Hintergründe dazu in der Vergangenheit bereits geschildert. Vor dreizehn Jahren nun, als die Regierung sowie die Volksschädlinge in ihrer Umgebung sahen, wie die Mitglieder unserer Partei sich allerorts unter das Volk mischten, um propagandistisch auf die Menschen einzuwirken und bemerkten, daß unsere gemeinsame Sache zu gelingen drohte, da verhängten diese Hunde aus Furcht um ihre eigene Existenz ein Versammlungs- und Redeverbot gegen uns. Man schikanierte uns wo man nur konnte, nahm offene Verhaftungen und geheime Untersuchungen vor und beraubte uns unserer vom Himmel garantierten Frei1299 heit.«
Im weiteren schildert Emi, wie die Mitglieder ihrer Partei aufgrund der angeordneten Säuberungen nach und nach ins Ausland flüchteten und sich dort erneut in anarchistischen Zirkeln zusammenschlossen. Als Grund für ihren überstürzten Aufbruch nennt sie die enge diplomatische Zusammenarbeit zwischen dem Zarenreich und der Schweiz, die zur Ausweisung der russischen Studenten zu führen droht. Doch anstatt zu verzweifeln, münzt sie den bevorstehenden Verlust der neuen Heimat in der Fremde in neuen Tatendrang um, wobei sie auch hier wiederum jedes Wort auf die Lage in China selbst anwenden ließe. »[...] Die Literatur mag zwar aufleben in diesen Tagen, mehr und mehr setzt sich das Verständnis über die Wahrheit durch, doch leider sind die Fortschritte alleine auf das Wissen und das Reden beschränkt, bleiben uns für ein konkretes Handeln weiterhin die Hände gebunden. Diese äußerliche Zivilisiertheit hilft denn auch nur wenig, sie bewirkt lediglich, daß unser Gehör taub, die Augen blind werden. Ganz gleich ob auf dem Gebiet der gegenwärtigen Politik, der Moral, der Religion oder der allgemeinen Lebensbedingungen – in allen Bereichen, wo es um die Belange der großen Allgemeinheit geht, herrschen Verhältnisse, die den Grundsätzen der Großen Gleichheit zuwiderlaufen. [...] Wenn wir 1296
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Herzen, Alexander Iwanowitsch (1812–1870), revolutionärer Philosoph und Schriftsteller, einer der Vorläufer der »Narodnaja Wolja«. Tschernyschewski, Nikolai Gawrilowitsch (1828–1889), russischer Philosoph, Schriftsteller und Publizist. Bakunin, Michail Alexandrowitsch (1814–1876), einer der Stammväter des russischen Anarchismus. Übte mit seinem Buch Staatlichkeit und Anarchie entscheidenden Einfluß auf die Volkstümlerbewegung aus. Die chinesische Textvorlage ist hier überaus verwirrend, da die Trennung zwischen den der vermeintlichen Lautung entsprechenden Namen mitunter an der falschen Stelle vorgenommen wird. Heldin aus Osteuropa, Kap. 1, S. 88.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie angesichts der zahllosen Erscheinungen, die den natürlichen Gesetzen des Himmels widersprechen, nicht mit allen Mitteln versuchen, die alte Ordnung vollständig zu zerstören, dann wird es uns nicht gelingen, eine echte Zivilisation von Weltrang zu schaffen. Wir haben uns daher entschlossen, die Mehrheit der Menschen in den Kampf gegen die Minderheit zu führen, um allen das Recht auf Gleichheit und Freiheit zu sichern. Wo man uns bisher mit unseren Bitten und Forderungen abwies, werden wir jetzt vor einem Blutvergießen nicht mehr zurückschrecken. Ob mit gesetzlichen Mitteln, mit Härte oder Nachgiebigkeit, ob auf offene oder verdeckte Weise, mit friedlichen oder kriegerischen Mitteln – wir werden unser Vorgehen den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen wissen. Selbst wenn wir scheitern, werden uns andere folgen, was alleine zählt, ist das 1300 Ziel. [...]«
Mit diesen Worten nimmt Emi Abschied von Mingqing, um mit Freunden zunächst nach Paris zu reisen. Zwar verspricht Mingqing noch, ihre Freundin am nächsten Tag zum Zug zu begleiten, doch als sie am Bahnhof eintrifft, muß sie erfahren, daß sich aufgrund eines Telegramms Änderungen ergeben haben und die junge Russin bereits mit einer früheren Verbindung direkt zurück in die Heimat aufgebrochen ist. Damit verschwindet Emi aus dem Blickfeld des Lesers und wird erst zum Schluß des Romanfragments als führende Aktivistin in der russischen Anarchistenbewegung wieder auftauchen. Von einer weiteren Kommilitonin erfährt Mingqing zumindest noch genaueres über die Gründe für die überstürzte Abreise: Ausschlaggebend war demnach die Nachricht von der Verhaftung der Parteigenossin Perowskaja, die eine enge Freundin Emis ist. Damit hat die junge Chinesin in ihrer Rolle als Impulsgeberin im ersten Romankapitel ausgedient, und die Verfasserin wendet sich ihrer eigentlichen Hauptfigur zu. In einiger Ausführlichkeit erfährt der Leser nun von den Hintergründen, die zur Festnahme der Titelheldin geführt haben. Wir wollen uns hier auf den eigentlichen Handlungsrahmen beschränken, ist der Roman doch zu weiten Teilen immer wieder von längeren Monologen durchzogen, in denen die Ideologie der Anarchistenbewegung, welche inhaltlich mit der Betonung von dem Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit weitgehend mit den oben zitierten Ansichten der Protagonistin Emi übereinstimmt, ausführlich behandelt wird. Man erhält nun Einblicke in das Leben der Sofia während ihres Aufenthalts in dem Gouvernement von Woronesh zur Mitte der siebziger Jahre. Es war dort, wo sie engagiert die politische Arbeit zur Aufklärung der Bauern und Leibeigenen vorantrieb und sich in der Folge gemeinsam mit einhundertdreiundneunzig anderen Genossen einer gerichtlichen Verfolgung ausgesetzt sah (1877). Der Ton ihrer im Roman angeführten Reden auf den einberufenen Versammlungen ist weit versöhnlicher als noch in programmatischen Darstellungen der Emi zu Romanbeginn. Hier wird die historische Gestalt Perowskajas gut faßbar, die, wie Vera Figner in ihren Erinnerungen schildert, sich mit 1300
Ebd., S. 90.
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viel Gefühl und voller Anteilnahme den Belangen der Bauern zugewandt hatte. Sofias Ziel war es in dieser Phase, so der Eindruck, den die Dialoge des Romans vermitteln, unter den Bauern das Verständnis für ihre Lage zu fördern. Mit der Frage, warum die Menschen hungern, leitet sie nach und nach zur Problematik des Landbesitzes über. Nicht mit Gewalt sei den Grundbesitzern ihr Boden zu entreißen, so Sofia, sondern Geld müsse man sammeln, um von den Reichen Grund und Boden zu erwerben und in die Hände jener zu überführen, die ihn bearbeiteten. Doch gebe es nicht bereits eine Institution, die für sich beanspruche, die Belange der Menschen zu leiten. Sicher, da sei die Regierung, aber die kümmere sich um nichts. Man muß um seine Recht kämpfen. Verkleidet, um nicht von Spitzeln erkannt zu werden, begibt sich Sofia innerhalb des Gouvernements von einer Versammlung zur anderen, um den Menschen ihre Auffassungen nahezubringen. Dennoch verliert sie ihre Freiheit, als ein Polizeihauptmann Sofia während eines Streiks nach ihrem Passierschein fragt und ihre wahre Identität entdeckt. Sofia Perowskaja wird verhört und ins Gefängnis gebracht, um schließlich von einem Gericht wegen des Besitzes verbotener Schriften (man findet bei ihr ein Werk Schellings zum Idealismus) und der Verbreitung von Irrlehren zu einem Jahr Haft verurteilt zu werden. Sofia ist noch nicht lange im Gefängnis, als sie eines Tages Besuch von einem Jugendfreund namens Andrej erhält. In einem längeren Exkurs erfährt der Leser, wie in Andrej nach seinem Bewußtwerden über die traurige Lage der russischen Bevölkerung der Entschluß gereift ist, sich der Anarchistenbewegung in St. Petersburg anzuschließen. Als er nach seiner Ankunft dort von der Verhaftung Sofias in Woronesh erfährt, begibt er sich als Bote der Partei dorthin, um der Freundin zu helfen. Sein Plan, Sofia zu befreien, wird von dieser jedoch abgelehnt. Unbeeindruckt davon spielen eine Reihe von Genossen Möglichkeiten einer Befreiungsaktion durch, verwerfen aber schließlich ihre Ideen zur Anzettelung eines allgemeinen Aufstandes in dem Gouvernement mit Blick auf die Gefahr für ihre Anführerin, zumal Sofia selbst nach einem weiteren Kontakt mit Andrej ihren Beschluß bekräftigt hat, die Zeit im Gefängnis durchzustehen. Die Ereignisse spitzen sich allerdings zu, als Andrej bei einem folgenden Besuch bestürzt feststellen muß, daß Sofia offenbar verlegt worden ist. Die Genossen befürchten, daß man die Anarchistin im Geheimen aus dem Weg schaffen will und lassen nichts unversucht, um ihren neuen Aufenthaltsort herauszufinden. Bald stellt man fest, daß Sofia nur innerhalb des Gefängnisses verlegt worden ist. Der Roman endet mit zwei Szenen, in denen die mittlerweile aus der Schweiz zurückgekehrte Emi ein paar erfolgreich aus dem Gefängnis befreite Anarchistinnen vorführt und sodann eine mysteriöse Rednerin, hinter der sich vermutlich tatsächlich die Perowskaja verbirgt, bei einer Versammlung der Näherinnen Aufmerksamkeit erregt. Wie wir aus zeitgenössischen Kommentaren der chinesischen Presse wissen, erregte Die Heldin aus Osteuropa erhebliches Aufsehen unter der Leserschaft, stand mit der Protagonistin doch eine historisch faßbare Gestalt im Mittelpunkt, die mit ihrem rigorosen Eintreten für die Werte von Freiheit, Gleichheit und Ge-
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rechtigkeit einen hohen Preis gezahlt hatte und sich dabei weit über autochthone chinesische Fiktionsgestalten wie Hua Mulan hinaushob.1301 Anders also noch Die Heldin aus Osteuropa spielt der folgende hier vorzustellende Roman vor einem rein chinesischen Hintergrund. Blumen in der Frauenhölle (Nüyuhua) ist zwölf Kapitel lang und erschien 1904 kurze Zeit vor oder nach dem Tod seiner vermutlich aus Hangzhou stammenden Verfasserin Wang Miaoru (geb. um 1877).1302 Das Werk ist insofern bemerkenswert, als darin die Möglichkeiten und Grenzen der Frauenbewegung aufgezeigt werden, die sich, wenn ihre Vertreterinnen extreme Positionen wie den Männermord verkünden, am Ende selbst in Frage stellt. Blumen in der Frauenhölle ist in einer sehr kompakten, in sich geschlossenen Form abgefaßt und beeindruckt durch seine schnörkellose Handlungsführung. Zu Beginn des ersten Kapitels findet sich ein Gedicht, in dem die Thematik des Jingwei-Vogels aufgegriffen wird und das mit Hinweis auf den Bewußtwerdungsprozeß der Frauen in einen direkten Bezug zu der Protagonistin Sha Xuemei gesetzt wird, die aufgrund ihres späteren Gattenmordes den Titel »Höllenfürstin« erhält. Schweres Los voller Kummer und Sorgen der Frauen über zweitausend Jahre hinweg, / Der Vogel Jingwei hat es aufgegeben, das Meer des Kummers mit Steinen zu füllen; wann wird der Schmerz ein Ende haben? Die Blumen der Freiheit sind in Paris gepflanzt, doch immer noch behindern Unterdrückung und Qual das Glück; blutiger Regen und ein frischer Wind haben die Kunde ins zwanzigste Jahrhundert getragen, erst jetzt beginnt man damit, Schriften über die Rechte der Frauen zu Papier zu bringen. [...] Verehrter Leser, schaut man sich dieses Gedicht genauer an, dann erscheint uns sein Verfasser wie ein Kolumbus, der den Frauen eine neue Welt erschließen möchte. Doch als die Verse erschienen, verlachten jene Männer, die ihre Frauen ohnehin nur als Sklaven betrachten, den Verfasser als dumm und verrückt. Wie ging es an, yin und yang durcheinanderzubringen? Von den Rechten der Frauen wollte niemand etwas wissen. Und da auch die Frauen ihr Sklaventum geduldig hinnahmen, erwogen sie die Botschaft des Gedichtes nicht weiter. Soll das etwa 1301
1302
Zur zeitgenössischen Rezeption der Frau aus Osteuropa vgl. die Bemerkungen im Anschluß zu dem betreffenden Eintrag in: Annotierter Gesamtkatalog zu der volkstümlichen Erzählkunst Chinas, S. 849. Der Roman ist auch unter Titeln wie Tränen im roten Frauengemach (Honggui lei) bzw. Gespräche über eine Heldin aus dem Frauengemach (Guige haojie tan) bekannt geworden. Die Bearbeitung erfolgte hier nach einer Ausgabe in der Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas. Dem Roman vorangestellt sind zwei Vorworte aus der Feder einer Frau Ye und einer bei ihrem vollen Namen genannten Frau Yu Peilan.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT bedeuten, daß wir zweihundertmillionen Frauen in China trotz all der Aufrufe zur Revolution niemals den Weg von der Dunkelheit der Hölle ans Licht des Himmels finden werden? [...] Doch die ständige Unterdrückung ließen Wut und Verzweiflung in den Herzen der Menschen aufkommen, ein mächtiger Strom ist angeschwollen, in dem die Sitten und Bräuche der Vergangenheit zu versinken drohen. Das Heldengedicht war zwar zur Zeit seiner Abfassung vollkommen ohne Einfluß, doch innerhalb von zehn Jahren brachte es mit Sha Xuemei eine wahre 1303 Höllenfürstin hervor.
In knappen Worten wird nun die frühe Jugend der Sha Xuemei geschildert, die bis zum Tode der beiden Eltern in behüteten Verhältnissen aufwächst. Da der Vater sie bereits als Kind in der Kampfkunst unterwiesen hat, steht sie als spätere Waise auch nicht ganz mittellos da und verdient sich ihr Brot, indem sie die Kinder des Ortes in den Kampftechniken unterweist. Damit auch ihre geistige Bildung nicht vernachlässigt bleibt, widmet sich Xuemei an den Abenden dem Studium. Ein Traum, in dem sie schuldlos gleich einer Sklavin zum Niederknien vor einer Gruppe Männer gezwungen wird, läßt sie die kommenden Auseinandersetzungen mit dem anderen Geschlecht erahnen. Das Schicksal will es, daß Xuemei noch zu Lebzeiten des Vaters dem Qin Cigui, einem jungen Bakkalaureus aus wohlhabendem Hause, in die Ehe versprochen wurde. Das Wissen, das sich Cigui bei seinen Hauslehrern und im Eigenstudium angeeignet hat, ist freilich ohne viel Nutzen, und da auch der Vater wohl ahnt, daß sein Sohn es mit seinen beschränkten Fähigkeiten nicht zum Gelehrten bringen wird, heißt er ihn eines Tages, seine Bücher fortzulegen und sich den ordentlichen Geschäften des Hauses zu widmen. Damit stößt der Alte jedoch zunächst bei Cigui auf taube Ohren, hat der Junge doch ganz eigene Pläne. Im Stillen dachte Cigui bei sich: »Wenn ich die Geschäfte des Vaters aufnehme, dann werde ich gezwungen sein, mit seinen vielen Freunden in den Teehäusern zu sitzen, in den Lokalen Wein zu trinken und gemeinsam mit ihnen Opium zu rauchen. Das ist nichts für mich, wo ich doch bei dem Anblick jedes Fremden rot werde im Gesicht. Die Menschen im Altertum hatten schon recht, wenn sie sagten, daß der Titel eines Bakkalaureus der erste Schritt zum Kanzler ist. Vielleicht erlange ich schon im kommenden Jahr den Gelehrtenrang eines Magisters, lege im Jahr darauf die Prüfungen vor der Kaiserlichen Studienakademie ab und bin wiederum ein Jahr später Gelehrter in Diensten des Staates. Wer weiß, womöglich 1304 bringe ich es einmal so weit, daß ich meinen Ahnen noch alle Ehre mache.«
Doch der Vater ist mit diesen hochfliegenden Plänen nicht einverstanden, hält sie selbst für den Fall, daß Cigui den einen oder anderen Titel erlangen sollte für 1303 1304
Blumen in der Frauenhölle, Kap. 1, S. 709f. Ebd., Kap. 2, S. 715.
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nutzlos und zwingt den Jungen, sich in das Studium der Gesetzestexte zu vertiefen. Cigui kommt dem Befehl freilich nur sehr halbherzig nach. Die Veränderungen der Zeit mag er nicht akzeptieren, sieht sich vielmehr in der jahrtausendealten Gelehrten- und Beamtentradition, ein Verhaltenszug, der ihm dann nach der Heirat mit Sha Xuemei zum Verhängnis werden wird. Solange der Vater im Hause ist, liest Cigui denn auch die vorgeschriebene Lektüre, geht aber ansonsten seinen eigenen Interessen nach. Es entbrennt schließlich ein offener Konflikt zwischen Jung und Alt, als der Vater eines Tages das Studienbuch Ciguis entdeckt und in Stücke reißt. Der Sohn rächt sich, indem er ein wichtiges amtliches Dokument aus dem Besitz des Vaters vernichtet und damit dessen überraschenden Tod herbeiführt, ärgert sich der Alte doch dermaßen, daß sein Herz plötzlich stillsteht. Befreit von der Last des väterlichen Auftrags bringt Cigui die vorgeschriebene Trauerzeit hinter sich und wendet sich dann seinen persönlichen Anliegen zu. Wieder ganz in Übereinstimmung mit den konfuzianischen Bräuchen kommt ihm in den Sinn, daß es mit dreißig an der Zeit ist, an die Heirat zu denken. Xuemei hat denn auch dem Antrag angesichts des einst noch vom Vater gegebenen Eheversprechens nicht viel entgegenzusetzen und fügt sich zunächst in ihr Schicksal, obgleich ihr die Erscheinung des Bräutigams wenig zusagt. Da sie selber sich mit dem Studium zeitgenössischer Lektüre beschäftigt hat, ringt sie der traditionellen Ausrichtung im Studium des Gatten naturgemäß wenig Gefallen ab, doch betrachtet sie anfangs alles als die Macken eines verschrobenen Bücherwurms. Daß sich hinter Ciguis Konservatismus freilich eine Weltsicht verbirgt, die ihr selber lauter Schranken auferlegt, muß Xuemei spätestens bei der Auseinandersetzung nach dem Besuch bei ihren Freundinnen erfahren, als der Gatte ihr vorhält: »Die Häuser von klassischen Dichtergelehrten wie unsereins sind doch nicht mit den Haushalten der gemeinen Bevölkerung zu vergleichen. Es ist ein Unding, daß eine Frau wie du sich zum ungezwungenen Geplauder außer Haus begibt, anstatt sich daheim ihren Näharbeiten zu widmen. Das habe ich dir schon bei deinen vergangenen Besuchen gesagt. Schreibe dir das für die Zukunft hinter die Ohren. Wie stehe ich denn als Mann da, wenn du wie in diesem Fall mir nichts dir nichts das Heim verläßt, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen? Oder hast du etwa nie davon gelesen, wie es in den Schriften steht: ›Eine Frau verläßt ihre Kammer selbst in zehn Jahren nicht‹. Sind dir vielleicht selbst die Geschlechterregelungen mit den drei Verboten und den sieben Gründen für die 1305 Verstoßung einer Frau unbekannt?«
Nun ist Xuemei keine Frau, die derartige Anschuldigungen auf sich sitzen läßt. Der Traum von früher über die Unterdrückungsszene durch die Männer kommt ihr wieder in den Sinn, und sie beginnt zu ahnen, was für ein Schicksal ihr bevorsteht. Ein Wort gibt nun das andere, ein handfester Streit bricht zwischen den 1305
Ebd., Kap. 3, S. 720.
