160 85 10MB
German Pages 333 [336] Year 1998
ÇÔMMUNICATI( )
Band 18
Studien zur europäischen Literatur- u n d Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck
Linda Simonis
Genetisches Prinzip Zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jacob Burckhardt, Georg Lukács, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Simonis, Linda: Genetisches Prinzip : zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jacob Burckhardt, Georg Lukács, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin / Linda Simonis. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Communicatio ; Bd. 18) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-484-63018-3
ISSN 0941-1704
© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspcicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorbemerkung 1.
1.1
IX
Einleitung: Das Genetische als Denkfigur und als literarisches Prinzip. Problemstellung und Stand der Diskussion
1
Ideengeschichtliche Skizze zur Entstehung und Geschichte der genetischen Figur
3
1.2
Sprachliche und rhetorische Aspekte des Genetischen. Zum Problem der >Literarizität< der Geschichtsschreibung 1.2.1 De Mans Nietzsche-Lektüre als Ansatz zu einer literaturanalytischen Untersuchung des Genetischen 1.2.2 Hayden Whites Konzept des historiographischen Stils 1.3
15 18 22
Die Unterscheidung von Metapher und Metonymie in der rhetorischen und linguistischen Diskussion
28
1.4
Zur Vorgehensweise und Fragerichtung der Arbeit
32
2.
Genetischer Erklärungsansatz und Ästhetisierung des Schreibens in Jacob Burckhardts kulturgeschichtlichem Werk
35
2.1 Die Kultur der Renaissance in Italien 2.1.1 Formulierung und genetische Begründung des Renaissancekonzepts 2.1.2 Zum Stil des kulturgeschichtlichen Schreibens bei Jacob Burckhardt
39
61
2.2
Genetisches Prinzip und Kunstgeschichte im »Cicerone«
84
2.3
Griechische Kulturgeschichte
107
3.
Genetisches Prinzip und Geschichtsphilosophie beim frühen Lukács
127
40
VI
3.1
Inhalt
Anmerkungen zur Forschungsdiskussion zu Lukács' Frühwerk
128
3.2 Die Theorie des Romans 3.2.1 Zur diskursiven Struktur und kulturgeschichtlichen Argumenation des Textes 3.2.2 Sprache und Rhetorik des Genetischen in der »Theorie des Romans«
131
3.3 Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas 3.3.1 Geschichtstheoretische und dramenpoetologische Aspekte 3.3.2 Zur rhetorischen Struktur der Dramengeschichte
166
4.
Von der Entwicklungsgeschichte zur Topik der (europäischen) Tradition. Die Bedeutung des genetischen Prinzips für E. R. Curtius' literatur- und kulturgeschichtliche Arbeiten
Kulturgeschichtliche Essayistik des frühen Curtius: die »Literarischen Wegbereiter« als Ausgangspunkt 4.1.1 Konzeptuelle und geschichtstheoretische Gesichtspunkte: Individualgeschichte als Modell kulturgeschichtlichen Wandels 4.1.2 Zur sprachlichen Form und rhetorischen Struktur der »Wegbereiter«
131 149
166 177
189
4.1
>Repli sur l'essentiel·. Remetaphorisierung und Resubstantialisierung der literaturgeschichtlichen Reflexion beim späten Curtius 4.2.1 Überlegungen zum Geschichtskonzept und Traditionsbegriff der späteren Arbeiten 4.2.2 Rhetorik des Gedächtnisses. Zur sprachlichen Form und stilistischen Verfahrensweise des Mittelalterbuchs
189
189 207
4.2
5. 5.1
216 216 230
Die Kritik des genetischen Ansatzes in Walter Benjamins »Ursprung des deutschen Trauerspiels«
247
Die Reflexion des Ursprungsproblems und des genetischgenealogischen Verfahrens in der Vorrede
248
5.2
Die Auseinandersetzung mit dem genetischen Prinzip im Hauptteil des Trauerspielbuchs 5.2.1 Die Abgrenzung von Trauerspiel und Tragödie. Dramen theoretische und sozialgeschichtliche Aspekte des Benjaminschen Barockkonzepts
258
262
Inhalt
VII
5.2.2 Benjamins Genealogie der allegorischen Wahrnehmungsform und des melancholischen Subjekts 5.2.3 Die Doppelheit des Allegoriekonzepts
269 274
5.3
Zu Schreibweise und Verfahrensstil des Trauerspielbuchs
282
6.
Schlußbetrachtung: Zur Kritik der genetischen Kulturgeschichte und zur Problematik der Verabschiedungen
305
Literaturverzeichnis
309
Sachregister
317
Vorbemerkung
Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete (teils gekürzte, teils erweiterte) Fassung einer Untersuchung, die im Wintersemester 1995/96 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen wurde. Der Titel wurde zum Druck geändert. Er lautete ursprünglich: »Genetisches Prinzip. Zu einem literarischen Deutungsmuster von Geschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert«. Die beiden Referenten waren Herr Prof. Dr. W. Voßkamp und Herr Prof. Dr. E. Kleinschmidt; das Rigorosum fand am 18. November 1995 statt. Für geduldige Betreuung und Beratung des Projekts bin ich Herrn Prof. Voßkamp sehr zu Dank verpflichtet. Zudem danke ich Herrn Prof. Nies und Herrn Prof. Voßkamp für die freundliche Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe im Niemeyer Verlag.
1.
Einleitung: Das Genetische als Denkfigur und als literarisches Prinzip Problemstellung und Stand der Diskussion
Es gehört zu den Topoi einer seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geläufigen geschichtstheoretischen Diskussion, daß geschichtliche Vorgänge nur im Rekurs auf ein Konzept der (inneren) Entwicklung und des Zusammenhangs zu denken bzw. angemessen zu beschreiben seien. Unsere herkömmliche Vorstellung von Geschichte wie auch deren literarische Darstellung sind, so scheint es, von diesen Gesichtspunkten nicht ablösbar. Dieser Sachverhalt hat bekanntlich seinen Grund in einer einschneidenden Veränderung, die die Semantik des Geschichtsbegriffs gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfahren hat. Durch die Zusammenfassung der Vielzahl einzelner, beispielhafter >Geschichten< im Kollektivsingular der einen >GeschichtePrinzipien< oder >IdeenGeschichte< aufzufassen. Die für den klassischen Historismus typische Denkweise etwa läßt sich leicht als eine Kombination aus der formativistischen und der organizistischen Methode erkennen. Auch der Kontextualismus ist mit diesen beiden Ansätzen durchaus vereinbar - kontextualistische Aspekte lassen sich z.B. in der kulturgeschichtlichen Methodik Jacob Burckhardts beobachten und treten dort in Verbindung mit einem genetischen (organizistischen) Ansatz auf. Nur das mechanistische (bzw. streng naturwissenschaftliche) Denken scheint den übrigen Ansätzen antithetisch gegenüberzustehen. Das Schema der vier Erklärungsweisen des Historischen scheint somit insgesamt ein zu starres und verkürzendes Raster darzustellen, als daß es die Vielschichtigkeit historiographischer und kulturgeschichtlicher Texte angemessen erfassen könnte. Darüber hinaus fällt auf, daß Whites Konzept von (logischer) Argumentation äußerst karg ausgefallen ist. Daß sich die Form des historiographischen Raisonnements immer der logischen Stringenz des Syllogismus fügt, scheint zumindest im Blick auf die hier zu erörternden Texte fragwürdig. Überhaupt ist es (in der sprachtheoretischen Diskussion) bisher ungeklärt, ob die Techniken umgangssprachlicher Rede immer den Regeln des logischen Schlußfolgerns entsprechen bzw. sich vollständig in jene übersetzen lassen. Zwar hat sich unter
81 82 83
Vgl. Metahistory, S. 25-38. Metahistory, S. 30. Ebenda, S. 31.
Einleitung: Das Genetische als Denkfigur und als literarisches
Prinzip
27
d e m S t i c h w o r t einer » f o r m a l e n T o p i k « ein Arbeitsprojekt herauskristallisiert, das sich die » K a l k ü l i s i e r u n g von D i s k u r s e n « z u m Ziel setzt, 8 4 aber i n w i e w e i t diese R e f o r m u l i e r u n g der natürlichen S p r a c h e im M e d i u m der Logik restlos gelingt, ist fraglich. D i e vorliegende U n t e r s u c h u n g geht d a h e r von e i n e m weiter g e f a ß t e n B e g r i f f des A r g u m e n t i e r e n s aus als d e m der f o r m a l e n S c h l u ß f o l g e r u n g . D i e dabei ins A u g e g e f a ß t e E b e n e des d i s k u r s i v - a r g u m e n t i e r e n d e n S c h r e i b e n s m e i n t vor allem auch j e n e T e c h n i k e n des P r o b l e m d e n k e n s u n d A r g u m e n t i e r e n s , die in der rhetorischen Tradition unter d e m S t i c h w o r t T o p i k erörtert w e r d e n . D i e s e n V e r f a h r e n s w e i s e n k ö n n e n d u r c h a u s unterschiedliche G r a d e an Plausibilität z u k o m m e n ; sie m ü s s e n nicht n o t w e n d i g d e n strengeren S t a n d a r d s des f o r m a l l o g i s c h e n Kalküls g e n ü g e n . Die Rhetorik d e r A r g u m e n t e soll hier in erster L i n i e als ein A s p e k t des Stils diskutiert u n d als ein M o m e n t d e r Literarizität der T e x t e in den Blick gerückt w e r d e n . D i e E n t f a l t u n g der a r g u m e n t a t i v e n Struktur ist in ihrem Z u s a m m e n h a n g mit d e m E i n s a t z d e r Figuren u n d T r o p e n zu sehen. D e r W h i t e s c h e A n s a t z läßt sich somit, w i e die oben g e ä u ß e r t e n B e d e n k e n zu e r k e n n e n g e b e n , f ü r die literarische A n a l y s e k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e r T e x t e nicht o h n e weiteres f r u c h t b a r m a c h e n . R i c h t u n g w e i s e n d u n d auch f ü r ein ang e m e s s e n e s V e r s t ä n d n i s des G e n e t i s c h e n zentral scheint mir allerdings die W h i t e s c h e G r u n d i d e e zu sein, d a ß die rhetorisch-stilistischen A s p e k t e des S c h r e i b e n s ein konstitutives M o m e n t der G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g darstellen u n d d a ß i n s b e s o n d e r e die historistischen G e s c h i c h t s w e r k e nur unter B e r ü c k s i c h t i g u n g ihrer sprachlich-rhetorischen Struktur adäquat erfaßt w e r d e n k ö n n e n . D i e v o r l i e g e n d e Arbeit versucht, in der U n t e r s u c h u n g des genetischen E r k l ä r u n g s p r i n z i p s ideengeschichtliche u n d literaturanalytische G e s i c h t s p u n k t e zu vereinen. W a s den zweiten A s p e k t betrifft, läßt sich diese Arbeit allerdings nicht p r i m ä r von e i n e m narrativen K o n z e p t leiten, sondern versucht, die s p r a c h l i c h e D i m e n s i o n der T e x t e v o r n e h m l i c h auf d e m W e g e einer rhetorisch-stilistischen A n a l y s e zu erfassen. Die U n t e r s u c h u n g geht dabei von d e r A n n a h m e aus, d a ß der genetische A n s a t z noch im L a u f e des 19. J a h r h u n d e r t s eine e n t s c h e i d e n d e V e r ä n d e r u n g erfährt, die sich auch in der Struktur der kulturgeschichtlichen u n d historiographischen T e x t e äußert. Dieser W a n d e l läßt sich als Ü b e r g a n g von e i n e m vorherrschend m e t a p h o r i s c h e n S p r a c h g e stus (in der P h a s e des klassischen Historismus) zu einer stärker m e t o n y m i schen A r t i k u l a t i o n s w e i s e (in d e r nachhistoristischen Periode) b e s c h r e i b e n . D a in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g die U n t e r s c h e i d u n g von M e t a p h e r u n d M e t o n y m i e f ü r die A n a l y s e wichtig wird, soll diese O p p o s i t i o n im f o l g e n d e n im A n s c h l u ß an die rhetorische u n d linguistische D i s k u s s i o n kurz erläutert w e r d e n .
84
Carl Friedrich Gethmann (hg.), Theorie des wissenschaftlichen Frankfurt 1980, S. 3 4 - 3 6 .
Argumentierens,
28 1.3
1. Kapitel
Die Unterscheidung von Metapher und Metonymie in der rhetorischen und linguistischen Diskussion
Bekanntlich wird die Metapher in der Tradition als eine Figur der Substitution aufgefaßt, die einen sprachlichen Ausdruck (Signifikanten) aufgrund einer semantischen Ähnlichkeitsbeziehung durch einen anderen ersetzt. Die Figur der Metapher ist in semantischer Hinsicht wiederholt als eine reduzierte Fassung des wi'e-Vergleichs (im Sinne der Formel A ist (ähnlich) wie B) analysiert worden.85 Sie unterstellt so - in ihrer traditionalen Formulierung - ein Moment der Identität zwischen figurativem sprachlichen Ausdruck und intendiertem (wörtlichen) Ausdruck, das dem metaphorischen Substitutionsprozeß als ermöglichende Bedingung zugrunde liegt. Als Gegenpol der Metapher fungiert im Fundus des rhetorischen Wissens die Figur der Metonymie.86 Wie die Metapher gehört auch die Metonymie zu den Substitutionsfiguren; nur beruht die metonymische Figur im Unterschied zur Metapher nicht auf einer Beziehung der semantischen Ähnlichkeit ihrer Relate. Die Metonymie ist vielmehr ein cover-term für sehr verschiedene Typen der Relation.87 Entscheidend in unserem Zusammenhang ist, daß die Figur des metonymischen Austauschs eine kontingente Beziehung zwischen zwei sprachlichen Ausdrücken bzw. deren Referenten voraussetzt, mithin nicht auf einem (wie auch immer zu denkenden) Moment der Identität basiert, sondern auf Kontiguität, auf der zufälligen Beziehung des Nebeneinanders und der Berührung. Die Grundrelation der Metonymie ist die einer Nachbarschaft und kontingenten Nähe (vicinitas). Das Begriffspaar Metapher/Metonymie ist vor allem durch Roman Jakobsons Arbeiten zu einer Linguistik der Tropen bekannt geworden.88 Jakobson sei, so Harald Weinrich, »wie ein Prinz an der langen Reihe der Tropen und Figuren vorübergegangen [...] und [habe] von ihnen allen nur die Metapher und die Metonymie [...] vorgezogen und in den Mittelpunkt einer umfassenden Sprach- und Zeichentheorie gestellt.«89 Jakobson hat die Polarität von Metapher und Metonymie mit Hilfe der strukturalistischen Grundbegriffe der Selektion und der Kombination beschrieben.90 Die Metapher vollziehe die Selektion sprachlicher Zeichen unter dem Gesichtspunkt der semantischen 85
86 87 88
89
90
Vgl. H. Kubzak, Metaphern und Metonymien als sprachwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände, Zeitschrift für deutsche Philologie, 105, 1986, S. 83-99, hier S. 91. Vgl. K.-H. Göttert, Einführung in die Rhetorik, S. 210. Vgl. H. Kubzak, Metaphern und Metonymien, S. 94-95. Vgl. R. Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik, in: Theorie der Metapher, hg. A. Haverkamp, Darmstadt 1983, S. 163-174. Harald Weinrich, Zur Definition der Metonymie und zu ihrer Stellung in der rhetorischen Kunst, in: Text-Etymologie. Festschrift für H. Lausberg zum 75. Geburtstag, Wiesbaden 1978, S. 105-110, hier S. 105. Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache, S. 165-166.
Einleitung: Das Genetische als Denkfigur und als literarisches
Prinzip
29
Ähnlichkeit und sei insofern auf der paradigmatischen Ebene der Sprache wirksam, die Metonymie hingegen organisiere in syntagmatischer Hinsicht das kontingente Nacheinander der Signifikanten.91 Diese Beobachtung ist für die in der vorliegenden Untersuchung verfolgte Fragestellung insofern relevant, als die Jakobsonsche Formel es nahelegt, das Problem der Literarizität als Frage nach der figurai gesteuerten Organisation des Textes zu stellen. Der strukturalistische Ansatz verweist insbesondere auf die wohl nur von Fall zu Fall entscheidbare Frage, ob in der Organisation des literarischen Textes das metaphorische Prinzip der semantisch motivierten Identifikation oder das metonymische der zufälligen Berührung dominiert. Der Rekurs auf die Unterscheidung von Metapher und Metonymie bedeutet im Rahmen dieser Arbeit indessen nicht, daß hier ein bipolares Sprachmodell oder gar ein ontologischer Dualismus angenommen wird. Die genannte Distinktion hat vielmehr einen mehr heuristischen Status und bezeichnet die typischen Ausprägungen eines sich im Spannungsverhältnis von Signifikation und Kontiguität entfaltenden Sprachgebrauchs. Nun verliert allerdings die oben dargelegte Unterscheidung von gleichsam substantialistischer Identifikation in der Metapher und kontingenter Zeichenverkettung in der Metonymie ihre scheinbar fraglose Evidenz, wenn man die genannte Figur unter dem Gesichtspunkt ihrer Konstitution und ihres Zustandekommens betrachtet. Es ist das Verdienst Gérard Genettes, die Unterscheidung und den Zusammenhang von Metapher und Metonymie genauer beobachtet und differenzierter beschrieben zu haben. Im Kontext einer Lektüre von Prousts »A la Recherche«92 gelangt Genette zu der interessanten Feststellung, daß auch die Metapher kein autonomes, in sich selbst gründendes sprachliches Gebilde darstellt, sondern vielmehr in der Bewegung des Textes in vielfacher Weise mit metonymischen Operationen verknüpft ist. Als ein anschauliches, besonders prägnantes Beispiel dieser kontextuellen Einbindung der Metapher nennt Genette ein wiederkehrendes, für den Sprachgebrauch des Proustschen Romans kennzeichnendes metaphorisches Muster, das sich auch als »Topos des Chamäleonkirchturms« bezeichnen ließe.9J An einer Stelle des Romans erscheinen dem Erzähler die Türme der Kirche Saint-André-des-Champs bei Méséglise als Getreideähren, während an einer anderen Stelle im Blick auf eine andere Ortschaft (Balbec) von Kirchtürmen als Fischen oder fischartigen Gestalten die Rede ist. Den beiden genannten Metaphern liegt offenbar das gleiche strukturelle Ausgangsschema zugrunde, nämlich der Vergleich zwischen dem Kirchturm und einem anderen bildhaften Gegenstand, nur daß jeweils ein anderes metaphorisches Analogon als Bildspender herangezogen wird.94 Genette bemerkt nun, daß die Auswahl des Bildspenders, der jeweils 91 92
93 94
Vgl. ebd., S. 168-169. Siehe Gérard Genette, Metonymie bei Proust oder die Geburt der Erzählung, in: Romanistische Stilforschung, hg. Helmut Hatzfeld, Darmstadt 1975, S. 371-400. Metonymie bei Proust, S. 375. Vgl. ebd., S. 373-374.
30
]. Kapitel
aktualisiert bzw. in das genannte Bildschema eingesetzt wird, keineswegs beliebig ist, sondern einer genau spezifizierbaren semantischen Gesetzmäßigkeit folgt. Während sich nämlich Méséglise, deren Kirchtürme an Getreideähren erinnern, in der Umgebung von Kornfeldern befindet, ist die Ortschaft mit den fischartigen Kirchtürmen in der Nähe der Küste und des Meeres gelegen. Aus diesen Beobachtungen schließt Genette, daß es ein Prinzip der zufälligen Nähe und der Kontiguität sein muß, daß die Auswahl und Spezifizierung der metaphorischen Vergleichsbeziehung steuert und in Gang setzt. »Die Ähnlichkeit«, so die These, »drängt sich von der Umgebung her auf«. 95 Der Mechanismus des hier wirksamen Selektionsprinzips läßt sich genauer beschreiben und erläutern. Zwar wird, so führt Genette aus, die Spezifik der hier beobachteten Analogie durch den metonymischen Aspekt des Kontextes nicht völlig determiniert, jedoch greift letzterer aus dem Fundus möglicher Ähnlichkeiten und Vergleiche ein bestimmtes gewissermaßen >naheliegendes< Bild heraus. 96 Aus diesen Überlegungen ergibt sich der bemerkenswerte Befund, daß die Metapher nicht für sich bestehen oder als eine unabhängige semantische Figur wirksam werden kann, sondern stets in eine weiter ausgreifende metonymische Vertextungsprozedur eingebunden ist. Das syntagmatische >Gewebe< der metonymischen Kontiguität bietet gleichsam die Grundlage dar, auf die die metaphorische Analogiebeziehung projeziert werden kann. Die metaphorische Ähnlichkeit, so scheint es, muß abgesichert werden »durch die Beziehung, die in der Kontinuität des Raumes [...] zwischen benachbarten Dingen und verbundenen Wörtern besteht«. 97 Die metonymische vicinitas erweist sich somit als das gegenüber der Ähnlichkeit primäre, vorgängige Moment, das jene erst ermöglicht und bedingt. Überspitzt formuliert: »Die Analogie erscheint [...] nur mehr als ein fast illusorischer Nebeneffekt des Zusammen«. 98 Genette korrigiert somit das überkommene Bild einer Priorität und eines hierarchischen Vorrangs der Metapher vor der Metonymie. Folgt man seiner Darlegung, so sind die genannten rhetorischen Figuren nicht unter dem Aspekt einer starren Opposition, sondern im Zeichen eines dynamischen Zusammenspiels und einer wechselseitigen Komplementarität zu betrachten: »Nur die Verwebung eines metonymischen und eines metaphorischen Fadens garantiert die Kohärenz, den >notwendigen< Zusammenhalt des Textes«. 99 Eine Umkehr der herkömmlichen Perspektive auf das Begriffspaar Metapher - Metonymie ist auch das Anliegen eines Aufsatzes von Paul de Man, der die Funktionsweise der Metapher gewissermaßen aus einem entstehungsgeschichtlichen und historischen Blickwinkel analysiert. Im Anschluß an Rousseaus sprachgeschichtliche Ausführungen stellt sich de Man die Frage, 95 96 97 98 99
Ebd., S. 374. Vgl. ebd., S. 374. Ebd., S. 389. Ebd., S. 382. Ebd., S. 397.
Einleitung:
Das Genetische
als Denkfigur
und als literarisches
Prinzip
31
wie überhaupt eine metaphorische Verwendung sprachlicher Ausdrücke möglich ist und wie sie zustande kommt. Dabei kann er zeigen, daß für die Konstitution der Metapher - entgegen den Deutungsangeboten der rhetorischen und philosophischen Tradition - nicht das Konzept der Identität das Primäre ist, sondern das der Differenz. 100 Die Differenz ist das movens, das den Vorgang des metaphorischen Austausche der Signifikanten erst in Gang setzt. De Man erläutert die These des Primats der Differenz in der Metapher an einem Beispiel aus der menschlichen Sprachentwicklung, nämlich dem Übergang von der bloßen Benennung einzelner Dinge zur Bildung von Allgemeinbegriffen.' 01 Er folgt dabei jenen Ausführungen, die Rousseau in seinem »Essai sur l'origine des langues« entwickelt hat. Die Grundidee ist, daß der Prozeß der Begriffsbildung einer gleichsam metaphorischen Logik folgt: Der Allgemeinbegriff stellt eine Art Metapher dar für die vielen konkreten Einzelfälle, die sich unter ihm subsumieren lassen. Dabei ist es jedoch, so de Man, entscheidend zu sehen, daß die Subsumption der einzelnen Gegenstände bzw. ihrer konkreten Bezeichnungen unter den Begriff nicht von Anfang an im Zeichen von Identität steht. Dieser Vorgang der Zusammenfassung ist vielmehr nur möglich unter der Bedingung der vorgängigen »Wahrnehmung von Differenz« (»die erste Vorstellung, die man sich von zwei Dingen macht, ist die, daß sie nicht dasselbe Ding sind«). 102 Die konstitutive Bedeutung, die hier der Beobachtung des Verschiedenen und Differenten zugewiesen wird, läßt den prekären Status des metaphorischen Allgemeinbegriffs deutlich werden: Er definiert sich überhaupt erst als Formel der Einheit in der Differenz. Allerdings ist für de Man in der Metaphernbildung (und Begriffsbildung) zugleich immer ein Impuls zur Aufhebung der Differenz (zugunsten von Identität) wirksam, der sich bereits auf der elementaren Ebene der bloßen Benennung beobachten lasse. Das Spezifische der Metapher, das was ihren Unterschied gegenüber der Metonymie begründet, liegt somit nicht in einer gewissermaßen substantiell vorgegebenen Identitätsbeziehung. Die Vorstellung von Einheit und Identität ist vielmehr erst das Resultat einer besonderen Lesart bzw. Betrachtungsweise, zu der die Metapher verführt. Denn im Unterschied zur Metonymie betont die Metapher die Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit ihrer Relate und tendiert somit dazu, die entscheidende Differenz der aufeinander bezogenen Einheiten, die Kluft zwischen Zeichen und Bezeichnetem, durch ihren suggestiven Gestus zu überspielen. Der identitätslogische Gesichtspunkt der Metapher ist somit mehr der Effekt einer spezifischen Beobachtung als eine in der Struktur der Sprache selbst vorgezeichnete Prämisse. Dennoch erscheint es zweckmäßig, zwischen einer eher metaphorisch und einer mehr metonymisch geprägten Redeweise zu unterscheiden. Als metaphorische Rede ist dann eine solche anzusehen, die ihren eigenen Setzungs-
100 101 102
Vgl. Aliegories of Reading, Kapitel 7: Metaphor. S. 135-159. Ebd., S. 144-149. Ebd., S. 244-245.
32
1. Kapitel
Charakter verkennt und jenes kontingente, différentielle Moment überspielt, das ihre figurale und rhetorische Artikulation überhaupt erst ermöglicht. Geht man von der oben skizzierten Unterscheidung eines eher metaphorischen und eines stärker metonymisch verfaßten Diskurstyps aus, so läßt sich leicht erkennen, daß dem genetischen Deutungsprinzip eine gewisse strukturelle Affinität zum traditionalen (aristotelischen) Metaphernmodell eigen ist. Insbesondere die gerichtete, teleologische Bewegung der Metapher, 103 ihre Tendenz zur Identifikation des Verschiedenen, scheint geeignet zu sein, das genetische Postulat einer Einheit und Identität in der historischen Veränderung zu artikulieren. Die metaphorische Bewegung der Setzung eines sprachlichen Ausdrucks an Stelle eines anderen zielt ja auf die Überwindung einer Differenz, nämlich der zwischen vehicle und tenor, zwischen geäußertem (bildlichem) Ausdruck und intendiertem (wörtlichem) Ausdruck. Implizit vorausgesetzt ist dabei die Annahme eines identifizierbaren Signifikats, das dem metaphorischen Ersetzungsprozeß als Bedingung seiner Möglichkeit zugrunde liegt. Der metaphorische Gestus der Identifikation findet in der Struktur der genetischen Bewegung ein genaues Korrelat. Der semantischen Differenz von vehicle und tenor entspricht gewissermaßen die konstitutive Differenz von Anfang und Telos der genetischen Figur. Die Grundstruktur der gerichteten Bewegung (zwischen Anfang und Ziel) bedingt offenbar eine Affinität zwischen der Rhetorik metaphorischer Rede und der Logik genetischer Argumentation. In unserem Zusammenhang interessiert nun die Frage, inwieweit die Form des genetischen Schreibens völlig in der Geste metaphorischen Sprechens aufgeht und somit einer Rhetorik der Identifikation folgt oder ob sich in der Geschichte des genetischen Ansatzes auch Formen der Distanzierung und mithin eine Problematisierung des metaphorischen Grundzugs des Schreibens beobachten lassen. Die These einer Problematisierung des genetischen Ansatzes im späten 19. Jahrhundert ist in der Forschung wiederholt geäußert und diskutiert worden, die Idee einer >Krise< des genetischen Denkens scheint sich als communis opinio der Historismusforschung herauszukristallisieren. Dieser Aspekt der >Krise< und des Problematischwerdens des Diskurses soll hier in dem Konzept der Metonymisierung aufgenommen und reformuliert werden. Gemeint ist dabei ein Prozeß der allmählichen Distanzierung vom identitätslogischen Gestus metaphorischen Sprechens.
1.4
Zur Vorgehensweise und Fragerichtung der Arbeit
Der oben skizzierte Vorgang der Entstehung und weiteren Karriere des genetischen Ansatzes im 19. Jahrhunderts stellt gewissermaßen die Vorgeschichte 103
Die neuere linguistische Analyse beschreibt die Metapher als eine Form des gerichteten Vergleichs. Vgl. H. Kubzak, Metaphern und Metonymien, S. 92.
Einleitung: Das Genetische als Denkfigur und als literarisches Prinzip
33
und die historische Voraussetzung dessen dar, was in der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll. Es geht dabei um die Frage, welche Bedeutung dem oben umrissenen Schema des Genetischen in einer nachhistoristischen Periode im Blick auf die Auffassungen und Darstellungsweisen von >Kultur< und >Geschichte< zukommt. Die vorliegende Arbeit versucht, dieses Problem anhand von vier exemplarisch ausgewählten Autoren, deren Texte in den Bereich der Kulturgeschichtsschreibung, Literaturtheorie und Literaturgeschichte fallen, zu erörtern. Dabei geht es auf einer Ebene erster Annäherung zunächst darum, sich den keineswegs selbstverständlichen Sachverhalt bewußt zu machen, daß die hier diskutierten Texte und Autoren - obgleich sie mit Ausnahme Burckhardts einer nachhistoristischen Periode angehören noch auf die Problemkonstellation des klassischen Historismus Bezug nehmen und diese aufzuarbeiten suchen. In einem zweiten Analyseschritt soll dann die spezifische Verfahrensweise und Darstellungstechnik des jeweiligen Textes in den Blick gerückt werden. Zunächst stehen die kulturgeschichtlichen Texte Jacob Burckhardts als Beispiel für eine Position, die in gewisser Hinsicht der klassischen, prototypischen Form des historistischen Diskurses noch sehr nahe steht, in anderer Hinsicht jedoch bereits Züge einer metonymischen Verschiebung des genetischen Erklärungs- und Erzählmodells erkennen läßt. Haben Burckhardts kulturgeschichtliche Arbeiten einerseits noch teil am historistischen Projekt, geschichtliche Epochen als ganzheitliche Entitäten zu begreifen, so signalisieren sie andererseits durch die Akzentuierung von >Kultur< (anstelle von politischer Ereignisgeschichte) Distanz zu einer Historiographie im Stile Niebuhrs und Rankes. Zwar wurde Jacob Burckhardts kulturgeschichtliches Werk im Kontext der Historismusdebatte bereits eingehend untersucht, 104 es ist jedoch, soweit ich sehe, bisher nicht konsequent in seiner Relation zur Denkform und Schreibweise des Genetischen analysiert worden. Als genetische Momente treten im Burckhardtschen Diskurs vor allem das Verlaufsmodell von Entstehung, Entfaltung und Niedergang einer Kultur, die Figur der Epochenschwelle sowie das genealogische Schema des Rückgangs zum antiken Ursprung hervor. Auch Burckhardts eigentümliche Schreibweise, sein ironischer, spielerisch distanzierender Stil, der in der Burckhardtforschung bisher nur in Ansätzen untersucht wurde, verdient - als eine mögliche Form der Distanzierung vom Genetischen - nähere Aufmerksamkeit. Georg Lukács' frühe literatur- und geschichtsphilosophische Arbeiten interessieren im Kontext dieser Arbeit vor allem deshalb, weil sie versuchen, ein antithetisches Geschichtsmodell, das die Differenz von Antike und M o derne zu einer unüberwindbaren Kluft werden läßt, mit der Vorstellung einer latenten, unterschwelligen Kontinuität der literarischen Gattungsentwicklung zusammenzuführen. Auch Ernst Robert Curtius' kultur- und literaturge104 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und modemer Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974.
34
1. Kapitel
schichtliche Arbeiten sind im weiteren Sinne dem Problemfeld des Genetischen zuzuordnen. Während die frühen Texte Anschluß an naturhafte Entwicklungsmodelle und vitalistische Konzepte suchen, entwirft das Mittelalterbuch das Bild einer umfassenden Einheit und Kontinuität der europäischlateinischen Bildungstradition. Eine etwas andere Form des Umgangs mit den Problemen des Genetischen läßt sich in Walter Benjamins Trauerspielbuch beobachten. Hier verbindet sich ein mehr zitathaftes Anschließen an das alte Modell der Ursprungs- und Entwicklungsgeschichte mit einem besonderen Verfahrensstil, der zu einem Teil auf vormoderne, allegorische Text- und Bildtechniken zurückgreift. Bei der Untersuchung wird insgesamt Vorsicht geboten sein gegenüber einer Lektüre, die die Texte ausschließlich im Zeichen umfassender Einheitsund Ganzheitsvorstellungen betrachtet. Zu berücksichtigen ist, daß es neben den in den untersuchten Abhandlungen explizit geäußerten Standpunkten und Konzepten auch eine mehr unterschwellige Form der Problematisierung und Kritik des Genetischen geben kann, die sich in Stil und Darstellungsweise der Texte artikuliert.
2.
Genetischer Erklärungsansatz und Ästhetisierung des Schreibens in Jacob Burckhardts kulturgeschichtlichem Werk
Das genetische Modell, so ließe sich im Rückblick auf die vorangehenden Überlegungen festhalten, bildet nicht nur eine besondere Form der philosophischen Reflexion auf Geschichte, sondern impliziert vielmehr einen ihm eigentümlichen Modus des Schreibens und eine spezifische Rhetorik. Inwiefern der Rekurs auf die genetische Figur eine Literarisierung des (historiographischen) Schreibens bedeutet, läßt sich exemplarisch an den Arbeiten eines Kulturhistorikers beobachten, der »die Geschichtsschreibung energisch und egoistisch als eine Kunst ausübte«' - Jacob Burckhardt. Die Burckhardtschen Texte in ihrer literarischen Dimension ernst zu nehmen, scheint bereits unter dem Gesichtspunkt ihrer zeitgenössischen Rezeption geboten zu sein: Gehört es doch zu den (wirkungsgeschichtlichen) Besonderheiten Burckhardts, daß er, während er im Kontext der etablierten Fachwissenschaft der Zeit nur zögernd zur Kenntnis genommen wurde und zeitlebens eine Außenseiterposition einnahm, mit einigen seiner Arbeiten einen geradezu skandalösen Erfolg bei einem breiteren gebildeten Publikum verzeichnete. Auch richteten sich Burckhardts Schriften, seinem eigenen Selbstverständnis nach, weniger an die scientific community der Zeit als vielmehr - in Burckhardts eigener altväterlicher Ausdrucksweise - an »denkende Leser aller Stände«. 2 Vor allem der »Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens« begleitete gegen Ende des Jahrhunderts eine Generation von enthusiasmierten Italienreisenden auf ihrem Weg über den Brenner. Der spektakuläre Erfolg dieser kunstgeschichtlichen Darstellung bei einem literarisch gebildeten Publikum 3 und, parallel dazu, Burckhardts Bekenntnis zu einem gewissen >DilettantismusKultur< als »die Welt des Beweglichen«, als »Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften« (WB 254). Die drei genannten Potenzen deutet Burckhardt ihrerseits als Äußerungsformen eines geistigen Prinzips, das den Fortgang der Geschichte bewirkt. Im Kontext der Burckhardtschen Geschichtskonzeption kommt der griechischen Antike und der italienischen Renaissance nicht zufällig eine privilegierte Stellung zu. Antike und Renaissance beziehen für Burckhardt ihre besondere weltgeschichtliche Bedeutung aus ihrem Status als Epochen des Übergangs und der Übertragung von Kultur. Beide Epochen erhalten - im Rahmen des skizzierten Entwurfs - eine spezifische Konstitutions- und Begründungsfunktion in der Entstehung und Entwicklung der okzidentalen Welt. Als ursprünglicher Ort des freien »Verkehrs« und des »individuell entbundenen Geistes« gilt Burckhardt die griechische Antike als »einziges Paradigma« der geschichtlichen Betrachtung. 6 »Alle seitherige objektive Kenntnisnahme der Welt« - so formuliert apodiktisch die Einleitung zur »Griechischen Kulturgeschichte« - »spinnt an dem Gewebe weiter, welches die Griechen begonnen haben«. 7 In genauer Entsprechung zu der »weltgeschichtlichen Stellung des griechischen Geistes zwischen Orient und Okzident« (GK I, 10) profiliert Burckhardt die »hohe, weltgeschichtliche Notwendigkeit« 8 der Renaissance. Das Burckhardtsche Geschichtskonzept begreift die italienische Renaissance, wie noch auszuführen ist, aus ihrer eigentümlichen Doppelfunktion als Initiator der Moderne einerseits, als rinascimento dell' antichità andererseits. An die italienische Renaissance knüpft sich ein Mythos sowohl des Ursprungs wie auch der Erneuerung von Kultur - die typischen Momente des Genetischen: Ursprung, Entwicklung, Verfall und Wiedergeburt, drängen sich hier auf. Die Renaissance als erneuerndes, Kultur begründendes Prinzip, so Burckhardt, betrifft jedoch nicht nur Italien, sondern »vermittelst der italienischen Kultur auch [...] alle anderen Völker des Abendlandes«, sie sei »seit6
7
8
Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, S. 123, 124 u. 127. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. Erster Band (= Gesamtausgabe Bd. V m ) , hg. Felix Stähelin, Berlin und Leipzig 1930, S. 11. Diese Ausgabe im folgenden GK mit Band- und Seitenzahl (GK I = Gesamtausg. Bd. VIII, GK II = Gesamtausg. Bd. IX, GK ΙΠ = Gesamtausg. Bd X, GK IV = Gesamtausg. Bd XI). Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, hg. Konrad Hoffmann, Stuttgart 1988, S. 127. Diese Ausgabe im folgenden zitiert als KR.
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2. Kapitel
dem das höhere Medium, in welchem dieselben leben« (KR 332). Die gleiche Fortdauer und Übertragung eines kulturellen Prinzips postuliert Burckhardt auch für den Zusammenhang von Moderne und griechischer Antike: »So werden wir ewig im Schaffen und Können die Bewunderer und [...] die Schuldner der Griechen bleiben. [...] Wir sehen mit den Augen der Griechen und sprechen mit ihren Ausdrücken« (GK I, 11). Schon an dieser Besonderheit und eigentümlichen Vorrangstellung der Epochen der griechischen Antike und der italienischen Renaissance innerhalb der Burckhardtschen Geschichtskonzeption läßt sich erkennen, daß Burckhardts Kunst- und Kulturkonzept entscheidend durch die Vorstellung der normbildenden und über den engeren Kontext der Epoche hinausweisenden Bedeutung der klassischen Tradition bestimmt ist. Wie die Betonung des vorbildhaften, paradigmatischen Charakters der antiken Tradition, die über ihre Zeit hinausweisende Maßstäbe setze, zeigt, betrachtet Burckhardt die griechische Antike im wesentlichen aus der Perspektive Winckelmanns und der Ästhetik der Goethezeit. Die griechisch-antike Kultur, insbesondere die Kunst, figuriert bei Burckhardt als normatives, idealtypisches Muster und zugleich als Substrat geschichtlicher Entwicklung, insofern sie für die Kultur späterer Zeiten richtungweisend ist und das eigentümliche Phänomen kultureller Renaissancen erst ermöglicht. Burckhardts Ansatz teilt demnach - mit diesen Annahmen die Problematik jedes klassikorientierten Kunst- und Kulturkonzepts; insbesondere der Neigung zur totalisierenden Überhöhung ihres Gegenstands und der Tendenz zur Ontologisierung entgeht die Burckhardtsche Kulturgeschichte nicht: Die unter Hinweis auf das antike Vorbild erhoffte und beanspruchte Überzeitlichkeit der Kunst zeigt sich in der Geschichte der Ästhetik und Literaturwissenschaft häufig als Substantialisierung des Klassikparadigmas mit dem Versuch, dessen epochenspezifische Merkmale zu überhöhen und zu normativen Leitbildern für alle Literatur und ihre Geschichte zu erheben. 9
In der Tat ist der Burckhardtschen Kulturauffassung die Disposition zu einer Enthistorisierung von Geschichte im Rekurs auf ontologische Konzepte inhärent. Die Tendenz zu einem substantialistischen Denken findet allerdings bei Burckhardt ein Gegengewicht darin, daß er zugleich für den Geschichtsverlauf ein in Analogie zur Individualgeschichte gedachtes Entwicklungskonzept einklagt und in der Nachfolge Winckelmanns und Herders Kulturgeschichte als Entelechie aufzufassen sucht. Die Vorstellung der Wesenhaftigkeit und überzeitlichen Dauer der klassischen Tradition erscheint Burckhardt mit dieser dynamischeren, entwicklungslogischen Konzeption insofern vereinbar, als sie gleichsam die substantielle Grundlage der geschichtlichen Veränderung darstelle und sich zugleich als deren verborgenes Telos begreifen lasse. Bei Burckhardt zeichnet sich somit die Tendenz zu jener entwicklungsgeschichtli9
W. Voßkamp, Klassik als Epoche, in: Literarische Klassik, hg. H. J. Simm, Frankfurt 1988, S. 2 4 8 - 2 7 7 , hier S. 254.
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chen Erklärung von Geschichte und ihrer Totalisierung zu einem ganzheitlichen, kontinuierlichen Verlauf ab, wie sie aus der Diskussion des genetischen Ansatzes vertraut ist. Inwieweit sich das Genetische bei Burckhardt als ein die literarische Komposition und die Lektüre steuerndes Muster begreifen läßt, soll im folgenden anhand der Argumentationsstruktur und der Rhetorik der Texte erörtert werden.
2.1
D i e Kultur der Renaissance in Italien Renaissancen haben ihre genetische Logik, und nur deren Aufweisung erfüllt den Anspruch historischen Verstehens.10
»Die Kultur der Renaissance in Italien« ist Burckhardts bekanntestes kulturgeschichtliches Werk. Sicher lassen sich auf der rein inhaltlichen Ebene einer erneuten Lektüre dieses kulturgeschichtlichen >Klassikers< kaum neue Erkenntnisse über ihren Gegenstand - die Renaissancekultur - mehr abgewinnen, die den Standards einer avancierten kultur- und kunstgeschichtlichen Forschung Rechnung tragen könnten. Das Burckhardtsche Bild des G e w a l t menschen* der Renaissance, der seine verschiedenen individuellen Kräfte bis zur höchsten Steigerung zu entwickeln sucht - heute eine abgegriffene Schablone aus dem Archiv der Kulturgeschichte - wirkte bis ins beginnende 20. Jahrhundert als Vorlage einer sich ausdifferenzierenden Renaissanceforschung und als Motor eines verbreiteten populären Renaissancekults." Schon die zeitgenössischen Leser des Burckhardtschen Renaissancebuchs waren sich indessen der Tatsache bewußt, daß es dem Verfasser weniger darum ging, die verschiedenen, um das Zeitalter der Renaissance gruppierten Forschungsprojekte der Einzelwissenschaften der Zeit weiterzuführen. Noch Erich Rothakker liest die »Kultur der Renaissance« nicht als Annäherung an die spezifischen Bedingungen und Besonderheiten einer historischen Epoche, sondern ganz im Sinne des neuhumanistischen Bildungspathos - als »Fundgrube [...] des Verständnisses menschlicher Dinge«. 12 Burckhardt sieht die besondere 10 11
12
Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt 1988, S. 166. Zu diesem Aspekt der Burckhardtrezeption und zur Geschichte des Renaissancekults vgl. August Buck (hg.), Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann, Tübingen 1990; dort insbesondere die Einleitung und den Beitrag A. Bucks. Zit. nach Konrad Hoffmann, Einleitung zu Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1988, S. xi. Burckhardt lehnt es denn auch an verschiedenen Stellen der »Kultur der Renaissance« explizit ab. die Konkurrenz mit den Forschungsprogrammen seiner Zeit aufzunehmen. Wer genaueres, spezifischeres Wissen zu einzelnen Aspekten der dargestellten Epoche sucht, den verweist Burckhardt immer wieder an die Ergebnisse der sogenannten >SpezialgeschichtenModerne< nach. Dieses Verlaufsschema begreift den Prozeß der Kunstgeschichte (wie den der Kultur insgesamt) in den Kategorien von Aufstieg und Verfall. Es nimmt seinen Anfang bei einem kunstgeschichtlichen Höhepunkt in der Antike, begleitet dann die Künste auf ihrem Weg des Verfalls durch die >dunklen Zeiten< des Mittelalters, feiert ihren nachfolgenden Aufschwung zu einem erneuten Gipfelpunkt in der Hochrenaissance, um schließlich die Auflösung dieses Ideals in der Barockepoche zu beobachten. Die hier angeführten geschichtlichen Perioden sind intern topographisch strukturiert - nach Schulen der Künstler und Orten der Kunstwerke. Die Kombination von historischem und topographischem Gesichtspunkt ist für die Konzeption und Grundidee des »Cicerone« konstitutiv, geht es Burckhardt doch nicht primär um die Vermittlung eines abstrakten, kunstgeschichtlichen Wissens, sondern um eine >Anleitung< anderer Art: Programmatischer Vorsatz des Buches ist der »Weg zum Genuß«75 - doch der ästhetische Genuß verweist auf eine besondere, keineswegs selbstverständliche Fähigkeit; hier bedarf es einer methodischen Einübung in die Techniken der Kontemplation und des nichtigen Sehensc »Das Ziel, welches mir vor74
75
Jacob Burckhardt, An Franz Kugler in Berlin, Widmung zu: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens, Neudruck d. Urausg., Stuttgart 1986, S. xiv. Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens, Neudr. d. Urausg., Stuttgart 1986, S. 389. Im folgenden C mit Seitenzahl.
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schwebte, war [...]: Umrisse vorzuzeichnen, welche das Gefühl des Beschauers mit lebendiger Empfindung ausfüllen könnte« (Vorrede, C, S.x). Bei einem Programm, das die Schwierigkeiten des Kunstgenusses so nachdrücklich hervorhebt, verwundert es nicht, wenn es ein entsprechend restriktives und anspruchsvolles ästhetisches Konzept formuliert. Für Burckhardt bedeutet die Kunst ein Residuum des Unsagbaren, das sich dem beschreibenden und analytischen Zugriff grundsätzlich entzieht: »Das Raisonnement des Cicerone macht keinen Anspruch darauf, den tiefsten Gedanken, die Idee eines Kunstwerks zu verfolgen und auszusprechen. Könnte man denselben überhaupt in Worten vollständig geben, so wäre die Kunst überflüssig und das betreffende Werk hätte ungebaut, ungemeißelt, ungemalt bleiben dürfen« (C, S. x). Die Unaussprechlichkeit ihres thematischen Gehalts kennzeichnet die Kunst als einen Bereich gesetzmäßiger Notwendigkeit, der der Erfahrung geschichtlicher Kontingenz enthoben ist. Diese Vorstellung von Kunst als zeitloser Präsenz artikuliert sich wohl am deutlichsten in den einleitenden Passagen des ersten Kapitels des »Cicerone«, die die Geschichte der Baukunst in Italien mit einer Beschreibung der griechischen Tempel von Pästum eröffnen. Die idealtypische Architektur des Tempels bezeichnet für Burckhardt einen Ort der vollkommenen Ruhe und der reinen, zeitlosen Anschauung: »Von den drei erhaltenen Tempeln der alten Poseidonia sucht das Auge sehnsüchtig den größten, mittlem. Es ist Poseidons Heiligtum; durch die offenen Triimmerhallen schimmert von fern das blaue Meer« (C 3). Die Tempelanlage erscheint Burckhardt als Inbegriff der in sich ruhenden Harmonie, der Proportion und des gesetzmäßigen Ausgleichs: »In wunderbarer Ausgleichung wirken strebende Kräfte und getragene Lasten zu einem organischen Ganzen zusammen« (C 3). Die sich hier abzeichnende Figur, die Parallele von künstlerischem Formprinzip und lebendem Organismus, verweist auf ein Konzept, das seit der Renaissance die neuzeitlichen kunsttheoretischen Debatten durchzieht. In der Renaissancetheorie begegnet dieser Gedanke zunächst auf der allgemeinen, universalen Ebene einer Analogie von menschlichem Körper und kosmischem Universum, nämlich im Zeichen der Mikrokosmos-Makrokosmos-Korrespondenz. In gewisser Parallele zu dieser Figur findet sich in der zeitgleichen kunsttheoretischen Diskussion die Vorstellung, die Ordnung des Kunstwerks entspreche der Anatomie des menschlichen Körpers und realisiere die gleiche naturgesetzmäßige Relation von Teil und Ganzem. Zwar werden diese Vorstellungen in jenen Debatten noch nicht explizit unter den Organismusbegriff gefaßt, aber die Grundidee eines ganzheitlichen, hierarchisch gegliederten und zweckgerichteten Gebildes, die die klassizistische Theorie bis zu Winckelmann bestimmt, ist gleichwohl intendiert. Den klassischen Topos jener Leitideen der durchgängigen Zweckmäßigkeit der Organisation und der Stimmigkeit der Proportion, wie sie sich später unter dem Schlagwort des Organismus formieren, bietet die Kunsttheorie Albertis. Als traditionsbildend erweist sich vor allem die Definition des Schönheitsbegriffs aus dem »Traktat über die
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2.
Kapitel
Malerei«: Alberti erklärt dort, das Ziel der Kunst wie der Natur sei »eine bestimmte gesetzmäßige Übereinstimmung (concinnitas) aller Teile [...], die darin besteht, daß man weder etwas hinzufügen noch etwas hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne sie weniger gefällig zu machen.«76 Der Burckhardtsche Ansatz schließt hier an, indem er das Organismuskonzept der neuklassischen Ästhetikdiskussion mit der historistischen Vorstellung einer genetischen Geschichtsentwicklung in einem Konzept von Kunstgeschichte verschränkt, das die Geschichte der Kunst im großen und die Genese und Struktur des Einzelwerks als homologe Phänomene behandelt und mit Hilfe der gleichen Grundfigur eines organischen Zusammenhangs beschreibt. Der Kunst wie ihrer Geschichte kommt ein eigentümliches, inneres Leben zu; ihre Entfaltung läßt sich in Analogie zu den Bildungsgesetzen des Organismus begreifen: »Was das Auge hier und an anderen griechischen Bauten erblickt, sind eben keine bloßen Steine, sondern lebende Wesen. Wir müssen ihrem innern Leben und ihrer Entwicklung aufmerksam nachgehen« (C 4). Das »innere Leben« der Kunst sowohl in ihrer geschichtlichen Entwicklung als auch am Beispiel des einzelnen, in sich abgerundeten Werks nachzuzeichnen ist ein leitendes Motiv des »Cicerone«. Das Plädoyer für einen organologischen Kunstbegriff und die Option für ein genetisches Geschichtsdenken fallen hier nicht zufällig zusammen; postuliert doch der Organismusgedanke der Ästhetik jene Vorstellung einer naturgegebenen immanenten Zielgerichtetheit und Zweckmäßigkeit für das Kunstwerk, die das genetische Denken dem Geschichtsprozeß im ganzen unterstellt. Die Organismusidee der Burckhardtschen Ästhetik ist dem Entelechiekonzept affin und verweist darin zurück auf die philosophische Tradition. Ihre kanonische Formulierung erhält diese Vorstellung durch die Hegeische Definition des Organismus im Sinne eines naturhaft präformierten Prozesses, der »das Ende und Produkt seiner Tätigkeit als das findet, was er schon von Anfang an und ursprünglich ist«.77 Im Zusammenhang mit dem organologischen und genetischen Ansatz entwickelt der »Cicerone« eine Metaphorik des Dynamischen und Expressiven, die wie eine Vorwegnahme lebensphilosophischer Begriffe erscheint. In der »dorischen Ordnung« des griechischen Tempels als einer »der höchsten Hervorbringungen des menschlichen Formgefühls« (C 4) äußert sich für Burckhardt in exemplarischer Weise ein grundlegender Drang, welcher »auch in scheinbar mathematischen Formen überall einen Pulsschlag innern Lebens zu offenbaren« sucht (C 7). Die eigentümliche Wirkung der Tempelarchitektur beruht Burckhardt zufolge auf der besonderen Verbindung von äußerer Ruhe und innerer Bewegung: »Das erste Mittel, welches hier in Betracht kam, war die Verjüngung der Säule nach oben. Sie gibt dem Auge die Sicherheit, daß die Säule nicht umstürzen könne.[...] Die Linien aber sind
76
77
Leon Battista Alberti, Della pittura, Buch 2, zit. η. Peter Burke, Die Renaissance in Italien, S. 130. W. F. Hegel, Enzyklopädie (1830), Paragraph 365.
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wie im ganzen Bau nirgends, so auch in der Säule nicht mathematisch hart; vielmehr gibt eine leise Anschwellung das innere schaffende Leben derselben auf das Schönste zu erkennen« (C 4). Das Spezifische dieses architektonischen Gebildes liegt - in Burckhardts Sicht - gerade in der wie auch immer geringfügigen Abweichung von der mathematisch strengen Form. Die Ästhetik des »Cicerone« verweist so die Architektur als Kunst an einen Ort jenseits des rein geometrischen Plans - ihr Kalkül bezieht die Abweichung als integrales Moment der ästhetischen Komposition mit ein: »Vielleicht blickt ein scharfes Auge die einzelnen Seiten im Profil entlang und findet, daß keine einzige mathematisch gerade Linie an dem ganzen Bau ist« (C 7). Schon an der einleitenden Beschreibung des Tempels von Pästum läßt sich auf diese Weise eine für Burckhardts Kunstbegriff insgesamt konstitutive Antinomie beobachten: Die Eigenheit des ästhetischen Gebildes beruht für Burckhardt einerseits auf einem gleichsam geometrischen Gesetz der Proportion und des Gleichgewichts der Kräfte, andererseits eignet ihm ein dynamisch expressives Moment als Ausdruck »inneren Lebens« (C 4). Burckhardt interessiert zwar durchaus die mathematisch-gesetzmäßige Seite des architektonischen Verfahrens, 78 aber dem rein technischen Blick für die Struktur des Gebäudes widerstreitet der Nachdruck, mit dem Burckhardt einen Überschuß, einen ästhetischen Mehrwert gleichsam, einklagt, der dem Verfahren der vektorialen Kräftegleichung entgeht. Das Eigentümliche der Kunst, so Burckhardt, läßt sich in der Erhellung ihrer Technik nicht vollständig begreifen: »Nur in dürftigen Andeutungen haben wir das, was die Seele dieses wunderbaren Baues ausmacht, bezeichnen können« (C 6). Der Betonung des besonderen, der rationalen Durchdringung inkommensurablen M o ments der Kunst entspricht der elitäre Grundzug der Ästhetik des »Cicerone«, wendet sich doch deren Programm vornehmlich an jene, die »mit genußfähigem Auge begabt« die (unüberbietbare) Perfektion eines schmalen Kanons »vollkommener Werke« zu schätzen wissen (Vorrede, C xi). Die hohe Selektivität dieses Programms, die Beschränkung auf >klassische< Werke, wird gleichsam ex negativo greifbar in der entschiedenen Abwertung des Barockstils unter dem Schlagwort des >ManierismusBlütezeit< der Künste läßt sich am Leitfaden des »Cicerone« an der Entwicklung von Brunelleschi bis Palladio für die Architektur, von Ghiberti bis Michelangelo fur die Skulptur und von Massacio zu Raffael für die Malerei studieren. Burckhardts Darlegung und Profilierung dieses Zeitraums als einer Gipfelperiode der abendländischen Kunst soll hier zunächst am Beispiel der Architektur vorgeführt werden. Im Kontext des Architektur-Teils des »Cicerone« erörtert Burckhardt die Baukunst der Renaissance im Anschluß an den romanischen und den gotischen Stil in der Architektur des italienischen Mittelalters. Der genetische Grundzug der Argumentation zeigt sich nun vor allem darin, daß Burckhardt den Renaissancestil in der Architektur nicht unvermittelt und unvorbereitet einsetzen läßt, sondern ihn gleichsam als eine konsequente Fortführung bzw. eine Summe der vorangehenden, mittelalterlichen Bauformen und architektonischen Stile beschreibt. Vor allem der romanischen Bauweise kommt dabei die Rolle eines notwendigen Vorläufers und Wegbereiters zu. Die spätmittelalterlichen Formen, so scheint es Burckhardt, drängen bereits auf ihre Verfeinerung und Vollendung in der Renaissancekunst hin: »Die Renaissance hatte schon lange gleichsam vor der Tür gewartet; in den romanischen Bauten Toskanas aus dem 12. und 13. Jahrhundert zeigt sich bisweilen eine fast rein antike Detailbildung« (C 161). In der diskursiven Ökonomie genetischer Argumentation erhalten auch (scheinbar) abweichende Elemente eine funktionale Position. Was wie eine Unterbrechung der fortschreitenden Entwicklung erscheint, fügt sich doch in das suggestive Bild teleologischer Kontinuität: Dann war der aus dem Norden eingeführte gotische Stil dazwischen gekommen, scheinbar allerdings eine Störung, aber [...] eine unvergleichliche Schule in mechanischer Beziehung. Während man sozusagen unter dem Vorwand des Spitzbogens die schwierigsten Probleme bewältigen lernte, entwickelte sich [...] das eigentümlich italienische Gefühl für Räume, Linien und Verhältnisse, und dieses war die Erbschaft, welche die Renaissance übernahm. (C 161)
Das Spezifische der Renaissance in der Architektur besteht somit nach Burckhardts Deutung in einer eigentümlichen Syntheseleistung. Die Renaissancearchitektur nimmt, so die Erläuterung, Techniken der spätmittelalterlichen Baukunst - Elemente des Romanischen und Gotischen - auf, um jene Traditionen im Rekurs auf antike Formen zu modifizieren und zu erneuern. Für die mit dem 15. Jahrhundert einsetzende neue Richtung in der Architektur ist - wie für die Renaissancekultur insgesamt - die Auseinandersetung mit den antiken Modellen richtungweisend. Burckhardt betont jedoch bei aller Emphatisierung der Wiedergeburt auch die Distanz zu den antiken Vorbil-
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dem. 79 Die irreduzible Differenz des neuzeitlichen Baustils gegenüber dem der griechischen Antike äußert sich Burckhardt zufolge vor allem darin, daß die neuere Baukunst dem Paradigma der organischen Form, wie sie sich in exemplarischer Weise in der griechischen Tempelarchitektur verwirkliche, nicht entsprechen könne. Dem neueren Stil fehle der durchgängige Eindruck der inneren Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit der Komposition: »Wer aber auf dem Gebiet der Baukunst nur in dem streng Organischen die Schönheit anzuerkennen vermag, hat auf dem italienischen Festlande mit Ausnahme der Tempel von Pästum überhaupt nichts zu erwarten; er wird lauter abgeleitete und schon deshalb nur wenig organische Stile finden« (C 163). Das Organismuskonzept, auf das sich die Ästhetik des »Cicerone« beruft, meint, wie oben angedeutet wurde, insbesondere die strenge Funktionalität der Teile (des Gebäudes) in bezug auf die Wirkung der Komposition im ganzen. Die zitierten Einlassungen exponieren die grundlegende Paradoxie des Burckhardtschen Renaissancekonzepts, das die Wiederaufnahme der antiken Figur des Organismus intendiert, aber zugleich deren Unerreichbarkeit voraussetzt. Den Ausführungen des »Cicerone« geht es nun darum, die »besondere Richtung des damaligen Formgeistes« (C 161) herauszuarbeiten. Burckhardt nimmt dazu innerhalb der Renaissancebewegung selbst nochmals jene Unterscheidung von noch vorläufiger und vollkommener Verwirklichung eines ästhetischen Prinzips vor, mit der er zuvor den Stil der Frührenaissance von der romanischen Architektur des Mittelalters abgesetzt hatte. Gemäß dieser Differenzierung gliedert sich die Renaissance für Burckhardt in zwei Perioden: Die erste reicht von 1420 bis 1500 und kann als die Zeit des Suchens charakterisiert werden. Die zweite möchte das Jahr 1540 kaum erreichen; es ist die goldene Zeit der modernen Architektur, welche in den größten Aufgaben eine bestimmte Harmonie zwischen den Hauptformen und der in ihre Grenzen gewiesenen Dekoration erreicht. (C 161)
Die Renaissance in ihrer vollendeten Form stellt für Burckhardt die auf einfache Formen reduzierte und geläuterte Fassung der noch spielerisch ausschweifenden und ungeregelten Frührenaissance dar. Kennzeichen der Frührenaissance sei der »phantastische Zug, der durch diese Zeit geht« und die »oft übermäßige Verzierungslust«, die nur bisweilen eine »gesetzmäßige Schönheit« erreiche (C 161). Die Frühphase der Renaissance steht hinter der Gesetzmäßigkeit und Ordnung des späteren Stils noch zurück: »Die Profilierung hat lange den Charakter der Willkür und trifft das Wahre und Schöne mehr durch unbewußten Takt als vermöge eines Systems« (C 163). Burckhardt interpretiert somit (wie es die Logik eines genetischen Ansatzes verlangt) die 79
Vgl. C 160: »Die betreffenden Künstler selbst glaubten an eine mögliche Wiedergeburt der ganzen antiken Architektur und meinten diesem Ziele wirklich sich zu nahem; in der Tat aber bekleideten sie nur die von ihnen selbst geschaffenen Kompositionen mit antiken Detailformen«.
