Geschichte der Bildung: Sonderausgabe aus dem Handbuch der deutschen Lehrerbildung
 9783486761382, 9783486761375

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Geschichte der Bildung von

Dr. h. c. Ernst Rrieck, pädagogische Akademie, Frankfurt a. M.

I. Die Rrists des geschichtlichen Weltbildes Das 19. Jahrhundert hat den Grundstein der Wissenschaften vom Leben der Menschheit in der Geschichte gelegt, also das geschichtliche Weltbild geschaffen, und wenn in kommenden Zeitaltern auf diesem Ge­ biet auch noch das Wesentliche, die Deutung des Geschehens aus den un­ bewußten Rräften, zu tun bleibt, so ist die Grundlegung des neuen Menschheitsbildes doch eine der Großtaten in der abendländischen Rultur. Alle Epochen zuvor bis zurück auf die Tage der Griechen haben das Bild der Menschheit vom Sollen, von der Forderung her konstruiert: sie haben den Staat, die Sprache, das Recht, die Wirtschaft, die Er­ ziehung, das gesamte Menschentum geschaut unter der Idee, deren Er­ füllung einer besseren Zukunft aufgegeben sei und neben der alle gegen­ wärtige und geschichtliche Wirklichkeit als eine schlechte, mindere, ver­ derbte Existenz zu gelten hatte. Wohl kann es keinem Zweifel unterliegen, daß das idealistische Menschheitsbild eine bedeutende Romponente im geschichtlichen Werdegang des Abendlandes gewesen ist, keineswegs nur eine falsche und ohnmächtig neben der Wirklichkeit herlaufende Ideolo­ gie: als geschichtsbildende Macht hat es den Gemeinschafrswillen ge­ formt und durch ihn das Geschehen zum wenigsten mitgestaltet. Doch har die Wendung zur Idee und zur Zukunft auf der andern Seite die Er­ kenntnis des wirklichen, des Geschehenen und des Geschehenden, ver­ fälscht, weil sie überall die von außen herangetragenen Maßstäbe der Ideologie an die Wirklichkeit anlegte. Der Aufbau des geschichtlichen Menschheitsbildes aus dem Versuch, die Wirklichkeit der Geschichte aus ihr selbst, aus objektiver Erkenntnis und nachschaffender Einfühlung zu verstehen, nicht sie zu richten, hat nunmehr zur Rrisis zwischen bei­ den Perspektiven geführt: in unserem gegenwärtigen Dasein überkreuzen sich Sein und Sollen, Wirklichkeit und Forderung, Vergangenheit und Zukunft, Einmaliges und Dauerndes, Einzelnes und Allgemeines, Menschheit und Individualität, schicksalhafte Bedingtheit und rationales wollen, wie stehen wir darin, dazwischen? wie finden wir uns im Ganzen zurecht? Sind wir als Beschauende nur der Wirklichkeit oder als handelnde nur der Idee verpflichtet? Und wenn beides, wie konnnen wir '^andb. d. Lthrkrbll.dllng I, A. 1