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Eheleuten aus, in dessen Verlauf die sportliche Gattin dem schwächlichen Ehemann einen tödlichen Fußtritt versetzt. Was geschehen ist, ist geschehen, doch Xuemei denkt gar nicht an Flucht. Sie stellt sich dem Kreisrichter und schildert den Vorfall, aber zu mehr als einem Erlaß der Todesstrafe anläßlich ihres freiwilligen Erscheinens kann sich auch der Beamte nicht durchringen und ordnet eine Gefängnishaft an. Unter den männlichen Häftlingen sorgt Xuemeis Fall sogleich für heftiges Aufsehen, so daß sie sich zu einer längeren Rede über die schlimme Lage der Frauen veranlaßt sieht, an deren Schluß ihr Schwur steht, es mit der ganzen Männerwelt aufzunehmen. »[...] In uralten Zeiten herrschte noch der Brauch, daß eine Frau die Scheidung einreichen konnte, doch seit dem Tyrannen Qin Shihuang machen uns Willkürgesetze, die vor allem von den engstirnigen Neokonfuzianern der Song so stark betont worden sind, das Leben schwer. Da verstieg man sich zu schamlosen Forderungen wie der, daß es einer Frau eher anstünde zu verhungern als ihre Sittlichkeit zu opfern. Seit dieser Zeit klafft eine große Kluft zwischen den Geschlechtern. Aber was soll ich noch weiter über die zahllosen Ungerechtigkeiten reden, die es gibt? Wenn ihr einmal genauer darüber nachdenkt, mag es zwar noch ein paar Sitten für die Regelung der Eheangelegenheiten geben, aber im Grunde sind wir Frauen doch nicht mehr als beliebig verfügbare Wesen, die den Herrschaften zu ihrer Lustbefriedigung dienen, mit denen sie die Nachkommenschaft zeugen und die ansonsten unentgeltlich die Arbeit im Hause verrichten. Pah, wenn diese Halunken derart mit uns umspringen, brauchen sie sich nicht zu wundern, daß wir uns ihnen gegenüber keinerlei Zurückhaltung mehr auferlegen. Vernehmt daher meinen heiligen Schwur: Ich werde nicht eher ruhen, bis ich nicht diesen Schurken mit meinem scharfen Schwert vollständig den Garaus ge1306 macht habe!«
Gesagt getan flüchtet Xuemei sehr zum Erstaunen der übrigen Gefängnisinsassen mit einem Sprung über die Gefängnismauer, flieht aus der Stadt und schüttelt ihre Verfolger ab. Unterwegs in der einsamen Wildnis macht sich Xuemei Mut mit Gedanken an eine Eheschließung und gelangt zu der Einsicht, daß sie allein ihres Glückes Schmied ist, und daß sie den notfalls blutigen Kampf gegen die Unterdrückung ihrer Zeit führen muß. In einem Dorf, durch das sie bei ihrer Wanderung gelangt, findet Xuemei Aufnahme bei einer Frau namens Wen Dongren, der ihr Name nicht unbekannt ist. Dongren gehört einer Frauenvereinigung an, in der die Ehelosigkeit praktiziert wird, ist aber angesichts ihrer seit Kindheit verkrüppelten Füße zu Arbeiten daheim gezwungen und betätigt sich unter ihrem Motto, eine »Heldin des Wortes« zu sein als Verfasserin von Artikeln für eine Frauenzeitung. Aufgrund einer schweren fiebrigen Erkrankung, in deren Verlauf sie erneut verkündet, die Häupter der von ihr gemordeten Männer zu einem Berg zu türmen 1306
Ebd., Kap. 4, S. 726.
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und mit dem Blut ihrer Opfer einen neuen Gelben Fluß anzulegen, ist Xuemei anders als ursprünglich geplant dazu gezwungen, geraume Zeit im Haus der Gastgeberin zu weilen. Schließlich macht sie sich jedoch wieder auf den Weg, und nach einer unerfreulichen Episode mit einem Ausländer, der ihr, stets Unterwürfigkeit von den Chinesen gewohnt, ein unsittliches Angebot unterbreitet und nur aufgrund seines trunkenen Zustands verschont bleibt, trifft Xuemei in einem Gasthof auf eine Frau mit Namen Xu Pingquan, die für einen wesentlich gemäßigteren Umgang von Mann und Frau eintritt. Die Ansichten der beiden Damen könnten konträrer nicht sein, wie der folgende Dialog zeigt. Es handelt sich wohl um die zentrale Passage des Romans, in der die Verfasserin ihr Anliegen für ein pragmatisches und reformorientiertes Verhalten darlegt. »Ich möchte eine Partei schaffen«, sagte Xuemei, »um die Halunken ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Die Männer sollen unterworfen werden und uns dienen. Alle Macht im Staat soll auf die Frauen übergehen.« »Solch eine Revolution wird unmöglich durchzuführen sein«, erwiderte Pingquan, und als Xuemei nach dem Grund fragte, fuhr sie fort: »Blutige Kämpfe wie du sie forderst, sind nur zwischen Nationen unterschiedlicher Religion, Sprache, Rasse oder verschiedenen Gefühlsempfindens durchzuführen, niemals jedoch innerhalb eines einzelnen Landes etwa zwischen Männern und Frauen, die dem gleichen religiösen Glauben angehören, die gleiche Sprache sprechen, von der gleichen Rasse und durch Gefühle miteinander verbunden sind.« »Das hört sich gut an«, antwortete Xuemei, »doch du vergißt, in welchem Maße uns die Männer unterdrükken. Wir sind für sie Fremde, wie von einer anderen Rasse. In einem alten Sprichwort heißt es nicht zu Unrecht, daß wo der Haß so tief sitzt wie zwischen den Staaten Wu und Yue, man selbst die gemeinsame Herkunft vergißt. Haben wir erst einmal das Zepter ergriffen, dann werden uns auch keine Gefühle mehr behindern.« »Du redest leicht davon, den blutigen Kampf gegen die Männer unter Ausschluß jeglicher Gefühle zu propagieren«, sagte Pingquan, »doch du vergißt, daß alle Tiere und Pflanzen auf der Welt die Freiheit und das Leben lieben. Wer befindet denn über die Existenz und die Freiheit eines Wesens? Nach den Gesetzen der Natur siegt der Starke über den Schwachen. Wie mögen da schwache, blumengleiche Geschöpfe wie wir es mit den kriegerischen Männern in ihrer Eisenkluft aufnehmen?« »Mitnichten ist das so«, rief Xuemei, »sicher, es geschieht oft genug, daß schurkische Männer nach Gutdünken über die Körper von uns Frauen verfügen, aber du wirst nicht behaupten wollen, daß jeder von ihnen eine starke Heldenfigur ist, oder? Doch sei’s drum, laß mich lieber von den Herrschaften heutzutage reden, die sich als Nationalisten ausgeben, von aller Welt bewundert werden, nur weil sie tagein tagaus von den blutigen Taten reden, die sie zu verrichten gedenken. Kaum erreicht sie die Nachricht, daß man die Angehörigen verhaften wird, da flüchten sie in alle Richtungen, geben ihre Grundsätze preis und äußern sich nur noch oberflächlich. Mehr als sich von allen Seiten ein bißchen Geld zusammenzubetteln für Opium, Gelage, das Herumfahren in feinen Gespannen und die Besuche in den Freudenhäusern
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT fällt ihnen nicht ein. Mit Männern wie diesen, die ihr Fähnchen stets nur nach dem Wind richten, nehmen es kühl kalkulierende Frauen wie unsereins allemal auf.« »Die Nationalisten mögen in der Mehrheit so denken und handeln«, wandte Pingquan ein, »doch läßt es sich nicht leugnen, daß wir Frauen heutzutage noch immer ganz wesentlich auf die Männer angewiesen sind. Sich von all ihrer Verfügungsgewalt freizumachen ist leichter gesagt als getan. Nimm nur einmal die Inder, ein wahrhaft standhaftes und entschlossenes Volk. Doch einmal unter der Herrschaft der Engländer, mußten sie das grausame Schicksal von Sklaven erleiden. Zwar redet man dort heute viel über Revolution und Unabhängigkeit, doch ist man weit davon entfernt, sie auch tatsächlich zu erreichen.« »Die Inder sind eine unterlegene Rasse«, verkündete Xuemei verächtlich, »sie werden sich nicht aus der Unterdrückung befreien. Wir Frauen dagegen sind den Männern weit überlegen. Wie kannst du uns mit den Indern in einen Topf werfen?« »Der biologischen Forschung im Westen zufolge«, setzte Pingquan ihre Überlegungen fort, »verfügen die Ameisen über den entwickeltsten Gehirnapparat, gefolgt von den Vögeln. Erst dann kommen wir Menschen. Wie kommt es da, daß die Welt von heute weder von den Ameisen noch von den Vögeln, sondern vielmehr von uns Menschen beherrscht wird? Die Ursache liegt alleine darin, daß eben Ameisen und Vögel anders als die Menschen von ihrem Körperbau her nicht dazu geschaffen sind, über die Welt zu verfügen. Männer und Frauen mögen in ihrer körperlichen Beschaffenheit nicht allzu verschieden sein, doch Frauen studieren nicht, sind daher zurückgeblieben und haben überdies ihre körperliche Unversehrtheit von einst aufgrund der eingebundenen Füße längst eingebüßt. Eine echte, kämpferische Revolution ist unter diesen Bedingungen zum Scheitern verurteilt.« »Sicher«, gestand auch Xuemei ein, »die meisten Frauen leben einfach in den Tag hinein und fristen seit mehr als zweitausend Jahren eine Existenz in der Hölle. Aber du vergißt, daß sie in den verschiedensten Bereichen immer wieder für Aufregung sorgten. In der Prosakunst konnte es kaum jemand mit Frauen wie Ban Jieyu und Xie Daoyun aufnehmen. Wer wäre pietätvoller gewesen als eine Ti Ying oder eine Cao E? Gab es je mutigere Krieger als Mulan, Liang Hongyu oder Tang Sai'er? Niemand führte das Schwert so geschickt wie Hong Xian, Nie Yinniang und Gongsun Daniang! Glaube mir, ich könnte die Liste mit Namen berühmter Frauen beliebig fortsetzen. Keine Rede davon, daß wir Frauen nur geringe Dienste verrichten, uns nicht größeren Aufgaben widmen könnten. Unsere gemeinsame Stimme der Revolution wird so laut erklingen, daß der Kupferberg im Westen davon bersten, die Glocken Luoyangs im Osten davon widerhallen werden. Wir Frauen werden unsere Röcke wie Fahnen schwingen und mit unserer Schminke die Stadtmauern verputzen. Im ganzen Reich werden die Frauen Truppen ausheben!« »Du irrst, meine Liebe«, beeilte sich Pingquan einzuwenden, »oder kannst du vielleicht auch nur ein einziges Beispiel nennen, wo es Frauen je gelungen ist, eine erfolgreiche Revolution zu entfachen? Nimm nur einmal Griechenland, den Ursprung der europäischen Kultur. Unter seinen Dichtern fanden sich Männer wie Homer und Sophokles; unter seinen berühmten Gesetzgebern tauchen Namen wie Solon und Kleanthes auf und wer hätte nicht von Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie gehört? Dazu hatten die Griechen Feldherren wie Themistokles, Parmenio und Alexander und konnten sich am Ende dennoch nicht gegen die Römer und gegen die Türken behaupten. Nach dem Tode Napoleons dann wehte auch der Wind der Freiheit wieder nach Griechenland. Doch was half es, wenn sich im Lande gerade einmal eine Handvoll Nationalisten fand, die die Revolution forderte, die übrige Bevölkerung jedoch weiterhin in ihrer Einfältigkeit verharrte. Damit war gegenüber den durchtriebenen türkischen Herren nichts auszurichten. Zuletzt waren es Engländer und Russen, die den Griechen ihre Hilfe zusicherten, doch mehr als ein nur zur Hälfte unabhängiger Staat wurde aus Griechenland nicht mehr. Mach dir die Lage der gewöhnlichen Frauen heutzutage in China mit ihrem Mangel an Bildung nur einmal bewußt, und du wirst sehen, daß eine Revolution unmöglich ist.« »Da kann ich nicht zustimmen«, erwiderte Xuemei, »für viele Menschen sind Leben und Freiheit eins. Daher sagt man im Westen zu Recht, daß auf Brot und Freiheit nicht einen Tag lang verzichtet werden darf. Ohne Brot verhungert der Mensch unweigerlich, ohne Freiheit wird er erdrückt. Deinen Worten zufolge müßten wir weiterhin ein Leben wie gefesselte Pferde und Rinder führen, wenn wir hier und jetzt auf die Revolution verzichten. Man dürfte uns kaum noch als Menschen bezeichnen!« »Jedem Wesen auf der Erde kommt die Freiheit zu, die es verdient«, wandte Pingquan ein, »erst wenn es die Fähigkeit zur Freiheit hat, kann es sie auch genießen. Pferden und Rindern ist es nun einmal nicht vom Himmel bestimmt, in Freiheit zu leben, sie sind den Verfügungen durch den Menschen unterworfen, weil ihnen die Fähigkeit zur Freiheit abgeht. Ihr Herr hütet und pflegt sie, doch wer seine Pflichten als Herr vernachlässigt und sie schlecht behandelt, gegen den werden sich selbst Rinder und Pferde zur Wehr setzen. Die gewöhnlichen Frauen von heute unterscheidet in ihrer Einfältigkeit und ihrem Mangel an Bildung nicht viel von den Pferden und Rindern. Sie werden mit der Freiheit nicht umzugehen wissen und sich allerorts lächerlich machen.« Erregt sprang Xuemei bei diesen Worten auf und rief: »Soll das etwa heißen, daß die zweihundert Millionen Frauen im Land nur weiterhin den zweihundert Millionen Männern als Sklavinnen dienen sollen?« Als Pingquan sah, wie erregt Xuemei auf ihre Äußerungen reagierte, mußte sie einsehen, daß sie ihre Sichtweise nicht mehr ändern würde. Es schien zwecklos, Xuemei eines Besseren belehren zu wollen. Die Revolution, von der sie sprach, mußte im gegenwärtigen Stadium womöglich tatsächlich mit aller Heftigkeit geführt werden. Sie würde später dann wohl von selber gemäßigtere Formen annehmen. Nach Lage der Dinge konnte man womöglich nicht anders, als die Frauen mit allen Mitteln, und sei es mit Knüppeln und schrillen Schreien, wachzurütteln, aus ihrer Lethargie zu befreien. Davon würde auch eine friedliche Revolution in der Zukunft profitieren. Daher sagte sie in versöhnlichem Ton: »Schwester, es ist spät, laß uns morgen weiterreden.« Xuemei antwortete nichts darauf. Sie 1307 sprang von ihrem Sitz und eilte in ihr Zimmer.
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Ebd., Kap. 8, S. 742ff.
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In einem Kommentar zu diesem Kapitel bemerkt die Verfasserin, daß sie es sich bei der Abfassung des Streitgesprächs nicht leicht gemacht hat. Sie habe die vorgebrachten Argumente wohl abgewogen, keine der beiden Seiten übervorteilen oder benachteiligen wollen, was ihr nur mit Rückgriff auf ein umfangreiches Wissen gelungen sei. Pingquan und Xuemei finden nicht zueinander. Als Xuemei am nächsten Morgen nach ihrer Kontrahentin fragt, erfährt sie, daß diese bereits aufgebrochen ist. Sie reist also weiter und kommt bald bei Zhang Liujuan an, der Zeitungsverlegerin. Dort bringt sie weiteres über Xu Pingquan in Erfahrung. Liujuan läßt durchblicken, daß sie wenig mit den Auffassungen Pingquans anzufangen weiß und entpuppt sich hier bereits als Gesinnungsgenossin der kämpferischen Xuemei. Diese wird als Artikelverfasserin im Verlag aufgenommen und verschafft sich mit ihrem ersten Artikel »Über die Rache« allgemeine Beachtung unter den Frauen in ihrer Umgebung. Im Kreise einiger Verschwörerinnen wird die Gründung einer Revolutionspartei beschlossen. Einen gemäßigteren Weg geht dagegen Xu Pingquan. Gemeinsam mit einer Freundin begibt sie sich zum Studium ins Ausland und gelangt über die erste Station Tokio später bis nach Paris, in ihren Augen der Ursprungsart der Freiheit. Aus Zeitungsberichten erfährt sie dort, daß sich Xuemei, Liujuan und die übrigen Anhängerinnen ihrer Partei aus Verzweiflung über die Unerreichbarkeit ihrer Ziele das Leben genommen haben. Erschüttert über den Tod ihrer ehemaligen Kontrahentin beschließt Pingquan, in die Heimat zurückzukehren, um eine Mädchenschule zu gründen und mit der Belehrung der Frauen die Grundlage für eine friedliche Revolution zu legen. Ihr Ziel ist es, den Frauen Wissen zu vermitteln, damit sie aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt sorgen können und umfassende Selbständigkeit erlangen. Auf dem Schiff lernt Pingquan den jungen Gelehrten Huang Zongxiang kennen, der sie in der Folge mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln beim Aufbau der Schule und den weiteren Aktivitäten unterstützt. Erst als sie sich einigermaßen mit ihren Unternehmungen etabliert hat, beginnt Pingquan, die stillen Werbungen des geduldigen Zongxiang zu erhören. Sie ahnt, daß es um die Welt schlecht bestellt wäre, würden alle Frauen dem kriegerischen Gebaren Xuemeis folgen. Der Bestand der Menschheit selbst ließe sich auf die Art und Weise nicht sicherstellen. »Mir geht in letzter Zeit ständig ein Gedanke im Kopf herum«, sagte Pingquan, »es gibt weiterhin eine große Ungleichheit zwischen Mann und Frau, aber ist eine vollkommene Gleichheit zwischen den Geschlechtern überhaupt zu erreichen, ohne daß die Menschheit daran zugrunde ginge? Die Ungleichheit beginnt schon damit, daß beide in gleichem Maße die Freuden des geschlechtlichen Beisammenseins gemeinsam genießen, doch daß alleine die Frauen die Qualen der Geburt durchstehen müssen. Wenn überall erst einmal ein Höchstmaß an Wissen und Kultur erreicht ist, werden die Frauen sicherlich einen Weg finden, auf dem sie die Empfängnis verhüten können. Doch das wäre das Ende der Welt wie sie heute besteht, die Menschheit gäbe es da nicht mehr. Übermenschliche Wesen würden dann die Geschicke der Welt leiten, Frauen würden dann nicht mehr
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie Qualen und Schmerzen erleiden müssen, sondern sich geheimnisvoller Mittel für die Produktion des Nachwuchses bedienen. Wie diese Mittel aussehen werden, vermögen selbst die klügsten Denker heutzutage nicht zu sagen. Wer wagt 1308 schon zu vermuten, über was für Körper die Frauen einst verfügen werden.«
Man sieht, wie modern diese Ansichten sind, die den Menschen auch heute noch etwas zu sagen vermögen. Um ein Beispiel für möglichst viele andere Frauen zu geben, damit sie nicht falsche Wege beschreiten wie Xiaomei oder die ehelos gestorbene Wen Dongren, nicht zuletzt aber auch aus Liebe zu Zongxiang willigt Pingquan am Ende in die Ehe ein. Ein Werk, das um die Mitte des Jahrzehnts eine herausragende Rolle in der Erzählkunst über die Frauenbewegung einnahm, ist der 1905 erschienene und nach seiner Hauptheldin titulierte Roman Huang Xiuqiu, hinter dessen Verfassernamen Yi Suo man wohl eine Frau vermuten darf.1309 Huang Xiuqiu ist insofern bemerkenswert, als sich die Autorin darin von einer programmorientierten Darstellung abwendet und die Frauen betreffenden Probleme in einen erzählerisch ausgefeilten Handlungsrahmen stellt. Als Hintergrund wählt sie – auch dies eine Neuerung in Abkehr von den zahlreichen Darstellungen über die Aktionen der Reformkräfte in urbanen Zentren – ländliche Szenen, in denen der Konservatismus sowie die ablehnende Haltung weiter Bevölkerungsteile gegenüber konkreten Verbesserungen besonders stark zum Ausdruck kommen. Mit der im ersten Kapitel beschriebenen Thematik vom »verlorenen Paradies« erinnert Huang Xiuqiu an den groß angelegten Romanvorgänger aus der frühen Qing-Dynastie Ehegeschichten zur Erleuchtung der Welt, zu dem das Werk darüber hinaus auch eine ganze Reihe weiterer Bezüge aufweist. In den gemäßigten Regionen Ostasiens gab es eine kleine Ortschaft mit Namen »Dorf der Freiheit«. Die Bevölkerung dort war zahlreicher als anderswo und gehörte zum größten Teil dem Clan der Huangs an, die auch in den Marktflekken der Umgebung gesiedelt hatten. Das Dorf selber war überaus wohlhabend, man verfügte über weite Felder und Fluren, und die Menschen, gleich ob Mann oder Frau besaßen Bildung und Kultur. Verwöhnt von dem allgemeinen Wohlstand haßte man nichts mehr als viele Umstände und pflegte daher kaum Kontakte mit den Menschen in der weiteren Umgegend. Diese freilich begannen nach und nach, der Bevölkerung im Dorf der Freiheit ihren Reichtum sowie die 1308 1309
Ebd., Kap. 12, S. 757f. Hier bearbeitet nach dem Abdruck bei A YING: Auswahlsammlung zur Literatur der späten Qing, Bd. 1 u. Bd. 2, S. 167–389. Das dreißig Kapitel umfassende Werk erschien 1905 zunächst als Fortsetzungsroman bis zum sechsundzwanzigsten Kapitel in »Neue Erzählkunst« und kam dann 1907 als vollständige Ausgabe des Verlags Neue Erzählkunst heraus.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT gesicherten Lebensumstände zu neiden, man schloß sich zusammen und sann nach allerlei Mitteln und Wegen, den Dörflern das Leben schwer zu machen, was deren Lebensglück und Unabhängigkeit im Laufe der Zeit ganz erheblich beeinträchtigte. Doch genug davon. Wir wollen uns vielmehr einem Manne namens Huang Tongli zuwenden. Dieser mochte etwa um die dreißig Jahre zählen und hatte sich bereits ein wenig in der Welt umgesehen. Dabei war ihm aufgefallen, daß es nirgendwo so gut mit allem bestellt war wie in seiner Heimat, dem Freiheitsdorf, nur daß es dort womöglich ehrenvoller zuging. Einen Reim darauf vermochte er sich freilich geraume Zeit nicht zu machen. Nicht, daß es im Ort an belesenen Persönlichkeiten gemangelt hätte – Freiheitsdorf verfügte über mehr Bakkalaurei als es anderswo Köter auf den Straßen geben mochte. Von der Zahl der Beamten und Würdenträger ganz zu schweigen – unzählig waren die Trachten und Uniformen, an denen rote und blaue Beamtenknöpfe, Orden und Epauletten blinkten. Auch die wirtschaftlichen Umstände schienen nichts zu wünschen übrig zu lassen. Jedes Jahr lieferten die Pächter beträchtliche Mengen der eingebrachten Ernte an den Staat ab, und die Zahl der Händler und Kaufleute ging in die Tausende. Dennoch, bei all dem Glanz fiel auf, daß die Häu1310 ser verfielen und man sich lediglich mit einer oberflächlichen Blüte schmückte.