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Bauten und architektonischen Formen der Renaissance als Äußerungsweisen eines zugrundeliegenden einheitlichen Prinzips, der architektonischen Idee der Renaissance, die sich ihrerseits nur graduell entfaltet. Dem Verfasser des »Cicerone« geht es nicht darum, das Studium der einzelnen Objekte um ihrer selbst willen zu betreiben, sein Ziel ist es vielmehr, den eigentümlichen »Geist der Renaissancebauten« in seiner diachronen Entwicklung zu erfassen. Die Renaissance in der Architektur vollzieht sich somit für Burckhardt in einer Doppelbewegung: Kennzeichnend für die Frührenaissance sind das freie Experimentieren mit den neuen Formen und jener spielerische Überschwang, den die Hochrenaissance zurücknimmt und auf einfache, gesetzmäßige Formen reduziert. Burckhardt beschreibt die Entstehung der Renaissancearchitektur nach dem Muster eines Lernprozesses, dessen einzelne Phasen notwendige Stationen auf dem Weg zu einem bestimmten Ziel darstellen. Den Anstoß zu jener Höherentwicklung der Kunst gibt jedoch - und das verwundert nicht im Rahmen eines genetischen Ansatzes - die Rückbesinnung auf ihren Ursprung: Der erste, welcher nach emsigem Studium der Ruinen Roms mit vollem Bewußtsein dessen, was er wollte, die Bauformen des Altertums wieder ins Leben rief, war bekanntlich Filippo Brunellesco (!) von Florenz. [...] Auf einmal wird die Form einer Basilika oder Säulenkirche in einem neuen und edeln Geiste belebt; die Säule erhält wieder ihr Gebälkstück und ihre antike Bildung, die Bogen ihre verzierten Profile. (C 166)
Die rinascità in der Architektur bedeutet also zunächst die Emanzipation von dem (festen) Formenkanon des gotischen Stils zugunsten eines neuen, durch die wiederentdeckten antiken Muster bereicherten Repertoires. Das epochemachende Novum der Renaissancearchitektur besteht jedoch Burckhardt zufolge weniger in der gehaltlichen Nachahmung antiker Muster als vielmehr in einem veränderten Modus der Raumwahrnehmung, einem geschärften Bewußtsein für räumliche Verhältnisse und Dimensionen. Burckhardt erläutert den eigentümlichen »Eindruck des Erhabenen« (C 169), den das neu entdeckte Spiel mit den Proportionen erweckt, am Beispiel der Bauwerke Brunelleschis und Bramantes. Auffallend ist dabei die Rhetorik des Übergangs und des Überschreitens, wie sie sich etwa in der Beschreibung einer frühen Renaissancekirche in Pavia beobachten läßt: »Die Kuppel bleibt noch [...] die mittelalterliche, polygone, außen flachgedeckte, mit Galerien umgebene. Man sieht an der Certosa von Pavia recht deutlich, wie sie sich steigern und verklären möchte, es aber nicht über die Vervielfältigung der Galerien hinausbringt« (C 193). Die Reduktion der spielerischen Tendenz zur Komplexität auf eine »durchgängige Einfachheit, welche auf reine Totalwirkung ausgeht« (C 193), gelingt jedoch nicht in einem einzigen Zug: »Bramante [...] drang mit der großartigen Vereinfachung der Formen [...] zunächst nicht durch« (C 193). Die hier anklingende Opposition von Vorläuferschaft und Erfüllung, die in der Sicht des »Cicerone« das Verhältnis von Frührenaissance und Hochre-
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naissance charakterisiert, bildet zugleich das entscheidende Moment, das die Rhetorik der genetischen Erzählung in Gang kommen läßt. Stützt sich doch das Schema der genetischen Darlegung vor allem auf eine Figur der Steigerung und Überbietung, die das Neue und Besondere der Hochrenaissance im Vergleich zur Frührenaissance zu profilieren sucht. In der Logik der Unterscheidung von Antizipation und Erfüllung erscheint die Hochrenaissance als die eigentliche Verwirklichung und Einlösung der ästhetischen Programme der Frührenaissance; ihre eigentümliche Leistung zeige sich vor allem in einer höheren Selektivität und einem größeren Abstraktionsgewinn. Entscheidend sei das Weglassen des »vielen Details«, das »zum Eindruck des ganzen in keiner Beziehung steht« (C 182): »Alle Gliederungen des Äußeren [...] werden auf einen [...] einfachen Ausdruck zurückgeführt« (C 283). Jener Grundzug zur Vereinfachung ermögliche eine besondere Ökonomie und Funktionalität der Teile - eine Tendenz, die zugleich einen »Fortschritt ins Organische« markiere (vgl. C 283). Signum der Renaissancearchitektur ist für Burckhardt eine spezifische »Kunst der Verhältnisse« (C 284), die Formen und Funktionen der Gebäude in eigentümlicher Weise aufeinander abstimmt. In dieser durchgängigen Funktionalität der architektonischen Formen äußert sich Burckhardt zufolge ein »Rhythmus, ein unleugbarer künstlerischer Gehalt« (C 284). Allerdings liegt in dem Rekurs auf die antike Proportionenlehre, den das Burckhardtsche Kunstkonzept vollzieht, zugleich dessen grundlegende Aporie. Denn nach Burckhardts Lehre von der organischen Form der antiken Kunst ist die Kunst der rinascitä von ihrem antiken Ursprung durch eine unüberwindbare Kluft getrennt. Das Kernproblem der nachantiken neuzeitlichen Kunst (als einer sekundären, abgeleiteten) besteht nach Burckhardt in dem Verhältnis von Detailform und Gesamtkonzeption - eine Schwierigkeit, die sich der antiken Kunst als unmittelbarer Einheit von Einzelnem und Ganzem in dieser Weise nicht stelle: In Zeiten eines organischen Stils [...] erledigt sich nun die Sache von selbst; eine und dieselbe Triebkraft bringt Formen und Proportionen untrennbar vereinigt hervor. Hier dagegen handelt es sich um einen sekundären Stil, der seine Gedanken freiwillig in fremder Sprache ausdrückt. (C 284)
An die Stelle der organischen Einheit und Proportion der architektonischen Form der Antike tritt die bewußte und berechnete Komposition der Verhältnisse in der Moderne. Burckhardt bezieht seine Kriterien der Kunstkritik aus einer Theorie der Gesetzmäßigkeit und des Maßes, die die nicht mehr erreichbare spontane Vollendung antiker Kunst ersetzen sollen. Nur durch eine »Komposition nach Maßen« (C 284) könne die Renaissance trotz ihrer (unaufhebbaren) geschichtsphilosophischen Differenz zur Antike »dauernde, klassische Bedeutung« (C 284) erlangen. Es gibt jedoch, in der Perspektive der Burckhardtschen Ästhetik, noch einen anderen Weg, der spezifisch neuzeitlichen Aporie von künstlerischer
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Form und technischer Funktion, von Selbstreferenz und Fremdreferenz, zu begegnen bzw. diese aufzulösen. Diese Verfahrensweise, die zugleich das Gegenbild darstellt zu Bramantes Architektur des Maßes und des gesetzmäßigen Kalküls, verkörpert im Kontext des »Cicerone« der späte Michelangelo (vgl. C 310ff.). Das Spezifische der Bauweise Michelangelos, wie sie sich exemplarisch in der Medici-Kapelle realisiert, liegt für Burckhardt in der autonomen Behandlung des architektonischen Raums allein unter ästhetischen Gesichtspunkten: »Ganz frei gestaltend treffen wir ihn erst in der berühmten Grabkapelle der Mediceer [...] Keinem Künstler ist je freiere Hand gelassen worden; man kann kaum entscheiden,ob er die Kapelle für seine Denkmäler baute oder die Denkmäler für seine Kapelle meißelte« (C 311). Trotz des eigenwilligen Grundzugs und der Freiheit selbst gegenüber den antiken Mustern, die Burckhardt bei Michelangelo zu beobachten glaubt, beruhe doch dessen Kunst auf einem »höheren Gefühl der Verhältnisse«: Seine wahre Größe liegt hier wie überall in den Verhältnissen, die er nirgends, auch nicht von den antiken Bauten kopiert, sondern aus eigener Machtfülle erschafft, wie sie der Gegenstand gestattet. Sein erster Gedanke ist nie die Einzelbildung, auch nicht der konstruktive Organismus, sondern das große Gegeneinanderwirken von Lichtund Schattenmassen. (C 311)
Während Bramante und seine Schule ihr Formbewußtsein in der Nachahmung der antiken Vorbilder entwickelten, sei es Michelangelo eigen, daß er (als genuin moderner Künstler) Maß und Proportion seiner Gebäude aus sich selbst heraus entwerfe. Burckhardt umschreibt dieses spontane Vermögen Michelangelos mit der (der Geniediskussion entlehnten) paradoxen Formel einer »gesetzmäßigen Willkür«: »ein inneres Gesetz, das der Meister sich selber schafft, lebt in den Verhältnissen und in der [...] Wirkung der an sich ganz willkürlichen Einzelformen. [...] Innerhalb der Willkür herrscht eine Entschiedenheit, welche fast Notwendigkeit scheint« (C 313-314). Der antinomische Gegensatz von Willkür und Notwendigkeit wird hier entparadoxiert, indem sich im Bereich des Willkürlichen eine weitere Unterscheidung auftut zwischen einer negativen und einer positiven Variante dieses Konzepts: Michelangelos Willkür bedeutet immanente, wenngleich idiosynkratische Konsequenz, nicht bloßen Dezisionismus. Gerade aufgrund dieses eigengesetzlichen Formwillens gelinge der Michelangeloschen Architektur die Steigerung der räumlichen Dimensionen und die technische Bewältigung gewaltiger Ausmaße: Michelangelo »ist vorzugsweise der im großen rechnende Komponist« (C 312). Burckhardt postuliert somit im »Cicerone« in ähnlicher Weise wie in der »Kultur der Renaissance« ein immanentes genetisches Entwicklungsprinzip, das den Prozeß der Geschichte - hier: der Architekturgeschichte - vorantreibt und fundiert. Der Gedanke der Höherentwicklung und Progression steht dabei - wiederum in Analogie zur »Kultur der Renaissance« - im Zeichen der Individualisierung und der entstehenden Moderne. Den Höhepunkt dieser Erneue-
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rungs- und Emanzipationsbewegung, auf den hin die Rhetorik des Aufschwungs und die Mittel der erzählerischen Inszenierung orientiert sind, bildet Michelangelo: Er ist der moderne Künstler par excellence, der - vergleichbar dem uomo universale des Renaissancebuchs - in seinem Bereich die Grenzen des bisher Möglichen und Denkbaren überschreitet. Im Kontext des »Cicerone« erhält jedoch das aus der »Kultur der Renaissance« vertraute Schema des genetischen Zu-sich-selbst-Kommens eine entscheidende Modifikation, die mit Burckhardts klassizistischem Kunstbegriff zusammenhängt. Burckhardts Sympathien gelten nämlich, was die Kunstgeschichte betrifft, keineswegs vorbehaltlos der sich in der Renaissance ankündenden ästhetischen Moderne. Sein Maßstab der Kunstgeschichte ist vielmehr unverkennbar dem Kanon der klassischen griechischen Antike entnommen. Von dieser neoklassizistischen Position aus argumentierend, kann Burckhardt den individualisierten Stil Michelangelos nicht als unüberbietbaren Höhepunkt der Architekturgeschichte stehen lassen: Es bedarf einer weiteren Steigerung, einer genaueren Nachahmung des antiken Baustils unter Verzicht auf Individualität. Diese Funktion erhält im Kontext des »Cicerone« Palladio: Kein Architekt des 16. Jahrhunderts hat [...] wie er [...] die antiken Denkmäler so ihrem tiefsten Wesen nach ergründet und dabei doch so frei produziert. [...] Michelangelo [...] steht bei vielleicht höherer Anlage und bei großartigeren Aufgaben [...] doch unter der Botmäßigkeit seiner eigenen Grillen; Palladio ist durch und durch gesetzlich. (C 335)
Der Vorrang Palladios vor Michelangelo resultiert nach Burckhardts Darlegung aus dessen entschiedenem Rekurs auf die antike Bauform, aus der engen Anlehnung an das römisch-griechische Vorbild: »Palladio [...] wollte in vollstem Ernst die antike Baukunst wieder ins Leben rufen, während Michelangelo nichts weniger im Auge hatte als eben dies« (C 335).80 Nun ist dem hier durch Palladio repräsentierten Konzept einer Wiederaufnahme der Antike eine eigentümliche Problematik inhärent, die Burckhardt an anderer Stelle seiner kunstgeschichtlichen Erörterung selbst reflektiert. Kann doch die Leitidee der rinascità als problemlos und realisierbar nur voraussetzen, wer Geschichte als mit sich identisch bleibende Konstanz denkt und somit die Paradoxie des Renaissanceprojekts, die Rückkehr zum antiken Ursprung bei gleichzeitig angenommener geschichtsphilosophischer Differenz, unterschlägt. Burckhardt nimmt an der zitierten Stelle die renaissancetypische Figur des Antikenbezugs auf, ohne die darin enthaltene Paradoxie zu entfalten. Für ihn hat die »Seele der modern-italienischen Baukunst« ihr Telos in den »wahren und ewigen Gesetzen der Architektur«, wie sie in den Bauten der griechisch-römischen Antike schon vorgegeben sind (C 345). Die zentrale 80
Die Palladio-Begeisterung ist bei Burckhardt zugleich Moment einer bewußten Goethe-Nachfolge. Zu Goethes Palladiorezeption vgl. den Aufsatz Baukunst (1795), Hamburger Ausg Bd. 12, S. 35-38, und Italienische Reise, Hamburger Ausg. Bd. 11, S. 52-53, S. 56-57.
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Bedeutung, die der Antike als Ursprungsmythos in der Argumentation des »Cicerone« zukommt, läßt vermuten, daß Burckhardt sein Konzept von Kunstgeschichte über die Vorstellung einer gleichsam naturgegebenen Identität zu definieren versucht. Nun ist leicht einzusehen, daß eine völlige Festlegung auf Identität ein genetisches Geschichtskonzept aufzulösen bzw. in ein statisches Perfektionsmodell aufzuheben droht. Die genetische Figur beruht immer auf einem latenten Moment der Differenz, das die Bewegung einer zukunftgerichteten Progression erst motiviert. Ohne die primäre Funktion der Differenz bliebe der genetischen Geschichte nur die Tautologie des mit sich selbst identischen Ursprungs. Auch die Argumentation des »Cicerone« entgeht dieser Tautologie nur, indem sie letztlich doch auf eine différentielle Figur zurückgreift: Der Prozeß der Kunstgeschichte bezieht seine Dynamik daraus, daß der Standard der einmal erreichten Perfektion wieder preisgegeben wird mit der Konsequenz des Niedergangs und des Verfalls. 81 Unter diesem Vorzeichen stehen bei Burckhardt die Perioden des Mittelalters und des Barock. Die Logik des Verfalls verweist auf ein zyklisches Geschichtsmodell, in dem Zeiten der Perfektion und solche der Nicht-Identität der Kunst mit sich selbst im Wechsel aufeinander folgen. Die über das Verfallskonzept eingeführte Differenz bewirkt zugleich, daß wieder Entwicklung und genetische Bewegung in Richtung eines noch zu erreichenden Ziels möglich werden. Burckhardts Konzept der Kunstgeschichte stellt sich also als eine eigentümliche Synthese dar aus einem Prinzip der zyklischen Wiederkehr und einem genetischen Entwicklungsmodell. Im Rahmen dieses Konzepts schwankt Burckhardt (wie sich an der Konstellation Michelangelo-Palladio zeigt) zwischen einer entschiedenen Befürwortung der Moderne (i.e. der Erfahrung von Differenz) und der Option für den Modus zeitenthobener Identität in Form des klassischen Ideals. Mit jener Faszination, wie sie von einem normativen Identitätskonzept ausgeht, hängt auch Burckhardts Neigung zu einem antimodernen Erklärungsduktus und einer Enthistorisierung der Kunstgeschichte zusammen. Burckhardts uneingeschränktes Plädoyer für die Anschauung als Leitkonzept der Kunstgeschichte tendiert letztlich zur Aufhebung des Geschichtsverlaufs im statischen, nur der aufmerksamen Kontemplation zugänglichen Bild. 82 Die Prominenz dieses Motivs einer zeitenthobenen Präsenz darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die genetischen Momente der Entwicklung und der allmählichen Aufwärtsbewegung in Burckhardts kunstgeschichtlicher Darstellung gleichwohl eine zentrale Rolle spielen. Dies läßt sich auch in den Abschnitten über die Skulptur und die Malerei in der italienischen Renaissance deutlich erkennen. 81
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Zum Verfallskonzept vgl. Stephan Kummer, Kunstbeschreibungen Jacob Burckhardts im »Cicerone« und in der »Baukunst der Renaissance in Italien«, in: Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hg. Gottfried B o e h m und Helmut Pfotenhauer, München 1995, S. 357-367, hier S. 365. Vgl. Heinz Schlaffer, Jacob Burckhardt oder das Asyl der Kulturgeschichte, S. 7 5 76.
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In genauer Parallele zu der oben am Beispiel der Architektur beobachteten Erklärungsfigur zeichnet der »Cicerone« die Renaissance der Skulptur in Form einer Doppelbewegung: Das 15. Jahrhundert vollziehe - in Abgrenzung von dem bis dahin vorherrschenden gotischen Stil - eine Wende zu einer realistischerem Darstellungsweise und zu einem überschwenglichen Reichtum des Details. Zu beachten ist dabei, daß der Verfasser diesen Formwandel als Konsequenz einer inneren Motivation, eines eigentümlichen ästhetischen Triebs auffaßt. Wie für die Kultur insgesamt ist auch für die Konzeption der Kunst der Renaissance die Figur der Entelechie bestimmend: »Mit dem 15. Jahrhundert erwacht in der Skulptur derselbe Trieb wie in der Malerei, die äußere Erscheinung der Dinge allseitig darzustellen, der Realismus« (C 553). Die hier in der Metapher des Erwachens angedeutete Innovation, die neue Aufmerksamkeit für das »Einzelne, Viele, Wirkliche«, hat indessen seine deutliche Grenze in dem, was es noch nicht ist und was zu entfalten der zweiten Phase der Renaissancebewegung vorbehalten ist: ein »Bewußtsein der höhern, plastischen Gesetze« (C 553). Als bedeutendsten Exponenten (und Initiator) der italienischen Frührenaissance in der Skulptur behandelt der »Cicerone« Lorenzo Ghiberti. Das Besondere der Ghibertischen Skulptur sieht der Verfasser darin, daß sich in ihrer Werkgeschichte neben der für die Frührenaissance typischen Tendenz zu einem gewissen >Realismus< bereits eine Andeutung bzw. Vorwegnahme der späteren idealisierenden Tendenz der Hochrenaissance beobachten läßt: »Merkwürdig durchdringt sich in ihm der Geist des 14. und des 15. Jahrhunderts mit einem schon darüber hinausgehenden Zug freiester Schönheit, wie er im 16. Jahrhundert zur Blüte kam. Die beiden Idealismen, Giotto und Raffael, reichen sich über den Realismus hinweg die Hand, und dabei erscheint Ghiberti durchgängig voll des höchsten Lebensgefühls« (C 555). Daß in Giotto und Raffael hier prototypische Vertreter der Malerei (und nicht der Skulptur) genannt werden, verweist auf die enge Verschränkung und Parallele der bildenden Künste, die das hier entworfene Renaissancebild prägt. Der damit postulierte Gedanke des Zusammenhangs und der wechselseitigen Vergleichbarkeit der Künste untereinander hat ein typisches Vorbild in der Literatur der Zeit: den paragone, den Wettstreit und Vergleich der Künste. 81 Ghiberti als Künstler der Synthese stiftet Kontinuität nicht nur zwischen Malerei und Skulptur, sondern auch zwischen Giotto als dem avanciertesten Künstler des ausgehenden Mittelalters und Raffael als dem Repräsentanten des neuen Stils. 84 Der Verfasser des »Cicerone« begrüßt in Ghiberti emphatisch die An81
84
Vgl. Michael Jäger, Die Theorie des Schönen in der italienischen Renaissance, Köln 1990, S. 17. Unter dem Doppelaspekt von Innovation und Kontinuität interpretiert Burckhardt auch Ghibertis berühmte Bronzereliefs auf der nördlichen Tür des Baptisteriums in Florenz. Die Reliefarbeiten seien zum einen dem älteren Darstellungsstil des Andrea Pisano nachempfunden, zugleich aber werde jener »hier an Lebendigkeit der Form und des Ausdrucks überholt« (C 555).
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kunft einer bisher unbekannten Darstellungsweise und den Wegbereiter eines »neuen Idealismus«;85 der Grundtenor der Emanzipation, der Gestus des Aufbruchs und Neubeginns inszenieren eben jene Vorläuferschaft Ghibertis im Verhältnis zu den späteren Werken eines Jacopo Sansovino und Michelangelo. »Was aber später von Schönheit und echtem Schwung der Form und des Gedankens zum Vorschein gekommen ist, das deutet auf Ghiberti zurück« (C 557). Bevor jedoch der sich bei Ghiberti abzeichnende Zug zur Idealisierung im Zeichen der Proportion und des Maßes zur Entfaltung kommt, hat die italienische Skulptur das Intermezzo eines entschiedenen >Naturalismus< zu bestehen (C 563). Jenes neue Prinzip einer >realistischen< Darstellung äußert sich Burckhardt zufolge am prägnantesten in der Kunst Donatellos.86 Das Grundprinzip der Technik Donatellos besteht für Burckhardt in der pointierten, ins Extrem getriebenen Darstellung eines einzelnen, charakteristischen Zugs. Donatellos ästhetischer Extremismus ist jedoch >naturalistisch< nur insofern, als er quer steht zu einer Idealisierung, die alles Disharmonische und Inkommensurable der Gestalt zugunsten eines normativen Schönheitsbegriffs unterschlägt. Donatellos Ansatz gilt dem Eigentümlichen und Charakteristischen: Was da ist, schien ihm plastisch darstellbar und vieles schien ihm darstellungswürdig, bloß weil es eben ist, weil es Charakter hat. Diesem in seiner herbsten Schärfe, bisweilen aber auch, wo es der Gegenstand zuließ, in seiner großartigen Kraft rücksichtslos zum Leben zu verhelfen, war für ihn die höchste Aufgabe. (C 564)
Burckhardt begreift nun den weitgehenden Harmonisierungs- und Idealisierungsverzicht Donatellos (wie die einseitige Zuspitzung und Radikalisierung eines einzelnen Motivs sie mit sich bringe) als eine Gefahr, eine »kapriziöse Herbheit«, die sich »zum Teil auf kosten der Grundgesetze aller Plastik« durchsetze (C 567). Diese Gefahr betreffe vor allem die Reihe der Nachahmer und Adepten: »Donatello übte eine ungeheure und zum Teil gefährliche Wirkung auf die ganze italienische Skulptur aus [...]. Ohne den starken innern Zug nach dem Schönen, welcher die Kunst immer von neuem über den bloßen Realismus und auch über das oberflächliche Antikisieren emporhob, [...] wäre Donatellos Prinzip eine tödliche Mode geworden« (C 568). Das hier erkennbare Konzept kunstgeschichtlicher Entwicklung zeigt eine gewisse Zweiseitigkeit darin, daß jener Vorgang einerseits der Einwirkung eines negativen, äußeren Einflusses ausgeliefert zu sein scheint, andererseits jedoch als ein Prozeß gedacht wird, dem die Richtung auf ein bestimmtes Ziel hin (»innerer 85
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Vgl. C 556: »Hier spricht das neue Jahrhundert·!·..] Ghiberti [...] befreit das Relief [...] von der bloß andeutenden, durch Weniges das Ganze repräsentierenden Darstellungsweise [...]. [Bei ihm] taucht die neugeborene Schönheit der Einzelform mit einem ganz überwältigenden Reiz empor«. Vgl. C 564: »Es kommt in der Kunstgeschichte häufig vor, daß eine neue Richtung ihre schärfsten Seiten, durch welche sie das Frühere am unerbittlichsten verneint, in einem Künstler konzentriert«.
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Zug nach dem Schönen«) inhärent ist. Jene zuletzt genannte Vorstellung eines eigendynamischen Entwicklungsmodus zieht Burckhardt heran, um die schließliche Abkehr der italienischen Renaissanceskulptur vom naturalistis c h e n Ansatz Donatellos zu erklären und zu motivieren. Die Überwindung des Donatelloschen Prinzips bedeutet zugleich einen Schritt in Richtung der angemessenen und vollkommenen Verwirklichung der Renaissanceidee: »Stellenweise bricht sich immer der ideale Zug Bahn, welchen Ghiberti aus der germanischen Zeit herübergerettet und nach Maßgabe seines Jahrhunderts geläutert hatte« (C 569-570). Wie sich hier beobachten läßt, löst Burckhardt das Problem der Kontinuität der Kunstgeschichte mithilfe einer Figur des Kulturtransfers, die den Übergang eines einmal erreichten technischen Standards in eine neue Epoche bzw. Stilrichtung ermöglicht. So glaubt Burckhardt in der durch Ghiberti eingeleiteten Skulptur der Frührenaissance Elemente des mittelalterlichen gotischen Stils wiederzuerkennen. Dieses Prinzip der Übertragung, das die Synthese der künstlerischen Errungenschaften verschiedener Epochen in einem neuen Stil ermöglicht, ist bestimmend für Burckhardts Konzept einer stufenweisen Höherentwicklung neuzeitlicher Kunst vom ausgehenden Mittelalter bis zur Hochrenaissance. Nach einer kurzen Übersicht über die Ausprägungen des realistischen Stils< in der Nachfolge Donatellos erörtert Burckhardt die allgemeinen Bedingungen und die Problematik der neuzeitlichen Skulptur. Grundlegend ist dabei der aus der vorangehenden Darlegung bereits bekannte Gedanke einer geschichtsphilosophischen Differenz, die die neuere Skulptur im Zeichen der notwendigen Unvollkommenheit und des Identitätsverlusts erscheinen läßt. Die neuzeitliche Skulptur, so die Argumentation, bleibe gegenüber der antiken, griechischen notwendig defizient; sie könne die uneingeschränkte Perfektion der Kunst eines Phidias und Praxitiles nicht erreichen, da ihr der Bezug zum Mythos als Apriori einer durchgängig motivierten und überzeugenden Modellierung der menschlichen Gestalt fehle. Zwar befreit sich in der Renaissance eine profane, allegorische Skulptur von den »unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Skulptur umgeben« (C 602), jedoch fehlt auch dieser »die innere Notwendigkeit« der griechischen Plastik: »Sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten jener Zeit, nicht eine notwendige Äußerung eines allverbreiteten mythologischen Bewußtseins« (C 602). Die Renaissanceskulptur steht somit nach dieser Deutung hinter der substanziellen Einheit und Identität der griechischen Plastik zurück, jedoch markiert sie auf der anderen Seite einen Fortschritt gegenüber der mittelalterlichen Skulptur. Die Skulptur sei in der Renaissance eine »freiere Kunst«, als sie es im Mittelalter gewesen sei (C 602). Der »Cicerone« verweist hier auf die Autonomisierung der neuzeitlichen Skulptur, ihre Entwicklung zu einem selbständigen Element der Kunst und ihre Ablösung von der Unterordnung unter die Architektur. Aufgrund dieser emanzipatorischen Tendenz scheint Burckhardt die Renaissance dann doch für einen der Antike vergleichbaren Aufschwung der Kunst disponiert zu sein. Die Fortführung und
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Höherentwicklung der Skulptur im 16. Jahrhundert (der Übergang von der Frührenaissance zur Hochrenaissance) vollzieht sich für Burckhardt, ähnlich wie in der Architektur, auf dem Wege einer Vereinfachung und Idealisierung. 87 In genauer Entsprechung zur Architektur ist auch hier die Antike der Katalysator für die neuerliche Wende und Aufwärtsbewegung der Kunst: »Hier trat das Altertum noch einmal begeisternd und befreiend ein. Ganz anders als zur Zeit Donatellos [...] erforschten jetzt einige Meister das Gesetzmäßige der alten Plastik« (C 603). Die genaue Beobachtung und Erforschung der Gesetze der Skulptur führt vor allem zur (Wieder-)Entdeckung des Kontraposts (durch Andrea Sansovino), jener »bewußten Handhabung des Gegensatzes der einzelnen Teile der Gestalt« (C 604), die den Eindruck der ausgeglichenen, in sich ruhenden Bewegung erzeugt. Ein vollkommenes »Bewußtsein der höheren plastischen Gesetze« (C 617-618) wird allerdings nach Burckhardt für die Skulptur erst durch die Arbeiten Michelangelos gewonnen, der die Befangenheit der Skulptur in dem Versuch der Nachahmung des Wirklichen schließlich durchbreche. Der »Cicerone« feiert diesen Vorstoß als dramatischen Wendepunkt in der Geschichte der abendländischen Plastik: »Wir gelangen nun zu demjenigen großen Genius, in dessen Hand Tod und Leben der Skulptur gegeben war, zu Michelangelo Buanorotti. [...] Seine Werke zeigen ein Ringen wie die keines andern nach immer größerer schöpferischer Freiheit« (C 628). Das Prinzip Michelangeloscher Kunst liegt für Burckhardt ganz in der Selbsttätigkeit des schöpferischen ingeniums, die, von allen externen Motiven unabhängig, nur einem inneren Antrieb folge (vgl. C 630). In Michelangelo als Beispiel des aus sich heraus tätigen Künstlers sieht Burckhardt seine These von der Modernität des Renaissancemenschen bestätigt. Die Michelangelosche Skulptur bedeutet für Burckhardt die gelungene Synthese aus äußerster Individualisierung des künstlerischen Ausdrucks und immanenter Gesetzlichkeit der Figur. Das konsequente Sich-Einlassen auf die inneren Gesetze der Plastik führt gleichsam von selbst zur Erforschung der extremen und äußersten Möglichkeiten dieser Kunst: »Die ungeheure Gestaltungskraft, welche in Michelangelo waltete, gibt selbst seinen gesuchtesten und unwahrsten Schöpfungen einen eigenen Wert. [...] er gibt [...] große plastische Kontraste, gewaltige Bewegungen als Motive. [...] Er sucht stets neue Möglichkeiten zu erschöpfen und kann deshalb der moderne Künstler im vorzugsweisen Sinne heißen« (C 631, 630). Die Subjektivierung der Kunst, wie sie sich bei Michelangelo abzeichnet, ist für Burckhardt ex negativo greifbar in der Unabgeschlossenheit und Fragmentarität einiger seiner Werke. Die Unvollendetheit des Werks, die zunächst einen Mangel signalisiert, wird positiv gewendet in
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Vgl. C 603: »Der Geist des 15. Jahrhunderts in der Skulptur war vor allem auf das Wirkliche und Lebendige gerichtet gewesen. [...] Dieses Wirkliche und Lebendige sollte nun in ein Hohes und Schönes verklärt werden«
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der Vorstellung der Unabschließbarkeit als Signum neuzeitlicher Kunst. 88 (C 638). In Michelangelo finden nach Burckhardt die renaissancetypischen Tendenzen zur Subjektivierung und Individualisierung ihre prägnanteste und entschiedenste Realisierung. Die geistesgeschichtlichen Strömungen der Renaissancebewegung scheinen hier in einem Punkt zu konvergieren: »In seinen [Michelangelos] Werken und ihrem Erfolg liegen wesentliche Aufschlüsse über das Wesen des modernen Geistes ausgesprochen. Die Signatur der letzten drei Jahrhunderte, die Subjektivität, tritt hier in Gestalt eines absolut schrankenlosen Schaffens auf« (C 639). Michelangelo bezeichnet somit nach der Darlegung des »Cicerone« den Abschluß und Höhepunkt einer Entwicklungslinie in der neuzeitlichen Skulptur, die bei Ghiberti einsetze und sich erst durch die Überwindung eines realistischen Kunstbegriffs (im Zeichen des Mimesis-Konzepts) vollständig entfalten könne. Burckhardt charakterisiert dabei Michelangelo im Rekurs auf die genieästhetischen Topoi des »freien, rein künstlerischen Gedankens« (C 632) und der »die Welt postulierenden und schaffenden Kunst« (C 639). 89 Michelangelos Formprinzip führt so zu einer Steigerung und Überhöhung der menschlichen Gestalt, die Burckhardts Vorstellung von der gesteigerten Existenz des Renaissancemenschen, wie sie die »Kultur der Renaissance« exponiert, genau entspricht. In Michelangelos Kunst hat - nach der Deutung des »Cicerone« - die Skulptur in der Überwindung des bloßen >Naturalismus< ihren Höhepunkt und ihr Telos erreicht. Burckhardt folgt somit auch in der Rekonstruktion der Geschichte der Renaissanceskulptur einem genetischen Konzept der stufenweisen Entfaltung und Höherentwicklung eines geschichtsimmanenten Prinzips. Doch der unüberbietbare Höhepunkt der Entwicklung mündet - nach der Logik dieser Erklärung - unvermeidlich in den Verfall: Von Michelangelo führt der Weg der italienischen Skulptur geradewegs in den Manierismus. Die Geschichte der Renaissancemalerei, wie sie der »Cicerone« erzählt, beginnt in der Vorrenaissance mit Giotto und seiner Schule als entscheidendem Vorläufer und Wegbereiter der Renaissance des Quattrocento und Cinquecento. Die Renaissancemalerei entfaltet sich im Rahmen dieser Konstruktion nach einem triadischen Modell, das Burckhardt einer seiner wichtigsten
88
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Vgl. C 638: »Ungeduldig möchte er das (gequält großartige) Lebensmotiv, das für ihn fertig im Marmorblocke steckt, daraus befreien; aber irgend ein Umstand kommt dazwischen und die Arbeit bleibt liegen«. Burckhardt modifiziert den Gedanken des freien, schöpferischen ingeniums allerdings insofern, als er betont, daß Michelangelo nicht völlig ungesetzlich verfahre. Dessen Technik ergibt sich vielmehr folgerichtig aus der Radikalisierung der anatomischen Gesetze des menschlichen Körpers und der Idee des Kontraposts: »Das plastische Prinzip, das ihn leitete, ist der bis auf das äußerste durchgeführte Gegensatz der sich entsprechenden Körperteile, auf Kosten der Ruhe und selbst der Wahrscheinlichkeit« (C 637).
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Quellen, der Kunstgeschichte Giorgio Vasaris entnimmt.90 In der Tradition Vasaris rechnet Burckhardt die Giotto-Schule noch zur maniera tedesca, zum germanischen bzw. gotischen Stil, doch hat jene durch die neue Funktion und Bedeutung des Freskos »vor der Malerei des Nordens schon einen beträchtlichen äußern Vorteil voraus« (C 708), der ihre spezifische Vorläuferrolle für den Aufschwung der Malerei in der Renaissance ermöglicht und begründet. Die eigentümliche Konjunktur des Freskos in der Renaissance scheint ohne die Vorarbeit Giottos nicht denkbar: »Das Vorurteil zugunsten monumentaler Bilderkreise im Fresko, welches er und die Seinigen so sehr verstärkten, bildet für alle Folgezeit den festen Boden, ohne welchen auch Raffael und Michelangelo nicht die Aufgaben angetroffen hätten, in welchen sie sich am größten erwiesen« (C 709). Trotz der besonderen Hervorhebung der Vorläuferschaft Giottos markiert Burckhardt jedoch auch die Differenz, die jenen noch von der eigentlichen Renaissancebewegung trennt. Die Einführung des Giottoschen Formprinzips in die Malerei bedeutet nämlich für Burckhardt noch keine Individualisierung der Kunst; vielmehr lassen sich in den Werken Giottos und seiner Schüler die Merkmale eines Gruppenstils wahrnehmen (vgl. C 716). Giottos Darstellungsweise zeige weder die >naturalistische< Tendenz der Frührenaissance noch die idealisierende Technik der Hochrenaissance; ihr Formenrepertoire »befolgt eher eine gewisse konventionelle Skala« künstlerischer Möglichkeiten.91 Die Distanz zur Renaissance äußert sich Burckhardt zufolge vor allem darin, daß die menschliche Gestalt bei Giotto nicht um ihrer selbst willen, sondern lediglich als Moment des heilsgeschichtlichen Geschehens dargestellt werde. Die Ausarbeitung der Figuren folge einem »durchgehenden kenntlichen Typus« (C 718), während sich allerdings in Gebärde und Gewändern eine Tendenz zur Individualisierung und Dynamisierung der Darstellung beobachten lasse. Das Gewand als Indikator der Bewegung wird dabei zum spezifischen Ausdrucksmittel Giottoscher Kunst: »Der Sinn für Schönheit, für Melodie, könnte man sagen, konzentriert sich hauptsächlich in der Gewandung [...]. Sie ist nicht nur der deutliche und notwendige Ausdruck der Haltung und Bewegung, sondern sie hat noch ihre besondere, oft unübertreffliche Linienschönheit, die den Ausdruck des Würdigen und Heiligen wesentlich erhöht« (C 718). In der hier anklingenden Vorstellung der Malerei als Melodie zitiert Burckhardt eine Leitidee der Renaissanceästhetik, nämlich den Gedanken einer Kongruenz der Künste im Zeichen eines übergreifenden Harmoniekonzepts, für das die Musiktheorie die geeignete theoretische Fun-
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Giorgio Vasari, Vite de' più eccellenti architetti, pittori e scultori italiani da Cimabue insino a' tempi nostri, 1550. Vgl C 717: »Giottos großes Verdienst lag nicht in einem Streben nach idealer Schönheit [...] oder nach Durchführung bis ins Wirkliche, bis in die Täuschung [...] Das Einzelne ist nur gerade so weit durchgebildet, als zum Ausdruck des Ganzen notwendig ist«.
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dierung lieferte. 92 Die Ordnung der malerischen Komposition, der Skulptur wie der Architektur entspreche, so nahm man an, einem musikalisch ausdrückbaren Zahlenverhältnis. Burckhardt beschreibt die Kunst Giottos also in den Kategorien der Renaissanceästhetik, die jener nach seiner Auffassung antizipiert. Die Technik des Giottoschen Freskos nimmt außer in der Figurenbehandlung die Renaissancemalerei noch in einer anderen Hinsicht vorweg. Bei Giotto deute sich nämlich, so Burckhardt, in der Behandlung des Raumes bereits jene Wiederentdeckung der Linearperspektive an, die die spezifische Differenz der neuzeitlichen Raumdarstellung gegenüber der flächenhaften, zweidimensionalen des Mittelalters ausmache. Diese Neuerung künde sich insofern bei Giotto an, als dessen Gemälde zwar noch nicht die voll entwikkelte räumliche Tiefe der dritten Dimension suggerierten, jedoch in der Modellierung und Komposition der Figuren bereits den Eindruck der Plastizität und Räumlichkeit hervorriefen. Giottos Raumkonzept nehme insofern eine Zwischenstellung ein zwischen der flächenhaften Raumbehandlung des byzantinischen Stils und der perspektivischen der Renaissance.9-1 Der »Cicerone« beschreibt mithin die Kunst Giottos vornehmlich unter dem Gesichtspunkt eines »Noch nicht«, d.h. aus der Perspektive des erst noch zu entfaltenden technischen Standards der Renaissancekunst. Dabei rückt vor allem das in den Blick, was dem Giottoschen Fresko noch fehlt: Ebensowenig wie die menschliche Gestalt emanzipiert sich der Raum von dem Ensemble der malerischen Komposition; beide existieren nur als integrales Moment des dargestellten heilsgeschichtlichen Geschehens. Vor der Folie des gotischen Stils in der Malerei des Trecento hebt Burckhardt in der Kunst des beginnenden Quattrocento einen plötzlichen, von den mittelalterlichen Traditionen weitgehend unabhängigen Neueinsatz hervor. Der »Cicerone« beschreibt das Aufkommen der Renaissance in der Malerei vorrangig als einen Säkularisierungsschub, der zwar keine völlige Autonomisierung der Kunst bedeute, sich aber in einer freieren Behandlung der noch weitgehend religiös bestimmten Themen und Motive äußere: »Der Künstler vertieft sich in die Erforschung und Darstellung des äußern Scheines der Dinge und gewinnt der menschlichen Gestalt sowohl als der räumlichen Umgebung allmählich alle ihre Erscheinungsweisen ab« (C 750). Durch das gesteigerte Interesse an der phänomenalen Welt komme, so die Erläuterung, zugleich ein Prozeß der Individualisierung des künstlerischen Ausdrucks in 92
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Vgl. Michael Jäger, Die Theorie des Schönen in der italienischen Renaissance, Köln 1990, S. 40-47. Vgl. C 718-719: »Der Raum ist durchgängig ideal gedacht, und nicht etwa unperspektivisch gegeben[...]«. Jedoch unterliegt die Dimensionierung und perspektivische Vertiefung des Bildraums hier noch einer entscheidenden Einschränkung: »Der Raum ist nämlich bei Giotto dazu vorhanden, um möglichst mit reichem Leben ausgefüllt zu werden, nicht um selber malerisch mitzuwirken; er gilt durchaus nur als Schauplatz« (C 719). Vgl. E. Panofsky, Die Renaissancen in der europäischen Kunst, Frankfurt 1979, S. 142.
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Gang. 94 Doch das Pathos der Individualität, mit dem Burckhardt seine Parteinahme für das neue ästhetische Prinzip bekundet, täuscht darüber hinweg, daß auch der Renaissancestil in der Malerei mit den Konventionen mittelalterlicher Kunst nur bricht, um eine neue Konvention einzuführen. Auch die Renaissancekunst eröffnet nicht den durch keine technische Formalisierung verstellten Blick auf eine gleichsam >natürliche< Realität. 95 Burckhardt deutet die Renaissancebewegung als einen spontanen, immanent gesteuerten Vorgang, der nur der äußeren Form nach wie eine Nachahmung der Antike erscheint: »Es konnte gar nicht im Geist einer mit so unermeßlichen Kräften vorwärtsstrebenden Kunst liegen, sich irgend ein Ideal von außen anzueignen; sie mußte von selbst auf das Schöne kommen, das ihr eigen werden sollte« (C 752-753). Die Kunst kann, mit anderen Worten, nach dieser Anschauung ihr Ziel nur verfehlen, sofern sie durch externe Faktoren und heterogene (z.B. kirchliche) Zwecksetzungen eingeschränkt wird. Das Modell der Renaissancekunst, das Burckhardt hier entwirft, entspricht im Kern einer naturalen Teleologie: Burckhardt appelliert an ein Konzept von »Natur«, das sowohl die motivierende Kraft als auch die Zielrichtung der Entwicklung der Renaissancekultur angibt. 96 Insgesamt rekonstruiert Burckhardt die Renaissance in der Malerei nach dem schon aus dem Architektur- und Skulpturteil bekannten Schema einer Doppelbewegung: Der ganz auf Vielheit und naturalistische Ähnlichkeit setzenden Frührenaissance folge im 16. Jahrhundert der vereinfachende, systematisierende Gestus der Hochrenaissance. Auch in der Darstellung jenes zweiten Schubs innerhalb der kulturellen Erneuerungsbewegung der Renaissance beruft sich Burckhardt auf ein immanentes Entwicklungsprinzip. Der Aufschwung der Künste ist nicht extern motiviert, sondern folgt der Eigenlogik eines genetischen Prozesses: »Nicht auf Anregung irgendeines äußern Vorbildes, z.B. nicht auf genauere Nachahmung des Altertums hin, sondern aus eigenen Kräften erstieg die Kunst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die höchste Stufe, die zu erreichen ihr beschieden war« (C 812). Für die hier zitierte genetische Darstellung der Kunstentwicklung ist eine Rhetorik des Aufstiegs und der schrittweisen Progression konstitutiv. Die für den Sprachgestus des Textes kennzeichnende Metaphorik von Höhe und Tiefe bildet dabei gewissermaßen das räumliche Bezugsystem, innerhalb dessen sich die genetische Bewegung als Aufstieg und Progression entfaltet. Burckhardt beschreibt - im Rekurs auf das rhetorische Verfahren der Personifikation - die Emergenz 94
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Vgl. C 750: »An die Stelle der allgemeinen Gesichtstypen treten Individualitäten; das bisherige System des Ausdrucks, der Gebärden und Gewandungen wird durch eine unendlich reiche Lebenswahrheit ersetzt, die für jeden einzelnen Fall eine besondere Sprache redet oder zu reden sucht«. Vgl. S. Y. Edgerton, The Renaissance Rediscovery of Linear Perspective, New York 1975. >Natürlichkeit< bezeichnet zugleich den Inbegriff der Kriterien gelungener malerischer Komposition (vgl. C 754-755).
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des Renaissancekonzepts als einen spontanen, sich selbst stimulierenden Vorgang, der sich im biblischen Schema von Offenbarung und Erfüllung erfassen läßt: »Mitten aus dem Studium des Lebens [...] erhebt sich neugeboren die vollendete Schönheit. Nicht mehr als bloße Andeutung und Absicht, sondern als Erfüllung tritt sie uns entgegen« (C 812). In Rhythmus und Metaphorik adaptiert die kunstgeschichtliche Darlegung den Gestus der biblischen Erzählung, die Motive der Fülle der Zeit und der discordia concors der Schöpf u n g klingen an: »Da und dort taucht es auf, unerwartet, strahlenweise [...] als Gabe des Himmels. Die Zeit war gekommen. Aus den tausend als darstellbar erwiesenen Elementen [...] sammeln die großen Meister das Ewige zu unvergänglichen Kunstwerken, jeder in seiner Art, so daß das eine Schöne das andre nicht ausschließt, sondern alles zusammen eine vielgestaltige Offenbarung des höchsten bildet« (C 812). Die alte Figur der Einheit in der Vielheit (unitas multiplex) wird hier aufgeboten, um die zentrale Aporie des zugrundegelegten kunstgeschichtlichen Ansatzes zu verdecken. Die Pluralisierung von Einheit bildet die paradoxe Figur, in der Burckhardt Konstanz des Ewigen und historische Individualisierung zusammenzudenken sucht. Burckhardt inszeniert auf diese Weise die Renaissancekunst als einen Höhepunkt von quasi-sakraler Aura und Erhabenheit, der allerdings - gemäß der Eigendynamik des Genetischen - notwendig zeitlich eng begrenzt ist: »Es ist wohl nur eine kurze Zeit der vollen Blüte. [...] Man kann sagen, daß die beschränkte Lebenszeit Raffaels (1483-1520) alles Vollkommenste hat entstehen sehen, und daß unmittelbar darauf, selbst bei den Größten, die ihn überlebten, der Verfall beginnt« (C 812). Nun bezieht die hier entfaltete Geschichtskonstruktion aus der Blütezeit der Raffaelischen Kunst als idealer Norminstanz nicht nur die Gesichtspunkte des Verfalls, sondern ordnet von daher auch Vorläuferschaften. Die Werke der Frührenaissance (von Masaccio über Botticelli zu Leonardo) werden im Rahmen dieses kunstgeschichtlichen Konzepts genau in dem Maße relevant, als sie in ihrer Technik die Idealität und Perfektion der Kunst Michelangelos und Raffaels antizipieren. 97 Die kunstgeschichtlichen Erörterungen des »Cicerone« können hier nicht im einzelnen verfolgt werden, sie interessieren vielmehr nur insoweit, als sie über Burckhardts Adaptation des genetischen Ansatzes Aufschluß geben. Es lohnt sich indessen, noch kurz einen Blick auf die Darstellung der beiden Exponenten der Geschichte der Renaissancemalerei im »Cicerone« zu werfen, auf die Michelangelos und Raffaels. Der Abschnitt über Michelangelo beginnt mit dem lapidaren Statement von historischer Bedeutung und normbildender Relevanz: »Michelangelo Buanorotti, der Mensch des Schicksals für die Baukunst und für die Skulptur, ist es auch für die Malerei« (C 823). Das Besondere Michelangelos liegt für
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So heißt es etwa im Blick auf Leonardo da Vincis Stil: »Allein es beginnt darin dasjenige höhere Liniengefühl, diejenige Vereinfachung, welche in Raffael ihre Vollendung findet« (C 816).
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2. Kapitel
Burckhardt vor allem in einer erstaunlichen Eigenständigkeit und Souveränität im Umgang mit den Techniken und Traditionen der genannten Künste.98 In Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der Renaissancezeit exponiert Burckhardt Michelangelos Darstellungsmodus als radikalen Bruch mit den vorangehenden Traditionen des Mittelalters und als ein allem Bisherigen inkommensurables Novum: »Das große Kapital der kirchlichen Kunstbräuche des Mittelalters existiert für ihn nicht. Er bildet den Menschen neu [...] und schafft aus diesen Gestalten eine neue irdische und olympische Welt« (C 824). An der zitierten Stelle klingt zum einen, in dem Hinweis auf die »olympische Welt«, das normative Ideal der griechischen Antike an, zum anderen läßt sich in dem hier deutlich werdenden Formprinzip das aus der »Kultur der Renaissance« bekannte Prinzip der Steigerung und Potenzierung wiedererkennen. Die Vorliebe für das Gewaltige und Überdimensionale bildet zugleich die spezifische Differenz Michelangelos gegenüber Raffael. 99 Als Beispiel der eigentümlichen gesteigerten Ausdruckskraft von Michelangelos Gestaltungsmodus interpretiert Burckhardt die Szenen und Figuren des Dekkengewölbes der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Das Besondere der Michelangeloschen Technik besteht nach seiner Auffassung vorrangig in der Dynamisierung der malerischen Komposition und in der dramatischen Inszenierung des dargestellten Geschehens. Der Schlüsselbegriff dafür lautet »Bewegung«: »Zuerst unter allen Künstlern faßte Michelangelo die Schöpfung nicht als ein bloßes Wort mit der Gebärde des Segens, sondern als Bewegung« (C 826). Es entspricht Burckhardts im Kern normorientierten Kunstbegriff, daß er Michelangelos Kunst der Übersteigerung als ein nicht der Beliebigkeit überlassenes, sondern regelgeleitetes Verfahren auszuweisen sucht. Die Zeichnung und Anordnung der Figuren sei durchgängig motiviert; jede Stellung und jede Bewegung habe ihren genau angebbaren und nachvollziehbaren Grund: »Abgesehen von der inneren Bedeutung ist durchgängig genau auf die Gewänder zu achten, welche [...] überaus schön geschwungen und gelegt, in vollkommenstem Einklang mit Stellung und Bewegung sind, so daß jede Falte ihre Kausalität hat« (C 827-828). Burckhardt akzentuiert die auf anatomische Studien gegründete, naturwissenschaftliche Exaktheit dieser Darstellungstechnik. Daß die religiösen Themen und Vorgaben bei Michelangelo nur noch Anlaß für die (rein technische) Erkundung der möglichen Bewegungen und Haltungen des menschlichen Körpers sind, zeigt sich nach Burckhardts Auffassung am deutlichsten in der berühmten, schon von den 98
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Vgl. C 823-824: »Michelangelo lernte zwar in der Schule Ghirlandajos die Handgriffe, ist aber in seiner Auffassung ohne alle Präzedentien«. Vgl. C 824: »[So] gibt diejenige Formbildung, welche für ihn die ideale ist, nicht sowohl eine ins Erhabene und Schöne vereinfachte Natur, als vielmehr eine nach gewissen Seiten hin materiell gesteigerte«. Burckhardt läßt allerdings keinen Zweifel daran, daß er - vom Standpunkt einer klassizistischen Ästhetik - der Verfahrensweise Raffaels als einer Kunst des Maßes und der harmonischen Proportion den Vorrang gibt vor dem überschwenglichen Formwillen Michelangelos.
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Zeitgenossen kontrovers diskutierten Darstellung des Jüngsten Gerichts. Nicht nur, daß Michelangelo mit seiner Vorliebe für unbekleidete Gestalten an ein Tabu der (bisherigen) kirchlichen Kunst rührt - er unterläuft auch grundlegend die Semantik des religiösen Diskurses, indem er dessen leitende Unterscheidung, die Differenz von Heil und Verdammnis, nivelliert: »Da er [•·•] den Menschen - gleichviel welchen - immer und durchgängig mit erhöhter physischer Macht bildet [...], so existiert gar kein kenntlicher Unterschied zwischen Heiligen, Seligen und Verdammten« (C 828). Sein Thema sind im Grunde nur die Möglichkeiten und Spielarten der Bewegung des menschlichen Körpers und deren perspektivische Darstellung.' 00 Dieses rein technische bzw. künstlerische Motiv liegt quer zu den Unterscheidungen der Heilstheologie. In Michelangelos Bild droht die Struktur der scholastischen Seinshierarchie zu kollabieren: »Umsonst sucht man nach jener ruhigen Glorie von Engeln, Aposteln und Heiligen, welche in andern Bildern dieses Inhaltes schon durch ihr bloßes symmetrisches Dasein die Hauptgestalt, den Richter, [...] heben [...]. Der Weltrichter [ist] auch nur eine Figur [...] wie alle andern und zwar gerade eine der befangensten« (C 829-830). Als Gegenstück und Kontrast zu Michelangelos ins Extrem getriebener, gesteigerter Ausdrucksweise fungiert im »Cicerone« Raffael als Exponent einer maßvoll ausgeglichenen und kontrollierten Komposition. Die genetische Erklärungsfigur ist für Burckhardts Auffassung und Deutung der Raffaelischen Kunst in zweifacher Hinsicht relevant: Raffael bezeichnet zum einen den Höhepunkt der Bewegung der rinascità in der neueren Malerei seit Masaccio, zum anderen spiegeln sich nach dieser Deutung in der künstlerischen Entwicklung Raffaels die verschiedenen, aufeinanderfolgenden Etappen der Renaissancemalerei im ganzen. Die Werkgeschichte der Raffaelischen Kunst bietet daher (Burckhardt zufolge ) nicht nur einen »Faden für die Erkenntnis seiner inneren Entwicklung« (C 846), sondern darüber hinaus ein Modell der Geschichte der Renaissancekunst im allgemeinen. In der künstlerischen Karriere Raffaels fallen für Burckhardt individualgeschichtliche und weit- bzw. gattungsgeschichtliche Entwicklungslogik zusammen. Es liegt in der Konsequenz dieses entwicklungslogischen Konzepts, daß Burckhardt die Raffaelische Biographie im Sinne eines Wachstums- und Reifeprozesses interpretiert, als Entfaltung der »allmählich in ihm zur sichern Form gedeihenden Grundgesetze der malerischen Komposition« (C 846). Der zu sich selbst gekommene Raffaelische Stil bezeichnet für Burckhardt schließlich einen Höhepunkt der neuzeitlichen Kunstgeschichte, der sich mit den idealtypischen Vorbildern der griechischen Antike durchaus messen kann: »Die Kunst ist nach anderthalb Jahrtausenden wieder einmal auf derjenigen Höhe angelangt, wo ihre Gestalten von selbst [...] als etwas Ewiges und Göttliches erscheinen«
loo Ygj ç g29: »Michelangelo schwelgt in dem prometheischen Glück, alle Möglichkeiten der Bewegung, Stellung, Verkürzung, Gruppierung der reinen menschlichen Gestalt in die Wirklichkeit rufen zu können«.
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2. Kapitel
(C 850). In der Logik der Renaissance bedeutet die Kunst des Cinquecento die Wiederkehr der Antike auf einer (qualitativ) anderen Entwicklungsstufe. Die Attribute des Ewigen und Göttlichen sind für Burckhardt die Kennzeichen einer Kunst, die sich in ihrer Technik der genauen Adäquation von Teil und Ganzem als eine Form der Überwindung von Kontingenz begreifen lasse.101 Das Spezifische der Raffaelischen Kunst besteht für Burckhardt in einer besonderen Technik der Zusammenführung und Verknüpfung heterogener Bildmotive zu einer ganzheitlichen Konfiguration. Jenes Verfahren verwirkliche in exemplarischer Weise die Ausmalung der Camera della Segnatura (einer der stanze im Vatikan). Aus Raffaels Technik der Bildkombination resultiere eine eigentümliche Synthese aus christlicher und antiker Vorstellungswelt, die sich in den drei in genauer Parallele behandelten Bildthemen - der disputa, der >Schule von Athen< und des >Parnaß< - entfalte. Nicht zufällig feiert Burckhardt die sich hier abzeichnende Vorgehensweise als eine Befreiung der Malerei von den Vorgaben einer überkommenen Ikonographie und als autonomes Verfahren einer »Komposition nach rein malerischen Motiven« (C 864). Doch die Rhetorik des Aufbruchs und der Emanzipation fordert den Preis der Vereinfachung und Stilisierung. Denn die genetische Unterscheidung von Vorläuferschaft und (eigentlicher) Verwirklichung braucht einen Exponenten, der sich als Höhepunkt und vollkommener Verfechter ihres Programms in Szene setzen läßt. Raffael bildet hier - auf der Ebene der narrativen Entfaltung des Textes - gewissermaßen den Kristallisationspunkt , an dem sich die rhetorische Geste der Erneuerung konkretisiert: »Raffael kam und zog das Resultat« (C 853). Am Beispiel der Deutung des Raffaelischen Stils läßt sich die besondere Verschränkung von klassizistischem Harmoniekonzept und genetischer Geschichtsauffassung in Burckhardts Begriff der Kunstgeschichte beobachten. Raffael vertritt dabei durch seine Künstlerbiographie in paradigmatischer Form das genetische Prinzip der konsequenten Entfaltung und der unabschließbaren Fortentwicklung. Gehört es doch nach Burckhardts Auslegung zu den Besonderheiten der Werkgeschichte Raffaels, daß jener nicht auf einem einmal gefundenen verfahrenstechnischem Niveau stehen bleibt, sondern immer »neue Mittel der Darstellung zu bewältigen sucht« (C 858).102 Die Rhetorik der Unabschließbarkeit ist ein konstitutives Element des genetischen Ansatzes insofern, als sich die Dynamik der Höherentwicklung und Vervoll-
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Vgl. C 846: »Raffael hat schon durch den architektonischen Ernst seiner Gruppenbildung einen Vorsprung [i.e. vor den anderen Renaissancemalem], noch mehr aber durch den hohen Ernst der Form, welcher ihn von allen bloß zufälligen Zügen des Lebens fernhielt«. Vgl. C 858: »[Das Bild] wie Raffael sich als Künstler konsequent ausbildet, ist schon an sich mehr wert, als irgendein Verharren auf einer bestimmten Stufe des Idealen, z.b. auf dem Darstellungsprinzip der disputa, sein könnte. Und überdies verharrt man nicht ungestraft; die >Manier< wartet schon vor der Tür«.
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kommnung nur solange durchhalten läßt, wie deren ideales Telos noch nicht erreicht ist. Insgesamt wird somit deutlich, daß Burckhardts kunstgeschichtliche Darstellung, was den vorherrschenden Sprachgestus und den Einsatz rhetorischer Figuren betrifft, eine der »Kultur der Renaissance« vergleichbare Strukturierung aufweist. Die gleiche Rhetorik der Steigerung und Überbietung, die Burckhardts Beschreibung der Entstehung und Organisationsform der Renaissancekultur inspiriert, bestimmt auch seine Konstruktion der neuzeitlichen Kunstgeschichte: In einem hyperbolischen, von biblischen Anklängen durchsetzten Sprachstil inszeniert Burckhardt die Renaissance als Gipfelepoche der nachantiken Kunst. Doch bei aller Gemeinsamkeit des Stils hat die Rhetorik des Textes in der kunstgeschichtlichen Abhandlung einen anderen Effekt. Es fehlt nämlich im »Cicerone« weitgehend das für die »Kultur der Renaissance« kennzeichnende Moment der Ironie, das in der kulturgeschichtlichen Darlegung die Tendenz zur Emphatisierung des Gegenstandes immer wieder unterläuft und die Idee der Renaissance als in sich abgerundeter Totalität konterkariert. Die kunstgeschichtliche Abhandlung ist darüber hinaus - sehr viel stärker als die »Kultur der Renaissance« - an einem statischen, überhistorischen Perfektionsmodell orientiert, das einer konsequenten Historisierung des kunstgeschichtlichen Ansatzes im Grunde entgegensteht. Hierin zeigt sich deutlich die aporetische Grundfigur des Burckhardtschen Ansatzes, die letztlich auf die paradoxale Konstitution des Genetischen selbst zurückverweist. Burckhardt sucht nämlich zum einen Kunstgeschichte als Prozeß, als immanente Selbstentfaltung einer ästhetischen Disposition zu begreifen. Zum anderen aber bringt die Abhandlung immer wieder das Bild der Antike als idealer Norminstanz ins Spiel, das die Idee einer evolutionären Progression schließlich aufhebt. Das Ausgangsparadox des Genetischen, die Unterscheidung von Identität und Nicht-Identität, wird zugunsten von Identität umakzentuiert. Bei Burckhardt kommt es somit zu einer eigentümlichen, der Tendenz nach antihistoristischen Reformulierung des Genetischen: Das Konzept einer linearen Genese wird durch ein zyklisches Modell von alternierendem Aufstieg und Verfall überlagert. Eine ähnlich paradoxe Argumentationslage, eine Verschränkung von enthistorisierenden Tendenzen mit einem entwicklungslogischen Erklärungsansatz läßt sich auch in der anschließend zu diskutierenden »Griechischen Kulturgeschichte« beobachten.
