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German Pages 320 Year 2021
David Fopp, Isabelle Axelsson, Loukina Tille Gemeinsam für die Zukunft – Fridays For Future und Scientists For Future
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form. The supposed »end of history« long ago revealed itself to be much more an end to certainties. More than ever, we are not only faced with the question of »Generation X«. Beyond this kind of popular figures, academia is also challenged to make a contribution to a sophisticated analysis of the time. The series X-TEXTS takes on this task, and provides a forum for thinking 'for and against time'. The essays gathered together here decipher our present moment, resisting simplifying formulas and oracles. They combine sensitive observations with incisive analysis, presenting both in a conveniently, readable form.
David Fopp (PhD), geb. 1972, ist Klimaaktivist, lehrt Pädagogik, Youth Studies und Drama an der Universität Stockholm und forscht zu Nachhaltigkeit und Theorien der Gesellschaftstransformation. Der promovierte Philosoph arbeitete zuvor an den Universitäten Berlin, Basel und an der École Normale Supérieure in Paris. Isabelle Axelsson ist Klimaaktivistin und studiert Kulturgeographie an der Universität Stockholm. Loukina Tille ist Klimaaktivistin und studiert Umweltwissenschaft an der ETH Zürich.
David Fopp
Gemeinsam für die Zukunft – Fridays For Future und Scientists For Future Vom Stockholmer Schulstreik zur weltweiten Klimabewegung Unter Mitarbeit von Isabelle Axelsson, Loukina Tille
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© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildungen: Vorderseite: Jana Eriksson; Rückseite: William Persson Korrektorat: Johanna Mittelgöker Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5555-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5555-5 EPUB-ISBN 978-3-7328-5555-1 https://doi.org/10.14361/9783839455555 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Zeitleiste � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 Einleitung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 11 Die Unbekannten � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 21
Erster Teil: Die Rebellion der Jugendlichen Vom Münzplatz in Stockholm zum globalen Streik
Kapitel 1: Die schwedischen Anfänge Eine Idee nimmt Form an � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 27 Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran Ziviler Ungehorsam und Gesetze der Menschlichkeit � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 55 Kapitel 3: Das Fundament Der (klima-)wissenschaftliche Hintergrund � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 75 Kapitel 4: Die internationale Bewegung entsteht COP-Treffen und Klimagerechtigkeit � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 99 Kapitel 5: Davos und das World Economic Forum Was ist wertvoll und was eine Wissenschaft der Ökonomie? � � � � � � � � � � � � � � 125 Kapitel 6: Der Aufstand Der erste globale Streik, die Belagerung von London und die Gründung von »Scientists For Future« � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 153
Zweiter Teil: Die Erwachsenen antworten Kapitel 1: Der zweite globale Streik und die Vorbereitungen zur Week For Future Die Aufgabe für die Zivilgesellschaft � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 183 Kapitel 2: Smile For Future in Lausanne und die Scientists For Future Die Aufgabe für die Wissenschaft � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 191 Kapitel 3: Die Week For Future Der koordinierte Aufstand von acht Millionen Menschen weltweit � � � � � � � 215 Kapitel 4: COP25 in Madrid Die Aufgabe einer vereinten Bewegung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 225 Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die Klimagerechtigkeitsbewegung Die Krise und das globale Demokratieprojekt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 243
Dritter Teil: Gemeinsam in die Zukunft
Ein Gespräch (mit Isabelle Axelsson und Loukina Tille) Kapitel 1: Worum es der Klimastreikbewegung geht � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 263 Kapitel 2: Zum Verhältnis von Jugendlichen und Erwachsenen Wie wir alle Geschichte schreiben können � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 275 Anhang: Wofür sich eine globale vereinte Klimabewegung einsetzen könnte – die Grundprinzipien � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 285 Epilog – »We, the People … For Future« � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 297 Abbildungsverzeichnis � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 303 Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 305
Zeitleiste 2018 20. August, Montag Greta Thunberg setzt sich allein zwischen die beiden Hälften des schwedischen Parlamentsgebäudes und fängt an zu streiken 7. September, Samstag Greta gibt im Park »Rålambshovsparken« zusammen mit ihren mitstreikenden Jugendlichen die Gründung von #FridaysForFuture bekannt 8. September, Sonntag Wahl in Schweden. Es wird Monate dauern, bis die rot-grüne Regierung bestätigt wird 13. September, Freitag Erster Freitagsstreik unter dem Namen #FridaysForFuture Oktober Der Spezialrapport der UNO »IPCC SR1.5« wird veröffentlicht, der den Unterschied zwischen 1,5 Grad Erwärmung und zwei Grad verdeutlicht 31. Oktober, Mittwoch Gründungswochenende Extinction Rebellion in London 17. November, Samstag Die erste große Blockade Stockholms durch Extinction Rebellion 26. November, Montag Gretas erste lange Rede in Schweden (TED Talk)
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30. November, Freitag Über 10.000 Schüler_innen in Australien streiken, auch als Antwort auf die Auslassungen des Premierministers Morrison gegenüber den Klimastreikenden Belgische Donnerstagsstreiks werden immer größer 9. Dezember, Sonntag Die erste international koordinierte FFF- und XR-Aktion findet statt: »Climate Alarm« 12. Dezember, Mittwoch Greta hält ihre Rede am COP24-Klimatreffen der UNO in Katowice, Polen 21. Dezember, Freitag Als Reaktion auf die Parlamentsdiskussionen zur CO₂-Abgabe kommt es zum ersten Großstreik in der Schweiz
2019 18. Januar, Freitag Der erste große Streik in Berlin 25. Januar, Freitag World Economic Forum in Davos, Schweiz. »Our house is on fire« 12. Februar, Dienstag IPBES Biodiversitätsrapport der UNO erscheint mit alarmierenden Zahlen 15. Februar, Freitag Großbritannien und Frankreich streiken zum ersten Mal groß 13. März, Mittwoch FFF streikt bei der EU in Straßburg 15. März, Freitag Der erste globale Streik mit ca. 1,6 Millionen Teilnehmenden
Zeitleiste
15. April, Montag Die Blockade der Innenstadt von London durch Extinction Rebellion beginnt In Stockholm blockiert XR die Parlamentsbrücke Greta hält ihre Rede im britischen Parlament nach Besuchen in Rom und Brüssel 29. April, Montag Großbritannien erklärt den Klimanotstand 24. Mai, Freitag (das EU-Wahl-Wochenende) Der zweite globale Streik 4.–9. August Das große europäische FFF-Tref fen Smile For Future in Lausanne, Schweiz 20.–27. September, Woche Die »Global Week For Future« mit globalen Streiks zusammen mit Gewerkschaften und NGOs. Rund acht Millionen Jugendliche und Erwachsene nehmen an den Streikmärschen teil In Stockholm kommt es zur zweitgrößten Demonstration der Nachkriegszeit 23. September, Dienstag Greta hält ihre »How dare you«-Rede am Klimagipfel der UNO in New York 7. Oktober, Montag Extinction Rebellion blockiert die Innenstädte von London, New York, Paris und Berlin 29. November und 6. Dezember Vierter globaler Streik, in Stockholm im Vorort Rinkeby In Madrid versammeln sich 500 000 rund um Greta und Fridays For Future 2.–13. Dezember COP25-Meeting in Madrid
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2020 21.–24. Januar World Economic Forum 4. März Stellungnahme der Scientists For Future zum neuen EU-Klimagesetz 16. und 17. Juli FFF-Jugendliche schreiben – unterstützt von führenden Wissenschaftler_innen – einen Forderungsbrief an die EU; und 20 Aktivist_innen aus dem globalen Süden adressieren die G20-Staaten April – August Die Klimagerechtigkeitsbewegung wandert wegen der Corona-Pandemie ins Netz und hört auf die #BlackLivesMatter-Demonstrationen 20. und 21. August Zwei Jahre sind seit dem ersten Streiktag vergangen und die Jugendlichen kehren wieder – mit Masken – auf den Münzplatz zurück Greta präsentiert mit anderen FFF-Jugendlichen in Berlin die Forderungsschrift #FaceTheClimateEmergency 28. August Die vereinten Klimabewegungen besetzen unter der Führung von Extinction Rebellion das Zentrum von Stockholm, zwei Jahre nach der ersten Aktion 25. September Die FFF-Bewegung ist zurück zum ersten globalen Streiktag nach dem Ausbruch der Pandemie
Einleitung
Kinder sitzen auf dem Boden vor dem Parlament ihres Landes oder dem Rathaus ihrer Stadt. In Stockholm. Bern. Kathmandu. New York. Kabul. Manaus. Berlin. Sie streiken für das Klima und für ihre Zukunft, auf den Plätzen und im Netz. Und sie verweisen auf einen demokratischen Fehler: Der Regenwald, die Lunge der Welt, brennt und wird abgeholzt. Die Banken investieren in die fossile Industrie. Demokratien müssten weltweit umgeformt und eine neue Form des globalen Zusammenlebens gefunden werden – und sie haben als Kinder nichts zu sagen, obwohl es ihr Leben am meisten betrif ft. Und nun sitzen sie also da und akzeptieren dies nicht länger. Wie darauf reagieren? Diese Frage stellt sich mir im August 2018, als ich zum ersten Mal als Dozent meine Räume der Stockholmer Universität verlasse und zu Greta Thunberg vor dem Parlament gehe. Als ich Greta und ihren Mitstreikenden an einem ihrer ersten Streiktage begegne, weiß ich viel über die Klimakrise – ich halte Vorlesungen zu Nachhaltigkeit – und doch, wie es sich in den nächsten Wochen herausstellt, erstaunlich wenig. Ich verstehe die Krise nicht wirklich, richtig existentiell. Und so entscheide ich mich früh, gerade als sich Fridays For Future überhaupt bildet, an jedem Freitag zurückzukommen, für die sieben Stunden, in denen die Jugendlichen am Rand der Stockholmer Altstadt streiken. Diese Begegnungen auf dem Münzplatz mit den jugendlichen Stammstreikenden verändern das Leben von uns allen: In kürzester Zeit kommen wir mit den wichtigsten Klimaforscher_innen der Welt in Kontakt. Ich lerne die Denkwelten der Kinder kennen, sehe Trauer und Verzweif lung, aber auch eine große Empathie und die Freude an der wachsenden globalen Vernetzung, an der täglich gearbeitet wird und die als Fridays For Future/Klimastreik (FFF) Geschichte macht. Der Münzplatz in Stockholm wird zum »Hub« der globalen Bewegung. Und nach und nach versuche ich dazu beizutragen, dass auch in der Erwachse-
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nenwelt jenseits von FFF eine weltweite Bewegung zusammenwächst. Auf dem Münzplatz gründe ich die erste Scientists For Future-Gruppe und von da aus wird die Week For Future mit acht Millionen Teilnehmenden mitorganisiert. Ein Plan muss entwickelt und umgesetzt werden, wie die Welt in zehn Jahren nachhaltig, gerecht und demokratisch werden kann. Die Zeit, den Fridays-Jugendlichen auf die Schulter zu klopfen, ist vorbei, sage ich mir. Wir müssen als Gesellschaft auf das reagieren, was sie wollen und ihnen eine sichere Zukunft geben. Und in diesem Sinn ist ihre Geschichte auch unsere. Es ist die Geschichte unserer gemeinsamen Zukunft. Diese Geschichte hat zwei Seiten. Auf der einen Seite ist sie eine traurige Geschichte. Ziemlich die traurigste, die vorstellbar ist. Es ist die Geschichte von hunderten Tierarten, die ausgerottet werden, von Wäldern, die abgeholzt werden und niederbrennen, von hunderttausenden von Menschen, die vor Dürren und Überschwemmungen f liehen. Und es ist vor allem die Geschichte von Kindern und Jugendlichen überall auf der Welt, die, informiert durch die sozialen Medien, sich jeden Tag Sorgen machen und von kommenden Kämpfen um Wasser und Nahrung träumen, eine Art von Panik, die nie ganz verschwindet. Wie wird es für uns aussehen, fragen sie sich, wenn wir so groß sind, wie diese zweibeinigen Artgenossen, die an der Macht sind? In einer drei oder vier Grad wärmeren Welt mit der Gefahr von nicht mehr rückgängig zu machenden Kipppunkten und »Feedback Loops« des Klimasystems (Lenton et al. 2019; Wallace-Wells 2019) ist für viele Menschen, vor allem des globalen Südens, das Leben eine Hölle. Auch ist es die Geschichte von parallel arbeitenden etablierten NGOs, die vieles versucht haben und doch die Politik nicht verändern konnten. Und es ist die Geschichte von Politiker_innen und hoch spezialisierten Wissenschaftler_innen, die um all dies wissen, und doch kaum etwas tun, weil sie wie gelähmt sind. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Wenn man genauer hinsieht, tut sich ein Fenster zu einem Abenteuer auf, vielleicht dem größten, das wir uns ausmalen können. Es hat gerade angefangen, genauer gesagt in einer unerträglich warmen Augustwoche im Sommer 2018. Damals haben sich einige Kinder und Jugendliche in verschiedenen Vororten von Stockholm entschlossen, sich zu Greta zu gesellen – zu dem Kind, von dem sie in der Zeitung gelesen haben, dass es mit dem Schild »Schulstreik fürs Klima« bewaffnet zwischen den riesigen Steinmassen des schwedischen Parlamentes streikt. In dem Augenblick fängt eine Geschichte an, da auf dem Münzplatz von Stockholm, die sich erst nur langsam entwickelt, wochenlang, monate-
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lang kaum, um dann, angeführt von der schwedischen »Rebell_innenbande« zur größten Umwelt-Jugendbewegung aller Zeiten zu wachsen. Ein halbes Jahr später, am 15. März, verlassen 1,5 Millionen Kinder auf der ganzen Welt ihre Schulzimmer und machen einen Aufstand gegen die Erwachsenenwelt. Im September streiken dann acht Millionen Jugendliche und Erwachsene zusammen in der wohl größten koordinierten globalen politischen Aktion, die es je gegeben hat. Es ist wie ein Märchen, wie eine der Stammstreikenden in Stockholm sagt. Nicht das so weit verbreitete von einem einzelnen Kind, das einsam kämpft, sondern das von einer Gruppe, zu der Greta dazugehört. Eine bisher nicht erzählte Geschichte; eine auch von Freundschaften, von explodierender Phantasie, von genialen Lösungen für politische und aktivistische Herausforderungen, die die Jugendlichen aus allen Ecken der Welt zusammenbringt. Und es ist zwar die Geschichte von einer Gruppe von Jugendlichen, aber auch von deren Versuch, die Erwachsenen zu wecken, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ihnen ihre Aufgabe klar zu machen, nicht zuletzt den Wissenschaftler_innen, die sich nach und nach zu einem riesigen Netzwerk der Scientists For Future zusammenschließen. Es ist ein Abenteuer, in das wir alle hineinspringen und in dem wir alle unseren Platz finden können. Es ist die Geschichte, die wir jetzt zusammen angehen und in den nächsten 15 Jahren weltweit umgesetzt haben müssen: die einer globalen demokratischen Umwandlung aller Lebensbereiche, in der wir alle gegenseitig für ein würdiges Leben sorgen – ohne dass dabei die planetaren Grenzen überschritten werden: Klimaerwärmung, Biodiversitätsverlust, Vermüllung und Übersäuerung der Ozeane. Und es ist eine Geschichte mit einer langen, verschlungenen Vorgeschichte, etwa von indigenen Bevölkerungen, die Jahrzehnte um ihre Art zu leben und die Bewahrung der Natur gekämpft haben, trotz dauernder Repression durch Staaten, Denkweisen und finanzielle Interessen. Es ist die Geschichte vor allem auch von emanzipatorischen Graswurzelbewegungen, dem Kampf gegen die Kolonialisierung, dem Aufstand der Frauenbewegung seit 100 Jahren, dem der Arbeiter_innen und der BIPOC-Gemeinschaf ten (»Black, Indigenous and People of Color«), die Gerechtigkeit und den Gehalt der Menschenrechte für alle durchsetzen wollen. Ohne diese Bewegungen des zivilen Ungehorsams und der Eroberung der Menschenrechte, des demokratischen Blicks auf einander (und auf die Natur als wertvolle) wäre das Abenteuer jetzt nicht denkbar. An diese Vorge-
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schichte schließen sie sich bewusst an, die Jugendlichen, als sie sich zu Greta hinsetzen. Es ist wichtig, diese Geschichte zu verstehen. Jetzt kann ein neues Kapitel anfangen: das der Erwachsenen, die sich jenseits von Fridays For Future weltweit als globale Zivilgesellschaft zusammenschließen. Es gibt Entwürfe zu diesem Kapitel des organisierten Aufstandes der Erwachsenen – mit der »Week For Future« und dem COP-Treffen der UNO in Madrid, von denen dieses Buch handelt. Da haben sich bereits ansatzweise die Jugendlichen zusammengefunden mit NGOs und Graswurzelbewegungen zu einer vereinten globalen Bewegung. Aber die Politik, die Regeln, das Denken und die ökonomische Ausrichtung, die die Natur und die Mitmenschen plagen und bedrohen, haben sich noch nicht verändert. Die Versprechungen der Regierungen mit ihren NDCs (den nationalen Emissionsreduktions-Plänen) werden laut UNO trotz des Pariser Abkommens zu einer etwa dreigradig wärmeren Welt führen, selbst, wofür nichts spricht, wenn sie eingehalten werden. Und da ist sie wieder, die traurige Geschichte. Eine drei oder vier Grad wärmere Welt ist für hunderte von Millionen von Menschen (und Milliarden von Tieren) nicht auszuhalten, und das heißt dann in der Folge für die meisten nicht (Xu et al. 2020). Und sie wird noch während der Lebzeiten dieser Hauptpersonen der Geschichte kommen, wenn wir nicht sofort »weitgehende und nie dagewesene Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft« (IPCC-Bericht am 8. Oktober 2018) in Angriff nehmen. Diese diffus beängstigende Zukunft prägt das Leben der Kinder wie nichts Anderes. Wir können sie auf lösen – wenn wir die Krise als Krise behandeln. Wir Menschen können nach vorne schauen, planen, mit Hilfe der Wissenschaft und der Phantasie. Und wenn die beiden gut zusammenarbeiten, dann gibt es wohl keine stärkere Kraft auf diesem Planeten. Die Jugendlichen haben uns in diese Position »geschubst«, mit ihren Streiks, Märschen, Pappschildern und einer gigantischen Kreativität. Es ist auch an uns, jetzt diesen Auftrag anzunehmen, und die politische Veränderung herbeizuführen. Teilweise als organisierte globale Bewegung, hinter die sich alle stellen können (siehe Anhang), teilweise auch mit zivilem Ungehorsam, indem die Maschinerie gestoppt wird, welche die Umwelt kaputt macht. Die Zeit von vorsichtigen Statements der großen Klima- und Umweltbewegungen sind vorbei. Die Zeit der Zersplitterung ist vorbei; eine Einheit des Engagements, ein Ruck wird gebraucht, auf der Wissenschaft auf bauend, die die Kraft hat, dieses Abenteuer voranzutreiben.
Einleitung
Zum Aufbau des Buches und den Mitarbeitenden, zu Wissenschaft und Politik Die Form der Erzählung im ersten Teil des Buches ist hoffentlich besser geeignet als ein reiner Sachtext, um die Fakten und Probleme zu vermitteln, denen die Jugendlichen und wir Wissenschaftler_innen begegnet sind und die unsere Aufgabe jetzt definieren. Zwischen dem ersten Streiktag von Greta und dem ersten globalen Aufstand vom 15. März mit 1,5 Millionen Kindern liegen 26 Freitage auf dem Stockholmer Münzplatz, ein komplexes soziales Gefüge entsteht, das den Kern des globalen Netzwerkes bildet. Generationen arbeiten zusammen. Auf ihm wird mit Politiker_innen gestritten; zu ihm kommen die renommiertesten Wissenschaftler_innen. Auf ihm tauchen immer mehr Kameras auf sowie Medienvertreter_innen. Hier werden Plakate gemalt und die Kommentare von Schurken kommentiert. Hierher kehren die Jugendlichen nach ihren Reisen zum WEF in Davos und zur COP in Polen voll von Abenteuern zurück. Und hier werden untereinander Freundschaften geschlossen und Vertrauen aufgebaut: Eine Kerngruppe schweißt sich zusammen, die die Welt verändern will, und wird. Es werden dann über 100 Freitage auf dem kleinen Platz am Rande der Stockholmer Altstadt, aber auch via Internet und Telefon; zwei Jahre mit den aktivsten Jugendlichen und Wissenschaftler_innen weltweit, die sich bald anschließen, in den Schweizer Städten, in Uganda, Australien, Brasilien und Kanada. Tausende Entscheidungen stehen auf diesem Experimentiertort der Demokratie an: Wie soll die Bewegung überhaupt aussehen und wie strickt man ein globales Netzwerk? Welche Ziele sind die wichtigsten? Was ist die Rolle der Wissenschaft? Und vor allem: Wann könnte der Streik auf hören? Wann wäre die Welt ein Ort, an dem sich die Jugendlichen wohl und geborgen fühlen können? Dieser erzählende Einblick in die Geschichte der Klimabewegungen (und auch zur Schwesterbewegung Extinction Rebellion) ist aus meiner subjektiven Perspektive als Assistenzprofessor/Dozent der Stockholmer Universität erzählt, der in Schweden und der Schweiz aufgewachsen ist und beide Kulturräume kennt. In diesem Sinn handelt es sich auch um ein Buch zur Rolle der Wissenschaft, der Bildung und ihrem Verhältnis zur politischen Aktion. Dabei geht es nicht nur um eine Disziplin wie die Umwelt- oder Klimawissenschaft, sondern um den Versuch, diese zusammenzudenken mit den anderen universitären Fächern: Philosophie, Politikwissenschaft, Ökonomie,
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Psychologie und Pädagogik etwa. Ich versuche in diesen Monaten auch, die Erfahrungen vom Münzplatz in meinen Unterricht an der Universität einzubauen, benutze Gretas Reden in meinen Seminaren zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit, und versuche mit den Studierenden durch Rollenspiele und andere künstlerische Forschungsmethoden zu verstehen, was Wissenschaftlichkeit und Wahrheit sind. Mitverantwortlich für den Auf bau eines neuen Bachelor-Studienganges lasse ich sie etwa Stücke zu den Gerichtsprozessen schreiben, die Kinder auf der ganzen Welt gegen ihre Staaten führen, weil diese zu wenig tun, um die Klimakrise aufzuhalten. Was ist überhaupt die Rolle der Universität in dieser gemeinsamen Geschichte? Die Abschnitte zur Universität sind vom Rest des Textes durch eine Markierung am Rand und die veränderte Schriftart abgehoben. An diese Geschichte gliedert sich dann ein gemeinsamer Rück- und Ausblick an, der viele Gespräche mit Loukina Tille und Isabelle Axelsson spiegelt, zwei der zentralen jugendlichen, global engagierten Klimaaktivist_innen aus Schweden und der Schweiz. Worum geht es der Bewegung und welche Forderungen gibt es? Was bedeuten »Klimagerechtigkeit« und »hört auf die Wissenschaft«? Und schliesslich: Welche Rolle und Aufgabe haben alle, auch die Erwachsenen? Von Anfang an waren Reflexionen auf das, was sich in einem rasenden Tempo abgespielt hat, ein wichtiger Teil der Bewegung. Dabei spielt die Achse zwischen Schweden und der Schweiz eine zentrale Rolle, und damit auch die Ideen und Aktionen von Loukina Tille und Isabelle Axelsson. Als sie anfangen zu streiken, sind sie noch Schülerinnen, die plötzlich ihre Klassenzimmer verlassen. Jetzt studieren sie Umweltwissenschaft und Kulturgeographie an der ETH in Zürich und an der Universität Stockholm. Loukina Tille aus Lausanne hat die Klimabewegung in der Schweiz mitaufgebaut. Schon ganz früh in Kontakt mit Isabelle und den Stockholmer_innen hat sie regelmäßig die globalen Sitzungen aller Streikenden geleitet, das erste internationale Treffen mit 400 Jugendlichen, unter anderem Greta und Isabelle, an der Universität Lausanne an die Hand genommen und die globalen Streiks mitorganisiert. Isabelle Axelsson hat sich etwa gleichzeitig dem Stockholmer Streik angeschlossen und zusammen mit Loukina Reisen zur EU in Straßburg geplant und durchgeführt, mit ihren »Peers« die globale Organisation aufgebaut und sich mit ihr bei den Konferenzen in Lausanne und beim World Economic Forum in Davos getroffen. Ohne die beiden und ihr Interesse für den Austausch mit der Wissenschaft und den Wissenschaftler_innen weltweit sähe die Bewegung anders aus.
Einleitung
Doch auch wenn Greta, Isabelle und Loukina einen großen Teil der weltweiten »Wissenschaftselite« der Klimawissenschaft hinter sich versammeln, von Uppsala und Stockholm bis Manchester, New York und Potsdam – die Reaktion durch die Politik bleibt bisher weitgehend aus. »Bist du glücklich über die Entwicklung?«, fragt eine Reporterin von der Financial Times, später, als eine Million Kinder streiken. »Ich bin glücklich, wenn ich die Jugendlichen sehe, die sich überall an meine Seite stellen und dasselbe tun wie ich. Nicht mehr mitmachen. Das macht mich glücklich«, sagt Greta. »Aber es ist ja noch nichts passiert«, fügt sie hinzu. »Es hat sich ja noch nichts verändert. Die Emissionen steigen, weltweit.« Auch in den reichsten Ländern wie der Schweiz, Deutschland und Schweden gehen sie kaum zurück. Schweden hat eine grüne Vize-Staatsministerin, als die Jugendlichen ihren Streik beginnen, und auch als ein halbes Jahr später am 15. März 15.000 Kinder vor dem rot-grün regierten Parlament ihre Wut an diese Regierung richten – und mit ihnen fast zwei Millionen vor über 100 Parlamenten weltweit. Sie streiken vor diesen Parlamenten, weil die Regierungen in Schweden, in Deutschland, Österreich und der Schweiz in diesem Sinn die Wissenschaft nicht ernst nehmen, also etwa die Wissenschaftler_innen aller Stockholmer Universitäten, die mehr und mehr auch auf dem Münzplatz auftauchen. Würde Schweden sich an das Pariser Abkommen halten, das fast sämtliche Staaten der Welt 2015 unterzeichnet haben, müsste das Parlament Gesetze erlassen, die diesen Ausstoß jedes Jahr um mehr als zwölf Prozent mindern, sagen die Wissenschaftler_innen der Universität Uppsala (Anderson et al. 2020). Die Jugendlichen streiken, weil die Regierungen mit ihrer Rede von »Klimaneutralität« oder »Netto-Null-Emissionen im Jahr 2050« das Pariser Abkommen gerade nicht einhalten; so sagen es zahlreiche Forscher_innen. Sie streiken, weil sie verstehen, dass die Bevölkerungen aller Länder in einen Aufruhr geraten und sich solidarisch zusammenschließen müssten, um ein würdevolles Leben für alle Menschen auf diesem Planeten zu ermöglichen. Und sie wissen, dass dies innerhalb der nächsten zehn Jahre geschehen muss. Eigentlich haben wir uns, also unsere Regierungen, auf die Einhaltung des Pariser Abkommens geeinigt. Dies verpf lichtet uns, alles dafür tun, um die Temperaturerhöhung deutlich unter zwei, wenn möglich unter 1,5 Grad zu beschränken. Der IPCC-SR1.5-Rapport, von allen UNO-Ländern angenommen, zeigt auf, dass wir dieses Ziel in sechs, sieben Jahren bereits verfehlen, wenn wir so weitermachen wie bisher: dass wir eine absurd winzige
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Menge an CO₂-Emissionen übrig haben (2020: etwa 350 GT). Und der GapRapport der UNO zeigt, dass die bereits jetzt etablierte und vertraglich geplante fossile Infrastruktur (Kohle, Öl, Gas) in den nächsten zehn Jahren ungefähr das Doppelte an erlaubten Emissionen ausstößt (UNEP Production Gap Report 2019). Wir sind auf dem Weg in eine viel wärmere Welt noch zu Lebzeiten der Kinder, die auf den Straßen stehen, mit bis zu drei Milliarden Menschen auf der Flucht vor unbewohnbaren, zu heißen Erdteilen (Xu et al. 2020), und mit großen Teilen der Gletscher und damit der Wasserversorgung weltweit geschmolzen. Deswegen sagen auch die Scientists For Future: Wir brauchen systemische Veränderungen, und wir alle müssen das Heft selbst in die Hand nehmen. Und die Füße auf die Straße stellen. Wie das gehen könnte, versuchen die nächsten Seiten zu skizzieren. Ein herzlicher Dank sei dabei an Jana Eriksson gerichtet. Sie ist die Fotografin vieler Bilder dieses Bandes und selbst Teil der Stockholmer Klimabewegungen. Vielem wird das Buch nicht gerecht werden. Einige wichtige Personen treten vielleicht nicht auf, weil ich ihnen von meiner Stockholmer (europäischen, erwachsenen) Perspektive aus nicht begegnet bin. Insofern handelt es sich nicht um eine journalistisch recherchierte Geschichte von Fridays- und Scientists For Future. Doch es ist zu hoffen, dass diese Erzählung dazu führt, dass am Ende deutlicher wird, worum es dieser Gruppe von Jugendlichen und Wissenschaftler_innen geht, und was dies für uns alle bedeuten kann – was unsere Rolle für die gemeinsame Zukunft ist.