Entschlossen, Ruhm und Ansehen des Dorfes wiederherzustellen, regt Huang Tongli im versammelten Freundeskreis umfassende Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten an, stößt aber aufgrund der allgemeinen Bequemlichkeit auf einstimmige Ablehnung. Die Menschen sind gewohnt, in den Tag hinein zu leben und tun dies auch ganz offen mit folgender Bemerkung kund: »[...] Wir ziehen es vor, unbeschwert wie ein junges Fohlen zu leben. Wer weiß schon, was der morgige Tag bringt. In einer Redewendung heißt es nicht umsonst: ›Den Schatten des Baumes genießen, den die Vorfahren gepflanzt haben‹. Wir haben unser Leben damit verbracht, das Erbe der Ahnen zu bewahren. Unsere Nachkommen werden einmal ihr eigenes Leben leben. Unsereins kommt langsam in die Jahre, was kümmern einen da noch Glanz und Tugend, geschweige denn 1311 ein prächtiges Haus?«
Mit dem Bild der vom Verfall bedrohten Häuser hebt die Verfasserin hier ganz deutlich auf die kritische staatliche Verfassung ihrer Zeit ab, eine Deutung, die schon durch den Clannamen Huang (= China, wörtlich »gelb« als Bezeichnung für die Angehörigen der asiatischen Rassen) für die Bewohner des Dorfes der Freiheit nahegelegt wird. Doch die Lage erscheint nicht hoffnungslos, hat doch Huang Tongli in seiner Gattin eine selbstbewußte Frau gefunden, die für sich beansprucht, das zu vollbringen, was die Männerwelt nicht zustandebringt. Entschlossen, Ruhm und Ansehen des Dorfes zu mehren, legt sich die Gattin für 1310 1311
Huang Xiuqiu, Kap. 1, S. 167f. Ebd., S. 171.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie
ihren Namen Huang Xiuqiu eine neue Zeichenkombination zu, mit der sie ihren Willen dokumentieren will, den Menschen auf der ganzen Erde als Vorbild zu dienen und das kulturelle Erscheinungsbild der Menschheit zu bereichern. Für Aufsehen unter den Dorfbewohnern sorgt freilich ihre erste am eigenen Körper vorgenommene Reformmaßnahme, als sie sich nämlich die Fußbinden abnimmt, um für die folgenden Aktivitäten gewappnet zu sein. In seiner Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Tönen in der Familie erweist sich Huang Tongli als ein verständiger und rücksichtsvoller Ehemann. Ihr eigentliches Erweckungserlebnis hat Huang Xiuqiu allerdings erst, als ihr im Traum die französische Frauenkämpferin Madame Roland erscheint und in einer längeren Rede verkündet: »[...] Frauen und Männer verfügen beide im gleichen Maße über vier Gliedmaßen und fünf Sinnesorgane. Sie benötigen Kleidung und Nahrung einer wie der andere und sind alle Bürger eines Staates. Es geht angesichts dieser Tatsachen nicht an, ein Geschlecht übervorteilen zu wollen, doch von alters her geben sich die Frauen mit ihrer unterlegenen Rolle zufrieden, wird die Herrschaft auf der Welt allein von den Männern ausgeübt. Dort, wo Frauen einmal erhobenen Hauptes dahergehen, unterstellt man ihnen sogleich Machtgelüste und bezeichnet sie als grausame Tigerinnen. Wie denn auch nicht, sind doch genug streitsüchtige Megären auf nichts anderes bedacht, als zu zanken und zu lärmen, sich über Geld und Besitz in die Haare zu kriegen und andere Frauen zu bekämpfen. Sie unterscheiden sich nicht mehr im geringsten von dem ungehobelten Mannsvolk. Kein Wunder also, daß sie am Ende die Verlierer sind und ewige Unterjochung 1312 hinnehmen müssen.«
Zum Schluß des sich anknüpfenden Gespräches händigt Madame Roland der Xiuqiu das Buch Geschichte der Helden aus, in dem die Legenden über fünfundzwanzig berühmte Persönlichkeiten des europäischen Altertums aufgezeichnet sind. Die wahre Identität ihrer Dialogpartnerin erfährt Xiuqiu erst geraume Zeit später nach Gesprächen mit ihrem Gatten. Jedenfalls bestärkt dieser sie nach dem Traumerlebnis in der Auffassung, zu Höherem berufen zu sein, was Xiuqiu auch alsbald in konkrete Handlung umsetzt und vor der versammelten Frauenschaft des Dorfes über ihre Mission zur Befreiung der Frau redet. Hatte Xiuqiu schon mit der Abnahme ihrer Fußbandagen für viel Aufsehen am Ort gesorgt, so nähren ihre öffentlichen Auftritte bei der Obrigkeit die Furcht vor einer Rebellion, so daß man kurzerhand ihre Festnahme anordnet, um Schlimmeres zu verhüten. Nur mit viel Mühe und unter Aufbringung hoher Bestechungssummen gelingt es Huang Tongli am Ende, die streitlustige Gattin wieder freizubekommen. Er erfährt dabei nicht nur viele nützliche Interna über die Zustände in der Beamtenschaft, sondern sichert sich mit dem aufgeklärten Strafvollzugsbeamten Zhang Kaihua auch noch einen wertvollen Helfer für weitere Reformvorhaben. Der gesamte Vorfall läßt 1312
Ebd., Kap. 3, S. 181f.
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auch die Fronten im Dorf klar zutage treten, weiß doch Tongli nun, daß sein stärkster Widersacher der üble Gerüchtestreuer Huang Huo (»Gelbe Gefahr«) ist, ein entfernter Verwandter, dessen einziges Ziel darin besteht, Tongli einen Teil seines Besitzes abzupressen. Die Bemerkungen zur Situation der Frau sind in einem Werk wie Huang Xiuqiu naturgemäß besonders zahlreich. Wir wollen hier einen Abschnitt zitieren, in dem die Auffassungen der Protagonistin Huang anschaulich zutagetreten: »Seit alters her wird die Erde als dem Himmel untergeordnet betrachtet«, hob Huang Xiuqiu an. »Indem man die Männer mit dem Himmel und die Frauen mit der Erde gleichsetzte, ergab sich eine scheinbar naturgewollte Unterlegenheit der Frau. Die Astronomie der neueren Zeit hat jedoch bewiesen, daß der Himmel die Erde wie das Eiweiß den Dotter umschließt und von einer Überlegenheit gar keine Rede sein kann. Denn kommen nicht beim Ei zuerst der Dotter und erst dann Eiweiß und Schale, die sich darum bilden? Ein Küken entsteht aus dem Dotter, ist dieser beschädigt, gibt es kein Küken. Selbst wenn man weiter bei der Zuordnung von Mann und Frau zu Himmel und Erde bliebe, müßte sich angesichts der eben beschriebenen Eistruktur die Unverzichtbarkeit der Frau bzw. der Erde ergeben. Der Dotter wird zwar vom Eiweiß umschlossen, doch ohne ihn könnte es weder Eiweiß noch Schale geben, beide sind vom innengelegenen Eigelb abhängig und entstehen erst nach diesem. Ein Himmel ohne die Erde würde bedeuten, daß Sterne, Sonne, Mond, Flüsse, Meere, Berge und Kontinente nichts besäßen, auf das sie sich stützen könnten. Die Luft unter dem Himmel, die Gebirge und die Gewässer, nichts kann ohne die stützende Erde existieren. Der Himmel mag zwar oberhalb der Erde liegen, doch diese ist weit umfassender, birgt weit mehr in sich als der Himmel. Genauso verhält es sich mit den Frauen: Welcher Mann erblickte je ohne eine Frau das Licht der Welt? Selbst Helden und Kaiser werden von Müttern geboren, daher sollte den Frauen die weit höhere Verehrung zukommen, dürften sie keinesfalls unterdrückt werden. An dem Gerede von Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frau heutzutage ist sicherlich etwas Wahres, doch darf man das nicht zu einseitig sehen. Im Altertum sagte man, die beiden Lebensenergien (er qi) vermischten sich wie Dunst und Wolken, womit Zusammenschluß und Einswerdung angedeutet wurden. In diesem Zustand existieren kein schwer und leicht, dick und dünn, hoch und niedrig, klein und groß, edel und gemein mehr, wird vielmehr ein Prinzip von Gleichstellung und Gleichberechtigung angedeutet, das nur in seiner strikten Anwendung auch zur Gleichheit führen kann. So sollte etwa Männern und Frauen in gleicher Weise die Möglichkeit zu Studium und Beruf offenstehen, erst dann kann man von der Gleichberechtigung der Geschlechter reden. Wo diese Gleichheitsrechte nicht von Frauen erfolgreich eingefordert werden, herrscht auch keine Gleichberechtigung zwischen Frauen geschweige denn zwischen Männern und Frauen. Wo es dagegen Männern nicht gelingt, ihre Rechte durchzusetzen und sie womöglich Frauen untergeordnet bleiben, ist Gleichberechtigung für uns Frauen ohnehin von keinerlei Wert. Doch seit auf der Welt festgelegt wurde, daß der Mann über die Frau herrschen solle, haben die Frauen
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie sehr willig stets die Überlegenheit der Männer akzeptiert. Sie nahmen es hin, die Männer daheim zu versorgen und sich von ihnen bei allem, was sie sagten und taten wie Sklaven gängeln zu lassen. Am lächerlichsten war dabei die Auffassung, daß die Jungen von den Vätern zu unterrichten und die Mädchen in den Geschäften der Mütter zu unterweisen seien. In allem erkannte man die Überlegenheit des Mannes an, Frauen hatten sich darauf zu beschränken, ihr Haar zu richten, sich die Füße einzubinden und Näharbeiten zur Freude und zum Nutzen der Männer zu verrichten. In allen Häusern angefangen beim Adel bis hinab zum gemeinen Volk blieb die Rolle der Frau auf die Arbeit im Hause beschränkt. Es blieb die absolute Ausnahme, daß Frauen einmal die Herrschaft im Hause an sich rissen oder gar ein Geschäft leiteten. Doch auch in diesem Fall lobte man sie nicht etwa als tüchtig, sondern bezeichnete sie gleich als durchtrieben und ausgefuchst. Eine fähige Frau galt als vollkommen unkonform. Diese seit Jahrtausenden bestehende Auffassung wurde als naturgegebene Ordnung der Dinge aufgefaßt. Ein Mann durfte seine Frau schlagen und schimpfen ganz nach seinem Belieben. Selbst wo ein Mann im Hause sich als friedfertig erwies, war es üblich, daß eine Frau nicht das gleiche aß wie der Mann und nicht die gleichen Verfügungsrechte besaß wie er. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ohne sein Wissen Geld zurückzulegen und Kleider im Geheimen zu nähen. Die Lage blieb erträglich, wo Männer geflissentlich über solche Dinge hinwegsahen. Aber wo einer sich in alles einmischte und es mit allem sehr ernst nahm, auf alles sah, damit ihm nur nichts entging, schlossen sich die Frauen gerne in Grüppchen zusammen. In den Häusern der Reichen suchten die Damen Anschluß an ihre Schwestern und Schwägerinnen; Mägde und Dienerinnen suchten sich unter ihresgleichen Vertraute. Im gewöhnlichen Volk tat sich die Frau Zhang mit der Frau Li zusammen, aus diesen Grüppchenbildungen entstand viel Übel, alles wurde hinter dem Rücken der Ehemänner beredet. Man rang um Macht und Einfluß, traf geheime Verabredungen und beschloß gemeinsame Schritte. Die Seltsamkeiten, die es gab, sind gar nicht alle aufzuführen. Und alles nur, weil die Männer den Frauen keinerlei Rechte zugestanden, Frauen sich damit abfanden und lieber im Geheimen agierten. Ist es da nicht besser, Rechte zu verankern 1313 und sich offen zu Parteien und Gruppierungen zu zusammenzuschließen?«
Aus der Erkenntnis heraus, daß die Situation der Menschen auf dem Lande nur durch verstärkte Bildungsanstrengungen verbessert werden kann, beschließen Huang Tongli und seine Frau nach deren Freilassung, die Lizenz für die Gründung einer Schule zu erwerben. Sie werden dabei tatkräftig unterstützt von Zhang Kaihua und dessen Verwandter Bi Qurou, einer soeben aus dem Ausland zurückgekehrten Ärztin, die starkes Interesse daran bekundet, ihre erworbenen Kenntnisse beim Aufbau eines Krankenhauses einzubringen. In langen Diskussionen zeichnen sich gemeinsame Ziele und Vorgehensweise ab. So will man vor allem vermeiden, den allgemeinen Sittenverfall zu beschleunigen und schon gar nicht 1313
Ebd., Kap. 22, S. 322ff,
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das zügellosen Treiben der Geschlechter in der Reformerhochburg Shanghai nachahmen, wo es nach Ansicht von Bi Qurou und Huang Tongli weder Moral noch Sitten gibt. Vielmehr setzt die Gruppe auf ein gemäßigtes Vorgehen und geduldige Maßnahmen in kleinen Schritten. »Früher haben wir uns Sorgen darüber gemacht, daß die freizügigen Sitten des Auslands keinen Zugang zu China finden könnten«, sagte Huang Tongli, »doch mittlerweile hat die Freizügigkeit ein Maß erreicht, daß nur noch großes Durcheinander besteht. Besonders in der Moral- und der Körpererziehung gibt es zahlreiche Mängel. Ihr erinnert euch an die Madame Roland im Traum der Xiuqiu, nicht wahr? Nun, kurz vor ihrem Tod hatte Roland damals verkündet: ›O weh! Freiheit, Freiheit! Wieviele Übel und Verbrechen sind in ihrem Namen seit alters her begangen worden!‹ Ebenso ist es heute mit den vielen seltsamen Erscheinungen in der Gesellschaft, wobei ich nicht nur den Umgang der Geschlechter miteinander meine. Einfach schamlos! Bei unseren Anstrengungen hier auf dem Lande müssen wir daher vor allem auf die Erziehung achten und die anderswo aufgetretenen Übel vermeiden suchen. Keinesfalls darf alles nur oberflächlich bleiben.« »Ganz recht«, pflichtete ihm Frau Bi bei, »nehmen wir nur einmal die vielen Mißstände, die bei den Schulgründungen aufgetreten sind, nachdem sich die Erziehungsbewegung einmal durchgesetzt hatte. Unzählige staatliche und private Lehranstalten von jeder Größe sind damals ins Leben gerufen worden, doch bis auf Einrichtungen, in denen man Sklaven heranzüchtete oder zurückgebliebene Dorfschulen, in denen sich der Unterrichtsstoff auf Werke wie Die hundert Familiennamen oder den Tausend-Zeichen-Text beschränkte, ist dabei nicht viel herausgekommen. Überall fand sich das gleiche Maß an Willkür und Verkommenheit. Stets sprach man in großen Tönen von Reformen, doch reformiert wurde gar nichts. Eifrig betonte man die Entwicklung, doch keine Entwicklung war von Dauer. Von der Situation auf dem Lande will ich gar nicht reden, doch je größer die Orte waren, in denen man sich die Reformanstrengungen aufs Banner geschrieben hatte, desto oberflächlicher blieben sie. [...] Nehmt nur einmal die jungen Männer und Frauen in Shanghai. In Autos fahren sie zu den Redeveranstaltungen im Garten des Herrn Zhang, speisen in noblen Restaurants entlang der großen Straßen und besuchen Theater, wo sie in eigens gemieteten Logen eng beieinandersitzen und das Treiben auf der Bühne genießen. [...] Stets haben sie die Begriffe von Gleichberechtigung und Freiheit auf den Lippen und bemerken dabei nicht, wie die gehobenen Sitten vom Tun des niederen Gesindels beschmutzt werden. Sie treiben es so weit, daß sie gar jemanden aus einer Laune heraus erschlagen würden, nur weil es ihnen im Namen der Freiheit so gefällt. Ihr dürft nicht annehmen, ich übertriebe, so geht es tatsächlich zu unter den Anhängern der neuen Lehren. Das trifft auf die Frauen ebenso wie auf die Männer zu. Meine Sorge ist nicht, keine neuen Wege in der Erziehung zu beschreiten, sondern die alten Übel dabei zu übernehmen. Das Problem dabei ist, daß wir uns nicht auf die Rolle des gleichgültigen Betrachters zurückziehen dürfen, sondern daß wir Wege beschreiten müssen, um die Übel auszurotten oder zumindest Formen mit den geringsten Übeln zu finden. Doch alles braucht seine
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie Zeit, nichts darf übereilt werden. [...] Adam Smith benötigte für sein Buch Über den Wohlstand der Nationen ganze zehn Jahre, doch er legte damit die Grundlagen für die moderne Ökonomie. Gut Ding will Weile haben, erst auf einem gesicherten Erfolg läßt sich weiter aufbauen. Doch egal auf welche neuartigen Lehren und Methoden man sich in China heutzutage beruft, überall hat man es eilig und will den schnellen Erfolg. Viele der jungen Hitzköpfen im Lande legen bei ihren Unternehmungen ein rasantes Tempo vor, entbehren jeglicher Geduld. Sie müssen unweigerlich scheitern, und wenn es dann soweit ist, resignieren sie und stecken auf. Andere verkünden großartig, daß ihnen kein Preis für ihre Anstrengungen zu hoch sei, schrecken vor nichts zurück, doch schon beim geringsten Mißerfolg verstummen sie und werden nicht mehr gesehen. Die Anliegen dieser Herrschaften sind dabei im Grunde nicht einmal schlecht zu nennen, doch ermangelt es ihnen an Erziehung, sie sind nichts weiter als unreif, ganz und gar Grünschnäbel. Nicht weniger mißverständlich ist ihr Wissen von ihnen angeborenen Rechten. Sie eignen sich eine oberflächliche Kenntnis von den ausländischen Denkern und Philosophen an, leihen sich gängige Parolen vom Patriotismus und dem Schutz der Rasse und wenden sich gegen ihre eigene Sippe oder verkünden den Mord an den eigenen Eltern. Doch wer darf sich der Vaterlandsliebe rühmen, wenn er das eigene Elternhaus vernichten will, wer vom Schutz der eigenen Rasse reden, wenn er sich derart gegen Vater und Mutter vergeht? Stolz spazieren sie mit japanischen Mützen auf dem Kopf und in westliche Kleider gehüllt durch die Stadt, leben habgierig und ausschweifend, geben sich als Helden aus und krakelen in der Begleitung von Freudenmädchen von der Bewegung, die sie entfachen wollen. Doch im Grunde sind sie nichts als Kuriositäten, die man in einem chinesischen Museum zur Belustigung der Gäste aus Ost und West zur Schau stellen sollte. [...]« Huang Tongli pflichtete den Ausführungen der Frau Bi mit einem Kopfnicken bei. »So gesehen geht es bei uns auf dem Lande doch wesentlich geruhsamer zu.« »Keinesfalls«, entgegnete Frau Bi, »ich habe hier von Übeln gesprochen, die nach der allgemeinen Aufklärung auftreten können. Auf dem Lande dagegen kann von nichts weniger als Aufklärung die Rede sein. Die Übel hier gleichen einer hartnäckigen Verschleimung, die sich zu einer Geschwulst auswachsen kann, die die Rachenhöhle blockiert oder auf die Bronchien drückt und auf längere Sicht Nahrungsaufnahme sowie Atmung behindert. Wenn es nicht gelingt, die Verschleimung rechtzeitig aufzulösen, dann führt sie unter den beschriebenen Symptomen womöglich zum Tode und man kennt am Ende unter Umständen noch nicht einmal die Ursache. Die Übel nach der Aufklärung entsprechen dagegen einem Krankheitsbild, in dessen Verlauf auf dem Kopf ein Furunkel entsteht oder sich am Bein eine Geschwulst bildet, die aufbrechen und eitrige, bluttriefende Wunden hinterlassen können. Nichts läßt sich dabei mehr in Einklang bringen. Nur dem Anschein nach handelt es sich bei der Verschleimung um die geringere Krankheit, doch auch mit ihr ist nicht zu 1314 spaßen.«
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Ebd., Kap. 10, S. 232–237.