2.3
Griechische Kulturgeschichte
Die »Griechische Kulturgeschichte« stellt innerhalb des Burckhardtschen Oeuvre das wohl umfassendste und materialreichste kulturgeschichtliche Projekt dar. Dabei handelt es sich nicht um eine Arbeit, die als Buchveröffentlichung geplant war, sondern um einen Text, der seine Entstehung Burck-
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2. Kapitel
hardts berühmtem, mehrmals an der Baseler Universität abgehaltenen Seminar über die Kulturgeschichte der griechischen Antike verdankt. An diesem legendären Seminar soll im Wintersemester 1873/74 auch der gerade nach Basel berufene Friedrich Nietzsche teilgenommen haben.' 03 Aus dem genannten entstehungsgeschichtlichen Kontext erklären sich die für Burckhardt ungewöhnliche Breite der Ausführungen und die vielfachen Redundanzen Burckhardt hätte im Falle einer Buchveröffentlichung sicher gekürzt und einen ähnlich komprimierten Darstellungsstil angestrebt wie in der »Kultur der Renaissance«. Dennoch ist die Anordnung und Organisation des Materials in der »Griechischen Kulturgeschichte« dem früheren Werk durchaus vergleichbar. Auch hier verbindet Burckhardt einen synchronen, strukturanalytischen mit einem diachronen, genetischen Ansatz - nur daß er diesmal den systematischen und den genetischen Gesichtspunkt stärker voneinander trennt und in aufeinanderfolgenden Abschnitten diskutiert. Aufbau und Komposition der »Griechischen Kulturgeschichte« reflektieren deutlich die Leitlinien der in den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« dargelegten Potenzenlehre. Die Untersuchung beginnt mit einer Exposition des Mythos als dem Ursprung griechischer Kultur; es folgt - ebenfalls im ersten Band - die Abhandlung der politischen Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Staates als historischer Potenz; der zweite Band schließt sich an mit der Erörterung der kulturgeschichtlichen Funktion der Religion und dem Versuch, eine >Gesamtbilanz< der griechischen Lebens- und Weltanschauung zu ziehen, während der dritte Band die kulturelle Potenz im engeren Sinne: Kunst, Musik, Literatur und Philosophie behandelt. Der vierte und letzte Band umreißt schließlich die diachrone Dimension der altgriechischen Kultur, ihre Entwicklung in den aufeinander folgenden Epochen der archaischen, kolonialen, klassischen und hellenistischen Zeit. Burckhardt erzählt diesen Verlauf als die Entfaltungs- und Aufstiegsgeschichte einer Kultur; sein Thema ist die Emergenz des griechischen Geistes aus den dunklen Jahrhunderten der heroischen Zeit, dessen Entwicklung bis zum Höhepunkt des >klassischen< Zeitalters und dessen nachfolgender Abstieg bzw. Auflösung in der Epoche des Hellenismus. In den groben Umrissen dieser Kulturgeschichte läßt sich so bereits das klassische Schema des genetischen Ansatzes wiedererkennen. Abgesehen von der genetischen Grundstruktur ihres Ansatzes verweist die »Griechische Kulturgeschichte« auf eine bekannte literarische und denkgeschichtliche Tradition - die des Griechenkults und der Gräkomanie. 104 Burckhardt beruft sich zwar in der Einleitung seines Buchs auf diese Tradition, doch hält er dem geistesgeschichtlichen Konstrukt des griechischen Menschen als einer gelungenen Synthese aus körperlicher Schönheit und geistiger Vollen103
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Vgl. Einleitung d. Herausg., in: Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. Erster Band, hg. Felix Stähelin, Berlin und Leipzig 1930. Klaus Schneider diskutiert dieses Rezeptionsphänomen unter dem Stichwort des »Griechenphantasmas« (Vgl. ders., Natur - Körper - Kleider - Spiel, Würzburg 1994, S. 30).
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dung einen entscheidenden Vorbehalt entgegen: »Die Hellenen waren unglücklicher als die meisten glauben«(GK I, 10).105 Der Verfasser der »Griechischen Kulturgeschichte« betreibt somit die Destruktion eines Mythos: Das nostalgische Bild von der Freiheit und Vollkommenheit des griechischen Lebens weicht einer (anderen) Auffassung des Altertums, die auch den dunklen Seiten dieser Kultur Rechnung zu tragen sucht. Burckhardts Leitidee ist die von Nietzsche her vertraute Vorstellung des dionysischen Grundzugs des antiken Griechentums, das Bild eines empfindsamen und leidensfähigen Pessimismus. Burckhardts Verhältnis zu Winckelmann und zu den an diesen anknüpfenden kunstgeschichtlichen und archäologischen Traditionen ist jedoch zu vielschichtig und komplex, als daß es sich in die Formel einer bloßen Abgrenzungsbewegung fassen ließe. Nicht zufällig verweist ja Burckhardt im »Cicerone« im Anschluß an die Beschreibung des Domes von Triest mit pathetischer Geste auf »die Asche desjenigen Mannes, welchem die Kunstgeschichte vor allen andern den Schlüssel zur vergleichenden Betrachtung, ja ihr Dasein zu verdanken hat« (C 84). Burckhardt schreibt damit jenen Mythos einer einzigartigen wissenschaftlichen Gründungsleistung fort, den Winckelmann durch die Form seiner schriftstellerischen Selbstdarstellung und eine subtile Technik des Selbstkommentars vorbereitet und initiiert hat.106 Bei Burckhardt bleibt es indessen nicht bei diesem mehr äußerlichen, bekenntnishaften Rückbezug auf den Gründungsheros der Kunstgeschichte. Seinem eigenen Projekt einer »Griechischen Kulturgeschichte« sind deutliche Hinweise auf eine intensive Auseinandersetzung mit den Winckelmannschen Überlegungen zur griechischen Kunst eingeschrieben. Schon der Grundzug der Burckhardtschen Abhandlung, die Tendenz, die Kultur der griechischen Antike (bei aller Betonung ihrer Historizität) zu einer überzeitlichen, normgebenden Instanz zu stilisieren, läßt sich ja als eine direkte Anspielung und als Rekurs auf das Winckelmannsche Antikekonzept begreifen: »Wir lernen hier den ewigen Griechen kennen, wir lernen eine Gestalt kennen anstatt eines einzelnen Faktors« (GK I, 4). Der hier im Begriff der Gestalt angesprochene Gedanke der individuellen Konkretisierung eines Allgemeinen verweist auf die repräsentative Bedeutung, die auch Winckelmann in seiner »Geschichte der Kunst des Altertums« der griechischen Kunst, insbesondere der Skulptur, zuschreibt. 107 Insofern in dem genannten Winckelmannschen Hauptwerk
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Burckhardt zitiert hier August Boeckh, Die Staatshaushaltung der Athener, Bd.l, 3. Aufl., Berlin 1886, S. 711. 106 Vgl. Wolf Lepenies, Fast ein Poet: J. J. Winckelmanns Begründung der Kunstgeschichte, in: ders., Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert, München 1988, S. 91-116, hier S. 105: »Die Einzigartigkeit seines Vorhabens wird von Winckelmann schon frühzeitig beschworen; er ist ein einfallsreicher und ausdauernder Kommentator seiner selbst - lange bevor die Geschichte der Kunst des Altertums überhaupt erschienen ist.« 107 Vgl. J. J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, hg. W. Senff, Weimar 1964, besonders S. 123-158.
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2. Kapitel
wichtige Konzepte der Burckhardtschen Kunst- und Kulturgeschichte vorgezeichnet sind, lohnt es sich, auf einige Aspekte dieser kunstgeschichtlichen Abhandlung kurz einzugehen. Winckelmann gibt bekanntlich in der erwähnten Schrift einen historischen Überblick über die Entwicklung der Künste in der alten Welt (Ägypten, Phönizien, Persien, Etrurien und Griechenland) und erarbeitet in diesem Zusammenhang eine Theorie der Entstehung und Entwicklung kunstgeschichtlicher Stile. Eine Besonderheit des Winckelmannschen Ansatzes ist darin zu sehen, daß er einen historischen und einen systematischen Gesichtspunkt zu verknüpfen versucht. Die Abhandlung beansprucht nämlich, ein »Systema der alten Kunst« zu skizzieren, das zugleich die Grundlinien bereitstelle für die »Erzählung der Zeitfolge und der Veränderung [...] derselben« (ebd., S. 7). Die Winckelmannsche Kunstgeschichte sucht somit den Systemgedanken des frühen 18. Jahrhunderts, insbesondere der Naturgeschichte, mit der Idee einer inneren, organischen Entwicklung der Kunst zu vereinen und ist insofern zu Recht als Anzeichen des »Historisierungsschubes« gewertet worden, »der im 18. Jahrhundert alle wissenschaftlichen >Disziplinen< erfaßt«.108 Gegen eine vollständige Historisierung des Gegenstandes sperrt sich jedoch das Anliegen des Buches, »in das Wesen und zu dem Inneren der Kunst« vorzudringen: »Das Wesen der Kunst aber ist [in beiden Teilen der Abhandlung] der vornehmste Endzweck« (S. 7).109 In der Verschränkung von typologischem und entwicklungsgeschichtlichem Konzept (Herder nennt die Abhandlung eine »historische Metaphysik des Schönen«110) liegt auch der Ansatzpunkt, an den Burckhardt in seiner Kulturgeschichte anschließen wird. Den Höhepunkt des ersten Teils der Arbeit (»Untersuchung der Kunst nach dem Wesen derselben«) bildet das Kapitel über die griechische Kunst, genauer die Darstellung »von dem Wachstume und dem Falle der griechischen Kunst, in welcher vier Zeiten und vier Stile können gesetzt werden«. 1 " Winckelmann untergliedert also die Gesamtentwicklung der griechischen Kunst nach vier stilgeschichtlichen Perioden: Auf den archaischen Stil der Frühzeit folgt der >hohe< Stil des Phidias, dieser wird abgelöst durch den >schönen< Stil des Praxiteles, bevor eine epigonale Stilart die Reinheit der ursprünglichen Stile verwischt und einen Eklektizismus der Nachahmung einleitet, der gemessen an den Idealtypen des >hohen< und des >schönen< Stils nur Verfall bedeuten kann. Die hier skiz-
108 Wolf Lepenies, J. J. Winckelmann. Kunst- und Naturgeschichte im achtzehnten Jahrhundert, in: J. J. Winckelmann 1717-1768, hg. T. Gaehtgens, Hamburg 1986, S. 2 2 1 237, hier S. 233. 109 Norbert Miller spricht deshalb im Blick auf die »Geschichte der Kunst des Altertums« von einer »Geschichte gegen die Historisierung«. Siehe N. Miller, Winckelmann und der Griechenstreit, in: J. J. Winckelmann, hg. T. Gaehtgens, S. 239-264, hier S. 254. 110 Zit. nach W. Lepenies, Winckelmann. Kunst- und Naturgeschichte, S. 230. 111 Geschichte der Kunst des Altertums, Viertes Kapitel: Von der Kunst unter den Griechen, S. 114-234, hier S. 180.
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zierte Geschichtskonzeption reformuliert das aristotelische Entelechiekonzept in einem Schema von »Anwachs, Fortgang, Fülle und Fall der Kunst«," 2 das dem Gang der Kunstgeschichte als eine naturhafte Gesetzmäßigkeit zugrunde liege. Das organische Moment dieser Entwicklung wird dadurch unterstrichen, daß Winckelmann die Einheit der antiken Kunst hervorhebt (»die alten Werke [scheinen] dennoch wie von einer Schule gearbeitet zu sein«"- 1 ) und daß er - bei aller Betonung der Verschiedenheit der griechischen Stile - an der Idee ihres inneren Zusammenhangs und Ineinandergreifens festhält: »Die Eigenschaften dieses älteren Stils [i.e. des archaischen Stils] waren unterdessen die Vorbereitungen zum hohen Stil der Kunst und führten diesen zur strengen Richtigkeit und zum hohen Ausdruck« (ebd., S. 186-187). Das Organismuskonzept stellt im Rahmen des Winckelmannschen Ansatzes die Verbindung her zwischen systematischer Betrachtung und Geschichte. Z u m einen unterliegt nämlich nach dieser Auffassung die Entwicklung der (alten) Künste im ganzen einer organologisch-teleologischen Gesetzmäßigkeit, zum anderen erblickt Winckelmann in der Organismusidee zugleich »die Regel und den Kanon des Schönen« (ebd., S. 124): »Die Weisen, welche den Ursachen des allgemeinen Schönen nachgedacht haben [...], haben dasselbe in der vollkommenen Übereinstimmung des Geschöpfs mit dessen Absichten und der Teile unter sich und mit dem Ganzen desselben gesetzt« (S. 129-130). In der hier angesprochenen Deutung der antiken Kunst als organischer Form nimmt Winckelmann einen zentralen Aspekt des Burckhardtschen Kunstbegriffs vorweg. In der Verschränkung von klassischem Ideal mit der Idee der Geschichtlichkeit der antiken Kultur formuliert Winckelmann die Grundparadoxie, die Burckhardts Einsatz in der »Griechischen Kulturgeschichte« bestimmt und die jener in der Doppelfigur des >ewigen< und des geschichtlichen Griechen aufnimmt. Gemeinsam ist Winckelmann und Burckhardt die Überzeugung von der apriorischen Besonderheit und Vorbildlichkeit der griechischen Kultur. Zwar widerspricht Burckhardt der Winckelmannschen These von den äußeren Vorzügen des griechischen Lebens und der ungewöhnlichen politischen Freiheit in den griechischen Kleinstaaten, aber er profiliert doch den besonderen, exemplarischen Charakter der griechischen Kultur als einen »ganz besonders klaren und übersichtlichen Ausschnitt aus der Geschichte der Menschheit« (GK I, 7). Es liegt in der Konsequenz der hier artikulierten Idee der repräsentativen Bedeutung der griechischen Antike, daß ihre Kunstentwicklung einen über den engeren Kontext der Epoche hinausweisenden Formenkanon bereitstellt: »So wie nun die Alten stufenweise von der menschlichen Schönheit bis an die göttliche hinaufgestiegen waren, so blieb diese Staffel der Schönheit«. 114 Obgleich Burckhardt das hier artikulierte Kunstkonzept bestätigend aufgreift, signalisiert er Distanz gegenüber einer unreflek-
1,2 113 114
Winckelmann, Brief an Wille, Mitte August 1757, in: Briefe, Bd. 1, S. 295. Geschichte der Kunst des Altertums, S. 149. Geschichte der Kunst des Altertums, S. 140.
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tierten Griechenemphase und den Stereotypen einer bildungsbürgerlichen Antikerezeption." 5 Burckhardt insistiert auf den >dunklen Konstantem und Charakteristischem reicht als leitender Gesichtspunkt der Darstellung nicht aus. Denn »woher weiß er [der Kulturhistoriker], was konstant und charakteristisch, was eine Kraft gewesen ist und was nicht?« (GK 1,4)
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sich in historische Mikrologie verlierenden Geschichtsschreibung entgegenzusetzen sucht. Nach der Abgrenzung von der Methodik der Altphilologie bedarf es nun noch der Unterscheidung der Kulturgeschichte von der Geschichtswissenschaft im herkömmlichen Sinn, insbesondere von der politischen Geschichte. Burckhardt entwirft sein Programm einer Kulturgeschichte in bewußter Distanz zu einer Historie der Schlachten und Feldzüge. Thema der kulturhistorischen Disziplin ist denn auch nicht vorrangig das politische Geschehen, sondern »das Dasein eines Stiles, welcher schon an sich ein großes kulturgeschichtliches Ereignis ist« (GK I, 9). »Stil« meint hier zunächst den >Lebensstil< einer Epoche, der aus zahllosen Details der alltäglichen Gewohnheiten, Konventionen und Sozialisationsformen einer vergangenen Kulturformation zu erschließen sei. Die Nähe des Burckhardtschen Ansatzes zu einer >Geschichte des alltäglichen Lebens< und zur histoire des mentalités ist hier offensichtlich. Aus der genannten Aufgabe der minuziösen Rekonstruktion des >Stils< einer Epoche leitet Burckhardt das Recht ab, im Blick auf die in Erwägung zu ziehenden Quellen nicht restriktiv zu sein: »Wir dürfen nicht wählerisch sein, wenn es sich darum handelt, das große Bild des Altertums an irgend einer Stelle zu ergänzen« (GK I, 8 - 9 ) . In Differenz zu einer rigiden Quellenkritik, wie sie Burckhardt aus der historistischen Praxis der Zeit vertraut ist, insistiert dieser, »daß jeder alte Autor höhern Ranges« - also nicht zuletzt auch der Verfasser literarischer und fiktionaler Texte - »eine Quelle kulturhistorischer Erkenntnis sei« (GK I, 7). Die Frage nach der historischen Verbürgtheit der Quelle ist dabei für Burckhardt gegenüber der unmittelbaren Evidenz des Lektüreeindrucks sekundär. Dieser weniger restringierte Umgang mit den Quellen beansprucht gegenüber der Quellenkritik der historischen Schule gleichwohl eine eigene Form der Gewißheit und Plausibilität: »Die Kulturgeschichte [...] hat primum gradum certitudinis, denn sie lebt wichtigerenteils von dem, was Quellen und Denkmäler unabsichtlich [...], j a unfreiwillig, unbewußt und andererseits sogar durch Erdichtungen verkünden« (GK I, 3). Sofern es der Kulturgeschichte darum zu tun ist, so Burckhardts Argument, aus ihren Quellen das Charakteristische und Repräsentative einer Kultur, die Typik des geistigen Habitus einer Zeit, zu extrahieren, erweist sich gerade auch die Fiktion als ein geeignetes Erkenntnismittel. Denn für Burckhardt liegt »das lebendige und bedeutsame« einer Quelle »oft [...] nicht in dem Ereignis, welches erzählt wird, sondern in der Art, wie, und in den geistigen Voraussetzungen, unter welchen es erzählt wird« (GK I, 7). Burckhardt rechtfertigt die Fiktion als legitimes Mittel und konstitutives Moment historischer Erkenntnis. Der erste Teil der »Griechischen Kulturgeschichte« beginnt nicht zufällig mit dem suggestiven Bild einer Entstehung der griechischen Kultur aus dem Geist des Mythos. Im Rahmen der dort entworfenen Konzeption bildet der Mythos das unabdingbare Apriori antik-griechischen Lebens, die »ideale Grundlage« und »allgemeine Voraussetzung« des »ganzen Daseins« (GK I,
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36 u. 32). Der Mythos konstituiert das im Sinne des genetischen Ansatzes fundierende Prinzip, bezeichnet doch nach Burckhardt das mythische Denken das vorrangige und zunächst ausschließliche Medium griechischer Kultur: »Der Mythos als eine gewaltige Macht beherrschte das griechische Leben und schwebte über demselben wie eine nahe herrliche Erscheinung. Er leuchtet in die ganze griechische Gegenwart hinein, überall und bis in späte Zeiten, als wäre er eine noch gar nicht ferne Vergangenheit« (GK I, 28). Die unmittelbare und ungebrochene Präsenz des Mythischen auf einem bereits fortgeschrittenen Kulturniveau fungiert als Prämisse und ermöglichende Bedingung jener allmählichen Entfaltung des griechischen Geistes, um die es dem Projekt der »Kulturgeschichte« geht. Entscheidend für den Kulturhistoriker ist, »daß der hellenische Mythos [...] in eine schreibende und dann sogar in eine sehr literarische Zeit hineinreichte [...] Seine volle und glänzende Herrschaft übte er in der Blütezeit der Griechen, ja man könnte sagen, daß letztere ungefähr so lange auf ihrer Höhe bleibt, bis die Abwendung vom Mythos beginnt« (GK I, 28-30). Burckhardt begreift, wie sich hier mit besonderer Deutlichkeit zeigt, den Mythos als >LebensBildungselement< der griechischen Kultur und zugleich als grundlegende Bedingung ihrer weltgeschichtlichen Funktion. Sind doch die Griechen nach seiner Auffassung dazu bestimmt, ihre Kultur »im Verlauf der Zeiten [...] zu einer Weltkultur zu machen« (GK I, 51). Die »Nähe des Mythischen« (GK I, 41) ist das Signum jener bevorzugten Rolle und Stellung im Rahmen einer weltgeschichtlichen Teleologie: Mit der Abkehr und Distanzierung vom Mythos beginnt unaufhaltsam der zivilisationsgeschichtliche Verfall. Die weltgeschichtliche Bedeutung der griechischen Antike liegt für Burckhardt in der Konstitution eines Kulturprozesses von geschichtsübergreifender Dauer und Kontinuität. Ihr Verdienst sei es, »durch das Weiterleben dieser Kultur die Kontinuität der Weltentwicklung für uns zu sichern; denn nur durch die Griechen hängen die Zeiten und das Interesse für diese Zeiten aneinander« (GK I, 51). Der griechische Mythos bildet, wie gesehen, im Kontext dieser Interpretation das fundierende Prinzip eines kulturgeschichtlichen Transfers. Voraussetzung dafür ist die bleibende Aktualität und Präsenz eines mythischen Bewußtseins als Charakteristikum der griechischen Mentalität auch in historischer, ja selbst noch in hellenistischer Zeit. Alle Eigentümlichkeiten und Errungenschaften der antiken Kultur liegen, so scheint es, in der Konsequenz eines mythischen Habitus und Denkstils. Burckhardts anschließende Darlegungen zur politischen und staatsgeschichtlichen Dimension der griechischen Antike beziehen ihren besonderen Impuls aus der Destruktion einer in der altphilologischen und archäologischen Fachtradition des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Figur: Es ist das berühmte, nostalgische Bild der griechischen Polis als eines idealen Orts der Freiheit und der harmonischen Gemeinschaft,119 das Burckhardt aus dem Re119
Zu diesem wissensgeschichtlichen Topos vgl. Karl Christ, Emst Curtius, in: Von Gibbon zu Rostovtzeff, Darmstadt 1972, S. 6 8 - 8 3 , hier S. 7 7 - 7 8 , S. 8 2 - 8 3 .
Genetischer Erklärungsansatz und Ästhetisierung des Schreibens...
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pertoire der geistesgeschichtlichen Vorstellungswelt seiner Zeit aufnimmt und als ein dem historischen Tatbestand wenig angemessenes Phantasiegebilde entlarvt. Das idealtypische Bild des in sich ruhenden Stadtstaates hält, so Burckhardt, der Konfrontation mit der realen Machtpolitik der Poleis nicht stand. Einen Hinweis auf die Grundrichtung der Argumentation dieses Kapitels gibt bereits das dem Danteschen Inferno entlehnte literarische Motto: »Per me si va nella città dolente« (GK I, 55). Bereits die Entstehung der Polis verdankt sich, wie Burckhardt nachweist, allen Ursprungsmythen und Idealisierungen der Anfänge zum Trotz nicht einem Unternehmen aus freiwilliger Spontaneität, sondern einem gewaltsamen Akt der Zusammensiedlung unabhängiger Dorf- und Hausgemeinschaften an einem abgegrenzten, befestigten Ort. Der archäologische Befund des Synoikismos rückt die Anfänge der griechischen Kultur in ein düsteres Licht. Dieser negativen Deutung der Polis im Zeichen von Gewalt widerstreitet jedoch in der »Griechischen Kulturgeschichte« eine andere, gegenläufige Tendenz der Argumentation, die die kulturelle und entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Polis hervorhebt. Die politisch-gesellschaftliche Institution der Polis bilde nämlich, so das Argument, eine notwendige und unausweichliche Lebensform, deren Entstehung in der Natur des griechischen Geistes vorgezeichnet sei. Ganz im Sinne einer naturalen Teleologie bezeichnet Burckhardt die Polis als eine »innere Notwendigkeit« der antiken Kultur, als diejenige »Form«, welche »das eigentliche Ziel ihres Daseins in sich enthält« (GK I, 63). Mit dem Hinweis auf die Motive der Notwendigkeit der Form und der Immanenz des Ziels rückt Burckhardt seine Kulturgeschichte nicht zufällig in die Tradition des Aristotelischen Entelechiekonzepts. Wie die Geschichte der griechischen Antike im ganzen so vollzieht sich für Burckhardt auch die Entwicklung der Polis als Entfaltung einer ursprünglichen Anlage: »Und alles griechische Wesen drängte auf diese seine schließliche Gestalt, die Polis, hin, ohne welche die höhere griechische Kultur gar nicht denkbar wäre« (GK I, 64). Die hier vorgetragene Argumentation entfaltet die Figuren eines organologischen Denkens. In den Termini eines lebensphilosophisch inspirierten Begriffsrepertoires evoziert Burckhardt die Analogie von sozialem Gefüge und Organismus, von Lebensprozeß und Kulturprozeß. Die Gründungsmythen und Legenden der einzelnen Poleis sind Symbole für »den Pulsschlag der Polis« (GK I, 65), die Polis ist »diejenige Form«, die »der fieberhafte Lebensdrang« des griechischen Geistes aus sich heraus annimmt« (GK I, 63). 120 Grundlegend für Burckhardts Auffassung der griechischen Antike ist, so läßt sich festhalten, die unentschiedene Zweiseitigkeit in der Bewertung der Polis. Unentbehrliches Apriori aller Kultur, ist die Polis doch zugleich Machtund Zwangsinstitut, das dem einzelnen keine individuellen Rechte zuge120
Gilt die Polis als »ein höheres Naturprodukt«, so verwundert es nicht, daß auch die Institutionen dieses Stadtstaates in einer lebensphilosophischen Metaphorik beschrieben werden: So bezeichnet Burckhardt etwa den Versammlungs- und Ratplatz als »das eigentliche Lebensorgan der Stadt«.
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2. Kapitel
steht.121 Positiver und negativer Aspekt des griechischen Stadtstaats sind dieser Interpretation zufolge aufs engste miteinander verknüpft. Der im Nomos kodifizierte Rechtsanspruch der Polis setzt auf der anderen Seite die Entfaltung der Kunst in Gang: »Die griechische Staatsidee nämlich [...] hatte [...] zugleich die Eigenschaft entwickelt, das Individuum auf das Stärkste vorwärts zu treiben« (GK I, 83).122 Die zitierte Stelle berührt ein aus der »Kultur der Renaissance« vertrautes Motiv: In gewisser Entsprechung zur Renaissancekultur in den italienischen Kleinstaaten des 14. und 15. Jahrhunderts deutet Burckhardt die Lebenswelt der frühgriechischen Polis unter dem Gesichtspunkt einer »Weckung individuellen Geistes« (GK IV, 11 ). Burckhardt vertritt hier die These einer inneren Übereinstimmung und Affinität von Antike und frühneuzeitlicher Moderne. Die Renaissance setzt nach Burckhardt jenen Prozeß der Individualisierung und Autonomisierung von Kultur nur fort, der in der Antike bereits angelaufen war und durch das Interregnum des Mittelalters nur vorübergehend suspendiert wurde: »Der moderne Mensch ist wie der antike [...] ein Mikrokosmus, was der mittelalterliche nicht war und nicht sein konnte« (KR, 320-321). Daß die Imperative der Individualität für das neuzeitliche Bewußtsein andere sein könnten als die einer spezifisch antiken Mentalität, kommt bei dieser Betrachtungsweise nicht in den Blick. Für Burckhardts Darstellung des genetischen Entwicklungsgangs der antiken griechischen Kultur sind insbesondere drei Konzepte von Bedeutung, die der Tradition des antiken Denkens entnommen sind: die Ideen der sophrosyne und der kalokagathie sowie die Kategorie des Agonalen. Das Konzept des Agonalen erweist sich nach Burckhardts Darlegung als ein alle Bereiche des griechischen Lebens bestimmendes und strukturierendes Prinzip.12:1 Der Wetteifer bildet ähnlich dem Mythos ein ursprüngliches Substrat griechischer Kultur und wird zum entscheidenden Movens von deren geschichtlicher Entfaltung: »Der Wille des begabten Griechen [...] ist seit Homer: >immer der erste zu sein und vorzuleuchten den andernrealistischen< Romanen des 19. Jahrhunderts auch den paradigmatischen Werken der sogenannten »klassischen Moderne« (Joyce, Kafka) Rechnung tragen zu können (ebd., S. 695). Die hier vorgeschlagene Analyse versucht, das damit angesprochene, eigentümliche Festhalten Lukács' am Paradigma der geschlossenen Form im Zusammenhang des genetischen Prinzips zu erörtern und es auf den genetischen Impuls des Lukácsschen Schreibens zurückzuführen. Die folgenden Ausführungen beanspruchen nicht, die oben kurz angesprochenen, in der Forschungsdiskussion bereits erörterten Fragen weiter auszuführen und zu klären. Weder suchen sie das Lukácssche Oeuvre als werkgeschichtliche Einheit zu erfassen, noch gehen sie den vielfältigen literarischphilosophischen Verweisungen und Referenzen des Textes in ihren weitreichenden Verästelungen nach. Auch die schwierige Frage, wie sich in der Perspektive des frühen Lukács das komplexe Verhältnis von historischgesellschaftlicher >Wirklichkeit< und Romanfiktion darstellt, kann in der folgenden Untersuchung kaum berührt werden - ist doch das Realitäts- bzw. Repräsentationskonzept selbst in der neueren Diskussion, vor allem im Kontext sprachanalytischer und konstruktivistischer Ansätze, problematisch geworden. Das problemgeschichtliche Interesse der vorliegenden Arbeit erfordert einen von der vertrauten Diskussionslage abweichenden Weg. Statt eine >Gesamtinterpretation< der Romantheorie vorzulegen, suchen die folgenden Darlegungen an einer enger begrenzten erkenntnisleitenden Perspektive festzuhalten, wie sie die Frage nach der genetischen Schreibweise vorgibt. Insgesamt verfährt die folgende Lektüre in zwei Schritten: In einem ersten Schritt soll zunächst die Zugehörigkeit der »Theorie des Romans« zu der in dieser Arbeit untersuchten Tradition des genetischen Schemas aufgezeigt und dabei zugleich die geschichtsphilosophische Grundfigur der Lukácsschen Abhandlung nachgezeichnet werden. Hier geht es vor allem darum, die dem Lukács10 11
W. Michel, Ästhetischer Marxismus, S. 111 und 114. Vgl. Rolf Peter Janz, Zur Historizität und Aktualität der >Theorie des Romans< von Georg Lukács, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 22, 1978, S. 6 7 4 - 6 9 9 , hier S. 678.
Genetisches
Prinzip und Geschichtsphilosophie
beim frühen
Lukács
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sehen Entwurf immanenten aporetischen Widersprüche zu entfalten und zugleich die argumentativen Techniken und Lösungsversuche nachzuzeichnen, die die »Theorie des Romans« im Umgang mit der ihren Ansatz fundierenden Aporie erprobt. In einem zweiten Schritt sollen anschließend die rhetorischen Verfahrensweisen und die sprachlichen Eigentümlichkeiten der Abhandlung untersucht werden. Im Vordergund dieser Analysen steht der Versuch, in der sprachlichen Struktur der »Theorie des Romans« eine genuin literarische Dimension aufzuzeigen, die deutlich werden läßt, daß sich die genetische Form des Schreibens und Argumentierens als ein rein ideengeschichtliches bzw. geschichtstheoretisches Phänomen nicht zureichend erfassen und beschreiben läßt. Die eigentümliche Wirkung des genetischen Modells läßt sich vielmehr, so die hier favorisierte These, nur im Rekurs auf die Rhetorik des Textes, auf eine spezifische Verfahrensweise des Schreibens angemessen begreifen. Die besondere Prominenz und die eigentümliche Konjunktur des genetischen Schemas in der Kulturgeschichte ist, so ist zu vermuten, nicht zuletzt das Resultat einer besonderen Schreibweise, ein Effekt der literarischen Form.
3.2
Die Theorie des R o m a n s
3.2.1
Zur diskursiven Struktur und kulturgeschichtlichen Argumentation des Textes
Daß die literatur- und kulturtheoretischen Schriften des frühen Lukács zu der hier erörterten Problemgeschichte des genetischen Ansatzes einen Beitrag leisten, erscheint auf den ersten Blick sehr viel weniger evident als im Falle entsprechender Werke der historistischen Geschichtstheoretiker und Jakob Burckhardts. Die Vorstellung geschichtlicher Entwicklung erfährt j a bekanntlich in den Lukácsschen Frühschriften eine weitreichende Problematisierung, die die Idee einer historisch-genetischen Einheit des Geschichtsverlaufs im Grunde kaum noch zuläßt. Konzipiert doch Lukács seine Gattungsgeschichte sowohl des Dramas als auch des Romans im theoretischen Rahmen einer Geschichtsphilosophie, die die Gegenwart der literarischen Moderne unausweichlich mit dem Index der Negativität versieht. Die Gegenwart, in Fichtes Formulierung »Das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« (TR 12), steht für den Verfasser der Romantheorie unabdingbar im Zeichen des Verfalls. Nimmt man die schroffe Antithese von Antike und neuzeitlicher Moderne ernst und denkt man den darin angelegten Ansatz konsequent weiter, dann dürfte es im Rahmen des Lukácsschen Konzepts eine Romangeschichte im Sinne einer evolutiven und prozessualen Auffassung von Gattungsentwicklung im Grunde nicht geben, allenfalls den unvermittelten, katastrophalen Umschlag von Antike zu Moderne, von Epos zu Roman. Der neuzeitliche Wandel der vorherrschenden epischen Form kann nach der Logik des ge-
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3. Kapitel
schichtsphilosophischen Ansatzes nur Diskontinuität und radikale Differenz (im Verhältnis zu allem Vorangehenden) bedeuten. Der konsequenten Dichotomisierung der Epochen zufolge dürfte es im Grunde keinen theoretischen Zusammenhang und kein tertium comparationis mehr zwischen Epos und Roman geben. Vor der Folie der hier erkennbaren Geschichtsphilosophie des Bruchs und der radikalen Disjunktion muß es daher zunächst verwundern, daß die Darlegung an anderen Stellen gleichwohl ein unterschwelliges Moment von Kontinuität und ein Konzept historischer Prozessualität anzunehmen scheint. Ein erster Hinweis auf diese Figur des geschichtlichen Zusammenhangs läßt sich dem Sachverhalt entnehmen, daß Lukács von Epos und Roman als den beiden Formen, genauer: den »beiden Objektivationen« der »großen Epik« spricht (TR 47), sie also doch auf ein zugrundeliegendes, beiden gemeinsames Formprinzip zurückzuführen sucht. Epos und Roman werden mithin auf einer Ebene, die tiefer ansetzt als die des phänomenalen Befunds, wieder aufeinander bezogen, ja miteinander identifiziert. Für jenes gemeinsame Substrat, das Epos und Roman über den geschichtsphilosophischen Hiat hinweg assoziiert, setzt Lukács an anderer Stelle - dies wird noch genauer zu erläutern sein den Begriff der »gestaltenden Gesinnung« (TR 47), die als inhärente Tendenz des Genres auch die epische Form der Moderne dem Imperativ der Totalität unterstelle. Einen weiteren Hinweis auf die hier interessierende latente Kontinuitätsfigur gibt ein Selbstkommentar des Verfassers, eine Stelle aus dem Vorwort zur Neuausgabe der Romantheorie von 1962: »Der Verfasser der >Theorie des RomansTragödie der Kultur< einer der Logik des Kulturprozesses selbst inhärenten Paradoxie, die das Lukácssche Bild der Moderne als einer »Welt der Gebilde«, einer subjektfremden »zweiten Natur« in seinen Grundzügen bestimmt. Die Moderne, jene »Welt der Prosa« (TR 11) und der »Konvention« (TR 53), stellt sich Lukács dar im Zeichen einer problematischen Disjunktion von Innerlichkeit und gesellschaftlichem Außen, von >Seele< und >Kulturgeistigen< Gebilde, die einem eigenlogischen Prozeß folgen, haben den Bezug zur Entwicklung der Subjekte verloren und lassen sich mit deren Bedürfnissen nicht mehr zur Deckung bringen. In ihrer Eigengesetzlichkeit und ihrer Übermacht bilden die objektivierten Kulturformen eine >zweite NaturInnerlichkeit< unvermittelt und 20
Vgl. Hegel, Ästhetik, Bd. 3, S. 336: »Um der Objektivität des Ganzen willen muß nun aber der Dichter als Subjekt gegen seinen Gegenstand zurücktreten und in demselben verschwinden. [...] Das Subjektive der Produktion [muß] ganz ebenso in den Hintergrund gestellt sein, als sich der Dichter selbst vollständig in die Welt versenkt, die er vor unseren Augen entfaltet.«
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3. Kapitel
fremd gegenübersteht: »Sie [i.e. die Welt der Gebilde] ist eine zweite Natur, wie die erste nur als der Inbegriff von erkannten, sinnesfremden Notwendigkeiten bestimmbar und deshalb in ihrer wirklichen Substanz unerfaßbar und unerkennbar« (TR 53). In den hier anklingenden kulturkritischen Topoi scheint das Problem der geschichtsphilosophischen Negativität der Moderne und damit das des kulturgeschichtlichen Epochengegensatzes eine äußerste Zuspitzung zu erfahren und eine aporetische Konstellation anzuzeigen, die sich nicht mehr ohne weiteres in einer dialektischen Figur der >Vermittlung< aufheben läßt. Auch nach der Durchsicht der relevanten Vorlagen und Bezugspunkte der Tradition bleibt somit für die »Theorie des Romans« das Problem eines aporetischen Ansatzes: Wie läßt sich die Vorstellung einer antithetischen Epochenabfolge mit der Idee genetischer Entwicklung und Kontinuität zusammendenken? Wie kann der Roman - als spezifisch modernes Genre - den Bezug zu einem Konzept griechisch-antiker Ganzheit und Einheit herstellen? Im folgenden geht es um die logisch-diskursiven und argumentativen Mittel, die die »Theorie des Romans« aufbietet, um die sich hier abzeichnende Diskrepanz zu beheben. Insgesamt lassen sich drei Strategien unterscheiden, die als mögliche Wege der Paradoxieauflösung erprobt werden: 1. die Verschiebung der Totalitätsidee von einem konstitutiven zu einem regulativen Begriff, 2. der Rekurs auf das frühromantische Konzept der Ironie, das Lukács als eine Form der Mediatisierung der in der Moderne getrennten Welten von Subjekt und Objekt interpretiert und 3. die Aufnahme des Bergsonschen Konzepts der durée (des anhaltenden Lebensstroms) und dessen Deutung als ein der ästhetischen Situation der Moderne angemessenes Formprinzip des Romans. Die folgenden Ausführungen versuchen, diese Verfahrensweisen der Entparadoxierung genauer zu untersuchen und zu ermitteln, wie Lukács mit dem seinem Ansatz inhärenten Spannungsverhältnis von Geschichtsphilosophie und genetisch-genealogischem Prinzip umgeht bzw. inwieweit ihm eine Auflösung jenes Gegensatzes gelingt. I. Um die gesuchte Verbindung zwischen antikem Epos und modernem Roman herzustellen, nimmt die »Theorie des Romans« eine folgenreiche Reformulierung und semantische Verschiebung vor, die den kategorialen Status des Totalitätsbegriffs betrifft. Zu Beginn der Romantheorie warnt Lukács - im Blick auf eine prominente (europäische) Tradition der Antikerezeption - davor, den frühgriechischen »Formen eine Beziehung zu unserem Weltalter« zuzudichten (TR 23). Genau dies ist jedoch die übergreifende Strategie seiner Argumentation. Zwar ist für den Roman nach Lukács' Darlegung das konstitutive Apriori der alten Epik, die »nur hinzunehmende Totalität« des Seins (TR 30) irreversibel verloren, aber der Leitgedanke der Totalität bleibt, so fordert Lukács, auf einer vom geschichtlichen Wandel nicht betroffenen Ebene der (mit sich
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identisch bleibenden) Gesinnung auch für die Moderne erhalten. Lukács beschreibt den Wechsel vom Epos zum Roman als Übergang von einem ontologisch fundierten Totalitätsbegriff der älteren Epik zu einem Subjekt- bzw. transzendentallogischen Totalitätskonzept, das er als »gestaltende Gesinnung« (TR 47) bzw. als »Gesinnung zur hinnehmenden Objektivität« (TR 64) definiert: »Das gattungsschaffende Prinzip [...], das hier gemeint ist, fordert keinen Wandel der Gesinnung; es nötigt vielmehr dieselbe Gesinnung, sich auf ein neues, vom alten wesensverschiedenes Ziel zu richten« (TR 31). Bedeutete Totalität für die Antike die einfache substanzielle Gegebenheit des Seins, wird sie in der Moderne zum nurmehr subjektiv einklagbaren Postulat. Aus dem ursprünglich konstitutiven Totalitätskonzept wird, folgt man der Lukácsschen Argumentation, eine im Kantischen Sinne regulative Idee; der gegebenen Totalität des Epos korrespondiert die >aufgegebene< Totalität des Romans: »Die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität, der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen« (TR 51). Die Grundidee dieser Argumentation leuchtet ein: Es geht darum, der geschichtsphilosophischen Disjunktion ein fundamentaleres Prinzip von Identität vorzuordnen und so einen genetischen Nexus von Epos und Roman zu konstruieren, der es erlaubt und legitimiert, beide dem umfassenden Gattungskonzept einer »großen Epik« (TR 47) zu subsumieren. Die scheinbare Leichtigkeit und Eleganz, mit der die »Theorie des Romans« diesen Zusammenhang ausführt, darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier eine entscheidende Verschiebung in der Semantik des Totalitätsbegriffs vollzogen wird und daß >Totalität< im Falle des Romans etwas anderes meint als im Falle des Epos. Man darf, mit anderen Worten, nicht übersehen, daß die Romanpoetik hier einen Wechsel auf eine qualitativ andere Ebene vornimmt, nämlich von der Ebene der ontologischen Analyse geschichtsphilosophischer Ordnungen des Seins auf die einer Analyse des Bewußtseins und des (subjektiven) Wollens wechselt. 21 Es dürfte zumindest fraglich sein, ob einem in seiner Semantik so einschneidend veränderten Totalitätskonzept noch zugemutet werden kann, die gesuchte Einheit und verborgene Kontinuität der Gattungstradition zu ermöglichen. Auch unter romanpoetologischem Gesichtspunkt wären hier gegenüber dem Lukácsschen Vorgehen Bedenken anzumelden. Eher als klassisch-antike Ganzheit ließe sich wohl von einem zeitgemäßen Roman erwarten, daß er der Partikularität und der geschichtsphilosophischen Negativität der Moderne in spezifischer Weise Rechnung trüge (also den Verzicht auf die geschlossene Form zu seinem Prinzip machte). 22 Lukács reicht indessen eine solche, nur negative Bestimmung der Romanform im Zeichen moderner Partikularität nicht aus: Der Roman, der dem ge21
22
Zu Recht bezeichnet W. Michel den Totalitätsgedanken als ein »ethisches Apriori« der Romanform. Siehe W. Michel, Ästhetischer Marxismus, Bd. Π, S. 143. Zur Kritik an Lukács' »notorischem Klassizismus« vgl. auch Rolf Peter Janz, Zur Historizität und Aktualität der »Theorie des Romans« von Georg Lukács, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 22, 1978, S. 674-699, hier S. 695.
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schichtsphilosophischen Ansatz zufolge im Grunde nur in radikaler Differenz zum Epos (und den anderen antiken Gattungen) zu definieren wäre, soll dennoch an einem Standard klassischer Perfektion und Ganzheit gemessen werden, der am Vorbild des antiken Epos abgelesen ist. Es ist offensichtlich, daß der hier vollzogene Übergang von Epos zu Roman, von >gegebener< zu a u f gegebenen Totalität, einen Umschwung erfordert, der eine völlige Umkehr, gewissermaßen eine Drehung um 180 Grad bedeutet. Die hier in Anspruch genommene argumentative Figur ist die eines unvermittelten Umschlags von der fehlenden Totalität des Romans in die erfüllte Totalität des Epos. Lukács appeliert - und hier argumentiert er auf der Linie einer prominenten philosophiegeschichtlichen Tradition, in der auch Kierkegaard steht - an eine Logik des Extrems, die gerade den äußersten Totalitäts- bzw. Identitätsverlust als Bedingung der Möglichkeit einer neuen Einheit und ganzheit begreift: »Alle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt, müssen in die Gestaltung einbezogen und können und sollen nicht mit Mitteln der Komposition verdeckt werden. [...] Die formgeforderte Immanenz des Sinnes entsteht gerade aus dem rücksichtslosen Aufdecken ihrer Abwesenheit« (TR 51, 62). In der Konsequenz dieser Dialektik des Extrems liegt es auch, daß die >Dissonanz< geradezu zur Bedingung und Grundlage einer gelingenden Totalität wird: »Das Formschaffen ist die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz, die zu denken ist« (TR 61-62). Die différentielle Struktur des Romans, seine Distanz zur immanenten Vollendung epischer Totalität, verschärft sich in dieser Optik zur absoluten Differenz, die keine vermittelnden Übergänge und graduellen Approximationen mehr zuläßt. Sofern die Abrundung der Romanform überhaupt gelingen kann, ist dies nur vorstellbar als ein im Kierkegaardschen Sinne radikales Paradox, als ein unvermitteltes Umschlagen von >Sinnlosigkeit< in >Sinnaufheben< läßt, kann dies nur via negationis absolutae geschehen, über die Figur eines mystischen Augenblicks des Umschlagens der Extreme in ihren vollkommenen, absoluten Gegensatz. Ob auf diese Weise die von Lukács geforderte (positive) Haltung der >Bejahung< und Bestätigung des Daseins< erreicht werden kann, bleibt äußerst ungewiß. II. Aus den vorangehenden Ausführungen wurde deutlich, daß der Rekurs auf ein ethisch bestimmtes Prinzip, auf einen >Willen zur Objektivität, offenbar nicht
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hinreicht, um die Eigentümlichkeit des Romans als eine eigenständige, geschichtsphilosophisch neue, aber doch qua historisch-genetischem Konnex noch mit der Tradition des Epos liierte Form zu erklären. Die romantheoretische Abhandlung erkundet indessen noch einen anderen Weg, der aus der aporetischen Grundkonstellation herausführen könnte. Die Möglichkeit eines Auswegs aus der Aporie erblickt Lukács in der Selbstreflexion des Romans, in einem immanenten Vollzug, in dem der Roman seine Selbstreferenz entfaltet und seine Identität bzw. die des Genres problematisiert. In bewußter Anlehnung an die frühromantische Tradition bezeichnet Lukács diese Figur der Reflexion als Ironie: »Die Selbsterkenntnis und damit die Selbstaufhebung der Subjektivität wurde von den ersten Theoretikern des Romans, den Ästhetikern der Frühromantik, Ironie genannt« (TR 64). Inwieweit bei diesem Modus von Reflexion von >Erkenntnis< bzw. >Selbsterkenntnis< die Rede sein kann, ist allerdings im Kontext der »Theorie des Romans« zunächst eine offene Frage. Ironie bezeichnet j a im Zusammenhang der Lukácsschen Argumentation den besonderen Gestaltungsmodus, den die Analyse des Formproblems des Romans im Roman selbst annimmt. Im Vollzug der Ironie reflektiert der Roman die Einheit der Form als Problem, d.h. er sucht dem Umstand Rechnung zu tragen, daß jene Gattungsidentität nicht in einer substantiellen, im Sein ruhenden Gegebenheit besteht, sondern vom Unterschied aus, von der Differenz zum Epos her, gedacht werden muß. Der Roman - als ein transzendental ortloses Genre - definiert sich im wesentlichen über das, was er nicht mehr sein kann bzw. noch nicht ist: fraglose Kongruenz von Subjekt und Objektivität, Zusammenstimmen von innerem Handeln der Figuren und welthaftem Außen des fiktiven Romangeschehens. Der Roman kann sich somit in seiner disjunktiven Verfaßtheit nur via negationis bestimmen: in Abgrenzung von der naturhaften Organik des Epos. Er muß sich in der romanimmanenten Reflexion mit dieser differentiellen und paradoxalen Begründungsfigur seiner Gattungsidentität auseinandersetzen - d.h. die Ironie des Romans bedeutet letztlich ein Verfahren der Paradoxieauflösung und reflexion. Lukács versucht diese Auflösung der Paradoxie durch ein Verfahren der Verdopplung des zunächst nur negativ, als defizienten Modus epischer Objektiviät definierten subjektiven Grundzugs der Romanform, durch dessen Aufspaltung in eine negative und eine positive Variante von >SubjektivitätTotalität< extrahieren läßt, denn dazu müßte die Praxis der Romanreflexion den für sie konstitutiven Problembezug aufgeben und statt problemorientiert teleologisch-zielorientiert verfahren. Die Ironie führt indes nur in eine immer differenziertere und subtilere Analyse der Aporien der Romanform, »die durch die Struktur ihrer Gegebenheit zur größten Kompliziertheit verurteilt ist« (TR 73). Auch die Erörterung und Analyse des Ironiekonzepts stößt somit in letzter Instanz auf eine Paradoxie, nämlich auf das Paradox des Wissens eines unaufhebbaren Nichtwissens. III. Da der ironische Habitus und Selbstbezug des Romans die Paradoxiereflexion nur auf Dauer stellt, ohne die paradigmatische Unvollendetheit der Form in ein Ganzes überführen zu können, bleibt für die »Theorie des Romans« die Frage nach der Möglichkeit einer Auflösung ihrer Aporie bestehen. Denn seinem formphilosophischen Ansatz entsprechend sucht Lukács über die rein negative, privative Definition des Romans hinauszugelangen: »Jede Form muß irgendwo positiv sein, um als Form Substanz zu bekommen« (TR 106). Das Drängen auf eine Positivierung des Formbegriffs und der Rekurs auf ein genetisches Erklärungsmuster greifen bei Lukács ineinander. Die Forderung, daß der Roman unter modernen Bedingungen eine Form eposhafter Totalität realisieren solle, ist durch ein genetisches Konzept motiviert: Lukács' Thema ist im Grunde die Geburt des Romans aus dem Geist des antiken Epos. Epische Totalität »als formendes Prius jeder Einzelerscheinung« (TR 26) des fiktiven Geschehens verweist zugleich auf den genealogischen Ursprung von Romangeschichte. Wie oben dargelegt, führen allerdings die bisher in die Diskussion eingebrachten Gesichtspunkte (Ethik, Ironie) noch nicht zum Nachweis jenes Totalitätsbezugs oder zu einer Auflösung der differentiellen Grundstruktur des Romans. Lukács versucht nun - in einem neuen Ansatz der
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Paradoxieauflösung - diese angestrebte Überwindung der Romanform im Rekurs auf ein Konzept zu leisten, das in eigentümlicher Weise Momente des Romans und solche des Epos miteinander verschränkt, das Zeitkonzept. Zeit stellt sich nämlich in einer Hinsicht dar als analysierbar in die Sequenz disparater Einzelmomente und partizipiert darin am >heterogen-diskreten< Charakter des Romans (vgl. TR 71 u. 73), während sie unter einem anderen Gesichtspunkt, dem der Dauer, auf die Vorstellung eines kontinuierlichen Fließens verweist und darin der »Homogenität« des Epos affin ist.24 Diesen beiden verschiedenen Aspekten, die das Zeitproblem in die Romananalyse einbringt, entspricht eine eigentümliche Zweiseitigkeit der Zeit hinsichtlich ihrer Rolle und Funktion innerhalb der Romanstruktur. Auf den ersten Blick erscheint sie als ein ausschließlich negatives Moment, das den Formgegensatz von innerer und äußerer Welt nur verschärft und so die différentielle Verfaßtheit des Genres umso deutlicher hervortreten läßt: »Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist die Zeit: Der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-nicht-bewähren-Können der Subjektivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampfe gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem träg-stetigen Ablauf nicht standhalten kann« (TR 107). Der formbestimmende Gegensatz von Innerlichkeit und >Welt< wird, mit anderen Worten, erst im Medium der Zeitlichkeit in voller Schärfe manifest; die Zeit selbst wird für Lukács zum Inbegriff der Negativität moderner Kultur und zum prägnanten Symbol der NichtIdentität von subjektiver und objektiver Welt: »Man kann fast sagen: die ganze innere Handlung des Romans ist nichts als ein Kampf gegen die Macht der Zeit« (TR 109). Die konstitutive Funktion der Zeit (und der Zeitlichkeit) gilt Lukács insofern als ein spezifisches Merkmal der Romanform und als ein Symptom des Fehlens eines transzendentalen Apriori der Form: »Die Zeit kann erst dann konstitutiv werden, wenn die Verbundenheit mit der transzendentalen Heimat aufgehört hat. [...] Nur im Roman, dessen Stoff das Suchenmüssen und das Nicht-finden-Können des Wesens ausmacht, ist die Zeit mit der Form mitgesetzt« (TR 108). Diese negative Akzentuierung der Semantik des Zeitbegriffs ist indessen nur die eine Seite der Lukácsschen Interpretation; ihr steht auf der anderen Seite - in genauer Umkehrung ihrer Funktion als »depravierender« Instanz (TR 109) - eine positive Wertung der Zeitdimension gegenüber, die durch eine Verschränkung des Zeitkonzepts mit dem Lebensbegriff gewonnen wird. Diese Wende der Argumentation und die Aufwertung des Zeitfaktors erfordert jedoch zunächst eine Abgrenzung der im Modus der Bergsonschen durée erscheinenden romanhaften Zeit von der mechanistischen Zeitauffassung der Naturwissenschaften einerseits, der mythischen Zeit der Homerischen Epen andererseits.
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Die Doppelheit des Zeitkonzepts in Lukács' Romananalyse betont auch Rolf Peter Janz, Historizität und Aktualität, S. 690-695.
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Lukács bemerkt zunächst, daß die Zeit als Dauer, als Vergänglichkeit, im Epos nicht vorkomme; das epische Geschehen sei vielmehr an einem mythischen Ort jenseits der Zeit und Geschichtlichkeit angesiedelt: »Die Epopöe kennt allerdings scheinbar die Dauer der Zeit, man denke nur an die zehn Jahre der Lias und an die der Odyssee. Doch diese Zeit hat ebensowenig eine Realität, eine wirkliche Dauer, die Menschen und die Schicksale bleiben von ihr unberührt «(TR 107). Im Medium des Epos, so meint Lukács, finde eine signifikante Stillstellung und Neutralisierung des Zeitaspekts statt. Die Zeit erscheine dort nicht als eine eigene, unabhängige Dimension, sondern werde als ein Moment im Charakter des Helden behandelt: »Die Helden erleben die Zeit innerhalb der Dichtung nicht, an ihre [...] Unveränderlichkeit reicht die Zeit nicht heran; ihr Alter haben sie in ihren Charakter aufgenommen, und Nestor ist alt, so wie Helena schön und Aganemnon mächtig ist« (TR 108). Nichts läßt die geschichtslose Statik des epischen Zustands deutlicher hervortreten als diese Reduktion des Zeitmoments auf eine Eigenschaft, ein Attribut der handelnden Figur. Anders als der Roman genießt das Epos »die selige Zeitentriicktheit der Götterwelt« (TR 108). Die Zeit des Romans ist jedoch nicht nur in negativer Akzentuierung der mythischen Zeitenthobenheit des Epos diametral entgegengesetzt, sondern kontrastiert, ins Positive gewendet, ebenso einer reinen Mechanik des Ablaufs der Zeitmomente. Denn im Sinne der Bergsonschen Idee der durée interpretiert Lukács die romanhafte Zeit zugleich als Inbegriff der »Fülle des Lebens« (TR 109). Der Roman, so die gattungspoetologische These, sei einzigartig darin, daß unter allen literarischen Formen nur er - als »die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit der Idee« - »Bergsons durée in die Reihe seiner konstitutiven Prinzipien« aufnehme (TR 107). Lukács Analyse der Zeitdimension des Romans partizipiert hier an der eigentümlichen Faszination, die das Lebenskonzept als »einziger« noch verfügbarer Totalitätsbegriff in einer modernen, nachidealistischen Konstellation des Denkens und Schreibens ausübt. 25 Schon Simmel begrüßte die Bergsonsche Idee der durée, des kontinuierlichen Zeit- und Lebensstroms, als mögliches Basiskonzept einer neuen Philosophie, schien sich doch in ihr als einem Grundbegriff, der »schlechthin selbstverständlich, keiner Fundierung bedürftig und fähig ist«, jene transzendentale Letztfigur anzubieten, die - auf einer ganz anderen Ebene - die funktionale Stelle des Substanzbegriffs der klassischen Ontologie ersetzen könne. 26 Diese Umbesetzung bedeutet indessen eine völlige Umkehrung des alten metaphysischen Seinsbegriff: An die Stelle der Idee einer »schlechthin festen, granitnen Ewigkeit des Seins« (ebd., S. 127) tritt die Vorstellung einer »stetigen Strömung, in der es überhaupt keine festen, bestimmt begrenzbaren Zustände gibt« (ebd., S. 129). Im Kontext dieser Überlegungen läßt sich leicht 25
26
Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt 1983, S. 23. Georg Simmel, Bergson, in: Zur Philosophie der Kunst, hg. Gertrud Simmel, Potsdam, 1922, S. 126-145, hier S. 126-127.
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nachvollziehen, wie Lukács im Zuge seiner Analyse zu einer positiven Wendung des Zeitaspekts im Rahmen der Romanstruktur gelangt. Gegen den bloßen Mechanismus des Zeitablaufs, gegen die subjektfeindliche, gleichsam materiale Schwere der Zeit, setzt Lukács mit Bergson die Vorstellung der Zeit als eines tragenden Stroms und einer stimulierenden Antriebskraft, die die Negativität der Romanwelt in die »Positivität und bejahende Energie einer geleisteten Form« aufhebe (TR 111). Die »Theorie des Romans« vollzieht diesen Schritt der Umdeutung des Zeitbegriffs von einer negativen in eine positive Kraft gleichsam wie selbstverständlich und scheinbar ohne Schwierigkeiten. Von der Logik der Zeitanalyse her gesehen, leuchtet es indessen keineswegs unmittelbar ein, daß der positive, die Gegensätze ausgleichende Aspekt von Zeit im Roman das Übergewicht gewinnt gegenüber der Zeit als negativ-destruktiver Energie.27 Lukács' Vorstellung der Zeit als Dauer scheint hier selbst die Züge eines mythischen, auf logisch-diskursivem Wege nicht begründbaren Einheitskonzepts anzunehmen. Die besondere, hervorgehobene Rolle des Zeitkonzepts in der Lukácsschen Romanpoetik legt die Vermutung nahe, daß die Idee der durée hier eine Entsprechung, eine Art funktionales Äquivalent darstellt zu der Vorstellung einer organischen Entwicklung als Grundfigur genetischen Denkens. Einen Anhaltspunkt für diese These bietet die eigentümliche Figur eines Transzendierens der Moderne, die Lukács der Zeitwahrnehmung im Modus der durée zuschreibt. Die Erfahrung der durée bedeutet als Zeiterlebnis zugleich »Überwindung der Zeit« (TR 110) und eröffnet so die Möglichkeit einer Rückkehr zum Ursprung, zum Epos. Obgleich die augenblickshafte Struktur der Zeitwahrnehmung notwendig Partialität impliziert, kann, so meint Lukács, im erinnernden Rückgriff auf Vergangenheit und im antizipierenden Vorgriff auf Zukunft dennoch eine Form von Ganzheit, ein Ausblick auf Totalität, gewonnen werden. Lukács knüpft somit in der Analyse der Zeitstruktur der »Education Sentimentale« an die einführende geschichtsphilosophische Explikation der Welt des Epos wieder an. Die Idee einer funktionalen Entsprechung von durée und genetischer Figur ließe sich auch durch eine weitsichtige Bemerkung aus Paul de Mans Interpretation der »Theorie des Romans« stützen. Das Zeitkonzept, das Lukács in der Interpretation der »Education sentimentale« entwickelt, fungiere, so de Man, gewissermaßen als ein Substitut für die Organismusidee, für jenes Konzept also, das für Lukács' Auffassung des Epos und des geschichtsphilosophischen Urzustands maßgebend ist:28
27
28
Auch Lukács' formphilosophische Erläuterung jener eigentümlichen Verschiebung in der Semantik des Zeitkonzepts ist mehr apodiktische Forderung als begründung: »Die Form kann ein Lebensprinzip nur dann wirklich verneinen, wenn sie es apriorisch aus ihrem Bereich auszuschließen vermag, muß sie es in sich aufnehmen, so ist es für sie positiv geworden« (TR 109). Paul de Man, Georg Lukács' Theory of the Novel, S. 58.
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It seems that the organicism which Lukács had eliminated from the novel when he made irony its guiding structural principle, has reentered the picture in the guise of time. Time in this essay acts as a substitute for the organic continuity which Lukács seems to be unable to do without.