Intergenerationelle Herausforderung und die Idee einer vereinten zivilgesellschaftlichen, globalen Bewegung Fridays For Future wurde von Greta zusammen mit Mina, Edit, Eira, Tindra und Morrigan am 7. September 2018 ins Leben gerufen. Es ist eine von Jugendlichen initiierte Bewegung, und das hat Konsequenzen. Wie der UNICEF-Text von Roger Hart (1992) so klug unterscheidet, gibt es eine ganze »Treppe« von intergenerationellen Zusammenarbeitsmöglichkeiten: von durch Jugendliche initiierte und nur von Jugendlichen durchgeführte Projekte bis hin zu von Erwachsenen initiierte und für Kinder geleitete. FFF ist ein von Jugendlichen initiiertes und geleitetes Netzwerk. Die Bewegung ist »youth led«, von Jugendlichen geleitet. Erwachsene können höchstens hel-
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fen – wenn sie gefragt werden; oder wenn sie sich als »Parents«, »Artists«, »Scientists« und so weiter selbst organisieren. So ist es eine Aufgabe der Erwachsenen, den Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass sie an sie glauben, an ihre Ideen und ihnen zutrauen, selbst agieren zu können. Dabei tritt eine universale Macht-Imbalance zwischen Kindern und Erwachsenen auf, so die schwedische Theaterregisseurin Suzanne Osten (2000), die mit dieser These die Kultur in ihrem Land geprägt hat wie sonst vielleicht nur Astrid Lindgren. Die »Grown-ups« können zuhören, auch helfen. Sie müssen aber vor allem, so die Grundidee des Buches, selbst weiter an der »Hand« der vereinten Klimabewegungen arbeiten, die aus den »Fingern« wie Fridays For Future, Extinction Rebellion, den NGOs und so weiter besteht. Es genügt eben nicht, den Jugendlichen auf die Schultern zu klopfen. Wie wäre es, wenn wir uns als »People For Future« zusammentun, in einer globalen, vereinten Bewegung, der sich jeder Mensch einfach anschließen kann (siehe Anhang)? Einer Bewegung, die die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes und den Betrieb der deutschen Kohlekraftwerke stoppt, die Schweizer Banken an der Finanzierung der fossilen Industrie hindert und zusammen weltweit eine nachhaltige, gerechte Gesellschaft auf baut, die für die Bedürfnisse aller sorgt – mit einer regenerativen Landwirtschaft, die vor allem auf pf lanzlichen Produkten auf baut, einem öffentlichen fossilfreien Transportsystem, einem weltweiten erneuerbaren Energiesystem und einer Wirtschaft, die alle auf blühen lässt und sich im Rahmen der planetaren Grenzen hält; so ungefähr das »Zukunftsbild«, an dem die Scientists For Future arbeiten. Und eine nachhaltige Demokratie stärkend, die gerecht ist gegenüber dem globalen Süden und welche strukturelle Dominanzverhältnisse in Bezug auf Gender, Klasse und Ethnizität beseitigt. Wenn man genau hinsieht, ist es genau diese Bewegung, die in den letzten zwei Jahren entstanden ist.
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Die Unbekannten Greta (am 15. März, dem Tag des ersten globalen Streiks, auf dem Münzplatz in Stockholm): »Wir haben das Problem der Klimakrise nicht verursacht, es war plötzlich da. Und wir müssen damit umgehen, unser Leben lang. Wir akzeptieren nicht, dass ihr nichts tut. Wir akzeptieren es nicht!«
Es ist Mitte Juli 2018. Ein gewöhnlicher Tag in den Sommerferien. Loukina Tille spaziert in der Nähe von Lausanne durch die Gegend, klaut einige Kirschen, denkt an ihr nächstes Schuljahr, das das letzte sein wird. Im nächsten Sommer wird sie an die Uni wechseln, nach Zürich vielleicht. In den Nachrichten f limmern die Bilder von Waldbränden vorbei. Es ist unerträglich heiß. In Schweden brennen die Bäume wie Streichhölzer. Auch Miri in St. Gallen hört es, setzt sich in den »Schwarzen Engel« und trinkt einen großen Schluck von einem erfrischenden Saft. Wie soll das nur weitergehen, denkt sie. Und auch Jonas in Zürich macht sich Gedanken, während die Menschen von den hohen Mauern der Gehwege in die Limmat hüpfen, um sich abzukühlen. In Uganda sind es Leah, Hilda und Vanessa, in Australien sind es Toby und Jean, auf den Philippinen Mitzi, in Brasilien Valentina und Joao, in England Anna und Lilly, in Amerika Isri und Jamie, Saoi auf Irland, Dylan in Schottland, in Italien David und Annika und Leonie in Deutschland, die sich Sorgen machen. Sie alle sind um die 17, dieselbe Generation. Auch in Holland bildet sich in Balders Gesicht eine große Falte. Er wird in der nächsten Woche nach Stockholm ziehen, einige Monate als Erasmus-Student da verbringen. Und dort, in ganz verschiedenen Teilen der schwedischen Hauptstadt, sitzen Tindra, Isabelle, Ell, Simon, Mina, Minna, Edit, Eira, Morrigan, Mayson, Melda, Edward, Astrid, Vega, Ebba und Greta; und und und. Sie kennen
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Gemeinsam für die Zukunft – Fridays For Future und Scientists For Future
sich nicht, genau so wenig wie die anderen Jugendlichen; aber sie werden sich kennen lernen. Einige gehen seit Jahren auf dieselbe Schule, ohne sich je zur Kenntnis genommen zu haben, sind in den Geschäften der Stadt unzählige Male aneinander vorbeispaziert. Sie teilen dieselbe Angst und Wut. Die Erwachsenen machen die Umwelt kaputt. Sie zerstören systematisch den Planeten. Auf dem Münzplatz am Rand der Stockholmer Altstadt ist es derweilen ruhig. Wenn man genauer hinsieht, kann man erahnen, dass die zwei riesigen Blumentöpfe leicht angespannt sind. Sie warten. Die übergroßen Steinklumpen, aus denen die königliche Schlossmauer besteht und die den Rand des Platzes bilden, sehen zu ihnen herüber. Auch sie warten. Es ist etwas im Anmarsch. Nicht nur ein Waldbrand. Sie warten auf die »Freitage«, die kommen werden. Und die ihnen eine wichtige Rolle geben. Fridays For Future gibt es noch nicht, aber es gibt sie alle als einzelne mit ihren Sorgen. Sie sitzen in ihren Zimmern, und auf ihren Handy-Bildschirmen f limmern Bilder von Überschwemmungen und von Dürren vorbei, absurde Bilder von abgeholztem Wald und kahlen Kohlegruben. Und von Politiker_innen, die nichts tun. Sie fühlen sich noch machtlos. Was sollen sie denn anstellen? Wie sollten sie, die einzelnen, noch nicht einmal Stimmberechtigten, etwas verändern? In diesem Herbst, der bald anbricht, werden in Stockholm die Abende schnell kürzer, auch auf dem Münzplatz vor dem Schloss. Dann fällt das Abendlicht in die Fenster der teuersten Wohnungen des Landes, die man vom Platz aus sehen kann. Sie bieten einen Blick auf die Meeresbucht, die die Innenstadt von Stockholm prägt. Da stehen die merkwürdigen Gegenspieler_innen dieser Teenager und genießen das, wofür man so viel bezahlen muss: die Erfahrung einer atemberaubenden Natur. Es sind hier und in ähnlichen Häusern in Sydney, New York, Tokyo und Frankfurt die Chefs von BP, Exxon, Shell, aber auch die Finanzspekulanten, die mit Kohle, Gas und Öl Geschäfte machen, die Medienmogule, einige Politiker_innen auch. Ihnen gehört ein großer Teil des Vermögens, auch hier in Schweden. Sie können steuern, worin investiert und was produziert wird, und wie. Bald werden die Kinder sich zu einer Schar zusammensammeln, die an Anzahl diesen Mächtigen der »fossilen Gesellschaft« gleichkommt. Sicher wird auch das ein oder andere Kind dieser Verantwortlichen dabei sein, in den Demonstrationszügen. Aber der noch viel größere Akteur ist viel unscheinbarer. Es ist der Rest der Bevölkerung, die da an den Kindern auf dem Platz vor dem Schloss
Die Unbekannten
vorbeispaziert, eine bunte Masse von Mitbürger_innen. An sie wenden sich diese Jugendlichen, von Anfang an. Sie wollen die Verhältnisse ändern, indem sie sich in das Getriebe der Macht hineinstellen, mit ihren Körpern, und es aus dem Tritt bringen. Oft, wenn ich diesen Jugendlichen in den nächsten Monaten begegne, denke ich: wie viel Mut sie haben, die sie sich bei all den Ängsten aufraffen, jede Woche, und sich jeden Freitag auf den Münzplatz stellen (und auf all die Plätze weltweit), sieben lange Stunden lang, mögliche Strafen durch die Schulen in Kauf nehmend. Und, so geht es mir dann durch den Kopf: Es braucht Masse. Viele, die jetzt noch zögern, aber interessiert sind, müssen sich ihnen anschließen. Zwischen den Teenagern und den direkt Verantwortlichen für diese fossile Wirtschaft, Ideologie und Politik gibt es also uns alle anderen. Von ihnen handelt dieses Buch auch und vor allem: die, die kurz an das Klima denken, besorgt die Augenbrauen zusammenkneifen, und dann nicht recht wissen, was sie tun sollen, und weitermachen wie gewöhnlich. Wenn sich alle an die Seite der Kinder stellen, selbst streiken oder politisch handeln, kann sich der Lauf der Geschichte verändern. Aber noch sind wir nicht so weit. Es gibt noch gar nichts, auf das wir antworten könnten. Es ist noch Juli 2018, und die Jugendlichen wissen nichts voneinander. Doch eine unter ihnen hat etwas geplant. An diesem selben Sommertag, an dem Loukina die Kirschen verspeist und Isabelle im Eiskiosk arbeitet, sitzt Greta auf den Holzplanken ihrer Veranda in Stockholm, erzählt sie später, vor sich ein Holzstück, das ein Schild werden soll. 2,50 Euro hat es gekostet. Was darauf geschrieben stehen soll, ist klar: »Schulstreik fürs Klima«. Aber wie soll sie die Buchstaben platzieren – ein gewisser Perfektionismus meldet sich. Sie malt sie vor, nur leicht. Das »für« muss klein zwischen den beiden anderen Wörtern Platz nehmen, die es von oben und unten einklemmen. Alles ist symmetrisch, klar und deutlich. Genug ist genug, sagt sie sich. Wenn die anderen nichts tun, dann tu ich was.
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Erster Teil: Die Rebellion der Jugendlichen Vom Münzplatz in Stockholm zum globalen Streik
Kapitel 1: Die schwedischen Anfänge August – Oktober 2018: Eine Idee nimmt Form an Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran Oktober – November: Ziviler Ungehorsam und Gesetze der Menschlichkeit Kapitel 3: Das Fundament November – Dezember: Der (klima-)wissenschaftliche Hintergrund Kapitel 4: Die internationale Bewegung entsteht Dezember – Januar 2019: COP-Treffen und Klimagerechtigkeit Kapitel 5: Davos und das World Economic Forum Januar – Februar: Was ist wertvoll und was ist eine Wissenschaft der Ökonomie? Kapitel 6: Der Aufstand Februar – April: Der erste globale Streik, die Belagerung von London und die Gründung von »Scientists For Future«
Der Münzplatz (»Mynttorget« auf schwedisch) – eingerahmt vom schwedischen Parlament links und rechts vom königlichen Schloss.
Kapitel 1: Die schwedischen Anfänge Eine Idee nimmt Form an Vorbereitungen Der schönste Raum unseres Instituts an der Stockholmer Universität hängt in fünf Metern Höhe über die Fassade hinaus in einen kleinen Wald hinein, umgeben von drei Glaswänden. Hier soll das neue Semester vorbereitet werden. Vor allem ein Workshop zum Thema Klimakrise und Nachhaltigkeit will nun im Detail geplant sein. Hast du eine Idee, wende ich mich an das Schaf, das hinter der Wand im Wäldchen steht und mich ansieht. Wie bloß die Dringlichkeit der Klimakrise vermitteln, ohne dass die Studierenden die Ohren zuklappen? So, dass sie, die zukünftigen Lehrer_innen von Schweden, sich getrauen, dem Mitgefühl für die Mitmenschen und der Faszination für die Natur Raum zu geben? Was denken eigentlich die Schulkinder selbst über unsere Art, mit der Natur umzugehen, global? Da ansetzen; das könnte funktionieren. Schnell festhalten. Computer aufgeklappt, und mein Blick fällt auf eine Zeitungsnotiz im Netz. Ein Kind sitzt allein vor dem Parlament, im Zentrum der Stadt, keine zwanzig Minuten entfernt, und streikt.
Der Streik vor dem Streik – das erste Treffen Als ich einen Tag später Greta zum ersten Mal bei ihrem Streik vor dem Parlament besuche, gibt es Fridays For Future noch nicht, nur die grundlegende Streikidee. Sie sitzt zwischen den beiden Teilen des pompösen Parlamentsgebäudes, jeden Tag während der letzten drei Wochen vor den schwedischen Wahlen, nicht nur an den Freitagen. Es ist ein Dienstag, im späten August, und es ist unerträglich warm. Ich setze mich hin und frage sie, was sie uns allen sagen will. Nachdem ich die Notiz in der Zeitung gesehen hatte, fragte
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ich meine Universitätskolleg_innen: Sollen wir da vorbeigehen? Wir sollten zumindest hinhören. Greta hatte sich am Montagmorgen zuvor das Schild geschnappt, auf dem nun schwarz auf weiß in großen Buchstaben »Schulstreik für das Klima« steht, hatte sich einige Antworten überlegt, die sie Journalist_innen geben könnte, erzählt sie mir später, vernünftige Kleider für den Streiktag ausgewählt und sich mit dem Fahrrad zum Parlament begeben, hatte sich einen Platz ausgeguckt mitten im Zentrum der schwedischen politischen Macht, ihre Yogamatte ausgepackt und sich dann eben allein auf den Boden gesetzt. Jetzt sitzt sie da und sagt: Dies hier ist eine Krise. Einige andere Jugendliche und zwei, drei Erwachsene sitzen etwas weiter weg. Eine Krise? Ja, eine Krise. Ein A4-Blatt liegt vor ihr, voll mit wissenschaftlichen Fakten, die dies aufzeigen; nämlich was wir Erwachsene, oder einige von uns Menschen, in den letzten fünfzig Jahren mit der Umwelt angestellt haben.
Erst viel später, im Januar, als Greta bereits weltberühmt ist und Fridays For Future sich global etabliert hat, lese ich dieses Papier aus den ersten Tagen wirklich durch. Vor dem Parlament in der Hitze des Spätsommers f liegen meine Augen nur drüber hinweg. Ich sehe einige bekannte und einige völlig unbekannte Zahlen und Kommentare. Die ganze Seite ist eng bedruckt. Wir müssen in den reicheren Ländern die Emissionen mit mindestens 10–15 Prozent reduzieren, jedes Jahr, von jetzt an. Wir Menschen haben 80 Prozent der Säugetierpopulationen ausgerottet, zu Land und
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zu Wasser. Wir sind daran … So geballt ist die Information, dass es einem ganz schwindelig werden kann. Es sind nur Buchstaben und Zahlen, aber dahinter ein Leiden, das Menschen anderen Menschen und Tieren antun. Wie damit umgehen? Vielleicht auch deswegen braucht es Monate, bis ich es genau studiere, dieses Papier. Es ist einfach schwer zu verdauen. Es ist aber voll mit dem Wissen, das der Staat verbreiten und die Schulen den Kindern vermitteln sollte. Wochen später, als wir uns jeden Freitag austauschen und sich uns eine Klimawissenschaftlerin von der Universität anschließt, wird mir bewusst, wie belesen Greta ist; aber nicht nur, dass sie die Fachliteratur kennt, sondern auch die Zusammenhänge versteht und vor allem gewichten kann: Was ist das Zentrale; was sind die größten Risiken; was ist unsere Rolle als Erwachsene, die eine Zerstörung anrichten, die wir unterlassen könnten? Ich bin es, der hier lernt, und es wird Monate dauern, mit wöchentlichen Gesprächen, bis ich ganz verstanden habe, worum es ihr geht. Es sind vor allem Risiko-Einschätzungen, die sie aufzeigt: Mit welchen Zahlen operieren eigentlich die Politiker_innen, die keine zehn Meter von uns in das Parlament gehen; und ist das zu verantworten oder machen sie es sich bequem, ignorieren Risiken wie Kipppunkte, setzen auf nicht vorhandene Technologien, schließen ihre Augen vor den UNO-Rapporten und vor der intergenerationalen und globalen Gerechtigkeit? Wälzen sie einfach die Aufgabe einer Gesellschaftsumgestaltung auf die Generation der Kinder ab? Ich bespreche die Auswahl und die Bedeutung der Fakten in den nächsten Wochen mit meinen Kolleg_innen an den verschiedenen zuständigen Instituten der Universität. Sie geben den jugendlichen Streikenden recht. Aber für den Augenblick genügt es Greta, zu sagen, dass wir uns in einer Krise befinden und dass die Erwachsenen dies auch so darstellen sollen. Ah, sag ich, und rede noch etwas weiter. Ich habe Kiwi-Smoothies mitgebracht, in einer Plastikverpackung, schäme mich wegen des Plastikmülls, den ich angeschleppt habe und breche nach einer Weile wieder auf, aufs Äußerste verwirrt, berührt und mitgenommen. Der Ernst und das Durchschauen der wissenschaftlichen Grundlagen haben eine leise, aber enorme Kraft. Vor allem, denke ich: Diese streikenden Jugendlichen sitzen da nicht nur als sie selbst, sondern sie geben einer Idee Platz; nämlich, dass niemand dieses Tun der Welt akzeptieren muss. Man kann sich, selbst wenn man klein ist, in die Mitte dieser Maschinerie setzen, sich weigern, den Regeln der Erwachsenen zu folgen, und die Schule ausfallen lassen.
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Eine halbe Ewigkeit später, es ist inzwischen bitterkalter Winter und die Rebell_innengruppe hat 20 Freitage lang auf dem Münzplatz vor dem Parlament gestanden, werden wir alle just dort vor dem Parlament einen Schneeelefanten bauen, oder genauer gesagt seinen linken Fuss, und über die Journalist_innen lachen und schimpfen, die ihre investigativen Fragen stellen: ob die Jugendlichen ferngesteuert seien, Geld mit ihrem Aktivismus verdienen und so weiter. Greta und die anderen werden nach Katowice gefahren sein, nach Straßburg und nach Davos und ihre weltweit verbreiteten Reden gehalten haben. Aber damals, an diesem Augusttag wissen wir natürlich nichts von alledem. Noch sitzen nur einige Kinder zwischen den Steinmassen der politischen Macht. Wann könnten sie mit ihrem Streik auf hören, frage ich mich. Auf jeden Fall muss ich zurückkommen, und mehr hören von denen, um deren Zukunft es geht. Und das ist schon in diesen ersten Tagen nicht mehr nur Greta. Denn eine um die andere hat sich in diesen Tagen zu ihr hingesetzt. Tindra, Mina, Edit, Eira, Morrigan, Melda, Mayson und so weiter. Es werden nicht viel mehr, aber sie machen den ganzen Unterschied aus. Gretas Idee hat Fuß gefasst. Die Kerngruppe der Jugendlichen hat sich gefunden; und sie schmieden Pläne.
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Der Anfang von Fridays For Future – an einem Samstag Und so beginnt die eigentliche Geschichte von Fridays For Future – an einem Samstag. Da geht der dreiwöchige Streik der Kinder über in etwas Neues, eben in #FFF, eine Bewegung. Dass es dazu kommt, liegt daran, dass die Schwed_innen am Tag darauf, dem Sonntag, ein neues Parlament wählen sollen – und deswegen hat ein Zusammenschluss an Klima-Aktivist_innengruppen zu einer Demonstration aufgerufen. Am Rande der Innenstadt, im berühmt-berüchtigten Rålambshovs-Park, befindet sich in Stein gehauen ein kleines Amphitheater. Dort haben wir uns alle versammelt, 1.000 Leute vielleicht, und lauschen Reden zur Klimakrise und Gesang.
Auf einmal werden die Streikenden rund um Greta angekündigt, die mittlerweile bekannt ist, nach ihren drei Wochen des täglichen Streikens. Mit ihr spazieren noch drei weitere Schulkinder auf den Platz. »Hej.« »Hej«, antworten alle. »Nehmen Sie bitte ihre Telefone hervor«, sagt Greta. »Ich werde jetzt auf Englisch wechseln und etwas ankündigen.« Pause. Ich nestle mein Telefon hervor und drücke auf »Einspielen«. Sie sagt, direkt und klar, auch auf Englisch, aber noch sehr leise in diesen ersten Wochen, »hej, ich heiße Greta Thunberg, dies sind Morrigan, Edit und Mina, und wir werden von jetzt an jeden Freitag vor dem Parlament streiken. Wo immer du auch bist auf der Welt, setze dich vor dein Rathaus oder Parlament und streike mit uns, jeden Freitag. Bis die Regierungen auf der Linie des Pariser Abkommens sind. Jede wird
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gebraucht, jeder ist willkommen. Danke.« Viele posten das Video. Und einige von denen, die es sehen, werden anfangen zu streiken. Und sie sitzen nicht in den Vororten von Stockholm, sondern in Brüssel, Zürich, Berlin, Melbourne, Rio. Greta geht unterdessen nach Hause und bastelt selbst einen kurzen Film, der auch noch nach Monaten als Topmeldung an ihren Twitter-Account angeheftet ist. In einem kleinen Wald spielt sie ihre Grundidee ein: Setzt euch vor die Parlamente, jeden Freitag; die Lage ist so akut, dass wir Kinder handeln müssen. Sie schließt diesen Aufruf mit dem Hashtag #FridaysForFuture ab, den sie sich ausgedacht hat. Etwas mit Zukunft soll es sein, und dann die Alliteration mit den Fs – der Name der Bewegung ist geboren. 28. August: Der französische Umweltminister Hulot tritt aus Protest gegen Emmanuel Macrons Klimapolitik zurück.
Der Münzplatz Die Streikenden haben zwei Dinge erfunden, die Streikidee – und den Münzplatz als ein ganz spezieller Ort, eine Art demokratischer Raum. Hier wird die Bewegung entstehen. Die Polizei weist ihnen den Platz zu. Sie sollen nicht direkt zwischen den Parlamentsgebäuden sitzen: Der Münzplatz liegt direkt vor dem Parlament, oder dahinter, wenn man vom Sitz der Regierung kommt, dem »Rosenbad«; eingeklemmt zwischen königliches Schloss, Altstadt und eben Parlament. Zu Beginn im September tasten sich die Streikenden noch voran. Alles ist unbekannt. Weil es sich um einen Schulstreik handelt, wird während der Schulzeit gestreikt, von acht Uhr am Morgen bis drei Uhr am Nachmittag. Wie sollen überhaupt die sieben Stunden auf dem Platz genutzt werden? Wenn schon nicht Schule, was dann? Oft sitzen sie da, ruhig an die Mauer gelehnt vor dem Parlament und genießen die Herbstluft, die etwa zehn Stammstreikenden der Fridays For Future-Bewegung. Ein Ernst prägt die Situation. Ihnen ist bewusst, dass sie in der Schule sein müssten und dass sie ein Risiko eingehen; Strafen sind möglich. Einige Fische springen aus dem Wasser des Mälarsees; die Wachablösung vor dem königlichen Schloss spaziert vorbei. Hier und da kreist eine Möwe über die Köpfe, oder sogar ein Meeresadler. Manchmal Stille für viele Minuten. Dann schlägt jemand ein Spiel vor. Oder jemand erzählt eine Geschichte, Greta studiert ein Schulbuch. Die Politiker_innen gehen vorbei und verschwinden
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in ihren Parlamentarier_innen-Büros, ohne zu grüßen. Busse fahren vorbei. Manchmal hält ein Auto, stellt eine Kiste Bananen hin, hupt freundlich und fährt wieder davon.
Eine Generation bäumt sich auf Es ist eine ganze Generation, die sich langsam aber sicher auf bäumt. Schon seit einigen Monaten brodelt es. In den USA ist die Sunrise-Bewegung am wachsen. Sie wird in wenigen Wochen die junge Parlamentsabgeordnete aus New York, Alexandria Ocasio-Cortez, dazu bringen, einen »Green New Deal« vorzuschlagen: einen groß angelegten Entwurf, wie innerhalb von zehn Jahren eine Null-Emissions-Gesellschaft im Energiesektor erreicht, grüne Jobs geschaffen und soziale Sicherungssysteme eingeführt werden können. Die Jugendlichen beäugen auf dem Münzplatz die Idee des »Green New Deal« mit interessiertem und kritischem Blick. Ist das ein ernsthafter Versuch, die Klimakrise zu bewältigen oder nur eine Wirtschaftsankurbelungsidee? Einige der Sunrise-Teenager haben außerdem seit einigen Monaten den amerikanischen Staat in einen formellen Prozess gezwungen, weil dieser der Klimakrise nicht gerecht wird und das Leben zukünftiger Generationen auf das Spiel stellt (»Juliana v US«; siehe www.youthvgov.org). Auch in Holland verklagen Teenager die Regierung, weil sie zu wenig tut angesichts einer katastrophalen Klimakrise. Und bekommen recht. (Zur Möglichkeit, die Gesetzgebung durch Prozesse von Jugendlichen drastisch zugunsten einer nachhaltigen Zukunft zu verändern: Holthaus 2020.) In der Nähe von Utrecht spaziert die zehnjährige Lilly (@lillyspickup) herum und wird berühmt mit ihren lustigen Video-Clips, die alle dazu auffordern, Plastikmüll zu verhindern und einzusammeln. Greta besucht sie in diesen ersten Wochen und streikt mit ihr. Lilly wird zu einem festen Bestandteil von FFF und trifft im EU-Parlament auf die Jugendlichen aus Schweden. Doch die wissen noch nichts von ihr, und noch nichts von einander; denn sie sind noch nicht auf den Münzplatz gekommen. Dabei stehen diese Jugendlichen auf starken Schultern. Schon seit Jahrzehnten sind es vor allem von Frauen und von der indigenen Bevölkerung geleitete Klimagerechtigkeits-Graswurzelbewegungen im globalen Süden, die ihnen den Weg bahnen. Sie stellen sich buchstäblich in den Weg der Öl- und Kohleindustrie in Ecuador, Kanada, Australien oder rund um Manaus im Regenwald von Brasilien (dazu Margolin 2020).