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Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für die Einrichtung einer Mädchenschule wird Huang Xiuqiu eines Tages mit den beiden Nonnen Wang Laoniang und Cao Xingu bekannt. Es gelingt ihr, die zurückgezogen lebenden Frauen, die ihren Lebensunterhalt mit der Bitte um Almosen bestreiten, für ihre Pläne zu gewinnen und das Kloster in eine Schule umzuformen. Mit großem Erfolg wandelt Xiuqiu den zu vermittelnden Lehrstoff, mit dem der Bevölkerung zunächst die typischen Frauenanliegen wie Ehehygiene, körperliche und geistige Erziehung sowie das Eintreten für die Entfernung der Fußbinden nahegebracht werden sollen, in traditionelle umgangssprachliche Erzählformen wie tanci um und läßt die beiden ehemaligen Geistlichen als Vortragende auftreten. Alsbald stellt sich auch die notwendige Hilfe durch die wohlhabende Damenwelt des Dorfes ein, die die gemeinsamen Anliegen tatkräftig und mit Geld unterstützt. Selbst die Obrigkeit hat angesichts der wichtigen Fortschritte für die Gesellschaft insgesamt ein Einsehen, Huang Xiuqiu gewinnt mit dem neu berufenen Beamten Shi Yougang einen wichtigen Mentor. Lediglich nach dessen Versetzung auf einen andere Posten sind die Reformprojekte noch einmal gefährdet, hat doch der schurkische Huang Huo immer noch den Ruin des Ehepaares Huang im Sinn und findet in dem Bannermann Zhu Dachang einen mächtigen Bundesgenossen für seine zerstörerischen Absichten. Da die Bevölkerung jedoch mittlerweile zusammensteht, kommt das Faß zum Überlaufen, als die eingerichteten Schulen geschlossen werden und man Huang Tonglis Verhaftung befiehlt. Zhu Dacheng wird von einer wütenden Menge aus dem Yamen gezerrt und einem herbeigeeilten Richter überstellt. Um gegen weitere Vorfälle dieser Art in Zukunft gewappnet zu sein, geht Huang Xiuqiu engagiert daran, den Zusammenschluß der Bevölkerung noch zu fördern und eine eigene Frauenarmee aufzustellen, bevor sie schließlich die Unabhängigkeit des Freiheitsdorfes verkündet. Ihre eigenen Bemühungen um den Erfolg der Gemeinschaft bringt sie am Ende durch ein Theaterstück zum Ausdruck, das sie mit Anklängen an das ihr einst von Madame Roland im Traum überreichte Buch von der Geschichte der Helden verfaßt hat. Mit den teils kämpferischen teils reformorientiert bzw. Pragmatismus predigenden Tönen in der Frauenliteratur zum Ende der Qing-Dynastie haben wir in den vorstehenden Abschnitten bereits eine ganze Palette von Darstellungsmöglichkeiten aufgezeigt. Für die literarische Ausgestaltung der Themen der Frauenbewegung eignete sich jedoch neben der Verwendung typischer Stil- und Erzählmittel, wie wir sie ebenso in Werken der übrigen Problemkomplexe finden in besonderer Weise auch der Rückgriff auf bestimmte erzählerische Genres der zurückliegenden Jahrhunderte, in denen die Liebes- und Eheproblematik eine zentrale Rolle gespielt hatte. Vor allem die zu Beginn der Mandschu-Herrschaft so beliebten Romane über Talente und Schönheiten mit ihrem einfachen Handlungsaufbau und ihrer optimistischen Sichtweise, die die Liebespartner nach zahlreichen Verwicklungen stets zueinander finden lassen, waren hier ein geeignetes
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Vorbild. Ein ganz im Geiste dieser caizi jiaren-Romane verfaßtes Werk ist etwa der im folgenden untersuchte Roman Die Rechte der Frauen (Nüzi quan), der 1907 unter dem Pseudonym »Einstiger Bewohner der Damaststube« (Si qizhai) erschien, hinter dem sich die weibliche Verfasserin freilich nur vage andeutet.1315 Eigenschaften, die Rechte der Frauen neben dem geringen Umfang von zwölf Kapiteln mit dem traditionellen Liebesroman teilt, sind das Happy-End der Liebenden sowie eine überaus zuversichtliche Einschätzung der allgemeinen Entwicklung, welche in konkret diesem Fall geradezu utopische Formen annimmt. Nach dem üblichen Lamento über die schlimme Lage der Frauen, welche es nur den schamlosen Weibern erlaubt, ein gewünschtes Maß an Freiheit zu erlangen, den Damen aus den behüteten Häusern aber vor dem Hintergrund der herrschenden konfuzianischen Moral ein trauriges Dasein unter der Fuchtel der Väter und Gatten beschert, versteigt sich die Verfasserin im Anschluß an den Hinweis, daß an den bestehenden Verhältnissen zur Zeit zwar nichts zu ändern sei, man aber ruhig eine idealistische Sicht pflegen dürfe, um für die Zukunft Besserung zu erwarten, zu der folgenden Einschätzung, nach der die Frauen selbst freilich zunächst noch nichts Gutes erhoffen dürfen: Ihr Frauen, hört meine Worte: Im Jahre 1940 wird der Kaiserhof eine Verfassung verabschiedet haben, in Bündnisse mit den übrigen Staaten der Welt eingetreten sein und über volle Souveränität verfügen. Im Vergleich mit den Verfassungen der Länder Europas und Amerikas werden sich dann die Verhältnisse Chinas zusammengefaßt in zehn Punkten folgendermaßen darstellen: 1. Es wird ein Zweikammersystem geben, alle Provinzen und Kreise werden die Selbstverwaltung praktizieren. 2. Im Gerichts- und Strafrechtswesen werden umfassende Reformen vorgenommen worden sein, eine Einmischung von ausländischen Konsuln und Richtern [gemeint ist die gemischte Gerichtsbarkeit in Konzessionsgebieten wie Shanghai] wird nicht mehr existieren. 3. Die jährlichen Steuereinnahmen von Staat und Provinzen werden in die Milliarden gehen, über Import- und Exportzölle entscheiden staatliche Instanzen. 4. Die Abkommen zwischen China und anderen Staaten sind einer vollständigen Revision unterzogen worden, einseitige Verträge aufgehoben. 5. Minen- und Eisenbahnkonzessionen im ganzen Land sind ausschließlich von chinesischer Seite zu halten, Staatsschulden allesamt zurückgezahlt. 6. Die chinesische Flotte wird fünfhundert Schiffe umfassen, der gesamte Reiseverkehr von Ausländern sowie chinesischen Geschäftsleuten aus Übersee findet unter dem Geleitschutz der chinesischen Marine statt. 7. Bei der Aufnahme von Soldaten ins chinesische Heer wird eine militärische Ausbildung vorgenommen, die gesamte Kriegsausrüstung stammt aus chinesischer Produktion. 1315
Hier bearbeitet nach einer Ausgabe in Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT 8. Der Umfang jährlicher Warenexporte aus China wird die Stückzahl von fünf Milliarden überschreiten, die Schiffe für den Warenverkehr im Inland sowie in Übersee stammen vollständig aus chinesischer Produktion. 9. Es besteht eine allgemeine Wehr- und Steuerpflicht für die Bürger des ganzen Landes, es gibt keine Wanderbevölkerung oder Menschen ohne Arbeit und Einkommen. 10. Es gibt eines landeseinheitliche Währung, der Mondkalender ist zugunsten des Sonnenkalenders abgeschafft worden. Darüber hinaus wird es Lehranstalten für Männer und Frauen geben. In den mehr als sechsundsechzigtausend Einrichtungen für Jungen und Männer lernen über 9,8 Millionen Schüler und Studenten. Die Zahl der Schulen für Mädchen und Frauen übersteigt dreißigtausend mit mehr als zwei Millionen Lernenden. In diesen Zahlen nicht eingeschlossen sind diverse Fachschulen. Das Lebensniveau in China wird sich sehen lassen können. Nur in einem Punkt wird man es nicht mit den Ländern Europas und Amerikas aufnehmen können, denn obgleich Männer die Rechte der Freiheit von Rede, Publikation und Glauben genießen werden können, werden die Frauen im ganzen Land auch weiterhin unter der Unterdrückung leiden und ebenso abhängig bleiben wie heutzutage. Die Zahl der Frauen in China macht derzeit dreihundert Millionen aus, doch nicht einmal sieben von hundert haben eine Erziehung genossen. Zwar hat es in der Vergangenheit zwei engagierte und für das Allgemeinwohl werbende Frauen in unserem Land gegeben, die bei den staatlichen Instanzen einen Antrag zur Befreiung der Frau eingebracht haben, doch lehnte man dies mit dem Hinweis ab, den Frauen in China mangele es noch an der Fähigkeit dazu. Nur in zwei Punkten wird es einst Verbesserungen im Vergleich mit den Zuständen heutzutage geben: So wird die Sitte des Kaufes von Sklaven und Dienern ebenso abgeschafft worden sein wie die der eingebundenen Füße. In allen anderen Fragen wird man auch 1316 dann weiterhin auf Fortschritte warten müssen, doch davon genug.
Die eigentliche optimistische Sicht der Dinge kommt erst in der nun folgenden Romanhandlung zum Ausdruck, welche somit als Trost und Anregung für die Damenwelt zu verstehen ist, sich von den dargestellten Idealverhältnissen mitreißen zu lassen und eine Veränderung ihres Schicksals herbeizuführen. Nach ihrer Prognose über den Wandel während der kommenden Jahrzehnte leitet die Verfasserin nun alsbald zu den eigentlichen Protagonisten des Buches über. In Hankou, einem Teil der heutigen Stadt Wuhan am Flusse Changjiang lebt der hohe Ministerbeamte Yuan Zhongyu mit seiner Familie. Gleich in den ersten Zeilen lernen wir Zhongyu als aufrechten, sittenstrengen Mann kennen, der nach ersten glücklichen Ehejahren mit seiner Frau Wei über Kreuz gerät, entpuppt sie sich mit der Zeit doch als pietistische Anhängerin des Buddhismus, eine Religion, die der Gatte bald als Aberglauben abtut und sich gezwungen sieht, der Gemahlin nach vergeblichem Zureden den Zugriff zum Familienvermögen zu verwehren, um, wie er sagt, dem verschwenderischen Almosenwesen Einhalt zu gebieten. Doch nicht die 1316
Rechte der Frauen, Kap. 1, S. 7f.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie
Eheleute, sondern ihr einziges Kind, die Tochter Zhenniang steht im Mittelpunkt der folgenden Ereignisse. Gewarnt durch das Beispiel seiner ungebildeten Gattin – wie in zahlreichen Romanen auch, so wird hier ebenfalls der Eindruck vermittelt, als sei nur der Mangel an Schulbildung Schuld an der Verführung durch einen religiösen Glauben – nimmt sich Zhongyu selber der Erziehung seiner Tochter an und läßt sie in späteren Jahren eine Mädchenschule in Hankou besuchen. Der Zufall will es, daß Zhenniang bei einer Feier zum Mitteherbstfest, die von mehreren Schulen veranstaltet wird, unter den Gästen auf einen schneidigen jungen Marinesoldaten aufmerksam wird, der ihr in der Folge nicht mehr aus dem Sinn geht. Was hier bereits auffällt ist, daß Rechte der Frauen sich wohl noch den Aufbau und die eingängige Sprache der Werke des caizi jiaren-Grenres zu eigen macht, ansonsten vor allem aber beim Frauenbild einen Wandel fort von den zwar entschlossenen, aber weitgehend machtlos bleibenden nur schönen Damen erkennen läßt, wird uns Zhenniang doch als belesene und sportliche junge Frau vorgestellt, die sehr wohl in der Folge ihren eigenen Weg zu gehen weiß. Denn daß auch sie dem Marinekadetten nicht gleichgültig ist, weiß Zhenniang spätestens seit dem Zeitpunkt, da sie den jungen Mann bei dem Besuch in einem Pavillon trifft und nach seinem eiligen Aufbruch eine Brieftasche mit seiner Namenskarte sowie einem ihr gewidmeten Liebesgedicht findet. Sie nimmt die Unterlagen an sich und vergißt sie bei einem Besuch im Elternhaus daheim, wo sie alsbald wie befürchtet entdeckt werden. Der Vater hält sein Wissen zunächst zurück, doch die kühle Art, mit der er auf die Nachricht reagiert, daß Zhenniang nach ihrem hervorragenden Schulabschluß die Möglichkeit zum Besuch einer höheren Lehranstalt in Peking erhalten hat, läßt die Tochter bei ihrer Ankunft daheim nichts Gutes ahnen. So kommt es denn auch unweigerlich zum Streit, als Zhongyu sie schließlich auf das Gedicht anspricht. Er hält ihr ein unzüchtiges Treiben vor, ein Vorwurf, den Zhenniang natürlich empört zurückweist. Aus Verzweiflung weiß sie sich keinen anderen Ausweg, als sich in den nahegelegenen Fluß zu stürzen. Zwar sieht ein Wächter noch, wie sie in den Fluten verschwindet, doch die großangelegte Rettungsaktion verläuft erfolglos, so daß man den über das Verschwinden der Tochter bestürzten Eltern am nächsten Tag nur die traurige Nachricht vom Tod ihres Kindes überbringen kann. Aber das Schicksal hat Zhenniang ein anderes Los zugedacht, wird sie doch noch in der gleichen Nacht von einer Marinepatrouille aus den Fluten gefischt und erkennt nach Rückerlangung des Bewußtseins in ihrem Retter eben den geliebten Kadetten Deng Shuyu. Diesem verheimlicht sie freilich den ursprünglichen Selbstmordplan und gibt an, aus Unvorsichtigkeit in den Fluß gestürzt zu sein, doch in ihrer Absicht, einst nur seine und niemals die Frau eines anderen zu werden, wird sie aufgrund der wundersamen Rettung noch bestärkt. Da das Boot unterwegs nicht mehr anlegt, ist Zhenniang gezwungen, die Reise nach Tianjin mit zu machen, wo Shuyu sie zunächst bei der Verlegerin einer Zeitung unterbringt und daraufhin die Eltern vom Überleben Zhenniangs verständigt. In der Hafenstadt trennen sich vorerst die Wege der beiden Liebenden.
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Zhenniang wird aufgefordert, sich an der Arbeit der Zeitung zu beteiligen und erlangt mit einem eilig verfaßten Artikel über die Frauenrechte Berühmtheit über die Stadt hinaus, entschließt sich aber am Ende doch, erst einmal weiter die Schule in der Hauptstadt zu besuchen, wo sie schnell in den Kreis aufgeklärter und von Hause aus recht betuchter Kommilitoninnen gelangt, was sie in die Lage versetzt, gemeinsam mit anderen ein eigenes Blatt namens »Zeitung der Staatsbürgerinnen« zu gründen und so für die Zeit nach dem bald erfolgenden Studienabschluß eine sinnvolle Betätigung zu haben. Der bald ebenfalls nach Peking versetzte Vater betrachtet die Aktivitäten der Tochter in der Frauenbewegung zwar mit gehörigem Mißtrauen, doch erweist sich Zhenniang schnell als reife und besonnene Frau, die sich schriller Töne enthält und allen männerfeindlichen Feministinnen ihre ablehnende Haltung kundtut. Dennoch kann Zhenniang nicht verhindern, daß in den überall im Lande wie Pilze aus dem Boden sprießenden Frauenparteien ein ziemlich buntes Volk mit ganz unterschiedlichen Anliegen zusammenfindet, in dessen Folge sich selbst die Freudenmädchen dem Ruf nach Freiheit anschließen. Als daher in der Grenzprovinz Sinkiang eine Rotte aufgebrachter Frauen einen Polizisten tötet, verdächtigt man amtlicherseits sogleich Zhenniang angesichts ihrer Prominenz in der Bewegung der Aufrührerei und ordnet eine Durchsuchung der Redaktionsräume des von ihr mitgegründeten Blattes an. Nachdem sich die Wogen geglättet haben, erhält die chinesische Frauenbewegung plötzlich Hilfe von unerwarteter Seite, trifft doch mit einer gewissen Frau Victoria aus den Vereinigten Staaten eine gewichtige Persönlichkeit ein, die als Botschafterin ihres Landes Zugang zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft hat. Während ihres Akkreditierungsbesuches bei Hofe teilt sie der Kaiserinwitwe Cixi folgendes mit: »[...] In Wahrheit ist es so«, sagte Victoria, »daß die Frauen was Klugheit und Fähigkeiten angeht, den Männern in nichts nachstehen und es gleichermaßen mit ihnen bis hinein in die Bereiche der Politik eines Staates aufnehmen können.« »Ist es nicht vielmehr Sache der Frauen, die Angelegenheiten im Hause zu regeln?« wollte Cixi wissen. »Wozu sich an Männersachen wie der Politik beteiligen, auf Frauenrechten beharren?« »Ich kann dem nicht beipflichten«, beharrte Botschafterin Victoria, »in den meisten Staaten stellen Frauen wenigstens die Hälfte der Bevölkerung. Selbst wo die Männer noch so aufgeklärt sein mögen, gleicht ein Staat, in dem den Frauen jegliches Recht abgesprochen wird einem kranken Körper, der bereits zur Hälfte dem Verfall preisgegeben ist und nur noch halb zu kontrollierten Bewegungen fähig ist. Reichtum und Stärke eines Landes sind auf diese Weise unweigerlich Grenzen gesetzt. Daher ist in den Vereinigten Staaten eine landesweite Frauenvereinigung gegründet worden, die sich die Durchsetzung der Frauenrechte zum Ziel gesetzt hat. Wenn Sie daher in China die Mängel einer halbherzigen Verfassung vermeiden wollen, sollten Sie in 1317 der Bevölkerung die Gründung einer entsprechenden Vereinigung fördern.« 1317
Ebd., Kap. 6, S. 39f.
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Nachdem Victoria erläutert hat, was sie mit einer halbherzigen Verfassung meint, worunter sie nämlich umfassende staatliche Reformen versteht, die alleine den Männern zugute kommen, bespricht sich Cixi in der Sache mit dem Kaiser, der die Angelegenheit zur Beratung an seine Minister weiterleitet. Als man dort zu dem Ergebnis kommt, daß die Zeit für eine Machtbeteiligung der Frauen in China noch nicht reif sei, schließt sich der Kaiser dem Urteil seiner Ratgeber an und will die Frauenvereinigungen verbieten lassen, doch bleibt die Frage nach heftigen Reaktionen des Auslands zunächst in der Schwebe. Es ist in diesem Zusammenhang übrigens interessant, wie positiv die Kaiserinwitwe Cixi gerade auch durch ihr Engagement in der Folge hier wegkommt. Es entsteht der Eindruck, als habe man in Kreisen der Frauenbewegung zu Jahrhundertbeginn durchaus die Hoffnung gehegt, die ranghöchste Vertreterin des weiblichen Geschlechts im Reiche für die eigenen Zwecke einzuspannen – eine allzu optimistische Sicht freilich, wie die Ereignisse von 1898 belegen, als Cixi die Reformanstrengungen vehement abschmetterte. Gleichsam macht sich hier ein erheblicher Konservatismus bemerkbar, der nicht etwa die Abschaffung der gesamten Kaiserdynastie als Voraussetzung ansieht, sondern der vielmehr auf die Einsicht der Herrscher setzt. Die Romanheldin Yuan Zhenniang jedenfalls erkennt für sich zunächst keine Möglichkeit, auf die Zustände einzuwirken und tritt eine Weltreise an, während deren Verlauf sie auf ihren Stationen in St. Petersburg, Berlin, Paris, London und New York allerlei Nützliches über das Engagement der zeitgenössischen Frauenbewegungen in diesen Ländern erfährt, wobei den weiblichen Angehörigen der Gemeinschaft der Auslandschinesen allerdings als Fremde immer noch eine ganze Reihe von Rechten vorenthalten sind, wie Zhenniang deprimiert feststellen muß. Hier mischen sich wie häufig in den Romanen dieser Art die Sorge um das Frauenwohl mit den gängigen patriotischen Belangen. Dennoch stürzt sich die gereifte Zhenniang bei ihrer Rückkehr nach China in neue Aktivitäten und ruft mit dem auf der Reise gesammelten Geld eine neue Mädchenschule ins Leben. Daneben nutzt sie die im Ausland hergestellten Kontakte, um über die dort lebenden Studentinnen Druck auf die eigene Regierung auszuüben und kann auf diese Weise bald eine Resolution mit achtzigtausend Unterschriften vorlegen, in der es unter anderem heißt: Der Mangel an Frauenrechten in China führt dazu, daß man chinesischen Frauen im Ausland diese Rechte ebenfalls verweigert und ihnen das Leben dort in vielerlei Hinsicht erschwert. Die Frauen in China haben mittlerweile ein in jeglicher Hinsicht beachtliches Niveau erreicht. Ihnen weiterhin Rechte vorzuenthalten, widerspricht den allgemeinen Prinzipien und Rechten, die ihnen von Natur aus zukommen. Die Vereinigungen zur Reform der Verhältnisse in den Familien gehen auf das Engagement der Vereinigungen zur Durchsetzung der Frauenrechte zurück. An allen Orten mit derartigen Vereinigungen sind Frauen nicht mehr der Gängelung durch die Männer unterworfen. Dennoch handelt es sich hierbei weiterhin
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT um gesetzlich nicht verankerte Rechte. Dem ist in Anpassung an die stattgefundenen Veränderungen Abhilfe zu schaffen. Erst mit der Verankerung der Frauenrechte können Reformen und Verfassung für sich Vollständigkeit beanspruchen. China darf dem Ausland hier nicht nachstehen. Mit der Durchsetzung von Frauenrechten im ganzen Land wird es China gelingen, die Wissenschaft zu fördern und die Wirtschaft anzukurbeln und so den 1318 Sprung an die Weltspitze zu erlangen.