Die Vorstellung der Zeit als Dauer, die Idee der organischen Verfaßtheit der epischen Welt und das Konzept einer genetisch-genealogischen Kontinuität des Geschichtsverlaufs sind, so scheint es, aufs engste miteinander verknüpft. Die Vorstellung eines kontinuierlichen Wachsens der Zeit wie die einer ursprünglichen Organizität des Epos deuten, so de Man, auf jenes Schema eines kontinuierlichen entstehungsgeschichtlichen Verlaufs, das unausgesprochen den Duktus der geschichtsphilosophischen Abhandlung bestimme: »Such a linear conception of time had in fact been present throughout the essay. Hence the necessity of narrating the development of the novel as a continuous event, as the fallen form of the archetypal Greek epic«. 29 Denkt man den von de Man nur flüchtig berührten Problemzusammenhang weiter, so verwundert es nicht, daß in Lukács' Reinterpretation der Bergsonschen durée Aspekte einer genetischen Verlaufsform aufgenommen werden. So verweist das Bergsonsche Theorem der unumkehrbaren Gerichtetheit des Lebensstroms in Lukács' Deutung auf die Vorstellung einer immanenten Teleologie, die an den maßgebenden Koordinaten von Ursprung und Ziel orientiert ist: »Es bleibt ein [...] Gefühl lebendig: dies alles muß von irgendwoher kommen und es muß nach irgendwohin gehen; mag die Richtung auch keinen Sinn verraten, immerhin ist es eine Richtung« (TR 110). Die Zeit als Dauer wird darüber hinaus vorrangig in den (aus dem genetischen Diskurs vertrauten) Kategorien der Entwicklung und des organischen Wachstums beschrieben. Der bestimmende Modus der durée ist der eines spontanen, eigendynamischen Wachsens; in dieser Form des Zeiterlebens erfahre das Subjekt »die organische Einheit seines ganzen Lebens als das Gewachsensein seiner lebendigen Gegenwart aus dem in der Erinnerung zusammengedrängten, vergangenen Lebensstrome« (TR 114). Der einheitsstiftende Nexus von Gegenwart und Vergangenheit, den die zitierte Stelle ausführt, gibt zu erkennen, daß hier eine genetische Argumentationstechnik zugrunde liegt. Die hier angesprochene Parallele bzw. der Zusammenhang von genetischer Geschichtstheorie und der Konzeption der Zeitdauer läßt sich auch aus ihrem Bezug zur entwicklungslogischen Differenz von Identität und Anderssein (bzw. Nicht-Identität) entfalten. Georg Simmel hat diesen Zusammenhang scharfsinnig beobachtet. Das Besondere des durée-Konzepts besteht nämlich nach Simmeis Darlegung darin, daß es die Antinomie von Identität und Anderssein auflöst bzw. daß diese für jedes genetische Denken zentrale Differenz in das Kontinuum des Lebensstroms zurückgenommen wird und dort kollabiert: 10 »Der Gegensatz der Identität und des Andersseins verschwindet in der Kontinuität des Sichän29 10
Ebd., S. 58-59. Georg Simmel, Bergson, S. 137 u. 142.
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derns. [...] Dieses kontinuierliche Werden nennt Bergson die durée, denn nur im fortwährenden Anderswerden können Dinge dauern«. Die hier entfaltete Konzeption der Dauer bietet gewissermaßen eine Antwort auf das Grundproblem des Genetischen, denn sie hebt die leitende Unterscheidung dieses Ansatzes, die von Identität und Nicht-Identität, auf: Im Lebensstrom als einem »ununterbrochenen, fließenden Schaffen von Neuem« lassen sich keine stabilen Eigenzustände des Geschehens mehr diskriminieren. Und doch lassen sich Zweifel anmelden an der Tragfähigkeit dieser lebensphilosophischen Lösung des Grundproblems genetischer Argumentation. Vor allem wäre zu fragen, ob die von der lebensphilosophischen Tradition angebotene Lösungsformel ausreicht, um den Verlust des (übergreifenden) geschichtstheoretischen Zusammenhangs zu ersetzen oder zu beheben. Zwar gelingt der zeit- und lebensphilosophischen Argumentation eine Aufhebung des aporetischen Gegensatzes von Identität und Veränderung zugunsten des letzteren, nämlich permanenten, auf Dauer gestellten Wandels. Doch den Zugriff auf das Zeitphänomen des unablässigen Werdens eröffnet nur ein mystischer Augenblick der Versenkung und gesteigerten Wahrnehmung. Lukács sucht hier Anschluß an die traditionsreiche Figur eines authentischen Erlebens, einer emphatischen Erfahrung. Die Reflexionsfigur der durée kommt ohne den privilegierten Augenblick einer nur momenthaft und intuitiv vollziehbaren Auflösung des Widerspruchs nicht aus. Lukács hat diese seinem Verfahren inhärente Grenze offenbar selbst zu bemerkt, gesteht er doch zu, daß die betreffenden Erlebnisse »zur Subjektivität und zum Reflexivbleiben verurteilt sind« (TR 110). Die Restriktion, die sich hier auftut, liegt in der Konsequenz des bewußtseinstheoretischen Ansatzes, an dem Lukács noch festhält: Der Romantheoretiker versucht, sein Konzept der Zeit und der Zeitdauer aus der Heuristik der Selbstanalyse des romanhaften Subjekts zu gewinnen. So legitim diese Vorgehensweise für sich genommen ist, sie wird in dem Maße zum Problem, wie es Lukács darum geht, von dem rein subjektiven Moment einer bewußtseinsimmanenten Erfahrung auf ein Prinzip von »epischer Objektivität« (TR 111) hochzurechnen. Das »gestaltende Gefühl des Sinnerfassens« (TR 110), das Lukács als Garant und Statthalter der Möglichkeit von Ganzheit heranzieht, ist prekär - bleibt doch ungewiß, ob jenem >Gefühl< in der subjektjenseitigen Welt der Dinge überhaupt ein objektivierbares Korrelat entspricht. Die Figur der >ÜberwindungSeele< und >FormUrbildKern< und >Essenz< umschrieben wird. Es sei hier nur angemerkt, daß die Darlegungen zum epischen Zeitalter, was die Struktur ihrer sprachlichen
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Bilder und leitenden Begriffe betrifft, an einem Modell orientiert sind, das dem klassisch-aristotelischen Konzept der Metapher als Figur der Übertragung und der wesensmäßigen Affinität entspricht: Die Verbindung zwischen dem metaphorischen Ausdruck und dem, was er bezeichnen soll, wird durch die Annahme einer tiefer liegenden bedeutungstragenden Ebene gedeckt: »Denn was ist die Aufgabe der wahren Philosophie, [·•·] wenn nicht die Bestimmung des Zugeordnetseins jeder aus dem tiefsten Innern quellenden Regung zu einer ihr unbekannten, ihr aber von Ewigkeit her zugemessenen, sie in erlösender Symbolik einhüllenden Form?« (TR 21-22) Was die Rhetorik des Authentischen und des substanziellen Gegebenseins betrifft, sind im Rahmen der einleitenden Beschreibung der Welt des Epos noch spezifische Techniken der Emphase zu berücksichtigen, die die Besonderheit und Einzigartigkeit des Homerischen Ursprungs hervorzuheben suchen. Als rhetorische Verfahrensweisen dienen dabei vor allem die Figuren der Steigerung (gradatio) und des Superlativs. Die konkrete Ausarbeitung und Durchführung des eingangs gesetzten geschichtsphilosophischen Themas folgt einem Schema der Steigerung und der schrittweisen Vertiefung, das die Distanz und Differenz zur Moderne mit zunehmender Deutlichkeit sichtbar werden läßt. So steigert sich das anfangs genannte Motiv der Grenze im Zuge der Darlegung zur Metapher des unüberwindbaren Abgrunds (TR 26), und die kryptische Formel des »rätselvollen, aber enthüllbaren Zeichens« (TR 22) wird an späterer Stelle zum metaphysischen Bild des »in ewigen Hieroglyphen niedergelegten [Sinns]« (TR 27). Als charakteristische Formel jener Welt steht »das Unnahbare und Unerreichbare Homers«, »seine von uns aus undenkbare Vollendung und unüberbrückbare Fremdheit zu uns« (TR 22). Den Zustand des Epischen benennen die superlativischen Begriffe der »Größe«, »Vollendung« und »Ganzheit« (TR 22). Mit der hier erkennbaren Rhetorik der Steigerung und des nicht mehr zu überbietenden Höhepunkts verbindet sich ein spezifischer Distanzierungseffekt, der für die übergreifende rhetorische Strategie der Abhandlung von zentraler Bedeutung ist: Das Konzept des Epischen rückt - als das der Moderne schlechthin Unvergleichbare - in eine mythische, vorbegriffliche Sphäre. Als nicht mehr zu erreichender Gipfelpunkt stellt jene Einheit und Ganzheit der Homerischen Kultur zugleich eine irreversibel verlorene dar: »Das eigenst Griechische des topos noetos ist für immer versunken« (TR 28). Der Geste des Ursprünglichen und des substanziellen Gegebenseins, die die Darstellung der Antike charakterisiert, entspricht auf Seiten der Moderne eine Rhetorik des Abstands und der konstitutiven Distanz, die den Bereich des Romans als das von der antiken Grundsituation unwiderruflich Getrennte und Unterschiedene vorstellt. Die Moderne, so der Grundton der betreffenden Ausführungen, bilde eine »Welt des Abstands« (TR 50), des »Auseinanderklaffens von Seele und Abenteuer« (TR 77), in der »die Unterschiede zwischen den Menschen zur unüberwindbaren Kluft geworden sind« (TR 57). Zur Rhetorik der Distanz und Differenz gehört auch die Gebärde des Suchens,
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die Lukács geradezu als repräsentatives Emblem der modernen, romanhaften Situation der »Richtunglosigkeit« und des Getrenntseins vom Ursprung begreift. Waren die Darlegungen zum epischen Zeitalter in stilistischer Hinsicht durch einen Grundton der Sicherheit und der erzählerischen Souveränität charakterisiert, so steht dem auf Seiten der Moderne ein eigentümliches Pathos der Unfertigkeit und des notwendigen Werdens gegenüber: »So erscheint der Roman im Gegensatz zu dem in der fertigen Form ruhenden Sein anderer Gattungen als etwas Werdendes, als ein Prozeß« (TR 62). Als vorherrschendes Kennzeichen der Semantik und sprachlichen Darstellung des hier erörterten Modernebilds erweist sich ein eigentümlicher Gestus der Anstrengung und der Gefährdung. So bezeichnet der Roman im Kontext des Systems literarischer Gattungen »die künstlerisch am meisten gefährdete Form« (TR 62), seine Grundstruktur ist die eines vergeblichen Kampfes, eine Konstellation des »Nichteindringen-Könnens der Ideen in das Innere der Wirklichkeit« (TR 69). Der »inneren Gesichertheit der epischen Welt« (TR 78) steht auf seiten des Romans allenfalls eine »erkämpfte Leichtigkeit«, ein »verzweifelt errungener Ausgleich [...] von einander aufhebenden Reflexionen« (TR 74) gegenüber. Der vorherrschende Modus des Romans ist der der vergeblichen Anstrengung und des Kampfes. Der Grundtenor der Darlegungen zum Epos verweist hingegen auf eine »Atmosphäre des Gesichertseis«, die in der (anthropomorphen) Metapher der göttlichen Führung auf ihren konkreten Begriff gebracht wird: »Die Helden der Jugend werden auf ihren Wegen von den Göttern geleitet: [...] niemals gehen sie allein, sie sind immer geführt« (TR 75). Blickt man auf die oben dargelegten sprachlich-stilistischen Beobachtungen zurück, so läßt sich der rhetorische Einsatz der »Theorie des Romans« der Ausgangspunkt der hier in den Blick genommenen Textbewegung - durch zwei komplementäre Gesichtspunkte charakterisieren. Auffallend ist zum einen eine Figur des Ursprünglichen und des immanenten Sinns, zum anderen eine Rhetorik des Gegensatzes und der geschichtsphilosophischen Antithese. Es kommt nun darauf an, diese Aspekte nicht als einzelne, isolierte Stilmerkmale zu betrachten, sondern sie in ihrem Zusammenwirken und ihrer wechselseitigen Komplementarität zu sehen. Sie bilden nämlich gewissermaßen nur die beiden Seiten ein und derselben rhetorischen Strategie. So wie die Rhetorik des Authentischen und Ursprünglichen sich überhaupt erst vor der Folie des geschichtsphilosophischen Gegensatzes entfalten kann, so bezieht das geschichtsphilosophische Schema des Textes seine suggestive Wirkung erst aus jenem Pathos des ganzheitlichen, in sich ruhenden Sinns, von dem die Darstellung der Homerischen Welt getragen ist. Schon hier läßt sich indessen erkennen, daß jene eindrucksvolle rhetorische Geste, von der die Abhandlung ihren Ausgang nimmt, für sich genommen nicht ausreicht, um eine längere Darlegung oder eine komplexere Textstruktur aufzubauen. Die Figur der pointierten Antithese erweist sich ungeachtet ihrer rhetorischen Schlagkraft und stilistischen Prägnanz - als zu kurzatmig, um eine umfassendere Textbewegung anzuregen und in Gang zu
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halten. Auch die für die Darstellung des Homerischen kennzeichnende Geste der Abgeschlossenheit und der in sich ruhenden Perfektion ist in struktureller und schreibtechnischer Hinsicht prekär. Die rhetorische Bewegung des Textes kann nämlich bei jener einleitenden Setzung nicht stehen bleiben, sondern muß schon aus Gründen, die die sprachliche Form des Schreibens und Argumentierens betreffen, über jene wirkungsvolle Ausgangsfigur hinausgehen. Eine zentrale Schwierigkeit der »Theorie des Romans« besteht nämlich darin, daß die Abhandlung die antike Welt des Epos als ungeschiedene Einheit des Sinns konzipiert, jedoch ihrerseits Unterscheidungen treffen muß, wenn es darum geht, jenen Zustand zu beschreiben und zu erläutern. Schon die sprachlichen Formen des Beschreibens und Argumentierens bringen ja in Gestalt des logischen und zeitlichen Nacheinander der Einzelbeobachtungen ein différentielles Moment ins Spiel, das der Vorstellung eines als differenzlose Einheit gegebenen Sinnmoments im Grunde gegenläufig ist. Die »Theorie des Romans« muß innerhalb des antiken Urzustands selbst Unterscheidungen vornehmen, wenn sie über die Ausgangsthese, die Tautologie des mit sich selbst identischen Ursprungs, hinausgelangen will. Das Schema der statischen Perfektion ließe sich ja allenfalls in immer neuen Wendungen beschwören bzw. tautologisch bestätigen. Bereits die oben erörterten rhetorischen Figuren und Verfahrensweisen lassen die Tendenz erkennen, die in sich abgerundete Einheit des antiken Urzustands aufzulösen und eine différentielle Perspektive in dessen Beobachtung und Beschreibung einzuführen. So setzt etwa die genannte Rhetorik der Steigerung und Überbietung ein Schema der Gradation voraus, das verschiedene Abstufungen der Geschlossenheit und Perfektion zuläßt. Auch die konditionalen Satzkonstruktionen implizieren in Form der logischen und zeitlichen Abfolge der Teilsätze einen Aspekt der Differenz, der in die Definition des Homerischen Ursprungs als ein konstitutives Moment miteinzugehen scheint. Einen weiteren Hinweis auf eine Auflösung der Einheitsfigur des substantiell gegebenen Sinns bietet schließlich die rhetorische Technik der Negation bzw. der Antithese. Die ursprüngliche, im Zeichen des Epos stehende antike Kultur wird ja von vornherein vorwiegend aus ihrem kontradiktorischen Gegensatz heraus, nämlich aus der Perspektive des Verlusts von Einheit, beschrieben und definiert: »[Es gibt] noch keine Innerlichkeit, denn es gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele« (TR 22). »Der Grieche kennt nur Antworten, aber keine Fragen, nur Lösungen [...], aber keine Rätsel, nur Formen, aber kein Chaos« (TR 23). Im Verlauf der Darlegung - so die hier vertretene These - schleicht sich unmerklich ein différentielles Moment in die Rhetorik der Immanenz und der selbstgenügsamen Vollkommenheit ein, das die Vorstellung der geschichtsphilosophischen Sonderstellung und Einzigartigkeit der frühgriechischen Kultur letztlich zu unterlaufen droht. Diese Überlegung läßt sich durch weitere Beobachtungen stützen, die die spezifischen Formulierungen und sprachlichen Besonderheiten des Textes betreffen. Zu den Eigentümlichkeiten des
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Sprachgebrauchs der »Theorie des Romans« gehört es etwa, daß häufig substantivische Ausdrücke verwendet werden, die von Verben abgeleitet sind und semantisch auf Vorgänge bzw. auf spezifische Resultate von Vorgängen verweisen. Diesem Begriffstyp lassen sich z.B. folgende Formulierungen zuordnen: »das Abzeichnen sichtbar-ewiger Wesenheiten« (TR 24), »das Nochnicht-Heimgekehrt-Sein« (TR 25), »das Auf-die-Oberfläche-Treten« (TR 26), »das Klarwerden der Fragen« (TR 28), »das Erstaunen vor dem hell heranleuchtenden Sinn« (TR 41), »das restlose Gelingen des Immanentwerdens« (TR 38). Zu beachten ist, daß die hier zitierten Ausdrücke - vorwiegend Substantivierungen von Bewegungsverben und Verben, die psychische Zustände betreffen - sämtlich als Charakterisierungen des eposhaften Kulturzustands intendiert sind. Ihr gemeinsamer semantischer Bezugspunkt liegt in einem Aspekt von Bewegung bzw. Prozessualität. In der Logik des geschichtsphilosophischen Schemas dürfte aber diese Bedeutungskomponente auf seiten der Homerischen Welt nicht vorkommen - Bewegung und Prozessualität sind vielmehr die geschichtsphilosophischen Kennzeichen der Moderne und des Romans. Dieser Aspekt der Prozessualisierung und Differenzierung der Semantik des eposhaften Urzustands läßt sich an einzelnen Stellen der Abhandlung exemplarisch nachvollziehen. »Totalität des Seins ist nur möglich«, heißt es an einer wichtigen Stelle, »wo die Formen kein Zwang sind, sondern nur das Bewußtwerden, nur das Auf-die -Oberfläche-Treten von allem, was im Innern des zu Formenden als unklare Sehnsucht geschlummert hat« (TR 26). Auf den ersten Blick scheint die zitierte Stelle ein Bild des harmonischen In-sichRuhens und der völligen Kongruenz von Innen und Außen zu zeichnen. Dennoch markieren die Stichworte des »Bewußtwerdens« und des »Auf-dieOberfläche-Tretens« einen Aspekt von Veränderung, der sich der Vorstellung der homogenen, zeitenthobenen Gegenwart des epischen Zustands nur schwer integrieren läßt. Bedeutet doch der hier angesprochene Prozeß des Bewußtwerdens unweigerlich eine Form des Abstands und der reflexiven Distanz. Der zitierte Vorgang des Bewußtwerdens, des Heraustretens aus der Latenz, läßt, mit anderen Worten, ein Moment der Differenz in die zeitentrückte Präsenz der Homerischen Welt eintreten, das - noch im Horizont des abgerundeten Kosmos der Antike - die Auflösung jener Einheitsfigur des spontan gegenwärtigen Sinns betreibt. Mit dem Einsatz der Reflexion ist der Modus der »spontanen Seinstotalität« (TR 30), der unmittelbaren Präsenz, bereits verlassen. Im Kontext der hier eingeführten prozessualen und differentiellen Gesichtspunkte verwundert es nicht, daß sich an anderer Stelle der Abhandlung die Homerische Kultur nicht mehr als mythische Ursprungsphase des Geschichtsprozesses darstellt, sondern ihrerseits als das Resultat komplexer kultureller Vorgänge erscheint: »Schon der vordichterische Prozeß einer mythologischen Umspannung allen Lebens hat das Sein von jeder trivialen Schwere gereinigt, und in den Versen Homers öffnen sich bloß die zum Aufblühen
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bereiten Knospen dieses Frühlings« (TR 49). Der harmonisierende Impuls der Pflanzenmetapher darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier bereits ein différentielles Moment der Veränderung anklingt, das die Möglichkeit des Verfalls impliziert und den Mechanismus des späteren, nachantiken Geschichtsprozesses in gewisser Hinsicht vorwegnimmt. Insgesamt bedeuten die oben skizzierten Gesichtspunkte von Bewegung, Zeitlichkeit, Veränderung und Prozessualität eine Distanzierung von der Ausgangsidee der differenzlosen Einheit, von der Vorstellung der epischen Welt als eines »in sich kompletten Kosmos« (TR 44). Für diese Figur der Bewegung und historischen Veränderung findet sich in der »Theorie des Romans« - noch im Kontext der Beschreibung der antiken Kultur - ein prägnantes Bild: »Der Held der Tragödie löst den lebenden Menschen Homers ab und erklärt und verklärt ihn gerade dadurch, das er seine erlöschende Fackel von ihm abnimmt und zu neuem Leuchten entzündet« (TR 28). Sicher akzentuiert die zitierte Geste der Fackelübergabe vordergründig den Aspekt der Kontinuität, den Zusammenhang der unterschiedlichen Erscheinungsformen der griechisch-antiken Kultur (Epos, Tragödie, Philosophie), doch das Bild des (allmählichen) Erlöschens der Fackel signalisiert zugleich ein Moment des Abstiegs und Verfalls. Durch die Verben der Bewegung und die Metaphern der Entwicklung und Veränderung führt Lukács somit einen Aspekt in die sprachliche Darstellung der antiken Kultur ein, der der anfänglichen Rhetorik des statischen, ganzheitlichen Sinns entgegengesetzt ist. Die hier erkennbare Tendenz der »Theorie des Romans«, von der einleitenden rhetorischen Geste des Textes wieder abzurücken und Distanz zu signalisieren, findet schließlich auch seinen Niederschlag auf der Ebene der expliziten Äußerungen des Textes, in der dort zu beobachtenden Klärung und Modifizierung der geschichtsphilosophischen Konzepte. Die »Theorie des Romans« beschreibt nämlich keineswegs, wie es auf den ersten Blick scheint, die antike Kultur konsequent als eine homogene, in sich einheitliche Sphäre, sondern nimmt innerhalb jener Frühphase des Geschichtsprozesses weitere Unterscheidungen und Untergliederungen vor: »Die Griechen durchlaufen in der Geschichte selbst alle Stadien, die den großen Formen apriori entsprechen [...]. In diesem Gang vollzieht sich das Entweichen der Substanz von der absoluten Lebensimmanenz Homers bis zur absoluten, aber greifbaren und ergreifbaren Transzendenz Piatons« (TR 27). Die Grundidee des zitierten Schemas wird unmittelbar deutlich: Auch die griechische Welt unterliegt, bei aller Suggestion ihrer »Homogenität« und »Einstoffigkeit«, dem historischen Wandel, ja sie steht bereits im Zeichen des Verfalls. Die Entwicklung von der immanenten Sinnhaftigkeit und Totalität des Epos zur spekulativen Systematik der griechischen Philosophie bezeichnet einen Weg der zunehmenden Abstraktion und der Distanzierung vom Modus eines unmittelbaren, authenti-
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sehen Wahrnehmens und Erlebens. 33 Der antike Kulturprozeß im ganzen stellt sich dar als ein fortschreitendes »Entweichen der Substanz« (TR 26), das die Auflösung des Essenzenkosmos und mithin den kulturgeschichtlichen Verfall präludiert. Es sei noch notiert, daß Lukács die sich hier abzeichnende Figur der historischen Degeneration im Bereich der antiken Welt noch aufzufangen sucht, indem er in der Metapher der Uhr einen geordneten Rhythmus, eine kalkulierbare Periodik der Veränderung und Entwicklung postuliert: Das Zusammenfallen von Geschichte und Geschichtsphilosophie hatte für Griechenland die Folge, daß jede Kunstart erst dann geboren ward, wenn auf der Sonnenuhr des Geistes abzulesen war, daß gerade ihre Stunde gekommen ist und jede mußte verschwinden, wenn die Urbilder ihres Seins nicht mehr am Horizonte standen. (TR 32)
Die Vorstellung einer prästabilierten Harmonie zwischen der Evolution ästhetischer Formen und dem Gang der Weltgeschichte, auf die die zitierte Stelle anspielt, darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Richtung des hier beschriebenen Kulturprozesses irreversibel festgelegt ist: Der entwicklungsgeschichtliche Trend deutet unaufhaltsam in Richtung des Verfalls. Aus den vorangehenden Darlegungen dürfte deutlich geworden sein, daß in die Rhetorik des Ursprünglichen und Besonderen, wie sie die »Theorie des Romans« entfaltet, eine Art immanenter Selbstkritik eingebaut ist, die die im Zeichen des Epos stehende antike Kultur aus ihrer geschichtsphilosophischen Sonderstellung herauslöst und so Antike und Moderne nicht mehr ausschließlich unter dem Aspekt eines strengen Gegensatzes erscheinen läßt. Die anfängliche Rhetorik des Ursprünglichen und der geschichtsphilosophischen Antithese wird im Zuge der weiteren Ausführungen einem differentiellen Mechanismus der Textexpansion unterzogen, der die einleitenden Metaphern der in sich ruhenden Einheit und der statischen Opposition in Bewegung bringt und schrittweise verschiebt. Die Verschiebungsprozedur, die hier wirksam wird, ist metonymischer Art. Dies läßt sich deutlich erkennen, wenn man die semantische Verschiebung und Veränderung genauer betrachtet, die die charakteristischen Metaphern und sprachlichen Formeln der einleitenden Abschnitte im Zuge der Abhandlung erfahren. Die Bilder und Motive, die die Lukácssche Beschreibung des antiken Ursprungs bestimmen, werden nämlich im weiteren Verlauf der Darlegung nicht völlig aufgegeben, sondern in einer spezifischen Weise abgewandelt und verschoben. Ein solcher Prozeß der semantischen Verschiebung und Metonymisierung der leitenden Metaphern des Textes läßt sich etwa an den Veränderungen und Wandlungen nachvollziehen, denen das zu Beginn der Abhandlung herausgestellte Kreismotiv unterliegt. Dieser Figur, die gewissermaßen den Inbegriff der in sich ruhenden Abgeschlossenheit und Vollkommenheit des griechischen Geistes bezeichnet, ent-
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Auf diesen Distanzierungs- und Differenzierungsprozeß verweist auch Peter U w e Hohendahl, Neoromantischer Antikapitalismus, S. 360.
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spricht die an späterer Stelle, in der Erörterung der Moderne, hervortretende räumlich-direktive Metapher des Wegs. Das im Kreismotiv angelegte Schema der Selbstreferenz und der immanenten Geschlossenheit erscheint in der Moderne verschoben zu »einem unendlichen Weg der niemals voll geleisteten Annäherung« (TR 25). Doch die Wegmetapher markiert noch nicht den Abschluß der hier analysierten Bildreihe, sondern erfährt vielmehr ihrerseits eine semantische Verschiebung: durch eine Projektion in die Tiefendimension wird sie zur metaphysischen Figur des unergründbaren Abgrunds. Vergleichbares gilt für die zu Beginn der Darlegung prominente Organismusmetapher: Aus dem Bild des gleichsam pflanzenhaften, organischen Wachstums, das das Strukturprinzip des Epos repräsentiert, wird an späterer Stelle - im Kontext der Danteschen »Commedia« - die architektonische Metapher einer umfassenden Hierarchie des Weltgebäudes (vgl. TR 60) und schließlich im Blick auf den Roman das Bild des Lebenslaufs als Modell und Leitfaden der Romangeschichte.34 Darüber hinaus läßt sich im Bereich der jeweils vorherrschenden Metaphorik der sinnlichen Wahrnehmung im Verlauf der Abhandlung eine auffallende Verschiebung beobachten: Während für die Homerische Welt das Sehen in Gestalt eines »wesenschaffenden Schauens« (TR 28) die prävalente Wahrnehmungsart darstellt, wird jene Grundfigur der Vision bereits bei Dante durch eine Privilegierung des Gehörs ersetzt. Richtungweisend für die »Commedia« sei die Musik, die »Harmonie der Sphären« (TR 30). Nun ist der hier erkennbare Vorgang der Verschiebung und Substitution, die Technik der metonymischen Reihenbildung, zunächst einmal als ein integraler Bestandteil und zugleich als ein sprachliches Indiz der geschichtsphilosophischen Semantik des Textes aufzufassen. Die Operation der Metonymisierung stellt gewissermaßen das textuelle und stilistische Korrelat jener einschneidenden Veränderung dar, durch die der kulturgeschichtliche Übergang von der Antike zur Moderne gekennzeichnet ist. Doch die hier relevante metonymische Technik rückt nicht nur die Metaphorik und Semantik des Modernekonzepts in eine spezifische Perspektive, sie wirkt vielmehr auch auf den Ausgangspunkt jenes geschichtsphilosophischen Wandels, auf das zu Anfang entworfene Bild des antiken Ursprungs, zurück. Vor der Folie des metonymischen Verfahrens zeigen sich nämlich auch die einleitend beschworenen Figuren des Ursprungs und der eposhaften Totalität in einem veränderten Licht und lassen einen bisher nicht bemerkten, verborgenen Aspekt ihrer Semantik sichtbar werden. Auch jene Symbole des Ursprünglichen und Vollkommenen - so gibt die genannte Verschiebungsprozedur zu erkennen stellen sprachlich-metaphorische Setzungen dar und unterliegen als solche prinzipiell der Veränderung und der möglichen Ersetzung durch andere Zeichen. Aus ihrem besonderen Status der isolierten Selbstgenügsamkeit und 34
Vgl. TR 71 : »Es ist wahr, daß die Entwicklung eines Menschen der Faden ist, auf den die ganze Welt aufgeknüpft und durch den sie abgerollt wird«.
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immanenten Bedeutsamkeit herausgelöst, erweisen sie sich nun als Anfang einer Kette der Substitutionen und Verschiebungen, die nicht weniger als eine vollständige Umstellung in der vorherrschenden Semantik des Textes bewirkt. Die genannte Technik der Verschiebung läßt sich somit als eine subtile Form des Sichtbarmachens des Kontingenten interpretieren. Der Umstand, daß eine Metapher wie z.B. die Kreisfigur verschoben bzw. durch ein anderes Bild ersetzt wird, läßt sie rückblickend unter dem Gesichtspunkt des Zufälligen erscheinen und als kontingente Selektion transparent werden. Die Verschiebungsprozedur impliziert somit eine versteckte Kritik an der geschichtsphilosophischen Rhetorik des Textes: Während die Semantik der einleitenden Abschnitte noch die Vorstellung einer ursprünglichen Ordnung der Signifikate unterstellt, läßt das Verfahren der Verschiebung deutlich werden, daß es diese substantiell verbürgte, stabile Form des Bedeutens nicht gibt. Die Bilder und Symbole der Antike verlieren somit ihren eingangs beanspruchten Status eines besonderen, exklusiven Sinnbezugs und werden als kontingente, zufällige Selektionen aus dem Fundus sprachlicher Zeichen und Metaphern enthüllt. Der beschriebene Vorgang der Verschiebung und der Erzeugung von Bildreihen läßt sich insgesamt als eine Form der Metonymisierung des Schreibens begreifen. Sowohl die Beziehung zwischen den Einzelgliedern einer Bildreihe (z.B. Kreis - unendlicher Weg - Abgrund) als auch die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist unter dem Gesichtspunkt metonymischer Kontiguität zu interpretieren: es geht jeweils um einen Zusammenhang des zufälligen Nebeneinander und der semantischen Berührung, nicht aber um eine Relation der substantiellen, metaphorischen Ähnlichkeit. Für die sich hier abzeichnende metonymische Struktur des Textes ist der oben erläuterte Effekt des Sichtbarwerdens des Kontingenten charakteristisch. Blickt man auf die vorangehenden rhetorischen Analysen zur »Theorie des Romans« im ganzen zurück, so eröffnen sich auf der Ebene der Rhetorik des Textes zwei divergierende, einander wechselseitig ausschließende Beobachtungsperspektiven: Da ist zunächst eine Rhetorik der geschichtsphilosophischen Antithese, die eine antike Welt des substanziellen Gegebenseins und eine moderne Welt des Abstands und der Sinnesferne einander kontrapunktisch gegenüber stellt und auf deren unaufhebbarer Gegensätzlichkeit insistiert. Unter diesem Blickwinkel stellt sich der Gegensatz von Antike und Moderne als ein ontologisch vorgegebener dar: Die konträren Bestimmungen der Antike und der Moderne erscheinen als wesenhafte Qualitäten, die in einer metaphysischen Ordnung ihren Grund haben. Dieser ontologisch-metaphysischen Sicht widerspricht jedoch - insbesondere auf der Ebene des metaphorischen Beziehungsgefüges der Abhandlung - eine metonymische Geste, die beide Epochen unter dem Gesichtspunkt von Kontingenz erscheinen läßt und in eine gemeinsame, übergreifende Perspektive des Verfalls rücken läßt. Der Rhetorik des Textes ist somit der Vorbehalt gegenüber einer übergreifenden Geschichtsmetaphysik, wie sie das dichotomische bzw. triadische Epochenschema zunächst nahezulegen scheint, unverkennbar eingeschrieben. In
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3. Kapitel
der rhetorischen Bewegung des Textes artikuliert sich dieser Vorbehalt, wie dargelegt wurde, vornehmlich in Form einer metonymischen Kritik der Metapher, einer metonymischen Verschiebung der vorherrschenden Bilder und sprachlichen Figuren. Das Verfahren der Metonymisierung läßt deutlich werden, daß die Rhetorik der ontologischen Zuordnungen und gegebenen Qualitäten einer sicheren Grundlage entbehrt und nur zu leicht in ein Gefüge metonymischer Beziehungen der Zufälligkeit und der Berührung überführt werden kann. Nun ist allerdings - gleichsam als Einschränkung der hier umrissenen selbstkritischen, die eigenen Äußerungen unterlaufenden Tendenz des Textes - zu bemerken, daß die oben beschriebene Figur der metonymischen Verschiebung und Entsubstantialisierung der vorherrschenden Metaphern noch nicht den Abschluß oder die endgültige Strukturierungsform der hier ins Auge gefaßten Textbewegung bezeichnet. Die Abhandlung gibt gewissermaßen die sich hier punktuell abzeichnende metonymische Einsicht in die Kontingenz der verwendeten Zeichen und Motive wieder preis. Inmitten ihrer Ausführungen zur Moderne und zum Roman, so läßt sich beobachten, rückt die »Theorie des Romans« von der oben skizzierten metonymischen Geste wieder ab, um zur Sprache der Substantialität, wie wir sie aus den Einlassungen zur Welt des Epos kennen, zurückzukehren. Dieser eigentümliche Rekurs auf den Sprachgestus des Beginns vollzieht sich bemerkenswerterweise im Kontext der Analyse der Zeitstruktur des Romans und der Ausführungen zur Bergsonschen durée. Zu Recht hat Paul de Man in seiner aufschlußreichen Lektüre der Zeitanalyse der »Theorie des Romans« den an Nietzsche erinnernden rhetorischen Grundzug gerade jener Passagen der Abhandlung hervorgehoben.15 Die »Theorie des Romans« läßt nämlich dort auf sprachlich-stilistischer Ebene eine Rhetorik der Kontinuität und der umfassenden Verschmelzung erkennen, in der die für die Semantik der Moderne kennzeichnenden Momente der Distanz und der Differenz aufgehoben zu sein scheinen. Zunächst läßt sich, was die syntaktische Komposition des Textes betrifft, beobachten, daß die betreffenden Ausführungen auch im Sprachgestus, in der Rhythmik der Satzperioden, jene oben angesprochene Überwindung der mechanischen Zeit durch die fließende Dynamik des Lebensstroms nachzubilden suchen. Die Abhandlung zeigt in diesen Passagen eine auffallende Präferenz für längere, z.T. hypotaktische Satzgefüge, die auf der Ebene des Schreib- und Argumentationsduktus die Vorstellung des élan vital, der »gar nicht herzuleitenden, von Anfang bis zum Schluß unteilbaren Einheit eines Schwunges« nachzubilden scheint. Die zuvor herausgearbeiteten, für die Situation der Moderne kennzeichnenden Antinomien scheinen sich im Pathos des Getragenseins und im suggestiven »Gefühl des Sinnerfassens« (TR 110) zu verflüchtigen. Selbst die Erinnerung an Fragmentierung und Vereinzelung als Grund35
Vgl. Paul de Man, Georg Lukács' Theory of the Novel, S. 52.
Genetisches Prinzip und Geschichtsphilosophie
beim frühen Lukács
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Züge der Moderne scheint den vereinigenden, die Dichotomien aufhebenden Impuls der Zeit als Dauer nurmehr schärfer zu profilieren: »Hart, abgebrochen und isoliert stehen die einzelnen Bruchstücke der Wirklichkeit nebeneinander da. [...] Es ist die Zeit, die diese Überwindung möglich macht. Ihr ungehemmtes und ungebrochenes Strömen ist das vereinigende Prinzip der Homogenität, das alle heterogenen Stücke [...] in eine Beziehung bringt« (TR 111). Gegen die oben angeführten Bilder des Abstands und des Getrenntseins setzt der Text nun eine Metaphorik der Distanz- und Differenzlosigkeit. Es geht um die Möglichkeit eines völligen Eintauchens in die Außenwelt, einer vollkommenen Verschmelzung von Ich und Welt. Nicht zufällig werden in der Darstellung des romanhaften Zeiterlebens auch die aus der Rhetorik des Beginns vertrauten Leitunterscheidungenvon Oberfläche und Tiefe, äußerer Erscheinung und wesenhaftem Kern wieder aufgenommen. So zeichnet die Abhandlung das eindringliche Bild des Auftauchens der Romanfiguren aus der Tiefe des Lebensstroms (vgl. TR 111) und spricht von einem im Zeiterleben intuitiv erfaßbaren Sinnmoment als dem »deutlich gewordenen Kern aller Taten« (TR 115). Im Zuge jener Rhetorik eines authentischen Wahrnehmens und Erlebens wird indes schließlich auch die Oberfläche-Tiefe-Unterscheidung in eine umfassende Einheitsfigur zurückgenommen. Kennzeichnend für diese Perspektive ist die Metaphorik des unmittelbaren Umfangenseins von einer als Einheit erfahrenen Welt, der Tenor des »naiv-seligen [...] in re« des Daseins (TR 110). Der genannte Vorgang der Aufhebung und Zurücknahme der Unterscheidungen in eine übergreifende Einheit äußert sich auch auf der syntaktischen Ebene des Textes, nämlich in Form einer spezifischen rhetorischen Figur. Der Verschiebung des Zeitkonzepts von einem differentiellen, fragmentierenden Prinzip in ein einheitsstiftendes, ganzheitliches Moment entspricht nämlich, so läßt sich erkennen, eine komplexe Operation der Umstellung und des Überkreuzens, die die einander entgegengesetzten Schlüsselbegriffe der Zeit und des Lebens betrifft: »Denn die Zeit ist die Fülle des Lebens, wenn auch die Fülle der Zeit das Sichaufheben des Lebens und mit ihm der Zeit ist« (TR 109). Die rhetorische Figur der commutatici, von der der Text hier Gebrauch macht, führt einen komplexen Vorgang des Austausche und des Überkreuzens vor, in dem die einander gegensätzlichen semantischen Elemente (Zeit - Leben) zu einer widerspruchsvollen Einheit verschmelzen. Die chiastische Anordnung läßt das paradoxe Moment dieser Engführung der Gegensätze deutlich hervortreten. Die Rhetorik der commutatio veranschaulicht den (postulierten) Vorgang der Selbstaufhebung der Zeit im Roman in Form einer konkreten syntaktischen Operation. W a s die syntaktische Ebene des Textes betrifft, so läßt sich die oben angedeutete Tendenz der Abhandlung, in ihren Ausführungen zum Roman zum Stil und Sprachgestus des Beginns zurückzukehren, gerade hier besonders deutlich beobachten. Als Beispiel einer solchen syntaktischen Strategie, die im Zuge der Darlegungen zum Roman wiederkehrt, sei hier exemplarisch jene
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3.
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Technik der konditionalen Satzgefüge hervorgehoben, die (wie oben gezeigt wurde) bereits der Darstellung der Homerischen Zeit ihren charakteristischen Grundzug des geschichtsphilosophisch gesicherten und notwendigen Gegebenseins verleiht. Einen ähnlichen Ton der zweifelsfreien Sicherheit und Evidenz beziehen auch die genannten Einlassungen zum Roman aus der eingängigen Logik des Wenn-dann-Gefüges: »Wenn das dichterische Dasein Wilhelm Meisters sich von seiner akut gewordenen Krise [...] bis zum Finden des wesenhaft zugemessenen Lebensberufs ausdehnt, so hat diese biographische Gestaltung dieselben Prinzipien wie der Lebenslauf in Pontoppidans Roman« (TR 71). Die Syntax der Konditionalgefiige erzeugt einen Duktus der Sicherheit und des souveränen Überblicks: hier scheint jene »Atmosphäre der letzten Gefahrlosigkeit« (TR 120) vorweggenommen zu sein, den die Abhandlung für ihren Gegenstand, den modernen Roman in Anspruch zu nehmen sucht. In dieser veränderten Einstellung erscheint der gefährdete Weg des Romanhelden unvermittelt als ein »auf ein bestimmtes Ziel gerichteter, bewußter und geleiteter Prozeß« (TR 120). Auch in einer anderen, mehr semantischen Hinsicht erfährt die für die Moderne kennzeichnende Rhetorik der Krise und der Trennung vom Ursprung eine eigentümliche Umkehrung. Die genannte Figur der Rückkehr zur Rhetorik des Beginns läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß die einleitenden Motive der visuellen Wahrnehmung, des Sichtbarwerdens und des visionären Erkennens im Kontext der Charakteristik des modernen Romans unvermittelt wiederaufgenommen werden. So spricht Lukács etwa von der Romanfiktion als einer »vom gefundenen Sinn nunmehr immanent erstrahlenden Welt« und glaubt im Höhepunkt und Abschluß des Romangeschehens ein »ganz tiefes und intensives Durchleuchtetsein [...] vom Sinn« (TR 70) zu erblicken. Bezeichnet schon die Dantesche Welt - wie die »Theorie des Romans« in einer paradoxen Wendung formuliert - eine »Totalität [...] des sichtbaren Begriffssystems« (TR 60), so ist jene Geste der Vision und des plötzlichen Durchblicks auf das Phänomen erst recht für das Lukácssche Bild der Romantotalität bestimmend. Nicht zufällig kehrt die »Theorie des Romans« im Kontext dieser Darlegungen zur anfänglichen Gebärde des passiven Hinnehmens und Erlebens, zur Grundhaltung des Epikers, zurück. Es ist der »schauendschöpferische Blick der darstellenden Subjektivität des Dichters« (TR 69), dem sich die Gewißheit eröffnet, »die wahre Substanz, den gegenwärtigen [...] Gott [...] erblickt [...] zu haben« (TR 79). Im Kontext der hier entfalteten Hermeneutik der Schau und des ganzheitlichen Blicks verwundert es nicht, daß die Abhandlung in jenen Abschnitten einen metaphysisch-spekulativen Sprachduktus annimmt, der von biblischen und religiösen Anspielungen durchsetzt ist. Die Romantotalität als »vollendet geleistete Form«, so heißt es, »kann nur entstehen, wenn in ihr eine wahre Transzendenz immanent geworden ist« (TR 80-81). In der Perspektive der sich hier abzeichnenden Rhetorik der Präsenz und der Immanenz des Sinns wird der Romanschreiber zum Mystiker, dem sich die Gegenwart seines Got-
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tes offenbart. Das technische Problem der Abrundung der Romanform wird rhetorisch überhöht und zur biblischen Figur einer »Einkehr in die Heimat aller Dinge« hypostasiert (TR 114). Nun ist der hier in der sprachlichen Form der Abhandlung erkennbare Vorgang der Resubstantialisierung und Retotalisierung mit einem spezifischen (semantischen) Motiv verknüpft, das nähere Aufmerksamkeit verdient. Gemeint ist das biographische Schema, die Figur des Lebenslaufs, die nach Lukács' Auffassung das grundlegende Strukturprinzip des modernen Romans bildet. Das Schema des Lebenslaufs stellt gewissermaßen den konkreten Anhalts· und Kristallisationspunkt der oben verzeichneten stilistischen und semantischen Totalisierungstendenzen dar. An dieses Modell knüpfen sich im Gang der Lukácsschen Darlegung die Attribute des Substantiellen und des repräsentativen, einheitlichen Sinns. Durch die biographische Form, so die Erläuterung, werden »Anfang und Ende der Romanwelt [...] zu sinnesbetonten Marksteinen eines klar abgemessenen Wegs« (TR 71). Der Roman, so heißt es weiter, habe »die Tendenz, seine ganze epische Totalität im Ablauf des für ihn wesentlichen Lebens zu entfalten« (TR 71). Worin die eigentümliche Faszination liegt, die das Konzept des Lebenslaufs auf die Lukácssche Darlegung ausübt, wird ersichtlich, wenn man sich die besondere Struktur dieses Modells auf einer abstrakteren Ebene vergegenwärtigt. Die Formel des Lebenslaufs bezeichnet nämlich in der »Theorie des Romans« eine selbstreferentielle Figur, eine in sich selbst zurücklaufende Bewegung. Dieses eigentümliche Moment der selbstbezüglichen Rückwendung und der kreisförmigen Bewegung läßt sich an den in der Abhandlung angebotenen Umschreibungen und Erläuterungen dieses Motivs deutlich ablesen. So charakterisiert Lukács die Romanhandlung als die »Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst« (TR 70), als »die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen« (TR 78). Zwar wird hier das romanhafte Subjekt zunächst verdoppelt und in die temporale Differenz des Zeitverlaufs eingespannt, aber den zitierten Metaphern eignet gleichwohl ein auf Ganzheit und Einheit zielender Impuls. Das Bild des Kreises, das in den oben angeführten Bewegungs- und Prozeßfiguren anklingt, bezeichnet ja ein bekanntes, geradezu klassisches Symbol von Einheit und ganzheitlicher Abgeschlossenheit. In der Logik der hier gewählten Metaphorik kann die Entwicklung der Romanhandlung bzw. des Romanhelden nicht fehlgehen; ihr Gang führt vielmehr zu einem vorherbestimmten, im Ausgangspunkt des Geschehens bereits vorgezeichneten Ziel. Mit der Suggestivkraft der Kreismetapher hängt somit auch der eigentümliche Tenor des Gesichertseins zusammen, der für die späteren Darlegungen der Romantheorie charakteristisch ist. Kennzeichnend für den sprachlichen Ton jener Passagen ist die Gebärde des Ankommens und des erreichten Ziels. Es liegt indessen auf der Hand, daß die »Theorie des Romans« für jene eindrucksvolle Geste der Vollendung des Romans im Zeichen des Epos einen Preis zahlt. Nicht nur, daß im Zuge der Rhetorik des Abschließens und des vorgezeichneten Ziels die entscheidende Grenze zwischen Epos und Roman
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kollabiert, auch die zuvor erlangte (rhetorische) Einsicht des Textes in das metonymische Verweisungsgefüge seiner Sprache scheint in der euphorischen Begrüßung des Romans als einer neuen, dem antiken Epos vergleichbaren Form wieder zurückgenommen bzw. preisgegeben zu werden. Im ganzen gesehen läßt sich somit die rhetorische Struktur der »Theorie des Romans« als eine spezifische Doppelbewegung charakterisieren: Die Abhandlung setzt ein mit einem Gestus des stabilen, in sich abgerundeten Sinns - eine Figur, die dann in einem Vorgang der metonymischen Verschiebung revidiert bzw. zurückgenommen wird (I). In einem zweiten Schritt wird indessen diese Tendenz zur Metonymisierung des Diskurses ihrerseits wieder aufgehoben, indem der Text zur Sprache und Rhetorik des Beginns, zur Suggestion eines emphatischen Sinnmoments, zurückkehrt (II). Somit bleibt in der »Theorie des Romans« die Tendenz zu einer Metonymisierung des geschichtsphilosophischen Schreibens partiell. Die Kritik der genetischen Implikate des ganzheitlichen Zusammenhangs und der Synthese, die sich auf der rhetorischen Ebene des Textes abzeichnet, wird auch dort nicht konsequent durchgehalten. Die hier versuchten rhetorischen Analysen lassen jedoch auch erkennen, daß der »Theorie des Romans« ein genuin literarisches Moment eigen ist, das den geschichtsphilosophischen Ausführungen ihre spezifische Kontur verleiht. Die eigentümliche Wirkung der Abhandlung beruht im wesentlichen auf einer besonderen Organisation der leitenden Metaphern und rhetorischen Effekte. Erst durch die rhetorische Struktur des Textes erhält die genetische Figur der Rückkehr zum Ursprung und des übergreifenden, geschichtsphilosophischen Zusammenhangs ihr spezifisches Profil. Die literarischen Mittel der Strukturbildung und Vertextung sind offenbar für den hier erzielten Evidenzeffekt nicht weniger konstitutiv als die Prinzipien der Auswahl und Ordnung der philosophischen Argumente.
3.3
Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas
3.3.1
Geschichtstheoretische und dramenpoetologische Aspekte
Die in ungarischer Sprache verfaßte, 1908 von der Kisfaludy-Gesellschaft preisgekrönte Dramengeschichte des jungen Lukács nimmt schon in ihrem Titel Bezug auf die Tradition der genetischen Erklärungsfigur - ihr (selbst angezeigtes) Thema ist das Projekt einer »Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas«. Chronologisch gesehen müßte die Analyse der Dramengeschichte derjenigen der »Theorie des Romans« vorangehen. Die vorliegende Untersuchung weicht hier indes bewußt ab von der Chronologie der Werke, weil einige charakteristische Züge und Probleme der frühen Dramengeschichte, die dort nur angedeutet sind, schärfer hervortreten, wenn sie aus der
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Perspektive der späteren Schrift betrachtet werden. So enthält etwa die Dramengeschichte im Keim bereits jene geschichts- und kulturphilosophische Verfallstheorie, die in der »Theorie des Romans« als Rahmenkonzeption dem spekulativen Entwurf der Romangeschichte zugrundegelegt wird. Schon diese eigentümliche Verbindung von Entwicklungs- und Verfallsmotiv deutet darauf hin, daß die »Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« eine ähnliche Problemlage und argumentative Ausgangskonstellation aufweist wie die »Theorie des Romans«. Denn das Entwicklungskonzept mit den ihm anhaftenden Konnotationen der Kontinuität und des allmählichen Werdens läßt sich ja, wie oben ausgeführt, mit einem negativen Geschichtsbegriff im Zeichen des Abstiegs und Verfalls nur schwer zusammendenken. Für die Lukácssche Dramengeschichte stellt sich somit - parallel zur Problemstellung der »Theorie des Romans« - die Frage, inwiefern die Dramenliteratur der Moderne unter völlig veränderten geschichtsphilosophischen Bedingungen überhaupt noch an die prototypische Form des Dramas, die antike Tragödie, anknüpfen und diese Tradition fortsetzen kann. Bevor die Erörterung dieser Frage in der »Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« nachgezeichnet wird, sei noch angemerkt, daß das hier berührte Problem der Fortsetzbarkeit und Anschlußfähigkeit der antiken Dramentradition für die »Theorie des Romans« offenbar keine zentrale Schwierigkeit mehr darstellt bzw. als gegebene Möglichkeit gleichsam vorausgesetzt wird. Dies hat seinen Grund in der dort entwickelten geschichtsphilosophischen Differenzierung der Gattungen. In der »Theorie des Romans« übernimmt nämlich der Roman die besondere und exponierte Stellung, die in der >Dramengeschichte< noch der Tragödie zukommt. Dort erläutert Lukács, daß die geschichtsphilosophische Dialektik, der die Literatur- und Kunstgeschichte unterliegt, »je nach der apriorischen Heimat der einzelnen Gattungen für jede Form anders ausfallen muß« (TR 31). In diesem Zusammenhang zieht er die Möglichkeit in Erwägung, daß »die Umwandlung nur den Gegenstand und die Bedingungen seines Gestaltens trifft und die letzte Beziehung der Form auf ihre transzendentale Existenzberechtigung unberührt läßt« (TR 31). Diese - im Verhältnis zur Problematik von Epos und Roman - geringere Betroffenheit der Form von der geschichtsphilosophischen Zäsur sei, so argumentiert Lukács an späterer Stelle, im Fall des Dramas zu beobachten. Sofern es die Eigenart und das Ziel der Tragödie ist, »das Wesen, in einem Jenseits von jedwedem Leben, zur Lebendigkeit und Fülle zu führen« (TR 33), ist diese von der Verschiebung der »transzendentalen Bezogenheiten« (TR 32) und dem Verlust der »Lebensimmanenz des Sinns« nicht in gleichem Maße betroffen wie der Roman: »Darum hat sich die Tragödie, wenn auch verwandelt, so doch in ihrer Essenz unberührt in unsere Zeit herübergerettet, während die Epopöe verschwinden und einer ganz neuen Form, dem Roman, weichen mußte« (TR 32). In der »Theorie des Romans« wird somit die Möglichkeit und Gegebenheit der Gattungskontinuität des Dramas nicht mehr in Zweifel gezogen oder grundsätzlich problematisiert.
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3. Kapitel
Die frühe Dramengeschichte geht demgegenüber einen anderen Weg. Die einfache, empirische Tatsache, daß es in der zeitgenössischen modernen Literatur eine Fülle von Bühnenstücken und dramatischen Produktionen gibt, scheint Lukács noch keine hinreichende Antwort auf seine Frage nach dem Fortbestehen des Dramas zu sein. Dieses Ungenügen an der rein empirischen Beobachtung hängt damit zusammen, daß Lukács seiner Dramenkonzeption letztlich einen emphatischen Begriff von Tradition bzw. >Kultur< zugrunde legt und von daher zu einer restriktiveren Auffassung des dramatischen >Werks< gelangt, deren Kernstück durch die Leitbegriffe der »großen Linie«, der »Monumentalität« und des (gesteigerten) »Nachdenkens über die Form« (ED 68) konstituiert wird. Diese (impliziten) Annahmen und Voraussetzungen bewirken einen eigentümlichen Verknappungseffekt: Lukács wird nicht jeden dramatischen Text, den er im Ensemble der zeitgenössischen Literatur vorfindet, als ein Drama im Sinne seines Konzepts gelten lassen. Ihm geht es vielmehr um das Fortwirken bzw. die Wiederaufnahme einer spezifischen historischen Dramentradition, die letztlich auf das Genre der antiken Tragödie zurückverweist. Vor dem Hintergrund dieser Verknappung des Gattungskonzepts ist auch die eigentümliche Rede von der »tragischen Situation des modernen Dramas« (ED 68), von der Unmöglichkeit, die Tradition fortzusetzen, zu begreifen. Der Rekurs auf einen emphatischen Traditionsbegriff provoziert zugleich - durch die rigide Begrenzung der Anschlußmöglichkeiten - die Aufnahme einer transzendentalen Fragerichtung. Im Rückgriff auf eine Kantische Problemformel fragt Lukács zunächst nach den Bedingungen der Möglichkeit dramatischer Produktion in der Moderne.36 In Abgrenzung von der Was-Frage nach dem empirischen Gegebensein des Phänomens profiliert Lukács die Wie-Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieses Befunds. Lukács' transzendentallogischer Frageansatz bringt es mit sich, daß im Rahmen seines dramenpoetologischen Konzepts der systematische Gesichtspunkt den historischen zunächst überwiegt.57 Der abstrakte, apriorische Begriff des Dramas, den Lukács postuliert und zunächst von der historischen Betrachtung unabhängig glaubt, verweist indessen - und darin zeigt sich der genetisch-genealogische Impuls der Argumentation - auf den historischen Ursprung und Ausgangspunkt der abendländischen Dramengeschichte. Die spezifischen Merkmale und Grundbestimmungen, die der Verfasser aus dem reinen, apriorischen Begriff des Dramas zu deduzieren meint, sind nämlich, wie sich zeigen wird, einer ganz bestimmten historischen Gestalt des Genres entnommen - jener prototypischen Ausprägung der Dramenform, wie sie in 36
37
Vgl. Georg Lukács, Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas, Werke, Bd. 15, hg. Frank Benseier, Darmstadt und Neuwied 1981, S. 52-54. Dieser Text wird im folgenden zitiert als ED. Vgl. E D 53: »Das >Wesen< ist rein historisch kaum feststellbar; wir können nie ohne die Zusammenfassung der einzelnen Tatsachen und ohne die aus ihm gewonnenen Abstraktionen zu ihm gelangen«.
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den griechischen Tragödien eines Äschylos und Sophokles vorliegt. Poetologisch-systematische Herleitung des Dramenkonzepts und eine historiographische Deduktion, die die attische Tragödie zum vollkommenen Muster dramatischer Komposition erklärt, greifen hier ineinander. Diese Orientierung (an der attischen Tragödie) äußert sich bereits in der unvermittelten Gleichsetzung von Drama und Tragödie, in der Auffassung der Tragödie als das immanente Telos des Genres und somit aller dramatischen Produktion: »Das konsequente Zuendedenken der stofflichen Forderungen des Dramas«, so erklärt Lukács in Anschluß an die Tragödienformel von Wilhelm von Scholz, 38 »muß zur Tragödie führen. [...] Das Drama erreicht seinen Gipfelpunkt immer in der Tragödie« (ED 25). Bevor diese eigentümliche Fixierung auf das Modell der klassischen griechischen Tragödie erläutert und in ihrem Zusammenhang mit der Figur genetisch-genealogischer Argumentation diskutiert werden soll, ist es zunächst erforderlich, Lukács' Tragödienkonzept selbst in seinen Grundzügen zu skizzieren. Das hervorstechendste und gattungsbestimmende Merkmal des Dramas liegt für Lukács in dessen Tendenz zur symbolischen Verdichtung und zur typisierenden Abstraktion. In diametralem Gegensatz zum Roman bestehe die Eigenart des Dramas in der Darstellung eines »Allgemeinen« (ED 18), nicht in einem (wie immer vermittelten) Bezug zur sinnlichen Unmittelbarkeit und Empirie des Lebens: »Gegenüber der inhaltlichen Universalität der Epik ist also die Universalität des Dramas formal; gegenüber der Extensität der Epik ist das Drama intensiv; gegenüber der Sinnlichkeit und der Empirie der Epik ist das Drama abstrakt, metaphysich, symbolisch, mystisch« (ED 27). Durch diese im Vergleich zum Epos ungewöhnliche Abstraktionslage eigne dem Drama bzw. der Tragödie eine nur im Modus der dramatischen Darstellung erreichbare Geschlossenheit und immanente Vollendung der Form. Fast hat es den Anschein, als wolle Lukács hier dem Drama jenen privilegierten Zugang zur Totalität und zur selbstgenügsamen Vollkommenheit des Seins konzedieren, der in der »Theorie des Romans« dem Epos vorbehalten sein wird. In diese Richtung deutet jedenfalls Lukács' eindrucksvolle Charakterisierung des Dramas im Zeichen eines autonomen Ganzen - eine Bestimmung, die nicht zufällig an Simmeis soziologisch-ästhetische Reformulierung des Stilkonzepts Anschluß sucht: »Das Drama ist das typischste Beispiel für die künstlerische Stilisierung, von der Simmel spricht, die alle Fäden aus dem lebendigen Leben herausreißt und sie an ihren Enden zusammenbindet, damit es völlig in sich geschlossen, in sich vollendet ist, damit es mit nichts, was außerhalb von ihm liegt, in Zusammenhang steht« (ED 30). Kennzeichen der Tragödie, so die These, sei eine spezifische »Distanz zum Leben« (ED 115), eine eigentümliche Tendenz zur Formalisierung und Abstraktion von den konkreten Vorgaben ihres jeweiligen Gegenstands und Materials.
38
Vgl. W. v. Scholz, Gedanken zum Drama und andere Aufsätze über Bühne und Literatur, München und Leipzig 1905, S. 3 u. 9.
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3. Kapitel
Im Rekurs auf die idealistische Tradition, insbesondere auf das Hegeische Tragödienkonzept,39 bestimmt Lukács den Gegenstand des Dramas als ein konfliktreiches Geschehen, als Auseinandersetzung zweier gleichermaßen berechtigter, ethisch motivierter Anliegen und Intentionen. Für die griechische Tragödie nehme, so die Erläuterung, dieser gattungsbestimmende »Kampfcharakter« (ED 22) des Dramas zumeist die paradigmatische Form der Auseinandersetzung eines Menschen mit dem Schicksal an.40 Das Drama findet sich nach Lukács' Darlegung mit zwei gegenläufigen, einander widersprechenden Anforderungen konfrontiert, deren Zusammenwirken die Paradoxie der dramatischen Form ausmacht: zum einen erfordert die Ökonomie des Dramas die äußerste Konzentration und Zuspitzung des relevanten Geschehens in einem Punkt - im Moment des dramatischen Konflikts, zum anderen soll das Drama jedoch zugleich die kosmoshafte Abrundung eines »vollkommenen, in sich geschlossenen Universums« erreichen, denn für Lukács' neoklassizistisch inspiriertes Dramenkonzept gilt: »Die Welt des Dramas bedeutet die ganze Welt des Lebens« (ED 26). Eine Auflösung dieses formbestimmenden Gegensatzes zwischen der Notwendigkeit der Stilisierung und dem Streben nach Ganzheit ist indes nur in einem Kontext möglich, in dem die für das Drama relevante »Sphäre des Zwischen«41 noch keine übermäßige Komplizierung und Differenzierung ihrer Relationen erfahren hat. Dies ist - der oben entfalteten Dramendefinition entsprechend - denn auch die Stelle, an der die historisch-soziologische Perspektive der Lukácsschen Dramenanalyse ansetzt und von der aus der Verfasser den Prozeß des »inneren Problematischwerdens« des Dramas (ED 46) im Zusammenhang der einsetzenden Moderne aufzuzeigen sucht. Die Tragödie erfahre, so Lukács' zentrale These, als »exponierteste Kunstgattung« (ED 55) unter den Bedingungen der Moderne eine tiefgreifende Problematisierung und Verschärfung ihrer zentralen Stil- und Formprobleme. Dabei sei es vor allem die vom Begriff des Genres her geforderte, eigentümliche Geschlossenheit der dramatischen Form, die für den modernen Dramatiker zum Problem werde. Die formale Geschlossenheit des Dramas werde nämlich schwieriger in dem Maße, wie die formbildende Relation des Zwischen - der Bezug des Helden zu der ihm äußeren sozialen Welt - in der veränderten historischen Situation eine weitreichende Zuspitzung und Komplizierung erfahre. Von dieser Schwierigkeit betroffen ist nach Lukács zunächst 39 40
41
Vgl. Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, Bd. 2, S. 528-529. Lukács modifiziert diese der Hegel-Tradition entnommene Grundbestimmung des Dramas durch die zusätzliche Forderung, daß die Handlung des Dramas ein »zwischenmenschliches Geschehen« (ED 17)sein müsse in dem Sinne, daß auch im Dramengeschehen wirkende übernatürliche Kräfte (Z.B. das Schicksal) nur in Form menschlicher Handlungsträger erscheinen können (vgl. ED 21). Zu diesem Gesichtspunkt vgl. auch Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, in: Schriften I, hg. Jean Bollack, Frankfurt 1978, S. 11-153, hierS. 16-22. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 16.
