Georg Iwanowitsch Gurdjieff und der Kampf gegen den Schlaf.pdf

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Geheime Schulen und Gesellschaften 3.8 Georg Iwanowitsch Gurdjieff und der Kampf gegen den Schlaf

1923 zwang Mussolini Aleister Crowley, Sizilien zu verlassen. Crow­ ley zog sich zunachst nach Tunis zuriick, erschien aber bald wieder in Europa. Ln Fontainebleau nahe bei Paris wollte er seine Drogenabhangigkeit kurieren. Er suchte einen Esoteriker auf, dem nachgesagt wurde, er konne die Menschen von noch so tief sitzenden Siichten befreien. Lange hielt es Crowley freilich in Fontainebleau nicht aus. Er konnte den Meister, der eine esoterische Schule leitete, nicht ausstehen: Georg Iwanowitsch Gurdjieff (1865-1949).

Leben, Wirken und Sterben Uber das Leben Gurdjieffs ist nur sehr wenig bekannt. Nach Pauwels und Bergier soli er sich in seiner Jugend in Tibet aufgehalten und von Eingeweihten in esoterische Wissenschaften eingefiihrt worden sein. Die so gewonnenen Erkenntnisse setzte er in seinem „Institut zur harmonischen Entwicklung des Menschen“ ein. Das Institut leitete er zusammen mit Peter Demianowitsch Ouspensky (1877-1947). Beide gingen davon aus, dass es fur den Menschen einmal eine hohere Wirklichkeit gegeben hat, die er damals bewusst wahrnehmen konn­ te. In dieser Zeitepoche sollen dem Menschen Erkenntnisse, die ihm heute verschlossen bleiben, leichter zuganglich gewesen sein. Zu eben diesen geheimen Quellen will Gurdjieff Zugang gehabt haben. Informationen aus geheimen, den meisten Menschen unzuganglichen Quellen, iibertragen in eine auch dem Laien verstandliche Sprache, erganzt durch eigene Gedanken - das habe seine eigene Esoterik ergeben. „Mein Weg ist der Weg der im Menschen verborgenen Mbglichkeiten. Es ist ein Weg, der gegen die Natur und gegen Gott verlauft.“ In seinem Institut wirkte Gurdjieff auch als Heiler, wodurch er bald sehr bekannt wurde. Nach Zeugenaussagen gelang es ihm vor allem, Menschen von Erschbpfungszustanden vor allem psychischer Art zu befreien, indem er ihnen von seiner eigenen Kraft abgab. Gurdjieff selbst reagierte auf derlei Behauptungen verargert. Seiner Meinung nach kann der entkraftete Mensch die ihm fehlende Energie nicht von auBen zugefiigt bekommen. Vielmehr muss er sie in sich selbst suchen und finden.

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Ais Gurdjieff am 29. Oktober 1949 in Paris gestorben war, geschah Mysteridses. So soil seine Stirn Stunden nach seinem Ableben noch warm gewesen sein, wie bei einem Lebenden. Und als Tage spater eine Autopsie die naheren Umstande des Todes aufhellen sollte, standen die Arzte vor einem Ratsel. Seine inneren Organe waren bereits in einem solch extremen Zustand des Verfalls, dass Gurdjieff eigentlich schon seit Jahren hatte tot sein miissen.

Die Lehre - Versuch einer Anndherung Kritiker wenden freilich heute ein, dass Gurdjieff seinen kranken Anhangern drakonische, manchmal unsinnig wirkende MaBnahmen befahl, die angeblich eine Heilung herbeifuhren sollten. Studiert man freilich Gurdjieffs Werk, so drangt sich ein Gedanke auf: Gurdjieff wollte gar nicht der Heiler sein, als den ihn nicht wenige Zeitgenossen sehen wollten. Sein Ziel war es vielmehr, „Sinn und Zweck des menschlichen Daseins auf der Erde“ zu erkennen und dieses Wissen so vielen Menschen wie nur mbglich zu offenbaren. Nach Gurdjieff ist der Mensch so lange ein mechanisch funktionierender Roboter, wie sein eigentliches innerstes Ich noch schlaft. Der Mensch muss aufhbren, eine „schlafende Marionette'1 zu sein. Solange alle Menschen schlafen, wird es nach Gurdjieff auch Kriege geben, in denen menschliche Automaten andere menschliche Auto­ maton zu tbten versuchen.

Wie aber kann der Mensch erwachen? Er muss sich seines Zustands bewusst werden und erkennen, dass er bisher nicht wach war, sondern schlief. Harte Arbeit, speziell wenn sie Abscheu und Ekel auslbste, sollte den Menschen wachriitteln, ihn aus dem stumpf-dumpfen Unbewusstsein der Alltagsroutine herausreiBen. Gleichzeitig soli er lernen, bewusster mil Energie umzugehen. Wobei Gurdjieffs Energiebegriff ein sehr weiter war. Zunachst muss der Mensch seine Haltung gegeniiber der Natur grundlegend andern. Er muss aufhbren mit dem Versuch, sie sich un­ tertan zu machen. Er muss die Schbpfung mit Liebe sehen. Ideale Liebe aber ist - so Gurdjieff - frei von aller bewusstseinstriibender Emotionalitat.