Zu Zhenniangs Kummer allerdings bleibt die eingebrachte Resolution zunächst bei den beratenden Kommissionen des Staates liegen. Immerhin ist man aber an höherer Stelle auf die engagierte Frau aufmerksam geworden und bietet ihr eine Arbeit als Übersetzerin in dem Ministerium für Erziehungsfragen an, welche Zhenniang auch annimmt. Während einer Audienz bei Cixi bietet sich ihr zudem Gelegenheit, ihre Fremdsprachenkenntnisse unter Beweis zu stellen. Dies ist allerdings zunächst nur ein ganz privater Erfolg, beschließt die Ministerrunde doch einen Verzicht auf die Reformen. Erst die zahlreichen Kundgebungen durch Studenten und vehementer Druck durch das Ausland, hier vor allem von der Botschafterin Victoria ausgeübt, die der Kaiserinwitwe bei einer Audienz in beleidigender Form die notwendige Ehrerbietung verweigert, beschließt der Hof unter maßgeblicher Beteiligung von Cixi notwendige Reformen, mit denen den Frauen endlich umfassende Rechte zugestanden werden. Neben dem allgemein gehobenen Status der Frauen, der unter anderem die Einehe vorschreibt und Witwen die Möglichkeit zur Wiederverheiratung einräumt, erhalten Frauen nun endlich auch das Wahlrecht. Im Land erschallen Hochrufe auf das einsichtige Kaiserhaus. Nun endlich ist es auch für Yuan Zhenniang an der Zeit, an ihr persönliches Glück zu denken und die Heiratspläne mit dem aus dem Ausland zurückgekehrten Deng Shuyu voranzutreiben. Ganz im Einklang mit den von den westlichen Nationen übernommenen Sitten unternimmt das frisch getraute Paar denn auch am Schluß im Auto eine Hochzeitsreise in das heimatliche Hankou. Wir wollen den Themenkomplex über die Literatur der Frauenbewegung abschließen mit einem umfangreichen Roman, der zwischen den Jahren 1909 und 1911 unter dem Titel Ritterliche Schönheiten (Xiayi jiaren) in wenigstens vierzig Kapiteln erschien und panoramaartig die Erscheinungen in der Gesellschaft beschreibt.1319 Hinter dem Verfasserpseudonym verbirgt sich die Person einer gewissen Shao Zhenhua. Die Autorin enthält sich jeglicher schriller Töne und argumentiert stark vernunftbetont. Die Männer werden zwar als Urheber der Qua1318 1319
Ebd., Kap. 11, S. 67. Hier wiederum bearbeitet nach einer Ausgabe in Sammlung der neuzeitlichen Erzählliteratur Chinas. Der Roman war ursprünglich wohl auf drei Bände angelegt, von denen aber seinerzeit offenbar nur zwei im Umfang von eben vierzig Kapiteln erschienen sind.
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len der Frauen ausgemacht, unter denen sie Jahrtausende lang gelitten haben, doch nicht pauschal alleine aufgrund ihres Mannestums bis in alle Ewigkeit verdammt wie das etwa noch Sha Xuemei in Blumen in der Frauenhölle oder die Verfasserin des ebenfalls sehr umfangreichen, hier aber nur dem Titel nach genannten Romans Aufzeichnungen über die aktuelle Lage in der Frauenwelt (Zuijin nüjie xianxingji), wo der verkommene Fu Tianxing eine Reihe von Frauen ins Unglück stürzt und ihrer Bewegung großen Schaden zufügt, getan haben.1320 Vielmehr liegt es Shao daran, die Konflikte nicht vertiefen zu wollen. Die Männer sollen mittels des Appells an die Gerechtigkeit und durch das ehrsame, ritterliche doch gleichsam entschlossene Auftreten der Frauen für deren Sache gewonnen werden oder ihnen doch zumindest Gleichberechtigung zubilligen. Denn, so argumentiert die Verfasserin bereits in dem kurzen Vorwort zum Roman, ganz unschuldig sind die Frauen an ihrer Lage nun wiederum auch nicht. Was ist der Grund dafür, daß die Männer Frauen unterdrücken und wir dies zulassen? Nun, das verhält sich folgendermaßen: Die Männer handeln so in der Gewißheit, daß wir ängstlich wie kleine Mäuse sind und es keinesfalls wagen werden, uns zu erheben und das erlittene Unrecht in die Welt hinauszuschreien. Darüber hinaus jedoch tragen wir Frauen selber einen guten Teil zu unserem Schicksal bei, denn wir sind oftmals faul und bequem wie die Katzen, lassen uns gerne von anderen gängeln und klagen nicht laut. Kein Wunder also, daß diese beiden Ursachen üble Folgen für uns haben. Da man sie lange Zeit hinnahm und nie etwas änderte, leben wir Frauen auch heutzutage noch in einer finsteren Welt. Die Männer mögen wohl die Urheber unseres Unglücks sein, doch sind wir Frauen zu einem guten Teil nicht auch selber Schuld? Wie heißt es doch so schön: Nur in einem bereits verfaulten Stück Holz nisten sich Würmer und Ungeziefer ein. Erst wenn wir jenes Maß an Kultiviertheit und Erhabenheit besitzen wie die Frauen im Westen, werden die Männer uns ehren und fürchten, uns Vertrauen entgegenbringen und lieben. Erst dann werden wir keine Unter1321 drückung mehr zu erdulden haben.
Die Frauen sind nicht lediglich Opfer, sondern tragen selber in nicht unerheblichem Maße zur Misere des weiblichen Geschlechts bei, indem sie an Traditionen wie dem Füßeeinbinden oder der Verheiratung ihrer Töchter mit Hilfe von Ehevermittlern festhalten und den jungen Schwiegertöchtern in ihrem Hause das Leben unerträglich machen. Die Aktivistinnen dagegen, die in der Bevölkerung Aufklärungsarbeit betreiben oder Mädchenschulen gründen, kommen bei Shao Zhenhua ausnahmslos gut weg, obgleich hier in zeitgenössischen Werken wie Lu Shi'es 1320
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Aufzeichnungen über die aktuelle Lage in der Frauenwelt erschien 1909/1910 in fünfundvierzig Kapiteln. Bei der Verfasserin handelt es sich um eine Dame namens Hui Zhu aus Nanpu (Nanpu Hui Zhu nüshi). Ritterliche Schönheiten, Vorwort, S. 85.
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Seltsame Bemerkungen zu den Betrügereien durch die Frauen (Nüzi pianshu qitan, acht Kapitel, erschienen 1911) bzw. der ebenfalls aus Lus Feder stammenden Geschichte der Ausschweifungen in der Frauenwelt (Nüjie fengliushi, zwölf Kapitel, erschienen 1911) ein ganz anderes Bild gezeichnet wird. Ein männlicher Verfasser hätte wohl eine andere Sicht der Dinge eingenommen. Mit Hilfe zahlreicher Spiegelungen in umfangreichen Erzählkomplexen gelingt es Shao Zhenhua, die Erscheinungen ihrer Zeit aufzuzeigen: Land und Stadt, einfache Bauernfrauen und hochgestellte Damenwelt, überall ergeben sich Gegensätze, werden Vorbilder aufgezeigt, die es möglichst nachzuahmen gilt. Schon die Lage in dem abgelegenen und wohlhabenden Dörfchen Jin in der Präfektur Ji'nan, dessen Idylle in den ersten Romanszenen beschrieben wird, ist weniger erfreulich als zunächst angenommen. Denn schon kurze Zeit nachdem der junge Zhang Youcai aus reichem aber wenig auf Bildung bedachtem Hause mit Li Guijin, der Tochter eines hochmütigen Bakkalaureus, ganz in der Art der Tradition (Ehevermittlerin, Austausch von Horoskopen und Brautgeschenken) verheiratet worden ist, kommt es zwischen den Familien zum Streit. Zwar führen die jungen Eheleute im Hause der Zhangs zunächst noch ein unbeschwertes Leben, doch als Frau Yang, die Schwiegermutter der Guijin auf ihren Vorrechten beharrt und die Junge dies nicht hinzunehmen gewillt ist, kommt es zum Eklat, der in eine handfeste Auseinandersetzung ausartet. Aufgrund ihrer gesellschaftlich unterlegenen Stellung sind der alte Zhang und seine Gattin am Ende gezwungen, Abbitte bei den Lis zu leisten, was freilich zur Folge hat, daß von nun an die junge Guijin das Zepter im Hause schwingt und weder ihren eigenen Gatten noch die Schwiegereltern für voll nimmt. Aufregende Tage brechen im Dorfe Jin an, als plötzlich fremde Frauengestalten in westlichen Kleidern auftauchen, die von der Shanghaier Frauenvereinigung »Dämmerung« entsandt worden sind, um aufklärerisch im Lande zu wirken. Die kleine Gruppe wird angeführt von einer gewissen Hua Runquan, die sich im Dorf umsieht und die Frauen zu ihrer Lage befragt. Als Mitglieder der »Dämmerung« bei dieser Gelegenheit im Hof eines Hauses mehrere Tonfiguren finden, bei denen es sich um Darstellungen der lokalen Mäusegottheit handelt, entbrennt zwischen den Dorfbewohnerinnen und den Fremden ein hitziger Streit über Glaubensfragen. Welten treffen aufeinander. »Warum zeigt sich die Gottheit nicht und spricht mit euch, wenn sie doch so mächtig ist wie ihr behauptet?« fragte Hua Runquan die anwesenden Frauen. »Da der Mäusegott zu beidem nicht in der Lage ist, solltet ihr auch nicht an ihn glauben. Ich schlage daher vor, daß ihr seinen Altar verbrennt, aus seinem Umhang ein Putztuch anfertigt und die Tonfigur den Kindern zum Spielen gebt.« »Verehrtes Fräulein Hua, Ihr seid so gebildet und redegewandt, da können wir ungehobeltes Bauernvolk nicht mithalten«, erwiderte Frau Yang, »doch bin ich nach wie vor der Meinung, daß es Götter und Geister gibt, die den Menschen zusetzen, denn wie wäre es sonst möglich, daß jemand ganz plötzlich und ohne
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie jeden Grund stirbt?« »Es ist nun einmal das Los des Menschen auf der Welt, daß er für Essen, Kleider und Wohnung arbeiten muß und sich stets um die Grundlagen seiner Existenz sorgt«, hob Hua Ruiquan an. »Wo gearbeitet wird, treten Müdigkeit und Ermattung auf, die zu Krankheiten und auf ganz natürliche Weise zum Tod führen können. Dem Tod geht niemand aus dem Weg, das ist von der Natur so gewollt und nichts, was im Ermessen irgendwelcher Geister und Gottheiten läge. Jeder Mensch muß nun einmal sterben, die Lebenszeit, die uns zubemessen ist, hängt nicht von Göttern und Geistern ab, oder habt ihr je davon gehört, daß jemand, der Buddha verehrt, tausend Jahre alt würde und ewig lebte. Auf der Welt gibt es weder Teufel und Geister noch Gottheiten oder Buddhas. Der Himmel ist ganz schlicht eine Hülle aus Luft, zu der die Wolken von der Erde aus emporsteigen und das in ihnen enthaltene Wasser in Form von Regen wieder auf die Erde senden. Wolken und Regen entstehen keinesfalls von sich aus irgendwo dort oben im Himmel. Das ist genauso abwegig wie die Annahme, im Himmel gäbe es ein Paradies oder eine Hölle unter der Erde, alles Betrug. Unter den Lebewesen auf der Erde ist das klügste und fähigste der Mensch. Für alle Probleme kann der Mensch Lösungen finden. Nur für das, wovor der Mensch sich fürchtet, wovor er Angst hat, nimmt er oftmals die Exi1322 stenz von Göttern und Geistern an, doch in Wahrheit gibt es sie nicht.«
Das Thema des Aberglaubens, dem sich eine Reihe von zeitgenössischen Werken wie zum Beispiel Der Jadebuddha (Yufoyuan, erschienen 1905 unter dem Pseudonym »Heisheng« in acht Kapiteln) oder Die Vernichtung des Aberglaubens (Sao mi zhou, erschienen ebenfalls 1905 unter dem Pseudonym »Zhuangzhe« in vierundzwanzig Kapiteln) ausschließlich zugewandt haben, spielt auch bei einem Besuch auf dem Lande in einem späteren Teil des Romans eine Rolle und wird dort auf die Religion schlechthin ausgedehnt. Die Rigorosität, mit der Gottheit und selbst die Seele des Menschen in übertriebener Aufgeklärtheit in Frage gestellt werden, nimmt die Zerstörung von Tempeln und Klöstern während der Kulturrevolution (1966–1976) Jahrzehnte später quasi vorweg. Die hier übertragene Diskussion findet statt zwischen einer alten Dorfbewohnerin und Su Zhifen, eine Aktivistin der »Dämmerung«. Hintergrund ist die Anbetung von Seidenraupengötzen, durch die man sich eine gute Zucht verspricht. »Sie sind vermutlich eine Anhängerin der westlichen Religion«, sagte die alte Frau, »wer nicht an Buddha glaubt, lehnt ihn natürlich ab. Mir sagt das Christentum nichts. Ich verlasse mich im Leben auf Buddha. Die christliche Gemeinde hier in Wucheng sagt oft zu den Leuten, sie mögen von Buddha ablassen, nicht die Ahnen verehren und vielmehr an Jesus glauben.« »Ich bin auch keine Christin und glaube nicht an Jesus«, bekräftigte Zhifen, »hier halte ich es wie viele Menschen im Westen, die ebenfalls nicht der christlichen Religion angehören. Die Missionare in China allerdings sind allesamt Christen und verbreiten die Lehre 1322
Ebd., Kap. 4, S. 129.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Gottes. Doch das ist alles leeres Geschwätz. Im Himmel gibt es gar kein Paradies, auch Jesus ist nicht der, für den er ausgegeben wird. Der historische Jesus hat zwar einstmals gelebt, doch ist er seit zweitausend Jahren lange tot.« »Wie kommt es, daß Sie nicht an Jesus glauben?« wollte die Alte wissen. »Die Lehre von Jesus hat zwar einige gute Seiten«, antwortete Zhifen, »doch das Gerede von Wiederauferstehung, Himmel und Hölle ist dummes Gerede. Daran darf man einfach nicht glauben.« »Woran glauben Sie denn dann wenn nicht an Jesus und Buddha?« »Ich glaube an gar nichts.« »Gibt es wirklich keinen Buddha?« Zhifen nickte bejahend. »Wenn es wie Sie sagen keinen Buddha gibt, wie sieht es dann mit den Ahnen aus?« wollte die Alte wissen. »Die sind lange gestorben, natürlich gibt es keine Ahnen mehr als solche«, erwiderte Zhifen. »Und wie steht es mit der Seele nach dem Tode?« »Auch da gibt es nichts, worüber es sich zu reden lohnte.« »Beten Sie etwa nicht zu den Ahnen Ihrer Familie?« »Doch, das tue ich.« »Seltsam«, lachte die Alte, »Sie behaupten, es gebe keine Ahnen und doch beten Sie zu ihnen?« »Sie sind beileibe nicht auf den Mund gefallen«, sagte Zhifen, »doch im Ernst: Die Art und Weise, wie unsereins die Ahnen verehrt, hat nichts damit zu tun, sie etwa um Glück und Beistand zu bitten. Wir bringen damit nur zum Ausdruck, daß wir sie nicht vergessen wollen. Wir wissen sehr wohl, daß sie nicht mehr existieren, doch mittels der Verehrung gedenken wir ihrer Taten von einst und leiten die Nachkommen dazu an, von ihnen zu lernen, freilich nur das Gute, auf das Schlechte soll man ruhig verzichten. Das unterscheidet sich von der Anbetung wie ihr sie praktiziert und bei der ihr in allem von den Ahnen abhängig bleiben wollt.« [Die Frauen der »Dämmerung einigen sich im weiteren Gespräch darauf, daß der Glaube an Buddha und Jesus an sich nicht unbedingt etwas Schlechtes sei, sie lehnen aber die Anbetung von Götzen strikt ab mit dem Hinweis, dies sei der allgemeinen Entwicklung nicht förderlich. Dem Christentum wird wenigstens noch ein moralischer Wert zugutegehalten.] »Was den Aberglauben angeht, so ist das ein Übel, das man ihn in China ebenso wie im Ausland antrifft«, sagte Zhifen, »der Aberglaube der Ausländer führt wenigstens bei vielen zu einer inneren Vervollkommnung. Nehmen wir nur einmal den fremden Arzt, den wir vorhin getroffen haben. Der Glaube an Gott erfüllt ihn mit Freude und läßt ihn seine Arbeit besonders gründlich verrichten. Solch ein Aberglaube ist ohne jedweden Schaden und bringt sogar viel Gutes mit sich. Doch der Aberglaube in China macht die Menschen träge und abhängig und verhindert, daß sie ihr Werk aus eigener Kraft verrichten. Kein Wunder, daß katastrophale Zustände entstanden sind. Wie kommt es, daß ein und derselbe Aberglaube hier schädlich und dort nützlich ist?« »Das hängt meiner Meinung damit zusammen, daß man sich bei uns weigert, zu lernen und sich zu bilden«, erläuterte Jianchen, »der Mensch kommt wohl nicht ohne eine Form des Aberglaubens aus, genausowenig wie er auf Liebe und Verlangen verzichten möchte. Beides ist selten anzutreffen. Doch wenn ein Mensch nicht lernt und Wissen erwirbt, dann verleitet ihn der Aberglaube zu Illusion und Abhängigkeit. Wenn man die Menschen zum Wissen anleitet, dann mögen sie ruhig an ihrem Aberglauben festhalten, wenn sie dabei wenigstens ihre Abhängigkeit
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie aufgeben. Es ist wie mit den gebildeten Menschen, die nicht auf ihre menschlichen Triebe wie Liebe und Verlangen verzichten möchten, aber doch in der Lage sein sollten, Bosheit und Gemeinheit aufzugeben. Wir werden es wohl in China heutzutage noch nicht fertigbringen, den Aberglauben aufzugeben, doch wir haben viel gewonnen, wenn es gelingt, daß die Menschen in ihrem Glauben die Abhängigkeit zu verlieren.« »Das heißt, daß wir am besten einen Staatsglauben im Lande schaffen«, sagte Rongsheng, »da in China von jeher Konfuzius verehrt wird, sollten wir ihn als Gottheit anbeten wie einen Jesus. Andere Götter neben Konfuzius sollten nicht zugelassen werden. Überall würden dann Tempel für ihn errichtet, wo man seine Lehre über Treue, Pietät, Keuschheit und Ehre verbreitete – Prinzipien, an denen die Menschen ihr Verhalten dann ausrichten sollten. Konfuzius würde über Wohl und Wehe eines jeden entscheiden, die Menschen würden jede Woche an einem Tag in den Tempel gehen, um zu beten und keine Gottheit neben Konfuzius dulden.« »Da scheint es mir doch angebrachter, die Statuen sogleich alle zu vernichten«, hob Zhifen erneut an, »niemand käme dann auf die Idee, überhaupt noch beten zu wollen. Jene Statuen, die den berühmten Männern des Altertums gewidmet sind, müßten aber erhalten bleiben, doch ihre Tempel ringsum dürften nicht mehr bestehen. Allenfalls Statuen aus Stein oder Messing sollten noch an sie erinnern. In keinem Tempel, gleich wem er gewidmet ist, dürften sich noch Altäre finden, nur Statuen sollte es noch zur Erinnerung geben.« »Das wäre per Gesetz leicht zu regeln [...]«, führte Jianchen die Überlegungen weiter aus, »Buddha etwa wird heute nur noch von alten Frauen verehrt, unter den jungen Leuten dagegen, zumal bei den Männern schlechthin, ist der Glaube an ihn nicht allzusehr verbreitet. Was soll man sich also um die alten Frauenzimmer scheren, Widerstand gegen ein derartiges Gesetz hätte man keinesfalls zu befürchten. Nur unter den Mönchen könnte es noch Unzufriedenheit geben, aber auch da sollte sich ein Weg finden lassen. Die immer noch Unwilligen würden bekehrt oder umerzogen, alle klösterlichen Besitztümer eingezogen und veräußert. Mit dem Geld sollten sie sich dann ein neues Gewerbe schaffen, das übrige würde an die Bevölkerung verteilt. Man könnte Schulen errichten, an denen die jungen Mönche studieren. [...] Damit würde der Unmut unter den Mönchen nicht allzu groß sein, und was die uneinsichtigen Alten unter ihnen angeht, so kann man es schließlich nicht jeder1323 mann Recht machen.«
Der Aberglaube oder besser die Religiosität schlechthin ist nur ein Aspekt, bezüglich dessen sich die Angehörigen der »Dämmerung« Veränderungen wünschen. Vielmehr ist ihnen auch an einer Reform der Sitten gelegen, denn nur mit ehrlichen Gebräuchen und Gepflogenheiten sehen sie eine Möglichkeit zum Fortschritt. Hier lassen sich die Zustände freilich eher beschreiben als daß konkrete Vorschriften gemacht werden können wie im Falle der zuvor angeführten Abschaffung religiöser Einrichtungen. 1323
Ebd., Kap. 30 u. 31, S. 508–514.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Dimin mußte an ein Essen bei der Familie Jiang im vergangenen Jahr denken. Sie lachte auf und sagte: »Damals gab es Haifischflossen, von denen die Jiangs selbst nur eine einzige abbekamen. Selbst die Krabben teilten sie zu dritt unter sich auf. Ich glaube, an dem Abend bin nur ich als Gast satt vom Tisch aufgestanden, immer wieder forderte man mich auf, doch zuzulangen. Sie selber haben kaum etwas gegessen.« »Mir ist es in Hangzhou bei zwei Gelegenheiten ähnlich ergangen«, sagte Frau Qin, »so habe ich im einen Fall mir selbst vor lauter Hunger etwas zubereitet, nachdem ich von dem Besuch heimkam. Ich nehme an, die Gastgeber taten das gleiche und kochten erst richtig für sich, nachdem ich fort war.« »Ganz gleich was man bei uns in China auch anfängt«, meinte Jianchen, »stets liebt man es, den Schein zu wahren. Das ist beim Essen nicht anders wie bei den meisten anderen Dingen. Wer in Wahrheit Geld hat, gibt sich gerne als armer Mann aus, ein Tropf ohne Ansehen und Einfluß dagegen liebt es so zu tun, als sei er mächtig. Einer mag den anderen zutiefst verachten, doch wird er rein äußerlich immer so tun, als möge er ihn. Diese Falschheit ist bei den Beamten nicht anders als bei den Kaufleuten, den Bauern oder Handwerkern. Ob mächtig oder schwach, arm oder reich, in allen Beziehungen herrschen nur Schein und Unwahrheit, kein Wunder, daß die Menschen immer schlechter werden, alles in Unordnung ist und es mit dem Land immer mehr bergab geht.« »Es wird noch geraume Zeit dauern, bis die Menschen in China wieder aufrichtig und ehrlich werden«, sagte Zhifen, »mir scheinen der Aufbau der Wirtschaft und der Armee im Augenblick viel wichtiger. Laßt uns die Sitten ordnen, wenn der Staat wieder erstarkt ist, was haben wir von Sitten, wenn es keinen Staat mehr gibt?« »Unmöglich«, warf Dimin ein, »auf die Sitten darf keinesfalls verzichtet werden.« »Wirtschaft, Armee und Sitten sind alle drei in gleichem Maße wichtig«, bekräftigte Jianchen, »die Menschen ohne Sitten anzuleiten, gelingt selbst dem stärksten Land nicht auf Dauer. Umgekehrt muß der sittenstärkste Staat zwangsläufig untergehen, wenn er sich nicht die Förderung von Wirtschaft und Armee zur Aufgabe macht.« »Da bin ich anderer Auffassung«, sagte Zhifen, »doch laß uns bei einer weiteren Gelegenheit dar1324 über reden.«
Doch fahren wir weiter in der Handlung fort. Wenngleich Hua Ruiquan mit ihrer Aufklärungsarbeit in Jin und den Dörfern der Umgebung auch wenig konkrete Erfolge erzielt – die Reaktionen der Frauen reichen von Einsicht über Teilnahmslosigkeit bis zu Empörung und Ablehnung – gelingt es ihr schließlich immerhin, Frau Yang und eine Reihe weiterer Frauen dazu zu bewegen, mit ihr gemeinsam an einer Redeveranstaltung über Frauenrechte in Ji'nan teilzunehmen, wo die Bewohnerinnen vom Lande das erste Mal etwas über die Einrichtung von Mädchenschulen sowie über von Frauen gegründete Fabriken erfahren. Mit diesen Szenen endet die Beschreibung der ländlichen Verhältnisse, und die Verfasserin wendet sich mit der Schilderung von Ereignissen um die Vereinigung »Dämmerung« sowie 1324
Ebd., Kap. 34, S. 587.