zur Einheit unserer selbst und unseres Weltbildes? Fällt uns Welt, Leben, Wirklichkeit und Sinn einfach in Teile oder gar in bloße Perspek­ tiven, Denkmöglichkeiten und leere Rategorien auseinander? Die Rrisis ist aber nicht allein aus dieser feindlichen Begegnung von Wirklichkeit und Idee gekommen. Das geschichtliche Weltbild hat in radikaler Folgerichtigkeit seines Ansatzpunktes sich selbst und der Wirk­ lichkeit, damit zugleich aber dem Bewußtsein, dem wissen, dem Wollen, der Vernunft und der Idee den Boden untergraben. Der Beschauer steht ja selbst mitten im Fluß, oder vielmehr: er steht zuletzt überhaupt nicht mehr und fließt auch nicht. Wirklichkeit seiner selbst und der Welt ist eingeschrumpft auf den punkthaften Augenblick, mit dem alles steht und fällt, die Vergangenheit und die Zukunft, der Beschauer samt seinem Gegenstand und seinem Wollen. Das Gestern ist eine ebenso unerkenn­ bare Wirklichkeit geworden wie das Morgen unfaßbar, ungestaltbar bleibt, dem Heute so wenig gesetzlich unterworfen wie das feilte dem Gestern. Die geschichtliche Perspektive des Seins wird damit ebenso un­ möglich wie die ideologische des Sollens; es geschieht wohl etwas: das Heute ist wandelnder Punkt; aber das Heute selbst, der Wandel, das woher und Wohin, die Zeit vor allem, die ja in bezug auf das Rünftige ohnehin eine andere ist als in bezug auf das Vergangene, ist nur ein Be­ griff des Augenblicks, eine Funktion des Moments, ohne für den Punkt zuvor oder den Punkt nachher noch einen Anspruch auf Sein und Gel­ tung nachweisen zu können. Schließlich wissen wir ja auch nicht, ob denn überhaupt ein Punkt vorher und ein Punkt nachher „ist", existiert. Bleibt überhaupt ein Sein? Bleibt Zeit? Bleibt Bewegung, Wandlung, auch nur Schicksal schlechthin? Nicht zu beantworten, denn der Begriff gehört ja nur zum Augenblick und der Augenblick nur zum Begriff. — Die Rrisis erledigt sich, indem sie sich selbst ad absurdum führt. Die Onto­ logie des punkthaften Seins und die Dialektik der Rrisis werden hin­ fällig, da sie mit dem Augenblick selbst dahingehen: Siehe, die Füße derer, die dich hinaustragen, sind vor der Tür! Unnütz zu bemerken, daß mit dieser Ontologie und Dialektik, wenn sie sich selbst ernst nähme, wenn sie mehr wäre als ein Ritzel sensations­ lüsterner Professoren, gelangweilter Modedamen und pubertätsbedräng ­ ter Schuljugend vom Großstadtpflaster, die Lehrsäle und die Lehrstühle selbst überflüssig würden: alles, was nach dem Sollen fragt, Er­ ziehung und künftige Gestaltung des öffentlichen Lebens, wäre ebenso unsinnig und unmöglich wie die Wissenschaft von der Geschichte, von der Sprache, vom Recht, vom Leben der andern Völker. Schließlich sind uns Griechentum, Urchristentum, Mittelalter doch nicht ferner und fremder als das Gestern und Vorgestern, als das Du des Freundes, der Frau, des Rindes, der letzten Generation. Ist Sprache noch möglich? Besteht Gemeinschaft? Lasset uns essen und fröhlich fein, denn morgen sind wir tot! Aus einem Gefühl der Unruhe, der Grenze, der Angst, der

Sorge und der Langenweile wurde einst im Zweistromland schon eine entsprechende Philosophie geboren: „Gilgamesch, wohin eilst du? Das Leben, das du suchst, findest du doch nicht... fülle deinen Leib, Tag und Nacht sei vergnügt, täglich mache ein Freudenfest ..." Das war damals die Antwort auf die Frage: „Bauen wir ewig ein Haus? Teilen Brüder ewig? Findet ewig Zeugung statt? Steigt ewig der Fluß? Seit jeher gibt es keine Dauer." So lautete vor Jahrtausenden schon die Philosophie oes Augenblicks, vielleicht damals auch nur beschränkt auf einen Nihilismus blasierter Salons. Eine gewisse Antwort darauf

gibt jedenfalls die Tatsache, daß wir jene Philosophie nach Jahrtausen­ den noch lesen und verstehen, sie sogar aus unserem Augenblick heraus nicht nur als menschlich möglich, sondern sogar als höchst „modern" empfinden können. Reicht „Gegenwart" so weit zurück? Heraklit hat im Flusse der Erscheinung den stetigen, sich selbst mehren­ den und sich selbst vollendenden Logos erkannt und damit die lebendige Polarität der wirklichen Ganzheit. Bei den Eleaten erfolgte der Um­ schlag in das leere Sein, in die Leugnung der Vielheit, der Einzelheit, der Erscheinung — damit aber auch der Wirklichkeit. Die modernen Philosophen der reinen, augenblicklichen Gegenwart haben den Um­ schlag in das andere Extrem vollzogen, wofür sie gebührenderweise im Nichts gelandet sind, aus dem sie keine Ontologie, keine Dialektik der Rrise und der Grenze, keine Zeit und kein Schicksal retten kann, sofern sie nicht die Rettung durch ein sehr reales Dasein als bürgerliche Lehr­ beamte selbst vollziehen: zum weltfiüchtigen Mönchtum ist keiner ge­ langt, weder aus Verzweiflung noch durch die vielberufene Verant­ wortung. Bestehen bleibt jetzt und in alle Zukunft für den Philosophen die Aufgabe, die Platon schon als die höchste bezeichnet hat: in der Ein­ heit das viele, in der Vielheit das Eine, in der Bewegung das Stetige, im Fluß der Zeit das Ewige zu erkennen. „Das Trennen und das ver­ binden, darein bin ich ganz verliebt. Ich meine, dann erst sei ich über­ haupt imstande zu denken und zu reden, wenn ich zugleich löse und binde. Ja, so ich von einem vernehme, er sehe überall das Eine und das viele, stets beides zugleich — wer immer er sei, Freund, ich laufe ihm nach, diesem Manne bin ich auf der Spur, als sei er ein Gott, ein Gott. Und die das können, das Eine und das viele sehen, binden und lösen, sie nenne ich Dialektiker" (phaidros). VTur eben: wir haben am gegebenen Ort und zu unserer Stunde unser eigenes Leben zu leben, unsere eigene Erkennrniswelt aufzubauen, was nur aus dem Geist der Stunde und unter dem Genius des Ortes erfolgen kann: darum können wir von keiner Vergangenheit und keinem Philosophen fertige Lösungen und Wahr­ heiten übernehmen, sondern müssen unsere Lösungen und Wahrheiten jeweils deshalb selbst neu erringen, weil wir unsere eigene Daseinsbestim­ mung zu erfüllen haben. Sehen wir Welt und Menschheit von dem Ort und Zeitpunkt aus, in den uns das Schicksal gesetzt hat, so haben wir I/A.