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Geheime Schulen und Gesellschaften Dann muss der Mensch sich selbst gegeniiber ehrlich werden und jegliche Heuchelei, Selbstsucht und Habgier aufgeben. Er muss auf Illusionen verzichten, die ihm das Leben angenehm gestalten mbgen. Eine Harmonisierung zwischen Gefiihl, Intellekt und instinktiver Kbrperlichkeit muss erreicht werden. Ais probates Mittel sah Gurdjieff die „heiligen Tanze'1 an, die er an seiner Schule untenichten lieB. Gefiihl, Intellekt und Instinkt sind nach Gurdjieff die drei Energiezentren des Menschen. Der Mensch muss versuchen, diese drei Zentren miteinander in harmonischen Gleichklang zu bringen. Wenn ihm das gelingt, verfiigt er sofort iiber ein insgesamt einheitliches gewaltiges Energiepotenzial. Gleichzeitig erlangt der Mensch einen hbheren Bewusstseinszustand und ist dann zu Wahrnehmungen fahig, die er niemals zuvor fur mbglich gehalten hatte. Wie aber ist diese Harmonisierung zu erreichen? Wie gelingt es dem Menschen, den so erstrebenswerten Zustand herbeizufiihren? Nach Gurdjieff ist dazu ,.nur“ erforderlich, dass ein Mensch irgendeine Tatigkeit, irgendeine Aktion, wie banal auch immer, mil hbchstem Bewusstsein ausfiihrt. Aufwachen heiBt dann - so Gurdjieff - Wachwerden des gdttlichen Ichs. Gott ist dabei die sich selbst organisierende Schbpfung. Gott ist kein allmachtiges Wesen, das Schbpfung bewirkt, notfalls auch gegen den Menschen und seine Interessen. Gott ist vielmehr auf die Mitwirkung jedes einzelnen Menschen angewiesen. Denn Gott ist die sich selbst lenkende Schbpfung, sozusagen eine riesige Maschine, die nur dann funktionieren kann, wenn die einzelnen Teile des Apparates mitwirken. Freilich fiigt sich dann das einzelne Radchen Mensch nicht willenlos in die Gesamtmaschinerie ein. Es lenkt und leitet bewusst den Ablauf des Geschehens. Materialistische Esoterik Das Universum selbst ist, entsprechend dem Satz von der Entropie, in seiner Existenz als geordnetes Etwas gefahrdet. Nach der Entropie wird ein Zustand der gleichmaBigen Verteilung etwa aller Molekiile angestrebt und auch nach und nach erreicht. Das Universum, so wie wir es kennen, ist aber ganz im Gegenteil ein ungeordnetes Chaos: Da gibt es eine Konzentration von Molckiilen, etwa in Form eines Sterns, dort herrscht die Leere des Weltraums. Und an anderer Stelle sitzt ein Mensch, auch wiederum eine konzentrierte Ansammlung von Mo-

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Geheime Schulen und Gesellschaften lekiilen, angeordnet nach bestimmten Mustern und keine gleichmaBige Verteilung von Molekiilen. Lasst man der Entropie freien Lauf, so steht am Ende der Entwicklung die Aufldsung von Materie und Energie - und damit der Tod des Universums. Damit aber Materie und Energie erhalten bleiben, muss es einen Prozess geben, der der Entropie entgegenwirkt. Wie soli das vonstatten gehen? Indem der Mensch an der Schopfung mitwirkt und bewusst arbeitet, sprich eine Harmonisierung zwischen Gefiihl, Intellekt und Instinkt herbeifiihrt. Gurdjieff war ohne Zweifel ein Esoteriker, der iiber Zugang zu verborgenem Wissen verfUgte. Er stellt im Kreise der Esoteriker eine Ausnahme dar. Die meisten Esoteriker suchen nach der Mdglichkeit, etwa durch rituelle, ans Magische erinnernde Ubungen den Geist (wieder) dem Gbttlichen naherzubringen. Gurdjieff hingegen lieB kdrperliche Ubungen praktizieren, um zunachst ein hdheres Bewusstsein zu erlangen. Das wiederum sah er aber als Voraussetzung fur den Erhalt des materiellen Universums, der Schbpfung in ihrer Gesamtheit, an. Seine Einstellung war also insofem zutiefst materialistisch, als durch geistige Ubungen die materielle Welt des Universums vor der Aufldsung bewahrt und erhalten werden sollte.

3.9 Anthroposophie - Esoterik und Pater Ernettis Erfindung Von der Theosophie zur Anthroposophie Weltweit strebten die Theosophen nach esoterischer Erkenntnis. Sie wollten Gottes Weisheit (griechisch: Theosophie) erkennen und danach leben. Freilich konnten sie sich nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen. Immer wieder kam es zu Abspaltungen und zur Neubildung esoterischer Gruppen und Sekten. Als der Theosoph Charles Webster Leadbeater (1847—1934) beispielsweise behauptete, der 14-jahrige Jiddu Krishnamurti (1895-1986) sei als wiedergeborener Messias der Weisheitslehrer des 20. Jahrhunderts, kam es zur Spaltung der Theosophen. Annie Besant (1847-1933), Nachfolgerin der Griinderin Helena Petrowa Blavatsky (1831-1891), fdrderte den „neuen Messias“. Rudolf Steiner aber (1861-1925), Leiter der deutschen Abteilung der „Theosophischen Gesellschaft", verlieB die Gemeinschaft zusammen mit 90 Prozent der deutschen Mitglieder und

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