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Die Erfindung Was erwartet die Jugendlichen auf dem Münzplatz? Vor allem eine Grundidee. Greta hat von Anfang an das etabliert, was den Kern der jungen Klimabewegung ausmachen wird. Es wird noch Wochen und Monate dauern, bis ich dies ganz verstehe, so vertraut sind mir alte Denkmuster von Aktivismus und von politischem Engagement. Sie hat etwas Neues erfunden. FFF ist im besten Sinn des Wortes eine Erfindung. Und sie hat nur wenige Zutaten: die Schulkinder, vor dem Parlament; am Freitag streikend; mit ihrem Infopapier; dem Hashtag #FridaysForFuture; und dem Schild an ihrer Seite. Das klingt zunächst selbstverständlich. Aber es ist eine sehr spezielle Kombination von Zutaten. FFF als Bewegung ist an jemanden gerichtet, spricht die Machthabenden an: Sie setzen sich vor das Parlament. Sie blockieren nicht nur Benzinstationen oder Kohlekraftwerke, streiken nicht zuhause oder vor der Schule, sondern vor der Macht, den Machthabenden. Diese sollen sich ändern. Sie getrauen sich, sich direkt an die zu richten, die in der Verantwortung stehen. Dadurch können sie die ganze Energie von Hunderttausenden fokussieren, werden die Stimme einer Generation, die sich auf bäumt. So tun es auch Luisa und Jakob in Berlin bei Minister Altmaier, so tun es die Schweizer Streikenden, wenn sie vor dem Parlament in Bern sitzstreiken. Dies ist neu. Wir hatten mit »Occupy« zehn Jahre zuvor allgemein Plätze okkupiert, aber nicht Parlamente. Die Jungen etablieren direkt eine Kommunikation mit denjenigen, die verantwortlich sind. Das gibt der Bewegung ein Ziel, nicht nur räumlich, wo man sich in den Städten versammeln soll, sondern auch politisch: Die Regeln müssen sich ändern, sagt Greta schon früh, bei ihrer ersten Rede in Helsinki: »The rules have to change«. Zutat Nummer zwei: Sie rebellieren. FFF ist eine Rebellion, weil Greta den Freitag wählt. Es ist ein wirklicher Streik, keine Demonstration. Schluss mit Riesendemonstrationen der 90er und 00er, die oft einfach nach einiger Zeit aufgehört haben. Der Gesetzesübertritt des Streikes – es herrscht Schulpf licht – markiert die Dringlichkeit und die Entschlossenheit der Jugendlichen, die sich weigern, in einem System mitzumachen, das ihre eigene Zukunft unmöglich macht. Auch das ist neu (oder zumindest selten gesehen – während der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gab es ähnliche Konf liktstrategien durch Jugendliche): ein kollektiver Akt zivilen Ungehorsams von Kindern. Der Schulstreik ist dabei eine Rebellion, die ohne Gewalt vor sich geht und der sich jede_r anschließen kann. Außerdem kann
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man allein anfangen; niemand kann wirklich allein demonstrieren. Die dritte Zutat: Greta legt immer ihre A4-Seite mit den Fakten neben sich auf den Boden. Worum es den Kindern geht, ist nicht ein politisches Manifest, in dem sie nur für eine Haltung und spezifische Maßnahmen argumentieren, sondern der Hinweis auf die Wissenschaft, die überwältigende Klimaforschung, die IPCC-Rapporte und die Ziele, auf die sich alle Staaten im Pariser-Abkommen verpf lichtet haben. Das ist nicht verhandelbar. Allen steht so ein radikaler Kompass zur Verfügung, auf den die Weltgemeinschaft sich schon geeinigt hat. Außerdem wird FFF enorm volksbildend: Greta und die Mitstreikenden verbreiten an hunderttausende Junge ein Wissen um die zentralen Fakten, nicht nur zu den Mechanismen hinter der Erderwärmung, sondern überhaupt wie es um unser Verhältnis zur lebendigen Natur steht. Sie kann mit dem Fakten-Papier darauf hinweisen, dass sie ein Bildungssystem bestreikt, das sich selbst nicht ernst nimmt. All das geht gegen alle früheren politischen Bewegungen, die sich schnell in Policy-Dispute verstrickt und über Maßnahmen und kaum über Tatsachen geredet haben. Viertens: Sie hat ihr Schild dabei, immer gut sichtbar. Das heißt, dass sich die Jugendlichen nicht nur an die Macht wenden vor dem Parlament, sondern auch in die andere Richtung an die gesamte Bevölkerung mit der Aufforderung, sich ihnen anzuschließen. »Jede ist willkommen, jeder wird gebraucht.« Jeder Mensch, der vorbeigeht, die gesamte Öffentlichkeit, ist adressiert. Es gilt buchstäblich, keine Schwellen zu übersteigen. Man muss nur stehen bleiben. Fünftens: #FridaysForFuture etabliert Greta als Hashtag, nicht als Verein oder Organisation. Die Jugendlichen werden die sozialen Medien des Netzes verwenden, wie vielleicht keine Bewegung zuvor. Sie bilden eine Graswurzelbewegung, keine hierarchisch organisierte NGO. Buchstäblich alle Kinder auf der Welt können und sollen dabei sein. Es ist eine Generation, die aufsteht. Bei den schwedischen Wahlen vom 8. September erreichen die Sozialdemokraten 28 Prozent, die Moderaten/Bürgerlich-Konservativen 19, die rechtsnationalen Schwedendemokraten 17, die grünliberale Zentrumspartei 8, die Linke 8, die Christdemokraten 6, die Liberalen 5 und die Grünen 4 Prozent. Die Verhandlungen beginnen und werden bis in den Januar andauern, bis es zu einer erneuten grün-roten Regierung kommt, unterstützt von Liberalen und Grünliberalen.
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Die ersten Jugendlichen schließen sich an – die Rebell_innenbande findet sich In diesen Tagen bildet sich das, was für die nächsten Monate und Jahre eine eng zusammenarbeitenden, kleine, aber sehr spezielle Gruppe wird – die Rebell_innenbande vom Münzplatz. Zuerst sind es fünf, schließlich zehn Jugendliche, die die Weltbewegung ins Rollen bringen. Die Medien, die nur auf eine von ihnen fokussieren, verpassen die eigentliche Hauptperson: die Jugendgruppe, von der Greta ein Teil ist.
Es ist ein Freitag im September, ein früher Morgen. Greta kommt wie immer um acht Uhr auf den Platz. Etwas später spazieren aus der Altstadt ihre »Stammstreikenden« herbei, wie sie schnell genannt werden. »Ich habe in der Zeitung einen Artikel über Greta gesehen und dachte: Sie kann doch nicht ganz allein dasitzen.« »Ja, ich habe es auch in der Zeitung gesehen. Lange wusste ich um die Klimakrise, aber nicht, was man machen soll. Es gab keinen Ort, zu dem man gehen konnte. Da dachte ich sofort, da geh ich hin. Auf Tasten zu drücken für Petitionen, das rettet ja nicht die Welt.« Viele von ihnen sagen, dass sie gesehen haben, dass da ein Kind, eine Gleichaltrige auf dem Boden sitzt, weil das Klima sich erwärmt und die Umwelt und die Mitmenschen leiden. Und dass sie das nicht akzeptieren können. Einige haben auch den Tipp zum Streik von ihren Großmüttern erhalten. Und so set-
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zen sie sich dazu, zögernd zuerst, dann bestimmter. »Wir hatten eine Themenwoche dazu, eigentlich so über den Weltuntergang. Und dann gab es die Pause. Und dann ein neues Thema. Das fühlte sich surrealistisch an. Bei einem solchen riesigen Problem.« »Und je länger wir dasaßen, umso öfter kamen die Medien mit all ihren Fragen an uns, und wir hörten ja, was Greta sagt und wie schlimm es aussieht.« »Zuerst wollte ich nur drei Wochen hier sitzen. Aber wenn man versteht, wie ernst die Lage ist, da kann man ja nicht auf hören. Und da haben wir weitergemacht. Ich ging zur Schulleitung und habe gesagt: Ich komm’ übrigens nicht. Das ist das letzte Jahr im Gymnasium, aber ich muss Prioritäten setzen.«
Eigentlich ist kaum jemand von Gretas Mitstreikenden »nur« ein_e Umweltaktivist_in. Sie kommen nicht nur wegen des Klimas oder der Umwelt auf den Münzplatz; sondern »auch« wegen des Klimas. Die meisten sind hier, weil etwas an der Gesellschaft nicht stimmt, wie sie sagen, weil sie das Gefühl haben, dass die Schule die wirklichen Fragen beiseitelässt und weil sie das Wegschauen der Politiker_innen nicht mehr aushalten. Den sozialen Aspekt, Klimagerechtigkeit, verankern sie früh in den Texten, die sie schreiben. Und es geht ihnen um wirkliche Veränderung. »Es wäre so heftig, wenn so ungefähr ganz Stockholm streiken würde. Wenn wir die Gewerkschaften auf unsere Seite bekommen. Wenn alle Bankleute nicht zu ihrer Arbeit gehen. Dann gibt’s ein Problem.« Die Klimakrise sehen viele so als nur einen
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Aspekt von einem Gesamtbild von Problemen und zu verändernden Strukturen und Haltungen, den Tieren und Mitmenschen gegenüber. »Warum sind nicht einfach alle freundlich zueinander?«, fragt jemand. Kaum zu glauben, dass die Menschheit sich selbst abschafft. »Und warum macht die Politik nicht ihren Job? Das wäre doch ganz einfach ihre Hauptaufgabe: Regeln und Gesetze finden, die Sicherheit geben. Aber sie sehen die Krise gar nicht, rennen in die falsche Richtung. Deswegen sagen wir stopp. Darum geht es uns.« »Wieso gibt es keine Veränderung? Weil es sich nicht lohnt?« »Was ist das für ein dummes Argument? Okay, es kostet etwas, alles umzustellen, aber dafür haben wir einen lebenswerten Planeten. Das ist doch was.« Of t an diesen Freitagvormittagen bleiben einzelne Passant_innen stehen, geben einen zustimmenden Kommentar, oder einen kritischen, und spazieren weiter. Wir genießen die Sonnenstrahlen. Manchmal bringt jemand etwas zum Ausdruck, was auf dem Münzplatz als Grundton auch anwesend ist, die Sorgen, die Verzweif lung und das fachliche Interesse für die Zukunft. Ist es überhaupt möglich, die Klimaerwärmung bei 1,5 oder zwei Grad aufzuhalten oder setzen sich selbst verstärkende Effekte ein? Was sagt die Wissenschaft eigentlich – sind wir auf dem Weg zu einer drei, vier oder sechs Grad wärmeren Erde? Wann wird dies eintreffen? Was bedeutet das für die Jugendlichen rund um den Globus? In diesen Situationen merke ich, wie wichtig es für mich ist, genaue Informationen einzuholen und die Argumente für die verschiedenen Zukunftsszenarien wirklich zu verstehen. Es wäre nicht gut, etwas schönzureden, aber dramatisieren will ich auch nichts. Ein Netzwerk müsste her, bestehend aus den klügsten Klimawissenschaftler_innen von meiner Universität, denke ich, und von anderen Universitäten auch. Und so entsteht in diesen ersten Wochen die Idee zu den Scientists For Future. Ich schreibe an eine bunte Mischung aus Professor_innen aus den verschiedensten Fachbereichen eine Anfrage und bitte sie, die Jugendlichen zu unterstützen. Es wird dauern, bis das akademische Umfeld wirklich reagiert. Manchmal stehe ich selbst mit einem Scientists For Future-Schild auf dem Platz. Ich will markieren, dass ich die Universität repräsentiere. Ängsten und Traurigkeit kann man am besten mit Wissen begegnen, denke ich, und damit, dass wir alle auf dem Platz verstehen, welche Szenarien es gibt. Was braucht es, um diese Maschinerie der »fossilen Gesellschaft« aufzuhalten? Wie kommen wir heraus aus der Krise? Aber dann wechseln die Jugendlichen wie so oft von der Seriosität zum Spielerischen und knobeln an einer Idee, wie die Gruppe auch von zuhause
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aus miteinander kommunizieren könnte, indem sie alle gigantische Schnüre durch den Himmel von Stockholm spannen (und wir finden Bilder im Netz von einer Zeit, in denen der Himmel vor lauter Telefonschnüren tatsächlich kaum zu sehen war). Doch noch etwas entsteht auf dem Platz. »Es ist eine Krisensituation«, sagen sie. »Da können wir nicht plötzlich auf hören, hierherzukommen. Und dann haben wir so eine Art entwickelt, miteinander gut umzugehen, Freundschaften aufzubauen, und gleichzeitig die Streik- und Organisationsarbeit zu machen, in einer guten Kombination.« »Ja, das ist wie eine Sage. Das ist so merkwürdig. Niemand kannte ja die anderen. Dass wir uns wegen der geteilten Sorgen so vereinen konnten! Das sind ja sehr feine und kluge Menschen.« Manchmal in diesen Tagen überlege ich mir, ob es einen Kopf der Gruppe gibt, die sich da immer deutlicher zum Kern der Klimabewegung zusammenfindet. Doch sie sind so unterschiedlich, dass es sich eher um ein Zusammenspiel auf gleicher Augenhöhe handelt. Sowieso ist es schwierig, Status-Hierarchien zu sehen im Verhalten der Münzplatz-Jugendlichen zueinander. Vielleicht ist es auch dieser Aspekt, der uns Erwachsene, die Lehrer_innen, Schriftsteller_innen, Krankenpf leger_innen, die regelmäßig auftauchen, stark berührt. Es ist, als ob diese sechs, sieben Jugendlichen sich entschlossen hätten, selbst in den schwierigsten Situationen zusammenzuhalten. Und schwierige Situationen werden kommen. Sie werden von rechten Medien attackiert. Streiks mit 10.000 Teilnehmenden müssen binnen 24 Stunden an andere Orte verschoben werden, die Strategie der ganzen Bewegung ausgehandelt. »Rebell_innenbande« ist in dem Sinn ein schiefer Begriff. Banden sind hierarchisch strukturiert. Es gibt aber eben keine_n Anführer_in. Greta hält sich oft am Rand der kleinen Gruppen, vertieft sich manchmal in ein Gespräch, zieht sich dann wieder zurück und behält den ganzen Platz im Blick. »Und die ganze Gruppe funktioniert auch deshalb so gut zusammen, während einer so langen und extrem herausfordernden Zeit, weil wir alle genau perfekt verschieden alt sind und uns so statusmäßig nicht in die Quere kommen«, erklärt mir eine der Jugendlichen. Die Älteren müssen sich um die Jüngeren kümmern. Die Jüngste ist 13, und dann ist von jedem Jahrgang mindestens eine_r vertreten. Zwei sind 14, zwei 15 und so weiter. Die ältesten sind 18, 19. Sie machen intuitiv und auf ihre eigene Weise das, was »community organizing« genannt wird. Doch in diesen ersten Wochen gibt es in Stockholm kaum eine Spezialisierung. Das führt dann manchmal dazu, dass vielleicht eine E-Mail von Medien lange liegen bleibt,
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aber es hilft auch: Niemand ist auf eine Rolle festgeschrieben. So kann auch niemand scheitern. In anderen Ländern wie der Schweiz, Deutschland und Österreich wird schnell von den Streikenden ein System aufgebaut, das die Schulen digital einbezieht, Kontaktpersonen etabliert und auch mit NGOs zusammenarbeitet. In Schweden gibt es so etwas nicht. Ganz im Gegenteil sind die wenigen Streikenden monatelang auf sich allein gestellt, ohne strukturelle Vernetzungen, ohne NGOs, ohne politische Parteien im Rücken. Sie wollen ihre Unabhängigkeit bewahren. Aber das ist auch verständlich und notwendig: Fridays For Future ist ja zuerst nur eine unfassbar verletzliche Idee, die sich in alle Richtungen entwickeln oder verdrängt werden kann und die überhaupt etabliert und in den Köpfen der Öffentlichkeit verankert werden muss. Deswegen sagen sie: Wir wollen nicht plötzlich mit den NGOs wie Greenpeace oder Jungparteien wie den Grünen oder Linken vermischt werden. Aber dadurch stehen sie vor einer ganz neuen, unbekannten Aufgabe. Wie eine Bewegung auf die Beine stellen? Der spätere Vormittag beginnt. Twitter- und Instagram-Bilder werden von den Jugendlichen gemacht und in die Welt gesendet. Was ist dieser Streik eigentlich? Diese Frage stellen sich die Jugendlichen auch. Sie helfen mir oft, die Zeitungsartikel, die ich zum Streik schreibe, zu korrigieren und zu verbessern. Sie gehen ein großes Risiko ein, denke ich. Sie gehen ja nicht zur Schule, sondern nehmen früh am Morgen die U-Bahn und steigen in der Altstadt aus, mit allen Ängsten und Sorgen, und nehmen die Konsequenzen in Kauf; zuerst einmal ganz konkret, was den verpassten Unterricht anbelangt, dessen Stoff sie nacharbeiten müssen. Aber vor allem verändert diese wöchentliche Stellungnahme die Beziehungen zu den Lehrer_innen, zur Klasse, zu den Eltern, zur Gesellschaft. Sie stehen ja gut sichtbar im öffentlichen Raum. Die Fenster der Parlamentsgebäude, die auf drei Seiten des Platzes stehen, wirken manchmal wie riesige Augen. Am Anfang, Monate lang, setzen sie sich einfach hin. Es gibt keine Märsche wie später anderswo, etwa in Belgien, Deutschland oder der Schweiz. Sie sind einfach da. Darüber grüble ich oft, weil es eine sehr besondere Stimmung erzeugt, einen Ernst, etwas Würdevolles. Eine Provokation für einige Passierende. Selbst, wenn sie niemand sehen würde, denke ich dann, wäre es wichtig. Sie nehmen Stellung. Es ist in einem bestimmten Sinn das merkwürdigste Phänomen, das es gibt, gewaltfrei, und hat doch so eine Sprengkraft. Selbst habe ich manchmal ein Scientists For Future-Schild dabei. Aber das lasse ich bald zuhause. Gedacht als Stellungnahme, »hier ist die Uni-
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versität vertreten«, fühlt es sich eher wie das Gegenteil an – als ob ich mich dahinter verstecken würde. Einfach dastehen ist besser. Man braucht keinen Namen zu haben, keine Funktion. Die Tage sind lang und bald eiskalt, für uns alle ein radikaler Stopp im »weiter so«. Viel später dann kommen die globalen Streiks auf, und die Dynamik auf dem Münzplatz verwandelt sich. Die Stammstreikenden werden zu Planer_innen, die riesige Veranstaltungen auf die Beine stellen. Sie arbeiten sich ein in die Infrastruktur der Stadt, in das Buchen von Bühnen, von Streikplätzen, von Sicherheitsvorkehrungen. Sie organisieren stundenlag die Tage, die zehntausende Stockholmer_innen versammeln werden, bereiten die Reden vor, erarbeiten mit mir die Kontakte zu den Wissenschaftler_innen und schreiben die Pressemitteilungen. Sie designen die Plakate, bestellen sie, hängen sie in der ganzen Stadt und den Vororten auf. Sie bereiten sich oft im Greenpeace-Büro auf Fernsehinterviews vor, um den Grundgedanken von FFF zu vermitteln. Und sie fangen an, zu reisen, etwa in den Norden Schwedens zur indigenen Bevölkerung, mit der viele der Jugendlichen im Austausch stehen. Dort hat die Klimaveränderung bereits fatale Folgen. So bringen sie die Bewegung Schritt um Schritt voran. Dann folgen die Reisen nach Europa, nach Straßburg, Madrid und Lausanne. Sie knüpfen Bande zu ihren gleichaltrigen Rebell_innen in den anderen Ländern. Und sie werden zu denen, die die Streiks anführen, mit dem Megaphon in der Hand, lauthals die Kohle und das Öl in den Boden singend, zehntausende hinter sich. Aber es wird viele Monate dauern, bis sich Fridays For Future so als Bewegung durchsetzt. Lange Monate. Alles ist ungewiss jetzt am Anfang. Aber sie geben nicht auf. Es ist September und was bisher geschah ist, dass sich dieselben fünf, sechs Gleichaltrigen zu Greta gesellt haben und wiederkommen, Woche um Woche.
Die Aufgabe und das Kochrezept Sie sehen eine Aufgabe, derer sie sich annehmen. Langsam, vorsichtig sich vortastend, dann immer selbstbewusster und deutlicher. Sie sehen den Streik nicht nur als Streik, sondern als Projekt. Jetzt sind wir da, hier auf dem Platz, was gibt es zu tun? Wie stoppen wir die, die die Welt kaputt machen? Auf dem Platz entwickeln sich nach kurzer Zeit auch richtige Traditionen. Etwa macht ein Gästebuch die Runde, und wird es für die nächsten 50
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Wochen tun. Und die Kinder und Jugendlichen entwickeln bald ein wiederkommendes Spiel, die improvisierte – absurde – Kochsendung. Alle beteiligen sich reihum daran und fügen jeweils einen neuen Gedanken hinzu. An diesem Freitag, es ist vielleicht die dritte oder vierte Streikwoche, handelt die Sendung von einem Rezept für eine fein zubereitete Türschwelle. Man nehme also eine Türschwelle. Eine möglichst gewöhnliche. Man knubbelt mit seinen Fingern am Holz, so dass man kleine Fliesen hat, die man als Streuselpulver am Ende über die Sauce verteilen kann. Als nächstes braucht man die eitrigen Pickel eines finnischen Mitbürgers, und zwar ein Pickel von der Stirn. Den drückt man sorgfältig aus und gibt ein wenig süßsaure Sauce hinzu und spuckt dreimal kräftig hinein. Mit der Kettensäge gerührt, und nochmal dreimal hineingespuckt. Fertig. Sie lachen, werden wieder ernst und schauen zum Parlament hinüber.
Das schwedische Parlament – Gegenspieler_innen oder Verantwortliche? Im Steingebäude gegenüber sitzen 349 Abgeordnete aus 290 Gemeinden des langen Landes. Sie zusammen, und nur sie, haben die rechtlichen Mittel, die Voraussetzungen für das Zusammenleben zu verändern. In diesen Tagen im September hat das Parlament eine rot-grüne Regierung. Staatsminister Löfven hat Vizestaatsministerin Lövin zur Seite, die grüne Umwelt- und Klimaministerin. Sie haben keine absolute Mehrheit nach der Wahl und wollen jetzt eine neue, breitere Koalition auf die Beine stellen. Was ist ihr Projekt? Wer soll wie entlohnt, was soll wie produziert, was als wertvoll angesehen werden? Der Kampf der Ideen sollte jetzt entbrennen. Wie der Klima- und ökologischen Krise begegnen, so dass die Tausenden von Arbeiter_innen in den fossilen Sektoren der Automobil- und Zementindustrie eine neue Arbeit finden? Wie mit der Digitalisierung und Roboterisierung umgehen? Wie die Nahrungssicherheit garantieren und gleichzeitig die Ernährung auf pf lanzliche Basis umstellen, weg vom Fleischverzehr? Wie eine internationale Struktur auf bauen, die Sicherheit in Bezug auf Nahrung und Infrastruktur gibt und das Öl und die Kohle im Boden hält? Wie die Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen verhindern und den betroffenen Ländern helfen? Wie den Bildungssektor so umbauen, dass das Wissen um die Klima- und ökologische Krise im Herz aller Fächer landet, und der Weise, wie unterrich-
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tet wird? Wie die Sorge-Arbeit wertschätzen, die »care economy«, die doch das Zentrum der Gesellschaft darstellt, das Pf legen, Erziehen, das Ernähren und Heilen, das immer noch so oft von Frauen ausgeübt und teilweise gar nicht entlohnt wird? Wie das alles anpacken? Die beiden mächtigsten Personen im Staat haben die einzigartige Gelegenheit, einen Plan für Schweden vorzulegen und eine Mehrheit zu gewinnen, denke ich in diesen Herbsttagen. Auf dem Münzplatz ist nichts zu hören von solchen Diskussionen (zum politischen Betrieb und etwa der Lobby-Arbeit aus der Sicht der Klimabewegung: Kemfert 2020). Die Treibhausgase sind in Schweden während der vier Jahre mit einer rot-grünen Regierung nicht gesunken, genauso wenig wie der ökologische Fußbadruck. Die Parlamentarier_innen, die an den jungen Frauen auf dem Münzplatz vorbei und in das wuchtige Gebäude spazieren, verbrauchen etwa zehn Tonnen CO₂ pro Jahr, wie die meisten Europäer_innen (die konsumbedingten Emissionen im Ausland eingerechnet). Sie dürften bis in etwa zwölf Jahren nur noch 1,5 Tonnen verbrauchen, wenn es gerecht zugehen soll (Anderson et al. 2020). Wie soll das vor sich gehen? Was ist der demokratische Plan für eine solche Veränderung für alle von uns? Und vor allem: Was können die beitragen, die am meisten davon betroffen sind? Konfrontiert mit den großen, schweigenden Fenstern des Parlamentes, denke ich oft: Es tut sich ein Abgrund auf in der Demokratie. Die Jugendlichen haben in ihnen, diesen scheinbar modernen Demokratien, keinen richtigen Platz. Zwar erhalten sie selbst an vielen Schulen einen fundierten Unterricht in »citizenship«, aber sie werden nicht in die politischen Entscheidungen einbezogen. Ich gehe auf und ab auf dem Platz, sehe zu den gigantischen Fenstern der Abgeordneten hoch. Wie kann das sein? Und so fühlt es sich schief an, wie kaum etwas, wenn ich an den nächsten Freitagen einmal nicht um acht Uhr zurückkommen kann. Merkwürdigerweise bleibt kaum einer der Abgeordneten bei Greta und den anderen Streikenden stehen. Der Kontrast zwischen den Anzügen der Minister_innen und den auf dem Boden sitzenden jungen Frauen könnte kaum größer sein. Und es sind vor allem junge Frauen, die sich zusammenschließen. Viele Zeitungsartikel beschreiben die ganze Generation der Streikenden als die verantwortungsbewussten Mädchen oder jungen Frauen unserer Zeit, und das sind sie auch; oft mit aktiven Großmüttern im Rücken. Es sind mehr weibliche als männliche Wesen auf dem Münzplatz zu sehen, aber auch nicht wenige – als die Bewegung wächst – die sich in der binären Gendereinteilung nicht wiederfinden. Diese ganze Situation spiegelt ein
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tieferes Problem, so sagen es meine sozialwissenschaftlichen Forscherkolleg_innen an der Universität, ist doch die Gesellschaftsstruktur, gegen die diese jungen Frauen sich auf bäumen, immer noch eine männlich geprägte: die von den Banken-, Öl- und Kohleindustrie-Vorständen und von der Welt der Männer beim Wirtschaftstreffen in Davos. Es sind komplexe Strukturen, die diesen fünf Münzplatzstreikenden ihre Aufgabe schwermachen; und die sich schon bald auch in blankem Hass und Frauenverachtung bedrohlich äußern. So kann es doch nicht weitergehen, denken wir uns dann, die wir als Erwachsene regelmäßig auf den Platz zurückkehren. Wir müssen uns auch organisieren. In London, so hören wir, bildet sich eine neue Klimabewegung, Extinction Rebellion; vielleicht können wir etwas Ähnliches hier auf bauen?
Zur Universität Nach der ersten Begegnung mit Greta vor dem Parlament nehme ich die Smoothies mit, öffne sie mit schlechtem Gewissen und trinke sie auf dem Weg zur U-Bahn »Altstadt« aus, um diesen Plastikmüll loszuwerden. Mit der roten Linie ist man dann nach nur fünf Stationen an der Universität. Eine Universität ist etwas Merkwürdiges, denke ich oft während der Tunnelbahnfahrten hinauf zum Campus. Eigentlich wabern immer Ideen und Vorstellungen durch die Luft, egal, wo wir sind, auch mitten in der Stadt oder auf dem Münzplatz. Ideen dazu, was normal ist, vernünftig, was als wertvoll angesehen wird und was als politisch möglich. Wo auch immer wir sind, wir sind von ihnen umgeben: Was gilt als gesund und krank; als gerecht, als demokratisch; was als Freiheit; was als angemessene Erziehungsmethode; was als Vernunft, als Wissenschaft? Manchmal nehmen wir uns Zeit und schauen eine von ihnen genauer an, hinterfragen sie vielleicht, wenn wir unter der gesellschaftlichen Ausformung von einer von ihnen leiden: Die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung, die Menschenrechtsbewegung hat das, was als »normale« Praxis und als Weltbild galt, hinterfragt und verändert. Die Universität ist der Ort, an dem diese Ideen sichtbar gemacht werden sollen, könnte man denken, und zu neuen umgebacken, zu demokratischeren, gerechteren, nachhaltigeren. Aber gerade weil sie der Stoff sind, aus dem aller Unterricht besteht, selbst wenn es um handfeste medizinische Eingriffe oder juristische Abwägungen geht, die ebenfalls von Ideen geleitet sind, sind einige von ihnen auch unhinterfragbar, so scheint es zumindest hier.