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie
deren Vorsitzenden Meng Dimin den zentralen Aspekten des weiteren Buches zu. Der Leser lernt »Dämmerung« als eine Organisation kennen, die soeben mit dem Aufbau zahlreicher Projekte wie Schulen und Unternehmen in Shanghai befaßt ist. Finanziert werden die Projekte aus einer umfangreichen Erbschaft, die Meng Dimin vor einiger Zeit angetreten hat. Als energische, besonnene und kluge Frau versteht es Dimin, eine ganze Reihe von engagierten Frauen für die Arbeit zu gewinnen, wobei sich zunächst vor allem Zhang Zhenya und die Sekretärin Tian Rongsheng hervortun. Nur mit dem Neuzugang Mu Benshi, der angeblichen Leiterin einer Mädchenschule aus Hongkong, scheint Dimin wenig Glück zu haben, fügt sich diese junge Dame doch nur schwer in die Frauengemeinschaft ein und stößt die meisten mit ihrer Hochmütigkeit ab. Besonders kritisch wird sie von Rongsheng beäugt, die nach einer Reihe seltsamer Vorkommnisse und Beobachtungen bald zu der Gewißheit gelangt, es mit einer Hochstaplerin zu tun zu haben, die für die Vereinigung gefährlich sein kann. Betroffen registriert die sensible Rongsheng nach einer unerfreulichen Auseinandersetzung mit Mu Benshi ihre eigene seelische Verfassung, die sich wohl am besten mit dem drohenden Verlust der selbst geschaffenen Idylle erklärt. Während eines einsamen Spaziergangs zur Herbstzeit entlang des Flußufers kommen ihr folgende weltentsagende Gedanken: Als Rongsheng die Krähen in der Abenddämerung davonfliegen sah, mußte sie unwillkürlich daran denken, daß die Menschen auf der Welt lange nicht so unbeschwert lebten wie die Krähen und Elstern, die sich beim Anbruch des Morgens aus ihren Nestern erhoben, den ganzen lieben langen Tag frei und unbeschwert umherflogen und nichts von Ruhm und Schande, Reichtum und Ansehen, Armut, Betrug und Krieg wußten. Wir Menschen dagegen mit unserer Überlegenheit in allen Dingen lebten in einer lärmenden Welt voller Streit und Hader, Betrug und Diebstahl, in der die Edlen nach Ruhm und die Gemeinen nach Besitz und Vorteil strebten. Dabei, wenn man es recht bedachte, waren die Menschen in ihren Grundbedürfnissen nach Kleidung und Nahrung doch alle gleich, alles andere war nur falsch und Schein. Was zählte denn Ruhm, in tausend Jahren würde die Erde vielleicht längst zerstört, der Ruhm ganz und gar dahin sein. Der Ruhm, den man heute vielleicht erlangte, nur sinnlos und leer. Aber verhielt es sich nicht genauso mit der Macht der Kaiser und Könige, den Territorien des Reiches, dem Besitz der Reichen und den Titeln der Adligen? All das war ebenso sinnlos und leer, nichts davon hatte Bestand. Und was war erst mit unserem Körper? Er würde noch schneller vergehen als jeglicher Ruhm. Dieser würde einst womöglich gemeinsam mit der Erde untergehen, doch uns Menschen waren im besten Falle wenige Jahrzehnte zubemessen, dann waren wir nicht mehr. Selbst ihre Arbeit als Sekretärin der Vereinigung war leer und nichtig, die Nahrung, die sie täglich zu sich nahm, die Kleider, die sie trug, nichts war echt und wirklich, jahrzehntelang nur leerer Schein. Was fürchtete der Mensch dann noch den Tod, wenn er wußte, daß alles leer war? Was zählte es, ob einer früher oder später aus dem Leben schied, im Tode waren alle gleich, das hatte im Grunde nichts Furchterregendes, und doch verspürten alle
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT Angst davor. Doch war sie selber etwa anders? Wollte sie selber vielleicht den Tod suchen, wo sie schließlich wußte, daß alles nur leer und nichtig war und sie früher oder später sterben würde? Auf keinen Fall. Der Mensch zog das Handeln dem Müßiggang vor, er wollte leben, nicht sterben, stets würde er versuchen, den einmal verlorenen Platz wieder einzunehmen, das war seine Natur. Doch auch diese Natur war nur Leere, alles blieb vergänglich, und in einem Augen1325 blick war alles vorüber.
Es sind eingestreute Passagen wie diese, die Ritterliche Schönheiten wohltuend von den oftmals lärmenden Werken der übrigen Literatur des Genres abheben. Mit neuem Mut begibt sich Rongsheng zurück auf ihr Zimmer und stellt fest, daß in der Kammer der Mu Benshi noch Licht brennt. Ihr Blick fällt auf zwei mysteriöse Briefe seltsamen Inhalts. Rongsheng beschließt, der Sache endgültig auf den Grund zu gehen und bittet zwei Freunde, die verdächtige Aktivistin zu observieren. Tatsächlich fördern die Nachforschungen am Ende Erschütterndes zutage: Demnach handelt es sich bei Mu Benshi in Wahrheit um eine ehemalige Angehörige der Revolutionspartei, die aus Furcht vor den Nachstellungen durch die Sicherheitsbehörden nach Shanghai geflohen ist und den Plan hegt, der wohlhabenden Meng Dimin und ihrer Vereinigung Geld abzupressen. Rechtzeitig noch weiht Rongsheng die Vorsitzende in die Vorgänge ein, doch anstatt der Mu Benshi das Handwerk zu legen, zeigt sich Dimin großzügig und schafft sie sich mit einem Geldbetrag vom Halse, ein weiteres Beispiel dafür, mit welcher Umsichtigkeit die Dame immer wieder Konflikte in ihrer Umgebung löst. Nicht überall jedoch werden Probleme bei den Aktivitäten der Frauenbewegung so erfolgreich beseitigt. Das zeigt die längere eingeschobene Episode über die junge Bai Huiqin, die trotz geringer zur Verfügung stehender Mittel unweit von Shanghai in der Stadt Jiangyin eine Mädchenschule ins Leben gerufen hat. Schon die Suche nach geeigneten Lehrerinnen erweist sich als ein hoffnungsloses Unterfangen, wie Huiqin bald feststellen muß, trifft sie doch bei den von ihr angesprochenen Damen weitgehend auf Desinteresse, Trägheit und Einfältigkeit. Lediglich eine Frau Jiang erklärt sich bereit, ein geringes Lehrdeputat zu übernehmen, gerät aber bald, da selbst nur ungenügend gebildet, in Konflikt mit ihren Schülern, die sie nicht ernst nehmen. Überhaupt ist das Interesse in der Bevölkerung an der neuen Schule gering, so daß sich Huiqin gezwungen sieht, selbst junge Mädchen im Alter von fünf oder sechs Jahren aufzunehmen, um überhaupt die Klasse füllen zu können. Kaum ist der Lehrbetrieb angelaufen, treten neue Probleme auf. Einige der halbwüchsigen Schülerinnen nutzen nämlich die Freiheiten, die ihnen der Schulbesuch gestattet schamlos aus und verdrehen den jungen Eleven der örtlichen Jungenschule dermaßen den Kopf, daß einige von ihnen bis in die Klassenräume der Schule Huiqins vordringen. Erst als diese dem Rektor der Jungenschule ihre Meinung gesagt hat, 1325
Ebd., Kap. 10, S. 193f.
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wobei sie allerdings wie erwartet auf wenig Verständnis stößt – bietet der Rektor doch als einfachste Lösung den Rat an, die Mädchen am besten erst gar nicht in die Schule kommen zu lassen – läßt sich die Angelegenheit einigermaßen aus der Welt schaffen. Doch mehr als die Mahnung, sich zusammenzuschließen und gemeinsam gegen die jungen Männer aufzutreten, kann Huiqin ihren verängstigten Schülerinnen auch nicht auf den Weg geben. Angesichts der zahlreichen unerfreulichen Vorfälle am Ort und der bunt zusammengewürfelten Lehrerschaft an ihrer Schule ist Bai Huiqin daher zunächst sehr angetan von der jungen Huang Ruzhen, die ihr eines Tages als neue Lehrkraft vermittelt wird. Zumindest rein äußerlich bringt Frau Huang das Zeug zur Lehrerin mit sich, ist sie doch Absolventin einer Missionsschule in Shaoxing. Daß sie ihre Arbeit nur sehr nachlässig verrichtet und die ihr anvertrauten Schülerinnen am Abend insgeheim beim Wettspiel ausnimmt, erfährt Huiqin freilich erst, als es längst zu spät ist. Die Klassensprecherin Fang Tianjia hat nämlich mit der Zeit beim Spiel einen derart hohen Schuldenberg angehäuft, daß sie sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als daheim Schmuck zu stehlen. Die Diebstähle entgehen jedoch der aufmerksamen Mutter nicht. Sie verprügelt die Tochter in der Annahme, das junge Ding pflege unanständigen Umgang mit den Männern, treibt Tianjia damit aber letztendlich in den Selbstmord. Die Angelegenheit sorgt am Ort für viel Wirbel, man verhaftet Huang Ruzhen. Bai Huiqin kommt zwar mit dem Schrecken davon, ist aber von dem Vorfall derart entmutigt, daß sie die Schule am liebsten auflösen möchte. Nur die Ermutigung durch Freunde läßt sie weitermachen. Ein Thema, das sich naturgemäß durch weite Teile eines Romans wie Ritterliche Schönheiten zieht, ist das der Heirat. Das Idealbild, welches die Verfasserin hier vermittelt, ist die durch Rücksichtnahme und stilles Glück gekennzeichnete Ehe von Gao Jianchen und seiner Gattin Lin Feibai, zwei Freunde der Protagonistin Meng Dimin, die an verschiedenen Stellen des Romans hilfreich in die Geschehnisse eingreifen. Ansonsten gibt es im »Kampf der Geschlechter« nicht selten Verlierer auf beiden Seiten, und auch bei der Darstellung dieser Ehetragödien bleibt sich die Verfasserin ihrer eingangs gemachten Feststellung treu, daß nicht nur die Männer an allem Schuld sind. Einen besonders interessanten Abschnitt stellen in diesem Zusammenhang zwei spiegelbildlich verfaßte Episoden unterschiedlicher Länge zwischen dem vierundzwanzigsten und dem achtundzwanzigsten Kapitel dar, wo die Dramen, die sich gleichermaßen aus den erzwungenen wie den aus freiem Willen geschlossenen Ehen ergeben können, einander gegenübergestellt werden. Im Mittelpunkt der kürzeren der beiden Episoden steht das Schicksal von Zhao Ben'er und seiner jungen Frau, die namentlich nicht genannt wird. Gewaltsamer als die Heirat der beiden kann eine Eheschließung wohl nicht sein, denn als die künftige Schwiegermutter dem in die Jahre gekommenen Ben'er die ihm längst versprochene Braut von fünfzehn Jahren trotz Drängens lange Zeit mit dem Hinweis verweigert, die Tochter erst mit zwanzig in die Ehe zu entlassen, läßt er dem Rat von Freunden folgend das junge Ding eines Tages schlichtweg
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entführen und handelt damit ganz im Einklang mit den an gewissen Orten Südchinas herrschenden Sitten, so daß der Vorgang ungeahndet bleibt. Überglücklich hegt und pflegt Ben'er die junge Gattin so gut er nur kann. Nach anfänglicher Unterordnung unter die Fuchtel der alten Frau Zhao versteht es die junge Gattin spätestens nach der Geburt eines Sohnes die Macht im Hause an sich zu reißen. Doch nach einem gemeinsamen Tempelbesuch des Ehepaares, bei dem man den Gott Zhou Cang um seinen Schutz für Ben'er auf seinen Geschäftsreisen gebeten hat, geschieht eines Tages plötzlich etwas Seltsames. Als die beiden heimkehrten, blickte die Frau mit einem Mal nur noch starr vor sich hin und kam auch nicht der Aufforderung Ben'ers nach, doch etwas zu sich zu nehmen, sondern zog sich vielmehr in die Kammer zum Schlafen zurück. Ben'er glaubte, seine Frau sei womöglich krank, und so eilte er nach dem Essen sogleich in das Zimmer, um nach ihr zu sehen. Doch ehe er sich recht versah, hatte sich die Frau auch schon mit einem Ruck im Bett hochgerappelt und ihm ein paar schallende Ohrfeigen versetzt. Dabei riß sie die Augen weit auf und schrie: »Wer bist du, daß du es wagst, so vor meine Heiligkeit zu treten? Diese Frau gehört von heute an mir, wage es nicht, mir meine Rechte an ihr streitig zu machen!« Ben'er ahnte, daß Gott Zhou Cang Besitz von seiner Gattin ergriffen haben mußte, aus ihrem Munde sprach nicht mehr die Frau, sondern der Gott selbst. Zitternd erhob sich Ben'er unter zahlreichen Beteuerungen, keine weiteren Ansprüche mehr auf die Ehefrau geltend zu machen und eilte nach draußen, um die Mutter zu unterrichten. Bange erhob sich diese, als sie vernahm, was geschehen war, doch wagte auch sie nicht, sich alleine in die Kammer der Schwiegertochter zu begeben und rief eilends ein paar Nachbarn um Hilfe herbei. Gemeinsam begab man sich nun an das Bett der jungen Frau, die soeben ein Lied angestimmt hatte und ihre Schönheit, die zierlichen Füße und das glänzende Haar besang. Als die Schwiegertochter die vielen Menschen um sich herum sah, unterbrach sie ihr Lied und sprach: »Was wollt ihr hier? Meine Heiligkeit hat sich diese Schönheit zur Gattin erwählt. Schert euch fort.« Ben'ers Mutter trat einen Schritt vor und bat flehentlich: »Gottheit, gebt sie frei, und wir werden Euch ewig Dank erweisen.« »Unsinn«, erklang es aus dem Mund der Schwiegertochter, »was schert mich euer Geld! Noch niemals habe ich solch ein stattliches Frauenzimmer besessen. Wie könnt ihr es wagen, von mir zu verlangen, ich möge auf sie verzichten. Ich will sie und keine andere.« Erschrocken schwiegen die Leute im Zimmer und zogen sich zurück. Die junge Frau lärmte noch geraume Zeit, so daß an diesem Abend niemand im Hause Schlaf fand. Erst als bereits der Morgen graute, verkündete sie schläfrig: »Meine Heiligkeit wird sich vorerst in den Tempel zurückziehen. Bis später.« Noch eine Weile, und Ben'ers Gattin schien das Bewußtsein wieder zurückerlangt zu haben. Ben'er nahm die ganze Sache mit sehr gemischten Gefühlen auf. Einerseits war er stolz darauf, daß die stattliche Erscheinung seiner Frau Gefallen bei Zhou Cang gefunden hatte. Wie sollte man sich nicht freuen, wenn einem Sterblichen solch ein Glück zuteil wurde? Doch der Gedanke, Zhou Cang möge vielleicht wiederkommen und sein Recht als Gatte beanspruchen, erfüllte ihn mit Trauer. Würde die Blüte,
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Weitere Tendenzen in der Romanliteratur am Ende der Qing-Dynastie die er sich da herangezogen hatte, nicht allzu schnell verwelken? Ergriffen faßte er nach der Hand seiner Frau und begann zu weinen. »Was weinst du denn?« wollte die Gattin in verwundertem Ton wissen. »Du weißt wohl nicht, was mit dir geschehen ist. Zhou Cang hat dich zu seiner Gemahlin erwählt.« »Unmöglich, wie kommt es, daß ich davon nichts weiß?« Man nahm an, die Sache sei damit ausgestanden und Gott Zhou Cang würde nicht wiederkehren, doch nachdem sich Ben'ers Gattin tagsüber ausgeschlafen und ihr Abendmahl eingenommen hatte, traf die Gottheit pünktlich zur Schlafenszeit erneut ein, und die Szenen vom Vorabend wiederholten sich auch in dieser Nacht. Als der Lärm im Haus der Zhaos auch während der folgenden Nächte nicht abbrach, kam in den Bewohnern des Dorfes langsam der Verdacht auf, die Sache könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Niemals würde sich Zhou Cang, die von allen angebetete Dorfgottheit, zu solch einem Unsinn hergeben und die Frau eines 1326 Mannes für sich beanspruchen. Nur Ben'er schien nichts begreifen zu wollen.