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das (vor allem für die Tragödie) zentrale Verhältnis von Charakter und Schicksal. »Der dramatische Mensch«, so lautete Lukács' Kommentar der alten Tragödie, »ist ein Mensch, der mit seiner Tat identisch ist [...] er ist ein Mensch, der mit der ganzen Fläche seines Wesens mit seinem Schicksal identisch ist« (ED 35).42 Doch diese selbstgenügsame Identität des Helden mit seinem Schicksal, die ungebrochene Kongruenz von Charakter und Handlung, sei, so meint Lukács, in der neueren Tragödie radikal gestört. Diese Störung äußert sich Lukács zufolge vor allem in einem eigentümlichen defensiven Moment im Verhalten des Dramenhelden: »Die Helden des neuen Dramas sind - im Verhältnis zu den alten - mehr passiv als aktiv; es geschieht eher etwas mit ihnen, als daß sie selbst es täten« (ED 90). Lukács deutet die sich hier abzeichnende verschärfte Problematisierung des »Heldseins des Helden« (ED 86) als einen spezifischen Effekt der Logik moderner Kultur, als Zeichen des Auseinandertretens von innerem Motiv und äußerem, sichtbaren Handeln: »Vom Leben aus gesehen: die Persönlichkeit wird dermaßen nur innerlich, nur seelisch, und die Tatsachen werden derart abstrakt und uniform, daß eine wahre Berührung zwischen beiden unmöglich wird« (ED 100). Denn indem gesellschaftliches Außen und subjektives Innen auseinandertreten, schiebt sich zwischen den Dramenhelden und seine Handlung die trennende Sphäre der Reflexion und des Motivverdachts.43 Lukács erblickt in dem Moment der Nicht-Identität des Helden mit der Dramenhandlung, in der Disjunktion von innerem und äußerem Geschehen, eine »zentrifugale Energie« (ED 121), die die in sich abgerundete Gestalt des Dramas zu sprengen droht. Der in die Innerlichkeit und in die Defensive zurückgedrängten Dramenfigur sei die heroische Geste im überkommenen Sinn versagt. Dem neueren Drama sei das Pathos der alten Tragödie unerreichbar: Der neue »Heroismus«, so heißt es, sei »einerseits passiver, [...] andererseits bewußter, berechneter und im Ausdruck pathetischer, rhetorischer als der alte« (ED 101). In dieser Auflösung des unmittelbaren und spontanen Identischseins des Helden mit seinem Tun, die zugleich eine Vervielfachung der Dimensionen des Dramas und eine eigentümliche »Verschiebung der Motivation in der Richtung des Sozialen« (ED 87) bedeute, droht sich die Einheit der dramatischen Form zu verflüchtigen. Vor dem Hintergrund der vorangehenden Beobachtungen muß die Vorstellung einer Kontinuität der Gattungstradition des Dramas, die Idee einer Fortsetzung des antiken Tragödienkonzepts unter den Bedingungen der Moderne, wie sie eine genetische Geschichtsauffassung fordert, äußerst fragwürdig und problematisch erscheinen. Es hat an dieser Stelle denn auch fast den Anschein, als wolle der Verfasser des Dramenbuchs die Möglichkeit einer Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme der >klassischen< Gattungstradition für die 42
43
Man vergleiche auch die folgende, noch pointiertere parallele Formulierung: »Die Handlung ist das Schicksal des Helden und der Held ist immer identisch mit seinem Schicksal, er wird gerade in seinem Schicksal wirklich das, was er ist« (ED 35). Lukács spricht in diesem Zusammenhang von der Unentwirrbarkeit eines »clairobscur des Äußerlichen und Innerlichen der Motive« (ED 86).
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Moderne generell abstreiten. Der Gedanke einer uniiberwindbaren Kluft zwischen antikem und neuzeitlich-modernem Drama drängt sich auf. Mit gewissem Recht betonen die einschlägigen Interpretationen der Dramengeschichte eben diese Figur des Epochen- und Traditionsbruchs: »Es gibt und kann auch überhaupt kein bürgerliches Drama geben«, kommentiert etwa Werner Jung, »da dafür der modernen Gesellschaft und ihrer Trägerschicht, dem Bürgertum, alle Voraussetzungen fehlen«.44 In dieser Perspektive stellt sich die Entstehung und Entwicklung des neuzeitlichen Dramas als ein von der antiken Vorgeschichte völlig verschiedener und getrennter Vorgang dar. Das moderne Drama, so diese Auffassung, hat mit ihrer antiken Vorform nichts mehr zu tun. Diese Deutung übersieht indessen das latente genealogische Moment, das die Lukácssche Rekonstruktion der neuzeitlich-modernen Dramengeschichte bestimmt. In Lukács' Bild des modernen Dramas ist die antike Tragödie als impliziter Bezugspunkt präsent. Die attische Tragödie bildet gewissermaßen das idealtypische Modell und den (unausgesprochenen) Maßstab, auf den die neuzeitliche und moderne Dramenproduktion bezogen und mit dem sie verglichen wird. Nicht zufällig feiert ja Lukács - darauf wird noch zurückzukommen sein - die neuklassischen Dramen eines Paul Ernst und Wilhelm von Scholz als Ankündigung und Vorwegnahme einer möglichen Wiederkehr der antiken Tragödie. Legt man diese, gleichsam genetische Interpretation der Dramengeschichte zugrunde, so stellt allerdings der moderne- und kulturkritische Impuls des Textes die Abhandlung vor ein gravierendes Problem. Es ist nämlich zu fragen, wie sich das oben skizzierte Phänomen der Auflösung und Zersetzung der Dramenform mit jenem Postulat eines »Geltendbleibens des Wesens« (TR 10) vereinen läßt, das die genetische Idee einer immanent-kontinuierlichen Gattungsentwicklung einklagt. Wie läßt sich, mit anderen Worten, die Vorstellung der (geschichtsübergreifenden) Einheit der Dramenform aufrechterhalten angesichts der Problematisierung, die diese Einheit durch die Diskontinuität der Kulturgeschichte erfährt? Läßt jener weitreichende zivilisationsund kulturgeschichtliche Trend zur Desintegration die Annahme einer stabilen Gattungsidentität überhaupt noch zu? Die folgenden Ausführungen untersuchen zunächst, mit welchen argumentativen Techniken und logisch-diskursiven Verfahrensweisen die Dramengeschichte versucht, die hier erkennbare Aporie ihres Ansatzes zu klären bzw. aufzulösen. Betrachtet man die Argumentation der »Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« im ganzen, so zeichnen sich zwei unterschiedliche Lösungswege ab. Die eine Strategie besteht darin, innerhalb der dramatischen Form selbst ein fundierendes Prinzip aufzufinden, das geeignet wäre, eine Verbindung herzustellen zwischen der fiktiven Welt des Dramengeschehens und dem außerliterarischen Bereich der Kulturgeschichte. Ein solches Konzept, das diese eigentümliche Doppelfunktion erfüllen und die 44
Werner Jung, Georg Lukács, Stuttgart 1989, S. 38.
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gesuchte Verknüpfungsleistung erbringen könnte, glaubt Lukács im Begriff der >Weltanschauung< gefunden zu haben. Die »Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« erprobt darüber hinaus noch einen zweiten möglichen Weg, die genannte Aporie aufzulösen: sie versucht, das Moment der Krise, der sich zuspitzenden Problematik und des Verfalls in die Definition des Dramas selbst hineinzunehmen. Damit erscheint das (kulturgeschichtliche) Problem des Verfalls nicht mehr als ein der Dramenform äußerliches Moment, sondern als eine literaturimmanente, mit der dramatischen Form selbst gegebene Grundbestimmung. Was den ersten der beiden Lösungsansätze betrifft, läßt sich beobachten, daß Lukács das Weltanschauungskonzept letztlich nicht analytisch klärt, sondern es in einer eigentümlichen Doppelheit und Ambivalenz beläßt. Der Weltanschauungsbegriff der >Dramengeschichte< läßt ein charakteristisches Schwanken zwischen einem formalen, poetologischen Prinzip einerseits und einem historisch-soziologischen Konzept andererseits erkennen. Mit diesem Begriff ist offenbar zunächst ein besonderer Modus der Verknüpfung der Einzelmomente des Dramengeschehens intendiert. Grundlegend ist dabei der Gedanke, daß es im Drama bei der Organisation des poetischen Materials vor allem auf das Herstellen eines Zusammenhangs, auf die Konstruktion eines ungebrochenen Kausalnexus ankomme. Erst durch die durchgängige Motiviertheit ihres Geschehens und die innere Stringenz ihres Aufbaus erreiche die Dramenfiktion den für sie charakteristischen und konstitutiven Status eines für sich bestehenden, unabhängigen Ganzen: »Im Leben existieren die Erscheinungen durch ihr bloßes Sein, die Verbindungen zwischen ihnen sind nur nachträglich. Die dramatischen Erscheinungen haben keine andere Realität als ihr Verknüpftsein.« (ED 27). Die dramatische Wirkung, so die These, sei gänzlich angewiesen auf den Eindruck der Notwendigkeit und auf die Suggestion, daß in der unaufhaltsamen Kette der aufeinander folgenden Ereignisse für das Moment des Zufalls kein Ort sei: Die Ordnung, der vielfache und komplizierte Zusammenhang der Dinge und die unerbittliche Notwendigkeit dieser Verknüpfung, des Auseinander-Folgens der Dinge ist das wichtigste formale Grundprinzip des Dramas. In ihm ist alles konstruiert. [...] Es kann in ihm keinen Zufall, keine Idee und keine Episode geben, [...] [die] nicht mit unerbittlicher Strenge in die große notwendige Architektur des Dramas hineingestellt ist (ED 27).
Das zentrale Prinzip des Zusammenhangs ist hier das Gesetz der Kausalität. Die »Elemente des durch das Drama geschaffenen Kosmos« (ED 28) bilden eine nicht abreißende Kette der Ursachen und Wirkungen, die - zumindest in ihrer idealtypischen Ausprägung - dem Moment der Kontingenz keine Einlaßstelle bieten und die vollkommene Kohärenz des Dramas begründen. Diese Vorstellung einer kausalgenetischen Kette der Ursachen und Wirkungen führt Lukács zu der Frage nach einem letzten Fundament der Dramenstruktur, einer ultima causa, die einem unendlichen Regreß der Ursachenforschung vorbeu-
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gen und jene das Drama bestimmende Logik der Kausalität in einem letzten Ursprung absichern könnte (vgl. ED 28). Eine solche Letztfigur, die die innere Stringenz der Dramenhandlung begründet und ermöglicht, ist, so argumentiert Lukács, in der dem Drama zugrunde liegenden >Weltanschauung< gegeben. Neben dieser formalen, gewissermaßen von den poetologischen und literarischen Erfordernissen des Dramas her argumentierenden Herleitung und Bestimmung des Weltanschauungsbegriffs bietet Lukács indessen noch eine andere Erklärung dieser Idee, die an zeitgenössische geschichts- und kulturtheoretische Auffassungen Anschluß sucht. Im Rückgriff auf die zeitgenössische Diskussion,45 geht Lukács von der Annahme aus, daß >Weltanschauungen< gewisse basale, strukturbildende Elemente des soziokulturellen Lebens darstellen, die den geistigen Habitus oder >Stil< der jeweiligen geschichtlichen Epoche kennzeichnen. Die »Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« bleibt allerdings in ihren Erläuterungen und Bestimmungen des Begriffs auf dieser abstrakten, typologischen Formulierungsebene - eine genauere Analyse des Zusammenhangs von literarischer Struktur und gesellschaftlicher bzw. kulturgeschichtlicher Entwicklung bietet sie nicht. Das Weltanschauungskonzept wird allenfalls auf einer sehr allgemeinen, transzendentalphilosophischen Ebene näher zu erörtern und zu klären versucht. In dieser gewissermaßen Kantischen Blickrichtung erscheint sie als eine Art dramatisches Apriori, als die formale Bedingung der Möglichkeit dessen, was im Rahmen der Dramenfiktion möglich ist und was dort geschehen kann: Was wir [...] mit Hilfe der Formanalyse als dramatische Weltanschauung herauskristallisierten [...], ist die stillschweigende Bestimmung dessen, was in der Welt, die vor uns liegt, möglich und unmöglich ist, inwiefern und wie etwas möglich ist. Sie ist die unsichtbare Grenze und der Rahmen der Handlung, der Gefühle und der Gedanken. [...] Die Weltanschauung ist die mystische, immanente Einheit der Welt des Dramas. (ED 31)
Der Schluß des Zitats, der Gedanke der >Weltanschauung< als »mystischer [...] Einheit der Welt des Dramas« läßt erneut die definitorische Vagheit und Unscharfe des Konzepts erkennen. Es ist klar, daß diese Formel keine analytische Figur bereitstellt, sondern nur eine sehr spekulative, ins Metaphysische ausgreifende Vorstellung umkreist. Ein weiterer im Kontext der Lukácsschen Definitionsansätze ungeklärter Aspekt besteht in der Frage, wie die Weltanschauung als ein Moment, das sich im Verlauf der Kulturgeschichte von Epoche zu Epoche verändert, die historische Einheit und Kontinuität der Gattungstradition des Dramas ermöglichen und gewährleisten soll. Zwar gehört es zu den Grundannahmen des 45
Zu nennen sind hier vor allem die in der Dilthey-Nachfolge aufkommenden Weltanschauungstypologien. Zu diesem Problemkreis vgl. Odo Marquard, Weltanschauungstypologie, in: Festschrift für M. Müller, hg. H. Rombach, München 1966, S. 428-442.
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zeitgenössischen Diskurses, daß sich der historische Wandel der >Weltanschauung< nur im Rahmen bestimmter, wiederkehrender Typen möglicher Weltanschauungen bewegt. Jedoch wird man zugestehen müssen, daß diejenigen Momente, die das Typische, Konstante und Bleibende der Weltanschauungen darstellen, nicht zugleich das erfassen können, was das Besondere und Spezifische der jeweiligen kulturgeschichtlichen Situation ausmacht. 46 Die typologische Betrachtungsweise verfehlt so letztlich das, was sie erfassen will - nämlich den Bezug zu einer konkreten kulturgeschichtlichen Konstellation. Ebensowenig vermag die Weltanschauungstheorie die Lukácssche Dramengeschichte aus dem Gegensatz von Entwicklungsgeschichte und Verfallsgeschichte herauszuführen. Auch über das Weltanschauungskonzept gelingt es nicht, die Kluft zwischen altem und neuem Drama zu überbrücken und einen Zusammenhang aufzuzeigen, der moderne Gegenwart und antike Vergangenheit miteinander verknüpft. Die Idee der Weltanschauung bleibt als gesuchter gemeinsamer Nenner des alten und des neuen Dramas merkwürdig abstrakt und bedeutungsleer. Lukács erprobt nun im Rahmen seiner dramenpoetologischen Darlegung noch eine andere Möglichkeit, den Widerspruch von genetischer Entwicklung und Kulturkritik aufzulösen und die Fortsetzbarkeit und Anschlußfähigkeit der alten Tragödientradition auch für die literarische Moderne zu postulieren. Dieser Lösungsweg besteht darin, das Moment des Verfalls in die Definition des Genres selbst mitaufzunehmen. Bietet nämlich die Tragödie - so die Grundidee dieser Strategie - bereits ihrer Definition nach ein Modell der Krise und der konfliktreichen Auseinandersetzung, dann dürfte klar sein, daß sie sich auch unter negativen geschichtsphilosophischen Bedingungen, in Zeiten des Abstiegs und Verfalls, als eine geeignete und zeitgemäße literarische Gattung bewährt. Das Drama erwiese sich somit geradezu als die literarische Form par excellence, die unter solchen Bedingungen weiterbestehen und sich behaupten kann. 47 Aufgrund seiner formalen Beschaffenheit hätte das Drama auch unter historisch schwierigen Bedingungen eine Chance des gattungsgeschichtlichen Fortbestehens und des kulturellen Erfolgs. Lukács interpretiert nun die zuvor herausgearbeiteten poetologischen Merkmale des Dramas - das Prinzip des dramatischen Konflikts, die formale Geschlossenheit des Geschehens, den abstrakten, stark formalisierten Stil des Dialogs - unter dem Gesichtspunkt der Verfallsthese. All jene Kennzeichen insbesondere der antithetische Grundzug des Dramas mit seiner Konfrontation einander gegensätzlicher Ideen und Prinzipien - erscheinen nun als Sympto46
47
Odo Marquard spricht im Blick auf diesen Zusammenhang treffend vom »latenten Ahistorismus des historischen Sinns« (Weltanschauungstypologie, in: Festschrift für M. Müller, hg. H. Rombach, München 1966, S. 428^142, hier S. 439) Lukács ist hier noch nicht, wie später in der »Theorie des Romans«, am Roman als dem führenden literarischen Genre der Moderne orientiert, sondern denkt noch mit Hegel das Drama bzw. die Tragödie als höchste Form und als Abschluß einer geschichtsphilosophischen Triade literarischer Gattungen.
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3.
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me einer tieferliegenden Figur der Krise und des Verfalls: »Alle Dialektik ist ein Zeichen des Zerfalls; die Dialektik ist sowohl ein Symbol des inneren Zwiespalts, des inneren Problematisch-Werdens, wie sie auch ihr Ausdrucksmittel ist« (ED 46). Die Schwierigkeiten der hier erörterten Deutung des Dramas im Zeichen der Verfallsthese liegen auf der Hand: Die Abhandlung bietet über die vage Grundstimmung der Krisis hinaus kaum eine genauere theoretische Klärung ihrer basalen Vorstellung des Abstiegs und der Degeneration. Auch der historische Bezug dieses Konzepts wird vergleichsweise unbestimmt und allgemein gehalten. Die Verfallsthese scheint hier eher Teil eines generellen kulturpessimistischen Grundgestus zu sein als das Resultat genauer historischer und poetologischer Analysen. Zwar modifiziert Lukács die Verfallsthese unter klassensoziologischem Gesichtspunkt - es gehe jeweils um einen Prozeß der inneren Auflösung und Destabilisierung einer bislang gesellschaftlich führenden Klasse. Doch auch hier bleibt die Frage nach der Vergleichbarkeit historisch und kulturell verschiedener Gesellschaftsformen (und ihrer Schichtungsverhältnisse bzw. Differenzierungsformen) als Problem bestehen. Lukács versucht nämlich, historisch sehr unterschiedliche Beispiele in Beziehung zu setzen und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. So will er zum einen die Blütezeit der attischen Tragödie in einen Zusammenhang mit dem Abstieg der Eugeneis-Klasse im klassischen Athen stellen, während er zum anderen den Erfolg des Renaissancedramas im Kontext der nachmittelalterlichen Krise des Feudalsystems interpretiert. Es wäre zu fragen, ob diese weit ausgreifende Parallele tragfähig ist (i.e. eine zureichende Vergleichsbasis hat) oder ob hier nicht im Grunde Verschiedenes und Inkommensurables in eins gesetzt wird. Auch die These, daß das Drama immer Produkt des Verfalls sein müsse, läßt sich in dieser axiomatischen Fassung wohl kaum aufrecht erhalten und bedürfte einer genaueren historischen Untersuchung. Es kann indessen im Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchung über das genetische Schreiben nicht darum gehen, die historische Reichweite und Adäquatheit des Lukácsschen Dramen- und Verfallskonzepts zu diskutieren oder die dramenpoetologische Relevanz des Weltanschauungskonzepts im einzelnen zu erörtern. Aus den vorangehenden Darlegungen dürfte allerdings deutlich geworden sein, daß beide Konzepte, das der Weltanschauung und das des Verfalls, mit problematischen Implikationen versehen sind und die schwierige Frage nach dem Zusammenhang von (immanenter) Dramengeschichte und Kulturgeschichte im Grunde ungeklärt lassen. Auch der gesuchte genetische Zusammenhang von griechisch-antiker Tragödie und modernem Drama scheint sich weder im Rekurs auf eine Typologie der Weltanschauungen noch durch die Annahme eines fundamentalen, die Struktur des Dramas bestimmenden Prinzips des Verfalls überzeugend herstellen zu lassen. Dieser gewissermaßen negative Befund, den die Untersuchungen zur argumentativen und konzeptuellen Struktur des Textes erbringen, läßt es naheliegend erscheinen, die Bedingungen der besonderen Wirkung und der (nicht
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zuletzt durch die Preisverleihung bezeugten) eigentümlichen Faszination der Dramengeschichte nicht in erster Linie in der Argumentationslogik und der gelungenen literatursoziologischen Fundierung der Abhandlung zu suchen. Die Stärke der Dramengeschichte, ihr spezifischer Evidenzeffekt, hat - so die hier favorisierte These - ihren Grund weniger im Bereich ihrer theoretischen und kultursoziologischen Konzepte, sondern vielmehr in der rhetorischen Dimension des Schreibens. Der besondere Effekt des Dramenbuchs ist, so läßt sich vermuten, ein spezifisch literarischer. Die eindrucksvolle Figur des genetischen Zusammenhangs von modernem Drama und antiker Tragödie, die sich - gewissermaßen als Fluchtpunkt der Ausführungen - in der Dramengeschichte abzeichnet, könnte in dieser Form nicht zustande kommen ohne die spezifische Schreibweise und die ausgefeilte Kompositionstechnik des Textes. In den folgenden Darlegungen geht es daher um eine genauere Analyse der Schreibweise und rhetorischen Verfahrensweise der Dramengeschichte. Im Vordergrund steht dabei der Versuch, zu ermitteln, welche Funktion den rhetorischen und stilistischen Aspekten des Schreibens im Kontext der übergreifenden Strategie der Abhandlung zukommt und inwiefern sie für die dort profilierte genetische Begründungsfigur konstitutiv sind.
3.3.2
Zur rhetorischen Struktur der Dramengeschichte
Die Ausführungen der »Entwicklungsgeschichte« zum theoretischen Begriff und zur idealtypischen Form des Dramas, die für Lukács mit der historischen Gestalt der griechisch-antiken Tragödie zusammenfallen, bewegen sich im Medium eines besonderen Stils, einer spezifischen Rhetorik. Dieser rhetorische Grundzug des Textes ist mit der semantischen Leitvorstellung der immanenten Abgeschlossenheit und ganzheitlichen Struktur der Dramenform aufs engste verknüpft. Einen ersten Hinweis auf diesen Zusammenhang bietet etwa die folgende Einlassung: »Der Inhalt des Dramas ist das ganze Leben, ein ganzes, vollkommenes, in sich geschlossenes Universum, welches das ganze Leben bedeutet, das selbst das ganze Leben sein muß. [...] Das Drama muß [...] in einem kleinen Raum, in kurzer Zeit, mit einer begrenzten Zahl an Personen die Illusion der ganzen Welt erwecken« (ED 26). Besondere Aufmerksamkeit verdient hier weniger das Totalitätsmotiv als solches, die Vorstellung des Dramas als eines selbständigen, kosmoshaften Gebildes, als einer in sich abgeschlossenen Welt; zu beachten ist vielmehr, daß dieses Leitkonzept sich über spezifische rhetorisch-stilistische Merkmale artikuliert und erst durch jene Kontur gewinnt. Da ist zunächst der insistierende Gestus des Textes, der die Schlüsselbegriffe des Ganzen, Vollständigen und Welthaften leitmotivisch wiederholt und so der basalen Vorstellung der Ganzheit und Autonomie besonderen Nachdruck verleiht. Darüber hinaus weist der wiederkehrende Gebrauch des Hilfsverbs »müssen« darauf hin, daß es sich um notwendige Merkmale des Dramas handelt, die nicht ohne weiteres durch andere Bestim-
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mungen ersetzt werden können. Auch die Verwendung des Superlativs bzw. von Ausdrücken mit superlativischem Sinn (»vollkommen«, »ganz«, »völlig in sich geschlossen«) dienen hier als Mittel der Emphase und der rhetorischen Stilisierung und Inszenierung des Gegenstands: Das Drama ist [...] völlig in sich geschlossen, in sich vollendet [...]. Wir empfinden es als vollkommen, denn in uns [...] kann ihm gegenüber kein Gefühl des Mangels entstehen; wir können uns auch nicht vorstellen, was noch in diese Welt gehören könnte und was ihr doch fehlt. (ED 30)
Neben den oben beobachteten Techniken der Emphase und der pointierenden Hervorhebung verdient noch ein weiterer Aspekt der rhetorischen Vorgehensweise des Textes genauere Beachtung. In gewisser Entsprechung zur »Theorie des Romans« läßt sich nämlich auch in der Dramengeschichte ein eigentümlicher Sprachduktus der Notwendigkeit und der unabdingbaren Konsequenz beobachten, der das Drama als ein völlig stringentes, einer eigenen immanenten Logik folgendes Gebilde hervortreten läßt. In diesem Zusammenhang avancieren >OrdnungNotwendigkeit< und >Verknüpfung< zu leitenden Signifikaten der rhetorischen und argumentativen Struktur des Textes: »Die Ordnung, der vielfache und komplizierte Zusammenhang der Dinge und die unerbittliche Notwendigkeit dieser Verknüpfung, des AuseinanderFolgens der Dinge ist das wichtigste formale Grundprinzip des Dramas. In ihm ist alles konstruiert« (ED 27). Fast hat es den Anschein, als wolle die Abhandlung für den formalen Aufbau des Dramas jene unerbittliche Konsequenz und Unaufhaltsamkeit des Ablaufs in Anspruch nehmen, die in der Tradition dem antiken Fatum zukommt: »Es kann in ihm [i.e. dem Drama] [...] keine Idee und keine Episode geben, [...] [die] nicht mit unerbittlicher Strenge in die große notwendige Architektur des Dramas hineingestellt ist, die mit mathematischer Genauigkeit und mit Unfehlbarkeit konstruiert ist« (ED 27). An der zitierten Stelle geht es um eine Relation besonderer Art. Das Drama stellt sich dar als ein Zusammenhang der immanenten Bedingtheit und der inneren Notwendigkeit, als ein Gefüge, in dem die Einzelteile auf streng motivierte Weise aufeinander und auf das Ganze bezogen sind. Dieses Bild einer streng motivierten Konstruktion, das der Text in Metaphern der Architektur und der Mathematik umschreibt, bietet schließlich die Voraussetzung dafür, für das Drama eine besondere, exklusive Stellung unter den übrigen literarischen Gattungen zu postulieren: »[Das Drama] drückt [...] primitivere, weniger verfeinerte und komplizierte Gefühle aus als die anderen literarischen Gattungen und doch ist es unter ihnen die abstrakteste, doch steht es der Philosophie am nächsten« (ED 33). An die Vorstellung der größeren Abstraktionslage und der streng kalkulierten Form, wie sie hier für das Drama gefordert wird, knüpft sich so eine spezifische Rhetorik des Besonderen und des notwendig Gegebenen, die dazu tendiert, das Moment des Zufalls aus ihren Beobachtungen auszuklammern und so das Bild eines in sich geschlossenen, vollständig motivierten Zusammenhangs entwirft.
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Schon hier lassen sich zwei verschiedene Hinsichten unterscheiden, in denen der oben verzeichnete Effekt des Notwendigen und Unbedingten zur Geltung kommt. Die oben skizzierte Vorstellung knüpft sich nämlich sowohl an den Gegenstand der Abhandlung, das Drama, als auch an die Ebene seiner Analyse und Beschreibung. Zum einen ist es das Drama, das im Licht einer immanenten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit vorgestellt wird, zum anderen beansprucht aber auch der Lukácssche Diskurs für sich jene Prädikate des notwendigen Zusammenhangs und des streng motivierten Auseinanderfolgens der Teile, die auf der inhaltlichen Ebene der Dramenform zukommen sollen. Diese Doppelheit der Bezugsebenen ist für die hier untersuchte rhetorische Funktionsweise des Textes konstitutiv. Es ist wichtig, sich bewußt zu machen, daß der genannte Duktus der inneren Folgerichtigkeit und Unbedingtheit an bestimmte konkrete sprachliche Merkmale gebunden ist bzw. durch jene erst wirksam wird. So wird die Vorstellung des notwendigen Gegebenseins der formalen Eigentümlichkeiten des Dramas nicht zuletzt durch die besondere Prominenz der modalen Hilfsverben >müssen< und >können< suggeriert, von denen die Dramengeschichte im Zuge ihrer Darlegungen immer wieder Gebrauch macht. >Können< tritt dabei bezeichnenderweise meist in Verbindung mit der Verneinung oder dem einschränkenden Adverbial >nur< auf. Die entsprechenden Formulierungen verweisen auf einen Sachverhalt, der in strenger Ausschließlichkeit gegeben ist und keine Ausnahmen und Alternativen zuläßt. Die Spezifika des Dramas, so der Tenor dieser Schreibweise, sind das, was sie sind, und können nichts anderes sein: »Der dramatische Kampf kann nur ein zwischenmenschlicher Kampf sein, das Drama kann auch die aus metaphysischen Gründen entstehenden Kämpfe nur in soziologischer Form darstellen« (ED 25). »Ein vollkommenes Drama kann nichts anderes sein als eine Tragödie« (ED 25). »Die Erscheinungsform der dramatischen Erscheinungen kann nur das Auseinanderfolgen und die Über- und Unterordnung sein« (ED 27). »Dem Schicksal kann nur das seinen bestimmten Sinn geben, daß es von außen kommt« (ED 35). Ein entsprechender Effekt ergibt sich bei den Konstruktionen mit dem Modalverb >müssenmüssennicht könnender maximale Widerstand ist der eindrucksvollsteWesen< und >Kern< der Tragödie - eine Sprechweise, die auf die für den genetischen Diskurs zentrale Unterscheidung von Innen und Außen zurückgreift. Insgesamt charakterisieren die genannten Signifikate, >KernWesen< und notwendiger Zusammenhangs das Emstsche Drama als ein Gebilde, das nicht der Kontingenz unterliegt und dem daher eine auf wesenhaften Relationen beruhende, einheitliche Bedeutung zu-
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3.
Kapitel
kommt. Vor der Folie dieser sprachlich-stilistischen Affinität zu den früheren Ausführungen zur antiken und prototypischen Form des Dramas erhält das Schema des genetischen Rekurses erst seine suggestive Wirkung und rhetorische Prägnanz. Im Medium der Rhetorik des Textes vollzieht sich so die Ausführung und kreisförmige Schließung der genetischen Argumentationsfigur. Mit der neuklassischen Tragödie, so die Suggestion, ist die Entwicklung des Dramas zu ihrem genealogischen Ursprung, zur antiken Gattungstradition, zurückgekehrt. Es sei hier indessen darauf hingewiesen, daß der Eindruck der unmittelbaren und fraglosen Evidenz, mit der der oben skizzierte Rückgriff auf das antike Drama einhergeht, trügerisch ist. Die sich hier abzeichnende Figur des notwendigen, sich selbst bedingenden Zusammenhangs erweist sich nämlich bei näherem Hinsehen als prekär. Betrachtet man Lukács' Lektüre und Kommentar des Ernstschen Nibelungenstücks, so fällt auf, daß das Schema des notwendigen Verlaufs, das hier unterstellt wird, einer genaueren Untersuchung und Überprüfung am konkreten Gegenstand nicht stand hält. Die Paraphrasen des Nibelungenstücks, die der Text anbietet, fügen sich nämlich keineswegs zu jenem Bild eines notwendigen, streng motivierten Ablaufs zusammen, das die Abhandlung so eindringlich beschwört: Alle Motive sind möglichst einfach und groß angelegt: Siegfried und Brunhild sind füreinander geschaffen; sie verkörpern die wahren Liebenden, die sich tieferlieben als gewöhnlich Liebende [...]. Gunther und Chriemhild sind die gewöhnlichen Menschen, deren Liebe nur sinnlich ist, die sich [...] nach der entgegengesetzten, nach der höheren [...] Liebe [sehnen]. [...] Deshalb reicht Chriemhild dem Bräutigam Brunhilds, Siegfried, den Trank, der alles vergessen läßt, deshalb wünscht Gunther den Sieg Siegfrieds über Brunhild als Vergeltung für die Hand Chriemhilds. (ED 506)
Der vorherrschende Eindruck, der hier entsteht, ist eher der eines merkwürdigen Nebeneinanders heterogener Dinge und Sachverhalte, eines eigentümlichen Zusammentreffens von Umständen, das eine nähere Erklärung oder eine kausallogische Herleitung und Begründung nicht zuzulassen scheint. Zwar suggerieren das (wiederholt verwendete) Adverbial »deshalb« und die Konjunktion »um zu« eine kausale Verknüpfung der dargestellten Sachverhalte, doch die einzelnen Motive stehen als nur lose verbundene, im Grunde heterogene Entitäten nebeneinander. Auch die Differenzierung des Liebeskonzepts in zwei verschiedene Spielarten vermag die Verknüpfung der Handlungen und Ereignisse nicht hinreichend zu motivieren. Die Folge der Handlungen der Dramenfiguren, die Lukács in einer längeren Aufzählung vorführt hat, so scheint es, kein Fundament in einem tieferliegenden, wesenhaften Zusammenhang, sondern erweist sich als völlig kontingent. Die syntaktische Figur der Aufzählung ist nur der konkrete stilistische Ausdruck für den Modus des kontingenten Nebeneinanders, den die aufeinander folgenden Einzelereignisse des Ernstschen Dramas annehmen.
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Als Strukturformel des skizzierten Dramengeschehens ergibt sich somit nicht, wie die oben erörterte Attitüde des Notwendigen und Unvermeidbaren zunächst vermuten läßt, die Figur eines kohärenten, in einem wesenhaften Signifikat gründenden Zusammenhangs. Die hier relevante Verknüpfungsform ist vielmehr die metonymische Relation des zufälligen Zusammentreffens und der Berührung. In Form jener metonymischen Relation ist der sprachlichen und textuellen Struktur auch der Dramengeschichte ein latenter Vorbehalt eingeschrieben gegenüber einer Rhetorik der inneren Stringenz und des ganzheitlichen Zusammenhangs, wie sie das genetische Prinzip der Kulturgeschichtsschreibung mit sich führt. Lukács' Ausführungen zum Nibelungendrama zeigen dabei den für die Metonymisierung der metaphorischen Rede typischen Effekt: Was zunächst als notwendige, nicht anders denkbare Gegebenheit erscheint, wird als kontingentes Phänomen sichtbar. Mit dem hier angedeuteten Moment eines unterschwelligen Einwands könnte auch der ausgeprägte stilistische Habitus der Frage und der Skepsis zusammenhängen, mit der die Dramengeschichte ihre Überlegungen zum Drama der neuklassischen Autoren abschließt: Das ist aber eine Frage, die man heute überhaupt nicht beantworten kann [...] die Frage, ob die dramatische Entwicklung, die im 18. Jahrhundert begann, schon zu Ende ist, oder ob die Dramenform, so wie wir sie sahen (mit der Tragödie als Gipfelpunkt) überhaupt zu Ende ist [...]. (ED 37-38)
Im folgenden Kapitel geht es um eine etwas andere Spielart des genetischen Blicks auf die Kultur- und Literaturgeschichte. Die für die Lukácssche Betrachtungsweise so grundlegende Annahme eines geschichtsphilosophischen Gegensatzes von antiker und moderner Welt wird dort zunächst durch ein andersartiges, lebensphilosophisch inspiriertes Schema der kulturellen Erneuerung ersetzt und schließlich in der Vorstellung einer übergreifenden Einheit und dauerhaften Kontinuität der europäischen Bildungstradition aufgehoben und zurückgenommen.
4. Von der Entwicklungsgeschichte zur Topik der (europäischen) Tradition Die Bedeutung des genetischen Prinzips für E. R. Curtius' literaturund kulturgeschichtliche Arbeiten
4.1
Kulturgeschichtliche Essayistik des frühen Curtius: »Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich« als Ausgangspunkt
4.1.1
Konzeptuelle und geschichtstheoretische Gesichtspunkte: Individualgeschichte als Modell kulturgeschichtlichen Wandels
Ernst Robert Curtius' heute wenig bekannte Frühschrift »Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich« bereitete zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung ihrem Verfasser einen erstaunlichen (außerakademischen) Erfolg und begründete nachhaltig dessen literarisch-essayistisches Renommee.1 Dieser positiven Resonanz bei einem weiteren gebildeten Lesepublikum - die »Wegbereiter« erschienen 1923 in dritter Auflage - widerspricht allerdings die eher skeptisch-distanzierte bis negative Rezeption, die das Buch in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Fachkreisen erfahren hat. Denn die »Literarischen Wegbereiter« trugen Curtius nicht nur die scharfe Kritik Georges ein,2 sie provozierten auch die Einwände und das insgesamt negative Urteil der romanistischen Fachgemeinschaft, wie es sich den einschlägigen Rezensionen entnehmen läßt.3 Das erkenntnisleitende Motiv der »Wegbereiter« ist denn auch erklärtermaßen nicht in erster Linie ein rein wissenschaftliches 1
2
3
Vgl. Harald Weinrich, Emst Robert Curtius: Das Deutschlandbild eines großen Romanisten, in: E. R. Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelberger Symposion zum hundertsten Geburtstag 1986, hg. Walter Berschin und Arnold Rothe, Heidelberg 1989, S. 135-151, hier S. 139. Zu Stefan Georges Kritik an den Wegbereitern vgl. Gundolfs Brief an Curtius vom 26. 9. 1916 in: Friedrich Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, hg. L. Heibig u. C. V. Bock, Amsterdam 1963, S. 258-260. Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Hans Hinterhäuser, Die Wegbereiter - perspektivisch betrachtet, in: E. R. Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven (Anm. 1), S. 103-114, hier S. 106-109.
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4. Kapitel
oder theoretisches. Geht es doch dem Verfasser vordringlich darum, einem deutschsprachigen literarischen Publikum jene zeitgenössischen französischen Schriftsteller bekannt zu machen, die ihm in besonderer Weise als richtungweisend für die weitere Entwicklung der französichen und europäischen Literatur gelten und die in Frankreich eben erst von einem weiteren Leserkreis entdeckt worden sind. Der Schreibgestus der »Wegbereiter« ist somit von dem Bewußtsein getragen, in zweifacher Hinsicht Pionierarbeit zu leisten: da ist zum einen der Impuls, in einen fremdsprachigen Kontext dort bisher allenfalls von >Kennern< rezipierte Texte und Autoren einzuführen, zum anderen aber auch das Programm, an einigen exemplarischen Vertretern der zeitgenössischen literarisch-kulturellen Szene Frankreichs die potentielle weitere Entwicklungsrichtung des europäischen Geistes< abzulesen zu versuchen.4 In den Vordergrund der Analyse rückt für Curtius zugleich die Frage nach der Stellung des zeitgenössischen französischen Intellektuellen zur literarischen Tradition sowie nach dessen möglicher innovativer Funktion im historischen Kontext. Angesichts dieser Problemstellung und Ausgangsfrage der »Wegbereiter« mag es zunächst verwundern, daß Curtius als exemplarische Vertreter des literarischen Lebens im zeitgenössischen Frankreich eine Gruppe von fünf Autoren auswählt, die hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft, ihrer politischen und religiösen Anschauungen, ihrer literarischen Vorlieben und ihrer denkgeschichtlichen Voraussetzungen auf den ersten Blick höchst heterogen zu sein scheinen, die aber doch als gleichermaßen Zukunft- und richtungweisend für eine erhoffte, kommende europäische Literatur vorgestellt werden: André Gide, Romain Rolland, Paul Claudel, André Suarès und Charles Péguy. Dem gemäßigten sozialen Engagement eines Romain Rolland steht auf der anderen Seite der (zunächst sozialistisch inspirierte, später konservative) literarische Radikalismus seines Schülers Charles Péguy gegenüber, mit der protestantischen Kulturtradition André Gides kontrastiert der emphatische Katholizismus eines Paul Claudel, der dezidierte Pazifismus Rollands steht in offenem Gegensatz zu Péguys patriotischem Bekenntnis zur militärischen Gewalt, wenn es um die Abwehr des deutschen Imperialismus zu tun ist, Gides und Rollands Kosmopolitismus schließlich finden ein Gegengewicht in André Suarès' Provinzialismus und dessen Neuschöpfung eines bretonischen Mythos. Was Autoren so unterschiedlicher sozialer und intellektueller Provenienz in Curtius' Augen miteinander verbindet, läßt sich indessen im Blick auf die Argumentationsrichtung der »Wegbereiter« vorwegnehmend und verkürzt auf eine einfache Formel bringen: die genannten hommes de lettres repräsentieren für Curtius eine weiterreichende, kulturgeschichtliche Tendenz, die er als eine Überwindung der vorherrschenden Vgl. E. R. Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, Vorwort zur ersten Auflage (1918), wieder abgedruckt in: E. R. Curtius, Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert, 3. Auflage, Bern u. München 1965, S. 5 - 2 7 3 , hier S. 5. Für diese Ausgabe der Wegbereiterschrift verwende ich im folgenden die Abkürzung Wb.
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Mentalität des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufgefaßt wissen will, als eine >Aufhebung< jener prominenten philosophie- und literaturhistorischen Richtung also, die sich schlagwortartig mit den Stichworten fin-de-siècle, décadence und Ästhetizismus umreißen läßt. Es ist somit kein Zufall, daß in der Curtiusschen Frühschrift nicht etwa Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé als »literarische Wegbereiter«, als Begründer und Initiatoren der literarischen Moderne, angesprochen werden, sondern vielmehr andere Gewährsmänner als >Künder< des Neuen in Anspruch genommen werden. Curtius geht es nicht um die Formierung einer neuen, literarischen Avantgarde im Sinne des bewußten künstlerischen Formexperiments. Überhaupt widmet Curtius den einschlägigen literarischen Bewegungen des Symbolismus und des l'art pour l'art wie auch dem Naturalismus in seiner Studie nurmehr einen kurzen Nekrolog. Jene experimentellen literarischen und künstlerischen Bewegungen gehören für Curtius, daran läßt seine Studie keinen Zweifel, ebenso wie die ideengeschichtliche Richtung des philosophischen Pessimismus einer vergangenen, überkommenen Gestalt des europäischen Geistes an, die er in einer neuen, lebensbejahenden und weltzugewandten Einstellung aufgehoben glaubt. Den »Literarischen Wegbereitern« geht es um die Entstehungs- und Emanzipationsgeschichte einer neuen, über den engeren literarischen Kontext hinausweisenden intellektuellen Bewegung im Frankreich der Jahrhundertwende, einer Bewegung, die sich als epochemachende Neuerung zunächst im vollkommenen Gegensatz zu ihrer unmittelbaren Vergangenheit und ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext definiert (vgl. W b 15). Symptomatisch f ü r das Pathos der einleitenden Abschnitte der Wegbereiterstudie ist die Figur radikaler Differenz, die die von Curtius in den Blick gerückte neue Literatur mit der Aura eines revolutionären Durchbruchs umgibt. Mit dieser Akzentuierung der zeitgenössischen Literatur als eines unvorhergesehenen literaturgeschichtlichen Novums argumentiert Curtius ganz im Sinne der zeitgenössischen (französischen) Quellen, entspricht es doch dem Selbstverständnis der Schriftsteller und Publizisten der Belle Epoque, das eigene literarische Unternehmen zum radikalen, epochemachenden Neubeginn zu stilisieren. 5 Davon zeugen die zahlreichen Selbstbeschreibungen der Bewegung als r e n a i s s a n c e françaises >renouveau< und >reveil< (vgl. W b 23). Für Curtius besteht kein Zweifel daran, daß jene durch die literarischen >Wegbereiter< initiierte Renaissance der Kultur denjenigen revolutionären politischen »Energien« nicht nachsteht, die in der großen Revolution von 1789 zum Ausdruck kamen (vgl. W B 7). Curtius greift hier zurück auf jene Logik der kulturellen Renaissance und der Erneuerung, wie sie für das 19. Jahrhundert Jules Michelet und Jacob Burckhardt entworfen haben. Im Sinne jenes Schemas der Selbsterneuerung
5
Vgl. Pierre-Olivier Walzer, Littérature française, Bd. 15, Le X X e siècle (1896— 1920), Paris 1975, Troisième Partie, Chapitre 1: Recherche de la modernité, S. 1 2 1 135.
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4. Kapitel
und Regeneration geht Curtius vom Konzept einer inneren Dynamik der Literatur- und Kulturgeschichte aus, einer Vorstellung, die zugleich eine relative Autonomie der Kulturentwicklung gegenüber der politischen Ereignisgeschichte und der Sozialgeschichte unterstellt. Die Richtung des kulturhistorischen Verlaufs könne zwar, so die Annahme, durch jene Faktoren gefördert oder beschleunigt, nicht aber grundsätzlich bestimmt werden. So erscheint die Dreyfusaffäre in der Optik des Curtiusschen Ansatzes nurmehr als der Katalysator, der eine in der intellektuellen Szene Frankreichs ohnehin bereits anlaufende Entwicklung vorantreibt und in Gang setzt: »Die innersten Lebensvorgänge des Volksgeistes empfangen ihr Gesetz nur von sich selbst. So falsch es daher wäre, in der Dreyfuskrise die Entstehungsursache der französischen Geisteserneuerungen sehen zu wollen, so bedeutsam ist sie als auslösender Anlaß für die neue geistige Haltung« (Wb 18). Doch wenngleich sich die Dreyfusaffäre in dieser Deutung keineswegs als Ursache der hier supponierten Kulturerneuerung darstellt, erhält sie gleichwohl eine nicht zu unterschätzende Funktion: bildet sie doch den Prüfstein für die neue, sich von der prävalenten Stimmung des fin-de-siècle und des literarischen Pessimismus ablösende intellektuelle Mentalität: Mitten in einem Ambiente der »Skepsis, des Materialismus, des Pessimismus und des dekadenten Genießertums«, so Curtius, »brach [mit der Dreyfusaffäre] jäh in der Nation eine Krise auf, die alle geistigen Menschen zur entscheidenden Tat zwang« (Wb 15).6 Es ist offensichtlich, daß Curtius in dem suggestiven Bild, das er von der bestimmenden Mentalität des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des fin-desiècle entwirft, mehr das (negative) Zerrbild eines ermüdeten Dekadentismus und universalen Werterelativismus zitiert, als daß er einer literarischen und denkgeschichtlichen Richtung in ihrer Eigentümlichkeit Rechnung zu tragen suchte. Dies zeigt sich in der in den »Wegbereitern« wachgerufenen Phalanx bildungssprachlicher Topoi und stereotyper Formeln, die aus einer bestimmten kulturkritischen Perspektive das Negativbild einer neoromantischen und ästhetizistischen Kultur kennzeichnen. So stellt sich in der Sicht dieser Abhandlung die mit der französischen Romantik einsetzende Kulturentwicklung des vergangenen Jahrhunderts vorwiegend dar als Tendenz zu einer umfassenden »Zersetzung des Wertbewußtseins, [...] deren Prozeß die Krankheitsgeschichte des 19. Jahrhunderts ausmacht« (Wb 8). Die Geschichte der französischen Literatur seit der Romantik bedeutet für Curtius im wesentlichen Verfallsgeschichte. Curtius bestätigt einen seit dem frühen 19. Jahrhundert geläufigen Topos der Romantikkritik, wenn er annimmt, »daß ein Grundtrieb der Romantik der zur Auflösung aller Lebensgebilde, Grenzen und Formen ist« (Wb 9). Diese negativ akzentuierte Entwicklungslinie der französischen Kultur setzt sich nach Curtius' Darlegung fort in den Romanen Flauberts und
6
Zur historischen und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung der Dreyfusaffäre vgl. vor allem Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978.
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im Credo des l'art pour l'art, um schließlich in die einander nur scheinbar entgegengesetzten literarischen Richtungen der parnassischen Schule und des Symbolismus einzumünden. 7 Für Curtius rückt somit die gesamte literarische und philosophische Produktion des 19. Jahrhunderts in die Perspektive des kulturellen Verfalls. 8 Die literarischen Werke Huysmans, Flauberts und Mallarmés bedeuten Curtius kaum mehr als symptomatische Artikulationen eines allgemeinen Klimas der Erschlaffung und Ermüdung, 9 das die Negativfolie darbietet, vor der sich die anstehende und erhoffte Erneuerung und >Wiedergeburt< des französischen Geistes abhebt. Der Figur der Wiedergeburt und der Selbsterneuerung von Kultur korrespondiert die Vorstellung von Geschichte als Resultante und Produkt der Anstrengungen einzelner heroischer Individuen. Curtius' Konzept der kulturfördemden Tätigkeit einzelner >Wegbereiter< ist noch ganz dem historischen Mythos des 19. Jahrhunderts und einer Geschichtsphilosophie der historischen Individualkräfte verpflichtet, wie wir sie aus dem klassischen Historismus und aus dem Werk Jacob Burckhardts kennen. In diesem Sinne gilt Curtius der literarische Neuansatz der französischen Jahrhundertwende vornehmlich als das Werk heroischer Außenseiter, die - ihrer Zeit voraus - den weiteren Gang der französischen und abendländischen Geistesgeschichte antizipieren. Angesichts dieses individualistischen Geschichtsbildes des Verfassers ist auch die Wahl der Autorenbiographie als strukturbildender Subgattung des Wegbereiterbuchs nur konsequent: In der Biographie der genannten Protagonisten (Gide, Rolland, Claudel, Suarès, Péguy) entdeckt Curtius jeweils eben jene Krisen, Diskontinuitäten und unterschwelligen Kontinuitäten wieder, die nach seiner Auffassung für den Verlauf der modernen französischen Literaturgeschichte sowie für die projektierte Richtung der europäischen Geistesgeschichte insgesamt paradigmatisch sind. Die individuelle vita eines Gide und eines Rolland ist der Spiegel, in dem Curtius die künftigen Entwicklungslinien der globalen Kulturgeschichte Frankreichs bzw. Europas vorgezeichnet zu sehen glaubt. 10 7
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Die von den Parnassiens geforderte stoische impassibilité bildet nämlich für den Verfasser der »Wegbereiter« nurmehr eine andere Spielart, eine stilistisch-poetologische Variante, der »verfeinerten Sensibilität« (Wb 10) symbolistischer Kunst. Vgl. Wb 11-12: »In solchen pessimistischen Stimmungen, wie sie seit 1850 in steigendem Maße die geistige Signatur Frankreichs bestimmten, konnte man eine Erkrankung des Willens, eine Schwächung der Lebensenergie sehen. [...] So herrschten [...] in den breiten Schichten der Literatur pessimistische und relativistische Strömungen vor.« Curtius spricht von einer »tödlichen Lebensmüdigkeit« (Wb 13) und von den »niederziehenden Mächten« der Skepsis und des Pessimismus (Wb 15). Dieser (impliziten) Parallele von Individual- und Kulturgeschichte widerspricht die oben berührte marginale gesellschaftliche Position der betreffenden Autoren nur scheinbar, bietet doch die Rolle des Außenseiters und des Unzeitgemäßen gleichsam den Schutz des Inkognito, aus dem heraus sich die Wirkung auf eine nachfolgende Schriftstellergeneration gewinnen läßt.
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4. Kapitel
Im folgenden geht es darum zu zeigen, inwieweit Curtius in den »Literarischen Wegbereitern« an die Tradition des genetischen Erklärungsprinzips anschließt und in welchen Hinsichten sich Veränderungen und Modifikationen gegenüber dem herkömmlichen Formular der Entwicklungsgeschichte abzeichnen. Zu bedenken ist dabei, daß der einleitende Gestus des Bruchs und der Epochenzäsur für sich betrachtet noch nicht ausreicht, um einen (übergreifenden) historischen Zusammenhang zu konstruieren. Die Betonung des innovativen Moments allein bedeutet noch nicht, daß Curtius in den »Wegbereitern« dem Schema einer genetisch-entwicklungsgeschichtlichen Argumentation folgt. Es sind im wesentlichen drei Aspekte, die für eine Zuordnung der Curtiusschen Frühschrift zur Tradition des genetischen Erklärungsansatzes sprechen: 1. die eigentümliche Verschränkung von Individualgeschichte und allgemeiner Kulturgeschichte, 2. die besondere Bedeutung, die im Kontext der Wegbereiterarbeit der französischen Literaturtradition, insbesondere dem siècle classique, zukommt, und 3. der Rekurs auf ein dynamisches Prinzip von (vornehmlich biologischer) Evolution, wie es der frühe Curtius der Philosophie Bergsons entnimmt. 1. Die Vorstellung einer Verschränkung von Individualgeschichte und allgemeiner Geistesgeschichte stellt eine Grundidee der Wegbereiterarbeit und ein Axiom im Denken des frühen Curtius dar. Das Konzept dieses Wechsel- und Korrelationsverhältnisses scheint Curtius allerdings eher zu postulieren und wie selbstverständlich vorauszusetzen als zu erläutern oder theoretisch auszuarbeiten. Gleich zu Beginn der Abhandlung wird diese Doppelfigur lapidar formuliert: »Das Leben des Geistes verläuft in der Spannung zwischen schöpferischen und verarbeitenden Epochen. In jenen erzeugt er sich neuen Gehalt, in diesen macht er den neuen Gehalt für alle Lebensgebiete fruchtbar« (Wb 7). Es ist leicht zu ersehen, daß Curtius hier eine Goethesche Denkfigur aufgreift - das Konzept der »Polarität« oder des »geforderten Wechsels«. Diese Vorstellung ist vor allem aus dem Umkreis der naturwissenschaftlichen Studien Goethes bekannt. In der Farbenlehre ist, im Anschluß an die Beobachtung, daß ein graues Bild auf schwarzem Grund heller erscheine als auf weißem, die Rede von einem »Widerspruch, den jedes Lebendige zu äußern gedrungen ist, wenn ihm irgendein bestimmter Zustand dargeboten wird. So setzt das Einatmen schon das Ausatmen voraus und umgekehrt, so jede Systole ihre Diastole.«" Diese Idee eines notwendigen Gegensatzes, einer »Polarität«, wird in den folgenden Ausführungen Goethes vom engeren Kontext der Farben und des Sehens abgelöst und zur »ewigen Formel des Lebens« erhoben.12 In diesem abstrakteren, generalisierten Sinne scheint auch Curtius diese Gedanken11
12
I. W. Goethe, Zur Farbenlehre (Didaktischer Teil), in: Naturwissenschaftliche Schriften 1, Hamburger Ausgabe, Bd. 13, S. 314-523, hier S. 337. Ebd., S. 337.
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figur aufgenommen zu haben, denn in den »Wegbereitern« erscheint sie als eine wiederkehrende Formel der literaturgeschichtlichen Reflexion. 13 So wird etwa die von den literarischen >Wegbereitern< initiierte kulturelle Erneuerungsbewegung in den Termini eines individuellen, biographischen Entwicklungsverlaufs expliziert: »Sie [i. e. die neue Geisteshaltung] ist als lebendige seelische Gegebenheit einsichtig, aber in ihrem Kern ebensowenig als kausalnotwendiges Ergebnis der ihr vorausgegangenen Seelengeschichte erklärbar, wie im Leben des Einzelnen der Gefühlszustand des Augenblicks sich darin erschöpft, Resultante aller früheren Augenblicke zu sein« (Wb 29). In der hier supponierten Parallelität und Verknüpfung von Individual- und allgemeiner Geistesgeschichte ist ein erster, wichtiger Bezug zur Tradition des genetischen Ansatzes angesprochen.
2.
Ein zweiter Bezugspunkt zur Tradition des Genetischen ist darin zu sehen, daß es Curtius in seiner Untersuchung offenbar nicht nur darum geht, das Neue und Unvorhergesehene der von ihm exponierten literarischen >Bewegung< zu profilieren, sondern daß er darüber hinaus auch versucht, einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen aktueller, zeitgenössischer Literatur und literarischer Tradition, zu konstruieren. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, welche Traditionen der Verfasser der »Literarischen Wegbereiter« hier als impliziten Bezugspunkt und als historisches Substrat der neuen Bewegung vornehmlich im Blick hat - nämlich jene in Curtius' Sicht exemplarischen literarischen Hervorbringungen des siècle classique und der französischen Aufklärung. Dieser Bezug zur (französischen) Tradition bildet, wie noch zu zeigen ist, einen leitenden Gesichtspunkt der Wegbereiterstudie - so sehr Curtius auch die epochemachende nouveauté, das irreduzible innovative Moment der von ihm profilierten nachsymbolistischen Literatur herausstreicht. Der ostentativen Geste des Neuerers widerstreitet nämlich im Duktus der Curtiusschen Argumentation eine unterschwellige, latente Logik der evolutiven Kontinuität, die das Konzept eines geschichtsübergreifenden Zusammenhangs zwischen der klassisch-aufklärerischen Periode der französischen Kultur und der Gegenwart der zeitgenössischen literarischen >Bewegung< nahezulegen sucht. Die Kehrseite jener Rhetorik der Erneuerung bildet somit eine verborgene genealogische Deduktion, die die einander (scheinbar) entgegengesetzten Momente der Tradition und des Traditionsbruchs in einer höheren Synthese aufheben will. "
Man vgl. auch die entsprechende Parallelstelle des Aufsatzes »Goethe als Kritiker«, an der Curtius die genannte Goethesche Denkfigur zitiert und kommentiert: »Aus den Komplementärfarben erschaute Goethe ein großes Gesetz, das durch die ganze Natur geht, das Gesetz des geforderten Wechsels« (Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2. Auflage, Bern und München 1954, S. 31-56, hier S. 34).
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4. Kapitel 3.
Neben den beiden bereits genannten Gesichtspunkten spielt das der Bergsonschen Philosophie entlehnte dynamische Prinzip im Kontext der Abhandlung eine wichtige Rolle. Als eine evolutive, kontinuitätslogische Figur gehört dieses Motiv dem Umkreis genetischen Denkens an. In der Bergsonschen Philosophie erblickt Curtius bekanntlich den primären Impuls der >Bewegung< und die ersten Anzeichen jenes umfassenden Mentalitätswechsels, der sich nach seiner Darlegung im Frankreich der Jahrhundertwende vollzieht (vgl. Wb 3 1 40). Die eigentümliche Konjunktur des Bergsonismus in dieser Zeit gilt Curtius als das paradigmatische zeitgeschichtliche Zeugnis, an dem sich die von ihm als symptomatisch angenommene Wende von einem positivistischmechanistischen Bewußtsein zu einem neuen idealistischen Denkstil am genauesten ablesen lasse. Curtius erblickt in der Bergsonschen Philosophie - in gewisser Paralelle zum Selbstverständnis des Kantischen Ansatzes - eine Revolution der philosophischen Denk- und Vorgehensweise, eine vollständige »Umwälzung des Erkenntnisverfahrens« (Wb 31). Bergsons Neuansatz bedeutet für Curtius vor allem eine »philosophie de la mobilité« (Wb 33), die sich gegen die überkommenen Begriffsraster der Tradition und deren starre Kategorien wende. Bergson beziehe so den revolutionären Standpunkt einer »Philosophie des Werdens, die sich allen Philosophien des Seins entgegenstellt« bzw. einer »Philosophie des Lebens, die jenseits der alten Antithesen von Sein und Werden steht« (Wb 33). Der Lebensbegriff Bergsons verbindet sich - jedenfalls in Curtius' Deutung - mit den Konnotationen der Kontinuität, der Entwicklung und der unablässigen Dauer. Damit sind indes genau jene Attribute angesprochen, die die Vertreter des genetischen Denkansatzes herkömmlicherweise mit dem Geschichtsbegriff assoziieren. Es liegt nahe zu vermuten, daß im Kontext des Curtiusschen Denkens dem Konzept des Lebens als einer durée réelle jene Funktion einer Totalitätsidee und eines absoluten Begriffs zukommt, die in der Tradition des genetischevolutionistischen Prinzips dem Kollektivsingular der Geschichte - sei es als >WeltgeschichteKulturgeschichte< - zugemutet wurde. 14 >Leben< avanciert bei Curtius zu einer spekulativen Begründungs- und Letztfigur, zu einem abschließenden Begriff, der geeignet erscheint, Zusammenhang und Kohärenz zu stiften und die isolierten, atomistischen Momente der aktuellen und historischen Erfahrung in der Einheit eines Entwicklungsstroms zusammenzufassen: »[So] sind alle organischen Wesen [...] von den ersten Ursprüngen des Lebens bis zur Zeit, wo wir stehen [...] nur die Sichtbarwerdung eines einzigen, der Bewegung der Materie entgegengesetzten und in sich unteilbaren Impulses« (Wb 37). Das menschliche Bewußtsein, der Intellekt erscheint 14
Zur Entstehung des spezifisch neuzeitlich-modernen Geschichtsbegriffs vgl. R. Koselleck, Eintrag: Geschichte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck, Stuttgart 1972, Bd. 2, S. 650-695.