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Und so spaziere ich von der Station »Universität« an all den wunderbaren Institutionen vorbei, zuerst an der Juridik, dann der Geowissenschaft, der Klimaforschung, der Theater- und Literaturwissenschaft, lasse die Sprachen, Geschichte und Philosophie rechts liegen und biege zu meiner Pädagogik- und Didaktik-Abteilung ein mit dem komischen Gefühl, dass vieles, was hier als normal gilt, eigentlich höchst problematisch ist. Von Menschen vorgetragen, feierlich, die vorwiegend aus einer bestimmten oberen weißen Mittelschicht kommen, und letztlich die Klima- und ökologische Krise nicht ernst nehmen. Nicht richtig. Die Universitätslehrenden müssten sich eigentlich bei den Jugendlichen auf dem Münzplatz entschuldigen, denke ich, dafür, dass in den letzten vierzig Jahren von der Akademie nicht die angemessene Antwort kam. Was würden meine Kolleg_innen denken, wenn ich mich dem Streik anschließen würde? Wie würden meine Studierenden reagieren? Verliere ich meine Arbeit? Müsste nicht aller Unterricht, alle Forschung auf die gesellschaftliche Situation ausgerichtet sein, also darauf, dass wir mit einer nie gesehenen Krise konfrontiert sind? Was würde das für jedes Fach bedeuten, Wirtschaft, Architektur, Pädagogik, Philosophie? Für das Zusammenspiel der Fächer; für die Methode des Unterrichtens? Wie ein merkwürdiges, dunkles Omen hängt die ökologische und Klimakrise in der Luft. Doch diese Gedanken überlagern meine konkreteren Sorgen in diesen Augusttagen. Ich habe in den letzten Semestern zusammen mit wenigen Kolleg_innen einen ganz neuen Bachelor-Studiengang erschaffen und nicht nur die Verantwortung für viele der 24 Kurse, die es teilweise aber noch gar nicht gibt und die ich erarbeite, sondern unterrichte auch viele Vorlesungen und Workshops selbst. Sie handeln von Demokratie, »citizenhsip« und Gerechtigkeit, von ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit und Pädagogik – unterrichtet mittels Kunstpädagogik, vor allem Drama, Musik, Bild und Rollenspiel (Haseman/O’Toole 2017). Bei der Dramamethode (im Gegensatz zum Theater) sind alle improvisierend die ganze Zeit involviert. Nur selten erfinden wir textbasierte Stücke für ein Publikum. Anstatt nur den Kopf anzusprechen, erkunden wir, was Schule, was Wirtschaft und was globale Demokratie sein kann mit unseren ganzen Persönlichkeiten und unserer Phantasie, im Zusammenspiel mit den Anderen in den Theater- und Tanzräumen; und testen Ideen. Ähnliche Ausbildungen gibt es nur an wenigen Orten, etwa an der New York University oder der Central School in London. Aber immer mehr »angewandte Theater-« oder Theaterpädagogik-Ausbildungen (etwa an der ZHdK in Zürich und der UdK in Berlin) entwickeln sich in diese Richtung (dazu
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Fopp 2016). Jetzt, genau zur Zeit der ersten Freitagsstreiks, beginnt ein neues Jahr an unserer Institution. Eine neue Klasse, eine neue Studierendengruppe taucht auf. Ein Blick in die 20 Gesichter. Es ist der Montag nach dem ersten Freitagsstreik. »Hallo.« Wir machen einige Präsentationsspiele. Dann: »Wie wollt ihr euch zueinander verhalten?« 20 völlig verschiedene Menschen sehen sich an. »Ihr könnt jederzeit unterbrechen und stopp rufen, wenn euch nicht wohl ist«, sage ich. »Alle Ideen sind zugelassen beim Improvisieren. Aber nicht alle Handlungen. Seid respektvoll. Und schließlich: Seht alle zu, dass es allen hier im Raum gut geht. Noch einmal. Jede_r von euch soll einen Helikopterblick entwickeln; guckt, was ihr für Bedürfnisse habt, und welche die anderen, äußert sie und geht auf sie ein. Unterstützt einander. Es genügt nicht, dass alle reden oder dabei sein dürfen; Inklusivität ist gut, aber zu wenig. Auf die Dauer funktioniert es nur, wenn alle zusehen, dass die Bedürfnisse aller zum Tragen kommen; wenn ihr euch umeinander kümmert. Ist das in Ordnung?« Sie diskutieren. Finden es vernünftig. Demokratie wirklich zu leben ist eine enorme Herausforderung, im Kleinen der Schulklasse; und im Großen. Das Ziel der Rebellen_innen ist eine nachhaltige Demokratie, global. Und sie muss zustande kommen, in kürzester Zeit. Wie soll das nur gehen?
Wissenschaft und Spiel – der Münzplatz im September und Oktober Auch auf dem Münzplatz ist die Wissenschaft allgegenwärtig. »Listen to the science« wird bald die Parole der Jugendlichen. Und das wissenschaftliche Weltbild taucht auch in den Gesprächen auf. In diesen Wochen sitzen die Jugendlichen, die den Streik ins Leben gerufen haben, oft zusammen da, noch bevor sich die anderen anschließen, und reden über alles zwischen Himmel und Erde. Zum Beispiel über chemische Elemente. Wie komisch ist es nur, dass die ganze Welt aus so wenigen Elementen besteht, und diese sich voneinander nur durch irgendwelche Elektronen oder Protonen etc. unterscheiden? Wie wenn ein Stein und eine Karotte nahe verwandt wären. Wie merkwürdig sowieso das naturwissenschaftliche Weltbild ist, denke ich dann. Sobald die morgendliche Lebendigkeit von den Geschäften mit Wikingerhüten und Zimtschnecken in die Gassen der Altstadt dringt, bilden die meisten kleine Gesprächskreise und fangen an, die Lage zu besprechen und über alles Mögliche zu reden. Es ist immer noch warm. Nicht mehr so heiß
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wie im Sommer mit seiner ganz unnatürlichen Hitze. Wir fangen an, »Stadt Land Fluss« zu spielen. Man geht die Buchstaben durch, stumm, also A, B, C, und jemand sagt stopp. Diesen Buchstaben nimmt man und muss auf Namen kommen von Stadt, Land, Fluss eben. Aber wir können auch etwas Anderes nehmen. Hund, Getränke, Gerichte. Und so fangen wir an, zu spielen. Es wird in den nächsten Wochen zu einem Bestandteil werden. Manchmal gesellen sich einige andere dazu. Ich habe keine Chance. Greta kennt irgendwie alle Städte der Welt, viele, viele Städte, von denen ich nie etwas gehört habe. Bei den Hunden ist es noch schlimmer, mit Getränken ist es lustiger, weil wir einfach alles erfinden: Man kann ja alles zu einem Getränk verwandeln. Kiwisaft. Ein halbes Jahr später, am Abend vom ersten globalen Streik, dem 15. März, frage ich mich, in wie vielen Städten, die wir da an diesen Freitagen beliebig aufgezählt haben, von Paris bis Paderborn, mittlerweile gestreikt wird, in wie vielen von ihnen an den Freitagen manchmal eine Person, manchmal zehntausende aus den Klassenzimmern spazieren, rund um den Globus. Es ist, als ob wir uns an diese globale Dimension herangetastet hätten in diesen Anfangswochen, an die Vorstellung von uns allen Erdenbewohner_innen in unseren Behausungen auf diesem lebendigen Planeten. Dann, es ist schon die Oktoberwoche, in der Greta zur Gründung einer neuen Umweltaktivist_innenbewegung, Extinction Rebellion, nach London fährt, kommt Gretas Vater vorbei. Er ist selten zu sehen auf dem Platz. Wir sind mittendrin, im Buchstabenspiel: Hund mit D, Hund mit L? Tschüss, und sie geht, zur Rebellion in London. Zwei Wochen vergehen. Sie hält dort eine Rede, die um die Hälfte der Welt geht, zumindest die aktivistische. Sie steht da in London vor der Menschenmenge, aber das Mikrophon funktionierte nicht. Da tun die tausend Umweltmenschen das, was sie immer tun in solchen Momenten. Sie werden zu einem lebendigen Megaphon. Die vordersten wiederholen laut, was sie hören und geben es an die Hintenstehenden weiter. Gretas Rede wird dadurch zehn statt drei Minuten lang, weil alle alles wiederholen: »Als ich acht Jahre alt war«, sagt sie. »Als ich acht Jahre alt war«, schreit der Platz vor der Westminster Abbey. Greta, die so lange nichts gesagt hat, fast jahrelang geschwiegen, steht da vor Tausenden in London und redet über die ökologische und Klimakrise, wie wenn sie nichts Anderes getan hätte. Aber jetzt ist sie zurück bei uns auf dem Platz und wir fahren nahtlos fort mit dem Buchstabenspiel. Der Streiktag beginnt. Und die Jugendlichen weigern sich, den lebendigen Planeten wie einen kranken Bekannten einfach aufzugeben. Sie wollen das stoppen, das krank macht.
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Michel und Alfred – was ist Natur und was ist Heilung? An einem dieser ersten Freitage habe ich noch Unterricht am Nachmittag und haste dann weg vom Münzplatz, gehe wiederum durch die engen Gassen der Altstadt zur U-Bahn und lande in meinem Büro. Ich packe meine Unterrichtsunterlagen, vor allem Astrid Lindgrens Buchreihe »Michel aus Lönneberga« und gehe hinüber in das Gebäude, das »Stall« genannt wird und auch ein ehemaliger Stall ist. Er beherbergt nun unsere Theaterräume. Hier unterrichte ich. Nicht nur den neuen Studiengang, sondern auch hunderte von zukünftigen Lehrer_innen und Kindergärtner_innen. Im Raum 420 springen sie herum, die zukünftigen Kindergärtner_innen, aus allen möglichen Ländern und Gesellschaftsschichten, in Stockholm gelandet; ein kleiner Saal mit geschliffenem Holzboden, ohne Stühle, mit Blick hinaus in den Wald, hinter dem das Meer liegt, Apfelbäume dazwischen. Bald haben sie – wie in Lindgrens Buch – ein fiktives Wartezimmer einer Arztpraxis zusammengestellt, Stuhl an Stuhl. Eine nach dem anderen nimmt in dieser Praxis Platz. Sie schlurfen herein, hinkend oder hustend. Wir sind in einer kleinen schwedischen Stadt, stellen wir uns vor, Mariannehof, vor 150 Jahren. Ich gehe herum: »Wer bist du?« Alles ist improvisiert. Jemand sagt: »Eine Magd. Hab’ einen Tritt von der Kuh bekommen.« »Eine Bäuerin, bin schwanger.« »Ein Handwerker, hab’ mir einen Nagel in den Finger gehauen.« »Der Pfarrer, fühle mich nicht gut.« Und so weiter. 20 jammernde Gestalten. Wir diskutieren: Wie haben die wohl damals gelebt, nicht weit entfernt von uns, aber in einer anderen Zeit, mit einer anderen Technik, einem anderen Verhältnis zur Natur? Wir spielen die Szene aus Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga, in der der zehnjährige Junge den erwachsenen Knecht Alfred vor einer Blutvergiftung rettet, die er sich durch einen Schnitt in den Daumen zugezogen hat. So funktioniert die Dramamethode: Jemand liest eine Seite, dann hüpfen wir in den Text hinein, mit Haut und Haar, zusammen. Wir werden zu Alfred, der auf dem Schlitten im Schnee liegt, und zu Michel, der zieht. Andere werden zum Schneesturm, der sie aufhält. Dann werden wir alle zum Daumen, 20 Personen bilden einen einzigen Daumen, und ich schneide mit einem Holzstab hinein. Wir reden darüber, was eigentlich passiert, wenn man sich in den Finger schneidet. Was gibt es da für »Sachen« im Finger, und so weiter, wie sie es machen können mit ihren fünfjährigen. Später werden wir als Daumen wieder heil. Drama ist nicht Theater, das heißt, niemand steht auf einer Bühne, es gibt kein Publikum, alle sind immer gleichzeitig beschäftigt, ändern Rollen, erarbeiten sich Kulissen und Kostüme selbst.
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Alfred ist todkrank. Man muss zum Arzt, in die Stadt, sagen alle. Aber das geht nicht, es schneit. »Es schneit und schneit, der Weg ist unpassierbar«, konstatiert der Vater. Das muss man akzeptieren. »Du musst das Schickasl akzeptieren, Michel.« Aber Michel wird von einer unfassbaren Verzweiflung gepackt. Es ist sein Freund, mit dem er aufgewachsen ist. Was machen die anderen? Die gucken nur zu, wie Alfred vielleicht stirbt. Wer sind diese eigentlich, die nichts wirklich ernst nehmen? Die dem Fiebrigen zusehen, und nicht nach einer Lösung, nach Heilung suchen? Nicht wirklich. Das ist die Frage, die wir uns stellen, im Universitätssaal; warum nehmen einige das Leben ernst, andere nicht? Was geht in ihnen vor? Dann, mitten in der Nacht, morgens um vier, Michel ist die ganze Zeit bei Alfred geblieben, macht er sich auf, treibt sein Pferd aus dem Stall und legt den Knecht auf den Schlitten. In einem Anfall von Entschlossenheit und Nicht-Akzeptanz. Ich kann doch nicht hinnehmen, dass niemand hilft. Der Forscher Gustaf Gredebäck an der Universität Uppsala hat dazu geforscht, wie bereits kleinste Kinder diese Form von Mitgefühl zeigen. Seine Experimente sind weltweit vielfach bestätigt worden: Danach haben bereits kleine Wesen von sechs Monaten einen starken Impuls, nicht zu akzeptieren, wenn jemandem Schmerz zugefügt wird, und sind irritiert über die, die es tun. Am Ende der Geschichte erreicht Michel erschöpft das Wartezimmer des Arztes und der Knecht Alfred wird geheilt. Wie merkwürdig, dass wir selbst, oder ein Daumen selbst heilen kann. Oder eben nicht ganz selbst. Manche Wunden sind zu tief. Aber dann, wenn wir Menschen helfen, mit einem Pflaster oder einer Operation, dann setzt ein Selbstheilungsprozess ein. Nirgends wird vielleicht deutlicher, wie sehr wir ein Teil der Natur sind, und wie wundersam die Natur selbst ist, wie während eines Heilungsprozesses. Aber wir können der Natur auch so schaden, dass sie sich nicht mehr selbst heilen kann. Die Ökosysteme verlieren ihre Resilienz, sagen dann die Spezialist_innen, meine Kolleg_innen vom Stockholmer Resilienzzentrum rund um den weltberühmten Forscher Johan Rockström. Dann erhitzen wir die Ozeane so durch den Ausstoß von Treibhausgasen, dass die Korallenriffe ganz kaputtgehen; dass das Arktiseis ganz wegschmilzt. »Tipping Points« entstehen, und »Feedback Loops«, und das, was heil war, kann sich nicht mehr reparieren. Der Planet als unser Lebensraum geht dann unwiederbringlich kaputt, weil es zu heiß wird. Das Weltbild muss sich ändern, auch an den Universitäten, denke ich in diesen Tagen: Unser Weltbild ist falsch, es ist unmenschlich, aber es ist vor allem unwissenschaftlich. Wir Menschen sind nicht so, wie wir vorausgesetzt werden von den unhinterfragbaren Ideen, die die Bausteine ausmachen für das Studium der Wirtschaft, der Medizin, der Philosophie und der Pädagogik. Wir sind ganz anders und viel mehr.
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Die ersten schwedischen Streikgruppen entstehen In Schweden beginnt sich die Fridays For Future-Bewegung auszubreiten. Während die Jugendlichen an die Mauer gelehnt sitzen und die noch warme Herbstsonne genießen, fangen einige von ihnen samt einigen Erwachsenen wie Janine, Torbjörn, Anders, Ivan und Andrea an, sämtliche schwedische Gemeinden anzuschreiben; genauer gesagt die Personen innerhalb der Graswurzelbewegungen und des Klimaaktivismus, zu denen sie von früher Kontakte haben, und halten auch akribisch Ausschau nach allem, was sich im Netz regt. Dabei ist »KlimatSverige« von großer Hilfe, »Klima-Schweden«. Es ist der Zusammenschluss aller Umweltorganisationen, aber durch einen merkwürdigen, wohlwollenden Zufall der Weltgeschichte handelt es sich in Schweden im Gegensatz etwa zu den Schwester-Organisationen in Deutschland und der Schweiz, den »Klima-Allianzen«, um eine Amateurtruppe. Es sind einfach zehn Menschen, die in ihrer Freizeit am Abend Informationen aller anderen Gruppierungen sammeln, einen Newsletter schreiben, und so ein Kontaktnetz im ganzen Land herstellen. Mitmachen können bei KlimatSverige dabei sowohl Organisationen als auch Privatleute. Das erstaunliche daran: Die großen drei, Greenpeace, WWF und der Naturschutzbund, lassen dieses Grüppchen von Held_innen einfach gewähren, reden nicht hinein, kontrollieren nichts, geben ein wenig Geld. Nur deswegen können die Jugendlichen aber auf der Arbeit dieses Netzwerkes auf bauen; es hat genug Graswurzel-Charakter. Sie wollen nichts mit den NGOs zu tun haben. Wer in diesen ersten Wochen auf den Münzplatz kommt, begegnet als erstes den Jugendlichen, dann den Erwachsenen wie dem Lehrer Jonas, der Pfarrerin Lena, der Pf legerin Cilla, vor allem aber Janine. Janine O’Keeffe kommt aus Australien und ist manchmal von einem guten Teil ihrer großen Familie begleitet auf dem Platz, vor allem vom einen Sohn Edward, der bald das Gymnasium abschließen wird. Er ist spätestens ab Dezember fast jede Woche auf dem Platz und nimmt eine immer zentralere Rolle auch international innerhalb von FFF ein. Außerdem ist er einer derjenigen Jugendlichen, die auch in Extinction Rebellion aktiv sind. Janine selbst hat als Ingenieurin bei Ericsson gearbeitet, hat klare blaue Augen und lacht oft. Und sie ist sehr neugierig, und will wirklich genau wissen, was innerhalb des wachsenden Netzwerkes Fridays For Future passiert. Sie hat sich schon länger mit der Klimaforschung auseinandergesetzt, ist aktiv in verschiedenen Klima-Organisationen, und hat sich in den ersten Tagen schon zum Streik
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gesellt. Sie netzwerkt unentwegt mit ihrem iPad und den entstehenden Facebook-Gruppen. Zu allen Themen und in allen möglichen Konstellationen erfindet sie verschiedene Chats und Foren und fügt einfach alle neuen Kinder (und Erwachsenen) vom Münzplatz hinzu. Jugendliche aus anderen Städten tauchen in den Chats auf. Auch sie haben genug von ihrer Regierung. Das Pariser Abkommen wird nicht eingehalten. Sie verlassen ihre Schulen: Andreas in Falun, später Tyra in Norrtälje, und so weiter; in Holland ist es Ianthe und auch in anderen Städten weltweit tauchen erste winzige Gruppen auf. Und so entstehen erste Listen der schwedischen Streikorte. Die Yogalehrerin Andrea Herrera nimmt die Aufgabe auf sich, mit den Jugendlichen zusammen Kontaktdaten ausfindig zu machen und in einem Dokument zusammen zu stellen. So entsteht das Embryo der globalen Karte, etwas später erstellt von Jan und Jens, die zur Koordination der globalen Streikaktionen wertvoll ist. Aufgelistet wird dabei der Ort, an dem jemand streiken will, der Zeitpunkt und eventuell eine Kontaktinformation. Am Anfang sind es nur wenige Punkte auf der schwedischen Karte, aber es werden stetig mehr. Und alle posten die Erfolge nun fast täglich auf der neu entstandenen Facebook-Gruppenseite #FridaysForFuture. Sie wird für die schwedische, dann die streikende Weltbevölkerung die erste Informationsquelle sein und lange bleiben. Woche um Woche tauchen neue Orte auf: Norrtälje, Umeå, Malmö, Falun. Und die Medien fangen an, darüber zu berichten, dass es 30, ja bald 50 Streikgruppen in Schweden gibt. FFF ist Wirklichkeit geworden. Und nicht nur in Schweden. Auch in Berlin melden sich Streikende vor dem Reichstag, und bald entdecken wir mehr und mehr Städte und Länder in den sozialen Medien-Kanälen. Alle wollen sie eine politische Veränderung; und eine für alle sichere und gerechtere Welt.
Die große und die kleine Aufgabe – Status und Privilegien Was wäre eine menschlichere Welt? Welche Rolle haben wir in ihr, als Erwachsene oder Jugendliche, als Privilegierte oder Benachteiligte? Wir experimentieren viel mit dieser Frage nach dem, was menschlich ist, »humane« auf Englisch, in den Theaterräumen. Wir spielen Astrid Lindgrens »Ronja Räubertochter« und Dickens Weihnachtsgeschichte. Vor allem entwickeln wir sogenannte Statusübungen: Einer spielt einen König oder eine Königin, die höheren Status einnimmt gegenüber den Untertanen, und sich wünschen kann, was sie will. Dann
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improvisieren wir weiter, so dass die Untertanen ihren Status erhöhen, und der König seinen senkt, bis er sich kaum noch getraut, in seinem Reich zu herrschen. Beides kann gleich schwierig sein, als Übung, hohen Status zu spielen oder niedrigen. Die Studierenden wollen, dass ich mitspiele. Das senkt meinen Status gewaltig, setze ich mich doch als Lehrperson verrückten Situationen aus; aber erhöht ihn auch, weil ich mich auf sie einlasse. Oft frage ich mich dann auf dem Weg zur Universität: Was ist eigentlich meine (und allgemeiner: die) Rolle als männliches, weißes, mittelaltes Mittelschichtswesen? Mit einigen meiner Kollegen diskutiere ich diese Frage immer und immer wieder. Wie mit den eigenen Privilegien umgehen; wie Raum geben; und wie die Machtstrukturen abbauen? »Gib mir diesen Schemel da!«, schreit ein Student mich an. »Ja aber …« »Gib ihn mir. Jetzt!« Wir stehen inmitten von anderen improvisierenden Studierenden und testen eine Szene. Es geht darum, zu verstehen, wie Begegnungen auf Augenhöhe zustande kommen können. Dazu muss man Herrschaft überhaupt durchschauen. »Aber der Schemel ist etwas wackelig«, sage ich und prüfe damit als Diener den Hochstatus meines Königs. Was macht er jetzt? Wenn er einen Wutanfall bekommt, erhöht er scheinbar seinen Status, aber senkt ihn umso mehr: Wieso soll ein König wegen eines kaputten Schemels zornig werden? Aber nichts zu tun, würde auch seinen Status hinunterziehen. Was wäre ein souveräner Zug? Er könnte mich Probesitzen lassen und so seine Herrschaftsstellung deutlich machen und bewahren. Und so testen wir tagein, tagaus Mikrotransaktionen von Macht, mit Leib und Seele; um selbst zu verstehen, wie und wann wir uns über andere setzen oder sie diskriminieren – und wie wir stattdessen zusammenarbeiten könnten, ohne uns zu blockieren (alle Übungen sind gesammelt in Johnstone 1987). Kinder sind Spezialist_innen darin, schon als winzig kleine, so die Forschung. Wenn sie von den Erwachsenen nicht als gleichwertige, würdige Personen behandelt werden, tun sie alles, um ihre riesigen Gegenüber vom Thron zu werfen (Fopp 2016). Durch die Sprache; den Blick; Trotz, was auch immer. Und sie freuen sich sehr, wenn man mit ihnen doppelkommuniziert: so tut, wie wenn man sie als Löwe auffressen will, aber es doch nicht tut. Sich wirklich jenseits von Statushickhack zu begegnen, müssen wir alle üben; das ist die These meiner Kolleg_innen und von mir an unserem Institut. Es nützt nichts, Ethikseminare zu Empathie anzubieten, lange Theorien zur neuen ethischen Gesellschaft zu halten, sich über einen »compassionierten« Blick zu freuen. Man muss es auch praktizieren, sich beobachten lassen, jahrelange Muster von Dominieren und Diskriminieren durchschauen.
Kapitel 1: Die schwedischen Anfänge
Die meisten Menschen merken gar nicht, man selbst eingeschlossen, was sie machen, an welche Muster sie sich gewöhnt haben und was in ihrer Muskulatur und ihrem Selbstbild (etwa als weiß und Mann) steckt. In den Seminaren studieren wir diese Mikrotransaktionen der Macht auch in der Weltpolitik: Trumps Handschläge sind längst allgemein bekannt als buchstäbliche Versuche, das Gegenüber aus dem Tritt zu bringen und zu erniedrigen; und spiegeln sich in einer (Klima-)Politik, die explizit zu »Dominanz« gegenüber Mitmenschen und Natur aufruft. »White supremacy«, wofür viele von Trumps und Bolsonaros Anhänger_innen stehen, trägt die Dominanz schon im Titel (dazu Saad 2020). Drastisch ist etwa auch das erste Interview, das der Vorsitzende des Ölkonzerns BP nach der Explosion der Ölplattform im Mexikanischen Golf gibt, als er von den tausenden Fischern, die ihren Lebensunterhalt verloren haben, von »small people« spricht: den kleinen Leuten, auf die er hinabschaut. Nützlich bei der Analyse dieser Machtverhältnisse sind auch die Resultate der psychosozialen Forschung, von Adornos »Studien zum autoritären Charakter« bis hin zu modernen sogenannten intersektionalen Theorien (Meyer 2017), die aufzeigen, wie verschiedene Dimensionen von Diskriminierung (Rassismus, Patriarchat usw.) einander beeinflussen. Der weiße Mann hat eine andere Stellung in der Gesellschaft als der »of Colour«, und die Schwarze Frau aus der Arbeiterschicht eine andere als die reiche weiße. Bei den Übungen beobachten wir oft, dass die meisten Hochstatuspositionen dazu nutzen, um andere unten zu halten. Es besteht ja die Möglichkeit, dass der König mich als Bediensteten entlässt und sich entmachtet; eine Demokratie würde entstehen. Die Grundfrage der Ausbildung ist die, wie das alles zusammenhängt: wie wir in den kleinen Räumen die Begegnungen machtmäßig gestalten und strukturieren, in der Familie, in der Schule, im Universitätsraum – im Verhältnis zu dem, wie wir in den großen politischen Räumen unser Zusammenleben organisieren, etwa wie wir unser Wirtschaftssystem ausformen, aber auch die politischen Rahmenbedingungen für den Umweltschutz, das Gesundheitssystem und so weiter. Was ist das Ideal, der Kompass? Das, was an die Stelle von Dominanz treten sollte, sind, so sind wir uns oft einig, demokratischere Räume, solche, in denen wir gegenseitig unsere Kräfte stärken und dafür sorgen, dass es allen gut geht; in denen die Bedürfnisse aller gesehen werden, so dass alle genug zu einem würdigen Leben erhalten und wir der Umwelt Sorge halten. Aber es steht so viel im Weg, denke ich dann, eben die bestehenden Machtverhältnisse, und die Privilegien. Es genügt nicht einfach zu behaupten, alle seien
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frei und gleich. Dahin müssen wir erst gelangen, durch das Aufheben von wirklichen konkreten Dominanzverhältnissen: In den Mikroverhältnissen des Universitätsraumes geht es darum, allen Raum zum Austausch zu geben, nicht nur den drei, vier, die am lautesten sind. Aber dabei kann es nicht bleiben; und das macht mir nach den Seminaren am meisten Sorge. Die Makromachtverhältnisse sind ja auch bei uns im Kleinen zu spüren: Es gibt keine oder kaum Schwarze Studierende etwa, vor allem keine Lehrenden. Da scheinen die meisten Halt zu machen, die in den Universitäten arbeiten. Ein unsichtbarer Abgrund tut sich auf zwischen Theorie und Praxis. Denn mehr oder weniger alle schwedischen Studierenden der Humanwissenschaften, der Soziologie, Pädagogik oder Politikwissenschaft, also weit mehr als die Hälfte aller Student_innen, besuchen obligatorische Kurse zu »Normkritik« und Intersektionalität, in denen sie Dinge lernen, die die Universitäten kaum umsetzen. Da stimmt etwas Grundlegendes nicht. Ein Gespräch mit meiner Dekanin muss her. Wir können nicht nur über Veränderungen reden, wir müssen sie auch durchführen – das ist die Grundthese der Ausbildung, die wir unseren Studierenden anbieten. Da müssen wir auch selbst so handeln. Deswegen lesen wir nicht nur Texte, sondern arbeiten mit unseren Körpern im Raum und versuchen, wirkliche Begegnungen auf Augenhöhe zu erarbeiten.
Ende Oktober wird der Bericht des Klimaforschungsorgans der UNO veröffentlicht, der sogenannte IPCC SR1.5, der Spezialrapport, in dem wissenschaftlich herausgestellt wird, was die Unterschiede wären für die planetare Entwicklung, wenn sich die Erde um 1,5 statt um zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Epoche erwärmen würde. Die Unterschiede sind drastisch, vor allem im Bezug auf das mögliche Überschreiten von Kipppunkten. Der Rapport erweckt große Aufmerksamkeit und die Sorgen auf dem Münzplatz werden noch größer.
Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran Ziviler Ungehorsam und Gesetze der Menschlichkeit Wie organisiert man eine Rebellion? Eine Woche um die andere vergeht. Fridays For Future entwickelt sich ganz langsam. Doch gegen Ende Oktober, Anfang November kommt alles in Bewegung. Jugendliche und Erwachsene blockieren zusammen die Innenstadt Stockholms. Die Erwachsenen nehmen den Notbremse-Aufruf der streikenden Jugendlichen auf. Doch welche Aktionen sind gerechtfertigt? Wo verlaufen die Grenzen der berechtigten demokratischen Handlung? Müssen wir uns an das geschriebene Gesetz halten? Was ist überhaupt Klimaaktivismus?