aber zugleich zu verstehen, daß unser Leben Teil eines größeren, höheren Lebens ist, unser wandelbares Dasein Glied eines unvergänglichen Ganzen, das wir dem Wesen nach in uns tragen, das wir in Ahnung und Schau ergreifen können, wenn auch unser Begriff, mit dem wir nach dem Letzten und Absoluten greifen, zeitlich gebunden und völkisch, selbst persönlich begrenzt bleibt: wir gehen von der einmaligen Lage aus, um hinzuschreiten nach dem ewigen Ziel, und wissen uns darin eins mit allen, die vor uns — von ihrem eigenen Punkt aus — denselben Weg gegangen sind und nach uns gehen werden. Rönnen wir von den Vor­ gängern keine fertigen Lösungen beziehen, so sollen wir doch, indem wir von ihnen lernen und an ihnen wachsen, mit ihnen in die Gemein­ schaft des Menschentums treten. Unser Begriff erstreckt sich zwischen dem Punkt und dem Ganzen — keines adäquat fassend, aber an beides an ge­ kettet, weil wir selbst, obgleich einmalige, unwiederholbare, unvergleich­ liche Individualitäten, doch zugleich Menschen schlechthin, also allen an­ dern Menschen wesensgleich sind, weil unser Sein demnach wohl an Ort und Augenblick gebunden, in dieser Gebundenheit aber Teil eines ganz­ heitlichen Seins, der gegebene Ort Teil eines Gesamtraumes, der Augen­ blick Teil einer Gesamtzeit ist: mit allen andern Menschen stehen wir auf Grund des gemeinsamen Menschentums in der Möglichkeit oder Wirk­ lichkeit der Gemeinschaft, des verstehens, des verständigens, mit allen andern Orten, Zeiten und Individualgestalten können wir — durch be­ griffliches Ausweiten und Gleiten entlang dem alles verbindenden Rontinuum — die Gemeinschaft oder wenigstens ideelle Berührung her­ stellen. Alles, was wir nicht selbst sind, ist uns zugleich fremd und ver­ wandt, fern und nahe, unverständlich und verständlich — so wie es jeder schließlich auch für sich selbst ist. Wir leben in der Polarität, die diese lo­ gischen Gegensätze zur lebendigen Ganzheit eint. An jedem Zeitpunkt hängt die ganze Geschichte, die ganze Zeit, an jeder Gegenwart hängt Ver­ gangenheit und Zukunft, an jedem Ort der ganze Raum, der Rosmos, an jedem Menschen hängt die ganze natur, die ganze Menschheit, deren individuelles Abbild er ist. Daß wir heraus können aus dem zeitlichen und räumlichen Punkt, in dem wir bloß vegetieren, daß wir uns Bilder­ schaffen können von dem Ganzen, dessen Teil und Glied wir sind, daran hängt Menschentum, Rang und Würde: darum sind wir geistiger Art und Herkunft^). Es tut keinen Abtrag, daß wir Welt und Menschheit eben nur von unserm Punkt aus erfassen, erkennen, abbilden können: wir stehen dabei doch mit allen, die ja allesamt auch derselben Bedingtheit und Beschränktheit unterliegen, in der Einheit und Gemeinsamkeit des Urgrundes, des Ziels und des Sinnes. Vlur alle Menschen sind und leben „Der endliche Geist hat nur das Jetzt und Hier. Aber diese dürftige Enge seines Seins erweitert er sich vorwärts mit seinem wollen, rückwärts mit der Fülle feiner Erinnerungen. So ideell die Zukunft und die Vergangenheit in sich zusammen schließend, Kat er ein Analogon der Ewigkeit." Dropsen, Grundriß der Historik, § 6.