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in dieser Sicht nunmehr als das Reflexivwerden und Zu-sich-selbst-Kommen des Lebensprozesses selbst: »Er [Bergson] lehrt das Bewußtsein als Ziel der schöpferischen Entwicklung, als das Sich-selbst-Erfassen des Lebensschwunges zu verstehen« (Wb 38). In unserem Zusammenhang interessiert indessen weniger die sich hier abzeichnende, dem Bergsonschen (und dem Curtiusschen) Ansatz eigentümliche Tendenz, »den Intellekt in die Intuition zurückzunehmen« (Wb 36), als vielmehr die Frage nach der spezifischen Funktion, die dem lebensphilosophischen Element im Kontext des kulturellen Erneuerungskonzepts der »Wegbereiter« sowie im Curtiusschen Denken überhaupt zukommt. Hier ist vor allem zu bedenken, daß der Lebensbegriff der Vorstellung eines geschichtlichen Werdens, einer historischen Entwicklung im Grunde gegenläufig ist. Denn so deutlich sich auch der Lebensbegriff die dynamischen Momente des historisch-genetischen Denkens zu eigen macht, so unverkennbar ist doch, daß hier ein ahistorisches Konzept angesprochen ist, das nicht nur als Substitut von >GeschichteEntdeckung< des Lebens und des Erlebens durch die Philosophie Bergsons ja, wie oben angedeutet, die entscheidende Zäsur, die die Ablösung von dem vorherrschenden szientifischpositivistischen Klima des ausgehenden 19. Jahrhunderts einleite und so den take-off einer neuen bewußtseinsgeschichtlichen Phase und einer neuen Literatur möglich mache. Besondere Aufmerksamkeit in unserem Problemzusammenhang verdient überdies die Beobachtung, daß der lebensphilosophischen Denkfigur auch auf der Ebene der Individualgeschichte des einzelnen Autors und der Entstehungsgeschichte seines literarischen Werks eine entsprechende Schlüsselfunktion zukommt. Erweist sich doch in den Einzelka-
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4.
Kapitel
piteln des Buchs, in den monographischen Darlegungen des schriftstellerischen Werdegangs der einzelnen Autoren, das Moment des »Durchdringens zum Leben« als das zentrale Bildungserlebnis innerhalb der persönlichen und der literarischen Entwicklung der Curtiusschen Protagonisten (Wb 49). >Leben< figuriert somit in den »Wegbereitern« als das grundlegende Signifikat, unter dessen Blickpunkt sich für Curtius die Entwicklung des literarischen Oeuvre eines André Gide und eines Romain Rolland erst zureichend begreifen lasse. Es geht nun im folgenden darum, die drei genannten Gesichtspunkte, die Verschränkung von Individual- und Kulturgeschichte, den Rekurs auf die literarische Tradition (insbesondere auf die französische Klassik) und das lebensphilosophische Moment exemplarisch am Beispiel eines Wegbereiters·;, am Beispiel des Gide-Kapitels, zu verfolgen, um von dort aus Curtius' Bezug zum Paradigma des genetischen Ansatzes darzulegen. Das Beispiel André Gide In André Gide erblickt Curtius denjenigen zeitgenössischen französischen Schriftsteller, der geradezu prädisponiert erscheint, die Rolle und Funktion eines »Wegbereiters« wahrzunehmen. Diese besondere Eignung Gides im Horizont des kulturellen Erneuerungsimpulses, den die Wegbereiterarbeit aufzuzeigen sucht, ergibt sich der hier referierten Deutung zufolge aus einer spezifischen Fähigkeit, einer synthetischen Veranlagung, die Gide motiviert, als »Vermittler zwischen dem Alten und dem Neuen« (Wb 43) hervorzutreten. In dieser besonderen Begabung der Verknüpfung und Vermittlung sei das Spezifische des Gideschen Schreibens zu sehen, das die eigentümliche Doppelfunktion Gides ermögliche und begründe. Als Initiator des Neuen bezeichne Gides Werk zugleich eine Gelenkstelle des traditions- und kulturgeschichtlichen Transfers: »Die Fähigkeit, die ganze französische Tradition zu erleben und gleichzeitig die neuen künstlerischen und menschlichen Kräfte der Zeit erfassen: das ist es, was Gide [...] die Stellung eines Wegbereiters der neuen Generation zugewiesen hat« (Wb 43). Was Curtius an der Gestalt des >Wegbereiters < hervorhebt, meint somit nicht eine Form der radikalen Destruktion traditionalen Schreibens - die Aufgabe des >Wegbereiters< erschöpft sich nicht in der »Gebärde des stürmischen Neuanfangens« (Wb 40). Das Pathos des Aufbruchs und Neubeginns werde vielmehr bei Gide durch ein »Bekenntnis« zur Tradition (Wb 41) wieder aufgefangen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, was mit dem Konzept >Tradition< in diesem Kontext vornehmlich intendiert ist: Curtius denkt hier vor allem an die Tradition des französischen Klassizismus und deren Ideal einer »très grande clarté« (Wb 41). Schon zu Beginn des Gide-Kapitels findet sich das offene Eingeständnis, daß die Poetik des französischen Klassizismus den zentralen Bezugspunkt der folgenden Ausführungen darstelle: »Von Ronsard über Racine und Anatole France scheint sich eine typisch französische Wesensart von eindeutig bestimmtem Formgesetz fortzuerben, die man als die Verschmelzung von trans-
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parenter Geistigkeit und beherrschter Form [...] zu begreifen gewöhnt ist. Von diesem geschichtlich festgelegten Bilde des alten Frankreich geht der W e g z u m neuen Frankreich über André Gide« (Wb 40). Die besondere Bedeutung Gides liegt somit für Curtius weniger in einem Moment von Innovation und Originalität. Curtius sucht vielmehr im literarischen Schaffen seines Protagonisten die Spuren des »alten Frankreich«, der Tradition, des siècle classique: »In der künstlerischen Anarchie der Gegenwart hat Gide die Tradition des alten Frankreichs lebendig bewahrt« (Wb 41). Gide gilt Curtius als richtungweisend und beispielhaft vor allem darin, daß er sich die zentrale, konstitutive Prämisse jener Tradition zu eigen zu machen verstehe: die klassizistische Sprache. So schätzt Curtius an Gides spätem großen Roman, »La Porte Étroite«, vor allem die formal-ästhetische Perfektion, die sich vorwiegend in einem gelungenen Zusammenstimmen von formaler Struktur und semantischem Gehalt äußere.' 5 In der Wegbereiterarbeit wird dieser konstitutive Bezug zum Stilideal und zur Poetik des siècle classique immer wieder hervorgehoben. 1 6 Die vielfache Betonung der traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen der literarischen Produktion André Gides gibt unzweifelhaft zu erkennen, daß es Curtius um den Nachweis einer verborgenen Kontinuität der Literaturgeschichte zu tun ist. Bedenkt man die Vorstellung einer Parallelität von Individual- und umfassender Kultur- bzw. Menschheitsgeschichte, die dem Curtiusschen Ansatz als implizite Prämisse zugrunde liegt, so liegt es nahe, bei Curtius auf der Ebene des literaturgeschichtlichen Gesamtkonzepts eine entwicklungsgeschichtliche Schematisierung zu erwarten. Doch scheint die Wegbereiterarbeit dieses in ihrem Ansatz vorgezeichnete Konzept einer Verschränkung von Individualgeschichte und Literaturgeschichte im Zeichen von Entwicklung in der Ausführung nicht durchzuhalten. Wohl verweist Curtius' Bild der Entstehungsgeschichte des literarischen Schaffens des einzelnen Autors, der sukzessiven Abfolge und Entfaltung der Stadien des literarischen Oeuvre, zweifellos auf eine genetisch-evolutionistische Figur. Auch die organologischen Metaphern und die Kategorien von Wachstum und Reife, die der genetische Erklärungsansatz für den Gesamtverlauf von Geschichte postuliert, kehren bei Curtius auf der Ebene der einzelnen Autorenbiographien wieder. 17 Doch die Übertra-
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»La Porte Étroite« verwirklicht für Curtius in paradigmatischer Ausprägung das Ideal der Klarheit und Transparenz: »Eine silberne Reinheit liegt über diesem Buch und durchwirkt es so ganz, daß nicht zu sondern ist, ob sie stärker aus der Spiritualität des Menschentums oder aus der beseelten Klassizität der Sprache strahlt« (Wb 65). Vgl. Wb 65: »Wie beides sich durchdringt, wie die meisterlich beherrschte Verwaltung der künstlerischen Mittel einem heroisch gespannten Vollendungswillen der Seele dient - dies liegt auf der Linie jener erhabensten französischen Tradition, die durch die Namen Pascal und Corneille [...] bezeichnet ist«. Zum Motiv der allmählichen, kontinuierlichen Entwicklung vgl. etwa Wb 54: »Die Werke, die Gide im ersten Jahrzehnt seines Schaffens gegeben hat, muten uns heute vielleicht blaß und vergangen an. Aber man muß sie kennen, um zu begreifen, wie
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gung des entwicklungsgeschichtlichen Prinzips auf den geschichtlichen bzw. literaturgeschichtlichen Verlauf im ganzen, deren Möglichkeit Curtius in der Idee der repräsentativen, in menschheitsgeschichtlicher Hinsicht exemplarischen Funktion des >Wegbereiters< postuliert, stößt im Rahmen des Curtiusschen Literaturkonzepts auf eine Schwierigkeit: Sofern nämlich das >NeueWegbereiter< kündet, nur die Fortschreibung und Wiederaufnahme einer vorgegebenen Tradition, nur die Bestätigung einer (überzeitlichen) klassizistischen Norm bedeutet, werden sich die zu Anfang implizit gesetzten Postulate der Entwicklung, der Veränderung und des unablässigen Werdens auf der Ebene der Literaturgeschichte kaum einlösen lassen. In diesem Gegensatz von normativem Traditionskonzept und (genetischer) Entwicklungsidee liegt eine für den Ansatz der Wegbereiterarbeit bestimmende Aporie. Die genetische Stufenfolge des Gideschen Oeuvre entfaltet sich Curtius zufolge in drei Etappen, die sich exemplarisch durch drei Werke bezeichnen lassen: durch die symbolistische Frühschrift »Le Traité du Narcisse« und durch die Romane »L'Immoraliste« und »La Porte étroite«. Werkgeschichte und Entwicklungsgang des literarischen Schaffens André Gides bilden nach dieser Deutung ein genaues Abbild jener oben skizzierten Verlaufsfigur, die, in der Optik der »Wegbereiter«, die literarische Erneuerung der französischen Jahrhundertwende insgesamt kennzeichnet: gemeint ist das Schema einer Überwindung des literarischen Symbolismus und, damit verbunden, einer Überwindung des symbolistischen Rückzugs auf die Instanzen des Inneren und der Reflexion (vgl. Wb 44-46). Im Sinne dieses Schemas ordnet Curtius wohl zu Recht die literarischen Anfänge Gides noch ganz dem Umkreis der esoterischen Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte zu, läßt sich doch Gides literarisches Debüt auf dessen Zugehörigkeit zum Kreis um Mallarmé und dessen Teilnahme an den berühmten Zusammenkünften der mardis zurückführen. In diesem Sinne begreift Curtius die frühe literarische Prosa Gides vornehmlich als einen Modus der Reflexion, als eine Form der Entfaltung von Selbstreferenz im Medium des Schreibens: »Auch die frühe Kunst André Gides ist nicht ein Aus-sich-hinaus-, sondern ein In-sich-hinein-Bilden« (Wb 44). Gides anfängliche Schreibweise ist eine durch den hermetischesoterischen Gestus symbolistischer Lyrik inspirierte literarische Prosa.18 Curtius erblickt im »Traité du Narcisse« (1891) eine Poetik des symbolistischen Schreibens. Der »Mythos vom schönen Narkissos« offenbart sich hierbei als eine Allegorie des literarischen Schaffensprozesses sowie der esoterischen Erkenntnis, nach der der zeitgenössische, symbolistische Dichter
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diese lange Zeit der Vorbereitung [...] Gide seine Stellung unter den geistigen Führern des Jungen Frankreich verschafft hat«. Vgl. Wb 44: »[Gides] Kunst entlieh ihre Ausdrucksform beim zeitgenössischen Symbolismus. Dort liegen, geschichtlich betrachtet, Gides Anfange. Gide hat den Symbolismus von der Lyrik in eine Form dichterisch-philosophischer Prosa übertragen, die er Traktat nannte. Seine erste Kunstform ist der symbolistische Traktat«.
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strebt: »Narziß ist der Künstler, der im Spiegel der Kunst die ewigen Formen der Dinge festhält, wie sie im Paradies waren« (Wb 45). Narziß, der sich selbst im Spiegel der Wasserfläche betrachtet, liefert Curtius das prägnante Sinnbild der Selbstreflexion des modernen Künstlers. In den »Wegbereitem« wird die in diesem Bild festgehaltene Bewegungsfigur wie folgt beschrieben: »Die Bewegung vom Ich des Analytikers zu den Bildern der Dinge: Narziß beugt sich über den Spiegel. Die Bewegung von den Bildern der Dinge zu den Dingen selbst: der Analytiker zerbricht den Spiegel. Und endlich die Bewegung von den Dingen selbst zur Wirklichkeit ihres Grundes« (ebd.). Der hier skizzierte Verlauf beschreibt, so scheint es, den Vorstoß zu einer metaphysischen Erfahrung. Die Leitidee ist die des Vordringens zu einem verborgenen, wesenhaften Kern: »Das Einzelsein der Dinge ist nicht ihre Wirklichkeit. Sie liegt im Grunde der Tiefe. Und dieser Grund heißt das Wesen oder die Formen oder die Ideen oder Gott. So wird der Analytiker, um zu den Dingen zu kommen, Ästhet, er wird, um durch sie zum Wesen zu kommen, Platoniker«(Wb 45)." Jedoch zeichnet sich, so Curtius, noch im »Traité du Narcisse« eine Aufhebung der platonischen Unterscheidung von äußerer Erscheinung und wesenhaftem Sein ab: »Der Analytiker«, so heißt es, »zerbricht den Spiegel«. Mit dem Zerbrechen des Spiegels verwischt auch die scharfe Trennlinie zwischen Bild und Idee, die der Platoniker zieht, die Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe kollabiert. Gides »symbolistischer Traktat« bietet so in Curtius' Sicht nicht nur eine Reflexionstheorie symbolistischen Schreibens, sondern zeigt zugleich Ansätze zu dessen Überwindung. Denn der literarische Werdegang André Gides bleibt, so Curtius, bei jenem neoplatonisch inspirierten Schreibkonzept nicht stehen, sondern vollziehe - in genauer Analogie zur umfassenden literaturgeschichtlichen Entwicklung der französischen Jahrhundertwende - den »Weg vom Denken des Lebens zum Leben selbst« (Wb 46). Dieser Entwicklungsgang des individuellen sowie des kulturellen (französischen) Geistes werde schließlich auch - so Curtius' Interpretation zum Thema des Gideschen Schreibens und finde seine prägnanteste literarische Ausprägung in der Geschichte des Romanhelden des »Immoraliste«. In der Lebensgeschichte dieser Romangestalt versinnbildlicht sich für Curtius in exemplarischer Weise das »Problem des modernen Intellektuellen« (Wb 55). Das Grundkonzept des Romans, so die Curtiussche Interpretation, sei die Geschichte einer Initiation, einer Einführung in das Leben. Michael, der Sohn eines philologisch-archäologisch geschulten Orientalisten, so resümiert Curtius, habe »bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahre nur in den Büchern gelebt« (ebd.) und finde erst durch eine schwere Krankheitserfahrung 19
Sicher ist im platonischen Gestus der zitierten Stelle sowie in der dort genannten Unterscheidung von Wesen und Form der Eindruck der Lukács-Lektiire auf Curtius zu spüren. Bekanntlich hat Curtius Lukács im November 1912 in einem Brief um die Zusendung eines Exemplars von »Die Seele und die Formen« gebeten. Vgl. Dirk Hoeges, Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim, Frankfurt 1994, S. 15-16.
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eine Erkrankung an Tuberkulose während einer Nordafrika-Reise - den »Durchbruch zum Leben« (Wb 55). Diesen >Durchbruch< feiert Curtius als ein plötzliches Erwachen des Lebens- und Wirklichkeitssinns und als Eintritt in den Bereich einer authentischen Erfahrung: »Jetzt erst, wo ihn der Flügel des Todes gestreift hat, fängt er an, das Leben zu begreifen« (Wb 55). Nach Curtius' Auslegung exponiert diese Schlüsselstelle des Romans eine für das Gidesche Schreiben insgesamt bezeichnende Opposition, nämlich den Gegensatz von Geschichte, Kultur, Tradition auf der einen, unmittelbarer, sinnlicher Valenz des Daseins auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung (»Überbordwerfen der Kultur« - »Einformung in die Überlieferung«) wird als die »bedingende Polarität« (Wb 61) des Gideschen Denkens festgehalten: »Alle Antithesen, die sich hier aufdrängen, entspringen aus derselben Doppelheit der Lebensrichtung, deren sich André Gide als der Grundform seines Seins bewußt ist« (Wb 61). Gemäß der hier skizzierten »Polarität« entfalte der Gidesche Roman, so erläutert Curtius, zunächst die Emanzipation des Helden von der Kultur, von der Last historisch-philologischen Wissens und dessen Entscheidung zugunsten der Unmittelbarkeit des Lebens.20 Jene entscheidende >Wende zum Leben< sucht Curtius (auf der Ebene des Sprachgestus des Textes) in Bildern der Wiedergeburt und der rites de passages zu evozieren: »Michael wirft die künstliche Persönlichkeit von sich, die Erziehung, Bücher, Pflichtenlehre in ihm aufgebaut haben. [...] Aus dem gelehrten Spezialisten schält sich der verborgene ursprüngliche Mensch heraus« (Wb 57). Das Wiedergeburtsmotiv markiert für Curtius den Übergang aus dem Bereich historischen Wissens in die (zeitlose) Präsenz einer unmittelbaren Gegenwartserfahrung.21 Curtius zeigt jedoch auch, daß die hier skizzierte Entscheidung des Romanhelden die grundlegende Paradoxie des Romans, die Antithese Kultur Leben nur invisibilisiert, ohne sie jedoch auflösen zu können. Nach seiner Auffassung führt der Roman vor, daß der vitalistische Impuls für sich betrachtet nicht ausreicht, die vom Romanhelden postulierte »neue Ethik« (Wb 58) zu begründen. Das mache der pessimistische Abschluß des Gideschen Romans unmißverständlich klar: »Der Immoraliste bedeutet ein Ende. Der konsequente Amoralismus hat zu einem toten Punkt geführt. [...] Der Weg auf dem er [i.e. Michael] dem Leben nachgestellt hat, hat ihn an den Rand des Abgrundes gebracht; und die Alternative tut sich auf: Absturz oder Umkehr« (Wb 60). Der Abschluß des »Immoraliste« markiere allerdings, so Curtius' These, eine neuerliche »Wendung« (Wb 52) nicht nur im Leben des Romanhelden, sondern auch in der schriftstellerischen Entwicklung Gides. Für Cur20
21
Vgl. Wb 57: »Sich für eine Vergangenheit interessieren? Nur die [...] gelebte Gegenwart hat Sinn und Sein. [...] Das Sich-Selbst-Vergessen in der Umarmung der Erdendinge entwertet alles Sich-selbst-Bewußtwerden im Begriff«. Vgl. Wb 58: »[Michael] ist der Weise, der nur im Augenblick lebt, der die Erinnerung an das früher Gelebte verbannt, damit sie nicht neuen Offenbarungen des Lebens den Weg verlege«.
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tius vollzieht sich im literarischen Werdegang Gides - nach dem (gescheiterten) Experiment des »Immoraliste« - ein nochmaliger Umschwung, eine »ethische Wendung« (Wb 52), die sich in einer Reaktualisierung des asketischen Ideals in »La Porte Etroite« artikuliere. Im Hinblick auf unsere Problemstellung interessiert nun weniger, inwieweit die Curtiussche Deutung des »Immoraliste« dem Gideschen Roman angemessen ist. Auch die Frage nach der Berechtigung der oben angedeuteten (impliziten) Parallele zwischen der Geschichte des Romanhelden und der Genese des Gideschen Schreibens mag hier unerörtert bleiben. Es stellen sich jedoch zwei Probleme, die für die Einschätzung des Gesamtkonzepts der »Wegbereiter« entscheidend sind. Da ist zum einen die Frage, wie Curtius von der oben nachgezeichneten Entwicklung eines einzelnen, exemplarischen Autors wieder auf die übergreifende Ebene der umfassenderen literatur- und kulturgeschichtlichen Argumentation zurückkommt. Zum anderen bedarf es einer genaueren Erläuterung, worin denn das spezifisch Neue der literarischen Entwürfe der >Wegbereiter< zu sehen ist und wie sich das Besondere dieses Neuansatzes in der Differenz von Innovation und Tradition bestimmen ließe. Was den zuerst genannten Gesichtspunkt betrifft, läßt sich feststellen, daß die Verbindung der einzelnen Autorenmonographie mit einem übergreifenden literaturgeschichtlichen Konzept ohne Zweifel das zentrale methodische Problem des Curtiusschen Ansatzes darstellt. Curtius diskutiert zwar im einzelnen die Probleme von Entwicklung und Genese auf der Ebene der individuellen Geschichte des einzelnen Autors und postuliert mehr oder weniger explizit die Parallele zur höheren Ebene des Kulturprozesses, aber weder führt er dieses Korrelationsverhältnis genauer aus, noch entwickelt er ein Konzept der literarischen Entwicklung bzw. des literaturgeschichtlichen Zusammenhangs. Curtius betont statt dessen in einer zirkulären und fast tautologischen Gedankenfigur nur wiederholt die (in gesamtgeschichtlicher Hinsicht) repräsentative Funktion der >Wegbereiter< und eine entsprechende, immanente Disposition der zeitgeschichtlichen Konstellation, die die Ankunft eben jener Wegbereiter erfordere und möglich mache. 22 Die Wegbereiterarbeit bietet indessen kein klar umrissenes Konzept, das erklären könnte, wie diese repräsentative Funktion des einzelnen Autors in Hinsicht auf den >Zeitgeist< zu denken sei. Curtius beruft sich hier vornehmlich auf die alten Erklärungsfiguren des TeilGanzes-Bezugs und des Allgemeinen im Besonderen. 23 So schreibt er etwa von Gides Romanwerk, es sei wie die Philosophie Bergsons »nur Teilausdruck eines umfassenderen geistesgeschichtlichen Wandels«, und von Ro22
23
Vgl. Wb 30: »Es ist also keine zufällige Auswahl, wenn man diese fünf Männer im Zusammenhang mit der neueren französischen Geistigkeit betrachtet. Sie haben repräsentative Bedeutung. So verschieden ihr Temperament, ihr geistiger Wille, ihre künstlerische Bedeutung ist: sie sind dadurch verbunden, daß sie die geistigen Grenzen des alten Frankreich durchbrechen« . Vgl. Wb 9 5 - 9 6 : »Der Teil hat sein Daseinsrecht nur am Ganzen, das Glied nur am Organismus«.
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4. Kapitel
main Rollands Romanzyklus »Jean Christophe« heißt es, er sei »ein Faktor in der Seelengeschichte der Zeit« (Wb 91). Eine andere Stelle charakterisiert Gide als exemplarische, prototypische Gestalt des Zeitalters, in der sich die Probleme der Zeitgenossen wie in einem Brennspiegel bündeln.24 Der exemplarische Schriftsteller, so die These, steht zu der allgemeinen intellektuellen Tendenz der Epoche im Verhältnis einer verborgenen Affinität - eine Konstellation, die ihn dazu prädisponiert, ein (exklusives) Organ der Artikulation des >Zeitgeists< zu sein: »Sie [i. e. die Wegbereiter] prägen Strebungen der Zeit im Stoff ihrer Seele aus und wirken durch dieses Ausdrücken wieder auf die Zeit zurück« (Wb 115). Offensichtlich versucht Curtius, das genannte Problem des soziokulturellen Umbruchs und der kulturellen Erneuerung noch aus dem Blickwinkel der schriftstellerischen Karriere und der werkgeschichtlichen Entwicklung des individuellen Autors zu erörtern. Von der Betrachtung einzelner, exemplarischer Fallgeschichten ausgehend, sucht Curtius auf die umfassendere Konstellation einer generellen Kulturlage hochzurechnen. Die Grenzen dieses Ansatzes werden bereits im André Gide-Kapitel evident. Denn Curtius vermag die Parallele von Individual- und allgemeiner Bewußtseinsgeschichte nur zu konstatieren, nicht aber zu begründen oder konzeptuell zu entfalten.25 Daß die Summierung noch so bedeutender Einzelbiographien repräsentativer Autoren noch kein Konzept des literaturgeschichtlichen Verlaufs ergibt, ist schon einem zeitgenössischen Rezensenten der Wegbereiterarbeit aufgegangen. So weist Victor Klemperer darauf hin, daß dem Verfasser der »Wegbereiter« der Nachweis bzw. die Erstellung einer »literarhistorischen Verknüpfung« wohl nicht gelinge.26 Der Ansatz der Wegbereiterarbeit findet offenbar seine Grenze darin, daß er noch an der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Form der Autorenbiographie als strukturbildendem Modell der literarhistorischen Darstellung festhält und in diesem Rahmen die Grundidee der (historischen) Veränderung und Entwicklung nicht in ihren kulturgeschichtlichen Implikationen entfalten kann. Als ein zweites methodisches Problem der Wegbereiterarbeit wurde oben angedeutet, daß der emphatische Aufbruchsgestus dieses Textes Fragen aufwirft, insofern geklärt werden müßte, wie sich das Verhältnis von Innovation und Tradition bei den genannten Autoren genau darstellt und worin das spezifisch Neue der von ihm behaupteten literarischen >Bewegung< zu sehen ist. Im 24
25
26
Vgl. Wb 54: »Er mußte alle ideellen und menschlichen Spannungen der Zeit austragen, um jene Werke schaffen zu können, in denen die französische Jugend eine Klärung ihrer Lebensfragen fand«. Vgl. Wb 71: »Die Entwicklung, die von Gides früher symbolistischer Ideenkunst zu [...] dieser neuen Epik führt, begleitet den Weg des französischen Geistes von der blassen, um das eigene Bewußtsein kreisenden Analyse zur Hingabe an die bunte Vielfalt einer unüberschaubar reichen Wirklichkeit«. Victor Klemperer, Rez. Wegbereiter, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 1919, S. 256-259, hier S. 257.
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Umkreis dieses Problemkomplexes ist auch die Schwierigkeit zu sehen, daß das Wegbereiterprojekt, wie oben dargelegt, einen aporetischen Widerspruch in Kauf nimmt, der sich aus dem Versuch ergibt, ein Konzept der kulturellen Erneuerung und Progression mit einem normativen, klassizistischen Traditionskonzept zu vereinen. Das entwicklungsgeschichtliche Konzept, wie es die Wegbereiterschrift, von der Autorenbiographie ausgehend, zunächst profiliert, tritt in ein Spannungsverhältnis zu Gesichtspunkten des kulturellen Werts und der ästhetischen Norm. Die genannte klassizistische Tendenz bedeutet für Curtius nicht nur ein spezifisches Merkmal des Gideschen Schreibens, sie bildet überdies die literarische Signatur der gesamten, von Curtius projektierten neufranzösischen Bewegung. Gelten Corneille und Racine als die literarischen Vorläufer André Gides, so findet André Suarès seinen orientierenden Bezugspunkt in den Schriften Pascals (vgl. W b 186). Eine Abweichung bildet in gewisser Hinsicht Rolland, für den nach Curtius' Auslegung vor allem die Tradition der französischen Aufklärung modellbildend wirkt (vgl. W b 101). Den entscheidenden Bezugspunkt für das dramatische Werk Paul Claudels erblickt Curtius in Dante. In den Dramen Claudels glaubt Curtius die architektonische Ordnung und die symmetrische Komposition der »Divina Commedia« wiederzuerkennen: In Claudel lebt dasselbe kosmische Raumgefühl wie in dem Weltgebäude Dantes oder in den Worten der Genesis. [...] Die Welt ist ein Bau, in dem jeder Stein seinen unverrückbaren Platz hat. [...] Die Welt steht in einer ewigen Ordnung. So zeigt sich Claudels geistiges Sein entfaltet zu einem ganzen in sich geordneten Kosmos; zu einem Erkenntnisgebäude, in dem eine Metaphysik und eine Symbolik, eine Theologie und eine Anthropologie nebeneinander wohnen. (Wb 123, 135)
Dante nimmt eine über den engeren Bereich der Wegbereiterschrift hinausweisende Schlüsselstellung in Curtius' Denken ein, insbesondere in Hinblick auf dessen Konzept literarischer Tradition. In Curtius' Hauptwerk bildet Dante nicht zufällig eine Gelenkstelle des kulturgeschichtlichen Transfers und ein Medium der Bildung literarischer Kontinuität. Denn Dante, so Curtius, ziehe als Vorläufer der neuzeitlichen europäischen Moderne zugleich eine S u m m e jener mittelalterlich-lateinischen Bildungstradition, die auf die (in Curtius' Sicht) besondere und vorbildliche Literatur der Antike zurückverweise. 2 7 Dante gilt Curtius zugleich als der einschlägige Beweis für die Möglichkeit literaturgeschichtlicher Kontinuität. An ihm lasse sich in exemplarischer Weise studieren, wie sich auch in den >dunklen Zeiten< des (scheinbaren) Kulturverfalls, in den tenebrae des Mittelalters, die von der Antike herkommende lateinisch-europäische Bildungstradition ungebrochen fortsetze. Eine Darstellung, der es u m den Nachweis des Fortbestehens dieser Tradition gehe, müsse, so Curtius, in einer Periode der scheinbaren Unterbrechung und des Verfalls ansetzen. Daher die Option für das lateinische Mittelalter: »Eine histori27
Vgl. Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 10. Aufl., Bern und München 1984, S. 363-364. Dieser Text im folgenden zitiert als EL.
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4. Kapitel
sehe Betrachtung der europäischen Literatur [muß] an diesem dunkelsten Punkt einsetzen« (Wb 23). Blickt man von hier aus zurück auf die »Wegbereiter«, so läßt sich in dieser Schrift ein latentes Spannungsverhältnis erkennen zwischen zwei verschiedenen, einander (tendenziell) gegenläufigen Auffassungen von Literaturgeschichte. Während die eine Vorstellung, ausgehend von einer gesetzmäßigen Gleichsinnigkeit von Individualgeschichte und allgemeiner Geschichte, auch die Literaturgeschichte in den Kategorien der Entwicklung und des genetischen Verlaufs zu begreifen sucht, setzt die andere, dem Curtiusschen Ansatz inhärente Auffassung auf eine eher statisch gedachte Kontinuität, auf die Konstanz einer einmal erreichten Perfektion. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Vorstellung von Literatur (bzw. Kultur) als ihrer Richtung nach offener (tendenziell unabschließbarer) Entwicklungsgeschichte und der Idee von Kontinuität als bloßer Fortdauer einer im Prinzip unveränderlichen normativen Substanz wird in den »Literarischen Wegbereitern« nicht aufgelöst, noch wird eindeutig zugunsten einer der beiden Vorstellungen entschieden. Bemerkenswert an Curtius' frühem Entwurf ist indessen, daß hier das Attribut der >Klassizität< bzw. eines klassischen Stils an zeitgenössische Autoren vergeben wird, deren Aufnahme in einen institutionalisierten Kanon der Literatur - ungeachtet ihrer Prominenz in der aktuellen literarischen Szene Frankreichs - noch aussteht. Es ist offensichtlich, daß es Curtius nicht zuletzt um eine Zuordnung seiner Autoren zum Kanon der französischen (und damit zugleich zur europäischen) Literatur geht. Dieser Versuch einer Integration jener zeitgenössischen Autoren in die (französisch-europäische) Tradition war, wie die Reaktionen zeitgenössischer Leser zeigen,28 im damaligen Kontext nicht unumstritten. Wie oben dargelegt wurde, ist die sich in den »Wegbereitern« abzeichnende aporetische Konstellation eines klassikzentrierten Literaturbegriffs und einer evolutiven Geschichtsvorstellung in eigentümlicher Weise an das Lebenskonzept gekoppelt: Der Rückgriff auf die Tradition der französischen Klassik bezeichnet ja in der Logik des Curtiusschen Diskurses zugleich die 28
Der bereits zitierte Rezensent Victor Klemperer moniert neben einer »manierierten Ausdrucksweise« und dem prophetisch-visionären Gestus des Buchs vor allem das »sehr starke Selbstbewußtsein« des Verfassers, der es wage, schon jetzt über die aktuelle französische Literaturszene und über Tendenzen einer eben erst im Entstehen begriffenen neuen Literatur zu urteilen und dabei einen deutlichen Standpunkt zu beziehen (Victor Klemperer, Rez. Wegbereiter, S. 256). Klemperer beklagt die »mangelnde Unterscheidungskraft« des Verfassers und betont die Anmaßung, die in der in den »Wegbereitern« vorgelegten Selektion liege (S. 257). Eine französische Rezension, die 1920 in der »Nouvelle Revue Française« erscheint (Alain Desportes, Les pionniers littéraires de la France nouvelle, in: La Nouvelle Revue Française, 1920, S. 626-635), geht demgegenüber immerhin soweit, dem Verfasser Belesenheit, Verständnis und guten Willen zu attestieren (»un étranger lettré, compréhensif et qui paraît de bonne foi«), wenn sie auch dessen kühne Thesen im einzelnen nicht gelten lassen kann.
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Möglichkeit eines Zugangs zum >LebenAufbruch< des frühen Curtius zum >Rückzug< des späten Curtius (Curtius als Kulturvermittler, in: E. R. Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, S. 25-36, hier S. 35).
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Moments bedeutet. Zunächst läßt sich beobachten, daß sich der Schwerpunkt des Curtiusschen Erkenntnisinteresses offenbar gegen Ende der zwanziger Jahre verschiebt. Curtius, der noch zu Beginn der zwanziger Jahre als ein scharfsinniger Interpret Marcel Prousts hervorgetreten ist, wendet sich nun von der Literatur des europäischen Modernismus ab und verstärkt den (lateinischen) Literaturtraditionen des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu. Diese Verschiebung des Curtiusschen Blickpunkts geht einher mit einer in zunehmendem Maße kulturkritischen, verfallstheoretischen Betrachtungsweise und einer sich verschärfenden Skepsis gegenüber der Möglichkeit, die aktuelle Gegenwart noch jenem Kontinuum abendländisch-europäischer Kultur zuzuordnen, das die griechisch-römische Antike über die Vermittlung des lateinischen Mittelalters mit der frühneuzeitlichen Moderne verbinde. Die Gegenwart der eigenen Zeit stellt sich Curtius dar als eine Periode des umfassenden Bildungsverlusts und des Verfalls, als ein »geistiges Chaos« (EL 9). Dies geht unmißverständlich aus einer Stelle von »Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter« hervor, an der der Verfasser den Gegenstandsbereich seiner Untersuchung definiert: »Die europäische Literatur ist der europäischen Kultur zeitlich koextensiv, umfaßt also einen Zeitraum von etwa sechsundzwanzig Jahrhunderten (von Homer bis Goethe gerechnet)« (EL 22). Der Curtiussche Standpunkt ist gekennzeichnet durch den retrospektiven Blick, der vom Ende der Kultur aus eine vergangene Formation des abendländischen Geistes überschaut. Die spezifische, eine umfassende Einheit begründende Funktion dieser Tradition wird indes, so scheint es, gerade in einer Phase ihres Verfalls bzw. ihres Verlust in ihrer Eigenart erst erkennbar: »Im geistigen Chaos der Gegenwart ist es nötig, aber auch möglich geworden, diese Einheit zu demonstrieren« (EL 9). Wenn Curtius nunmehr die Gegenwart aus dem Bereich der Tradition und der Kultur ausklammert, ergibt sich für eine Betrachtung, die zugleich an Traditionen des historischen Denkens anschließen will, ein gewichtiges Problem: Die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, die die Vertreter des klassischen Historismus in der Einheit eines zur Zukunft hin offenen Geschichtsbegriffs aufzuheben suchten, verschärft sich hier zu einer kaum überwindbaren Kluft. Die Gegenwart bildet nurmehr die genaue (negative) Antithese zu einer als statische Perfektion begriffenen Vergangenheit. Curtius selbst bezeichnet seine Verfahrensweise als eine »historische Topik« und begreift seine Methode nachdrücklich als eine »historische«: »Wie die europäische Literatur nur als Ganzheit gesehen werden kann, so kann ihre Erforschung nur historisch verfahren« (EL 25). Schon hier ist jedoch zu fragen, worin sich bei Curtius die Historizität des literarischen Gegenstandes zeigt und inwieweit das genetische Entwicklungsprinzip, das die Wegbereiterarbeit (ausgehend vom Modell der Individualentwicklung) noch zu profilieren suchte, beim späten Curtius, insbesondere im Kontext des Mittelalterbuchs, noch eine Rolle spielt. Hans Ulrich Gumbrecht hat in einem wichtigen Aufsatz zu Recht darauf hingewie-
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sen,31 daß im Denken (vor allem) des späten Curtius ahistorische Züge überwiegen. In Gumbrechts Sicht erscheint der Curtiussche Ansatz im ganzen als eine Negation historischen Bewußtseins, als ein »repli sur l'essentiel« (S. 232),32 der für sich beanspruche, »gegen das Trennende der Zeit [...] deren >Wesen< und deren >Substanz< zu erfahren« (S. 230). Curtius, so Gumbrecht, erweise sich vordringlich darin als ein ahistorischer Denker, daß er die für das historische Bewußtsein fundamentale »Asymmetrie von Erfahrung und Erwartung« (S. 228) nicht kenne und an einer Figur der überzeitlichen Dauer von Tradition festhalte. In ähnlicher Weise argumentiert auch Rolf Goebel,33 wenn er hervorhebt, daß das Curtiussche Topikkonzept dem Moment der historischen Veränderung und des semantischen Wandels nicht hinreichend Rechnung trage: »Methodisch fragwürdig an Curtius' Konzeption ist, daß das Aufzeigen der Konstanz von [...] Topoi, Metaphern und anderen Stilfiguren die adäquate theoretische Reflexion auf die realen Diskontinuitäten innerhalb von Tradition verhindert« (S. 153). Die Überlegungen Gumbrechts und Goebels bestätigen somit insgesamt den zentralen Vorwurf, den schon H. R. Jauß in seiner Antrittsvorlesung gegenüber der Curtiusschen Methodik erhoben hatte: »Die zur höchsten Idee erhobene Kontinuität des antiken Erbes [...] erhebt sich über das, was Curtius die unzerreißbare Traditionskette der Mittelmäßigkeit nennt, und läßt die Geschichte als eine terra incognita hinter sich zurück«.34 Nun ist allerdings anzumerken, daß die hier vorgetragene These einer grundlegenden und umfassenden Enthistorisierung des kulturgeschichtlichen Denkens in dieser pauschalen und zugespitzten Form den Curtiusschen Texten wohl nicht ganz gerecht wird. Vor allem die triumphale Geste, mit der in Jauß' Einlassung der Kanon der Tradition die historische Betrachtung außer Kurs setzt, scheint Curtius' Auffassung kaum angemessen zu sein. Prämisse des Curtiusschen Ansatzes ist ja der Gedanke, daß die Kontinuität dieser Tradition prekär ist. »Die Kontinuität«, schreibt Curtius, »steht unter dem Gesetz des ehernen Zeitalters« (EL 398). Das bedeutet, daß Kontinuität für Curtius zu denken ist vor der Folie der Möglichkeit einer fundamentalen Diskontinuität. >Kontinuiät< bezeichnet keinen selbstverständlich gegebenen oder apriori verbürgten Sachverhalt. Der Zusammenhang bzw. die Einheit der europäischen Literaturen, so erläutert Curtius im Rekurs auf die Goethesche Idee der 31
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33
34
Hans Ulrich Gumbrecht, >Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeitklassischer< Texte in Erwägung zieht: »Wird ein neuer Klassiker in den Kanon aufgenommen, so bedeutet das eine Revision der bis dahin als klassisch geltenden Normen. Sie werden als ein zeitlich Bedingtes [...] erkannt« (EL 355). Das Bild des Kanonisierungs- und literarischen Traditionsprozesses, das Curtius hier entwirft, dürfte im Rahmen eines konservativ-substanzialistischen Denkansatzes erstaunen. Statt >Tradition< zu einer naturhaft gegebenen Identität zu hypostasieren, die nur noch der Bestätigung und der bewahrenden Weitergabe bedarf, verweist die zitierte Stelle auf ein Schema von challenge and response: Der neue Text, der den literarischen Vorlagen durchaus z. T. widerspricht, wirkt, einmal in jene Tradition integriert, seinerseits
38
Vgl. Goebel, Curtius, Gadamer, Adorno, S. 153 und Gumbrecht, Zeitlosigkeit, passim.
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auf deren Form- und Literaturkonzepte zurück. Er ist somit konstitutiv beteiligt an der historischen Neubestimmung und permanenten Reformuliening dessen, was diese Tradition in ihren wesentlichen Strukturmerkmalen kennzeichnet. Die Einsicht in die historische Bedingtheit auch der klassischantiken Texte veranlaßt Curtius schließlich zu einer Kritik an Dantes Hypostasierung der antiken Autoren zum uneingeschränkten Vorbild und Muster literarischer Produktion: »Muß man wirklich Orosius gelesen haben, um eine Canzone im erhabenen Stil zu dichten?« (EL 360) Curtius' Dante-Interpretation, die sich der Leitfrage »Wie wurde die Commedia möglich?« (EL 355) unterstellt, ist maßgeblich bestimmt durch das Bewußtsein einer fundamentalen Differenz von antiker und neuzeitlicher Geisteswelt. So übergeht Curtius denn auch nicht, daß das Dantesche Antikebild seinerseits historisch bedingt ist; wohl ist es die römische Antike, die Dante evoziert, aber gefiltert durch die Perspektive des lateinischen Mittelalters. Diese Überlegungen deuten an, daß Curtius sich durchaus sensibel zeigt für das Problem der historischen Distanz und für Fragen der literarischen Rezeption und der geschichtlichen Vermittlung. So wehrt Curtius die These einer unvermittelten, direkten Antikerezeption Dantes aus den historischen Quellen entschieden ab und verweist statt dessen auf die initiatorische und vermittelnde Funktion der im Repertoire des Bildungswissens der Zeit prominenten mittelalterlich-lateinischen Literaturtraditionen: Die allgemein herrschende Auffassung besagt, das Studium der Antike, vor allem Virgils, habe für Dante eine Läuterung des Geschmacks, eine Wendung zur Klassik bedeutet. Wir müssen diese These verwerfen. [...] Neben der provenzalischen und der italienischen Lyrik ist das lateinische Mittelalter das Hauptelement, das für die Genesis der Commedia herangezogen werden muß. (EL 355-356)
Was Curtius somit als die eigentümliche Transfer- und Syntheseleistung Dantes profiliert, verweist auf einen komplexen Vermittlungs- und Transformationsprozeß, der sich nicht in die Formel eines einfachen Einflusses oder einer bloßen Nachahmung fassen läßt. So hebt Curtius nachdrücklich hervor, daß selbst die Gestalt Virgils, die die »Commedia« so eindringlich beschwört, einen anachronistischen, durchaus >unklassischen< Virgil darstelle, der durch die Vorstellungswelt des europäischen Mittelalters hindurchgegangen sei: »Dantes Virgil ist mittelalterlicher, also unklassischer Virgil, im Gegensatz zu dem Tassos oder Miltons« (EL 363). Im ganzen gesehen dürfte aus den angeführten Stellen erhellen, daß das Curtiussche Konzept ein Moment der Dynamik und der Prozessualität nicht entbehrt. Literarische Tradition stellt sich für Curtius dar als ein komplexes Ineinandergreifen von Produktions- und Rezeptionsprozessen. Dem oben Ausgeführten ist allerdings einschränkend sogleich hinzuzufügen, daß die genannten Aspekte einer (konstitutiven) Differenz und Alterität der neuzeitlichen Kultur gegenüber der Antike innerhalb des Curtiusschen Gesamtkonzepts partiell bleiben. So verwundert es denn auch nicht, daß das
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Modell, auf das Curtius zurückgreift, um Identität und Veränderung im Kulturprozeß zusammenzudenken, seinerseits kein genuin historisches darstellt. An einer zentralen Stelle im Schlußwort des Mittelalterbuchs heißt es: »Der Gang der Darstellung und die Aufeinanderfolge der Kapitel ist so angelegt, daß sich ein stufenförmiger Fortschritt und spiraliger Aufstieg vollzieht« (EL 384). Die Figur der Spirale, die das Modell eines linearen Fortschreitens von Geschichte mit dem der zyklischen Wiederkehr verbindet, ist für Curtius' Geschichts- und Traditionskonzept insgesamt bestimmend. Dante bedeutet für Curtius die Wiederkehr antiker Latinität in einer historisch und kulturgeschichtlich veränderten Konstellation, auf einer anderen Stufe des (universalgeschichtlich gedachten) Kulturprozesses. Curtius begründet und erläutert das genannte Konzept allerdings nicht, wie man vermuten könnte, im Rekurs auf Vicos Geschichtsphilosophie, sondern leitet es aus Vorstellungen der Goetheschen Naturphilosophie her. Wie Curtius in dem Aufsatz »Goethe als Kritiker« ausführt, ergibt sich für ihn das genannte Geschichtsmodell aus dem konsequenten Weiterdenken der Goetheschen Idee der >SpiraltendenzSpiraltendenzSpiraltendenz< deutet indessen bereits bei Goethe über den engeren Kontext der morphologischen Betrachtung hinaus auf ein allgemeines »Grundgesetz des Lebens« (S. 134), auf die genetisch-evolutive Figur einer organischen Entwicklung und Entfaltung der Lebewesen aus einem ursprünglichen Keim. 41 Dem skizzierten, der Goetheschen Naturlehre entlehnten Konzept gibt Curtius eine individual- und menschheitsgeschichtliche Interpretation. In dem genannten Goethe-Aufsatz überträgt Curtius dieses Deutungsmuster auf die Goethesche Werkgeschichte, erblickt er doch darin ein wirkungsvolles Schema, das es erlaubt, den immanenten Zusammenhang und die Kontinuität des Goetheschen Oeuvre plausibel zu machen. Als >Spiraltendenz< erscheint Curtius dort insbesondere das Verhältnis des »Faust II« zur >klassischen< Periode des Goetheschen Schreibens: »Nicht Kontinuität liegt vor, sondern Wiederkehr auf höherer Stufe«. 42 Das Spiralkonzept avanciert zum universalen Erklärungsprinzip, zu einer vermittelnden Figur, die es ermöglicht, Naturgeschichte 39
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41
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Vgl. J. W. Goethe, Spiraltendenz der Vegetation, in: Naturwissenschaftliche Schriften I, Hamburger Ausgabe Bd. 13, S. 130-148. Siehe ebd., S. 135: »Wir mußten annehmen: es walte in der Vegetation eine allgemeine Spiraltendenz, wodurch, in Verbindung mit dem vertikalen Streben, aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Gesetze der Metamorphose vollbracht wird«. Vgl. die entsprechende Anmerkung im Kommentarteil der Hamburger Ausgabe: Bd. 13, S. 588. Goethe als Kritiker, in: Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern und München 1954, S. 31-56, hier S. 39.
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und Menschheitsgeschichte zusammenzuschließen. Curtius sieht in dieser Reinterpretation eines naturgeschichtlichen Begriffs im Sinne eines individual- bzw. universalgeschichtlichen offenbar kein Problem. Er postuliert vielmehr unter Berufung auf Goethe eine implizite präformierte Analogie und Gleichsinnigkeit von Naturgeschichte und universaler Menschheitsgeschichte: »Eine solche Übertragung ist Goethescher Denkform gemäß. [...] Natur und Geschichte werden in einem Blick erfaßt. Als Kritiker ist Goethe auch Historiker« (ebd., S. 39). Eine solche Parallelisierung von Natur und Geschichte, eine Beschreibung der kulturellen Entwicklung in Kategorien des Naturgeschehens und des naturhaften Ablaufs findet sich auch an anderen Stellen der Curtiusschen Darlegung und scheint für das Curtiussche Kultur- und Geschichtskonzept insgesamt bestimmend zu sein: »Wie alles Leben«, so die Erläuterung, »ist Tradition ein unübersehbares Vergehen und Neuwerden« (EL 396). In dieser Reduktion der kulturellen bzw. literarischen Tradition auf den Generalnenner eines naturhaften Vollzugs droht allerdings das Spezifische literaturgeschichtlicher Prozesse in einem unscharfen Globalbegriff >Leben< aufgehoben zu werden und jegliche Kontur zu verlieren. Curtius' problematische Neigung zu einer Verschmelzung von Natur- und Kulturgeschichte läßt sich wohl nur aus einem grundlegenden Bedarf nach kontinuierlichem und organischem Zusammenhang erklären, wie er sich aus der Beobachtung der Ereignis- und Kulturgeschichte der Moderne in dieser Form nicht mehr gewinnen läßt. Die eigentümliche Faszination des biologisch-organischen Entwicklungskonzepts ist darin zu sehen, daß es in gleichsam prototypischer Form jenes Modell eines genetischen Verlaufs bereitstellt, den die Vertreter des historistischen Denkansatzes für den Bereich der Geschichte nachzuweisen suchen. Curtius versucht nun auch für die Literaturgeschichte an der am Naturzusammenhang abgelesenen Vorstellung genetischer Kontinuität und des umfassenden Zusammenhangs festzuhalten: »Die hier gebotenen Untersuchungen über das Mittelalter bilden einen organischen Zusammenhang, der für sich bestehen kann« (EL 404). Bezeichnet ein naturales, zyklisches Konzept den einen Pol der Curtiusschen Auffassung von Literaturgeschichte, so bildet ein individualistisches, subjektbezogenes Modell den anderen. Es gehört nämlich zu den Besonderheiten des Curtiusschen Ansatzes, daß er versucht, Literaturgeschichte, also Prozesse der Rezeption und Institutionalisierung von Literatur, nach dem Muster der privaten, intimen Kommunikation unter Gleichgesinnten zu denken. Von dieser Grundidee des besonderen, intensivierten Modus des Austausche unter Freunden ausgehend, versucht Curtius hochzurechnen auf weitreichendere kommunikative Prozesse der Aufnahme von Literatur und der literarischen Traditionsbildung. Der damit gegebene ausgeprägte Individualismus des Curtiusschen Ansatzes, der sich gegen Tendenzen der Soziologisierung und der Kontextualisierung des Literaturbegriffs letztlich
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sperrt, dürfte wohl auch - darauf hat zu Recht Dirk Hoeges hingewiesen4·1 eines der Momente gewesen sein, die Curtius in den späten zwanziger Jahren in diametralen Gegensatz zur Mannheimschen Kultur- und Wissenssoziologie drängten. Curtius entwickelt sein Konzept der literaturgeschichtlichen Verknüpfung und Kohärenzbildung in Anschluß an den antiken Topos der catena aurea.44 Es ist die Kette der Dichter und Weisen, die den nicht abbrechenden Vorgang der Aufnahme und Produktion literarischer Sinngebilde gewährleiste: »Die Wahrheit ist für die Wenigen. Sie ist das, was sie verbindet über alle Zeiten hinweg. Sie gleicht einer goldenen Kette, die sich durch die Jahrhunderte schlingt. [...] Der Äternismus der Wahrheit (wenn ich so abkürzen darf) gilt in der Kunst ebenso wie in der Wissenschaft«. 45 An der zitierten Stelle interessiert weniger der offensichtliche äußerst elitäre Gestus, der nur einen schmalen Kanon von »Musterautoren« gelten läßt, als vielmehr die Tatsache, daß die Logik des kultur- und literaturgeschichtlichen Prozesses hier ganz von den individuellen Subjekten aus gedacht ist. Wie die leitenden Signifikate der »Freundschaft« und »Gemeinschaft« anzeigen, trifft Curtius keinerlei Unterscheidung zwischen Vorgängen im privat-intimen und im gesamtgesellschaftlichen Bereich. Die Leitidee der >Freundschaft< verweist für Curtius auf die Möglichkeit einer universalen Synthese, die nicht nur die Differenzierungen im Bereich des Sozialen, sondern auch historische Distanzen zu überbrücken vermag: »Es ist gleichsam eine Freundschaft über die trennenden Räume und Zeiten hinweg. [...] Er [ i.e. der einzelne Dichter] schließt sein Schaffen an die goldene Kette der Menschheitsüberlieferung an« (ebd., S. 73). An den hier hervortretenden individualistisch-elitären Grundzug der Curtiusschen Konstruktion schließt sich ein weiterer Aspekt seines Ansatzes unmittelbar an. Die äußerste Verknappung und die hohe Selektivität,44 denen der Traditionsbegriff in den oben zitierten Äußerungen unterliegt, verweisen auf eine letzlich normative Auffassung von Literaturgeschichte, die als solche aufs engste mit dem Klassikproblem verknüpft ist. Träger und konstituierende Instanzen der literarischen Tradition sind für Curtius im wesentlichen die >klassischen< Texte und Autoren. Nun hat Curtius das Klassikproblem in seinem Hauptwerk selbst reflektiert und dort die Bedeutung dieses Konzepts im Kontext der Literaturgeschichte und der literaturwissenschaftlichen Diskussion angesprochen. Insgesamt läßt sich beobachten, daß Curtius selbst die Begriffe >Klassikklassisch< und >Klassiker< in - vereinfachend gesagt - zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet: >Klassik< erscheint bei Curtius zum einen als ein wert- und norm-
44 45 46
Vgl. Kontroverse am Abgrund, S. 13-14. Als klassischer Topos dieses Motivs gilt Homer, Ilias, VIII. Gesang, Zeile 19-27. Goethe - Grundzüge seiner Welt, S. 75. Nicht alles, was geschrieben wird, ist für Curtius wert, in den Thesaurus der (abendländisch-europäischen) Tradition aufgenommen zu werden: »Vieles muß vergessen werden, wenn Wesentliches gewahrt werden soll« (EL 400).
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bezogener Begriff, in der Bedeutung des Vorbildhaften und des traditionsbildenden Musters; zum anderen gebraucht Curtius den Begriff aber auch in einem historischen, beschreibenden Sinn, der den entstehungsgeschichtlichen Bedingungen des Phänomens Rechnung trägt. Curtius beginnt seine Erörterung des Klassikproblems mit einem Blick auf die Begriffsgeschichte, die zugleich Aufschluß darüber geben soll, wie es, historisch gesehen, überhaupt zu einem Bedarf nach >Klassik< bzw. >Klassikern< und mithin zur Entstehung des Konzepts kommt. Ausgangspunkt der Curtiusschen Darlegungen ist die antike, alexandrinische Philologie des 3. Jahrhunderts, an der sich exemplarisch Vorgänge der philologischen Selektion und frühe Ansätze zu einer Kanonbildung beobachten lassen. Die hellenistische Philologie, so erläutert Curtius, »mußte die literarische Materie - studiorum materia, wie Quintilian sagt - in zwiefachem Sinne klassifizieren: nach Gattungen und Autoren« (EL 254). Die Notwendigkeit, eine beispielhafte Auswahl von Autoren zu treffen, führt zu der Entstehung von »Schriftstellerverzeichnissen« (ebd.). Die damit vollzogene Selektion und Reduktion erfolgte, so Curtius, nicht beliebig oder per Zufall, sondern war von den Bedürfnissen des Grammatikunterrichts geleitet. 47 Dementsprechend sind die antiken Prozesse der Auswahl von »Musterautoren« und der Kanonisierung zunächst an einem formalen Gesichtspunkt orientiert, nämlich am »grammatischen Kriterium der Sprachrichtigkeit« (ebd.). In gewisser Parallele zu diesem spätantiken Modell der Kanonbildung beschreibt Curtius dann die Herausbildung neuzeitlicher K l a s s i kern im nachmittelalterlichen Europa. Die Genese dieser Klassiken, insbesondere der italienischen des Quattro- und Cinquecento, sei historisch bedingt durch die Prominenz der mittel- und neulateinischen Bildungstradition und der damit gegebenen Konkurrenz einer im Entstehen begriffenen volkssprachlichen Literatur mit der neulateinischen Tradition: »Sollte diese [i.e. die Literatur der italienischen Volkssprache (im Unterschied zur neulateinischen)] gedeihen, so mußte sie sich durch Musterautoren legitimieren können, die als Maßstab italienischer Kunstübung dienen konnten wie Virgil für die lateinische« (EL 269). Wie sich den hier vorgetragenen Ausführungen des Mittelalterbuchs entnehmen läßt, sind in Curtius' Analyse des Klassikkonzepts zunächst beide oben angedeuteten Gesichtspunkte präsent: >Klassik< erscheint in diesen Überlegungen sowohl als ein historisch bedingtes Phänomen als auch unter einem normativ-übergeschichtlichen Aspekt. Curtius argumentiert historisch insofern, als er das Klassikproblem in Zusammenhang mit (geschichtlichen) Prozessen der Selektion und der Kanonbildung diskutiert und es somit zunächst als ein rezeptions- und wirkungsgeschichtliches Phänomen erfaßt. Was sich als normgebende Instanz durchsetzt, ist mitbedingt durch die Bedingungen und Bedürfnisse einer konkreten historischen Situation. Ansätze zu einer 47
Vgl. EL 255: »Die alexandrinischen Philologen sind die ersten, die eine Auswahl der älteren Literatur als Lesestoff für die Grammatikerschulen hergestellt haben«.
226
4. Kapitel
Zurücknahme des historischen Aspekts äußern sich indessen darin, daß Curtius den Gesichtspunkt des richtigen, formbewußten Sprachgebrauchs, den er den Selektionen der antiken Philologen und der Renaissancegelehrten entnimmt, tendenziell zu seinem eigenen macht und zum überzeitlichen Kriterium des Klassischen erhebt. In der Konzentration auf das formal-ästhetische Kriterium des reflektierten, technisch angemessenen Sprachgebrauchs zeichnet sich bereits eine Verengung des Blickwinkels ab, die für die weiteren Darlegungen des Verfassers symptomatisch ist. Insbesondere im Mittelalterbuch tritt das Klassikkonzept als ein normatives und der Tendenz nach ahistorisches Prinzip hervor. Im ManierismusKapitel (EL 277-305) etwa bestimmt Curtius die Polarität von >Klassik< und >Manierismus< als eine wiederkehrende, typologische Opposition der europäischen Literatur- und Kunstgeschichte. Die sich hier artikulierende Tendenz, das Klassikphänomen und seine »Komplementär-Erscheinung« zu überzeitlichen »Konsanten der europäischen Literatur« zu erheben (EL 277), weist bereits darauf hin, daß das Curtiussche Klassikkonzept nicht in erster Linie auf die Abgrenzung und literaturgeschichtliche Bestimmung spezifischer historischer Epochen zielt. >Klassik< und >Manierismus< bezeichnen vielmehr zwei unterschwellig fortwährende, einander gegenläufige Traditionen der europäischen Literatur seit der Spätantike, die sich nicht auf bestimmte, genau abgrenzbare Epochen der europäischen Literatur festlegen lassen.48 Zwar räumt Curtius zu Beginn seiner Ausführungen zu diesem Problemkreis ein, es müsse »dem Geschmack des einzelnen überlassen« bleiben, ob er der >Klassik< oder der >Manier< den Vorzug geben wolle (EL 277), aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, wo Curtius' eigene Präferenzen liegen. Im Kontext der Überlegungen zu >Klassik< und >Manierismus< vollzieht sich nämlich eine merkliche Verschiebung der Semantik des Klassikkonzepts, die den zu Anfang implizit formulierten Gedanken der Historizität des Klassikphänomens wieder preiszugeben droht. Dies zeigt sich am deutlichsten in einer Naturalisierung des Klassikbegriffs im Sinne einer Gleichsetzung von >Klassik< und >Natur< und in einer Hypostasierung des Konzepts zu einem unübertreffbaren, zeitenthobenen Ideal: »Die Klassik des Raphael wie des Phidias empfinden wir als die zur Idealität erhobene Natur. Klassische Kunst in diesem höchsten Sinne gedeiht nur in kurzen Blütezeiten« (EL 277). Die hier vollzogene Überhöhung des >Klassischen< im Zeichen von Natur hat zugleich für ihren Gegenbegriff, für die Richtung des literarischen >ManierismusKIassik< und >Manierismus< meinen für Curtius in erster Linie stiltypologische Konzepte, die sich aus den Vorgaben des antiken Rhetorikmodells herleiten lassen: in der >klassischen< Tradition überwiege die rationale Kontrolle durch das iudicium (das Urteilsvermögen), in der manieristischen Tradition die weitgehend ungebundene Produktivität des ingenium (EL 300).