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Es ist Samstagnachmittag. Plötzlich befinde ich mich mit Greta und 100 anderen Aufständischen mitten auf der zentralen Nord-Süd-Achse der Stockholmer Innenstadt. Wir müssen uns in der nächsten Sekunde entscheiden. Entweder weigern wir uns, wegzugehen, oder wir werden weggeschleppt und vielleicht verhaftet. Aber machen sie das wirklich, die Polizist_innen, die direkt auf uns zukommen? Riskieren sie ein Foto von Greta, die die zentrale Straße der Hauptstadt Schwedens blockiert, auf einem Schemel vor dem königlichen Schloss in Stockholm – und ein_e Polizist_in trägt sie weg, weil sie sich gegen die massenhafte Artenvernichtung und gegen die Klimakrise einsetzt? Das würde um die Welt gehen, jetzt schon, obwohl sie für die meisten Menschen noch unbekannt ist. Es ist erst gut ein, zwei Monate her, seit sie sich mit dem Schild vor das Parlament gesetzt und die FFF-Bewegung ins Leben gerufen hat. Und jetzt stehen wir zusammen auf der Straße, Jugendliche und Erwachsene. Und neben der Verzweif lung über die Klimakrise und der Angst vor den Konsequenzen der Blockade kommt eine Frage der Verantwortung auf. Können 15-Jährige ins Gefängnis gesteckt werden? Für wie lange? Oder auf einer kalten Polizeistation festgehalten? Muss ich dazwischengehen? Sind wir bereit, im Gefängnis zu landen, wie es vielen gleichzeitig in London passiert? Was heißt es, Verantwortung zu übernehmen? Wie wirkliche politische Veränderung herbeiführen? Eine Stunde zuvor war sie plötzlich da und kam auf mich zu spaziert. Ich stand neben all den Extinction-Rebell_innen und versuchte, das Megaphon zum Funktionieren zu bringen. Greta hatte niemand erwartet. Die Freitagsstreiks von Fridays For Future und die Straßenblockaden von Extinction Rebellion sollten separat gehalten werden, so noch die Überlegung am Streik ein Tag zuvor. Extinction Rebellion heißt so, weil diese im Sommer 2018 frisch gegründete globale Rebell_innen-Bewegung sich gegen die menschengemachte »Extinction«, also Ausrottung tausender von Tierarten und ihrer Lebensräume, wehrt; und via die Klimakrise auch gegen die Auslöschung der menschlichen Spezies. Es geht darum, das zusammenhängende Bild aufzuzeigen. Auf Gretas Papier, das sie in den ersten Wochen verteilt, steht: »Nach dem Living Planet Report haben die Menschen 80 % aller Säugetiere ausgerottet, 15 % aller Fische und 50 % aller Pf lanzenarten.« Wer die Statistik anschaut, wird feststellen, dass es durch die menschliche Zerstörung der natürlichen Lebensräume während der letzten 100 Jahre kaum noch wilde Tiere gibt auf dem Planeten, etwa vier Prozent nur noch; dass wir mit unseren »Nutztieren« Kuh, Schaf und Huhn die absolute Mehrheit aller Lebewesen ausmachen, und mit dem Essen von
Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran
Tieren die Klimakrise mit am stärksten verschlimmern: Wälder müssen gerodet werden, Methan wird ausgestoßen (Foer 2019) – das Zuhause von tausenden von Tierarten wird zerstört und damit das Gewebe des Lebens, das in einem »earth system« zusammenhängt. Deswegen war Greta am Gründungswochenende von XR (Extinction Rebellion) in London mit dabei und hat bei uns Stockholmer Erwachsenen die Idee verstärkt, eine eigene Gruppe aufzubauen. Wie so oft geht die Initiative von den Jugendlichen aus; wir reagieren. Wie können wir das alles stoppen? Abend für Abend treffen wir uns via Netzplattform »Zoom«, lange bevor sie durch die Corona-Krise bekannt wird, und bereiten die große Aktion vor. Jetzt ist es Samstagnachmittag. »Wissen deine Eltern davon?«, frag ich sie; ich fühle mich irgendwie verantwortlich, bin ich doch eine der Personen, die sie am besten kennt. Gleichzeitig winke ich zwei halbbekannte Erwachsene heran und erkläre ihnen, ohne dass sie eine Wahl haben, dass sie ab sofort für Greta mitverantwortlich sind. Zwischen den Autos hier mitten auf der Straße kann es gefährlich werden. Sie nicken und werden viel später am Abend hochoffiziell ihren Auftrag beenden. Der Polizist kommt näher. Ich schaue in meiner gelben XR-Weste direkt hinter Greta stehend zu den anderen hinüber. Wir haben wochenlang diese Aktion vorbereitet, zusammen mit zehn anderen mir zuerst fremden Menschen: Lehrer_innen, Ärzt_innen, Studierende. Eine erwachsene Rebell_innenbande entsteht. Der Anwalt von Greenpeace steht für Beratungen zur Verfügung, und in nächtelangen Gesprächen werden verschiedene Varianten von Straßenblockaden durchdiskutiert – »Swarming« etwa, bei dem man ständig die Kreuzungen wechselt; oder stundenlange Sitzblockaden. Was hat am meisten Effekt; was weckt Aufmerksamkeit und kann die Öffentlichkeit der »schweigenden Menge« erreichen, ohne nur Unruhe zu erzeugen? Die Grundidee von XR ist es, die Zentren der Gesellschaften zu besetzen und für eine »Disruption« zu sorgen, also in einer Art zivilgesellschaftlichen Aufstandes das Immer-weiter-so aufzuhalten, am besten durch die Blockade der zentralen Orte vor den Parlamenten (Extinction Rebellion 2019). Es bringt zu wenig, nur einzelne Teile der fossilen Industrie für einzelne Tage lahmzulegen, wie wir es mit »Ende Gelände« etwa in Bezug auf die Kohlekraftwerke von Vattenfall im Süden von Berlin im Sommer zuvor praktiziert hatten. Das System als solches muss in wenigen Jahren demokratisch umgebaut werden, wenn die Kinder nicht in einer drei, vier Grad wärmeren Alptraumwelt alt werden sollen. Deswegen gilt die Aktion den Zentren der
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Macht – und muss Aufmerksamkeit wecken in einer anderen Dimension als die Aktionen, die sich lokal einem Kohlekraftwerk, einer Bank, oder einem anderen Teil des Uhrwerkes der fossilen Gesellschaft zuwenden. Zu Beginn wissen die Regierungen nicht, wie sie XR einstufen sollen; gerade weil der Aufstand als Idee so deutlich formuliert wird. Umso wichtiger ist für uns das Prinzip der Gewaltfreiheit. Wir arbeiten uns ein in die Geschichte des zivilen Ungehorsams (Chenoweth 2012), in die Risiken, die damit verbunden sind; und in die Tradition, die dahintersteht, von Rosa Parks bis Gandhi und Martin Luther King – alles ausgelöst durch Gretas Besuch in London und unsere Kontakte in die englische Umweltaktivist_innen-Szene. Und jetzt befinden wir uns auf der Straße, mit Greta auf einem Schemel vor uns, und ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen. Der Staat, so haben wir in unseren Diskussionen festgehalten, müsste uns Mitbürger_innen schützen; dafür sorgen, dass es auch noch in 50 Jahren für alle ein würdiges Leben gibt. Deswegen hat diese Blockade Legitimität. Ich schau zum Polizisten hinüber, der den Staat repräsentiert. Er sieht entschlossen aus und schaut Greta an. Wie hatte sie es nur diesmal angestellt? Trotz der unübersichtlichen Lage mit all den blockierten Autos, zwischen denen sie herumspaziert war, und den 100 Menschen, die die Straße blockierten, wusste ich immer ungefähr, wo sie sich befindet. Doch plötzlich saß sie mitten auf der Straße, vor dem Schloss, in einem Anf lug einer ihr eigenen Intuition für politische Aktion und mediale Kommunikation. Wie wenn nichts Außergewöhnliches an der Situation wäre, wendet sie sich jetzt an mich: »Wir lassen die Busse durch.« »Sollen wir die Busse durchlassen?«, frag ich nach. »Ja, nur die Busse; da sind alte Leute drin.« »Ja, aber …« Wir kennen die Diskussion von den XR-Aktionen in London. Da war das Argument, dass die Polizei absichtlich Krankenwagen und Busse in Demos und Protestaktionen hineinschickt, um die Situation aufzulösen. Es gibt ja Umwege. Aber jetzt mit Greta eine Diskussion anzufangen, mitten auf der Straße … Und auf der anderen Seite der Kreuzung stehen ja tatsächlich drei, vier Busse mit älteren Menschen hintereinander und warten auf das, was geschehen mag. Davor sicher zehn Menschen mit Foto- und Filmkameras. Diese Bilder werden für die Klimabewegungen in Schweden noch monatelang als »Hauptwerbung« dienen: Greta protestierend vor dem Abendhimmel und dem Schloss mitten auf der Straße, in ihrer eigenen Selbstverständlichkeit. Zuvor hatte sie eine Stunde lang »Pepparkakor«, die schwedischen Zimtplätzchen, an die blockierten Fahrer_innen verteilt und mit ihnen geredet. Die mit den größ-
Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran
ten SUVs scheinen oft die unfreundlichsten zu sein. Die »Pepparkakor«, die sie aufgetrieben hat, sind die einzigen ohne Palmöl, dessen Produktion die Regenwälder Indonesiens zerstört, und vegan, ein Detail zwar, aber wichtig. Sie bringt viele von uns in den nächsten Wochen dazu, einfach durch die Gespräche, unsere Gewohnheiten zu ändern. Wir hören auf zu f liegen und fangen an, uns vegan oder zumindest vegetarisch zu ernähren, wenn wir das nicht sowieso schon tun. Plötzlich schreit jemand auf. Wir schrecken alle zusammen, inklusive Polizist. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie ein Mann auf ein Auto einschlägt, ein ums andere Mal. Ein Fahrer, der 20 Minuten lang blockiert worden war, ist auf einmal in die Demonstrierenden hineingefahren und hat beinahe ein Kind verletzt. Es ist der Vater, der die Kontrolle verliert. Wir alle stehen ref lexmäßig auf, gehen hinüber und versuchen, die Situation aufzulösen. So findet unsere Aktion ein Ende, ohne dass eine Entscheidung fällt. Was hätte ich getan, wenn der Polizist mit Verhaftungen gedroht hätte? Wie weit müssen wir als Einzelne gehen? Wie können wir uns gegenseitig helfen beim Auf bauen einer wirklich starken globalen Bewegung, die die politischen Regeln verändern kann? XR wurde von Roger Hallam und Gail Bradbrook (2018) und ihren Bekannten gebildet, damit Menschen im Gefängnis landen und so auf den Skandal der Klimakrise aufmerksam machen, ganz anders vorgehend als die früheren Generationen von Umweltaktivist_innen. Eine der ersten Aktionen ist denn auch der Besetzung von Greenpeace gewidmet, als Markierung, dass deren Form von Protest nicht mehr genügt. Es geht gerade darum, den zivilen Ungehorsam herauszustellen, nicht ihn zu verdecken. Nur so kann sozialer Wandel geschehen, zeigt die Geschichte; so zumindest die Theorie. Wenn sich einige tausend Menschen neben uns stellen würden, denke ich, und das sind nicht so viele in einer Millionenstadt, würde das die Welt verändern. Die Geschichte zeigt, dass die zentralen Plätze mehrere Tage lang gehalten werden müssen, wenn gesellschaftliche Transformation wirklich geschehen soll. Später wird die Aufmunterung zur Verhaftung auch in der Bewegung Kritik ernten: Nicht alle Menschen haben das Privilegium, sich verhaften lassen zu können, ohne ihre Existenzgrundlage zu gefährden. Ich schaue zum Auto hinüber. Meine Reaktion ist die, dass ich wütend werde auf den wütenden Vater. Guter Mann, denke ich, hau nicht auf dieses Auto ein. Nur keine Bilder von gewaltsamen Aktivist_innen. Keine Gewalt. Ziviler Ungehorsam, gewaltfrei; das gehört zusammen. Und dann richtet sich die Wut noch gegen etwas Anderes: Wieso müssen wir hier auf den Straßen von
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Stockholm stehen, Bo, Jörg, Greta und ich und mit uns 100 weitere ganz normale Bürger_innen? Warum breitet sich die Bewegung XR aus wie ein Lauffeuer, viel schneller in diesen ersten Monaten als Fridays For Future, das immer noch aus den fünfzehn Stammstreikenden besteht? Wieso reagieren nicht alle, wenn ein Kind sich auf die Straße setzt, weil unser Zusammenleben auf einem lebendigen Planeten noch während der Lebenszeit dieser Kinder gefährdet werden kann – und bereits jetzt die Menschen im globalen Süden viel härter davon betroffen werden? »Tipping Points« und »Feedback Loops« können dafür sorgen, dass die nächsten sieben, acht Jahre die entscheidenden der Geschichte sind; ändern wir nicht jetzt die Grundlagen, kann es für immer zu spät sein (so Schellnhuber 2015). Dies wird vorerst die einzige XR-Aktion von Greta bleiben, obwohl sie sich oft erkundigt, was als nächstes auf dem Plan steht und die Bewegung auf Twitter mitverfolgt und unterstützt. Ihr wird es aber wichtiger sein, dass Fridays For Future so offen und einfach gehalten wird, dass sich jedes Schulkind ohne Bedenken anschließen kann. Die Zeitungen berichten über uns, und bald schon kommt der Plan auf, im nächsten April die Aktionen auszuweiten und die Hauptstädte der westlichen Industriestaaten zu blockieren, London, Berlin, Amsterdam, Stockholm. Doch was soll erreicht werden? Was sollen die im Parlament, vor dem wir stehen, sitzen, tanzen und die Straße stundenlang blockieren, ändern?
Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran
Die drei Forderungen der globalen Umweltrebell_innen Was viele Menschen jeden Alters nach ähnlichen FFF- und XR-Aktionen sagen: In diesen Stunden gemeinsam vor dem Parlament auf der Straßenkreuzung erlebt man eine Art nicht-instrumenteller Beziehung zu einander, und eine Art friedlicher Rückgewinnung von Einf lussnahme und gesellschaftlicher Partizipation, die stark und befreiend wirkt, selbst wenn die Ängste – vor der Krise und der Polizei – und die Trauer vielleicht schon bald zurückkehren. Nach der Aktion sammeln sich alle im Franziskaner. Das älteste deutschsprachige Restaurant in der Stockholmer Altstadt liegt direkt am Meer. Die Anspannung legt sich nur langsam, die Aufregung mit Greta auf der Straße ist noch zu spüren. Sie ist längst nach Hause spaziert. »Ich geh jetzt«, hat sie einfach gesagt, sich auf ihrem Absatz umgedreht und ist davongezottelt. »Wir hätten vielleicht eine Verhaftung provozieren sollen«, sagt Bo, »das ist die Grundthese von XR, nur so schafft man die Aufmerksamkeit, die gesellschaftliche Veränderung bewirkt.« Ich lande zwischen der Yogalehrerin Andrea und dem Arzt Kasper, gegenüber von Bo, wie die anderen 100 Teilnehmenden fast alle zwischen 30 und 55, Lehrer_innen, Arbeitslose, Ärzt_innen, Eingewanderte, Einheimische, einigermaßen intersektional bunt. »Wir können nicht nur blockieren«, entgegne ich. »Wir brauchen eine politische Alternative, eine globale politische Bewegung, der sich alle leicht anschließen können, jederzeit, in allen Ländern; und die eine klare Alternative formuliert, die Punkte benennt, die alle Regierungen ändern müssen: erstens sich an die winzigen Emissions-Budgets halten; zweitens die Kohle und das Öl samt Gas im Boden halten; und drittens dies als gemeinsames Projekt ansehen, bei dem wir uns alle helfen und ungerechte Strukturen abschaffen.« Bo hält dagegen. »Wieso, nein. Zuerst Disruption, dann Auf bau; ansonsten sind wir wieder nur wie eine Partei und ändern nichts. Wieso sollte sich etwas ändern, wenn wir diese Vier-Grad-Maschinerie nicht stoppen?« Die Grundfrage ist die: Die vorherigen Generationen haben die Erde in einen desolaten Zustand versetzt. Jetzt muss ein Gegenprogramm aufgebaut werden. Binnen zehn, 15 Jahren muss eine Gesellschaft da sein, die friedlich miteinander und mit den planetaren Schätzen umgeht, kaum mehr Tiere isst, Energie und Elektrizität aus Sonne, Wind und Wasser gewinnt, und dabei die Dominanzbeziehungen abbaut, die es im Wirtschaftssystem weltweit und national gibt (den Rassismus, die Gender-Ungleichheit) und alle mit genug
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Ressourcen ausstattet, um ein würdiges Leben zu führen (dazu Holthaus 2020). Wie können wir dies erreichen? Extinction Rebellion hat drei Forderungen, die von Fridays For Future dann ähnlich formuliert werden. Erstens: Benennt die Krise als Krise; informiert die Bevölkerungen endlich über den Zustand unseres Planeten und unseren Umgang mit ihm, von der Klimakrise bis hin zur ökologischen des Biodiversitätsverlustes. Zweitens: Die Regierung muss Maßnahmen in Gang setzen, die eine Null-Emission von Treibhausgasen im Jahr 2025 ermöglicht, in allen Sektoren, von Transport, Energie, Finanz-, Landwirtschaft zur Großindustrie. FFF wird sich etwa in der Schweiz auf 2030 als Null-Emissions-Ziel einigen, aber immer darauf hinweisen, dass es nicht auf Zieldaten ankommt, sondern auf den absoluten Ausstoß von Treibhausgasen, das globale »Budget«, das winzig klein ist. Wir treten in diesen Tagen in Kontakt zu den weltführenden Forscher_innen und diskutieren diese Aspekte ausführlich – und werden damit nicht mehr auf hören, ganz im Gegenteil bauen wir diese Zusammenarbeit auch in der Universitätswelt immer weiter aus; die Scientists For Future entstehen. Aber schon bald wird uns klar, die wir jetzt in jeder freien Minute die Fachliteratur studieren, dass das Pariser Abkommen selbst eigentlich die Regierungen dazu zwingt, die der reichen Länder, bis 2030 die meisten Emissionen zu stoppen (Anderson et al. 2020); ansonsten ist das »deutlich unter zwei Grad«-Ziel der Temperaturbegrenzung nicht zu erreichen. Die Welt muss in den nächsten zehn Jahren weit über die Hälfte aller Emissionen beseitigt haben, sagt selbst die konservative UNO; die Emissionen müssen weltweit um über sieben Prozent zurück, jährlich, sagt der UNO Emissions Gap Report. Kein Land ist auch nur in der Nähe einer solchen Transformation. Im Vergleich dazu scheinen die Gesellschaften in eine Art anästhetisierten Zustand geraten zu sein; oder auch aktiv gebracht von denen, die den Status quo nicht ändern wollen, wie uns die Harvard-Professorin Oreskes (2012) erklärt, die die Lobbyarbeit der fossilen Industriesektoren erforscht hat. Immer mehr Meldungen landen täglich in unseren Twitter-, Facebookund Instagram-Flüssen: über das Arktiseis rund um den Nordpol, das binnen weniger Jahre wohl im Sommer ganz wegschmelzen wird; über das schmelzende Permafrost-Eis in Russland, mit dem alle erst in 70 Jahren gerechnet haben; über die tödlichen Dürren und unvorstellbares Leid verursachenden Überschwemmungen in Indien und Moçambique bis zu den Waldbränden in Kalifornien. Wenn wir klarmachen, dass wir nur zehn Jahre
Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran
haben, um alles umzustellen, wird überhaupt erst die Arbeit sichtbar, die damit verbunden ist. Wie drastisch diese gesellschaftliche Veränderung ist, wird auch klar in unseren Gesprächen in den Zoom-Chats in diesen Oktoberwochen, wenn wir die einzelnen Sektoren durchgehen. Was muss passieren, damit das Abstellen der Kohlekraftwerke ohne völlige Disruption der Gesellschaft möglich wird? Die Umstellung des Transportsystems (Auto, Flug) weg von den ölbasierten Antrieben? Es werden ja nicht nur viele Menschen eine Weiterbildung machen müssen und ihre Stellen wechseln. Unser ganzes System ist völlig Fossil-beruhend. Wenn wir morgen Null-Emissionen einführen sollten, würde binnen kürzester Zeit die Versorgung mit unseren Esswaren abbrechen; das Transportsystem; die Versorgung mit Elektrizität und so weiter. Teilweise weil unsere »Waren«, von Kleidern bis Essen, direkt auf einer Emissionsproduktion beruhen, aber auch oft einmal um die Erde herum transportiert werden, bis sie bei uns landen. Mit all dem müssen wir auf hören, und es ersetzen durch eine Kreislauf-Wirtschaft, die nachhaltig ist. Dieses Ersetzen könnte das beste und wichtigste Projekt der Menschheit werden, unser aller Projekt. So müssen wir da herangehen, denke ich, während wir unsere Straßenblockade-Aktionen ref lektieren.
Die dritte Forderung von XR schließlich soll dafür sorgen, dass diese Transformation unserer Gesellschaften demokratisch verläuft, sozial gerecht. Die
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Grundidee ist die: Eine so drastische Veränderung von unseren Gesellschaften, wie sie eine baldige Null-Emissions-Gesellschaft verlangt, braucht eine demokratische »Aufsicht«, sogenannte »citizen assemblies«, Bürger_innenversammlungen, die beraten und mitentscheiden, welche Gesetze für eine gerechte Umstellung für alle sorgen. Ansonsten ist die Gefahr riesig, dass nur bereits privilegierte Gruppen die Macht zu ihren Gunsten umverteilen. Wir brauchen mehr Demokratie, nicht weniger, argumentieren wir.
Gibt es ungeschriebene Gesetze der Menschlichkeit? Im Zentrum all dieser Diskussionen steht eine grundlegende Frage: Wie legitimieren wir gegenüber allen anderen Erwachsenen unseren zivilen Ungehorsam; und überzeugen einen genug großen Teil von ihnen (die Forschung von Chenoweth [2012] spricht von nur drei, vier Prozent, die für eine grundlegende Veränderung notwendig sind), so dass sie sich anschließen? Warum handelt es sich dabei nicht einfach um einen Rechtsverstoß? Wieso zeigt die Geschichte, dass Gesellschaften auf diese Weise verändert werden können; und vor allem fast nur so? Mir hilft in dieser Zeit die Arbeit an der Universität und das Formulieren eines Artikels für den Kulturteil der größten schwedischen Tageszeitung DN, der bald auch publiziert wird. Schon Antigone hat im gleichnamigen Drama vor 2.000 Jahren auf der Theaterszene im antiken Griechenland den Machthaber, Kreon, herausgefordert mit einer der berühmtesten Reden der Literaturgeschichte: Es gibt »ungeschriebene Gesetze« der Mitmenschlichkeit, der Vernunft, die wichtiger sind als die geschriebenen. Wenn wir uns nicht an sie halten, sind wir keine Menschen mehr, macht das Leben keinen Sinn. Und für deren Durchsetzung lohnt es sich, alles zu riskieren. So wie Rosa Parks auf ihren Platz bestanden hat in der Hälfte des Busses, die nur Weißen vorbehalten war (bestens vorbereitet und als Teil einer hart arbeitenden Menschenrechts-Graswurzelbewegung). Die Frage stellt sich dann: Was ist dieser Kompass, an dem gemessen jemand ein Gesetz in einer Demokratie als nicht-legitim ablehnen kann? Was ist es, das den Streikenden wichtig ist und diesen ungeschriebenen Gesetzen der Mitmenschlichkeit die Legitimität gibt und es erlaubt, sich gegen die bestehenden Gesetze zu wenden, um andere, wichtigere, ungeschriebene durchzusetzen? Warum ist das nicht einfach ein Auflauf des Mobs (zur Theorie des zivilen Ungehorsams: Braune 2017)?
Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran
In den letzten 30 Jahren, gerade auch in der Tradition der kritischen Theorie (von Habermas über Honneth bis Menke und Forst), wurde auf diese Frage an den meisten humanwissenschaftlichen Institutionen der Universitäten weltweit geantwortet: Was rechtens ist, ist nicht festgelegt, sondern Resultat von Verhandlungen, an deren Ende dann oft Gleichheit und Freiheit als Kompass herausspringt, die aber verschieden definiert werden und auch durch andere Normen ergänzt werden können. Doch dieses teils liberalistische, teils postmoderne Denken, scheint jetzt in der Zeit des »Neuen Materialismus«, »Konvivialismus« (Vetter 2021; Hickel 2020) und »Posthumanismus« an seine Grenzen zu gelangen. Denn mit den planetaren Grenzen verhandelt man nicht. Die Ozeane kann man nicht mit Argumenten der Postmoderne oder des Sozialkonstruktivismus abkühlen; auch das Leiden verschwindet dadurch nicht. Was ist dann der Maßstab, an dem sich alle Gesetze messen lassen müssen? Er ist in der Deklaration der Menschenrechte festgehalten und im Grundgesetz der meisten Länder: die unkränkbare Würde von allen gleichermaßen. (In der Verlängerung dieses Gedankens machen wir während der XR-Aktionen auf das schwedische Notstandsrecht aufmerksam; die Handlungen sind rechtens, weil sie Leben und Gesundheit schützen.) Und diese Würde, so teste ich zeitgleich in den Vorlesungen an der Stockholmer Universität den Gedanken aus, kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Uns als mit Würde ausgestattet sehen heißt erstens, nicht zu dominieren, das heißt: Herrschaftsverhältnisse zu beseitigen, sei es in Bezug auf Gender (Patriarchat), Ethnizität (Rassismus), Klasse (Ausnutzung) und so weiter; das ist Gemeingut aller human- und sozialwissenschaftlichen Ausbildungen. Die zweite Perspektive ist die des Sich-Kümmerns, der Zuwendung. Es genügt nicht, nur nicht zu dominieren. Jemanden als mit Würde ausgestattet sehen, heißt auch, die Bedürfnisse ernst zu nehmen; niemanden verhungern oder der Krankheit ausliefern zu lassen, und so weiter. Oder mit einer Metapher: der Maßstab für zivilen Ungehorsam ist das Aufrechterhalten und Reparieren dessen, was wir unseren gemeinsamen »Integritätsstoff«, unser Material der Würde nennen können; das, was kaputtgeht, wenn jemand hungert, wenn jemand geschlagen wird, wenn Kinder in ihrer Angst allein gelassen werden (dazu Fopp 2016). Diese Metapher soll auch die Nähe klarmachen von uns zur Natur und zu dem Stoff, aus dem wir gemacht sind, der lebendigen verletzlichen Leiblichkeit, die uns verbindet mit dem ganzen Gewebe der Pflanzenund Tierwelt. Es ist diese Dimension des Integritätsstoffes, die für viele von uns Aktivist_innen am wichtigsten ist; von der viele der Kinder- und Jugendbücher handeln, die ich mit meinen Student_innen bespreche; und auf deren Schutz
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Theorien wie Feminismus, Ökologismus, Postsozialismus, Postkolonialismus und so weiter zielen. Geht es nicht darum bei der Aufrechterhaltung der Gesetze der Menschlichkeit, von denen bereits Antigone gesprochen hat? Um sie zu schützen, ist es nötig, dass wir Erwachsenen uns genauso zusammenschließen, wie es die Jugendlichen von FFF uns vormachen, wenn sie einfach nicht zur Schule gehen, obwohl sie dazu gesetzlich verpflichtet wären. So denke ich in diesen Tagen. Die Kinder mit ihrer beängstigenden Zukunft haben keine Stimme in unserem demokratischen Rechtsstaat. Deswegen müssen wir aufstehen, »we, the people«.
Am 28. Oktober wird Jair Bolsonaro mit 55 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt.
Magie auf dem Münzplatz Es regnet wieder einmal und ist unvorstellbar kalt, Mitte November, ein ganz normaler Streiktag. Die Jungen setzen sich noch immer auf den Steinboden, auf ihre Yogamatten und Rucksäcke. Greta steht daneben, mit gelber Regenjacke und grauem Regenschirm. Sie dreht ihn leicht. Ich gucke von meinem Platz neben dem Blumentopf zu ihr auf, in Gedanken versunken nach einem Gespräch mit einer Journalistin von einer der großen internationalen Zeitungen wie Le Monde, Spiegel oder El País, die jetzt jede Woche den Münzplatz aufsuchen. Richtig regnen tut es nicht, so dass es nichts ausmacht, wenn man den Regenschirm surren lässt. Wir sehen zum Parlamentsgebäude hinüber. »Kannst du nicht schweben?«, frag ich. »So wie Mary Poppins. Rüberf liegen, das ganze da umkrempeln.« Sie nickt. Das wäre was. Magie. Wir sind die Lebewesen, die imaginieren können. Das zeichnet uns vielleicht am meisten aus. Gutes wie Böses können wir zusammenphantasieren. Wenn die Technik des Regenschirms und die Naturkraft des Windes zusammenwirken, mit dem menschlichen Willen, dann gibt es in der Vorstellungskraft Magie. Das ist die zentrale Formel in unseren Vorlesungen zur Theorie der Imagination und Phantasie: Die Magie der Imagination ist irgendwie verbunden mit der menschlichen Auf hebung von Natur und Technik zu einer Freiheit, in der Verletzlichkeit und Macht zusammengehen. Schlimm wird es dann, wenn die Natur oder die Technik von uns Menschen gegeneinander als Mächte aufgebaut statt vereint werden, und die Phantasie bestimmen.
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Mit diesem Blick gehen wir Kinderbücher und -filme kritisch analysierend durch, von »Momo« bis »Harry Potter« und »Titanic«, dem größenwahnsinnigen männlichen Technikprojekt, das mit der rohen Natur kollidiert.