das Menschliche, erfassen die Wahrheit, sind in der Wirklichkeit des Menschentums — jeder Einzelne aber ist sein legitimes Glied, überall ist Mitte, jederzeit Ganzheit. Setzen wir immerhin den Lall, die Geltung einer Lehre, die Verkün­ digung einer Wahrerkenntnis bleibe auf eine mehr oder minder weit ge­ faßte Gegenwart (deren Grenzen aber endlich einmal abzustecken waren!) beschränkt, so wäre zum wenigsten sofort eine zweite, sozusagen räum­ liche Einschränkung nötig. In wessen Namen spricht der Philosoph, darf er sprechen, wenn er seine Erkenntnis verkündet? An wen darf er sich wenden? Wer sind die „Wir", die „unserer Gegenwart" angehören und ihr Gesicht bestimmen? Ist es die gesamte Generation, die im Jahre 1930 den Erdkreis bevölkert? Schwerlich wird jemand diesen Anspruch erheben, sondern sich an eine engere Ganzheit — den Rulturkreis oder das Volk — wenden, deren Glied der Erkennende selbst ist, und für das er als Ründer und Führer auftritt. Nun erstreckt aber jede solche Ganz­ heit ihr Leben von einer oft sehr weit gedehnten Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinein, und weil der Erkennende in dieses Leben einbezogen ist, weil er mit der Gegenwart zugleich an Vergangen­ heit und Zukunft Anteil hat, darum ist ihm auch derBoden gegeben, seine Erkenntnis von seinem Punkt aus auf das Ganze in allen seinen Dimen­ sionen, und höher hinauf bis zur letzten Ganzheit zeitlicher und räum­ licher Erstreckung auszuweiten: Welt und Menschheit sind in jeder ein­ zelnen Gestalt, an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt präsent. Die Ge­ schichte aber ist die Offenbarung des unveränderlich gleichen menschlichen Wesens in stets neuer Gestalt und unter jeweils veränderten Bedin­ gungen. Wie sollte Menschheit objektiv erkennbar werden, wenn nicht durch ihre Gelbstoffenbarung im geschichtlichen Gestaltwechsel? Bei aller persönlichen Besonderung und gegenwärtigen Beschränkt­ heit trägt jeder einzelne Mensch die Fülle des Menschentums und der Menschheit wenigstens soweit in sich, daß er das Ferne und Fremde nach­ verstehen und damit ideell sich über seine Bedingtheit erheben kann. Das eben ist „Bildung". Menschheit besteht nicht nur als natürliche Artgleichheit, sondern zu­ gleich als wurzelhafte geistige Einheit. Überall hat sie dieselben Grund­ bedürfnisse, die auf gleiche oder doch verwandte Weise befriedigt werden ; jederzeit sind die ursprünglichen Lebensäußerungen, die Grundfunktio­ nen (Sprache, Religion, Recht usw.) dieselben, dergestalt, daß w. von Humboldt die vergleichende Sprachwissenschaft auf die Erkenntnis grün­ den durfte, daß der Mannigfaltigkeit völkischer und individueller Sprach­ gestaltung eine allgemeine Menschensprache nicht etwa vorausgehe, son­ dern stets cinwohne. In allen Gebilden und Formen des Menschentums offenbart sich die gleiche und gemeinsame menschliche Wesenheit, in allen zugleich auch die unerschöpfliche Fülle von Besonderung, unwiederhol­ barer Einmaligkeit und Einzigkeit, individueller Gestaltung. Und jede

„Gegenwart" ist nichts anderes als eine solche besondere Gestalt des Ge­ meinmenschlichen. In der jeweiligen Neugestaltung aus dem Urgrund liegt aber alles „Y7m", alles Einmalige und Niedagewesene in der Ge­ schichte allein beschlossen. Weil alles Menschliche auf demselben Grund ruht, in derselben Ganz­ heit aufgehr, darum ist Vergleichung und mit ihr objektive Erkenntnis des Fremden und Fernen, Ausweitung des wissens und des Weltbildes über das Hier und Jetzt, also Begriff, Sprache, Gemeinschaft, Wissen­ schaft möglich — möglich allerdings immer nur als bedingt durch das Hier, geknüpft an das Jetzt: eine Perspektive, eine Schau auf das Ganze, eine objektive Erkenntnis vom Standort und Art des Beschauenden aus, der aber in aller seiner Besonderheit doch das unveränderliche Menschen­ tum in sich tragt und zur Grundlage seiner Erkenntnis macht, darum aber auch das fernste und fremdeste Menschentum von dessen Werken und Lebensäußerungen her nachverstehen kann. Gewiß können wir Platon oder die Evangelien wie alle andern gei­ stigen Erzeugnisse ferner Lebensräume und Zeiten nicht mehr so ver­ stehen, wie die Erzeuger selbst ihre Erzeugnisse gemeint und verstanden haben. Was an diesen Werken aber an unzugänglicher Individualität bleibt, ist auch den nächsten Zeitgenossen, Volksgenossen und Freunden schon unzugänglich gewesen. Dafür leben diese Werke aber in ewiger Jugend und Wirkungskraft, soweit sie Offenbarungen des Menschen­ tums sind, die wir von unserer Zeit, unserer Besonderheit und unsern lebendigen Bedürfnissen her stets neu interpretieren, auslegen und so immer wieder verlebendigen können. Möglich aber ist diese Verlebendi­ gung zuletzt nicht darum, weil wir die Werke aus uns immer wieder neu schüfen, sondern weil sie in ihrer bedingten, einmaligen Daseinsweise Unbedingtes, Immerwährendes offenbaren, weil sie Menschenkraft und Menschentum in hohe, weithin sichtbare und weithin wirkende Symbole befaßt haben. Wir können darum in wirkliche Gemeinschaft mir ihnen kommen, zum wahren Verstehen gelangen, wenn auch stets nur von der uns zugewandten Seite her in immerwährendem Prozeß der Annähe­ rung, mit der wir die Sphinx „Zeit" überwinden, die Abgründe der In­ dividualität, die Abstände der zeitlichen und völkischen Ferne überbrücken. Denn in allem Wandel, in aller unendlichen Vielheit der Sondergestalt bleibt das menschliche Wesen konstant, darum Grundlage des Verstehens. Wie aber das Leben die Polarität von Einheit und Vielheit, von Ge­ meinsamkeit und Besonderung, von Wandel und Dauer immer neu in der Ganzheit bewältigt, so hat auch unsere Erkenntnis beides zu erfassen und abzubilden: die Individualgestalt und den allgemeinen, dauernden Gehalt. In allen diesen Bemühungen brauchen wir um unsere Gegenwärtig­ keit, unsere Eigenheit, um Sonderheit und Individualität jeder Art nicht besorgt zu sein: sie ist schicksalhaft gegeben, und wir können gar