Angeschlagen durch die nicht abreißenden nächtlichen Tiraden erkrankt Ben'er nach einer Weile und stirbt bald darauf. Kaum ist er tot, stellen sich auch Zhou Cangs Besuche bei der Gattin wie durch ein Wunder ein. Wie übel sie mit ihrem Mann umgesprungen ist und daß tatsächlich alles nur gespielt war, erfahren die Bewohner des Dorfes spätestens, nachdem die Witwe innerhalb kürzester Zeit mit einem neuen Mann an der Seite auftaucht und von der Schwiegermutter erfolgreich das Recht auf Wiederheirat einfordert. Doch ist die freie Heirat wie sie sich die Frauenbewegung auf ihr Banner geschrieben hatte wirklich besser und eine stets zu befürwortende Alternative? Shao Zhenhua meldet hier Zweifel an und wünscht sich zumindest den allzu lockeren Umgang mit diesem Recht durchaus nicht als die allgemeine Regel. Dies verdeutlicht sie an dem Martyrium, das Liu Feiqiong, Schwester einer Angehörigen der »Dämmerung« und Schülerin an der von Meng Dimin eingerichteten Lehranstalt, zu erdulden hat. Diese lebenslustige Feiqiong nutzt nämlich ihre Ungebundenheit in Shanghai ohne viele Skrupel aus und lernt eines Tages bei einem ihrer Parkbesuche den jungen Chu Mengshi aus Changsha, der Provinzhauptstadt von Hu'nan kennen, der angibt, auf dem Weg nach Amerika in der Yangtse-Metropole für eine kurze Zeit Station zu machen. Die beiden verbringen kurzweilige Tage in Parks, Teehäusern und Theatern und heiraten wenig später. Das junge Paar beschließt, sich in Shanghai niederzulassen, Feiqiong bringt einen Sohn zur Welt, 1326
Ebd., Kap. 24, S. 387f. Es ist im Zusammenhang mit der Gottheit Zhou Cang interessant, daß auch der Dorfschriftsteller Zhao Shuli in seiner aus dem Beginn der vierziger Jahre stammenden Kurzgeschichte »Der falsche Kriegsgott Guangong« (Jia Guangong) die Problematik der Besessenheit von einer Gottheit thematisiert hat und Zhou Cang in dem Stück ebenfalls eine Rolle spielt. (Vgl. dazu die Übersetzung THOMAS ZIMMER: Kriegsgott Guangong. Chinesische Dorfgeschichten aus fünf Jahrzehnten, Dortmund: projekt-Verlag 1996, S. 23–27)
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und die kleine Familie verlebt vier glückliche Jahre. Mit der Zeit jedoch wird Mengshis Interesse an der Gattin merklich geringer, er verbringt hin und wieder eine Nacht außer Haus, leugnet aber die Existenz einer anderen Frau. Es kommt zu einem Krach, nach dem sich Mengshi kurzerhand zehn Tage nicht daheim blicken läßt und sich wieder mit Feiqiong aussöhnt. Dennoch ist nichts mehr wie zuvor, zumal Mengshi nun spätestens jede zweite Nacht fortbleibt. In der Gewißheit, daß eine andere Frau im Spiel ist, stellt Feiqiong den Gatten zur Rede und gibt ihm dabei ironischerweise selbst den Hinweis, wie er sie loszuwerden vermag. »Was kümmert es dich, wenn ich mir eine andere Frau nehme?« fragte Mengshi, »du wirst nicht im Ernst von mir verlangen, daß ich sie wieder aufgebe. Vergiß die süßen Worte, die ich dir einst sagte. Ob du meine Frau wurdest oder nicht, lag ganz alleine in deinem Ermessen, oder willst du behaupten, ich hätte dich damals zu etwas gezwungen?« »Wie kannst du sagen, es sollte mich nicht kümmern, ob du eine andere hast oder nicht?« erwiderte Feiqiong, »ich mag die Liebe, die du mir gibst, nicht mit jemand anderem teilen. Wenn du schon nicht ganz auf sie verzichten willst, dann sieh wenigstens zu, daß du sie in deine Heimat schaffst.« »Keine schlechte Idee«, sagte Mengshi, »wenn das dein 1327 Wunsch ist, werde ich es so machen.«
Gesagt getan beeilt sich Mengshi eine Schiffspassage für die Reise der Neuen in den Süden zu organisieren. Damit Feiqiong sich von der Richtigkeit des Vorgangs überzeugen kann, soll sie ihn bei der Abreise an den Hafen begleiten. Dort lockt man Feiqiong, ihren Sohn und eine Amme unter falschen Angaben auf ein Schiff, wo es angeblich zu einem Zusammentreffen der beiden Frauen kommen soll. Erst als das Schiff ablegt ohne daß Feiqiong ihren Gatten oder dessen Geliebte angetroffen hat, ahnt sie, einem Betrug aufgesessen zu sein. Ein mitreisender Diener eröffnet ihr, daß er Weisung habe, sie nach Changsha zu bringen. Nur die Sorge um das Kind hält Feiqiong davon ab, sich in die Fluten zu stürzen. Verzweifelt klammert sie sich an den Gedanken, in Changsha auf eine verständige Schwiegermutter zu treffen, die den Sohn heimzitiert, um ihm die Leviten zu lesen. Doch es kommt alles schlimmer als befürchtet. Kaum trifft sie nämlich in Changsha ein, muß sie zur ihrer Bestürzung feststellen, selbst nur die Nebenfrau im Hause zu sein, besitzt doch Mengshi längst eine Hauptgattin namens Gou. Und wie um ihre Macht im Hause zu demonstrieren, läßt Frau Gou der Feiqiong unmittelbar nach ihrer Ankunft erst einmal eine ordentliche Tracht Prügel verabreichen. Da man im Hause Chu nicht weiß, was man mit Feiqiong anfangen soll, kommt man alsbald auf den Gedanken, sie an einen kinderlosen Freund der Familie zu verkaufen, was aber durch den entschiedenen Protest von dessen Ehefrau verhindert wird. Die betrogene Frau verbringt qualvolle Wochen in Changsha, wieder ist es nur die 1327
Ritterliche Schönheiten, Kap. 26, S. 412.
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Sorge um den Sohn, die sie am Leben hält. Doch endlich naht Rettung in Gestalt von Ma Lingwu, einer energischen Frau aus der »Dämmerung«. Über die besorgte Schwester Feiqiongs, die nach ihrem Ausbleiben Nachforschungen angestellt hat, hat man ihren Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht. Nach Vorgaben von Meng Dimin, wonach auf Gewaltanwendung zu verzichten ist und auch eine Flucht nicht in Frage kommt, setzt Feiqiong einen Brief an ihre Schwester auf und schildert darin ihr Schicksal. Die folgenden Beratungen in Shanghai über das weitere Vorgehen zeigen, daß eine Lösung nicht einfach ist. Da Feiqiong aus freien Stücken ihr Jawort gegeben hat, kann keine Vermittlerin wegen Betrugs belangt werden. Fehlende Trauzeugen erschweren die Angelegenheit zudem. Außerdem gilt zu überlegen, was mit dem Sohn geschehen soll, auf den die Familie Chu Anspruch hat. Darf man das Kind etwa dem Vater überlassen, der, so zeigt die Diskussion, seinen Sproß niemals in dem Maße liebt wie die leibliche Mutter? Dennoch, so der Schluß, ist der Respekt, den man einer Frau entgegenbringt, stark abhängig von ihrem Status und der Rolle, die sie in der Familie spielt. Es ist typisch für den maßvollen Ton in Ritterliche Schönheiten, daß die bestehenden Sitten in China nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, sondern vielmehr als reformbedürftig erscheinen. Worauf es ankommt, so das Fazit, ist, längst leere und nichtssagende Bräuche wieder mit Inhalt zu füllen und die Erziehung der Menschen selbst im Auge zu behalten. Wiederum ist es Meng Dimin, die daher mit ihrer überlegenen Sicht zu folgender Feststellung gelangt: »Alle berühmten Gelehrten der Vergangenheit hatten nur die Betonung der Rechte des Mannes im Auge und würdigten die Frauen dabei nicht im geringsten. Eine Gattin konnte sich glücklich schätzen, wenn sie mit drei Jahren Trauerzeit für den Mann davonkam, von Gleichheit im umgekehrten Falle war niemals die Rede. Nach meinem Dafürhalten freilich hängen gegenseitiger Respekt und Ehrerbietung nicht von dem Maß der Trauerzeit ab. Ausschlaggebend sind vielmehr Bildung und Moral des Menschen. Eine Frau, die an der Seite des Mannes gleiche Rechte genießt, wird ihren Gatten lieben und verehren. Doch in Familien mit mangelnder Moral und Bildung mag eine Frau den Mann nach außen hin verehren wie einen Kaiser, im Grunde jedoch bleibt alles falsch und oberflächlich, bringt niemand dem Verstorbenen echten Respekt und aufrichtige Verehrung entgegen. Die Gelehrten des Altertums hatten mit der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht viel im Sinn. Stets sprachen sie den Frauen Rechte ab und verkündeten, das sei wie wenn ›Hennen plötzlich den anbrechenden Tag‹ verkündeten, oder sie wiesen auf die Gefahr eines Sieges des weiblichen yin über das männliche yang hin, als wären Frauen üble Geistergestalten, vor deren Nähe man sich hüten möge. Dabei, haben sie jemals bedacht, aus welchem Leib sie entsprungen sind? Die Frauen als solche anzugreifen heißt doch im 1328 Grunde nichts anderes als auch die eigene Mutter in Frage zu stellen.« 1328
Ebd., Kap. 27, S. 445.
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SCHMERZVOLLE BEGEGNUNG MIT DER WELT
Am Ende wird beschlossen, Mengshi unter Druck zu setzen. Er soll sich bereiterklären, der Scheidung von Feiqiong zuzustimmen, den Sohn wenigstens von der Mutter großziehen zu lassen, damit er später womöglich in den Clan der Chu zurückkehre, um den Lebensunterhalt von Mutter und Sohn zu gewährleisten. Da Mengshi weiß, daß mit der Frauenvereinigung »Dämmerung« nicht zu spaßen ist, steht er doch selber am Beginn einer Laufbahn im Militär und kann sich eine Rufschädigung nicht leisten, stimmt er in allen Punkten zu, worauf ihm trotz der begangenen Fehler von Meng Dimin immerhin ein gutes Maß an Anständigkeit zugebilligt wird. Es sind am Ende Feiqiongs Schwester und die Aktivistin Ma Lingwu, die die junge Frau samt ihrem Sohn in Changsha abholen. Damit endet diese Episode. Es folgt ein längerer Abschnitt, in dem Meng Dimin eine entfernte Verwandte namens Di Juren in Zhejiang besucht und vor dem Hintergrund ländlicher Szenen ein weiteres Mal Aspekte des Frauenlebens in der Provinz thematisiert werden. Fälle getöteter Kindsbräute in den Familien der Gatten, aus Kummer über die Abwendung des Gatten plötzlich den Verstand verlierende Ehefrauen etc. werden ausführlich diskutiert. Nur an einer Stelle (Kap. 30) taucht mit dem bei einer mutigen Hilfeleistung an überfallenen Nachbarn ums Leben gekommenen Yan Rurong ein ohne Einschränkungen positives Männerbeispiel auf, das die Verfasserin in einem kurzen Kommentar sogleich als Vorbild für die chinesische Männergesellschaft sehen will. Der Roman endet mit der Schilderung vom Selbstmord dreier Studentinnen, die teils zu Recht teils zu Unrecht des ungehörigen Umgangs mit Männern beschuldigt worden sind. Aus Furcht um den Ruf ihres Lyzeums, an dem die drei eingeschrieben waren, zwingt die Direktorin die Eltern der jungen Frauen, auf einer öffentlichen Versammlung die wahren Hintergründe ihres Todes darzustellen.
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Resümee und Ausblick
RESÜMEE UND AUSBLICK
Wir haben in der Einführung zu dieser Studie auf eine Reihe der traditionellen Erzählkunst inhärente Faktoren hingewiesen, die ihre Entstehung begleiteten und haben außerdem darzulegen versucht, welche kulturellen und politischen Erwägungen einer größeren Verbeitung im Wege standen. Welche Leistungen kommen dem frühen chinesischen Roman nun eigentlich zu und wie ist er zu bewerten? Um Einwände gleich vorwegzunehmen: Am Ende dieser umfangreichen Arbeit steht keine ausgefeilte Theorie über den chinesischen Roman des betreffenden Zeitraums. Das zugrundegelegte Material ist zu umfangreich und die Entwicklung zu vielfältig, als daß sich auch noch so abstrakt gefaßte Annahmen ausnahmslos auf jedes einzelne der untersuchten Werke anwenden ließen. Dieser Umstand erklärt sich aus der Tatsache, daß es hier vor allem darauf ankam, die Entstehung der Romankunst, ihre Auffächerung in die einzelnen Gattungen sowie die Form der Realisierung gestellter Themen näher zu betrachten. Die vorliegende Studie versteht sich daher als Antwort auf bzw. Ergänzung zu einer Anzahl im Vorwort angeführter Arbeiten zu dem Thema, denen eine mehr oder weniger willkürliche Beschränkung auf eine Auswahl von Werken zu Eigen war. Gleichwohl ist die kritische Würdigung der Rolle und der Verdienste des frühen chinesischen Romans damit nicht obsolet, so daß wir darauf an dieser Stelle noch etwas näher eingehen wollen. Die xiaoshuo hatten wohlgemerkt nur in ihrer Erscheinung als literarische Gattung nach außen hin den Vorwurf der Marginalität zu ertragen. Die aufkommende Erzählkritik und Kommentierung zeigte sehr wohl, daß man die Unterschiede von Werk zu Werk durchaus wahrzunehmen verstand. Auf der anderen Seite wollen wir hier trotz des erkennbaren Bemühens, der Erzählkunst zu ihrem Recht zu verhelfen, nicht darüber hinwegtäuschen, daß die von vornherein eingestandene Minderwertigkeit der xiaoshuo, die gebräuchliche Anonymität und somit die scheinbar fehlende Aufnahme durch ein breiteres Publikum für den talentiertesten Schriftsteller ebenso Platz bot wie für den mediokren Schreiberling, wobei sich beide wohlgemerkt in einem weitgehend kritikfreien Kontinuum bewegten, das zu nichts verpflichtete. Daß es dennoch Maßstäbe oder zumindest ein Bewußtsein für die Qualitätsunterschiede gab, die zu einer Hierarchie wenigstens unter den bekannteren Romanen führte, versteht sich von selbst. Welches sind nun die Charakteristika gewesen, die die Entwicklung dieses Genres kennzeichnen? Bemüht man sich um den vielleicht kleinsten Nenner, auf dem sich eine derartige Entwicklung abgespielt haben könnte, so ist u.U. immer noch die Einwirkung auf die spätere Zeit der hier entscheidende Faktor. Freilich müssen wir uns angesichts des unsicheren physischen Bestands von Werken der Erzählkunst auch hier den Vorwurf gefallen lassen, daß die Überlieferung nicht alleine für die Qualität entscheidend sein kann, da sie mit sehr vielen Unwägbarkeiten verbunden ist, wie wir im Zusammenhang mit Laterne an der Straßenkreuzung gesehen haben. Am sichersten ist unter Verzicht auf objektive Wertungskriterien und -möglichkeiten wohl nur die vage Einschätzung, daß ein Werk im Vergleich ein-
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RESÜMEE UND AUSBLICK
flußreicher war als das andere. Somit läßt sich also am Ende doch eine gewisse Linie der Entwicklung ablesen, die bedeutende Charakteristika der Erzählkunst der hier interessierenden Periode stärker als andere hervorhebt. Die herausragenden Romane Chinas haben fraglos Breite und auf eine ihnen eigene Weise Totalität geschaffen. Werke wie Jin Ping Mei, Traum der Roten Kammer, Betrachtungen eines Landmannes oder Spuren von Unsterblichen in der Wildnis, um hier nur einige wenige zu nennen, beanspruchen Raum und Zeit. In ihnen emanzipiert sich die Subjektivität der Erzähler, um sich in einer komplexen Welt komplex zu entfalten. Ihre besessene Detailgenauigkeit im geschilderten Handlungsablauf und dem entworfenen Ambiente ist das eine. Die Freude an der Präsentation des erzählerischen Autorenwissens, in dem sich der Verfasser als Enzyklopädist zu erkennen gibt, ist das andere und macht auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie offen die Romanform sich gab. Zweifellos nimmt der frühe chinesische Roman innerhalb der Literatur einen spezifischen Platz ein und erfüllt in der Diskurshierarchie eine bestimmte Funktion. Unterzieht man die dabei in Frage kommenden Äußerungsformen einer nach Allgemeingültigkeit strebenden Feststellung, so fällt vor allen Dingen auf, daß sich für die Stellung des Romans in nahezu jeder Hinsicht eine ausgesprochene Zwitterhaftigkeit ergibt. Diese läßt sich weder über die Verwendung einer eigenen Schriftsprachenvariante noch an einer Reihe weiterer Faktoren festmachen. Erst die im 16. und 17. Jahrhundert aufkommende Erzählkritik, die sich auf einige der zu ihrer Zeit bereits im Umlauf befindlichen großen Romane bezog, unternahm Anstrengungen, theoretische Lücken zu füllen und zu einer Aufwertung der Erzählkunst überhaupt zu gelangen. Die weit verbreitete Anonymität der Verfasser von Romanen hat neben den bekannten Gründen der Zensur und der in der Frühzeit vorkommenden Palimpsest-Problematik eben hier ihre Ursachen. Romankunst war im traditionellen Kulturbetrieb lange Zeit nichts, was Aussicht auf Ruhm eröffnete. Das erhebliche Dunkel, das den konkreten Entstehungsprozeß von Erzählwerken umgibt, ließ sich auch in der vorliegenden Arbeit nur in einer begrenzten Anzahl von Fällen erhellen und erschwert die literaturwissenschaftliche Analyse. Dennoch scheinen die Wege zu einem besseren Verständnis der individuellen Motivation zur Romanproduktion und dem damit zusammenhängenden Problem einer möglichen gegenseitigen künstlerischen Beeinflussung von Autoren sowie der Inbezugsetzung eines Werkes zur Vita der Schriftsteller nicht ganz verbaut zu sein. Da man davon ausgehen darf, daß es eine Reihe von literarischen Zirkeln gegeben hat, in denen die Identität der Autoren bekannt gewesen ist, könnten sich entsprechende Anmerkungen zu Verfasser und Buch in den u.U. noch existenten Schriften von Angehörigen dieser Zirkel finden. Wie eng derartige Verbindungen gewesen sind, belegen die Vorworte bzw. Herausgeberkommentare von Freunden der Verfasser. Als Aufhänger, wo entsprechende Zirkel auszumachen sein könnten, ließe sich der eventuelle Druckort eines Buches nehmen, bei dem
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RESÜMEE UND AUSBLICK