Irgendwann, Monate später, fallen mir die Bestandteile auf dem Münzplatz auf, um die sich alles dreht, und die die Kinder »geerbt« haben, wie sie sagen, als Problem. Sie sind so offensichtlich, stehen so elegant wie selbstverständlich da, dass sie sich gleichsam verstecken. Die Laternen. Die Elektrizität in eigener Person. Vielleicht haben wir als Gesellschaft noch gar nicht wirklich bearbeitet und verstanden, was der mysteriöse Wissenschaftler Tesla allen eingebrockt hat, als er zum ersten Mal den Wechselstrom über weite Strecken aufgebaut und damit das moderne Leben, die moderne Stadt ermöglicht hat. Sie bringen Wärme, versprechen Geborgenheit, Lebendigkeit, Gemeinschaft. Und irgendwo am anderen Ende der Leitung, da ist die Kohle, das Öl, das Gas, die atomare Anlage. Und sollte Wind, Wasser, Sonne sein. Nachhaltigkeit geht dann damit einher, so könnte man behaupten, dass Natur und Technik nicht als Gegensätze auftreten. Ein Windrad folgt dieser besseren Logik. Eine Elektrizität müsste sich jetzt ausbreiten, die gesund ist, genauso wie die in unseren Nervenbahnen. Die Jugendlichen stehen da, unter den Laternen, die immer gerade ausgehen, wenn sie sich an den Freitagen frühmorgens hinsetzen, und benutzen die Gehirnwindungen. Über die Synapsen springen die kleinen elektrischen Impulse und verbinden Zelle mit Zelle, Einsicht mit Einsicht und heraus kommt ein Plan (zu dem, was alle Jugendliche individuell machen können: Hecking/Schönberger/Sokolowski 2019).
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Erster Teil: Die Rebellion der Jugendlichen
Die Geburtsstunde des globalen Netzwerks – das digitale Herz von Fridays For Future und die Idee zum globalen Streik entstehen Es ist ein unwirtlicher Novemberabend, draußen fallen Eistropfen vom Himmel, und Fridays For Future ist gute zwei Monate alt. Jeden Freitag versammeln sich kleine Grüppchen von Streikenden an vielen Orten, die meisten immer noch in Schweden, aber auch in Berlin vor dem Brandenburger Tor steht Barbara Fischer und twittert vergnügt Bilder von ihren sechs, sieben Begleiter_innen in die Welt. Und ungefähr so viele sind es oft, sechs, sieben, fast überall eine kunterbunte Mischung von Jugendlichen und Pensionär_innen, die sich Woche um Woche hinter einem Pappschild versammeln. Alles wird auf dem Münzplatz registriert, dokumentiert, und in die weite Welt verbreitet. Greta spaziert auf und ab und schaut auf den Twitterf luss in ihrem Handy. In diesen Wochen gewinnen sie und ihre Mitstreikenden an Kraft, sie spricht länger, wenn sie von Fremden angesprochen wird, ersetzt ihr so charakteristisches Nicken mit dem Kopf durch einige Sätze. Gut so, denke ich, spaziere selbst hin und her, und versuche, die Rolle von uns erwachsenen Wissenschaftler_innen zu verstehen; etwa drei, vier sind wir jetzt, die jede Woche auftauchen. Janine winkt mir zu. Es geht um Vorbereitungen für eine Aktion im Rahmen von etwas, was »Climate Alarm« heißt und jährlich von allen Klimabewegungen veranstaltet wird. Beim Klima-Alarm handelt es sich, erklärt sie, um eine international koordinierte Demonstration mit Reden. Das Ganze soll Anfang Dezember an einem Samstag stattfinden, nicht einem Freitag. Ich nicke, leicht skeptisch. Während die Jugendlichen darüber diskutieren, ob sie anfangen sollen, mit ihrem Namen in die Öffentlichkeit zu treten und die vielen Interviewanfragen anzunehmen, teilt mir Janine mit: »Ich habe dich in den Chat versetzt.« »Climate Alarm FFF« heißt er, ein kleiner unscheinbarer Facebook-Chat. Wir sind zuerst nur sieben, acht Teilnehmende, europäisch und intergenerationell zusammengewürfelt, Brice aus Luxemburg, Marta aus Portugal, Benjamin aus Frankreich, Andreas aus Dänemark. Unsere Schwed_innen. Sie spielen alle Hauptrollen in der beginnenden Geschichte von FFF, weil sie in diesem Chat landen. Er ist einer von hunderten, die in diesen Monaten gegründet werden; auch wenn uns bei der Benutzung der Plattformen dieser Internet-Firmen unwohl ist, weil sie fragwürdige Geschäftsmodelle und enorme Emissionen aufweisen. Aber er ist ein spezieller. Alle Versammelten sind Freiwillige, die in ihren
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lokalen »Communities« Demonstrationen und andere Aktivitäten veranstalten. Es handelt sich dabei gerade nicht um NGOs, sondern um wirkliche Graswurzelbewegungen. Doch Chats oder WhatsApp-Gruppen können Begegnungen nicht ersetzen. Also verabreden wir uns auch für dieses »Climate Alarm«-Projekt bald schon zu einem ersten Zoom-Meeting im Netz. Acht Uhr abends, an einem Sonntag. So beginnt die Geschichte der internationalen Fridays For Future-(Internet-)Vernetzung. Und so entsteht, Woche um Woche, Monat um Monat das, was das Herz und Zentrum von FFF wird, der digitale Puls. In diesem Chat und den Zoom-Meetings wird die Idee für den globalen Streik geboren, das Datum des 15. März diskutiert und bestimmt, der ganze Streik koordiniert und organisiert. In ihm (und bald auch den WhatsApp-Gruppen) wird die Krise um die Straßburg-Reise zum EU-Parlament ausgetragen und die Zahlen der Teilnehmenden nach dem globalen Streik ausgezählt. Er wird sämtliche technischen Innovationen als altes Relikt überstehen, den Umzug auf Discord, dann Telegram, und er stellt den Informationskanal dar, den alle benutzen, wenn sie die anderen zentralen Gestalten der globalen Bewegung schnell erreichen wollen. Es gibt zwar dann spätestens ab Januar einen konkurrierenden WhatsApp-Kanal, aber der ist halb-anonym und schnell wird alles zum Konf likt. Das gleiche gilt für die Telegram-Kanäle. Dieser alte Facebook-Chat behält seinen Namen, und so wird die digitale Zentrale von FFF immer »Climate Alarm« heißen. Viel später, nach dem zweiten globalen Streik im Mai und den Kämpfen mit den NGOs, die sich an ihn anschließen, büßt der Chat seine Funktion ein und schläft ganz plötzlich im Juni von einem Tag auf den anderen ein, nach fast einem Jahr. Er hat eine gute Arbeit geleistet. Aus ihm entstehen früh im Dezember wie kleine Setzlinge aus der Ursprungspf lanze kleine andere Chats und regelmäßige Zoom-Treffen, die sich dann zu zentralen Atemwegen von FFF mausern: der Streik-Daten-Chat; der Neue-Länder-Willkommens-Chat; der Logo/Arts-Chat und so weiter. Es gibt dabei weder ein Meritokratie-, noch ein Repräsentanzprinzip: Man kann auch nur einmal gestreikt haben und es können zehn Teilnehmende aus dem gleichen Land dabei sein. In diesen Anfangszeiten steht dieses Prinzip über allem anderen. FFF ist ein von Jugendlichen initiiertes und geleitetes Netzwerk, keine Organisation. Ab Dezember und Januar kommen dann die Schweizer_innen dazu. Loukina Tille leitet diese internationalen ZoomTreffen Woche um Woche. Gleichzeitig tauchen bei uns auf dem Münzplatz die Jugendlichen Isabelle, Ell, Simon (und viele andere) auf und sind schnell
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in der internationalen Organisation allgegenwärtig. Die Bewegung hat ihr digitales Zuhause gefunden, und auch wenn an diesen Meetings immer nur wenige, und vor allem aus Europa, teilnehmen, weiß man, wo der Puls schlägt, und wo man sich erkundigen kann, was überhaupt läuft, weltweit: Die indigene Bevölkerung aus Südamerika ist bald genauso vertreten wie die Rebell_innen aus Australien, die jungen Spezialist_innen für grafisches Design, allen voran Yacine aus Frankreich genauso wie die Kanadier_innen, die an Klimanotstand-Gesuchen arbeiten. Neue Gruppen formieren sich in Indien, der Ukraine, Bangladesch. Die Agenda wird meistens ad hoc erstellt. Früh steht da immer »FFFs Forderungen« darauf, ein Punkt, der die ganze Bewegung noch auf den Prüfstand stellen wird. Und plötzlich hat jemand die Idee eines globalen Streiks. Im Gegensatz zu Extinction Rebellion war Fridays For Future immer, von Anfang an, auf globale soziale Gerechtigkeit ausgerichtet. »Equity« und »social justice« sind Begriffe, die Greta und mit ihr etwa die Schweizer Vollversammlung früh in die Welt kabeln. Nicht, dass dieser Punkt für XR nicht wichtig war, aber der Fokus der Bewegung ist auf die jeweilige Hauptstadt gerichtet, die konkrete Blockade und die Idee von demokratischen Bürger_innenversammlungen. Die Fridays For Future-Jugendlichen hingegen haben sich von der ersten Sekunde an als Teil einer ganzen Generation gesehen, und als eine globale Bewegung: »There is no planet B«, sagen die, die überall auf diesem »Planet A« leben. So ist die Idee einer globalen Koordination der Streiks nicht abgelegen, ganz im Gegenteil. Die Frage drängt sich immer mehr auf: Wann soll dieser Riesenstreik stattfinden? Wozu kann er genutzt werden? Wie so oft in diesen Wochen können Ideen, sind sie einmal in der Luft, nicht mehr zurückgenommen werden. Es gibt ja keine Hierarchien und niemanden, der Verbote oder Prioritäten festlegen könnte. Bei uns auf dem Münzplatz herrscht teilweise eine Skepsis: Ist es nicht doch besser, wenn einfach weiter wöchentlich gestreikt wird? Ein Riesenstreik könnte diese Tradition abbrechen und zu viele Ressourcen binden. Doch da schlägt jemand ein Datum vor, den 15. März, und ab da ist der Stein am Rollen. »Wieso sollen wir gerade den 15. März auswählen für den globalen Streik?« »Ja, wir wissen, dass XR am 15. April mit der großen Blockade von London beginnt; sollen wir nicht lieber den 7. März nehmen? Wir brauchen Abstand.« Die Ferien der aktivsten Länder werden durchkämmt, auch die Feiertage; nicht, dass viele am gewählten Datum gar nicht streiken können, weil sie sowieso frei haben. Der 8. März ist der internationale Frauentag, und FFF will diesen würdigen und nicht konkurrieren.
Kapitel 2: Fridays For Future und Extinction Rebellion wachsen heran
Aber dass die Welt am 15. März streiken wird, liegt letztlich an der UmweltBeauftragten von Stockholm, Katarina Luhr. Ihr wollen nämlich die Jugendlichen vom Münzplatz eine Aufforderung übergeben, jetzt im Herbst: Sie soll einen Plan vorlegen, wie das Treibhausgas-Emissions-Budget eingehalten werden kann, das Prof. Kevin Anderson und andere Uppsala-Forschende just für Stockholm erstellt haben. Der 15. März scheint ein ausgezeichnetes Datum dafür zu sein; vier Monate sollten genügen, um einen Plan zu erstellen. Am 15. März wird Stockholm-Stadt keinen Emissions-Reduktions-Plan vorweisen, aber das geht im Trubel des globalen Aufstandes unter.
Manchmal, wenn einige Länder plötzlich den Kompass verlieren, poste ich in diesem Hauptchat eine Erinnerung an Gretas Grund-Ziffern zum KlimaBudget und zu den Informationen, die auf Gretas Papier stehen, das sie in diesen Wintermonaten anfangs noch mit einem Stein beschwert neben sich legt, aber dann irgendwann nicht mehr mitnimmt, weil es im Schneeregen kaputtgeht. Ansonsten halte ich mich stark zurück, und greife nur ein, wenn ich denke, dass alles auseinanderbricht, oft, fast immer sind es Augenblicke, in denen plötzlich eine kleine Gruppe oder Einzelperson für die ganze Bewegung sprechen will, oder die Ausrichtung des Netzwerkes zu grundlegend zu ändern versucht, etwa den Namen auswechseln will. Oder wenn sich Erwachsene in den Vordergrund drängen. »Wir können die Jugendlichen unterstützen, aber wir sind nicht FFF. Das müssen wir respektieren.
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Die Jugendlichen sind die Bewegung«, sage ich oft. Darauf bestehe ich und verweise immer und immer wieder auf Roger Harts Text (Hart 1992), den er für UNICEF geschrieben hat und der beschreibt, wie Erwachsene Jugendlichen helfen können bei deren selbstinitiierten Projekten, ohne dabei selbst plötzlich die Leitung zu übernehmen. Wir müssen uns als Erwachsene selbst organisieren, denke ich; als Wissenschaftler_innen, Lehrer_innen, Künstler_innen. Und stehe bald mit meinem #ScientistsForFuture-Schild auf dem Platz. Während Extinction Rebellion sich in den nächsten Monaten nicht so gut entwickelt, blüht Fridays For Future auf. Dass der Grund-Facebook-Chat und die Meetings anfangs zumindest so einen Erfolg haben, liegt auch daran, dass sie von vornherein aktionsbezogen sind, eingerichtet, um eine ganz konkrete Aktion an einem konkreten Tag zu planen, eben zuerst den »Climate Alarm« vom 9. Dezember, dann den 15. März. Es war nie ein reiner OrganisationsChat oder ein Chat, in dem sich alle tummeln, die mit FFF arbeiten wollen, sondern ein ganz pragmatischer Chat, in dem alle etwas zusammen vorbereiten. Damit hatte er einen klaren Fokus. Alle, die sich da und in den Zoom-Treffen auf halten, sind mehr und zugleich weniger als sie selbst: Sie müssen nicht zeigen, wie klug sie sind, sondern können auch einfach zuhören, was es für Ideen gibt und worauf man sich einigen kann. Man kann auch sagen, dass man ganz neu ist und keine Ahnung von nichts hat. Es ist ein eher prestigeloser Ort, im besten Sinn ein Dorfplatz, ein Treffpunkt, ein digitaler Münzplatz, in dem man direkt kleinere Probleme lösen kann, und in dem man größere Projekte schmiedet und auslagert in eigene Chats und Zoom-Meetings. Ohne dieses Zentrum funktionieren wohl selbst Rebell_innenbewegungen nicht, fabulieren wir weiter, wenn wir die Köpfe schütteln über diejenigen, die XR immer mehr zu einer Organisation umbauen. XR Schweden hatte auch so einen Kanal, und dies hat das Gelingen garantiert. Sobald sich dieser auf löste im Dezember, löste sich XR Schweden für Monate fast ganz auf. Es gibt zwar eine Organisation mit deutlich definierten Arbeitsgruppen und Rollen samt Mandaten (gemäß dem Holacracy- und Self-OrganizingSystem-Modell), aber das Zentrum fällt weg; und die Aktionsbezogenheit. »Dezentral«, obschon wünschenswert, bedeutet dann einfach, dass diejenigen mit den größten Ressourcen und informeller Macht etwas machen, ohne dass der Rest richtig miteinbezogen wird: Das Recht des Stärkeren herrscht oft, wenn Menschen von »Dezentralisierung« sprechen. Die Erwachsenen verheddern sich schnell im Machtgerangel. Diesen Fehler macht FFF nicht. Und FFF bleibt in diesen entscheidenden Monaten frei vom Einf luss von or-
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ganisierten, bezahlten Klima-Profis, von Erwachsenen in NGOs und Institutionen. Auch Gretas Eltern tauchen auf dem Münzplatz kaum auf. Es ist Gretas Streik, und der ihrer jugendlichen Mitstreikenden. Von den helfenden Erwachsenen ist niemand angestellt oder einer NGO zugehörig geschweige denn bezahlt; es handelt sich um eine organisch wachsende Graswurzelbewegung. Viele rechte, und einige linke Journalist_innen und Politiker_innen wollen das nicht glauben. Vor allem wird in diesen ersten Wochen die Beziehung vom Klima-Unternehmer Ingmar Rentzhog zu Greta immer und immer wieder thematisiert (Wolff 2019). Rentzhog selbst macht in den ersten Tagen auf Gretas Streik aufmerksam durch Facebook-Posts. Als er versucht, sie in einen Teil seines Projektes »We Don’t Have Time« einzuspannen, zieht sie sich schnell zurück und sorgt dafür, dass FFF unabhängig bleibt und mit keinen finanziellen Interessen verbunden wird. So wird es bleiben. Es ist der Streik der Jugendlichen. Monate später werden einzelne Mitarbeitende der Organisationen »350« und GSCC den Thunbergs bei der Bewältigung von logistischen und kommunikativen Aufgaben (E-Mail-Bewältigung) helfen, vor allem bei Reisen; ich stehe selbst in Austausch mit ihnen, achte aber immer auf kritische Distanz. Und in einigen Ländern versuchen NGOs wie BUND, WWF, 350, Avaaz oder Greenpeace die Streikenden im besten Fall zu unterstützen, was geschätzt wird, im schlechten Fall organisatorisch und inhaltlich zu beeinf lussen. Darauf reagieren die Jugendlichen selbst kritisch. Das Fundament von Fridays For Future sind Tindra, Isabelle, Ell, Simon und Greta und alle anderen auf dem Platz; später in der Schweiz Loukina, Lena, Fanny, Jonas, Matthias und Paula; in Uganda Hilda und Vanessa; nicht: bezahlte, organisierte Erwachsene. Wenn das Etablissement der manchmal »green-waschenden« Klima-Community sich mit Greta fotografieren lässt, liegt das nicht daran, dass Fridays For Future sich derer geschäftemachenden Grundhaltung anschließt oder gar von ihnen gesteuert wird. Die Kritik an den »Hochglanz«-Unterstützern und ihrer Sicht auf die Wirtschaft ist von Anfang an in Gretas Reden, aber auch in den Manifesten vieler Länder verankert. Doch die NGO-isierung und damit Abschwächung des wirklichen Aufstandes der Jugendlichen mit ihrer Graswurzelbewegung ist eine Gefahr, die den Jugendlichen bewusst ist; und sie wird nie verschwinden. Der Klima-Alarm-Tag selbst, für den der Grundchat von FFF gegründet wurde, geht dann Anfang Dezember fast in der Aufregung um die Aktionen von FFF und XR unter. Er hat seine historische Rolle erfüllt: Durch ihn wurde ein digitales Zentrum für die Klimagerechtigkeitsbewegungen geschaffen.
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Kapitel 3: Das Fundament Der (klima-)wissenschaftliche Hintergrund Die erste schwedische Rede – der Abend im Oscar Theater Und so fangen Ende November zwei der wichtigsten Wochen in der Geschichte von Fridays For Future an. Zuerst hält Greta ihre erste längere Rede überhaupt, im Oscar Theater in Stockholm. Dann explodiert der erste internationale Streik mit dem Aufstand von 10.000 australischen Schüler_innen. Greta bricht am selben Tag zum UNO-Gipfeltreffen der Klimaforscher_innen beim COP-Treffen im polnischen Katowice auf. Sie hält ihre schnell weltbekannte Rede. Und die Streikidee ist von da an nicht mehr zu stoppen. In diesen Tagen wird deutlich, worum es auch, und zentral, geht: dass die Generation der Erwachsenen unverantwortlich agiert. Der Streik bekommt die Form des Aufstandes der Kinder gegen die älteren Generationen. Es ist ein lauer Montagabend, der 26. November, und Greta steht auf der Bühne des Oscar Theaters mitten im Stockholmer Stadtzentrum. Sie hält eine ihrer ersten Reden auf Schwedisch, eine ihrer ersten Reden vor großem Publikum überhaupt. Der Saal ist voll, über 800 Zuschauer_innen sind gekommen. Vor und nach ihrem Auftritt sprechen die Erzbischöfin Antje Jackelén, der ehemalige Präsident des Club of Rome, Anders Wijkman, und Gretas Vater über die Klimakrise. Zwischendurch singt ihre Mutter schwedische Lieder, begleitet von ihrem eigenen Kammerorchester. Das ist das einzige Mal, dass die Familie gemeinsam zu sehen ist in all diesen Monaten. Das Projekt der Streikbewegung ist Gretas, und sie sieht zu, dass es nicht mit dem Engagement der Eltern vermischt wird, die sich jahrelang etwa für Gef lüchtete eingesetzt haben und in Schweden bekannte Persönlichkeiten sind. Svante, der Vater, hatte in den letzten Jahren das Management für die Opern-Karriere von Malena, der Mutter, übernommen. Er kommt nur ganz
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selten vorbei, spricht mit uns nur einige Sätze, versucht, die Situation und Leute zu verstehen, die sich da plötzlich zu seiner Tochter gesetzt haben, bringt das Mittagessen und spaziert dann wieder davon. »Hej«, sagt Greta. »Hej«, sagen alle im Publikum. Und dann beginnt eine Rede, bei der ich mehrfach fast aufstehe, auf meinen Sessel springe und rufe: »Sie hat ja recht. Wir müssen etwas machen, jetzt.« Aber ich tu es zum Glück nicht. Sie dauert etwa acht Minuten, ist vollgepackt mit Informationen, biographischen Berichten über ihre Asperger-Neuroatypie, ihre Depression, die sie überwunden hat, und deren Zusammenhang mit der Klimakrise. Für viele Kinder weltweit ist das offene Reden über die Aspergerdiagnose befreiend; sie ist nicht nur ein Hindernis, sondern kann auch eine Superkraft sein. Und so kommt Greta zu den wichtigsten Fakten: Der Durchschnittsschwede produziert zehn bis elf Tonnen CO₂ pro Jahr; es sollten unter zwei sein. Die Emissionen müssen um über zehn Prozent sinken, pro Jahr, weil nur noch 340 GT global ausgestoßen werden dürfen; ansonsten erwärmt sich die Erde um mehr als 1,5 Grad, und in acht Jahren etwa ist dieses Budget aufgebraucht (Thunberg 2019). Der Mensch hat über 80 Prozent der Säugetiere ausgerottet, auf dem Land und im Wasser lebende. In die Subvention für fossile Brennstoffe werden jährlich nach wie vor Milliarden Euro investiert. Die Stimmung ist fokussiert im Theaterraum. Nach und nach verwandeln sich die Bilder und Zahlen in ein klareres Bewusstsein. Ah, so sieht es aus und so steht es um unseren Planeten. So und nicht irgendwie merkwürdig verschwommen. Auch mit denen, die um die Klima- und ökologische Krise wussten, und das sind ja die meisten der grauhaarigen Theaterbesucher_innen, geschieht etwas Eigentümliches während dieser Minuten. Das Wissen verwandelt sich von etwas Abstraktem in etwas klar Gesehenes und Gefühltes. Es wird so deutlich, dass es kein Zurück mehr gibt. So eine Erfahrung schildern viele in diesen Wochen, eine Veränderung im Bewusstsein und damit im Leben. Greta hat die gleiche Rede am Vortag auf Englisch gehalten, und sie stellt sie als TED Talk einige Wochen später ins Netz. In dieser Herbstzeit fangen rechte Politiker_innen und Journalist_innen an, sie zu kritiseren und vor allem zu beleidigen, als krank und ausgenutzt hinzustellen; Netztrolle wüten. Ein Argument ist dabei, dass sie ihre Reden nicht selbst schreiben würde, das sei schlicht nicht möglich. Für mich ist die Situation absurd, vor allem wenn ich die Angriffe der älteren weißen Männer lese, die oft auch Herausgeber der wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen sind. Während all der Monate höre ich Greta hunderte von Interviews geben, und sie spricht auf eine Art,
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die es möglich macht, diese Interviews direkt zu übernehmen, ohne Schnitte. Es ist gleichsam eine Lust an der Sprache selbst, die wie angeschaltet wird, sobald ein Mikrofon unter ihrer Nase landet. Sie beherrscht die Fakten, lässt, was sie schreibt, von Wissenschaftler_innen wie Kevin Anderson gegenlesen. Sie erzählt früh, dass sie ab und zu einfach Formulierungen von anderen aufschnappt, sie zuspitzt und die sammelt, die ihr wichtig erscheinen; und sie improvisiert neue Formulierungen herbei, die ganze Zeit. Sie wechselt in den Reden oft vom einem inkludierenden »wir«, zu einem »denen«, die nichts wissen; zu einem »die«, die zerstören, zu einem »die«, die wissen und doch nichts tun, zu einem »wir« der Kinder und einem »wir« der globalen Bevölkerung. Sie malt mit wenigen Worten und Sätzen ein ganzes Szenarium auf. So verschiebt sie die »handelnde Person« von einem »wir« zu »denen« und zurück zu einem »wir«. Von Miteinbezug zu Anklage, zu Besänftigung, zu Aufruf, zu Drohung und radikaler Inklusion. Ich glaube, so viele sagen, dass sie so berührt sind, auch weil man wie in ein Gespräch hineingerät, obwohl es ein Monolog ist. Für einige Jugendliche, in allen Ecken der Welt, sind diese Reden etwas vom wichtigsten. Sie spitzen ihre Ohren und fühlen sich inspiriert, zu agieren.
Die Grundprinzipien Fridays For Future hätte nie so schnell wachsen können, hätte es nicht ein Zentrum gegeben, von dem in diesen ersten Monaten niemand abweicht. Dazu gehören: keine genauen Forderungen aufstellen, die über den Verweis auf das Pariser Abkommen und das 1,5-Grad-Ziel des IPCC-Rapports SR15 hinausgehen; Andersons und Rahmstorfs Berechnungen der Emissions-Budgets berücksichtigen, also Null-Emissionen in den nächsten etwa zwölf Jahren in europäischen Ländern; Gewaltfreiheit; Ganzheitlichkeit: wir brauchen eine systemische Transformation, ein neues Denken; samt soziale Gerechtigkeit und Gleichheit. Umstritten ist auf dem Münzplatz eigentlich einzig die Frage, vor allem unter den Studierenden, ob sie nicht auch konkretere politische Forderungen und Vorschläge präsentieren sollen und dürfen. Dies wird bald zum großen (und produktiven) Streitthema der Bewegung werden. Doch der Prinzipien-Blumenstrauß ist übersichtlich und radikal genug, um die ganze Bewegung monatelang zusammenzuhalten – die Diskussionen orientieren sich konsequent an ihm; sämtliche Entscheidungen, Plakate, Interviews. Die Jugendlichen vom Münzplatz machen alles, um ihn hervorzuheben und ihn zu schützen.
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Die Aufgabe der Wissenschaftler_innen Ob wir unsere Gesellschaft innerhalb von zwölf oder 35 Jahren nachhaltig ohne Emissionen umbauen müssen, spielt eine Rolle. Entweder sind wir gezwungen, uns zusammenzureißen zu einer gemeinsamen Kraf tanstrengung, oder eben nicht. Gäbe es keine Kipppunkte – wie der komplette Verlust des Polar- oder Grönlandeises – oder negative selbstverstärkende Effekte wie das Abtauen des Permafrosts, wäre alles wohl halb so schlimm. Es gäbe die Sicherheit von linearen Entwicklungen. Aber dem ist nicht so. Die Gefahr, dass das ganze System kippt und sich der Planet um mehrere Grade erwärmt, für uns unbewohnbar, ist real (Lynas 2020). Was in diesen nächsten fünf Jahren an Weichenstellungen getroffen wird, entscheidet über die Entwicklung des Jahrhunderts. Auf der anderen Seite wissen wir, dass das Stoppen der CO₂-Emissionen direkte Auswirkungen hat und der Temperaturanstieg gebremst wird. Wir sind nicht einfach nur Naturprozessen ausgesetzt. Wir können Verantwortung übernehmen, sagen die Wissenschaftler_innen. Und so rückt die Klima- und Umweltwissenschaft ins Zentrum des Geschehens. Auf sie verweisen die Jugendlichen auf dem Münzplatz bei allen Interviews. Und bald finden sich erste Forscher_innen, die sich auf die Seite der Kinder und Jugendlichen schlagen.