nicht aus ihr heraus. Wenden wir uns aber zur Geschichte und ihren Erzeugnissen, so müssen wir die Fähigkeit mitbringen, uns völlig hinzu­ geben, rein aufzunehmen, uns selbst zu vergessen und zu verlieren. Das ist der Sinn der „Wahrheit". Damir erst können wir wahrhaft wachsen, zur Vollendung der Eigenheit und Persönlichkeit gelangen. D. h. aber: lernen. Stellen wir dagegen bei jedem Schritt zu den Griechen, zur Bibel, zu unsern volkseigenen Meistern unser Ich, unsere Gegenwärtigkeit, die Meinungen und Bedürfnisse unserer Generation ängstlich als Maßstäbe daneben, uns immer am Gegenstände messend in der Besorgnis, wir könnten uns sonst verlieren, unsere Gegenwärtigkeit und Modernität vergessen, so kommen wir nur eben zum Rrampf, zu einem impotenten Epigonentum. Wenn Nietzsche vor den Gefahren des Historismus ge­ warnt hat, dann brachte er nur den Gegensatz des beschaulichen und des handelnden Menschen auf eine neue, „zeitgemäße" Formel: eine ewige Polarität in Menschheit und Menschentum, die durch das geschichtliche Weltbild keineswegs erzeugt, wohl aber in neuer Form erstanden ist. Er selbst, der reflektierende und beschauende Typ, hat seine Grenzen und Bedingtheit erkannt und sich nach der andern, ihm unzugänglichen Seite, nach dem Herrenmenschentum und der Staatsmannschaft, gesehnt, wie sich immer der Beschauende jene notwendige Ergänzung wünschen und ersehnen wird, ohne sie erlangen zu können. Willenslähmung aber ist durch das geschichtliche Menschheitsbild für jene Zeit nicht eingetreten, auch nicht Verlust der Modernität: die Staatsmänner und Heerführer waren ja im Zeitalter Nietzsches ebenso da wie die Ronquistadoren der Technik und der Wirtschaft. Dem Staatsmann Bismarck ist jedenfalls durch seine historische Bildung die Rraft des handelns und des staats­ männischen Schaffens nicht gelähmt worden. Doch gerade solche Men­ schen hat der Beschauliche nie so geliebt, wie sie in der Wirklichkeit sind: nach dem Vorgang Platons setzt er an ihre Stelle ein Wunschbild, in das er sich selbst hineinprojiziert. Den Gegensatz des vornehmlich handelnden und des beschaulichen Typs wird man als gegeben hinzunehmen haben, ohne einen vergeb­ lichen versuch der Überwindung zu machen. Beide sind notwendig, beide von vorbestimmt, und sie wachsen gemäß ihrer Eigengesetzlichkeit. Schule und Bildung können sie weder hervorbringen, noch den einen in den andern umwandeln: die Schule hat jeglichem Wachstum nur den Gehalt, den geistigen Nährboden für die eigentümliche Entfaltung zu schaffen, und die Nahrung ist für beide dieselbe, nämlich das Gut, das von der Gemeinschaft erzeugt ist, das ihren geistigen Zusammenhalt gewährleistet und ihr mit der Tradition überhaupt die Wachstums­ möglichkeit sichert. (Ohne Tradition, ohne Einwurzelung in Gemeinschaft und ihr werden, gibt es weder für den beschauenden noch für den han­ delnden Menschen ein Wachstum. Das geschichtliche Weltbild aber ist durchaus gegenwärtig: es deutet die Gegenwart von der Vergangenheit