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dikt des Unnatürlichen und des Normwidrigen verfallen. 49 Die hier zu beobachtende normativ-substantialistische Tendenz des Curtiusschen Klassikkonzepts kulminiert schließlich in einer eigentümlichen Figur der Gleichzeitigkeit und der simultanen Präsenz: Die großen Autoren der Tradition bilden eine Gemeinschaft der WenigenLiteraturTradition< und >Modernität< erscheinen dem späten Curtius als einander gegenläufige, nur schwer miteinander vereinbare Begriffe. Gilt ihm doch das Attribut des Bewahrens- und Traditionswürdigen sowie der >Klassizität< als seiner Natur nach einer vergangenen Literatur- und Kulturformation vorbehalten. Jene Wertbegriffe auf ein modernes oder gar zeitgenössisches Phänomen anwenden zu wollen, bedeutet für Curtius geradezu eine contradictio in adiecto: »Die klassischen Schriftsteller sind immer die >AltenTradition< fungiert als ein sich selbst begründender und legitimierender Wert, dessen Bedeutung als universaler Einheits- und Ganzheitsbegriff außer Frage steht. Europäische Kultur bedeutet für Curtius eine irreduzible »Ganzheit des Geschichtsverlaufs« (EL 14), eine Letztfigur des Denkens, die keiner weiteren Begründung fähig oder bedürftig ist. Doch wie läßt sich - angesichts der sich hier abzeichnenden strengen Disjunktion von Gegenwart und Vergangenheit - jene »Teilhabe an der Substanz« (EL 20) denken bzw. für möglich halten, als die Curtius das literarische Überlieferungsgeschehen verstanden wissen will? In der Curtius-Forschung ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß das Mittelalterbuch keine Theorie der literarischen Tradition, keine theoretische Bestimmung literarischer Entwicklung in der Differenz von Innovation und Tradition entwirft: 51 52
"
Goethe - Grundzüge, S. 83. Neuere Arbeiten zum Klassikproblem haben indessen gezeigt, daß sich das literaturund kulturgeschichtliche Phänomen der neuzeitlichen >Klassik< nicht auf einen bloßen Rekurs auf vormoderne Traditionen alteuropäischen Denkens reduzieren läßt, sondern, insbesondere was die Weimarer Klassik betrifft, durchaus dem Bewußtseinszusammenhang der europäischen Moderne zuzuweisen ist. Vgl. W. Voßkamp, Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik, in: H J . Simm (hg.), Literarische Klassik, Frankfurt 1988, S. 248-277. Vgl. auch Harro Segeberg, Deutsche Literatur und Französische Revolution, in: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, hg. K.O. Conrady, Stuttgart 1977, S. 243-266. Für diese Dimension von >Klassik< verstellt sich Curtius allerdings durch seinen verfallstheoretischen Ansatz den Blick. Goethe - Grundzüge, S. 85.
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»Es hat keinen Zweck, in seinem [i.e. Curtius'] Buch nach einer expliziten Theorie zu suchen.«54 Insgesamt lassen sich im Mittelalterbuch drei Figuren beobachten, die die gesuchte Verbindung von Gegenwart und Tradition herstellen sollen und gewissermaßen an die Stelle eines expliziten, theoretischen Konzepts des Zusammenhangs treten, nämlich die Aspekte der >AnschauungIntuition< und des >GedächtnissesIntuition< und der >Anschauung< sind für Curtius' Selbstverständnis als Literarhistoriker von entscheidender Bedeutung. So beschreibt er die von ihm favorisierte Form des Umgangs mit Tradition nicht als begriffliche Erörterung, sondern als >Anschauungc »Europa ist nur ein Name, ein geographischer Ausdrucke wenn es nicht eine historische Anschauung ist« (EL 16). >Anschauung< avanciert im Mittelalterbuch zu einer Leitvorstellung der Curtiusschen Methodologie, die gegenüber der begrifflichen Analyse eine eigene Form von Evidenz beansprucht: »Was in der Anschauung aufgewiesen ist, kann nicht mehr übersehen werden« (EL 385). >Anschauung< wird für Curtius zu einem besonderen, exklusiven Medium, das es ermöglicht, >Tradition< als Figur der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung zu etablieren. Als eine weitere bildhaft-anschauliche Figur, die die Leitidee der abendländischen Kultursynthese55 fundieren bzw. deren Aktualisierung ermöglichen soll, bietet sich Curtius das alte Konzept des Gedächtnisses an.56 Was in Curtius' Sicht die ars memoriae auszeichnet, hängt mit der eigentümlichen Verschränkung von personaler und kultureller Identität zusammen, die die Gedächtnismetapher zum Ausdruck bringt. Literarische Tradition, so Curtius, stiftet Identität nicht nur im Blick auf das individuelle, personale Bewußtsein, sondern auch im Blick auf jenes die Nationalliteraturen übergreifende ideelle Konstrukt, das Curtius »europäischer Geist« nennt.57 Angesichts des auf Einheit und Ganzheit zielenden Impulses des Curtiusschen Denkens verwundert es nicht, daß jener die Göttin Mnemosyne anruft58 und an das Gedächtnis, jenes »konservative Organ par excellence«,59 appelliert. 54
55
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57
58
Harald Weinrich, Deutscher Geist, europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 1222. In der Vorstellung der europäischen >Kultursynthese< greift Curtius einen Gedanken Ernst Troeltschs auf. Vgl. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, Neudruck Aalen 1977, besonders S. 164-199. Zu Curtius' Adaptation dieses Begriffs vgl. EL 398: »Auf dem Gedächtnis beruht das Bewußtsein der Person von ihrer Identität über allem Wechsel. Die literarische Tradition ist das Medium, in dem der europäische Geist sich seiner selbst über Jahrtausende hinweg versichert.« Die zitierte Figur der Verschränkung von individueller und kultureller Identität ist als solche aus dem Vorstellungsrepertoire des historistischen Denkens geläufig; neu gegenüber den einschlägigen Formulierungen des 19. Jahrhunderts ist hier lediglich, daß von jedem nationalgeschichtlichen Aspekt abstrahiert wird. Curtius Rekurs auf die Mnemosyne als bevorzugter Instanz der Tradition ist entscheidend durch seine Rezeption der Arbeiten des Warburgkreises inspiriert. Hier sei
230
4. Kapitel
Die Übung und Vervollkommnung der ars memoriae wird für Curtius z u m vorrangigen, unhintergehbaren kulturellen Imperativ: »In der heutigen Situation des Geistes gibt es kein dringlicheres Anliegen als die Wiederherstellung der >ErinnerungReichReichsanschießenBuchs der NaturBuchs der Erfahrung< bzw. >Buchs der Welt< und schließlich der Auffassung des Menschen als einem >Buch GottesBuch des Gedächtnisses< die Rede ist. Das Buch, so ließe sich dieses Motiv paraphrasieren, verkörpert auf symbolische Weise jenen topologischen Raum des Gedächtnisses, als den das Gebilde der europäischen Tradition zu denken ist. Die Teil-Ganzes-Relation, die hier als ein leitender Gesichtspunkt der Textstruktur hervortritt, ist noch in einer anderen Hinsicht für den hier analysierten figuralen Modus der Curtiusschen Rede bezeichnend. In der oben beobachteten Figur der Synekdoche beansprucht nämlich ein partielles, semantisch enger gefaßtes Zeichen, ein gewichtigeres, umfassenderes Signifikat zu ersetzen bzw. für jenes unmittelbar transparent zu werden. Die zugrunde gelegte Vorstellung ist die einer exklusiven, gleichsam naturhaft gegebenen Bedeutungsbeziehung. So wie Teil und Ganzes in einer vorgängigen, organischen Einheit zusammengehören, ist das Zeichen für das Bezeichnete in unmittelbarer Weise transparent. Das Buch als ein besonders hervorgehobenes Teilphänomen eröffnet einen Blick auf das Ganze der Kultur. Die Funktion und Verwendungsweise der Buch- und Lektüremetapher im Mittelalterbuch deutet somit auf eine (dem Text eingeschriebene) Zeichenkonzeption, die in gewisser Hinsicht noch in der Tradition des alten, Aristotelischen Modells steht. Die Bilder und Motive der Tradition, so die dort favorisierte Auffassung, bilden gleichsam eine zeichenhafte Oberfläche, die unter den Blicken des Eingeweihten - für eine tiefer liegende Sinndimension durchsichtig wird. Man sollte sich bewußt zu machen, daß der hier untersuchte rhetorische und metaphorische Modus des Textes zugleich eine gewisse Privilegierung der paradigmatischen, metaphorischen Dimension von Spra-
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che vor ihrer syntagmatischen, metonymischen Dimension impliziert. Die an den zitierten Stellen entfaltete Bildlichkeit betont die Beziehung des zeichenhaften Ausdrucks zu dessen intendiertem Signifikat, während demgegenüber der syntagmatische Aspekt der zufällig-mechanischen Zeichenverknüpfung tendenziell zurücktritt bzw. überspielt wird. Die hier angesprochene Betonung des paradigmatischen Aspekts kennzeichnet ein weiteres Bildmotiv, das im Kontext der Abhandlung nicht zufällig in engster Verbindung mit der oben erörterten Buchsymbolik auftritt: die Metapher der Kugel. Ähnlich wie das Buch fugiert auch die Kugel als Totalitätsfigur: Der Bedeutung des Lesens als der Form der Rezeption und des Studiums entspricht nun die des Schreibens als der Form der Produktion und der Gestaltung. Beide Komplexe fordern sich gegenseitig. Sie bilden in der geistigen Welt des Mittelalters gleichsam die beiden Hemisphären einer Kugel. (EL 331)
Die angeführte Stelle ist zunächst symptomatisch für den mehr rezeptiven als kritisch-innovativen Aspekt des Curtiusschen Literaturbegriffs. Das Schreiben erscheint als eine Operation, die den Text der Tradition nurmehr abrundet und ergänzt, nicht aber auf etwas Neues, möglicherweise Inkommensurables, hin überschreitet. Rezeption und Produktion von Literatur kommen wie die beiden Hälften einer Kugel genau zur Deckung. Die Kugelmetapher firmiert zugleich als ein treffendes Symbol jener in sich abgeschlossenen Einheit und Ganzheit, als die sich die europäische Kultur vor dem Blick des Toposforschers offenbart. Maßgebend für die hier erkennbaren rhetorischen und figuralen Effekte, f ü r das sich hier abzeichnende Bild einer einheitlichen Sinnfigur, sind vor allem die Leitunterscheidungen von Innen und Außen, Oberfläche und Tiefe, die die oben zitierte Metaphorik des Textes bestimmen und strukturieren: So wie sämtliche Punkte der Kugeloberfläche sich zum Mittelpunkt hin anzuordnen und zu orientieren scheinen, so verweisen auch die einzelnen Topoi der europäischen Literatur auf jenes verborgene Zentrum, das die Einheit dieser Kultur begründet und garantiert. Blickt man auf die vorangehenden Analysen des Mittelalterbuchs im ganzen zurück, so scheinen sich zwei Aspekte als eine Grundrichtung der späten Abhandlung abzuzeichnen. Auf sprachlicher Ebene läßt sich eine im Vergleich zum Frühwerk stärkere Gewichtung des figuralen Modus metaphorischer Rede beobachten. Die syntagmatische Relation der (zufälligen) Zeichenverkettung tritt in der Rhetorik des Textes tendenziell zurück hinter einer scheinbar unmittelbareren Verweisungsbeziehung von Zeichen und Bezeichnetem. Dieser Veränderung im rhetorischen Modus des Textes, wie sie im Vergleich zum Frühwerk zu verzeichnen ist, korrespondiert auf einer konzeptuellen Ebene eine Zurücknahme des historisch-genetischen Gesichtspunkts. Die Formen und Topoi der europäischen Literatur interessieren Curtius weniger in ihrer Entwicklung und Veränderung als vielmehr in ihrer überzeitlichen Dauer. Stand der Beginn des literaturkritischen bzw. literatur-
246
4. Kapitel
wissenschaftlichen Schreibens von Curtius noch im Zeichen der Nietzscheanischen Idee des >Werdens< und der herakliteischen Bewegung, so treten diese Aspekte beim späten Curtius zurück zugunsten der Momente der Konstanz und der Dauer. Es wäre indessen gerade im Blick auf den hier skizzierten Weg des Curtiusschen Nachdenkens über Kultur- und Literaturgeschichte zweckmäßig, den geschichtlichen und den transhistorischen Gesichtspunkt nicht ausschließlich im Zeichen eines bloßen Gegensatzes aufzufassen. Es käme vielmehr darauf an, zu sehen, daß die Tendenz zu einem überzeitlichsubstantialistischen Denken, wie sie sich im Mittelalterbuch artikuliert, noch in der Verlängerung und Konsequenz eben jenes historisch-genetischen Geschichtskonzepts liegt, das die Vertreter des klassischen Historismus formuliert haben. Dem genetischen Ansatz ist nämlich insofern eine Neigung zur Substantialisierung des Geschichtsdenkens inhärent, als die genetische Totalisierung des historischen Verlaufs zu einem einheitlichen Prozeß die Frage nach dem Subjekt oder dem zugrundeliegenden Substrat (hypokeimenon) dieses ganzheitlichen Vollzugs aufwirft. Da die genetische Figur der Entwicklung und Evolution, wie wir gesehen haben, immer schon auf einer Doppelheit, einer grundlegenden Aporie von Identität und Veränderung beruht, liegt das Curtiussche Topos- und Kulturkonzept durchaus auf der Linie jener Tradition, die durch die Struktur des genetischen Ansatzes vorgegeben ist. Das Curtiussche Projekt einer europäischen Toposforschung ist als Versuch zu begreifen, die Fundierungsparadoxie des genetischen Diskurses, die Differenz von Identität und Veränderung, zugunsten des identitätslogischen Moments aufzulösen bzw. zu asymmetrisieren. Im folgenden Kapitel soll der Curtiusschen Form der Kulturgeschichtsschreibung in Gestalt des Benjaminschen Trauerspielbuchs ein Ansatz gegenübergestellt werden, der das für den genetischen Diskurs kennzeichnende Identitätsmoment zurückzustellen sucht und jene metonymisch-textuelle Kritik des Genetischen, wie sie sich in Curtius' Frühwerk abzeichnete, radikaler und in gewisser Hinsicht konsequenter durchführt.
5.
Die Kritik des genetischen Ansatzes in Walter Benjamins »Ursprung des deutschen Trauerspiels«
Benjamins Analyse und Kritik historistischer Deutungsansätze wird in der Forschungsdiskussion vorwiegend mit dem Spätwerk des Autors (dem Passagenwerk und den Geschichtsphilosophischen Thesen) assoziiert. 1 In den folgenden Darlegungen soll demgegenüber eine Auseinandersetzung Benjamins mit dem genetisch-genealogischen Prinzip historiographischen und literaturgeschichtlichen Schreibens nachgezeichnet werden, die sich bereits im Frühwerk, insbesondere im Kontext des Trauerspielprojekts, beobachten läßt. Eine Untersuchung, die das Benjaminsche Trauerspielprojekt unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Genetischen analysiert, kann nicht beanspruchen, eine Gesamtinterpretation des Trauerspielbuchs zu leisten. Die Erstellung eines detaillierten philologischen Kommentars, der den Benjamin-Text Schritt für Schritt nachzeichnet und in seinen vielfältigen Referenzen erschließt, kann also nicht Ziel der folgenden Darlegungen sein. Auch geht es den hier vorgelegten Ausführungen weniger darum, den in der Forschungsdiskussion bereits gegebenen und erörterten Interpretationen eine neue, alternative Lesart des Trauerspielbuchs entgegenzusetzen. Ziel der folgenden Untersuchungen ist es vielmehr, das Trauerspielbuch in die Diskussion über das genetische Prinzip der Kulturgeschichte einzubringen und den besonderen Standort des Benjaminschen Projekts innerhalb dieses Problemzusammenhangs zu bestimmen. Im Zentrum der Analysen steht dabei die Frage, inwieweit sich das Trauerspielbuch als eine Kritik des entwicklungsgeschichtlichen Modells lesen läßt bzw. ob sich dort ein Alternativkonzept zu jenem Modus kulturgeschichtlicher Genealogie erkennen läßt, der aus der Tradition des genetischen Ansatzes bekannt ist. Bevor jedoch die Benjaminsche Kritik des genetischen Erklärungsprinzips herausgearbeitet werden kann, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß das Trauerspielbuch in gewisser Hinsicht noch an die Tradition der genetischen Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte anknüpft
Vgl. dazu vor allem die Beiträge Heinz-Dieter Kittsteiner, Walter Benjamins Historismus, in: Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des 19. Jahrhunderts, hg. Norbert Bolz u. Bernd Witte, München 1984, S. 163-197, und Gérard Raulet, Benjamins Historismus-Kritik, in: W. Benjamin zum 100. Geburtstag, hg. Uwe Steiner, Bern 1992, S. 103-122.
248
5. Kapitel
bzw. dieses Modell im Kontext der eigenen historischen und systematischen Ausführungen zitiert. Als ein erstes, entscheidendes Motiv, über das Benjamin diesen Bezug zur Tradition des genetischen Geschichtskonzepts herstellt, läßt sich die Kategorie des Ursprungs begreifen, die nicht ohne Grund bereits im Titel als ein Leitbegriff der Abhandlung exponiert wird. In einem ersten Schritt soll daher die Bedeutung und Funktion des Ursprungsbegriffs in der Vorrede des Trauerspielbuchs2 untersucht und dabei erörtert werden, inwieweit sich in der Reflexion auf diese basale Kategorie ein Rekurs auf das genetische Modell der Ursprungsgeschichte abzeichnet.
5.1
Die Reflexion des Ursprungsproblems und des genetischgenealogischen Verfahrens in der Vorrede
Die Vorrede des Trauerspielbuchs knüpft in der Annahme des Ursprungs als Fundamentalbegriff sowie in der Definition des eigenen Verfahrens als einer Technik der genealogischen Aufdeckung und Rekonstruktion eines ursprünglichen Prinzips an die Grundfigur des genetischen Erklärungsansatzes in der Kulturgeschichte an. Die >erkenntniskritischen< Ausführungen der Vorrede weichen indessen in zwei entscheidenden Hinsichten vom herkömmlichen Konzept der genetischen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte ab: Zum einen bemüht sich Benjamin, im Unterschied zu den prototypischen Vertretern des genetischen Ansatzes, nicht um eine Abgrenzung des eigenen Vorhabens von einer - im Zeichen des Metaphysikverdachts stehenden - geschichtsphilosophischen Tradition, sondern er rückt vielmehr das eigene Projekt explizit in die Nachfolge der alten Ontologie, der Vorstellung einer ursprünglichen Ordnung der Wesenheiten. Zum anderen gerät bei Benjamin das für die herkömmliche Form der Ursprungsgeschichte zentrale historischgenetische Moment in ein Spannungsverhältnis zu dem ausgeprägten typologisierend-systematischen Aspekt der Benjaminschen Vorgehensweise - das historische Moment tritt sogar stellenweise hinter letzterem der Tendenz nach völlig zurück. Die Vorrede überrascht zunächst durch die eigentümlich abstrakte Formulierungsebene ihrer einschlägigen Begriffe und ihrer methodischen Erörterungen. Zu dem konkreten Gegenstand der Abhandlung, dem barocken Trauerspiel, halten ihre Ausführungen in auffallender Weise Distanz. Die Abhandlung bestimmt die Figur des Ursprungs - und darin folgt sie durchaus den Vorgaben des genetischen Diskurses - als eine zeitenthobene, dem konkreten Ablauf der Geschichte vor- bzw. übergeordnete Kategorie, die mit den Attributen des Authentischen, Wesenhaften und Wahren versehen ist. Im Sin2
Hier wird nach folgender Ausgabe zitiert: Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 1, hg. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt 1974, S. 203-^30.
Die Kritik des genetischen Ansatzes in Walter Benjamins »Ursprung...«
249
ne der platonischen Tradition wird das Ursprungskonzept als Inbegriff eines authentischen, wesenhaften Seins vorgestellt; es erscheint auf einer Ebene mit den Begriffen der Wahrheit und der Idee. Der platonischen Philosophie entnimmt die Vorrede darüber hinaus den Gedanken einer strengen Trennung von phänomenaler (empirischer) Welt und dem noetischen Bereich der Ideen. Vor der Folie dieser Unterscheidung erweist sich der Ursprung als eine gleichsam metaphysische Entität: sein Status ist der einer »vollendeten Selbständigkeit und Unberührtheit« (S. 217), eines »aller Phänomenalität entrückten Seins« (S. 216). Gemäß der hier erkennbaren metaphysischen Geste ist das in der Vorrede skizzierte Projekt nachdrücklich als »Wesensergründung« (S. 219) konzipiert. Die genealogische Aufgabe der Rekonstruktion des Ursprungs besteht für den Verfasser der Vorrede in dem Versuch, die Idee in ihrer archetypischen Struktur zu begreifen. Die genannten Formulierungen lassen insgesamt eine charakteristische Tendenz der Vorrede erkennen, durch die sich die Benjaminsche Ursprungsgeschichte von einer Genealogie im Sinne des genetischen Ansatzes absetzt: die Zurücknahme bzw. die Relativierung der historischen Dimension. Die Konstruktion einer »Ordnung der Ideen« (S. 212), die Benjamin als die vordringlichste Aufgabe der Ursprungsforschung begreift, erfordert ja eine im Kern transhistorische Blickrichtung. Es geht um eine Betrachtungsweise, die von der konkreten historischen Entwicklung gerade abstrahiert und den jeweiligen geschichtlichen Gegenstand nur als besondere Erscheinungsform und spezifische Ausprägung eines abstrakteren, zugrundeliegenden Prinzips auffaßt. Benjamin hat diese Tendenz zur Aufhebung der Geschichte in die Idee, die seiner Ursprungskonzeption eigen ist, an verschiedenen Stellen der Darlegung selbst hervorgehoben und kommentiert. Man betrachte etwa die folgende definitorische Einlassung: Das Trauerspiel im Sinne der kunstphilosophischen Abhandlung ist eine Idee. Von der literarhistorischen unterscheidet eine solche sich am auffallendsten darin, daß sie Einheit da voraussetzt, wo jener Mannigfaltigkeit zu erweisen obliegt. [...] Die Geschichte erscheint nur als der farbige Rand einer kristallinischen Simultaneität. (S. 218)
Oder, an anderer Stelle noch pointierter: »Das in der Idee des Ursprungs Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr als ein Geschehn, von dem es betroffen würde« (S. 227). Es wäre indessen kurzschlüssig und übereilt, wollte man die zitierten Formulierungen im Sinne einer pauschalen und umfassenden Verabschiedung des historischen Gesichtspunkts auffassen. Die zitierten Stellen stehen nämlich in auffalllendem Gegensatz zu anderen Äußerungen der Vorrede, die die Bedeutung der historischen Dimension des Ursprungsprojekts hervorzuheben scheinen. So betont Benjamin im Anschluß an Croce1 und in bewußter Wen1
Zur Auseinandersetzung Benjamins mit Croce vgl. Fred Lonker, Benjamins Darstellungstheorie, S. 314, und Rudolf Speth, Ästhetik und Wahrheit, S. 269-271.
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5. Kapitel
dung gegen eine abstrakte Systematisierung »den theoretischen Wert jener genetischen und konkreten Klassifikation [...], die übrigens nicht Klassifikat i o n ist, die vielmehr Geschichte genannt wird« (S. 225). »Die Kategorie des Ursprungs ist«, so versichert Benjamin, »nicht, wie Cohen meint, eine rein logische, sondern historisch« (S. 226). Auch in den einschlägigen Erörterungen zum Ursprungsbegriff selbst treten die Momente des Werdens und der Entwicklung als zentrale Bestimmungen hervor, ja der geschichtliche Verlauf erscheint schließlich als diejenige Instanz, die den Zugang zum Phänomen des Ursprungs eröffnet und dessen Untersuchung erst ermöglicht: Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. [...] In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt. (S. 226)
Die zuletzt zitierte Formulierung kann geradezu als ein prägnantes Zitat der genetischen Formel der ganzheitlichen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte gelesen werden. Es geht um den Vorgang der fortschreitenden Entwicklung und Entfaltung einer als wesenhaft und ursprünglich gedachten Entität, die dem betreffenden historischen Verlauf als einheitsstiftendes Prinzip zugrunde liegt. Das Benjaminsche Modell der Ursprungsgeschichte zeigt somit an der hier zitierten Stelle - nicht zuletzt durch die Implikationen der Ganzheit und der immanenten Teleologie - eine erstaunliche Nähe zum genetisch-genealogischen Geschichtskonzept. Blickt man auf die oben zusammengestellten Bemerkungen der Vorrede zurück, so läßt sich insgesamt ein eigentümliches Schwanken Benjamins erkennen zwischen einem übergeschichtlichen, ausschließlich systematischen Konzept (ewige Ordnung der Ideen) und einem historischen Ansatz, der sich Prinzipien der genetischen Geschichtsschreibung zu eigen macht. Wie läßt sich der oben beobachtete Widerspruch zwischen einem der Tendenz nach ahistorischen, typologischen Verfahren einerseits und einem historischgenetischen Ansatz andererseits erklären bzw. auflösen? Ein Ausweg aus dieser im Kern paradoxen Argumentationslage zeichnet sich ab, wenn man sich den konkreten polemischen Bezug der methodischen Ausführungen der Vorrede vergegenwärtigt. Die geschichtskritischen Ausführungen der Vorrede richten sich nämlich nicht gegen jede historischgenetische Verfahrensweise schlechthin, sondern fassen vielmehr einen spezifischen Typ historisierender Betrachtung in den Blick. Gemeint ist jene Form von Kulturgeschichtsschreibung, die in einseitiger Weise an bestimmten G i p felpunkten der Entwicklung orientiert ist und weniger hervorstechende oder von der unterstellten Norm abweichende Phänomene in ihrem totalisierenden Duktus übergeht. Dieser polemische Bezugspunkt der Benjaminschen Darlegungen wird an einer späteren Stelle (im materialen Teil des Trauerspielbuchs) explizit genannt. Dort spricht Benjamin nämlich - in Zusammenhang mit seinem eigenen Versuch einer Typologie der Figuren des barocken Trau-
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erspiels - von dem Erfordernis einer »Befreiung aus den Verlegenheiten eines Historismus, der seinen Gegenstand als notwendige aber wesenlose Übergangserscheinung erledigt« (S. 278). In der enthistorisierenden Tendenz des Benjaminschen Methodenkonzepts, so ließe sich interpretieren, artikuliert sich der Vorbehalt gegen ein Entwicklungsmodell, das Kulturgeschichte im Schema eines stufenweisen Aufstiegs (mit gelegentlichen Unterbrechungen durch Verfallsperioden) beschreibt und die Barockliteratur als quantité négligeable, als bloßes Übergangsphänomen, erscheinen läßt. Der Rekurs auf eine spezifische >Konstellation< von Ideen ist somit nicht als ein einfacher Regreß in ein vorgeschichtliches Denken aufzufassen; die Vorrede vollzieht hier vielmehr eine Distanzierung sowohl vom geradlinigen Progressions- und Kontinuitätsmodell des geistesgeschichtlichen Historismus als auch von einer einseitigen Orientierung am Klassik-Paradigma, 4 wie sie für die literaturgeschichtliche und philologische Tradition des späteren 19. Jahrhunderts kennzeichnend ist. Benjamins begrifflichen Erläuterungen zum Ideen- und Ursprungskonzept ist diese Kritik der herkömmlichen kulturgeschichtlichen Methode eingeschrieben. Dies läßt sich wohl am deutlichsten an der eigentümlichen Verknüpfung von >Idee< und >Extrem< ablesen, auf der die theoretischen Ausführungen der Vorrede nachdrücklich insistieren. Ein Zugang zur verborgenen Ordnung der Ideen läßt sich nämlich für Benjamin nur im Rückgriff auf eine Phänomenologie der Extreme gewinnen: »Und zwar liegen jene Elemente, deren Auslösung aus den Phänomenen Aufgabe des Begriffes ist, in den Extremen am genauesten zutage. Als Gestaltung des Zusammenhangs, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben« (S. 215). Zum Ursprung vordringen bedeutet für Benjamin das Studium der extremsten und prägnantesten Ausprägungen einer Form. Im Sinne dieses methodischen Leitkonzepts interessieren Benjamin vor allem die Grenzformen des Märtyrer- und des Tyrannendramas, die er als äußerste und zugleich typische Möglichkeiten der Trauerspielform begreift. »Notwendig«, so fordert Benjamin, »werden der Kunstphilosophie die Extreme, virtuell der historische Ablauf. [...] Die Darstellung der Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist« (S. 218, 227). Es ist kein Zufall, daß Benjamin im Rahmen seines Ansatzes die Analyse der extremen Darstellungsweise als spezifischer Erscheinungsform der Idee privilegiert. Die Orientierung an der extremen, von jedem normierenden Maßstab abweichenden Gestaltung bildet den genauen Gegenpol zu jener exklusiven Inanspruchnahme der harmonischen, idealisierten Form, die in der klassikzentrierten Literaturbetrachtung geläufig ist. Der kritische Akzent der Benjaminschen Ausführungen tritt hier deutlich hervor: Im Unterschied zur Figur des Extrems, so der implizite Einwand, gerät die klassizistische Leitvorstellung der ausgewogenen, maßvollen Komposition in bedenkliche Nähe 4
Vgl. H. Jaumann, Die deutsche Barockliteratur, S. 206 und 208.
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5. Kapitel
zum Phänomen des Mittelmaßes und des bloßen Durchschnitts. Benjamin warnt vor jener Harmonisierung und Vermittlung der Gegensätze, wie sie die Kategorie des Durchschnitts vollzieht: »Das Allgemeine als ein Durchschnittliches darlegen zu wollen, ist verkehrt. Das Allgemeine ist die Idee« (S. 215). Die in den Extremen erkennbare Idee, so erläutert Benjamin, enthalte »jene Allgemeinheit, auf welcher im System der Klassifikation die jeweilige Begriffsstufe ruht, die des Durchschnitts nämlich, nicht in sich« (S. 218). Benjamin versucht denn auch nicht, die sonderbaren, zum Entlegenen und Manierierten tendierenden Züge der barocken Trauerspiele herunterzuspielen oder ihre Tragweite durch apologetische Erläuterungen einzuschränken. Er hebt vielmehr das scheinbar Abwegige, Übertriebene und Skurrile gerade als denjenigen Aspekt hervor, der die Trauerspiele als in besonderer Weise geeignete Gegenstände seines ideengeleiteten Analyseverfahrens zu erkennen gibt. Benjamin empfiehlt in diesem Zusammenhang eine Vorgehens weise, die nicht das gelungene Werk zum Gegenstand ihrer Betrachtung wählt, sondern »nach Exemplarischem sich umsieht, und sollte sie auch nur einem versprengten Bruchstück diesen Charakter zubilligen können« (S. 224). Jenes ideelle, noetische Moment, um das es Benjamin geht, läßt sich - so die paradox anmutende These - an scheinbar mißlungenen, unvollendeten Werken am genauesten beobachten: »Im Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene, in den ohnmächtigsten und unbeholfensten Versuchen sowohl wie in den überreifen Erscheinungen der Spätzeit vermag Entdeckung es zu Tag zu fördern« (S. 227). In Anbetracht des hier dargelegten methodischen Ansatzes verwundert es nicht, daß Benjamin die seltsam gezwungenen und verstiegenen Züge des barocken Trauerspiels immer wieder herausstellt. So betont die Vorrede die »befangene Gestalt« (S. 227) und die »spröde Form« (S. 228) dieser Stücke, die der barocke Literaturbetrieb nur in »einer höchst gewalttätigen Anstrengung« (S. 228) hervorzubringen vermochte. Als spezifische Kennzeichen der barocken Trauerspiele figurieren die Momente der »Forcierung«, der gesuchten »Manier« (S. 235), der »quälenden Gewaltsamkeit ihrer Geste« (S. 229). Es bleibt festzuhalten, daß die Vorrede eine polemische Umkehrung der herkömmlichen, am klassischen Werk< orientierten Blickrichtung vollzieht. Benjamin unterscheidet sich unter diesem Gesichtspunkt nicht nur von der literaturgeschichtlichen Tradition des 19. Jahrhunderts, sondern auch von der zeitgenössischen, geistesgeschichtlich inspirierten Barockforschung. Zwar wenden sich die Literatur- und Kunstwissenschaften der zwanziger Jahre insgesamt verstärkt der Barockepoche zu,5 jedoch steht in diesen Darstellungen die Barockzeit meist im Zeichen einer übergreifenden entwicklungsge-
Vgl. W. Voßkamp, Deutsche Barockforschung in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Europäische Barock-Rezeption, hg. Klaus Garber, Wiesbaden 1991, S. 6 8 3 703.
Die Kritik des genetischen Ansatzes in Walter Benjamins »Ursprung...«
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schichtlichen Bewegung, die in der Klassik als >Hochrenaissance< (Cysarz)6 kulminiert.7 Das Trauerspielbuch hingegen stellt sich als der genaue Gegenentwurf zu dieser Form der Literaturbetrachtung und Literaturgeschichtsschreibung dar. Die Wahl des Gegenstands - die Entscheidung für ein vernachlässigtes und verkanntes Genre - ist im Sinne dieser kritischen Intention zu sehen: Die Geschichte der Entstehung und Herausbildung des barocken Trauerspiels läßt sich nicht als Erfolgsgeschichte schreiben oder gar in die Formel einer kulturellen >Blütezeit< fassen. Die sich hier abzeichnende Kritik an einer überkommenen, nach dem Schema der Gipfelpunkte und Verfallszeiten verfahrenden Form der Kulturgeschichtsschreibung bedeutet indessen nicht, daß für Benjamin der historisch-genetische Aspekt der Kunst- und Literaturanalyse völlig desavouiert wäre. Benjamin entwirft nämlich, wie noch gezeigt werden soll, im Rahmen des Trauerspielbuchs durchaus eine - wenngleich vom herkömmlichen Typ der genetischen Entwicklungsgeschichte abweichende - Genealogie des barocken Trauerspiels. Bevor jedoch der historisch-genetische Aspekt der Benjaminschen Trauerspielanalyse erörtert wird, bedarf noch eine weitere Eigentümlichkeit der Vorrede der genaueren Untersuchung und Klärung, nämlich der offensichtliche metaphysische Einschlag der dort vorgebrachten methodischen Bestimmungen. Die Vorrede greift ja in größerem Umfang auf Theoreme und Konzepte eben jener philosophischen Entwürfe der Tradition zurück, die mit dem Anspruch einer umfassenden, systematischen Beschreibung der Welt bzw. des Seins verbunden sind. Der Semantik dieser philosophiegeschichtlichen Tradition entnimmt die Vorrede ihre Leitbegriffe und den Gang der Darlegung steuernden Gesichtspunkte.8 >EinheitWahrheit< und >Ursprung< sind die Signifikate, die die Vorrede in immer neuen Formulierungen beschwört. Aufgabe des Ursprungsprojekts sei es, so die programmatische Forderung, »die unumschreibliche Wesenheit des Wahren« (S. 208) zu erkunden, »der Wahrheit, die sprunglose Einheit bleibt, habhaft zu werden« (S. 212). Nicht nur der Wahrheitsbegriff wird in der Vorrede mit den Konnotationen der Einheit und Einzigartigkeit versehen, auch das parallele Konzept der >Idee< erhält diese 6
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Vgl. Herbert Cysarz, Deutsche Barockdichtung, S. 45: »Die Klassik ist unsere Hochrenaissance, das Barock nur das erste Werben um den Lorbeer, den nachmals jene gewinnt.« Die zeitgenössische Forschung hat nach Benjamins Auffassung gar kein angemessenes Konzept des literaturgeschichtlichen Verlaufs. Entweder sie zeige »die Tendenz auf etwas, was >im Wesenskerne heute gültig und immer< ist« (Benjamin, Gesammelte Schriften III, S. 60) oder es bleibe bei der »gemächlichen, komfortablen Darstellung der Viten und Werke« (ebd., S. 193). Eine genaue Analyse der philosophischen Prämissen der Ursprungstheorie der Vorrede bietet Fred Lönker, Benjamins Darstellungstheorie. Zur »erkenntniskritischen Vorrede« zum »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, hg. F. A. Kittler und H. Turk. Frankfurt 1977, S. 293-322.
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5. Kapitel
emphatische, ins Spekulative und Metaphysische ausgreifende Lesart: »Jede Idee ist eine Sonne und verhält sich zu ihresgleichen wie eben Sonnen zueinander sich verhalten. Das tönende Verhältnis solcher Wesenheiten ist die Wahrheit« (S. 218). Die zitierte Stelle läßt den radikalen und unbedingten Anspruch des hier entworfenen metaphysischen Konzepts deutlich werden. Die Sonne als Emblem des Göttlichen und Numinosen verweist auf die exklusive, übersinnliche Stellung der Idee, während in der Metapher des »tönenden Verhältnisses« der Wesenheiten der alte Topos der Harmonie der Sphären zitiert wird. Die Vorrede will, so hat es den Anschein, für das Trauerspielprojekt die metaphysischen Implikationen der platonischen Tradition reklamieren und zugleich für die dort vorgeschlagene Analyse die alte Figur eines privilegierten, seinem Wesen nach der Wahrheit affinen Zugangs zu den Dingen beanspruchen: »Als Sein gewinnen Wahrheit und Idee jene höchste metaphysische Bedeutung, die das platonische System ihnen nachdrücklich zuspricht« (S. 210). Auf diese Weise präsentiert sich die Trauerspielanalyse als ein metaphysisch fundiertes Projekt, das die Konkurrenz mit den großen Systementwürfen der Philosophiegeschichte (Platon, Leibniz, Kant) nicht scheut. Die hier erkennbare Figur der Überbietung und der rhetorischen Überhöhung des eigenen Entwurfs findet in gewissem Sinne ihr Komplement in der betonten Geste des Vorläufers und Wegbereiters. Der philosophische Essay bzw. Traktat, dessen Formprinzip der einleitende Abschnitt der Vorrede skizziert, beschreibt noch nicht das gesuchte philosophische System, sondern ist nurmehr dessen Ankündigung und Vorwegnahme. Die vollständige Erschließung des Ursprungs wird nicht als unmittelbar einlösbare Aufgabe gedacht und an eine noch unbestimmte Zukunft delegiert.9 Der Begriff des Ursprungs bildet gewissermaßen den verborgenen Fluchtpunkt, den die Erörterungen der Vorrede in immer neuen Ansätzen und Bestimmungsversuchen umkreisen, ohne ihm indessen eine konkrete, abschließende Formulierung geben zu können. Die Vorrede sucht sich dem Ursprungsbegriff am Leitfaden der philosophischen Tradition zu nähern. Konzepte aus heterogenen Traditionslinien wachrufend,10 setzt sie nacheinander die Begriffe der scholastischen Veritas, der platonischen Idee und des platonischen Eros, der Leibnizschen Monade" sowie des adamitischen Namens an die Stelle des zu definierenden Ursprungskonzepts. Doch all jene Begriffe und Metaphern, die die Vorrede aus 9
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Vgl. Richard Wolin, Walter Benjamin. An Aesthetic of Redemption, New York 1982, S. 95. Um die genaue Rekonstruktion der zeitgenössischen und philosophiegeschichtlichen Quellen der erkenntniskritischen Vorrede geht es Rudolf Speth, Wahrheit und Ästhetik, Würzburg 1991, S. 209-277. Wie Rainer Nägele, Das Beben des Barock in der Moderne: Walter Benjamins Monadologie, Modern Language Notes, 106, 1991, 501-527, zeigt, läßt sich die Leibnizsche Monadenlehre als Vorlage und Ausgangspunkt für Benjamins spezifisches Verfahren einer »perspektivischen Konstruktion« auffassen (ebd., S. 513).
Die Kritik des genetischen
Ansatzes
in Walter Benjamins
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dem Vorrat der Tradition aufnimmt: Wahrheit - Sein - Idee - Monade - Name greifen angesichts der besonderen, dem unmittelbaren Zugriff entrückten Identität des Ursprungs zu kurz. Die verborgene Präsenz des Ursprungs läßt sich, so scheint es, da die Konzepte und Verfahrensweisen der Philosophie scheitern, allenfalls mit den Mitteln der Theologie beobachten: Es bedarf eines Verfahrens, das »nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihm gerecht wird« (S. 211). In der hier zu beobachtenden theologischen Wendung der Argumentation erfährt der Wahrheits- und Ursprungsgedanke der Tradition eine äußerste Zuspitzung und Radikalisierung. Nun wird der (philosophische) Wahrheitsbegriff im Rahmen der oben urarissenen Strategie nicht nur zitiert und in eine pointierte Formel gefaßt. Es handelt sich vielmehr bei Benjamins Verfahrensweise um eine Überbietung der Tradition, die in Ironie umschlägt: Wenn die zentralen Topoi und Begriffe der Tradition beim Versuch der Klärung und Definition des Ursprungs scheitern, können sie nur noch ironisch gelesen werden. Die Beschreibungsansätze der Vorrede führen j a wie ersichtlich nicht zu einer konkreten Bestimmung jener ursprünglichen Identität, die als Fundament des platonischen Ideenkosmos postuliert wird. Eher schon handelt es sich um eine Technik der fortschreitenden Substitution des Signifikanten, in deren Vollzug die Festlegung auf einen bestimmten semantischen Gehalt, auf ein eindeutiges Signifikat, permanent aufgeschoben wird. Diese Tendenz der Vorrede, ihr basales Signifikat dem Zugriff der Lektüre zu entziehen und eigentümlich in der Schwebe zu halten, muß Zweifel wecken gegenüber einer Interpretation, die die Vorrede als bloße Wiederaufnahme oder einfache Summe der philosophischen Tradition begreifen will. Zurecht warnt Bernd Witte vor einer ungebrochenen, naiven Einordnung der Vorrede in die Tradition: »Der Anschein massiver Positivität der >Vorrede< ist [...] trügerisch. In Wahrheit ist sie ein destruktiver Diskurs. Sie zerstört den zentralen Begriff des Piatonismus, den zentralen Begriff aller >Metaphysik der PräsenzWahrheitsgehalt< läßt sich allenfalls im Durchgang durch unterschiedliche Stationen der Betrachtung und durch die Pluralität der Sachgehalte erreichen. Die oben angeführten Bestimmungen verweisen somit im Kern auf eine différentielle Konzeption. Das Besondere des Gegenstands der >Wahrheitsgehalt< - wird nur als Ergebnis einer Sequenz von Unterscheidungen, nämlich im Nachvollzug der einzelnen Formmomente als spezifischer Differenzen, greifbar. Das hier entwickelte différentielle Methodenkonzept ist als ein Gegenentwurf zu jeder Form der totalisierenden Darstellung und der undifferenzierten Synthesebildung aufzufassen. Der >erkenntniskritische< Ansatz der Vorrede richtet sich somit gegen die weitausgreifenden Ganzheitskonzepte der zeitgenössischen Geistesgeschichte ebenso wie gegen den totalisierenden Duktus der großen historistischen Geschichtserzählungen. Vor allem die für das >kontemplative< Schreiben charakteristische Geste des wiederholten Absetzens und Einhaltens ist als ein Remedium gegen das Einheitsstreben der historistischen und geistesgeschichtlichen Makroerzählungen konzipiert. Dies läßt sich aus den Charakteristika des kontemplativen Verfahrensstils, die die Vorrede darlegt, ersehen: Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik. (S. 208)
Es ist offensichtlich, daß im Rahmen des hier skizzierten Ansatzes die >Einheit< des kulturgeschichtlichen Gegenstandes weder problemlos vorausgesetzt noch unmittelbar eingesehen werden kann. Die Technik des Traktats erweist sich somit als das genaue Gegenstück einer Verfahrensweise, die ihr Thema oder ihren Gegenstand in einem einzigen, weit ausgreifenden Zug konstruiert. Die Vorrede fordert, so ließe sich das hier dargelegte Konzept zusammenfassen, eine Methode der Ursprungserzählung, die der herkömmlichen Form der totalisierenden, auf eine übergreifende EinAufsatz, S. 158. Vgl. auch W. Benjamin, Bemerkung über Gundolf: Goethe, Gesammelte Schriften, hg. R. Tiedemann und. H. Schweppenhausen Bd. I, S. 826-828).
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5. Kapitel
heit des Geschichtsverlaufs zielenden Kulturgeschichte diametral entgegengesetzt ist. Doch die thesenhafte Bezeichnung und abstrakte Forderung einer solchen Verfahrensweise sind eines, ihre konkrete Durchführung und Ausarbeitung ein anderes. Im folgenden ist daher zu untersuchen, inwieweit die hier - im Rahmen der Vorrede - nurmehr abstrakt und programmatisch vorgetragene Kritik der geistesgeschichtlichen Entwicklungsgeschichte im materialen Teil des Trauerspielbuchs - in der Struktur und Kompositionstechnik der kunstgeschichtlichen Abhandlung - eine konkrete Verarbeitung und Umsetzung erfährt. Die folgenden Ausführungen zum Hauptteil des Trauerspielbuchs versuchen, die hier angesprochene Frage in zwei Schritten zu erörtern bzw. zu klären. In einem ersten Schritt geht es - auf einer mehr thematischen Ebene - um die Art der Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte, die Benjamin erzählt. Lassen sich in den breit angelegten ideengeschichtlichen Zusammenhängen und Referenzen, die das Trauerspielbuch darlegt, die Züge einer >Genealogie< erkennen? Inwieweit, so wäre zu fragen, zeichnet sich in der dort vorgenommenen Konstruktion historischer Zusammenhänge das >klassische< Modell der genetischen Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte ab? Inwieweit handelt es sich um einen anderen, dem Trauerspielbuch eigentümlichen Typus der Ursprungserzählung, um eine andere Form der Verknüpfung der Einzelmomente als die des ganzheitlichen, genetischen Zusammenhangs? Angesichts der besonderen Bedeutung, die schon die Vorrede dem Gesichtspunkt der >Darstellung< zukommen läßt, liegt es auf der Hand, daß die Diskussion des hier umrissenen Problems nicht ausschließlich auf einer konzeptuellen und thematischen Ebene geführt werden kann. In einem zweiten Schritt soll daher untersucht werden, inwieweit sich die hier angedeutete Auseinandersetzung mit dem genetischen Prinzip der Kulturgeschichtsschreibung insbesondere auf der Ebene des Schreibens und der rhetorischen Figuren des Textes artikuliert.
5.2
Die Auseinandersetzung mit dem genetischen Prinzip im Hauptteil des Trauerspielbuchs
Vor dem Hintergrund des oben versuchten Problemaufrisses ist es offensichtlich, daß es der vorliegenden Arbeit nicht um eine Analyse und Kritik des Benjaminschen Konzepts des barocken Trauerspiels aus der Perspektive der Barockphilologie gehen kann.15 Dennoch deutet die Kritik, die Benjamins 15
Eine genauere Analyse der Deutungsansätze des Trauerspielbuchs im Kontext der Ergebnisse und Debatten der Barockforschung steht noch aus. Bei der fragwürdigen Disjunktion »Benjamin den Benjaminforschern und die barocken Trauerspiele den Barockforschern« (Hans Jürgen Schings, Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung, in: Festschrift für Marian Szyrocki, ed. N. Honsza u. H.G.
Die Kritik des genetischen Ansatzes in Walter Benjamins
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Trauerspielbuch auch in der neueren Barockphilologie erfahren hat, gewissermaßen ex negativo auf die Figur der Ursprungsgeschichte als ein den Gang der Abhandlung leitendes, das kulturgeschichtliche Material organisierendes Prinzip hin. Hier seien nur exemplarisch die folgenden Kritikpunkte von zwei Barockforschern genannt: Albrecht Schöne verweist in der Neuauflage seiner Abhandlung »Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock«' 6 vor allem auf die Problematik der geschichtsphilosophischen und geschichtstheologischen Prämissen der Trauerspielarbeit und hält Benjamin die eigentümliche Unscharfe und definitorische Vagheit seines Allegoriebegriffs vor. In ähnlicher Weise liest auch Reinhart Meyer-Kalkus das Trauerspielbuch als eine im Grunde historisch nicht angemessene Aktualisierung des barocken Trauerspiels und der barokken Emblematik aus der Perspektive einer späteren, modernen Literatur. Für R. Meyer-Kalkus steht das Trauerspielbuch im Zeichen einer »Romantisierung der Barockrhetorik«, die die rhetorische Figur der Allegorie in die Nähe der frühromantischen Ironie und des Fragments rücke.' 7 Durch diese eigenwillige Kollationierung von barocker Emblematik und frühromantischer Ironie laufe Benjamin Gefahr, die rhetorische Dimension und strenge Wirkungsbezogenheit der Barockliteratur aus dem Blick zu verlieren. 18 Diese und weitere entsprechende Einwände, die von Seiten der Barockphilologie gegen das Trauerspielbuch vorgebracht wurden, dürften zu der Frage Anlaß geben, inwieweit es überhaupt zweckmäßig ist, Benjamins Abhandlung in erster Linie als den (wie immer mißglückten) Versuch einer historisch-philologischen Rekonstruktion des barocken Trauerspiels, einer literaturanalytischen und sozialgeschichtlichen Untersuchung dieses Genres zu lesen. Zu fragen wäre, ob es nicht vielmehr primär ein anderes Anliegen ist, das die Durchführung und den Gang der Abhandlung bestimmt. Zu dieser Überlegung gelangt denn auch Meyer-Kalkus, der die Frage aufwirft, was eigentlich Thema bzw. Gegenstand der Trauerspielarbeit ist. Meyer-Kalkus formuliert dazu eine aufschlußreiche These:' 9 So großartig Benjamins Buch durch die Fülle seiner Einsichten und den Schwung der Konstruktion ist, so unübersehbar sind seine Grenzen. Sein Thema ist im Grunde der Entwurf einer Geschichtstheologie der Neuzeit, einer >Urgeschichte< der modernen Subjektivität, vorgetragen und entfaltet am Beispiel des barocken Trauerspiels.
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Roloff, Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 663-676) sollte es jedenfalls nicht bleiben. Einen entscheidenden Ansatz zur Vermittlung der unterschiedlichen Perspektiven unternimmt Klaus Garber. Siehe vor allem ders., Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin, Tübingen 1987. Vgl. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, 3. Auflage München 1993, S. 253-265. Reinhart Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik, Göttingen 1986, S. 32. Vgl. ebd., S. 31. R. Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit, S. 32.
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5. Kapitel
Meyer-Kalkus zitiert hier - in der Formel der »Urgeschichte der modernen Subjektivität« - das genetische Prinzip der Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte. Er unterstellt mit anderen Worten, daß es die Idee der genetischen Ursprungsgeschichte ist, die Benjamins Darlegungen zum barocken Trauerspiel steuert und motiviert. Benjamins Deutung der Allegorie, so ließe sich Meyer-Kalkus' These ausführen, zielt weniger auf die Theorie und Geschichte eines literarischen Genres, sondern sie sucht vielmehr, den Ursprung eines spezifisch-neuzeitlichen Bewußtseins im melancholischen Subjekt aufzufinden. Die folgenden Ausführungen nehmen Meyer-Kalkus' These der >Urgeschichte< auf und untersuchen, inwieweit diese genealogische Interpretation des Trauerspielbuchs konkrete Anhaltspunkte und Belege in der Argumentationsstruktur und den leitenden Motiven des Textes findet. Als ein erster Hinweis auf den genannten Gedanken einer >Urgeschichte der Moderne< läßt sich der Schluß der Vorrede begreifen. Dort wird nämlich in der Tat - in wenn auch umrißhafter und thesenhafter Form - ein Zusammenhang von Barockliteratur und moderner bzw. zeitgenössischer Literatur formuliert. Der Schlußabschnitt der Vorrede hebt ja eine Affinität der Barockliteratur und der zeitgenössischen Richtung des Expressionismus hervor, die sich vor allem an spezifischen stilistischen und formalästhetischen Eigentümlichkeiten der Texte ablesen lasse. Die zeitgenössische (expressionistische) Literatur komme mit der barocken in ihrer Tendenz zu ungewöhnlichen Wortbildungen, zu einem antithetischen Sprachstil und zu >gewaltsamen< syntaktischen Konstruktionen überein: Immer ist diese Gewaltsamkeit Kennzeichen einer Produktion, in welcher ein geformter Ausdruck wahrhaften Gehalts kaum dem Konflikt entbundener Kräfte abzuringen ist. In solcher Zerissenheit spiegelt die Gegenwart gewisse Seiten der barokken Geistesverfassung bis in die Einzelheiten der Kunstübung. (S. 236)
Wie sich hier bereits andeutet und wie die folgenden Analysen noch ausführen werden, liegt die typologische Gemeinsamkeit, die die Vorrede anspricht, im Prinzip der allegorischen Form. Die systematischen Ähnlichkeiten barokker und moderner Kunst deuten, so ist zu vermuten, für Benjamin auf einen genealogischen Zusammenhang, der letztlich auf die Melancholie als Ursprung zurückverweist. Die zunächst als barocktypische Phänomene eingeführten Figuren der Melancholie und der allegorischen Betrachtung wären dann - im Sinne von Meyer-Kalkus' Bemerkung - als diejenigen Momente aufzufassen, von denen die Entstehung und Entwicklung einer spezifisch neuzeitlichen Mentalität ihren Ausgang nimmt. Diese Deutung des Trauerspielbuchs als Genealogie einer neuzeitlichen Wahrnehmungsform steht im folgenden zur Diskussion. Es ist wichtig, sich die Implikationen zu vergegenwärtigen, die mit einer solchen Lesart des Trauerspielbuchs verbunden sind. Das Trauerspielbuch rückt - unter dem Gesichtspunkt der genealogischen Lektüre - zunächst in die Nähe jener be-
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wußtseinsgeschichtlichen und anthropologischen Arbeiten, die um die Jahrhundertwende Konjunktur haben und die durch den geistesgeschichtlichen Ansatz Wilhelm Diltheys inspiriert sind. Als Paradigma dieser Art der kulturgeschichtlichen Genealogie ist insbesondere eine bekannte, im damaligen Kontext vielzitierte Arbeit zu nennen, die von Dilthey selbst stammt, nämlich der Aufsatz »Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts«.20 Die Struktur und textuelle Konzeption dieses Aufsatzes ist deutlich vom Gedanken der Genealogie her bestimmt: Als Ursprungsmotiv und thematische Leitfigur firmiert in dieser Darstellung das Konzept einer Entdeckung des Menschern, die Dilthey der Renaissance zuschreibt und in der er die ursprüngliche Gestalt und antizipierende Vorform der modernen anthropologischen Disziplinen, insbesondere der Psychologie, zu erkennen glaubt. Dilthey entwickelt seine Herkunftsgeschichte in drei Stufen: Von der Selbstentdekkung des Menschen in der Renaissance ausgehend, lasse sich eine kontinuierliche Linie der fortschreitenden, stufenweisen >Vertiefung< und >Verinnerlichung< der neuen reflexiven Erkenntnisform ziehen, die über die neostoizistischen Konzepte der holländischen Philologie führe und in den philosophischen Entwürfen eines Descartes, Spinoza und Leibniz kulminiere.21 Den leitenden Gesichtspunkt der von Dilthey entfalteten Ursprungsgeschichte bildet somit der Gedanke einer fortschreitenden »Vertiefung des Menschen in sich selbst«,22 eines in zunehmendem Maße für die »Innerlichkeit seines Wesens«23 geschärften Blicks. Man könnte nun Benjamins Herleitung und Erörterung des Allegoriekonzepts und der Melancholie in einem gewissen Sinn als ein Parallelunternehmen zu dem hier in Diltheys Aufsatz erkennbaren Typus der geistesgeschichtlichen Entwicklungsgeschichte auffassen. Auch das Trauerspielbuch, so ließe sich argumentieren, betreibt Genealogie. Es zeichnet das Bild einer Herkunfts- und Ursprungsgeschichte, die von der melancholischen Erkenntnis der vanitas ihren Ausgang nimmt und als deren Träger die allegorische Form des barocken Trauerspiels fungiert. Auch der implizite erkenntnistheoretische Individualismus der Benjaminschen Darlegungen läßt eine solche Zuordnung des Trauerspielbuchs zu der genannten Tradition durchaus plausibel erscheinen. Unterstellt doch Benjamin in der Figur des Allegorikers einen individuellen Träger der melancholisch-allegorischen Erkenntnisform, der - zumindest auf den ersten Blick - im Sinne des traditionalen Subjektbegriffs gelesen werden könnte. Es gilt somit genauer zu untersuchen, wie weit die hier ent20
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In: W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit der Renaissance und Reformation, 9. Aufl., Göttingen 1970, S. 416-492. Zu Diltheys Ansatz vgl. auch Wilfried Bamer, Barockrhetorik, S. 135f., und R. Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit, S. 34-37. Vgl. W. Dilthey, Die Funktion der Anthropologie, S. 449^72. Ebd., S. 449. Ebd., S. 450.
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5. Kapitel
worfene Parallele von Trauerspielbuch und kulturgeschichtlicher Ursprungsgeschichte trägt und durch welche Konzepte und argumentative Strategien dieser genealogische Zusammenhang in Benjamins Text hergestellt wird. Es geht, mit anderen Worten, darum, die Benjaminsche Ursprungsgeschichte sowohl in ihrer eigentümlichen Nähe als auch in ihrer entscheidenden Differenz zum Prototyp der geistesgeschichtlichen Genealogie zu begreifen. Um die genealogische Figur der Abhandlung nachzeichnen zu können, ist es dabei zunächst erforderlich, sich Benjamins dramenpoetologische Unterscheidungen zu vergegenwärtigen und seine These einer »klassizistischen Mißdeutung des Trauerspiels« aufzunehmen, »wie das Barock als Selbstverkennung sie geübt« habe (S. 364).
5.2.1
Die Abgrenzung von Trauerspiel und Tragödie. Dramentheoretische und sozialgeschichtliche Aspekte des Benjaminschen Barockkonzepts
Im ersten der drei Unterkapitel des Abschnitts über »Trauerspiel und Tragödie« im materialen Teil des Trauerspielbuchs bereitet Benjamin seine eigene Herleitung und Bestimmung der barocken Trauerspielform vor. Zentrale Voraussetzung einer »kritischen Ergründung der Trauerspielform« (S. 234) ist für Benjamin allerdings die Ausgliederung des barocken Trauerspiels aus dem Gattungszusammenhang der (antiken) Tragödie. Das barocke Trauerspiel, so Benjamin, entfaltet seine typologischen und historischen Kennzeichen »in einem Zusammenhang von eigener Bündigkeit« (S. 255). Dieser Gesichtspunkt legt es nahe, die Ursprungsergründung des Trauerspiels mit einer »Erkundung seiner Sonderart« (S. 242) zu beginnen. Benjamin geht es dabei zunächst darum, das in der Forschungstradition kurrente Mißverständnis einer (vermeintlichen) Renaissanceform und mithin einer aristotelischen Fundierung des barocken Trauerspiels abzuwehren. Die aristotelischen und klassizistischen Theoreme bleiben, so Benjamin, - trotz ihrer augenscheinlichen Anerkennung in den Poetiken des Barock - der dramatischen Produktion der Zeit zutiefst fremd. Benjamins Einwand richtet sich hier gegen jene prominente wissenschaftsgeschichtliche Tradition von Burckhardt über Borinski und Cysarz, die die Barockkunst aus ihrem (wenn auch zumeist negativen) Bezug zur Renaissance zu erklären versucht hatte.24 Für Benjamin hingegen sind die barocken Trauerspiele antiken und klassizistischen Konzepten inkommensurabel. Als bloße »Geste einer Unterwerfung« (S. 278) bilde der Rekurs auf die aristotelische Lehre bei den Poetologen und Trauerspielautoren nur mehr den 24
Vgl. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens, 1855, S. 348; Karl Borinski, Die Poetik in Antike und Christentum vom Ausgang des classischen Altertums bis auf Goethe und W. v. Humboldt, Leipzig 1914-1924 und Herbert Cysarz, Deutsche Barockdichtung. Renaissance, Barock, Rokoko, Leipzig 1924.