Kapitel 3: Das Fundament
Am Anfang ist es fast nur Maria Johansson, die sich der Münzplatzgruppe anschließt. Sie steht da und nimmt Stellung, als Umweltwissenschaftlerin der Universität Stockholm. Ansonsten ist es lange still. Sehr lange, monatelang. Ein halbes Jahr lang. Maria bearbeitet ihre Klimawissenschafts-Kolleg_innen, nur wollen die meisten nicht als Universitätsforscher_innen auftauchen, höchstens als Privatpersonen. Sie geben der Bewegung recht. In privaten Gesprächen bestätigen sie ein ums andere Mal Gretas Zahlen. Aber man könne doch nicht offen Stellung beziehen. Wissenschaftler_innen hätten neutral zu bleiben. Stimmt das? Was ist die Aufgabe derer, die der Staat zur Forschung anstellt und die sehen, dass dieser Staat nicht adäquat agiert zuungunsten der Kinder? Zusehen? Eingreifen? Was Maria Johansson mit ihren täglichen Gesprächen unter Kolleg_innen macht, wird über die Monate hinweg Wirkung zeigen. Zuerst sind es zwei, drei, die dazukommen, vor allem Douglas Nilsson, der noch eine zentrale Rolle für die Gründung der Scientists For Future spielen wird; ab März dann fast das ganze Bolinzentrum, der Zusammenschluss der Klimaforscher_innen über die Universitäten der Stadt hinweg, die sich von da an begeistert auf den Platz begeben, mit einem riesigen Plakat: »Fragen zum Klima? Frag uns«. Dabei sind einige der renommiertesten Forscher_innen der Welt. Sie sehen sich gezwungen, zu handeln und die Streikenden zu unterstützen, offiziell, weil die Politik mit »falschen«, irreführenden Zahlen und Parametern operiert oder die richtigen gar nicht zur Kenntnis nimmt: Das schwedische Ziel von Null-Emissionen im Jahr 2045 stimmt nicht mit dem Pariser Abkommen überein, sagen sie; und vor allem: Schweden ist nicht einmal auf dem Weg zu diesem schiefen Ziel. Die Emissionen sinken kaum. Das akzeptieren sie nicht mehr. Die Streikenden haben ihnen plötzlich einen Raum eröffnet. Manche haben jahrzehntelang heimlich in ihren kleinen Büros gef lucht, aber sich nicht getraut, etwas zu unternehmen. Jetzt können sie es tun, im Schutz der zehn Jugendlichen. Sie sagen: was die Politik macht, und eigentlich sämtliche Parteien, riskiert eine Erwärmung um drei, vier Grad innerhalb der nächsten 70 Jahre, die Alpträume wahr werden lässt; und die Überschwemmungen und Dürren geschehen bereits jetzt, überall. Die Versorgung aller Menschen mit Wasser und Nahrung ist gefährdet (Wallace-Wells 2019; Lynas 2020). Sie sehen das große Ganze, das, was die Forschung »great acceleration« nennt: wie sämtliche Kurven sich parallel entwickeln und immer steiler nach oben zeigen, wie ein Hockey-Schläger, eben sich beschleunigend; die des CO₂Ausstoßes und der Temperaturerhöhung durch die fossile Gesellschaft; die
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der Müllproduktion; des Wasserverbrauchs; des Ausrottens der Tierarten; der BNP-Zunahme durch die fossile Wirtschaftsaktivität; der Übersäuerung und Überfischung der Ozeane – wie also das »earth system« auf sozio-ökonomische Faktoren reagiert und fiebrig wird. Diese »Beschleunigung« (Abbildung 1) müssen wir auf halten, so die Aufgabe. Abbildung 1: »The great acceleration« – der Hintergrund der Klimakrise
Aus: Stef fen, W. et al. (2015)
Ich bin mir vor allem in den Anfangsmonaten nicht ganz sicher bei diesen wissenschaftlichen Detail-Diskussionen. Greta ist fast besser informiert, merke ich bei unseren wöchentlichen Gesprächen, trotz meiner Vorlesungen zur Nachhaltigkeitsforschung, und ich baue deswegen nach und nach ein Netzwerk auf. Im September gründe ich die Scientists For Future (viel später wird es dann zur »richtigen« Gründung der S4F in Deutschland kommen), und stehe ab und zu mit einem Scientists For Future-Schild auf dem Münzplatz. Wir bilden Studiengruppen und lesen die Forschung von Schellnhuber (2015), Rahmstorf (2019), Anderson (2019), Rockström (2019), aber auch die Arbeiten, die sich kritischer zur entstehenden Bewegung äußern. Wir sprechen mit den Stockholmer Universitätskolleg_innen wie Frida Bender und Douglas Nilsson, oder mit Line Gordon vom Stockholm Resilience Centre, einer der renommiertesten Institutionen zur Nachhaltigkeitsforschung weltweit, die dann auch zusammen mit den Jugendlichen auf der Bühne stehen während des zweiten und dritten globalen Streiks im Mai und September. In der Nacht vor dem einen Streik rufen sie an: Wir haben einen
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Schneeball gebaut und brauchen hinter der Bühne eine Kühltruhe – wo bekommen wir die her? Sie treten mit dem 1.000-seitigen IPCC-Rapport auf und schwenken ihn den 10.000 Jugendlichen Im Publikum zu. Sie alle bestätigen: Die meisten Politiker_innen verzerren das Bild des Zustandes der Erde und der geforderten Reaktion. Worum geht es also? Was gesichert ist, ist der Zusammenhang zwischen dem Ausstoß der Treibhausgase und dem Temperaturanstieg. Diese Korrelation kann die Wissenschafts-Community gut abschätzen, schon seit 40 Jahren. Deswegen kann man berechnen, wie viel CO₂(-Äquivalente) höchstens ausgestoßen werden darf, wenn die Erde sich nicht mehr als 0,5 Grad über die bereits verursachten 1,1 Grad erwärmen soll. Es sind um die 420 GT im Jahr 2018, folgt man dem Szenario im IPCC-1.5-Spezialrapport, das für Greta leitend ist (wie im Kapitel zum Smile-Treffen ausführlicher begründet). Warum ist die Rede von »Netto-Null-Emissionen im Jahr 2050« dann so misslich? Null-Emissionen von Treibhausgasen würde bedeuten, dass wir nicht mehr ausatmen dürften. Das ist natürlich als Ziel unsinnig. Die NullEmissionen, die wir brauchen, bedeuten hingegen, dass das ausgestoßene Kohlendioxid und Methan so gering sind in ihrer Menge, dass sie durch die Wälder und die natürlichen Prozesse wieder aufgenommen werden können. Dann wäre das eine Ziel erreicht, nämlich dass kein zusätzliches CO₂ mehr als Wärmemantel in die Atmosphäre gelangt. Die sogenannte Keeling-Kurve, die den Anstieg der CO₂-Konzentration in der Luft anzeigt, würde nicht mehr steigen, zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Diese Konzentration muss wieder auf unter 350 ppm gedrückt werden; sie liegt über 417 ppm, so hoch wie wohl nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. In den letzten Jahrtausenden war die CO₂-Konzentration etwa immer bei 280 ppm. Wir haben das ganze System radikal verändert, in 100 Jahren, die ganze Luftzusammensetzung. Ein Wärmemantel ist entstanden. So weit, so unkontrovers, so fatal. Das Problem dabei: es geht nicht mehr nur darum, nicht nach noch mehr Öl, Kohle und Gas zu suchen, wie der Gap Report der UNO zeigt (UNEP Production Gap Report 2019). Bereits mit der vorhandenen Infrastruktur (Kohlekraftwerke, Ölraffinerien etc.) werden mehr Treibhausgase ausgestoßen werden, als dies möglich ist, wenn die Erde sich nicht mehr als 1,5 bis zwei Grad erwärmen soll, im Vergleich zu den vorindustriellen Zeiten, also wenn das Pariser Abkommen eingehalten werden soll. Und da fängt das russische Roulette der Politiker_innen an, die in allen anderen Bereichen die konservativsten sind. Viele sprechen nämlich davon, dass wir bis 2050 »Netto-Null«
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erreichen sollten; und danach große Negativ-Emissionen einsetzen müssen, durch die das Kohlendioxid aus der Luft gesaugt und im Boden verstaut würde (wobei unklar ist, wie dies technisch geschehen soll in dieser Menge). Im Prinzip sämtliche Szenarien der europäischen Regierungen gehen von enormen technischen Negativ-Emissionen aus. Gigantische Mengen CO₂ müssten unterirdisch gespeichert werden. Die meisten Menschen haben davon keine Ahnung, und in diesem Sinn sind die konkreten Klimaziele und -pläne etwa Schwedens, Deutschlands oder der Schweiz fast ein Betrug an der Generation der Kinder auf dem Münzplatz. Einige Forscher_innen beschreiben dies als eine Kampfansage, ein Krieg der Generation der 50-jährigen Politiker_innen gegen ihre eigenen Kinder (Stiegler 2020). Es gibt einige Wissenschaftler_innen, die der Fridays For Future-Bewegung freundlich gesonnen sind, die aber das Zählen auf solche enormen (vor allem: technischen) Negativ-Emissionen für realistisch und notwendig halten und oft auch deswegen weniger drastische Maßnahmen fordern. Die meisten weisen aber darauf hin, dass zwar Negativ-Emissionen durch das Aufforsten von Wäldern und generell eines »Rewilderings« (Monbiot 2014) einsetzen müssen (auch durch Technik), weil die Keeling-Kurve auf 350 ppm sinken muss, aber dass vor allem alles dafür getan werden sollte, damit diese zu reduzierenden Emissionen so wenige wie möglich werden. Wie gesagt existiert kaum skalierbare, bezahlbare Technologie; und Pläne für ein »Geoengineering« hören sich für die meisten von uns abgründig an, können sie doch das ganze planetare »earth system« gefährden. Klug wäre es, die Wälder nicht noch mehr abzuholzen. Außerdem wollen diese scheinbar progressivsten Regierungen der Welt ein 50-prozentiges Risiko eingehen, dass das Ziel nicht erreicht wird, spielen also mit der Zukunft der Kinder Roulette. Und sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass durch die Luftverschmutzung (»Aerosole«) bereits bis zu 0,6 Grad Erderwärmung in das System eingebaut sein könnte (dazu Rahmstorf 2020). Was heißt das für die Politik? Eigentlich dürfte es bis rund um 2030 oder wenige Jahre später keine größeren Emissions-Quellen mehr geben, so sagen es uns Stefan Rahmstorf und Kevin Anderson, die beiden wichtigsten Wissenschaftler auch für Greta; nicht in Europa und den reicheren Ländern, aus Gerechtigkeitsgründen. Schellnhuber (2015) sagt in seinem monumentalen Werk: Bis 2040 muss die ganze Welt die fossilen Energien hinter sich lassen. Keine Massen an Kohle, Öl und Gas dürfen verfeuert werden. Nicht durch Heizungen, Autos, Flugzeuge oder die Stahl- und Zementindustrie,
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kaum Methan durch die Tiere, die verspeist werden. Die Emissionen müssen um über zwölf Prozent pro Jahr sinken in Ländern wie Schweden, von jetzt an (Anderson et al. 2020). Deswegen sitzt Greta vor dem Parlament. Dieses hat beschlossen, 2045 als Null-Emissions-Ziel anzustreben. Ein solches Ziel nimmt keine Rücksicht auf »Tipping Points« und »Feedback Loops«, und vor allem nicht auf soziale Gerechtigkeit und Fairness, »Equity«, rechnet mit »schiefen« Technologien und geht ein enormes Risiko ein, dass alles misslingt. Die westlichen reicheren Länder müssen laut dem Pariser Abkommen schneller auf nachhaltige Wirtschaftsweisen umsteigen als die ärmeren. Sie müssen außerdem die ärmeren Länder massiv mit Finanzierung bei ihrer Transformation unterstützen, auch laut dem Pariser Abkommen (Thanki 2019). Selbst einige Umwelt- und Klimawissenschaftler_innen nehmen das kaum zur Kenntnis; und so viele Politiker_innen sehen daran vorbei. Eine öffentliche Debatte etwa dazu, was Gerechtigkeit bedeuten könnte, müsste anbrechen.
Globale Perspektive und das ungerechte Klassenzimmer Zu dieser Zeit werden auch Jugendliche im globalen Süden hellhörig. Vanessa, Leah und Hilda in Uganda, einzelne Kinder in Nigeria und Kenia, Joshua in Ghana und mehrere Studierendengruppen aus Bangladesch und Pakistan melden sich via Twitter. Die globale, nach vielen Forscher_innen (etwa Hickel 2018) ungerechte Struktur des Weltwirtschaftssystems ist oft Thema bei den Nachhaltigkeitsvorlesungen, die meine Kolleg_innen und ich an der Universität halten. Wenn man so will, ist der Kampf der Politiker_innen in Schweden, der Schweiz oder den USA zur Bewahrung der »fossilen Ordnung« nicht nur einer, der gegen die Generation der Jugendlichen in ihren eigenen Ländern gerichtet ist, sondern vor allem einer gegen die Kinder im globalen Süden (Margolin 2020). Sie haben mit Abstand am wenigsten zu den CO₂-Emissionen beigetragen und sie spüren die Konsequenzen der Erderwärmung bereits viel deutlicher, die Dürren, die Überschwemmungen, aber auch die Folgen des Rodens der Wälder. Deswegen skandieren die Jugendlichen bei allen Streiks überall auf der Welt – und es ist vielleicht das einzige universale Konzept in diesen Monaten: »Wir wollen Klimagerechtigkeit.« Was für die Verhältnisse innerhalb der einzelnen Länder gilt, gilt auch für die globalen: Es sind wenige, die reichste Schicht von zehn Prozent, die
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für den Ausstoß von über 50 Prozent der Treibhausgase verantwortlich ist (Anderson 2019); und die über mehr als 80 Prozent der Vermögen verfügen, selbst in scheinbar demokratisch strukturierten Ländern wie Schweden und der Schweiz. Das wäre, sage ich zu meinen 20 Studierenden im Universitätssaal, wie wenn zweien von euch mehr oder weniger alles gehören würde, eine enorme Machtkonzentration kommt zustande – und diese zwei gleichzeitig das Leben der anderen durch ihre Emissionen verschlechtern oder sogar zerstören. Wieso sollte das jemand akzeptieren, ist dann die Frage. Auch wegen dieses Unrechts gehen viele Jugendliche auf die Straße. Das leuchtet den meisten Studierenden ein; sie reagieren heftig schon auf kleinste Anzeichen von Ungerechtigkeit, wenn wir zusammenarbeiten. Was noch fehlt, ist dann die Entschlossenheit, dafür aufzustehen und dem ein Ende zu setzen; das, was man in der Forschung »agency« nennt. Historisch ist die Auf häufung von enormen Reichtümern in dieser obersten Schicht des Westens direkt verbunden mit der Extraktion der fossilen Brennstoffe wie Kohle in den Ländern des globalen Südens, erkläre ich weiter in meinen Vorlesungen zu Nachhaltigkeit – und mit dem Ausnutzen der Menschen, die da wohnen (Malm 2016 und 2017). Der Aufstand, der sich durch Greta in diesen Monaten anbahnt, wird so auch einer der Kinder dieser durch die fossile Gesellschaft am meisten benachteiligten Länder. Es geht, so sind wir uns an der Universität einig, darum, Demokratie neu zu denken und auch durchzusetzen, nicht nur innerhalb der Nationen, innerhalb der lokalen Wirtschaftssysteme, sondern auch global. Derjenige Klimawissenschaftler, der diese Perspektive auf soziale Gerechtigkeit und globale Fairness immer und immer wieder betont, ist Kevin Anderson.
Die Idee der Emissions-Budgets Von all den Wissenschaftler_innen, die für diese ersten sechs Monate von FFF wichtig werden, ragt Kevin Anderson heraus: Professor in Manchester und während der für Fridays For Future entscheidenden Jahre an der Universität Uppsala angestellt, wo ihn sowohl Greta mit ihren Eltern, als auch wir anderen Klimaaktivist_innen besuchen. Das Universitätszentrum, an dem er arbeitet, CEMUS, spielt generell eine zentrale Rolle in den sich ausbreitenden Klimabewegungen. Niclas Hällström, einer von dessen Gründern, ist ein wichtiger Bestandteil der Münzplatzgespräche und kommt oft auf dem
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Platz vorbei. Kevin hat eine Persönlichkeit, die am ehesten einer Theaterfigur ähnelt, »bigger than life«, wie Danton oder Robespierre oder jemand aus dem Arsenal der französischen Revolution, drahtig und mit einem warmen Gerechtigkeitssinn ausgestattet, nicht bereit, nur um vor Kolleg_innen besser dazustehen, schiefe Kompromisse einzugehen, mit trockenem britischen Humor, auch auf Twitter nicht Kontroversen ausweichend, mit einer wissenschaftlichen Deutlichkeit und sprachlichen Prägnanz. Seine Spezialität sind die Berechnungen von Emissions-Budgets, also dem Tortenstück an Kohlendioxid-Ausstoß, das uns noch zusteht, wenn wir die Erhitzung aufhalten wollen. Ohne ihn hätte Greta ein wichtiges Puzzleteil gefehlt.
Die entscheidende Einsicht ist die: Es geht gar nicht um Zielsetzungen wie »wir wollen Netto-Null 2050«, wie es die EU, die Schweiz und Schweden sagt (da: 2045). Was zählt, sind einzig die absoluten Zahlen der ausgestoßenen Treibhausgase. Um sie geht es. Dass die Regierungen sich um diese
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»Budgets« nicht kümmern, sondern über abstrakte Ziele reden, erscheint als bewusste Verschleierung. »Netto-Null 2045« kann bedeuten, dass die Emissionen tatsächlich stetig zurückgehen, linear; oder aber dass die Emissionen sogar noch steigen, zehn Jahre lang, um dann zu fallen. Dann landen aber sehr viel mehr Treibhausgase in der Atmosphäre. Was unsere Regierungen beschließen müssten, wäre das Transparentmachen der wirklichen Emissionen und das Sich-Halten an Budgets; was sämtliche Minister explizit verweigern (etwa die deutsche Ministerin Svenja Schulze mehrfach gegenüber dem ZDF) – wohl, weil dann den meisten bewusst wird, dass die jetzt etablierte Politik in Europa mitnichten die Emissionen um zehn Prozent pro Jahr mindert. Es müssten wirkliche Pläne her, wie das vonstatten gehen kann, Sektor für Sektor. Das wäre die Hauptaufgabe der Ministerien zurzeit, so viele Forscher_innen (Anderson et al. 2020). Nichts davon geschieht. Selbst in den Universitäten getraut sich das kaum jemand zu sagen; auch darauf verweist Anderson, der mindestens so sehr die Akademie wie die Politik kritisiert. Andersons Gegenstück in diesem Kampf zur Durchsetzung von EmissionsBudgets statt abstrakten Netto-Null-Zielen ist Stefan Rahmstorf, der uns auf dem Münzplatz besucht, eine zentrale Figur am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, zusammen mit Hans Joachim Schellnhuber, der die Regierung offiziell berät, und Johan Rockström, dem Schweden, der früher hier in Stockholm auf die Klimakrise aufmerksam gemacht hat. Rahmstorf nutzt wie Anderson oft Twitter als sein politisches Sprachrohr und scheut sich nicht davor, sich direkt an die deutsche Regierung zu wenden. So reagiert er zum Beispiel heftig auf Angela Merkels ersten langen Kommentar zu Fridays For Future. Die Bundeskanzlerin deutet bei der Welt-Sicherheitskonferenz in München an, dass Fridays For Future eigentlich eine von russischen Internettrollen gesteuerte Aktion sei. Im besten Fall eine unfassbar dumme Aussage, denken wir hier in Stockholm, im schlimmsten eine gezielt perfide platzierte Verunsicherung der Jugendlichen. Es sind nicht russische Trolle, sondern Greta, Isabelle und Loukina, die an der Arbeit sind. Auf Twitter entsteht so langsam ein Netzwerk der bekanntesten und wichtigsten Klimawissenschaftler_innen, die sich hinter Greta und die Münzplatzgruppe stellt: Douglas Nilsson aus Stockholm, Michael Mann aus Philadelphia, Julia Steinberger aus Leeds, Katharine Hayhoe, Reto Knutti aus Zürich und so weiter. 20 der renommiertesten Institute weltweit sind so vertreten.
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Abbildung 2: Der geforderte Emissions-Rückgang (420-GT-Budget)
Grafik: Robbie Andrew
Rahmstorf twittert früh schon eine Grafik, die Greta mehrmals »retweeted« und die aufzeigt, wie 2020 die Emissionen »peaken« müssen, um sodann drastisch abzunehmen (Abbildung 2). Wie wir alle sehen können, da der Temperaturunterschied zwischen der letzten Eiszeit und unserem jetzigen Holozän nur vier Grad beträgt, sind schon Temperaturerhöhungen um zwei Grad, oder gar um vier, mit einer umfassenden Veränderung der Lebensumstände für so viele von uns Lebewesen verbunden. Wenn die Natur 1.000 Jahre Zeit für eine solche Umstellung hat, kann sie sich anpassen. Wir provozieren diese Umstellung in eine wärmere Richtung in einer Zeitspanne von 100 Jahren. Dadurch ist die Gefahr sehr real, dass Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden (Abbildung 3), hinter die wir nicht wieder zurückgelangen können. Deswegen kann der Unterschied zwischen einer 1,7-gradigen Erderwärmung und einer 2,5-gradigen völlig verheerend sein, weil die Wahrscheinlichkeit, solche »Tipping Points« zu überschreiten, schon bei der Marke von zwei Grad sehr viel höher ist.
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Abbildung 3: Die Kipppunkte im Klimasystem
Grafik: Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
Aber, so argumentieren viele in der Bewegung von FFF und XR, eigentlich ist diese Sichtweise und das ganze Konzept der Emissions-Budgets selbst schon fast zynisch. Bereits jetzt haben das Verbrennen von Kohle und Öl der letzten 100 Jahre zu einem drastischen Anstieg der Welttemperatur um ungefähr ein Grad bewirkt. Hunderttausende Menschen verloren und verlieren in den Dürren und Überschwemmungen ihr Zuhause.
Es gibt nicht nur Naturwissenschaftler_innen Aber es sind nicht nur die Naturwissenschaftler_innen, die in diesen Wintertagen an den Universitäten aufwachen. Auf dem Münzplatz kommen regelmäßig die Pädagog_innen und Nachhaltigkeitsforscher_innen Isabelle Letellier, Leif Dahlberg und Kristin Persson vorbei. Und ab November versammelt sich an fast jedem Mittwochabend ein kleiner Kreis von Forschenden in einem finsteren Raum unserer kleinen Institution der Stockholmer Universität: »Blackbox Humanwissenschaften« heißt das Projekt.
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Draußen ist es schon dunkel, früh jetzt, die Schneeflocken wirbeln durch die Luft. Die verschiedensten Departments der Stockholmer Universität sind im Raum vertreten, die Pädagogik und Psychologie, aber auch das KarolinskaInstitut, die medizinische Hochschule, die Neurologie und die Psychophysiologie. Nun wollen wir ein neues Zentrum aufbauen, an dem die Stockholmer Kinder anstatt nur mit naturwissenschaftlichen Experimenten auch mit solchen der Sozial- und Humanwissenschaften spielen können; das Thema: Wie soll eine nachhaltige Demokratie aussehen, die auf sie, ihre Perspektive Rücksicht nimmt, die Kinder miteinbezieht? Da fällt mir die ganz ähnliche kleine Forschungsgemeinschaft ein, die 100 Jahre zuvor dieser Frage nachgegangen war und intensiv nach einem adäquateren Menschenbild geforscht hatte. Aus ihnen sind Teile der modernen Psychologie (Köhler), Neurobiologie (Goldstein), Pädagogik (Wertheimer) und Philosophie (Merleau-Ponty) hervorgegangen, Gestalttheoretiker_innen, wie sie sich nennen, weil sie auf holistische Zusammenhänge fokussieren, auf das Ganze, auf systemische Veränderungen (Fopp 2016). Und wären sie nicht durch die politische Menschenverachtung vor dem Zweiten Weltkrieg in alle Ecken der Welt vertrieben worden, viele von ihnen jüdische Bürger_innen in Europa, hätte vielleicht die Universität als Institution eine andere Entwicklung nehmen können. Das zentrale Thema all dieser Forschung: Was heißt es, wirklich zu sich und anderen in Kontakt zu sein? Wie diesen nicht-entfremdeten Austausch ermöglichen? Wir suchen nach einem neuen Bild von uns Menschen, die wir über einen Körper, soziale Interaktion, Empathie und Phantasie verfügen und mit der Umwelt vernetzt sind; auch in der Universität und als Forschende. Wer sich von seiner Forschung nicht existentiell berühren lässt, und entsprechend auch gesellschaftlich agiert, nimmt die eigene Forschung nicht ernst; so eine These der »transformativen« Forschungstradition (Leavy 2009). Das Betroffensein gilt es in der Forschung und im Unterrichten zu verankern; aber auch das HandelnKönnen und -Wollen. Das ist es, was wir im Aufbau des neuen Studienganges ausprobieren. Wie lehrt man diese Fähigkeit, »agency« genannt? Eine mögliche Antwort ist: durch eine Kombination an Fakten-Erklären, einem spielerischen Umgang, der die Handlungslust weckt, und dem Schaffen von konkreten Möglichkeiten sich zu engagieren. Und dadurch, dass wir Lehrende Vorbilder sein müssen. Studierende merken ja, wenn wir unsere eigene Forschung nicht ernst nehmen und uns außerhalb des Saales inkohärent verhalten. Die Überlegungen zum In-Kontakt-Sein auf gleicher Augenhöhe, sie bilden mein eigentliches Forschungsfeld, in einer Mischung aus Neurophysiologie,
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Psychologie, Pädagogik und Politikwissenschaft. Es geht um das Verständnis davon, wie wir diesen Alltag, das Arbeiten, Spielen, Leben so – auch global – gestalten können, dass wir uns nicht notwendig von uns abschneiden, uns »entfremden«, sondern in eine gute Form von Austausch kommen. Wenn es ein Zentrum, einen Kern der zukünftigen Null-Emissions-Gesellschaft gibt, einen Kompass, der die allgemeine Rede von »Respekt gegenüber den planetaren Grenzen und den Grundbedürfnissen aller Menschen« fundiert, dann ist es just der, behaupte ich in meinen Vorlesungen: Verhältnisse zu schaffen, in denen dieser doppelte gute Kontakt zu uns und den anderen möglich ist, für alle. Dieses praktische Wissen fehlt aber oft an den Universitäten – etwa dazu, wie leicht sich Kinder muskulär verkrampfen und sich vom Kontakt zu sich und anderen abschneiden, wie ihn etwa die Alexander-Technik, die Bindungstheorie von Bowlby oder die Entwicklungspsychologie von Winnicott und Stern analysieren (dazu Fopp 2016). Damit, so die kritische These, fehlt aber eine Grundlage für das Fundament vieler Fächer, sowohl was den Inhalt anbelangt (von Architektur über Ökonomie bis Geschichte, Philosophie und Pädagogik), als auch was die Art zu unterrichten betrifft, die Didaktik. Sie könnte sich eben daran ausrichten, auch etwa in der Nachhaltigkeitswissenschaft, dass wir soziale, kreative, interaktive Lebewesen sind, die den Kontakt zu sich, Anderen und der Umwelt einbüßen können. Nimmt man diesen Standpunkt ein, ist vieles, was an den Universitäten in den Sozial- und Humanwissenschaften passiert, nicht wissenschaftlich abgesichert, weil der Bezug zu dieser Forschung fehlt, zu diesem sozialpsychologisch-physiologischen Fundament. Sie, diese Forschung, ist in den einzelnen Fächern zwar etabliert, wird aber nicht allgemein interdisziplinär zur Kenntnis genommen, und hat kaum Einfluss auf die Art, wie an Universitäten unterrichtet wird. Das fällt auch vielen studierenden Jugendlichen auf, die streiken: Selbst umweltwissenschaftliche Lehrgänge haben gleichsam gar keine existentielle Verankerung in der gegenwärtigen politischen Situation und im natürlichen Umfeld. Damit wird aber ein wirkliches Verstehen der Zusammenhänge sehr schwierig. Deswegen kombinieren die Kurse etwa am avancierten CEMUS-Institut in Uppsala Aspekte der Klimaforschung mit solchen der Philosophie oder Technikforschung. Teilt man diesen Gedanken, wird deutlich, dass es eine neue Aufklärungswelle brauchen würde, wirklich eine neue Art zu denken und uns als lebendige Wesen auf einem lebendigen Planeten zu sehen. Solange die Lehrenden weder eine intersektionale Herrschaftsanalyse ihres eigenen Verhaltens im Universitätsraum durchführen können (dazu etwa Carbin/Edenheim 2013) noch ein
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praktisches Wissen dazu haben, wie sie selbst Dominanzverhältnisse durchschauen und konkret umformen können durch das Einrichten von demokratischen Räumen (Johnstone 1987), noch verstehen, wann wirklicher Kontakt abgebrochen wird und wie er physiologisch zustande kommt, kann kaum wirkliche Bildung geschehen – die Sozial-, Human- samt die Wirtschaftswissenschaften bilden Menschen aus, die sich gegen die Klima- und ökologische Krise nicht wehren, weil ihnen diese grundlegende demokratische Dimension in ihrer Ausbildung fehlt, so die These dieser Forschungstradition. Sie haben nur ein abstraktes Wissen.
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Das könnte sich schnell ändern, so mein Plan. Die Disziplinen könnten in einer Graswurzelbewegung wie den Scientists For Future vernetzt werden, die ich in diesen Wochen gründe. Doch die Organisation gelingt nicht wirklich gut. Es sind immer noch viel zu wenige, die sich für die Klimakrise interessieren. Noch hat Greta ihre Rede in Katowice nicht gehalten. Und um eine solches Netzwerk aufzubauen, braucht es Zeit, Ressourcen und ein spezifisches soziales Know-How. Dies zeigen bald einige deutsche Wissenschaftler_innen rund um Gregor Hagedorn in Berlin, die in diesen Tagen langsam auf die Bewegung aufmerksam werden.