her uns die Vergangenheit von der Gegenwart, von dem Boden, von dem allein Verstehen, Vergleichen, Annäherung an Fremdes und Fernes möglich ist. Es bleibt dem Wachsenden Vorbehalten, aus dem im Bil­ dungsgang Dargebotenen auszuwählen und anzueignen, was ihm gemäß und ihm notwendig ist. Diese Auswahl kann ihm niemand, kein -Lehrer, kein Lehrplan, kein Staat und keine Rirche ab­ nehmen, sie ist ein wesentliches Bestandstück seines Lebens. Er kann gar nicht anders handeln als gemäß seiner Eigengesetzlichkeit. Die „Päda­ gogik" aber sollte sich endlich beschränken auf das, was ihr allein zu­ steht, weil es allein möglich ist: auf bestmögliche Darbietung des Vor­ handenen und Notwendigen als einer Voraussetzung des Wachstums, dessen nämlich, was die Gemeinschaft besitzt, was sie erzeugt und ange­ eignet hat, was ihre Existenz festigt, ihre Art ausdrückr und allen Glie­ dern den notwendigen Boden der Gemeinsamkeit und des Wachstums sichert. Glicht aber soll sie meinen, der Jugend mit Art und Richtung des Wachstums auch die Zukunft vorausbestimmen, also eigentümliche Be­ dürfnisse künftiger Geschlechter vorwegnehmen und vorwegerfüllen zu können. Die „Pädagogik" soll endlich ihrenIrrwahn, verbesserte Mensch­ heit aus ihren Zielsetzungen und Methoden „machen" zu können, gründ­ lich aufgeben, auf daß sie den Boden der Wirklichkeit und der Wirklichkeitserkenntniö gewinne. Gerade im Verhältnis der Historik zur Pädagogik tritt die Rrisis der zwei Perspektiven auf die Wirklichkeit, des Seins und des Sollens, des verwirklichten und des Geforderten, des Vergangenen und des künf­ tigen, des Realen und des Ideologischen mit aller Schärfe hervor. Fällt doch am Ende die Welt, die lebendige Polarität der Ganzheit hier in zwei nicht mehr zusammenzufügende Teile auseinander? Wo treffen und vereinigen sich die beiden Weltaspekte zur Einheit des Weltbildes, das für den Beschauenden und den Handelnden gleichermaßen bindend und verpflichtend ist?

2. Sein und Sollen Das Verhältnis des Seins zum Sollen, des verwirklichten zu dem zu Verwirklichenden (dem Geltenden, dem wert) geht zurück auf das Ver­ hältnis zwischen Sein und Bewußtsein und findet von hier aus seine Entscheidung. Rationalistische Zeitalter gehen aus vom Bewußtsein als der Ur­ gegebenheit. Indem sie ihm die Aufgabe setzen, die Wirklichkeit, das Sein wenigstens des Menschentums (der Gemeinschaft und der Einzel­ menschen), aus bewußter Zwecktätigkeit zu gestalten, konstruieren sie zu­ gleich ihr Menschheitsbild vom Zweck, vom Sollen, von der Aufgabe her: das Bewußtsein wird samt seiner vernünftigen Zwecktätigkeir zum Schöpfer aller menschlichen Wirklichkeit — der Gemeinschaft, der Sprache, des Rechts, der Religion, des Staates, der Runft — erklärt