dann in einschlägigen Lokalchroniken, mit denen sich die Sinologie in den vergangenen Jahren verstärkt beschäftigt hat, möglicherweise mehr über das soziokulturelle Umfeld der potentiellen Verfasser in Erfahrung zu bringen wäre. Hier steckt die wissenschaftliche Tätigkeit sozusagen noch in den Kinderschuhen. Ob und in welchem Umfang sie in der Zukunft für unseren Bereich brauchbare Erkenntnisse zutage fördern wird, muß man zum jetzigen Zeitpunkt dahingestellt lassen, ist doch damit viel Kärrner-Arbeit verbunden mit unsicherer Aussicht auf Erfolg. Es ist sicher richtig, die fiktionale Erzählkunst und als einen ihrer wesentlichen Vertreter den Roman als Teil einer umfassenden kulturellen Bewegung während des späten 16. und 17. Jahrhunderts zu betrachten. Die Offenheit und die Breite, in der sich die xiaoshuo ihrer Themen annahmen, zeugen von einem erheblichen thematischen Spielraum, der zur Verfügung stand und von einem ganz neuen Maß narrativer Tiefenschärfe. Sie wurden zu Stimmen der Enthüllung in einem schlecht funktionierenden System. Gerade die letzten Jahrzehnte der Ming-Dynastie stellten eine Zeit dar, in der das intellektuelle Milieu besonders reich an Alternativen war und dessen Entwicklung im Bereich der Erzählkunst ohne die Krise sowie den Wechsel der Herrschaftshäuser unverständlich ist. So wie sich die Dinge jedoch abgespielt haben, muß man in der Literatur der späten Ming und der frühen Qing einen Bruch bei der Entwicklung des Romans erkennen. Die Erzählkunst nahm nicht zuletzt unter dem Druck der Zensur eine Tendenz fort von der Obszönität hin zum Sensationellen an. Es kam in bestimmten Bereichen zu einer starken Stereotypisierung der geschilderten Haltungen, zugespitzt gesagt, ersetzten die Gefühle mehr und mehr die Libido. Mehrere Entwicklungswege deuten sich an. Auf der einen Seite eine erhebliche Flachheit und Prüderie, getragen von Sehnsucht und Harmoniebedürftigkeit. Das überaus produktive Genre der Werke über »Talente und Schönheiten« erwies sich hier als das Zugpferd der Entwicklung. Auf der anderen Seite eine starke Sensibilisierung für die problematischen Seiten des qing-Begriffs, angefangen von der verwirrenden Beziehung der Geschlechter bis hin zu Liebesideal und Vergänglichkeit. Die Themenwahl läßt noch stärker als die zur Realisation eingesetzten erzählerischen Mittel zur Mitte des 18. Jahrhunderts in einigen ausgewählten Beispielen etwas wie eine autobiographische Sensibilisierung erkennen. Darf man in diesen vorstehend knapp skizzierten Entwicklungen etwas wie eine literarische Antwort auf bestimmte im Roman der späten Ming angelegte Charaktertypen erkennen, bei denen vor allem der im erotischen Werk auftauchende, vor Vitalität strotzende fengliu-Typus und der »brave Held« (haohan) der Abenteuer-Erzählung im Mittelpunkt standen, so wurden um die Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts verstärkt auch Zeiterscheinungen thematisiert. Zunächst in noch recht dezentem Ton etwa bei Wu Jingzi durch seine Kritik an der Morbidität des Beamten- und Gelehrtentums, dann, etwa hundert Jahre später, in den Werken eines
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RESÜMEE UND AUSBLICK
Wu Woyao, Li Boyuan oder Zeng Pu durch die schonungslose Abrechnung mit den herrschenden Kräften in Staat und Gesellschaft. Es war das Bewußtsein der Krise, das die Erzähler ähnlich wie zu Zeiten der ausklingenden Ming-Dynastie (dort erkennbar am Beispiel des Eunuchen Wei Zhongxian) die bis dahin im Roman nur ungenügend gewürdigte Gegenwart zum Stoff erhoben. Was zuvor nur symbolisch deutlich wurde, etwa wenn mit dem Topos des schlechten letzten Herrschers aus längst vergangenen Zeiten die Mängel im Umkreis des aktuellen Kaiserhauses auf den Prüfstand gerieten oder die Verfallszustände im Hause eines Ximen Qing mikrokosmisch die Verfassung im Reich widerspiegelten, geriet nun ohne den nicht mehr bestehenden Zwang zur Zurückhaltung aufs Tableau. Die Krise als Schöpferin der Kunst eröffnete dem Roman dabei zwar breite Themenfelder, wurde dadurch selber aber nicht gelöst, sondern vielmehr verlängert und sie markierte auch die Schwierigkeiten des Genres während der folgenden Jahrzehnte. Das Schicksal der xiaoshuo war und blieb im wesentlichen eine Frage der Freiheit des Ausdrucks. So wie sich der Roman zum Ende der Qing-Dynastie in weiten Teilen von politischen Erwägungen vereinnahmen ließ, die ihm einerseits Macht und Einfluß eröffneten und wesentlich den Aufstieg dieser Literaturgattung während des Jahrhundertbeginns mitbegründeten – freilich um den Preis der ausbleibenden Revision seiner erzählerischen Mittel – geriet er seit den vierziger Jahren in der Folge von Mao Tse-t'ungs Ausrichtungskampagne innerhalb der Kunst und Literatur in Yan´an zum willigen Instrument parteibezogener Nützlichkeitserwägungen. Der Unterschied zwischen beiden Zeitabschnitten, d.h. Jahrhundertbeginn und Mao-Ära bis in die späten 70er Jahre, ist, daß in der ersten der Phasen der Roman, getragen von den zeitgenössischen politischen Strömungen, weitgehend enthüllend arbeitete, während er in der späteren Phase unter Ausrichtung an Maßgaben der sozialistischen Literaturdoktrin wie dem »sozialistischen Realismus« weitgehend verhüllend auftrat, ein Erscheinungsbild, das er selbst bis in die jüngere Gegenwart nicht abgelegt hat. Lassen sich hier zumindest in der Beziehung der xiaoshuo zur Politik und damit bezüglich ihres Status zwischen der Verfassung zum Jahrhundertbeginn und der Ausrichtung in Kunst und Literatur durch die kommunistische Führung bestimmte Ähnlichkeiten aufzeigen, so bleibt das Problem, ob und in welchem Maße der Roman der Neuzeit Elemente des traditionellen chinesischen Romans übernommen hat. Die Frage berührt Wandel und Entwicklung der Erzählkunst nach 1911 schlechthin und ist aufgrund der Komplexität innerhalb dieser Nachbemerkungen selbstverständlich auch nicht annähernd ausführlich zu beantworten. Wir müssen es daher bei einigen kursorischen Anmerkungen belassen. Allerdings darf bereits so viel festgestellt werden, daß gerade im Genre des neueren chinesischen Trivialromans offensichtlich auf überlieferte eigene Muster rekurriert wurde und sich gerade in diesem Bereich die Bezüge zu den entsprechenden Werken der klassischen Literatur besonders eng erweisen. So decken sich Thematik, Stil und Popularität der um die Mitte des zweiten Jahrzehnts aufkommenden »Manda-
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rinenenten- und Schmetterlings«-Literatur (yuanyang hudie pai) stark mit den Werken über »Talente und Schönheiten« (caizi jiaren), die zu dieser Zeit bereits auf eine mehr als zweihundertfünfzigjährige Geschichte zurückblicken konnten und seinerzeit einen erheblichen Einfluß entfalteten. Das gleiche gilt für die Version des chinesischen Ritterromans (wuxia xiaoshuo), der bis in die jüngste Vergangenheit hinein nichts von seiner Beliebtheit eingebüßt zu haben scheint. Hierbei fällt vor allem auf, daß gerade diese Vertreter der Trivialliteratur ungeachtet der Anpassungen an Erzählstil und Erzählvortrag (z.B. die Aufgabe der Erzählformeln) im wesentlichen jedoch auf autochthone, simple Muster wie Liebe, Verwirrung, Happy-End im einen bzw. Gefahr, Heldentum und übermächtige Kraft im anderen Fall zurückgriffen und sich dabei sehr resistent gegenüber strukturellen, thematischen und erzählerischen Neuerungen in der angeseheneren Literatur zur gleichen Zeit zeigten. Diese Neuerungen, die nicht zuletzt durch eine verstärkte Auseinandersetzung mit der abendländischen Romankunst zustande kamen, dokumentieren sich u.a. durch das Aufkommen ganz neuer Romanformen, wie etwa das Beispiel von Ding Lings Tagebuch der Sophia (Sufeiya nüshi de riji) zeigt. Unabhängig davon darf vor allem der Einfluß der traditionellen Romane auf die Sprache der nach 1920 abgefaßten Erzählliteratur nicht unterschätzt werden. Wie in der Einführung nachgewiesen, bedienten sich die klassischen Romane nahezu ausnahmslos der Schriftsprachenvariante baihua, die nun im Zuge der 4.-Mai-Bewegung von 1919 nicht nur in der Literatur, sondern auch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens wie in der Presse, der Essayistik etc. zur gültigen Variante erhoben wurde. Auf der Grundlage einiger in diesem Zusammenhang besonders wichtiger Werke, die in der nordchinesischen Dialektvariante verfaßt worden waren – die Rede ist vom Traum der Roten Kammer – gingen in der Folge Sprachwissenschaftler daran, die Grammatik der modernen chinesischen Hochsprache zu formulieren. Außerhalb dieses dem sprachlichen Bereich zuzuordnenden Bezugs zur Tradition taten sich Autoren der Neuzeit vor allem schwer mit dem Aufbau und der Struktur ihrer Werke und griffen gerne auf überlieferte Mittel zurück. Die strenge Einteilung in hui-Kapitel ließ sich zwar rein formal aufgeben, doch war damit noch keine strenge, aus der Konzentration auf etwa einen Protagonisten gefolgerte, romanhafte Kohärenz geschaffen, wie etwa das Beispiel von Ba Jins Familie (Jia) an diversen Stellen zeigt. Ganz besonders bei der Problematik der Erzählperspektive erwies es sich vielfach als schwierig, die Fesseln der Vergangenheit abzustreifen. So wählte etwa Lu Xun in seiner Erzählung »Tagebuch eines Verrückten« (Kuangren riji) zwar die moderne Form des Tagebuchs, stellte aber, wie oftmals bei den Verfassern der Vergangenheit praktiziert, dem Text ein Vorwort voran, in dem er die Hintergründe der Erzählung erläuterte und durch Hinweis auf die eigene Herausgeberschaft dem Ganzen den Anschein von Authentizität verlieh. Auf ähnliche kommentierende Eingriffe des Erzählers mochten selbst eine Reihe der bekanntesten Schriftsteller Chinas in der Folge nicht verzichten. Mao Dun bildete mit seinem Shanghai im Zwielicht (Ziye) noch eines der
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»modernsten« Beispiele, indem er eine personale Erzählsituation entwarf. Doch Lao She und der bereits erwähnte Ba Jin griffen in ihren Werken immer wieder auf die Gestalt des allwissenden Erzählers zurück, der durch Einwürfe bestimmte Vorkommnisse erläuterte. Schlagen wir im Bewußtsein der argen Knappheit hier angeführter Belege einen weiten Bogen hinein in die chinesische Gegenwartsliteratur, so zeigt sich, daß trotz des großen zur Verfügung stehenden Fundus struktureller und erzählerischer Mittel, der sich in den zurückliegenden Jahrzehnten durch die Rezeption der Literaturen weltweit ergeben hat, immer noch und zum Teil wohl ganz bewußt auf bestimmte Vorlagen in der eigenen Erzählliteratur zurückgegriffen wird. Wang Meng etwa erweist sich auf der einen Seite als ein Meister der westlich inspirierten reflektiven Technik des »Bewußtseinsstroms« und des inneren Monologs, verfällt darüber hinaus aber auch gerne in einen traditionellen Stil, wenn er zum Beispiel in seinem 1987 erschienenen Roman Das Verwandlungsbilderbuch (Huodong bian renxing) Verse einstreut. Als zeitweiliger Kulturminister Chinas verkörpert Wang Meng interessanterweise nicht zuletzt die Figur des alten Literaten-Beamten. Insgesamt betrachtet dürfte also einiges dafür sprechen, daß die xiaoshuo eine Menge von ihrer überlieferten Heterodoxie und ihrem hybriden Charakter bis in die Gegenwart hinein bewahrt haben.
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Index A
Annalen der Späten Tang (Xin Tangshu) ä: 7, 8 Annalen der Yuan (Yuanshi) Æ 119 Annalen des Südens (Nanshi) +Æ 694 Annalen, Annalen-Literatur, Historiographie 4, 6–8, 10–16, 23, 73, 75, 78, 80, 98, 110, 119, 168, 190, 203, 254, 257, 259, 266, 288 Aristoteles (384–322 v.Chr.) 31, 286, 872 Asche nach der Zerstörung (Jieyuhui) -D 723, 813 Auf den Tisch schlagen vor Staunen über das Außergewöhnliche (Pai'an jingqi) ¡ 47 Aufklärung 56, 63, 757, 769, 775, 881 Aufstand der Zauberer und ihre Unterwerfung durch die drei Sui (San Sui pingyao zhuan) ÝGjô 86 Aufzeichnungen der abgeschnittenen Ärmel (Duanxiu pian) Áj 674 Aufzeichnungen der Ming (Ming liang ji) âC 119 Aufzeichnungen der wohlhabenden Hauptstadt (Ducheng jisheng) Ñ¢~° 11 Aufzeichnungen des Großhistorikers (Shiji) Æ 18, 32, 48, 73, 124, 125, 196, 367, 611, 749 Aufzeichnungen eines leidenschaftlichen Mönchs (Qingsenglu) ») 566, 579 Aufzeichnungen mit neuem Pinsel (Bu bi tan) 9èÜ 389 Aufzeichnungen über Aufstieg und Niedergang im Beamtentum (Huanhai shengchen lu) zK]) 188 Aufzeichnungen über das Beili-Viertel (Beilizhi) ë « 692 Aufzeichnungen über den Boykott (Dizhi jin yue ji) Uz 856
A Ying (1900–1977) Å 51, 67, 533, 767, 773, 788, 796, 825, 826, 836, 861, 862, 875 Abel-Rémusat, Jean Pierre (1788–1832) 514 Abenteuerroman 80, 162, 237, 245, 249, 254, 261, 272, 395, 617, 626 Aberglauben 52, 276, 280, 601, 756 884, 891– 893 Abschluß der Erzählung vom Flussufer (Jie Shuihuzhuan) §&ô 221 Acht hervorragende Freudenmädchen von Nanking (Jinling ba jue) ¥I?± 695 Affen-Motiv 299 Aktuelle Erscheinungen im Landadel und bei den Unternehmern (Shen dong xianxingji) 76 846 Aktuelle Erscheinungen in der Geschäftswelt (Shangjie xianxingji) 6 846 Allegorie, allegorisch 22, 66, 198, 316, 329, 331, 395, 398, 402, 572, 574, 584, 602, 652, 671 Amadis-Zyklus 59 Amazone, Heroine 98, 148, 175, 221, 237, 241, 248, 266, 345, 351, 393, 487, 529, 547, 673 An Lushan (703–757) ]XE 148, 149, 151 Andachtsmatten aus Fleisch, (Rouputuan) ]¶ 429, 439, 444, 473, 474, 475, 545, 657 Annalen der Frühen Tang (Jiu Tangshu) »ä: 8 Annalen der Han (Hanshu) : 4, 14, 75, 420, 441, 749 Annalen der Ming (Mingshi) âÆ 119 Annalen der Song (Songshi) _Æ 7, 108, 167, 190, 203, 381
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Index Aufzeichnungen über den Niedergang der Tang-Dynastie und die Geschichte der Fünf Dynastien (Can Tang Wudai shi yanyi zhuan) _äh·Æèô 100–102 Aufzeichnungen über die aktuelle Lage in der Frauenwelt (Zuijin nüjie xianxingji) Ô¥G 6 889 Aufzeichnungen über die fremden Länder im Westmeer (Xiyang fan'guo zhi) Sß>Ñ« 342 Aufzeichnungen über die westlichen Gebiete der Großen Tang (Da Tang xiyuji) ûäS³ 291 Aufzeichnungen über die Zukunft des neuen China (Xin Zhongguo weilaiji) Ñþ9 826, 830 Aufzeichnungen über eine Traumreise in das alte Hangzhou (Gu Hang mengyoulu) ¸Az ) 11 Aufzeichnungen über Gehörtes vom Herrn des Drachentafel-Pavillons (Longtu er lu) mÒ) 261 Aufzeichnungen über Geister (Shoushenji) ð2 8, 226, 288 Aufzeichnungen über Inschriften auf dem Dreifuß des Kaisers Yu (Yu ding zhi) uâ« 294 Aufzeichnungen über Marionetten (Kuileiji) Tõ 795 Aufzeichnungen über Reformen im Beamtentum (Guanchang weixinji) lÈ 831 Aufzeichnungen über seltsame Dinge (Bowuzhi) .=« 8, 398 Aufzeichnungen von den vier Reisen (Siyouji) ¯ 291, 359 Aufzeichnungen von der Niederschlagung der Räuber (Dangkouzhi) 5« 215, 220, 222, 223 Augenzeugenberichte über seltsame Ereignisse in den letzten zwanzig Jahren (Ershi nian muduzhi guai xianzhuang) `HÂMþ 942 Auslandschinesen 847, 848, 856, 857, 887
Authentizität 17, 20, 99, 162, 193, 195, 544, 567, 706 Avatamsaka Sutra 322
B Ba Jin (geb. 1904) È¥ 543 Bai Xingjian (ca. 776–826) Q T 510, 604 baihua, Umgangssprache, Q± 43, 62, 68, 192, 350, 738 Balladen, cihua, ¡± 28, 34, 277, 279, 426, 438, 699, 778 Ban Zhao (ca. 49–ca. 120) Á 484 Bao Zheng (999–1062) Ùà 167, 168, 170, 171, 255, 256, 258–263, 266, 267, 272, 285 Barock 63 Bauernaufstände 79, 86 bawang, ›Despot‹ _ 94 Beamte, huanhai, zK 41, 42, 45, 64, 79, 81, 114, 153, 171, 185–188, 201, 226, 255, 270, 285, 303, 415, 529, 605, 623, 644, 651, 692, 694, 720, 737, 743, 745, 757–766, 777–796, 804, 820, 847, 870 Beiläufige Aufzeichnungen in müßiger Stimmung (Xianqing ouji) ÆJ 26, 30 Beiläufige Bemerkungen zum Taowu (Taowu xianping) o Æ 153, 154 Bemerkungen eines Trunkenen (Zuiweng tanlu) ]Ü) 12 Bemerkungen zu einer nützlichen Lektüre (Dushu yide) Ï: 416 bense, ›ursprungliches Wesen‹ F 16 benxin, ›Ursprung des Herzens‹ 37 benzhuan, Ursprungsfassungen ô 137 Bericht über die Dynastien (Lieguo zhizhuan) ëÑ«ô 78, 123, 356 Bericht über die Han-Dynastie (Quan Han zhizhuan) Æ 443, 449, 452 Geschichten über das Wunderbare (Lieyizhuan) ëÖô 8, 288 Gespräche für Frauen (Nü lunyu) GÁ 44 Gespräche über das höchste Tao unter dem Himmel (Tianxia zhidao) ýß' 409 Gespräche über die Staaten (Guoyu) ÑÁ 125 Gespräche über eine Heldin aus dem Frauengemach (Guige haojie tan) ÎÕ>DÜ 867 Gespräche (Lunyu) Á 9, 38, 287, 484, 543, 670, 745 Goethe, Johann Wolfgang (1799–1862) 514, 515, 605, 740, 778 Gongyang (Gongyang zhuan) @^ô 125, 782 gongyi, ›öffentliches, allgemeines Vertrauen‹ @ 91 Götter 22, 34, 119, 123, 286, 287, 300, 303, 313, 321, 329, 356–371, 383, 409, 422, 435, 497, 522, 644, 688, 751, 890, 893 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von (1621/22–1676) 444, 919 Grundzüge des durchgehenden Spiegels zur Hilfe bei der Regierung (Zizhi tongjian gangmu) î0 83, 124 Grünsteinberg (Qingshishan) &ÇE 384 Gu Long (1936–1985) ¸m 225 Gu Yanwu (1613–1682) Rb: 216, 483, 747 Guan Yu (ca. 162–220) G 84, 87–92, 100, 112, 463
H Haggard, H. Rider (1856–1920) 724 Hai Rui (1513–1587) K2 177, 178, 255, 267 Hai Rui legt sein Amt nieder (Hai Rui ba guan) K26l 178 Haitian xueji, Ký¾ 772 Han (206 v. Chr.–220 n. Chr.) · 4–6, 8, 75, 82, 84, 86, 87, 89, 95, 238, 288, 299, 303, 323, 344, 409, 420, 488, 517, 574, 799, 845 Han Bangqing (1856–1894) ½zZ 22 Han Feizi (ca. 280–234 v.Chr.) ½2$ 3, 125 Han Yu (768–824) ½Ü 330, 559, 650, 654 Han Ziyun (1856–1894) ½$e 705, 706, 707, 715, 739 Hanlin-Akademie Äkì 41, 258, 515, 644, 747, 760, 776 haohan, Held Q 210, 225, 234 Hartes Studentenleben (Ku xuesheng) º:ó 852, 854 He Liangjun (1506–1573) )C 294 Hedian )L 289, 391, 392, 393 Heftige Strömung (Jiliu) 543 Heldenroman 52 Herbst (Qiu) 543 Herbsternte (Qiushou) 840
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Index Heroine, siehe: Amazone Heroisierung, Heroenkult 221, 226, 246 Herr Yang Ling (Yang Ling gong)