Die Kritik des genetischen
Ansatzes
in Walter Benjamins
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Versuch, die eigene literarische Praxis zu autorisieren und zu legitimieren: »Das Wesentliche war, durch die Anerkennung seiner Autorität die Fühlung mit der Renaissancepoetik des Scaliger und damit die Legitimität der eigenen Untersuchungen zu behaupten« (S. 241). Wie wenig die tradierten Konzepte den Intentionen der Trauerspielautoren entsprachen, das läßt sich mit Benjamin in der barocken Reinterpretation der aristotelischen Formel des phobos und eleos25 deutlich erkennen. Im Zeichen einer neostoizistischen Ethik werde die antike Wirkungsästhetik in die Perspektive didaktischer und erbaulicher Intentionen überführt. In rezeptionsästhetischer Sicht sei daher das Trauerspiel weniger unter dem Gesichtspunkt tragischer Katharsis als vielmehr aus ihrem Konnex mit dem stoischen Konzept der apatheia zu begreifen. Die Strategie der Abgrenzung, wie Benjamin sie hier verfolgt, ist für das >Ursprungsprojekt< des Trauerspielbuchs konstitutiv. Nur insofern sich das Trauerspiel als eine eigene, von der antiken und klassizistischen Tragödie differente Form erweist, vermag Benjamin sein genealogisches Projekt konsequent zu entfalten. Benjamin zielt ja darauf, ein eigenes, von der Forschungstradition unabhängiges Konzept der Struktur und Geschichte des Trauerspiels zu entwickeln. 26 Die (postulierte) typologische Differenz von Tragödie und Trauerspiel, die er in der Fremdheit der Trauerspielautoren gegenüber dem aristotelischen Kanon zu erblicken glaubt, ist also für Benjamin zentral. Er expliziert diese Differenz - im Anschluß an die berühmte Opitzsche Definition des Trauerspiels - zunächst in der Antithese von Mythos und Geschichte. Verweist die Tragödie auf eine vorgeschichtliche, mythische Ordnung, ist das Trauerspiel Benjamin zufolge durch seinen besonderen Bezug zur geschichtlichen Welt charakterisiert: »Das geschichtliche Leben, wie es jene Epoche sich darstellte ist sein Gehalt, sein wahrer Gegenstand« (S. 242-243). Die Trauerspiele entsprechen insofern nicht primär einem ästhetischen Bedürfnis, sondern bieten vielmehr eine Summe des anthropologischen und politischen Wissens der Zeit. Wer Trauerspiele schreiben will, der »muß die Welt- und Staats-Händel/als worinn die eigentliche Politica bestehet/gründlich wissen.« 27 Die Bindung des Trauerspiels an den historischpolitischen Bereich, so argumentiert Benjamin, wird nicht zuletzt durch das 25
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Vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt und hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 1 8 19. Als Vorlagen und Bezugspunkte der Benjaminschen Geschichtsphilosophie der Tragödie (und des Trauerspiels) dürfen wohl Georg Lukács, Metaphysik der Tragödie (Die Seele und die Formen), Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, und Franz Rosenzweig, Der Stem der Erlösung, angenommen werden. Vgl. Martha B. Helfer, Benjamin and the >Birth of TragedyTrauerspiel< im XVII. Jahrhundert vom Drama und historischen Geschehen gleichermaßen« (S. 244). Die Begründung des barocken Trauerspiels als einer eigenen, von der antiken Tragödie unabhängigen literarischen Form bildet jedoch nur einen Schritt einer weiter ausgreifenden Argumentation, die sich von herkömmlichen gattungsgeschichtlichen Deduktionen zu befreien und einen anderen genealogischen Zusammenhang zu etablieren sucht. In seinem Versuch, die barocke Trauerspielform theoretisch und historisch neu zu bestimmen und zu explizieren, greift Benjamin auf einen methodischen Ansatz zurück, der im Kontext der theoretischen Debatten der zwanziger Jahre entworfen und diskutiert wurde. Carl Schmitt hat dieses Konzept in der »Politischen Theologie« unter dem Stichwort einer »Soziologie von Begriffen« skizziert.28 »Das metaphysische Bild«, so Schmitts berühmte pointierte Formulierung, »das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet.«29 Benjamin nimmt dieses begriffsanalytische Verfahren auf, wenn er die zentralen literarischen Formen der Barockepoche ebenso wie deren staatstheoretische und juristische Begriffe in Analogie zu deren metaphysischen und theologischen Konzepten zu bestimmen versucht. Benjamin dehnt damit zugleich die bei Schmitt angenommene Parallele weiter aus. Die metaphysischen Vorstellungen einer Zeit geben nicht nur der jeweiligen politischen Ordnung ihre Struktur vor, sondern auch der Literatur und Kunst: »Die werdende Formensprache des Trauerspiels«, erläutert Benjamin, »kann durchweg als Entfaltung der kontemplativen Notwendigkeiten gelten, die in der theologischen Situation der Epoche beschlossen liegen« (S. 259). »Entfaltung der kontemplativen Notwendigkeiten« meint hier die genaue ideengeschichtliche und begriffssoziologische Herleitung der formalästhetischen Züge des barocken Trauerspiels aus den theologisch-philosophischen Konzepten der Zeit. In diesem Sinne spricht Benjamin von der Trauerspielanalyse als der »konkret erfaßten Metaphysik dieser Form« (S. 228). In der besonde28
29
Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, zuerst Berlin 1922, sechste Auflage 1993, S. 50. Benjamins theoretische Orientierung an Carl Schmitt ist in der Forschung intensiv diskutiert worden. Vgl. Bernd Witte, Walter Benjamin. Der Intellektuelle als Kritiker, S. 112-113; Norbert Bolz, Charisma und Souveränität. Carl Schmitt und Walter Benjamin im Schatten Max Webers, in : Religionstheorie und Politische Theologie, hg. J. Taubes, München 1983, Bd. 1, S. 249-262; Klaus M. Kodalle, Walter Benjamins politischer Dezisionismus im theologischen Kontext, in: Spiegel und Gleichnis. Festschrift für J. Taubes, hg. N. Bolz und W. Hübner, Würzburg 1983, S. 301-317; Samuel Weber, Taking Exception to Decision: Walter Benjamin and Carl Schmitt, in: Walter Benjamin zum hundertsten Geburtstag, hg. U w e Steiner, Bern 1992, S. 123-137. Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 59.
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ren Konfiguration metaphysischer Begriffe sucht er den spezifischen Kontur der Epoche aufzuzeigen. Für die im Trauerspielbuch entwickelte genealogische Ursprungsgeschichte ist insbesondere ein nach Benjamins Interpretation barocktypisches geschichtsphilosophisches Moment von Bedeutung: der Gedanke einer radikalen Immanenz.' 0 In dieser Vorstellung glaubt Benjamin das Grundprinzip derjenigen Geschichtsauffassung zu erkennen, die sich als verborgener Bezugspunkt der Figurentypologien und Handlungsschemata des barocken Trauerspiels abzeichne. Die Artikulation der fehlenden Präsenz einer göttlichen Instanz im historischen Verlauf bildet Benjamin zufolge das zentrale Motiv des barocken Trauerspiels, das in den Aufzügen der Haupt- und Staatsaktionen, den Szenen der Märtyrerdarstellung und den geheimen Intrigen des Hofes nur in je eigener Weise variiert werde. Benjamins These einer »radikale(n) [...] Angleichung der theatralischen an die historische Szenerie« (S. 244) ist in diesem Zusammenhang zu begreifen. Es ist das Konzept einer Reduktion von Geschichte auf Naturgeschichte als auf eine gottferne, sich selbst überlassene kreatürliche Ordnung,31 das Benjamin hier evoziert: »Der religiöse Mensch des Barock hält an der Welt so fest, weil er mit ihr sich einem Katarakt entgegentreiben sieht« (S. 246). Die hier angesprochene spezifische metaphysische Disposition findet Benjamin zufolge ein genaues Korrelat in den juristischen und staatsrechtlichen Debatten der Zeit. Im Zentrum dieser Diskussionen, die sozialgeschichtlich mit der Herausbildung des frühmodernen absolutistischen Staates korreliert sind, steht die frühneuzeitliche Theorie der Souveränität.32 Der neuzeitliche Souveränitätsgedanke entwickele sich, so legt Benjamin dar, aus einer »Diskussion des Ausnahmezustands« (S. 245) und verweise mithin auf 30
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Darüber, wie die Benjaminsche Immanenz- bzw. Säkularisationsthese aufzufassen sei, besteht in der Forschung kein Konsens. Vgl. U w e Steiner, Säkularisierung. Überlegungen zum Ursprung und zu einigen Implikationen des Begriffs bei Benjamin, in: W. Benjamin zum hundertsten Geburtstag, hg. U. Steiner, Bern 1992, S. 139-187. Maßgebend ist hier die theologische Unterscheidung von (unbegnadeter) Natur und Gnade. Zu Benjamins Begriff der >Natur-Geschichte< siehe auch Bettine Menke, Sprachfiguren, S. 179. Klaus Garber hat die bei Benjamin nur in groben Umrissen skizzierte Souveränitätstheorie im einzelnen kommentiert, ergänzt und unter konfessionsgeschichtlichen Gesichtspunkten modifiziert. Garber erörtert dabei vor allem die Herausbildung des friihmodemen Staates in seiner Bedeutung für die Barockliteratur. Vgl. Klaus Garber, Zum Bilde Walter Benjamins, München 1992, S. 193-221, sowie ders., Rezeption und Rettung, S. 8 1 - 1 2 0 . Dort auch Hinweise auf Carl Schmitt. Zur Geschichte der Souveränitatsidee in der frühen Neuzeit und den damit verbundenen theoretischen Debatten vgl. auch Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986, und Michael Stolleis, Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, Göttingen 1980.
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eine zeittypische Wahrnehmungsweise, die an einer Optik des Grenzfalls orientiert sei. Die Katastrophe abzuwenden sei das beherrschende Motiv der staatstheoretischen und politischen Tendenzen der Zeit.33 Als Ausgangspunkt der Benjaminschen Ursprungsgeschichte erweist sich so die barocke Idee des Ausnahmezustands, die - jenseits ihrer politisch-gesellschaftlichen Implikationen - vor allem als Ausdruck eines charakteristischen Verlusts des metaphysischen Bezugs zu begreifen sei. Folgt man Benjamin, artikuliert sich in den politischen Entwürfen der Zeit eine spezifisch diesseitige Blickrichtung, die sich auch an den Trauerspieltexten beobachten lasse. Das Drama des Barock erscheint in der Konsequenz dieses Ansatzes als »Säkularisierung des Mysterienspiels« (S. 258); als sein hervorstechendstes Merkmal nennt Benjamin die »Abkehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele« (S. 260). Führte »das christliche Mysterium wie die christliche Chronik das Ganze des Geschichtsverlaufs, den welthistorischen als einen heilsgeschichtlichen vor Augen«, darf die Handlung des barocken Trauerspiels »nicht mehr in der Flucht des Heilsprozesses zu verlaufen beanspruchen« (S. 257).34 Nun muß die Benjaminsche Säkularisationsthese nicht in dem Sinne aufgefaßt werden, daß das barocke Denken keinerlei religiöse Vorstellungen mehr zulasse und jegliche Idee einer Transzendenz ausschließe. Jedoch »von der mittelalterlichen Heilsgewißheit ist das Barock ein für allemal durch die Erfahrung der Glaubensspaltung getrennt«.35 Die Überzeugung, daß der Ablauf der Geschichte selbst schon den Vollzug des Heilsgeschehens bedeute, so ließe sich Benjamin interpretieren, ist damit unwiderruflich verlorengegangen.36 »Entsprechend erscheint das Jenseits als das toto coelo Andere; keine vermittelnde Brücke führt aus dem Diesseits zu ihm hinüber.«37 Ein Rückzug vor der Kluft, die sich zwischen Immanenz und Transzendenz auftut, scheint nur noch in der konsequenten Beschränkung auf die Perspektive der Immanenz möglich. Benjamin versucht nun, seine These von der Bindung der Trauerspiele an das Konzept der Immanenz (des »Schöpfungsstandes«) in einer Analyse der wichtigsten Figurentypen des Barockdramas zu konkretisieren und zu erhärten. Die komplementären Figuren des Märtyrers und des Tyrannen erweisen 33
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Als Antithese zur Idee des Ausnahmezustands bilde sich das Leitbild einer umfassenden Stabilisierung heraus, wie es sich in der Ordnungsutopie des absolutistischen Staates manifestiere. »Das Ideal einer völligen Stabilisierung, einer ebensosehr kirchlichen als auch staatlichen Restauration in allen Konsequenzen zu entfalten« (S. 246) sei Grundzug der zeitgenössischen Programmatik. Zur These einer >Krise der Eschatologie< in der Barockzeit siehe auch W. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt 1980. Klaus Garber, Zum Bilde Walter Benjamins, München 1992, S. 206. Bettine Menke spricht hier zutreffend von der »Erfahrung einer Geschichte ohne Halt im eschatologischen Endpunkt«. Sprachfiguren, S. 165. Ebd., S. 207.
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sich dabei in Benjamins typologisierend-abstrahierender Betrachtung als einer »Ordnung der Geschöpfe« (S. 272) ebenso zugehörig wie die zweideutige Gestalt des höfischen Intriganten. Ein Zugang zu diesem Problemfeld eröffnet sich Benjamin aus dem Zusammenhang der Figurendarstellung in den Dramen mit der anthropologischen Theorie der Zeit. An der zeitgenössischen Affektenlehre orientiert, gibt die genaue Beobachtung der physischen Impulse und Affekte in den Dramen für Benjamin über die Befangenheit der Figuren in der Immanenz deutlichen Aufschluß. Die Dramenfiguren sind Benjamin zufolge mit dem Bereich des Kreatürlichen aufs engste verknüpft.18 Ist dieser Konnex in der Figur des Märtyrers und dessen stoischer Technik der Affektdisziplinierung nur ex negativo greifbar, tritt er im topischen Bild der »Entschlußunfähigkeit des Tyrannen« offen zutage (S. 250). Die Gestalt des Fürsten im Trauerspiel sei, so Benjamin, durch eine grundlegende Doppelseitigkeit charakterisiert, die sich in der »Antithese zwischen Herrschermacht und Herschvermögen« (S. 250) formulieren lasse: »Immer von neuem fasziniert im Untergang des Tyrannen der Widerstreit, in welchem Ohnmacht und Verworfenheit seiner Person mit der Überzeugung von der sakrosankten Gewalt seiner Rolle im Gefühl des Zeitalters liegen« (S. 251). So wenig der Tyrann sich der Immanenz entzieht und dem Anspruch seiner Rolle entspricht, so deutlich zeichnen sich - so Benjamins Deutung - in seinem Untergang Züge des Märtyrerdramas ab. Auf diese repräsentative Funktion des Fürsten zielt Benjamins Formulierung, der wahnsinnige Tyrann sei als »Emblem der verstörten Schöpfung« (S. 250) aufzufassen. Der Bezug des barocken Trauerspiels und seiner Figuren zu einer kreatürlichen Ordnung ist für Benjamins weitere Argumentation insofern von Bedeutung, als er dessen spätere Deutung des barocken Trauerspiels im Kontext der mittelalterlichen und frühmodernen Theorie der Melancholie vorbereitet. Die eigentümliche Theorie der Trauer, in der die barocke Dramenpoetik fundiert sei, begreift Benjamin als Ausdruck eines spezifischen anthropologischen und physiologischen Wissens, das die Perspektive radikaler Diesseitigkeit voraussetzt. Auch in der Figur des Höflings (bzw. des höfischen Intriganten) ist für Benjamin der Gedanke der physiologischen Verfaßtheit (Kreatürlichkeit) des Menschen in eigentümlicher Weise mit dem Melancholiemotiv verknüpft. Benjamin deutet nämlich diese Gestalt nicht ausschließlich im Sinne eines politischen Verhaltenskonzepts, sondern betrachtet sie unter dem Gesichtspunkt einer charakteristischen Ambivalenz und eines tieferliegenden, im Kern dialektischen Strukturprinzips. Dieser dialektische Grundzug gebe sich vor38
Sicher ist die pauschale Zuordnung der Dramenfiguren zum Bereich der Immanenz, wie sie Benjamin hier vornimmt, nicht in jeder Hinsicht einleuchtend. Denkt man etwa an die Trauerspiele Gryphius', spricht vielmehr manches dafür, einige der Figuren, z.B. den legitimen Fürsten und den Märtyrer, von dem Gesetz der Immanenz auszunehmen und als Repräsentanten einer überzeitlichen, ewigen Ordnung aufzufassen. Vgl. W. Voßkamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, Bonn 1967, S. 120-125.
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5. Kapitel
nehmlich darin zu erkennen, daß der politische Erfolg des Höflings jederzeit in die »schwindelnde Tiefe« der Melancholie (S. 277) umschlagen kann. Das politische Verhalten des Intriganten »erfordert ebenso strenge Disziplin im Innern wie skrupeloseste Aktion nach außen. [...] Die derart errechnete Vollkommenheit weltmännischen Verhaltens weckt in der aller naiven Regungen der Natur entkleideten Kreatur die Trauer« (S. 276). Benjamin berührt hier zwar auch den politischen Aspekt der dargestellten Figur,39 aber er verläßt diese Perspektive und gibt der Deutung des Hofmanns eine eigentümliche Wendung, wenn er dessen moralistische Skepsis und reservatio mentalis als eine Form der Trauer begreift: »Die illusionslose Einsicht des Höflings ist ihm ebenso tiefe Quelle der Trübsal als sie durch den Gebrauch, den er von ihr jederzeit zu machen imstande ist, für andere gefährlich werden kann« (S. 275). In der Charakteristik des Höflings deutet sich so bereits jenes Motiv an, das es ermöglicht, das barocke Trauerspiel aus einer auf mittelalterliche und antike Ursprünge zurückverweisenden Tradition herzuleiten: die Theorie der melancholischen Disposition. In der Neigung zur Trauer artikuliert sich für Benjamin die eigentümliche Aussichtslosigkeit und Vergeblichkeit der ununterbrochenen politischen Aktivität des Intriganten. Zugleich bilde, so Benjamin, Melancholie den Grund jener spezifischen Labilität und Treulosigkeit, die das Verhalten des höfischen Menschen im Trauerspiel charakterisiere: »Nichts Schwankenderes ist vorstellbar als der Sinn des Hofmanns, wie die Trauerspiele ihn malen: der Verrat ist sein Element« (S. 333). Weniger als »Gesinnungslosigkeit« und »bewußte Geste des Macchiavellismus« (S. 333) will Benjamin die Unbeständigkeit des Höflings verstehen denn als »trostlosen und schwermütigen Anheimfall an eine für undurchdringlich erachtete Ordnung unheilvoller Konstellationen« (ebd.). Die Treulosigkeit des Höflings enthüllt sich so als Symptom der melancholischen Verfassung - Indiz einer gleichsam fatalistischen Ergebenheit in die Immanenz und »Treue [...] zur Dingwelt« (S. 333).40 Unter dem hier angedeuteten Blickwinkel deutet Ben-
39
Der hier angedeutete, scharfsinnige Verhaltensstil des Hofmanns verweist auf die prudentistischen Konzepte Graciáns und Fajardos, deren Maximen für den in den Trauerspielen - zumal Lohensteins - exponierten Kanon höfischer Verhaltensweisen richtungweisend waren. Zur Bedeutung der moralistisch-prudentistischen Tradition für die Trauerspiele Lohensteins vgl. auch Wilfried Barner, Barockrhetorik, Tübingen 1970, S. 124-134, sowie Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit, S. 11-14 und S. 153-172, und Karl Heinz Mulagk, Phänomene des politischen Menschen im 17. Jahrhundert, Berlin 1973.
40
Es sei nur angemerkt, daß der pessimistisch-resignative Zug, der hier an der Gestalt des Höflings aufgezeigt wird, nicht religiös motiviert ist. Es geht, mit anderen Worten, bei der hier skizzierten melancholischen Haltung nicht um eine auf das Jenseits gerichtete Abkehr von der diesseitigen Welt. Benjamin unterscheidet sich in dieser Hinsicht von einer prominenten Auslegungstradition in der Barockphilologie, die vornehmlich die Gryphiusschen Stücke als Ausdruck einer religiös bestimmten, asketischen Weltentwertung interpretiert. Vgl. dazu Conrad Wiedemann, Andreas Gry-
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jamin die Typik barocker Dramenfiguren als Bestätigung der Immanenzthese, als Indiz dafür, daß sich das barocke Trauerspiel »ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung« versenke (S. 260). In den hier nachgezeichneten Dramen- und Figurenanalysen des ersten Hauptteils der Abhandlung deutet sich somit bereits ein Bezug des barocken Trauerspiels zum antiken und mittelalterlichen Vorstellungskreis der Melancholie an, der für die im Trauerspielbuch angebotene Herkunftsthese, die Rekonstruktion des >UrsprungsMelencolia IDenkbildernBuch der Natur< 75 aufgegriffen: »Das >Buch der Natur< und das >Buch der Zeiten< sind Gegenstände des barocken Sinnens« (S. 320). Durch diesen kryptischen Hinweis wird ein Bezug der Buchmetapher zum Konzept der Melancholie hergestellt. Der Grundgedanke ist die nivellierende, der spezifischen Beschaffenheit ihres Gegenstandes gegenüber indifferente Tendenz der melancholischen Betrachtung. Vor dem melancholischen Blick kollabiert die Differenz von Natur und Geschichte, da Naturphänomene und historische Ereignisse als Gegenstände der Kontemplation gleichermaßen nur als Objekte einer zeitenthobenen Anschauung in Betracht kommen. Im Rahmen der verschiedenen Deutungsansätze der Buch-pictura, die das Trauerspielbuch anschließend unternimmt, wird schließlich erkennbar, daß sich der semantische Gehalt dieses emblematischen Bildes offenbar nicht in eine eindeutige Formel fassen bzw. auf eine bestimmte significatio festlegen läßt. Insbesondere die Beziehung des Buchsymbols zum Vorstellungskreis des Melancholiekonzepts bleibt durchgängig äquivok: Einerseits wird das Buch als ein »Arcanum gegen die Anfechtungen des Trübsinns« empfohlen, andererseits figuriert es aber als bevorzugter Gegenstand der Kontemplation auch wiederum als Stimulans und Vehikel der melancholischen Versenkung. Einer vergleichbaren, systematischen Äquivokation unterliegt ein weiteres emblematisches Bildmotiv, von dem oben in einem anderen Zusammenhang bereits die Rede war, das des Fürsten. Auf dieses Emblem kommt Benjamin an einer wichtigen Stelle des Melancholiekapitels zurück. »Der Fürst«, so heißt es dort, »ist das Paradigma des Melancholischen« (S. 321). Diese lapidare Feststellung ist weniger als eine These, eine axiomatische Behauptung, zu lesen; sie stellt vielmehr eine Art Bildzitat dar. Paradigma - damit ist hier ein Beispiel, ein emblematisches Exempel gemeint. Die genannte Stelle zitiert somit das Bild eines Herrschers, das zugleich als Emblem der Melancholie erscheint. Diese eigentümliche Verknüpfung von Herrscherdarstellung und melancholischer Geste ist allerdings, soweit ich sehe, in dieser Form im Bildarsenal der Emblembücher nicht belegt, jedoch bildet sie gleichwohl keine Benjaminsche Fiktion. Vielmehr verweist sie auf eine ins Mittelalter zurückreichende Bildtradition. Folgt man Panofsky und Saxl, geht das zitierte Bildmotiv aus der Amalgamierung zweier ikonologischer Traditionen hervor, nämlich aus der Verbindung der Darstellung des mythologischen KronosSaturn mit der des thronenden Fürsten. 76 Das angeführte ikonologische Motiv läßt sich indessen für sich betrachtet noch nicht als emblematische Figur auf75
76
Zu diesem traditionsreichen Motiv vgl. auch Curtius, Europäische Literatur, S. 3 2 3 329. Vgl. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Satum und Melancholie, S. 300-301.
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fassen. Dazu bedarf der genannte bildhafte Ausdruck einerseits noch eines Mottos bzw. einer kurzen, sentenzenhaften Formel (als inscriptio), andererseits eines ausführlicheren erläuternden Kommentars (als subscriptio). Beides läßt sich im Umkreis der zitierten Stelle finden. Als geeignete inscriptio bietet die Abhandlung gewissermaßen wahlweise zwei epigrammatische Formulierungen an, die sie aus dem Fundus der barocken Dramentexte herausgreift: »>Wo scepter, da ist furcht< oder: >Die traurige Melankoley wohnt mehrentheiles in PallästenLektüren< beendenden Letztfigur bietet der Text nur immer wieder den Hinweis auf eine weitere Referenz aus dem Vorrat emblematischer Bilder und Beschriftungen, die es aufzunehmen und in einem erneuten Ansatz zu entziffern gilt. Die zuletzt zitierte Einlassung ist nun insofern bemerkenswert, als sie die Reihe der vorgeschlagenen Deutungen einer pictura vorläufig unterbricht und statt auf eine weitere subscriptio auf ein weiteres Sinnbild aus dem semantischen Feld des Melancholiediskurses anspielt. Die eigentümliche Abwärtsbewegung und zentripetale Energie, die dem melancholischen Blick inhärent ist, deutet nämlich auf ein weiteres Emblem dieses Bezugsfelds, das der Erde. In der sich hier abzeichnenden Form der Relationierung ist ein charakteristisches Moment der methodischen Verfahrensweise der Abhandlung zu sehen: Die emblematische pictura wird weniger dadurch expliziert, daß ihr (wie in den Emblembüchern) ein auslegender Kommentar zugeordnet wird, sie wird vielmehr - in letzter Instanz - durch den Verweis auf ein anderes Bildmotiv, ein weiteres emblematisches Zeichen, erläutert und entfaltet. Dieser Sachverhalt läßt sich nun dahingehend interpretieren, daß in der hier relevanten Perspektive einer emblematischen Lektüre die bildhaften Signifikanten eine gewisse Eigenständigkeit und Eigendynamik entfalten, hinter der die Frage ihres signifikativen Gehalts (die Ebene der Signifikate) tendenziell zurücktritt. Die emblematischen Zeichen verweisen aufeinander und kommentieren einander wechselseitig, ohne daß dabei der Rückgang auf ein fundierendes Signifikat nötig oder auch nur möglich wäre. Zugang zu einen solchen letzten Signifikat wäre nur mittels einer Operation denkbar, die die Unendlichkeit der emblematischen Verweisungen in Form eines blitzartigen, umfassenden Durchblicks simultan aktualisieren und entziffern könnte. Dies läßt sich aber im Medium der sukzessiven Prozessualität der Lektüre (bzw. des Textes) nicht erreichen. Es bleibt bei der oben beobachteten Figur eines fortschreitenden, mehr oder weniger erratischen Anzitierens der Bildmotive und eines wiederholten Ansetzens zu einer Entzifferung des darin vermuteten semantischen Gehalts. So wird an der oben genannten Stelle das sinnbildhafte Motiv der Erde zum Ansatzpunkt eines erneuten Interpretationsversuchs. Dazu nimmt der Text allerdings zunächst eine etwas eigenwillige, im Diskurs der Zeit jedoch durchaus plausible Substitution bzw. Kollationierung zweier emblematischer Bildzeichen vor. Das Symbol der Erde wird durch das semantisch affine Motiv des Steins ersetzt: »Es mag sein, daß unter dem Sinnbild des Steins nur die augenfälligste Gestalt des kalten, trockenen Erdreichs zu sehen ist« (S. 332). Das Bild des Steins, das Benjamin als Inbegriff einer »trägen Masse« (S. 332) erscheint, bedarf nun seinerseits der Auslegung. Es läßt sich, so die Erläuterung, als eine Anspielung auf die Idee der acedia, die gleichsam die theologische Fassung des Melancholiekonzepts darstellt, begreifen. Nun stellt der hier berührte Motivkomplex (Erde - Stein - Acedia - Melancholie), wie der Text selbst reflektiert, für sich betrachtet einen zu lockeren, zu wenig motivierten
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Zusammenhang dar, als daß er als ein in sich geschlossenes, aus sich heraus evidentes Beziehungsgefüge gelten könnte. Diesem Mangel läßt sich jedoch Abhilfe schaffen: Es bedarf einer gewichtigen, gleichsam klassischen Referenz, die den Bezug zur antiken Temperamentenlehre herstellt und den konstruierten Zusammenhang gewissermaßen autoritativ verbürgt. Als Gewährsmann und jedem Zweifel enthobene Autorität wird Dante angeführt: »Bei Dante ist die Acedia das fünfte Glied in der Ordnung der Hauptsünden. In ihrem Höllenkreise herrscht die eisige Kälte und das weist auf die kalte, trokkene Beschaffenheit der Erde zurück« (S. 332). Die zitierte Einlassung verdient sowohl im Blick auf ihre strategische Stellung im Kontext der Darlegung als auch in Hinsicht auf die rhetorischen Effekte, die sie hervorruft, besondere Aufmerksamkeit. Der Rekurs auf das autoritative Geltung beanspruchende Zitat erscheint hier gewissermaßen als die Kehrseite des Sachverhalts, daß sich ein direkter, unvermittelter Zugriff auf den intendierten Gegenstand, auf das Melancholiephänomen nicht erreichen läßt. Andererseits steht der Rekurs auf Dante nicht im Zeichen einer einfachen Bestätigung oder einer emphatischen Lektüre der Tradition. Die zitierte Stelle erzielt vielmehr einen eigentümlichen Effekt der Steigerung und Überbietung, der die betonte Geste des Anschließens in Ironie umschlagen läßt. Erscheint es doch als die äußerste Pointe und als ironisches Fazit der theologischen Diskussion des Phänomens, daß sich der Melancholiker nun buchstäblich in der Hölle wiederfindet (die denn auch ganz im Sinne der überkommenen Schablone in räumlich-anschaulichen Dimensionen vorgestellt wird). Die ironische Wendung der Darlegung, die hier zu verzeichnen ist, gibt zugleich zu erkennen, daß es nicht in erster Linie das Programm einer Erkundung des Melancholiephänomens bzw. einer Rekonstruktion der Begriffstopik ist, das den Gang der Abhandlung steuert. Es geht vielmehr um ein eigentümliches Verfahren des Zitierens und Kommentierens, in dem die überlieferten Topoi und Referenzen rekombiniert und zu neuartigen Arrangements zusammengefügt werden. Die oben angeführte Diskussion des Bildbereichs der Acedia ist noch im Blick auf einer weitere Besonderheit der hier erörterten Textstrategie aufschlußreich. Diese wird ersichtlich, wenn man die Fortführung der Argumentation im Anschluß an die Dante-Allusion betrachtet. Von Dante nämlich führt der Weg ins Mittelalter, zu Aegidius Albertinus: »Artlich wirdt die Accidia oder Trägheit dem Biß eines wütigen Hundts verglichen/dann wer von demselbigen gebissen wird/der uberkompt alsbaldt erschröckliche Träum« (S. 333).81 An dieser Stelle läßt sich erkennen, daß der hier entfalteten ikonographischen Analyse eine eigentümliche Zirkularität inhärent ist. Der Gang der Darlegung beschreibt die Figur einer in sich selbst zurücklaufenden Bewegung. Die Untersuchung des überlieferten Vorstellungskreises der Melancholie ist wieder bei jenem Bildsymbol angelangt, von dem sie ihren Ausgang genommen hat, dem des Hundes. Die hier zu beobachtende, im Grunde tau81
Aegidius Albertinus, Lucifers Königreich, S. 390.
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tologische Figur, die ein emblematisches Bildzeichen letztlich durch den Verweis auf sich selbst erklärt, deutet darauf hin, daß es sich bei der im Melancholiekapitel in Gang gesetzten Deutungsprozedur nicht zuletzt um einen besonderen Modus der Entfaltung und Inszenierung des Selbstbezugs des emblematischen Zeichens handelt. Die Form der rekursiven Verknüpfung, die hier wirksam ist, akzentuiert - wie der Mechanismus der Motivreihung zeigt die Selbstreferenz, die Beziehung der Signifikanten untereinander, wohingegen die Fremdreferenz, der Bezug auf ein die Textbewegung steuerndes Signifikat, tendenziell zurücktritt. Im Zuge dieses Verfahrens wird charakteristischerweise ein emblematisches Zeichen durch den Verweis auf ein anderes kommentiert, ein direkter Zugriff auf eine vorgängige, vom Spiel der Verweisungen unabhängige emblematische significatio scheint hingegen kaum möglich zu sein. Nun läßt sich der oben umrissene Mechanismus der Textkonstitution zugleich als eine Metonymisierung des emblematischen Zeichens auffassen. Die hier erkennbare Zitier- und Kommentiertechnik erweist sich ja durch die betont assoziative, ja willkürliche Verknüpfung der Zitate sowie durch die Konfrontation einander ausschließender subscriptiones als ein Verfahren, das die Kontingenz der Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem, von pictura und significatio sichtbar werden läßt. Es liegt auf der Hand, daß diese Technik der Bild- bzw. Zeichenverknüpfung, die dort Kontingenzen aufdeckt, wo die naive Beobachtung notwendige Relationen vermutet, eine flexiblere Handhabung des emblematischen Formprinzips erfordert, als dies im Rahmen einer starren Ordnung der Bilder und ihrer Deutungen möglich wäre. Nun darf wohl schon für die historische Emblematik mit gewissem Recht bezweifelt werden, daß ihre Bild- und Zeichenpraxis auf einem stabilen Kosmos emblematischer Bedeutungen beruhe und nur als dessen Konkretisierung und variierende Bestätigung zu lesen sei. 82 Auch der Gedanke einer apriori vermittelten Stimmigkeit und Harmonie von Bild und Deutung läßt sich in dieser verkürzten Form kaum aufrecht erhalten: Schon im frühneuzeitlichen Emblem stellt die Synthese von Bild und Text mehr spannungsvolle Einheit dar als bruchlose Kongruenz. 83 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich die Metonymisierung des emblematischen Zeichens, die sich im Trauerspielbuch vollzieht, nicht als eine völlig neuartige Text- und Bildstrategie dar, die sich nur aus dem Gegen82
83
Schon A. Schöne geht davon aus, daß die Semantik des Emblems nicht in einer eindeutigen tradierten Bedeutung aufgeht. So spricht er etwa gelegentlich von einer »Aufhebung der emblematischen Norm« und einem »Problematischwerden« der »emblematischen Lehre«. Vgl. Emblematik und Drama, S. 100-102. Bei Schöne bildet allerdings die Vorstellung eines geordneten Verweisungsgefüges der Zeichen und Bedeutungen noch den Bezugspunkt und die Folie, vor der sich die Mehrdeutigkeiten und Verwirrungen des emblematischen Bezeichnens als Abweichungen zu erkennen geben. Zur Kritik dieser Auffassung siehe Dieter Sulzer, Traktate, S. 32-40. Vgl. Dieter Sulzer, S. 51, S. 60-62.
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satz zur historischen Emblemtechnik begreifen ließe. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, rücken die Vorgehensweise des Trauerspielbuchs und die ältere Bildtechnik vielmehr in das Verhältnis einer eigentümlichen Nähe. Es erscheint naheliegend, das hier wirksame Verfahren aus der Radikalisierung eines Strukturprinzips herzuleiten, das der emblematisehen Darstellungs- und Erklärungsform selbst inhärent ist. Gemeint ist das für die wissensgeschichtliche und epistemologische Formation der Renaissance konstitutive Schema der similitudo bzw. der Analogie. Dessen grundlegende Funktion wird deutlich, wenn man sich die formale und konzeptuelle Struktur des Emblems vergegenwärtigt. Die Möglichkeit der Verbindung eines zeichenhaften Gegenstands und dessen textueller Auslegung in der Figur des Emblems beruht ja darauf, daß zwischen zwei Vorstellungen (einer konkreten, anschaulichen und einer abstrakteren, theoretischen) eine Vergleichbarkeit, ein Aspekt der semantischen Ähnlichkeit, unterstellt wird. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die hier angesprochene Relation der Analogie keinen emphatischen Begriff von Ähnlichkeit - im Sinne einer tieferliegenden, wesenhaften Affinität - in Anspruch nimmt. Der emblematischen Operation kommt es ja, wie ersichtlich, auf die offenkundige und unmittelbar einsehbare Vergleichbarkeit der aufeinander bezogenen semantischen Einheiten nicht an.84 Die Form des Analogisierens, die hier wirksam ist, läßt sich genauer charakterisieren, wenn man auf jene Typologie der Ähnlichkeiten zurückgreift, die Foucault als das strukturelle Apriori des Renaissancedenkens herausgearbeitet hat.85 Die hier relevante Form der assoziativen Verknüpfung greift nämlich aus dem Inventar der Ähnlichkeiten eine spezifische Ausprägung der Analogie heraus, die sich - in Anlehnung an die Terminologie der Zeit - unter den Begriff der Konvenienz fassen läßt. Das Konzept der Konvenienz - als eine »Ähnlichkeit des Ortes, des Platzes, an den die Natur zwei Dinge gestellt hat«86 - verweist auf eine Art räumliches Arrangement, ein topologisches Gefüge von zeichenhaften Gegenständen und Wesenheiten:87 In der weiten Syntax der Welt gleichen sich die verschiedenen Wesen einander an, die Pflanze kommuniziert mit dem Tier, die Erde mit dem Meer, der Mensch mit sei-
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Dies gilt für die Benjaminsche Abhandlung nicht weniger als für deren allegorische Quellen. Das Trauerspielbuch zieht ja, wie bereits angedeutet wurde, als Bausteine der eigenen kulturgeschichtlichen Konstruktion gerade auch entlegene Vergleichspunkte und sonderbare, gewagte Verknüpfungen aus der Topik des Melancholiediskurses hervor. Zu Foucault und zum Konzept der Ähnlichkeit vgl. auch Bettine Menke, Sprachfiguren, S. 175-181. Menke verwendet die Foucaultschen Begriffe der Ähnlichkeit und des (temaren) Zeichens allerdings nur zur Beschreibung der barocken Allegorie, nicht zur Analyse des Benjaminschen Verfahrens. Menke deutet die barocke Allegorie als Ausdruck einer >Krise der Ähnlichkeit^ einer Krise des Bezeichnens, die den historischen Übergang von einem ternären zu einem binären Zeichenmodell begleite. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 47. Ebd., S. 47.
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ner ganzen Umgebung. [...] Die convenientia ist eine mit dem Raum in der Form des [...] Benachbarten verbundene Ähnlichkeit.
Mit der Konvenienz als Figur der nachbarschaftlichen Berührung ist zugleich ein Prinzip der universalen Verknüpfung angegeben, das es schließlich erlaubt, jeden Ort bzw. Gegenstand des topologischen Raums mit jedem anderen in Beziehung zu setzen. Wegen der Transitivität der Konvenienzrelation sind der Reichweite dieser Assoziationsform prinzipiell keine Grenzen gesetzt. Unter dem Blickwinkel der Konvenienz verbinden sich die Elemente des Weltgefüges zu einer universalen Kette, die noch die entlegensten Dinge aufeinander verweisen und einander reflektieren läßt: 88 So bildet durch die Verkettung der Ähnlichkeit und des Raumes, durch die Kraft dieser Konvenienz, die das Ähnliche in Nachbarschaft rückt und die nahe beieinander liegenden Dinge assimiliert, die Welt eine Kette mit sich selbst.
Es leuchtet ein, daß die sich hier abzeichnende Figur einer wechselseitigen Verschränkung und übergreifenden Einheit von Mikro- und Makrokosmos, der wohl f ü r die Semantik und Bedeutungskonstitution der Emblembücher noch eine gewisse heuristische Funktion zukam, kaum als Bedeutungshorizont oder epistemologische Leitlinie des Trauerspielbuchs angenommen werden kann. Betrachtet man indessen das Denken der Konvenienz als ein von seinem metaphysischen Horizont abgelöstes, formales Prinzip, so läßt sich darin der oben beschriebene, für die Verfahrensweise der Abhandlung charakteristische Modus der Zeichenverknüpfung wiedererkennnen. Das Konzept der Konvenienz bildet nämlich auf der Ebene der epistemologischen Strukturprinzipien und Wissensformen die genaue Entsprechung zur rhetorischen Figur der Metonymie. Der für die Konvenienz kennzeichnenden Form der räumlichen Nachbarschaft und Berührung korrespondiert die (semantischkognitive) vicinitas als Prinzip der metonymischen Zeichenverbindung. Daß zwischen einer räumlich-topologischen Anordnung der Dinge, wie sie die oben skizzierte Denkfigur der Konvenienz unterstellt, und der Operationsweise der Metonymie ein gewisser Zusammenhang besteht, hat Harald Weinrich auf genaue Weise beschrieben. 89 Es besteht nämlich, wie Weinrich ausführt, innerhalb des Gebäudes der alten Rhetorik ein Korrelationsverhältnis zwischen der Semantik der Metonymie einerseits und dem Bereich der Topik als einem Arsenal möglicher Argumentationsgesichtspunkte und Beobachtungshinsichten andererseits. Für die Figur der metonymischen Substitution, so Weinrich, sind genau jene semantischen Relationen von Bedeutung, die in der Topik als Gesichtspunkte der Themenbehandlung und Stichworte für das Auffinden von Argumenten bereitgestellt werden (z.B. Ort, Zeit, Art und Weise, zufällige Umstände etc.). Die Denkfigur der Konvenienz und die in der Topik 88 89
Ebd., S. 48. Vgl. Harald Weinrich, Zur Definition der Metonymie und zu ihrer Stellung in der rhetorischen Kunst, in: Textetymologie, S. 105-110.
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5. Kapitel
zugrundegelegte Technik des Rubrizierens nach bestimmten >Örtern< kommen nun aber offensichtlich darin überein, daß sie auf ein gemeinsames räumliches Ordnungsprinzip rekurrieren. Die linguistische Analyse liefert somit eine Bestätigung und Präzisierung der Beobachtung, daß ein topologischer Raum, wie ihn das Denken der Konvenienz eröffnet, in struktureller Hinsicht als Gegenstück der Metonymie fungiert bzw. den konzeptuellen Rahmen bildet, in dem sich die metonymische Bewegung des In-Beziehung-Setzens und des Austausche der Zeichen entfalten kann. Blickt man auf die vorangehenden Überlegungen zurück, so erscheint es nun möglich, das Spezifische des emblematisehen Verfahrensstils im Trauerspielbuch genauer zu bestimmen. Das Besondere dieser Vorgehensweise das, was ihren Unterschied gegenüber der älteren Emblematik ausmacht - ist wohl weniger in der metonymischen Form der Zeichenverkettung als solcher zu sehen. Das entscheidende Moment liegt vielmehr in einer charakteristischen Tendenz zur Reflexivierung des emblematischen Verfahrens, die das Trauerspielbuch erkennen läßt. Die Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem gründet nicht nur in einer kontingenten, metonymischen Relation; die Kontingenz dieser Beziehung wird als solche auch transparent gemacht und reflektiert. Schon der Sachverhalt, daß zu einem gegebenen Motiv immer neue Deutungen und Verweisungen aus dem Fundus der Tradition hervorgezogen werden, muß Zweifel wecken an der Vorstellung der Eindeutigkeit und Stimmigkeit der vorgeführten Zuordnungen. Die emblematischen picturae und ikonologischen Requisiten erscheinen so nicht im Zeichen einer eindeutigen, sicheren Lesbarkeit, sondern rücken in die Perspektive eines offenen, nahezu unbegrenzten Referenzpotentials. Die oben angesprochene Figur eines Reflexivwerdens des emblematischen Zeichens läßt sich genauer erfassen, wenn man sich diesen Vorgang an einer konkreten Textstelle der Abhandlung vor Augen führt. Im Kontext der Erörterung der Frage, ob dem barocken Trauerspiel eine spezifische Bühnenwirksamkeit eigen sei, weist Benjamin eine These der älteren Forschung zurück, die von der Vorstellung eines reinen Lesedramas ausging: Gewiß war diese Anschauung im Unrecht. Ist doch Allegorie das einzige und das gewaltige Divertissement, das da dem Melancholiker sich bietet. Wohl räumt die hochfahrende Ostentation, mit welcher der banale Gegenstand aus der Tiefe der Allegorie hervorzustoßen scheint, bald seinem trostlosen Alltagsantlitz den Platz, wohl folgt der versunkenen Anteilnahme des Kranken am Vereinzelten und Geringen jenes enttäuschte Fallenlassen des entleerten Emblems, dessen Rhythmik ein spekulativ veranlagter Beobachter im Gehaben der Affen vielsagend wiederholt finden könnte. (S. 361)
Der zitierte Passus ist im ganzen gesehen als eine komplexe, bildhafte Redefigur aufzufassen, die die allegorisch-emblematische Technik selbst zu ihrem Gegenstand macht. Zentrale Figur der hier vorgeführten Szene ist der Melancholiker, der einerseits als Zuschauer und Beobachter, andererseits aber auch als Teilnehmer und Veranlasser der allegorisch-emblematischen Darbietung
Die Kritik des genetischen Ansatzes in Walter Benjamins » Ursprung...«
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erscheint. Der Vorgang der melancholisch-allegorischen Versenkung wird dabei als eine eigentümliche Doppelbewegung vorgestellt, als ein Schwanken zwischen »versunkener Anteilnahme« und »enttäuschtem Fallenlassen des [...] Emblems«, das sich, abstrakter formuliert, auch als Wechsel von Dlusionierung und Desillusionierung beschreiben ließe. Als Gelenkstelle und eigentliches movens der Entfaltung der hier zugrundegelegten bildhaften Konstellation darf wohl das Bild des Affen gelten: Die Gebärde des Affen liefert den Vergleichspunkt für jenen Oszillationseffekt, den der Text als Kennzeichen der allegorisch-emblematischen Bewegung auszuweisen sucht. Es ist nun bemerkenswert, daß das genannte Bild des Affen in Verbindung mit einem Vorgang der Dlusionierung bzw. Desillusionierung in der Tat ein emblematisches Zitat darstellt. Der Affe bildet nämlich einen beliebten Gegenstand der Emblembücher und wird dort nicht selten mit dem semantischen Feld der Täuschung bzw. Selbsttäuschung und des Scheins in Beziehung gesetzt. So ist etwa in einer spanischen Emblemsammlung des frühen 17. Jahrhunderts, den »Emblemas morales« von Sebastián de Covarrubias Orozco, ein entsprechendes Bild überliefert. 90 Auf der pictura ist im Vordergrund - vor dem Panorama einer in großen Zügen angedeuteten Gebirgslandschaft - ein Affe zu sehen, der einen Spiegel hält. Der Blick des im Profil dargestellten Tieres ist auf das Spiegelbild gerichtet, das auch für den Betrachter der pictura auf der Spiegelfläche umrißhaft zu erkennen ist. Im oberen Bildbereich wird zwischen einigen Wolken ein Spruchband präsentiert, auf dem die lateinische inscriptio »Nulli non sua forma placet« zu lesen ist." Die subscriptio führt schließlich den hier nur abbreviaturhaft notierten Gedanken näher aus. Dort wird - diesmal in der Volkssprache - dargelegt, daß sich auch der Häßliche für schön und für ein gottgleiches Wesen halte. 92 Die figurative Bedeutung des in der pictura gezeigten Gegenstands wird somit unmißverständlich offengelegt: Das Bild des Affen kann als prägnante Metapher der Verblendung und Selbsttäuschung gelten. Das Trauerspielbuch kann sich somit in der Verwendung des genannten bildhaften Motivs durchaus auf die Tradition der barocken Emblematik berufen. Wichtiger als dieser historische Bezug selbst ist indessen die Art und Weise, in der das überlieferte Emblem an der entsprechenden Stelle in den diskursiven Kontext des Trauerspielbuchs eingefügt und integriert wird. Hier fällt zunächst auf, daß die überlieferte, mit dem Affensymbol verknüpfte Semantik von Täuschung und Schein an der genannten Stelle der Abhandlung leicht verschoben und auf eine spezifischere Bedeutungsdimension eingegrenzt wird. Der Text beschreibt ja eine Form der ästhetischen Hlusion, nämlich jene Täuschung, die durch die barocke Allegorie bzw. durch das allegorische Schauspiel hervorgerufen wird. Wie bereits angemerkt, analysiert
90 91 92
Siehe A. Henkel u. A. Schöne (Hgg.), Emblemata, S. 432. »Jedem gefällt seine Gestalt«, Emblemata, S. 432. Ebd., S. 432.
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Benjamin das Prinzip dieser Illusionierung als eine Art rhythmischen Wechsel von Täuschung und Ernüchterung, dem zugleich ein Wechsel der Beobachtungsperspektive korreliert. Erscheint der griiblerisch-versunkenen Betrachtung im Augenblick der Melancholie die Allegorie als ein »gewaltiges Divertissement«, vermag die wenig später sich wieder einstellende gewöhnliche Sehweise in den Emblemen nur das »trostlose Alltagsantlitz« der Dinge zu erkennen. Die weitere Entfaltung dieser Vorstellung (der SchauspielZuschauer-Metapher) bezieht nun eine besondere Nuance daraus, daß das Analogon des Affen erst in Verbindung mit einer weiteren Beobachterposition eingeführt wird. Es handelt sich nämlich, so die Erläuterung, bei dem oben skizzierten Wechsel um eine »Rhythmik«, die »ein spekulativ veranlagter Beobachter im Gehaben der Affen vielsagend wiederholt finden könnte« (ebd.). Der melancholische Betrachter des allegorischen Schauspiels, der emblematischen Illusion, wird nun seinerseits zum Gegenstand einer Beobachtung, die in der Haltung des Melancholikers eine Parallele zur Gebärde des Affen erblickt. Es liegt auf der Hand, daß der hier angesprochene zweite Beobachter seinerseits nur ein Emblematiker bzw. ein von der emblematischen Bildtechnik inspirierter Betrachter sein kann. In der eigentümlichen Verdopplung der Beobachterperspektiven äußert sich somit ein spezifisches, für die hier analysierte emblematische Darstellungsweise charakteristisches reflexives Moment: Der Allegoriker, der die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Emblematik beobachtet, wird seinerseits zum Objekt eines allegorischemblematisehen Vergleichs. Die sich hier abzeichnende Reflexionsfigur läßt sich somit als eine Art Emblem im Emblem, als eine komplexe Allegorie des emblematischen Verfahrens und seiner Funktionsweise lesen. Es ist nun wichtig, sich bewußt zu machen, daß die oben erörterte, emblematische Darstellungsweise des Trauerspielbuchs keinen mehr äußerlichen, ausschließlich formalen Aspekt der Abhandlung bezeichnet, von dem die Frage nach dem Thema oder Gegenstand der Darlegung ohne weiteres abstrahieren könnte. Die Geschichte, die das Trauerspielbuch erzählt, läßt sich nämlich unabhängig von der Form ihrer Darstellung und ihres textuellen Verfahrens kaum angemessen erfassen. Insbesondere die zu Beginn herausgearbeitete genetische Vorstellung des melancholischen Blicks als einer basalen, den Gang des kulturgeschichtlichen Verlaufs leitenden Kategorie bleibt von der oben skizzierten Technik der Auflösung und Pluralisierung der tradierten Bildsemantik nicht unberührt. Dem Gedanken der Melancholie als einem fundierenden Signifikat, als einer Sinneinheit, die sich im Ablauf der Zeit entfaltet und zu sich selbst kommt, kontrastiert auf der Ebene des allegorischen Verfahrens der eigentümliche Sachverhalt, daß sich die emblematischen picturae und ikonologischen Requisiten der Melancholie nicht zu einer einheitlichen, fest umrissenen Bedeutung zusammenfügen. Das unterstellte Signifikat der genetischen Bewegung verliert sich im Geflecht der emblematischen Verweisungen. Hier artikuliert sich sehr deutlich die Differenz, die die Benjaminsche Abhandlung von der herkömmlichen Ursprungsgeschichte geistes-
Die Kritik des genetischen
Ansatzes
in Walter Benjamins
»Ursprung...«
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geschichtlicher oder historistischer Provenienz trennt. Unterstellt die überkommene Geschichtserzählung ein fundierendes Substrat, eine Kategorie, der gewissermaßen apriorische Bedeutung und Relevanz zukommt, so folgt Benjamin nur den überlieferten Bildzeichen und emblematischen Beschriftungen, die auf ein solches Signifikat zu verweisen scheinen. Bedenkt man den vornehmlich metonymischen Charakter der emblematischen Relationen, dann liegt es auf der Hand, daß die Melancholie im Trauerspielbuch nicht mehr im Sinne eines Ursprungs oder sinnstiftenden Fundaments gedacht werden kann. Im Lichte der metonymischen Operation erweisen sich ja gerade jene Bedeutungsbeziehungen, die die melancholische Betrachtung als ein solches grundlegendes, irreduzibles Sinnmoment ausweisen könnten, als kontingent. Die allegorische Technik, die das Trauerspielbuch in Gang setzt, unterläuft indessen nicht nur die Einheitsfigur des genetischen Ursprungs oder Substrats. Das emblematische Verfahren scheint vielmehr - in einem fundamentaleren Sinne - eine Zurücknahme der historisch-genetischen Dimension selbst zu betreiben. Die emblematische Darstellung und Deutung des Melancholiephänomens entfaltet sich ja im Horizont eines gleichsam räumlichen Arrangements der Requisiten und zeichenhaften Gegenstände, für das der temporale Aspekt des zeitlichen Nacheinanders nur eine untergeordnete Rolle spielt. So tut es der Wirksamkeit und Evidenz des emblematischen Exempels keinen Abbruch, wenn Aristoteles, Aegidius Albertinus und Dante nebeneinander zitiert und gewissermaßen auf der gleichen argumentativen Ebene angesiedelt werden. Dies bedeutet jedoch auch, daß das Projekt einer Geschichte und Genealogie der melancholischen Betrachtung, wie es das Trauerspielbuch an anderer Stelle suggestiv entwirft, in dieser Form nicht durchgeführt wird. Die Art der allegorischen Spurensuche, die Benjamin betreibt, läuft offensichtlich nicht auf die historisch-genetische Figur eines Entwicklungsganges des melancholischen Geistes, des wiederholt beschworenen »Genius allegorischer Betrachtung« (S. 394), hinaus. Sie verbleibt vielmehr im topologischen Raum der zeichenhaften Gegenstände und emblematischen Referenzen. Das genetische Prinzip der Veränderung und der Geschichte wird, so hat es den Anschein, in der Allegorie stillgestellt und in die Ordnung des Tableaus zurückgenommen: »Es siegt das starre Antlitz der bedeutenden Natur und ein für allemal soll die Geschichte verschlossen bleiben in dem Requisit« (S. 347).
6.
Schlußbetrachtung: Zur Kritik der genetischen Kulturgeschichte und zur Problematik der Verabschiedungen
Das genetische Prinzip stellt offenbar, wie sich im Rückblick auf die Untersuchungen dieser Arbeit feststellen läßt, ein sehr hartnäckiges und zählebiges Strukturmuster unserer Rede über Geschichte und geschichtliche Vorgänge dar. Allen emphatischen Abschiedsbekundungen zum Trotz verzeichnet dieses Modell, wie die vorliegenden Analysen zu zeigen versuchten, auch in einer nachhistoristischen Konstellation noch eine erstaunliche Konjunktur. Die Faszination des genetischen Erklärungsprinzips hält, so scheint es, auch dort unvermindert an, wo der programmatische Versuch unternommen wird, es endgültig zu verabschieden. Selbst einer uneingeschränkt totalitätskritischen Arbeit wie Walter Benjamins Trauerspielbuch gelingt es wohl nur partiell, dem Einheitsstreben des historistischen Projekts zu entkommen. Mit dem hier unternommenen Versuch, die ausgewählten kultur- und literaturgeschichtlichen Texte im Kontext der Historismusproblematik zu lesen, ist indessen keine einfache, ungebrochene Zuordnung dieser Texte zur Tradition des historistischen Schreibens intendiert. Die durchgeführten Analysen ließen ja vielmehr erkennen, daß den untersuchten Texten eine verstärkte Sensibilität gegenüber den Schwierigkeiten der historischen Darstellung und eine gewisse Distanz zu traditionellen Einheits- und Kohärenzkonzepten eigen sind. Eine unterschwellige, zum Teil auch offen eingestandene Prämisse aller hier erörterten Texte ist die Beobachtung, daß der genetische Ansatz in seiner ursprünglichen Form in eine Krise geraten ist. Jacob Burckhardt antwortet auf diese Krise mit einer eigentümlichen Rückzugsbewegung: Er verläßt das unsichere Terrain der politischen Ereignisgeschichte, um im Feld der Kulturund Kunstgeschichte nach einem anderen, möglicherweise resistenteren Einheits- und Sinnreservoir zu suchen. Ob durch diesen Wechsel der Signifikate auch eine neue Form der Auffassung und Darstellung von Geschichte gewonnen ist, dürfte allerdings eine offene, erst noch zu klärende Frage sein. Auch die anderen hier analysierten Autoren bzw. Texte versuchen auf j e eigene Weise, die Problemlage bzw. das Scheitern des genetischen Erklärungsansatzes zu bewältigen.
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Dabei war die Krise des kulturgeschichtlichen Schreibens, an der sich die nachhistoristischen Autoren abarbeiten, bereits in der Ausgangsstellung des genetischen Ansatzes vorgezeichnet. Die genetische Vorstellung von Geschichte als eines einheitlichen und universalen Entwicklungsprozesses erfordert es ja, wie einleitend dargelegt wurde, die (unterstellte) Identität des Wesens mit der Differenz der geschichtlichen Veränderung zusammenzudenken. Das moderne, historistische Geschichtsdenken beginnt somit seine Karriere im Zeichen eines aporetischen Widerspruchs: Geschichte soll Veränderung und aus der Vergangenheit nicht ableitbares Werden bedeuten; zugleich aber fordert das Einheits- und Ganzheitsgebot dieses Ansatzes, daß die Möglichkeiten historischer Veränderung und Entwicklung in einem von jenem Wandel selbst nicht betroffenen Substrat vorgezeichnet und im Keim schon enthalten sind.1 Dieses substantialistische Residuum des genetischen Prinzips äußert sich nicht zuletzt in jener seltsamen Rede vom Ursprung, wie sie in historistischen Geschichtswerken immer wieder begegnet. Für den genetischen Geschichtsschreiber ergibt sich ein eigentümlicher argumentativer Zwang, gleichsam hinter bzw. unterhalb der geschichtlichen Bewegung eine verborgene Entität zu postulieren, die selbst nicht in historischen Begriffen zu erfassen sei.2 Das Modell der genetischen Entwicklungsgeschichte steht somit seit seinen Anfängen im Zeichen des Widerspruchs und der Paradoxie. Blickt man auf die hier vorgenommenen Analysen zurück, so scheint jene Diagnose, die Foucault in Bezug auf die (allgemeine) Struktur der nachklassischen Ideengeschichte geäußert hat, auch für die Kulturgeschichtsschreibung des beginnenden 20. Jahrhunderts ihre Gültigkeit zu behaupten: »Genese, Kontinuität, Totalisierung: das sind die großen Themen der Ideengeschichte und das, womit sie sich mit einer bestimmten Form [...] der historischen Analyse verknüpft«. 3 Die genannte Einlassung erweist sich gerade in ihrer Betonung der Form der historischen Untersuchung als besonders scharfsichtig und aufschlußreich. Liegt ihr doch die Einsicht zugrunde, daß die genetischen Figuren der Kontinuität und der Totalisierung nicht als (gleichsam freischwebende) Erscheinungsweisen eines kognitiven Gehalts zu begreifen sind, der von der sprachlichen Form seiner Darstellung unabhängig wäre. Das genetische Projekt, Geschichte als eine Einheit, eine in sich abgerundete Sinnfigur, zu erfassen, scheint vielmehr schon seiner Natur nach gebunden an eine spezifische Rhetorik, an eine bestimmte Form narrativer Diskursivität. Dieser eigentümlichen Verschränkung von kognitiver und sprachlich-diskursiver 1
2
3
Odo Marquard spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem »latenten Ahistorismus des historischen Sinns«. Vgl. ders., Weltanschauungstypologie, in: Die Frage nach dem Menschen. Festschrift für Max Müller, hg. H. Rombach, München 1966, S. 428-442, hier S. 439. Vgl. etwa Barthold Georg Niebuhrs Bemerkung, daß »aller Ursprung jenseits unsrer, nur Entwickelung und Fortgang fassenden Begriffe liegt«. Römische Geschichte. Erster Theil, Berlin 1811, S. 37-38. Foucault, Archäologie Des Wissens, Frankfurt 1973, S. 197.
Schlußbetrachtung:
Zur Kritik der genetischen
Kulturgeschichte...
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Struktur versuchten die jeweiligen Abschnitte zur Schreibweise und textuellen Verfahrensweisen der untersuchten Abhandlungen Rechnung zu tragen. Die rhetorisch-stilistische Dimension der Texte erwies sich dabei ihrerseits als ein zweiseitiges, eigentümlich doppelbödiges Phänomen. Die Rhetorik der Texte stand zu einem Teil noch im Zeichen jenes Pathos der ganzheitlichen Bewegung und der kulturellen Erneuerung, wie es für eine genetische Blickrichtung auf den Gang der Geschichte charakteristisch ist. Daneben macht sich jedoch - gleichsam auf der Kehrseite jener totalisierenden Geste - ein anderer Stileffekt bemerkbar, der die kontingenten, auf zufälligen Berührungen basierenden Aspekte dieser historischen Darstellungsweise in den Blick rücken läßt. Dieses latente totalitätskritische Moment wird im Stil und Sprachgestus der Texte als metonymische Struktur, als Ironie oder auch als emblematische Bild- und Kommentiertechnik greifbar. Daß eine wie immer subtile, rhetorisch verschlüsselte Kritik des genetischen Ansatzes innerhalb des Diskurses der Kulturgeschichte selbst möglich ist - dies dürfte somit vor dem Hintergrund der hier durchgeführten Analysen kaum mehr zu bezweifeln sein. Weniger offensichtlich und eindeutig zu beantworten ist indessen die Frage nach der Möglichkeit einer anderen, von der ganzheitlichen Figur des Genetischen völlig abgelösten und unabhängigen Form der Kulturgeschichtsschreibung. Ein möglicher Ausweg aus den Aporien des historistischen Schreibens könnte - dies zeigte die Untersuchung des Trauerspielbuchs - in einem Rückgriff auf vormoderne Problemformulierungen gesucht werden, auf jene alten topologischen Vorstellungen also, die noch hinter die moderne Verzeitlichung und Vereinheitlichung unserer Geschichtsbegriffe zurückreichen. Diese Strategie ließ sich in Ansätzen in der Verfahrensweise des Trauerspielbuchs beobachten. Die emblematischen Formprinzipien des Textes eröffnen vor dem Blick des kulturhistorischen Beobachters einen topologischen Bildraum, der nicht mehr dem Schema einer linearen Abfolge, sondern einem simultanen, netzartigen Ordnungsmuster unterliegt. In der simultanen Präsenz dieses Raums gruppieren sich die Fragmente und zitathaften Überbleibsel der überkommenen Historie zu neuartigen Figuren und Konstellationen. Das sich hier abzeichnende Modell einer neuen, andersartigen Kulturgeschichte trägt zugleich Züge jenes umfassenden und universellen Textraums, der in der poststrukturalistischen Diskussion als der gemeinsame, nicht überschreitbare Bereich der Literatur wie der Geschichte postuliert wird. Doch auch durch die Modelle des textuellen Universums (texte général) und des emblematischen Bildraums sind die Schwierigkeiten des kulturgeschichtlichen Schreibens nicht endgültig behoben. Problematisch bleibt etwa die Frage nach dem Unterschied, der spezifischen Differenz, des neuen postmodernen Geschichtsraums gegenüber dem alten Topikkonzept und der Vorstellung eines wesenhaften, überzeitlichen Ordnungsgefüges. Eine reflektierte Form der Kulturgeschichtsschreibung kann nicht einfach im Gewände des Anachronismus auftreten, als bloßer Regreß auf eine ältere, nunmehr obsolet gewordene Betrachtung der Dinge. Überdies ist auch das neue,
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6. Kapitel
räumliche Bild der Kulturgeschichte nicht schon von sich aus und gleichsam selbstverständlich vor der Tendenz zur Totalisierung und sinnhaften Vereinheitlichung geschützt. Auch der neue Raum der Texte und Bilder kann - als universales, in sich geschlossenes Gebilde verstanden - zum Gegenstand der semantischen Schließung (closure) und zum Medium ganzheitlicher Sinnzuschreibungen werden.
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