und in Gestalt der Vorsehung überhaupt zum Weltprinzip erhoben, von Herder bis zu Hegel aber tritt, nachdem zuvor schon das biologische Pro­ blem dem rationalistisch-technischen Denken eine Grenze gesetzt hatte, das Problem der geschichtlichen Wirklichkeit, das nicht nach Maßstäben gegen­ wärtiger Geltung gemessen, sondern aus seinen eigenen Untergründen und Gesetzlichkeiten verstanden werden soll, dem idealistischen, vom Sollen ausgehenden Weltbild entgegen: es tritt die Rrisis des Rationa­ lismus ein. Rehren im lp. Jahrhundert nacheinander die Philosophie der Ro­ mantik, der Marxismus und der wissenschaftliche Positivismus das Ver­ hältnis vollends um, dergestalt, daß das Bewußtsein zu einer einseitig abhängigen Funktion, einer bloßen Begleiterscheinung des aus sich selbst sich entwickelnden Seins erklärt wird, so bliebe dem Bewußtsein folge­ richtig nur noch die Möglichkeit, das wirkliche und Geschehende hinterher zu erkennen, ohne es im werden beeinflussen und gestalten zu können. In einem Zeitalter der Technik konnte allerdings die technische Naturbemeisterung durch menschliche Voraussicht und Zwecktätigkeit nicht geleug­ net werden. Schließlich blieb auch bewußte Wirrschafts- und Staats­ gestaltung, ^rationale Gesetzgebung, Runst, Organisation, Politik und Agitation jeder Art doch ebenfalls eine Wirklichkeit, die nicht schlechtweg als Ergebnis irgendeiner Selbstenrwicklung, einer Entfaltung unbe­ wußter Rräfte, welche das menschliche Zweckhandeln wie Marionetten lenken und es also zum bloßen Schein, zur Fiktion und Begleitmusik herabsetzen, erklärt werden konnte, wenn die positivistische Skepsis auch entwurzelnd gegen den Glauben an erzieherische Menschenformung und bildende Wirklichkeitsgestaltung vordrang, so rettete sich wenigstens die landläufige pädagogische Theorie aus Gefahr und Rrise, um den Preis allerdings, daß in ihr ein Stück Weltanschauung des J8. Jahr­ hunderts einfach versteinerte. Wohl har sich diese Pädagogik in Nach­ ahmung ihres Vaters Rousseau meist sehr revolutionär gebärdet, die Besserung und Vollendung der Menschheit von Grund auf immer wieder versprochen und — als ob sich nichts gewandelt hätte! — die sein­ sollende Menschenwelt von „Ideen", von sittlichen und humanen For­ derungen aus konstruiert. Dafür stand sie aber auch mitsamt ihren großen Gebärden nicht nur ziemlich wirkungslos neben der Wirklichkeit auf einer verlassenen Insel, sondern nahm auch am veränderten Gemeinbewußr sein, am Wandel des Weltbildes zur geschichtlich bedingten Wirklichkeit nicht teil. Ein petrefakt! So ist denn, da die Philosophie den Wandel ebenfalls nur an der Oberfläche mirmachte, das Problem des Verhältnisses zwischen Be­ wußtsein und Sein in der dialektischen Schwebe stecken geblieben. Der Satz von der Identität zwischen Denken und Sein, samt seiner Hegei­ schen Abwandlung von der Vernünftigkeit des Wirklichen und der Wirk­ lichkeit des vernünftigen, hilft nicht weiter. Das Zeitalter der Epigonen

des Idealismus ist beendet. Der ältere Anspruch schöpferischen Primates des Bewußtseins ist an der harten Eigensetzlichkeit der Wirklichkeit ge­ strandet, sobald nur der Erkenntnisweg für sie eröffnet war. Der Satz endlich von der einseitigen Abhängigkeit des Bewußtseins vom eigen­ gesetzlichen Sein ist im dogmatischen Anlauf stecken geblieben, ohne für jene weite Tatsächlichkeit des menschlichen Zweckhandelns und der daraus entspringenden Wirklichkeitsgestaltung eine Deutung und Lösung zu finden. Der neuerdings auftretende metaphysische Dualismus zwischen natur und Geist aber ist ein Akt der Verzweiflung, doch keine Lösung. Das Problem des Bewußtseins ist transzendentaler Art. D. h.: das Bewußtsein muß seine Grenzen und seine Bedingtheit mit seinen eigenen weisen und Mitteln feststellen und von der Grenze aus das andere, das es nicht selbst ist, erschließen oder das Bewußtseins-Ienseitige intuitiv, im Symbol oder sonst mit seinen Mitteln ergreifen wollen. Dabei bleibt es aber an sich selbst gebunden. Alle dazu zu verwendenden Rategorien (Ding, Sein, Ansichsein, Existenz usw.) gehören dem Bewußtsein selbst an, ebenso wie seine andern Mittel und Weisen und können folgerichtig auf das andere, das Transzendente, nur Hinweisen, es aber nicht adäquat erfassen. Bezogen auf das Jenseitige haben sie eben nur tran­ szendentale Geltung. Das ist der ewige und unvermeidliche innere Wider­ spruch aller letzten Problemstellung: sie weift dringlich hin auf ein Jen­ seitiges und ist doch unlöslich an das Diesseitige gebunden. Der Mensch will über sich selbst hinaus und hinauf und kann doch stets nur bis an feine Grenzen vordringen, alles Jenseitige nur vermenschlichen, nur auf menschliche weise begreifen. Die Grenze aber ist zugleich die Form der Dinge, setzt also das voraus, was von der andern Seite her eben die Grenze, die Form bestimmt: das Jenseitige ist, sobald das Diesseitige not­ wendig als Grenze und Form erkannt wird, das Inhaltliche, das „Ding an sich", das in seinem Ansichsein zwar unerkennbar bleibt, doch aber zur Geltung, zur Wirkung, zur Existenz — also in den Bewußtseinskreis — kommt durch die Grenze und Form aller Dinge, aller Gehalte und Gegen­ ständlichkeiten des Bewußtseins, weil es sie mitbestimmt, nimmt man die Wirklichkeit als Prozeß, so hat sie zwei Romponenten, aus denen allein alle Gestalt, alles Dasein zu begreifen ist: die dem Bewußtsein an­ gehörige Formkraft und die dem Bewußtseins-Jenseits entspringende Inhaltlichkeit. In der Ganzheit sind beide Seiten, beide Romponenten oder Funktionen gleich vorhanden und gleich wichtig: weder sind sie identisch, noch ist die eine aus der andern als dem einzigen Urgrund alles Wirklichen herzuleiten, noch auch ist damit ein letzter metaphysischer Dualismus begründet, da jede von ihnen nur Sinn und Existenz hat in Beziehung auf die andere, in der gegenseitigen Durchdringung und Begrenzung — also in der gemeinsamen, übergeordneten Ganzheit, in der beide wurzeln. Der Mensch schlechthin ist als kleine Ganzheit das Abbild der letzten,

der kosmischen und absoluten Ganzheit, der einzelne Mensch das indi­ viduelle Abbild der Menschheit, des menschheitlichen Menschen. Als lebendige, in den Prozeß des werdens einbezogene Wirklichkeit hat er beide Seiten, beide Funktionen alles Wirklichen, das Bewußtsein und das Bewußtseins-Ienfeirige notwendig an sich. Das naturhaft Wach­ sende, Zeugende, Treibende bestimmt das Rationale, das Bewußte, das Wollen; das Rönnen und Machen wird aber seinerseits auch von der Bewußrseinsseite aus wieder bestimmt, geformt, gelenkt, beeinflußt. Eine mechanische Scheidung und Entgegensetzung beider ist nicht mög­ lich : sie sind Pole im menschlichen Werden. Das bewußte Tun kann niemals etwas aus dem Nichts hervorbringen: es kann nur Seiendes gestalten und umgesialten, Werdendem zur Entfaltung, zur Formung, zur Abgrenzung und also zum Bewußtwerden verhelfen. Das Bewußt­ sein leistet dem Sein Geburtshilfe. Als Prinzip der Formung besorgt es Scheidung, Auslese, Anordnung. Bewußtsein kann in den vorhande­ nen Wachsrumsmöglichkeiten die eine auf Rosten der andern begünstigen, einige zugunsten anderer zurückdrängen, den Bevorzugten die Bahn be­ reiten, Hindernisse beseitigen, sie zu andern in ein begünstigtes Verhält­ nis bringen. Bewußtsein hat so vor allem die Möglichkeit, das bloß Treibende, das noch ungeformt unter der Oberfläche Drängende voraus­ zuerkennen, es zu vorerst ideeller Geltung, zum wert zu erheben und die Wirklichkeit weiterhin so zu gestalten und umzugestalten, daß das Gel­ tende, der wert zu voller Verwirklichung kommen kann. Der Wert, das Sollen ist vorausgreifende, vorbestimmende, ideelle Wirklichkeit, noch nicht aber voll verwirklichte, verleiblichte Existenz. Der Wert, das Sollen, die Geltung ist eine vorausgreifende zielbestimmende Station im Prozeß des werdens. Daraus kommt die beständige Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen Verwirklichtem und zu Verwirklichendem; daraus kommt weiterhin die Bewegung, der Prozeß, und zwar so, daß der Pro­ zeß durch Plan, voraussehen, Berechnen, Zwecktärigkeit, Bahnbereiten, Begünstigen, Unterdrücken des Widerstrebenden zu dem vorgesetzten Ziel hinführt: der Prozeß wird sinnhaft. Die Spannung nimmt also den Prozeß des werdens vorweg: Sein und Sollen sind Stufen des Werdens, Pole des Übergehens vom einen ins andere*). Im Gegensatz von Sein und Sollen stoßen nicht zwei verschiedene Welten zusammen, zwischen die der Mensch nun als zwiespältiges Wesen dergestalt hineingestellt wäre, daß ihn die obere zu sich emporziehen möchte, ohne daß ihn die untere losläßt. Beide sind Pole einer Ganzheit, und sie werden im Prozeß des Geschehens zu dessen Stationen und Stu­ fen : immer erneut erzeugt das lebendige Sein ein Sollen aus sich, stets werden im Bewußtsein die zur Gestalt drängenden Triebe als Sollen im J) „Daß aus Zuständen neue Gedanken, aus den Gedanken neue Zustände werden, ist die Arbeit der Menschen." Dropsen, Grundriß, § 7p