Der Winter bricht an und die Münzplatzbande verdoppelt sich Da geschieht etwas Einschneidendes. Der Münzplatz verwandelt sich. Der Eisstand ist verschwunden. Und an einem frühen Freitagmorgen kommt ein Lastwagen angerollt. Es ist der Mandelmann. Im schwedischen Winter tauchen überall in der Stadt kleine Stände auf, in denen die Passant_innen sich mit Glühwein und gebrannten Mandeln versorgen können – wenn sie sich denn mit ihren dicken Handschuhen überhaupt zutrauen, die kleinen Süßigkeiten in den Mund zu stopfen, ohne dass sie am Stoff der Handschuhe hängen bleiben. Der Mandelstand-Wagen hält genau da, auf dem kleinen Teil des Münzplatzes (der Tage-Erlander-Platz heißt), wo Greta ihre polizeiliche Bewilligung zu ihrem Streik hat. Die Rebell_innenbande stellt sich misstrauisch auf: Konkurrenz ist nicht erwünscht. Eine halbe Stunde später sitzen alle wieder auf ihren Yogamatten und stopfen sich Unmengen an gebrannten Mandeln in den Mund. Aber noch jemand taucht in diesen Tagen auf dem Platz auf. Und dies wird sehr viel größere Konsequenzen mit sich ziehen. Isabelle Axelsson und Ell Jarl, beide 17 Jahre alt, schließen sich der Kerngruppe rund um Tindra, Mina, Eira, Edit und Morrigan an, bald auch die Gleichaltrigen Simon, Vega, Ebba, Astrid, Anton, Linna, Johanna und viele mehr; und schließlich Isabelles Zwillingsschwester Sophia. Mit dem Einzug dieser etwas älteren zweiten Hälf te der Rebell_innengruppe verwandelt sich der Münzplatz endgültig zum »Hub« des globalen FFF-Netzwerks. Viele der Neuen wenden sich schnell der internationalen Bewegung zu, die sie überhaupt erst miterfinden.
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Isabelle und Ell kommen in diesen Tagen immer zu zweit, als beste Freundinnen, die sie sind; Isabelle einen guten Kopf länger, mit ihrem riesigen Halstuch, das auf den Twitterbildern ihr Erkennungszeichen wird; Ell oft mit einer Baseballmütze oder knallroten Kappe auf dem Kopf, immer bereit, uns andere zu necken. Sie haben sich schon lange Sorgen wegen der Klimakrise gemacht und heimlich zuhause den Streik verfolgt. »Ich war seit September auf dem Laufenden, via Facebook«, sagt Ell. »Das gleiche gilt für mich«, fügt Isa belle hinzu. »Aber warum gerade zu diesem Zeitpunkt?«, frage ich die beiden, die sich schon lange kennen, aus den Tagen, als sie sich vor vier Jahren in einem Tierclub und Umweltzentrum getrof fen und später im Rahmen von »Earth Strike« bereits die Idee eines Generalstreiks verfolgt haben. Die Klimakrise begegnete ihnen damals als Bedrohung für die Tierwelt, »und unzählige Umwelt-Dokumentarfilme habe ich mir angeschaut«, ergänzt Isabelle. »Jetzt reicht’s. Dachte ich im Dezember«, sagt Ell, und getraut sich als erste von den beiden auf den Platz. »Genug ist genug. Ich kann nicht zuhause sitzen, und es geht mir schlecht, weil die Welt untergeht, so ungefähr. Und als wir kamen, waren die Leute hier richtig freundlich. Das waren richtig gute Gespräche und gute Leute. Deswegen habe ich weitergemacht.«
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Zu streiken war vor allem für Isabelle am Anfang sehr ungewohnt. »Ich bin die Schülerin, die immer pünktlich zu allen Stunden kommt, und dann plötzlich … geh’ ich nicht hin. Mein Lehrer war verwirrt. Meine Eltern waren verwirrt.«
Doch dann sehen alle den Ernst hinter ihrem Engagement. Sie bekommt die notwendige Unterstützung. Sie und Ell tauchen beim Streik oft wie Greta um Punkt acht auf. Auch in all den Wochen, in denen Greta auf Reisen ist, übernehmen sie unzählige Interviews, und halten Greta auf dem Laufenden, was die Pläne der ganzen Gruppe anbelangt. Bei den globalen Streiks tritt Isabelle als Moderatorin und Rednerin auf. Zuhause hat sie zwei forschende und lehrende Eltern, und viel Unterstützung; auch Ells Vater hilft oft ganz konkret mit bei den globalen Streiks, etwa was das Auf bauen der Bühne angeht. Isabelle hält sich über die sozialen Medien auf dem Laufenden, was die Forschung anbelangt und verfolgt, wie die Politiker_innen sich im Parlament äußern. Und sie vergräbt sich zusammen mit Ell, Vega, Simon und den anderen in die entstehenden internationalen Beziehungen. Bande werden von den beiden geknüpft, mit den Schweizer_innen, Jonas und Loukina, David in Italien, Saoi in Irland, später mit Dylan in Schottland, Alejandro in Madrid, Vanessa in Uganda, Mitzi auf den Philippinen, den Brasilianer_innen in Manaus, und und und. Ell leitet mit Loukina oft die Sitzungen. Bald ist das Twitterkonto in ihren und Tindras Händen. Zusammen mit Vega und Edward übernehmen sie Aufgaben im Auf bau der neuen internationalen Discord-Plattform und bringen die Debatten im Haupt-Facebook-Chat voran. Simon Lagerlöf wird immer mehr zum Netzspezialisten der ganzen globalen Bewegung, hilft beim Auf bau der neuen Webseite, behält den Überblick über all die verschiedenen »Social Media«-Kanäle und trägt mit seinem Designinteresse auch konkret zur Ausgestaltung der Seiten bei.
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»Wir sind genau aufgetaucht, bevor FFF explodiert ist. Vor Katowice und Davos«, sagt Ell. »Vorher war das ein wenig eine merkwürdige Sache. Niemand wusste genau Bescheid. Wir waren ja immer noch nur zehn Leute hier, jede Woche. Und dann waren wir auf einmal Teil und Zentrum eines internationalen etablierten Netzwerks. Einer Weltsensation. Von außen gesehen.« Auf dem Münzplatz ändert sich die Stimmung vor allem durch die neue Intensität der Verbindungen. Wie ein Gehirn, dessen Nervenzellen plötzlich rasend schnell miteinander Verknüpfungen auf bauen und Informationen austauschen, verwandelt sich der Platz zu einem wuseligen Zentrum. Ell, Edward, Simon, Vega und Isabelle halten sich auf dem Laufenden, und beziehen die alte Gruppe mit ein: Wer streikt wo auf der Welt? Wer vertritt welche Position? »Oh nein, der da greenwasht. Und von dem wissen wir nicht einmal, ob das wirklich ein Mensch ist oder nur ein Fake-Konto.« Italien werden plötzlich alle Passwörter zu den sozialen Medien geklaut; Indien auch. »Oh, die da stellen Forderungskataloge auf, was für ein Schrott.« »Plötzlich explodiert es überall«, sagt Isabelle. »In Belgien, der Schweiz, in Deutschland – und wie wir gefeiert haben, als 15.000 in Australien gestreikt haben!« Solche Ziffern sind weiterhin undenkbar in Stockholm oder in Schweden. »Und die Medien. Am Anfang war niemand hier«, Isabelle zeigt auf den Platz. Die Atmosphäre ändert sich. Und lässt träumen. »Ich möchte, dass ganze Städte sich anschließen«, sagt Ell. »Jetzt ist es genug. Wir haben es satt.« Dem kann Tindra nur zustimmen, die für die neu Angekommenen eine wichtige Funktion einnimmt. Sie stellt die Verbindung zur Gruppe derjenigen Stammstreikenden dar, die sich bereits in den ersten Tagen zu Greta gesetzt haben. An den Freitagen kommt sie oft mit selbstgebackenen Kuchen zum Platz, oder mit Riesenmuffins, veganen, versteht sich. »Ich wusste, dass es schlimm um die Umwelt und das Klima steht, und dann sehe ich: Da gibt es eine Möglichkeit, etwas zu tun.« Mit der Zeit ist es auch sie, die zusammen mit wenigen anderen um acht Uhr auftaucht und von da an den Tag eröffnet, vor allem wenn Greta auf Reisen ist. Sie hilft dabei, die einzelnen Teile der Stockholmer und dann auch der schwedischen Bewegung zusammenzuhalten. Sie hat viel Humor und ein sehr breites Gesellschaftsinteresse, ist belesen und engagiert sich auch in Bezug auf andere Themen. Viele von den Jugendlichen verfügen über einen intersektional trainierten Blick, also einen, der Unrecht und Diskriminierung in Bezug auf Gender, Klasse, Ethnizität und so weiter zusammendenkt.
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Sie kümmert sich bald schon um das Instagram-Konto der schwedischen Fridays-Gruppe und nimmt bei den Planungen für die größeren Streiks teil, kann aber genauso bei den Märschen die Masse der zehntausenden von Gleichaltrigen anführen, oder in den Fernsehstudios Rede und Antwort stehen. Und sie tut sich mit Isabelle und Andreas zusammen und fährt zum ersten internationalen Treffen nach Straßburg zum EU-Parlament und trifft auf 60 FFF-Gleichgesinnte. Die Gruppe auf dem Münzplatz ist so bunt geworden, dass sich für verschiedene Projekte ganz unterschiedliche Konstellationen bilden können.
Einige wie Ell und Isabelle bauen mit anderen zusammen den Kontakt zu den Gewerkschaften auf. Andere gehen in die Schulen und halten Vorlesungen. Und noch jemand kommt dazu. Isabelle steht plötzlich doppelt auf dem
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Münzplatz, als Sophia dazustößt, ihre Zwillingsschwester, die in den ersten Monaten an der Westküste gestreikt hatte, in der Nähe der größten Ölraffinerie Schwedens, und die schnell die Mitverantwortung für die FFF-E-MailAccounts und die sozialen Medien übernimmt. Eigentlich auch ein Teil der Münzplatzgruppe ist Andreas, obwohl er in Falun wohnt und streikt, drei Stunden nördlich von Stockholm. Doch er ist so aktiv und im permanenten digitalen Austausch, dass er in die Diskussionen einbezogen wird. Oft nimmt er für die Treffen im Greenpeace-Lokal in Stockholm die dreistündige Zugreise auf sich, steht dann beim dritten globalen Streik als Redner auf der Bühne und kritisiert die Politik der schwedischen Regierung in deutlichen Worten. Und doch ändert sich nichts. Noch nicht? Die Regierungsverhandlungen sind immer noch in Gang, seit den Tagen, an denen Greta damals im September die Idee von Fridays For Future entwickelt hat. Von der Klimakrise ist dabei nicht die Rede. Die Welt scheint den Jugendlichen nicht zuzuhören. Doch da kommt Verstärkung von einer ganz anderen Art.
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30. November – der erste Riesenstreik in Australien Der lebendige Planet ist in diesen Tagen krank, vor allem in Australien. Eine Hitzewelle nach der anderen macht Menschen, Tiere und Pf lanzen kaputt. Am 30. November stehen plötzlich 10.000 Kinder und Jugendliche auf und verlassen koordiniert ihre Klassenzimmer. Es ist der größte und erste riesige Streik der Bewegung. Und er bildet den Anfang von unzähligen, die jetzt Woche auf Woche aufeinander folgen werden, zuerst in Belgien, dann in der Schweiz und nach und nach in über 100 Ländern, bis am 15. März während des globalen Streiks 1,5 Millionen sich zusammenschließen. Was jedoch für die meisten als Sensation kam, ahnten die Jugendlichen auf dem Münzplatz schon Wochen im Voraus. »Wo ist sie denn?«, rufe ich. Es ist zehn Uhr. Die Bilder von den Kindern, die mit ihren Schildern durch die Straßen von Melbourne, Sydney und Perth ziehen, gehen um die Welt. Australien ist uns einen halben Tag voraus mit der Uhrzeit, also längst auf den Beinen, und Janine mit ihren beiden Jugendlichen ist nirgendwo zu sehen. Sie hat sich so auf diesen Tag vorbereitet, Australierin, die sie ist, zusammen mit den anderen Kindern und Müttern in ganz Australien. Gegen Mittag kommt sie dann, hat kaum geschlafen. Heute ist nicht nur der große Australientag. Heute fährt auch Greta nach Katowice und gleichzeitig sollen die anderen Jugendlichen vom Münzplatz dem Stadtrat von Stockholm eine Forderung übergeben: Ein Kohlendioxidbudget muss her und ein politischer Plan, der zeigt, wie die Emissionen um über zehn Prozent jährlich sinken können. Alle sind nervös.
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Wie kann es sein, dass plötzlich zehntausende Jugendliche gleichzeitig ihre Schulzimmer in ganz Australien verlassen und auf die Straße gehen? Gretas Interviews und Reden sind dort in den vergangenen Wochen von den Schüler_innen aufgefangen worden. Sie waren nur der letzte Funken in einer schon lange aufgeladenen Situation. Die Firma Adani hatte angekündigt, eine neue, gigantische Kohlemine zu bauen, die das Klima für Jahrzehnte auf heizen wird. Darauf hin hatten sich Aktivist_innennetzwerke gebildet, die auch von den Schüler_innen benutzt werden. Das Wetter war schon länger völlig aus dem Ruder gelaufen, Temperaturen von 45 Grad sind keine Seltenheit mehr. Die Jugendlichen wurden immer mehr politisch sensibilisiert, wie ihre Altersgenossen in Amerika mit ihrer Sunrise-Bewegung. Einige fangen an, sich zu organisieren. Sie bauen schnell eine Webseite auf und erreichen so die ganze Nation. Jean Hinchcliffe wird schnell eine der bekanntesten Jugendlichen und lacht über das ganze Gesicht in die Fernsehkameras; und formuliert die ganze Wut auf die Regierung, die ihre Zukunft völlig bewusst aufs Spiel setzt. Auch Eltern, oder eigentlich, wie in den kommenden Monaten überall auf der Welt, Mütter samt einige NGO-Mitarbeiter_ innen sind dabei: Helfer_innen, die in den Wochen vor dem Streik mit Stockholm fast täglich chatten und die Kinder unterstützen, wo es geht. Einige der Jugendlichen in Castlemaine, Victoria, fangen bereits an einigen Tagen an. zu streiken, und werden zu Vorbildern. Und dann, an einem kalten Novembertag, Wochen vor dem Streik, sitzen die Jugendlichen auf dem Münzplatz wie gewohnt auf ihren Matten und starren in ein iPad: Da tauchen die Gesichter der Schüler_innen in Australien auf und stellen Fragen zum Streiken. Wie reagiert man auf dumme Passant_innen; was braucht man während eines Streiktags; worauf sitzt ihr eigentlich … Die Kinder am anderen Ende der Welt bekommen zumindest das Gefühl, dass so ein Streik nichts Unmögliches ist. Der Plan für den Riesenstreik vom 30. November verfestigt sich und wird Realität. In die generell politisch explosive Lage hinein – rund um den Bau der Adani-Mine – ist der schwedische Aufruf zu einem Schulstreik genau rechtzeitig gekommen. Und jetzt hilft auch unfreiwillig die Reaktion des konservativen Ministerpräsidenten Morrison, der im Parlament erklärt, er werde einen Schulstreik nicht dulden, die Schüler_innen hätten in die Schule zu gehen: »Schools are not a place for activism!« Greta twittert, wie üblich in solchen Situationen, direkt zurück und sagt ihm, es gehe um seine Verantwortung als Erwachsener, der für die Kinder seines Landes sorgen soll. Etwas Besseres hätte nicht passieren können. Im Parlament ent-
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zündet sich eine Debatte. Noch mehr Jugendliche werden mobilisiert und getrauen sich, sich den Streikplänen anzuschließen. Gleichzeitig wird in der australischen Ausgabe des »Guardian« ein Artikel von Greta publiziert, sorgt für den fachlichen Hintergrund und kommt mit Informationen und Fakten auch für die Elterngeneration. Genau um zehn Uhr am 30. November verlassen über 10.000 Kinder ihre Schule, während es in Stockholm noch nicht einmal dämmert. Die Bilder gehen um die Welt. Die Bewegung ist international geworden, und bei uns macht sich eine unendliche Freude breit. Und dann wird es Mittag, und das Chaos bricht los.
Die Klimakonferenz COP24 in Katowice Wir sind alle mit irgendetwas beschäftigt, als Greta plötzlich blitzschnell zu ihrem Schild geht, es hochhebt und an der Schlossfassade entlang weg vom Münzplatz springt. Ich sehe ein unfassbar schmutziges Auto. Es steht direkt da, wo bis vor kurzem noch das Schild stand. Dann quietscht es, beschleunigt, wendet und Svante, Gretas Vater, steckt den Kopf zum Fenster hinaus. Greta soll heute nach Polen fahren, zur UNO-Klimakonferenz in Katowice. Klimakonferenzen bilden eine eigene merkwürdige Welt, zumindest aus meiner Erfahrung als Aktivist in Kopenhagen 2009 und Paris 2015. Die Geschehnisse im Jahr 2009 werden für uns Klimaaktivist_innen, und für die Natur, zu einem Alptraum, der uns noch Jahre lähmt. Die Weltgemeinschaft kann sich nicht einigen. Obama will keine Zusagen machen, die er zuhause in Washington nicht durch den Kongress bringen kann. Die EU unter schwedischer Leitung von Fredrik Reinfeldt ist zögerlich; auch Angela Merkel zaudert. Die so dringend gebrauchten Regelungen kommen nicht zustande. Für uns fühlt es sich an, wie wenn durch den Nichtentscheid in Kopenhagen etwas unwiederbringlich kaputtgeht: nicht nur die Möglichkeit, die Emissionen zu senken. Es geht etwas in uns kaputt, nämlich so etwas wie der Glaube an die Menschheit, wenn man ein großes Wort benutzen will. An uns selbst vielleicht auch. Dazu kommen die brutalen Schläge der Polizei, die uns auf der Schlussdemonstration niederknüppelt. Zum ersten Mal, zumindest in der Weise, getrauen wir uns, Mittel des zivilen Ungehorsams einzusetzen statt einfach nur zuzusehen. Es endet nicht gut: Wir wussten, dass es in Kopenhagen eine Wende gebraucht hätte. Die Regierungschefs (und die wenigen Chefinnen) hätten sich aufraffen, über ihre nationalistisch
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ausgerichteten Schatten springen, geopolitische Spielereien mit tödlichem Ausgang beenden und den Hebel herumreißen müssen. Damals wäre es eventuell noch möglich gewesen, durch gewöhnliche Maßnahmen die katastrophale Erderwärmung einzudämmen, weil es etwa drei, vier Prozent Emissionsreduktion jährlich gebraucht hätte, weltweit, nicht die sieben bis zehn heute – stattdessen sind die Emissionen seither in einer kaum vorstellbaren Menge angestiegen. Im Jahrzehnt seit Kopenhagen hat sich die mittlere Temperatur des Planeten um 0,39 Grad erhöht (Milman 2020). Wenn es vier Jahrzehnte ähnlich weitergeht, ergibt das mit den bereits in der Atmosphäre etablierten 1,2 Grad fast drei fatale Grade Erwärmung – mit einem unfassbaren Risiko des Überschreitens von Kipppunkten. Wir ahnten dies damals, hatten die IPCC-Rapporte studiert und mit Klimawissenschaftler_ innen gesprochen. Als »Zivilgesellschaft« saßen wir herum, in einem tristen »alternativen Kongresszentrum« und wussten, was passieren könnte. Dass die zehn nächsten Jahre die zehn wärmsten werden würden seit es Messungen gibt, mit all den verödenden Umweltkatastrophen, vor allem im globalen Süden. Und dass die Emissionen stetig weiter steigen würden. Naomi Klein und George Monbiot waren damals schon die Held_innen dieser alternativen Szene. Doch sie irritierten mich nur. Sie verkündeten stolz, dass es keine einheitliche Protestbewegung bräuchte; dass unsere Stärke unsere Pluralität sei. Wieso, dachte ich damals, wieso? Wir müssten uns vereinen, alle unsere Kräfte bündeln, mit einer Stimme sprechen. Ansonsten sind wir machtlos. Doch wie eine solche globale politische Bewegung organisieren? Jetzt ist es Winter in Stockholm; zehn Jahre sind vergangen. Greta steht auf dem Münzplatz hinter ihrem Schild und ist wütend. Der Vater schiebt sie ins Elektroauto. Schluss jetzt, wir müssen los. Doch Greta will eines mehr verhindern als alles andere, nämlich dass ihre Eltern auf dem Platz auftauchen. Die Leute in Schweden sollen nicht auf die Idee kommen, dies alles sei nur die Idee ihrer Mutter. Dieses Gerücht wird ganz früh schon in Schwedens Boulevardblättern verstreut. Gretas Intuition ist die, dass sie das Projekt strikt separat halten muss von dem ihrer Eltern, wenn es gelingen soll. Es ist ihr Streik. Die Klimakonferenz beginnt, von allen auf dem Münzplatz via Internet im Detail verfolgt. Noch ahnen wir nicht, was am Donnerstagabend geschehen wird. Gretas Auftritt wird buchstäblich die Geschichte verändern. Als sie dann zwei Wochen später zurück ist bei uns auf dem Münzplatz, erzählt sie von den vielen Männern im COP-Areal in ihren grauen Anzügen, die nur
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so tun, als ob sie etwas tun würden. Und dann Hamburger essen gehen in der anonymen Kantine des Kongresszentrums. Und der Gestank. Katowice liegt in einer Kohlegrubengegend. Um die Schließung dieser Gruben müsste sich alles drehen. COP wäre eigentlich das Treffen der Repräsentierenden der Weltbevölkerung, die sich aufgrund der weltweit besten Forschung auf faire globale politische Veränderungen einigen können. Dafür wurde das UNFCCC und das IPCC als »globale« Forschungsinstitutionen der UNO gegründet. Wie gut zusammenleben, gerecht, nachhaltig, zusammen auf einem lebendigen Planeten? Darum sollte es gehen. Doch die Klimawissenschaft, die Wissenschaft selbst wird schnell verdrängt.
Zu Wissenschaft, Studium und Engagement Wie sollte es aussehen, dieses Verhältnis von Politik und Wissenschaft? In den Universitätsräumen verfolgen meine Studierenden das Geschehen in Polen und diskutieren die Funktion von Wissenschaft sowie ihre eigene Rolle als Studierende. Eine meiner Vorlesungen handelt vom Verhältnis zwischen Wissenschaft, Phantasie und Magie, also von der Entstehung unseres modernen Weltbildes, das Körper und Seele aufteilt und die Wissenschaftler_innen als »neutrale« Beobachter_innen aus der Umwelt und dem politischen Geschehen entfernt. Was ist das überhaupt für ein Projekt, das wissenschaftliche, in dem wir uns seit 200 Jahren bewegen, an den Universitäten, aber auch durch die technischen Forschungen und Entwicklungen außerhalb? Auf dem A4-Papier von Greta, das sie in den ersten Wochen zum Streik mitbringt, ist diese Bilanz zu lesen: Dieses moderne Weltbild hat zwar eine ungeheure Entdeckungslust und Produktivität mit sich gebracht, aber auch für die Ausrottung der meisten wilden Tiere gesorgt; und eben zum Lebensstil, durch den wir so viel Kohlendioxid ausstoßen, dass wir als Gattung den ganzen Planeten umformen. Das Anthropozän ist angebrochen, behaupten einige (Hardt 2018); die Epoche der menschengestalteten Natur. Kann jetzt, 200 Jahre nach dem Durchbruch dieser modernen Wissenschaft, ein neuer Umbruch geschehen; ein neuer Paradigmenwechsel, durch den wir Dominanzverhältnisse jeder Art auflösen? Wie würde eine solche Universität aussehen, fragen sich unsere Studierenden. Mit einem Jahrgang unserer neuen Ausbildung befinden wir uns mitten im Wissenschaftstheorieteil. Bald sollen sie ihre Bachelor-Abschlussarbeit schreiben. Wie engagiert darf Wissenschaft und Forschung sein? Die
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meisten Lehrbücher in empirischer Sozialwissenschaft, Humanwissenschaft, Politik und Pädagogik heutzutage haben zum Glück Kapitel (Leavy 2009; Cohen et al. 2017), in denen betont wird, dass wir als Forscher_innen auch ein Teil sind einer natürlichen und politischen Umwelt, und uns zu dieser »objektiv«, aber auch transformativ verhalten können. »Objektivität« heißt dann nicht Neutralität, sondern: wirklich methodisch nachvollziehbar dem nachspüren, wie es sich verhält in der Welt; offen, ohne Stellung zu beziehen von Anfang an für eine einzelne Position; mit definierten Begriffen; im kritischen Zusammenspiel mit dem Forschungsfeld; transparent; im permanenten selbstkritischen Austausch mit Anderen – aber auch: die eigene Machtposition hinterfragend, sich existentiell mit der Verantwortung von Privilegien und der Suche nach einer demokratischeren Welt in diese Umwelt hineinbegebend, und sie durch die Forschung ändernd – als Forschende mit Haut und Haaren, nicht als Köpfe ohne Reflexion auf die eigene Situiertheit. Die Studierenden erhalten die Aufgabe, einen Monolog zu schreiben und vorzutragen, in dem sie eine Forscherin verkörpern, die gerade eine Feldstudie angefangen hat, in der Misere steckt (etwa: Sie soll Kinder beobachten, die sich aber mobben) und sich grundlegende ethische Fragen stellen muss. So sollen sie Ängste in Bezug auf ihre eigene Abschlussarbeit vorwegnehmen können, aber auch ehrlich an die Fragen herangehen, die sie sonst vielleicht zudecken würden. Wenn wir nicht unser eigenes Verwickeltsein in ungerechte Machtstrukturen verstehen, können wir sie nicht ändern. Und wir verstehen sie nicht, indem wir nur Bücher lesen, sondern indem wir selbst im sozialen Raum der Universität diese Dominanzverhältnisse anschauen und auflösen, denke ich in diesen Wochen. Das gilt vor allem für die Nachhaltigkeits- und Umweltwissenschaften, aber auch die Politik und Pädagogik. Sie können selbst in Lehre und Forschung transformativ werden (so etwa am CEMUS-Zentrum für Nachhaltigkeit an der Universität Uppsala). Und wiederum taucht die Frage bei unseren Studierenden auf: Warum gibt es keine Schwarzen Studierenden oder Forscher_innen weit und breit? Wieso kaum welche der Arbeiterschicht? Wieso sind Umwelt, Körperlichkeit, Phantasie und soziale Interaktion aus dem Lernen meistens ausgeschlossen? Demokratie verstehen heißt doch, zu verstehen, wie man sie konkret einrichtet, in konkreten sozialen Situationen mit wirklichen Menschen, die auch Widerstand leisten; etwa die Klimakrise ausblenden und so die kommenden Generationen aus der Demokratie ausschließen. Was bedeutet das für unsere Konzepte von Gerechtigkeit, von Bildung? Lange sitzen wir nach den Seminaren noch im Raum und schauen in die Winterlandschaft
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von Stockholm hinaus; bei einigen macht sich eine Wut über die Situation in der Gesellschaft spürbar. Hier stimmt etwas nicht. Müssten nicht auch die, die Pädagogik, Politik und »International Relations« studieren in ihren Lehrbüchern und in praktischen Workshops lernen, wie sie demokratische Räume konkret einrichten und leiten können? Wie füreinander gesorgt und Ungerechtigkeiten beseitigt, Machtstrukturen durchschaut und aufgelöst werden können? Wer Politikwissenschaft studiert, begegnet vor allem zwei Denkmodellen, die etwa so eine COP-Konferenz zu verstehen versuchen (Mowle 2003). Für die Perspektive des »Realismus« zeigt sich alles als Kampf von Nationalstaaten um territoriale Sicherheit und Standortvorteile. Demgemäß agieren die meisten reicheren Staaten in Katowice. Für eine liberalistische Theorieperspektive stellen sich globale Beziehungen vor allem als Handelschancen dar. Vielleicht lesen die Studierenden dann noch etwas über ökologische, feministische, postsozialistische und postkoloniale Perspektiven, aber sie lernen gar nicht, was es heißt, Menschen dazu zu bringen, demokratisch zusammen zu agieren. Die Regierungsdelegationen müssten in diesem Denken geschult sein. Alle könnten ihre Bedürfnisse äußern und hätten gleichzeitig die Verpflichtung, auf die der anderen einzugehen. So käme vielleicht ein sinnvolles COP-Treffen zustande, denke ich. Und wenn es auch nach einer Utopie klingt; dass sich die Delegierten nicht an ein solches Verhandlungsmodell halten, hat für Millionen von Menschen verheerende reale Folgen. Sie verlieren ihr Zuhause durch Überschwemmungen oder müssen vor der Dürre fliehen (geschildert etwa durch Sengupta 2020). Mit einem anderen Jahrgang inszenieren wir ein neues englisches Stück, das im Flüchtlingslager von Calais spielt (Robertson/Murphy 2017). Stephen Daldry, der Regisseur von »Billy Elliot«, hat es im Young Vic in London auf die Bühne gebracht. Es artikuliert die alptraumhaften Erfahrungen der geflohenen Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan und dem Kongo, aber auch die Möglichkeiten menschlichen Miteinanders. Eigentlich geht es im Kurs darum, den Studierenden zu vermitteln, wie sie selbst mit Kindern und Jugendlichen Stücke erarbeiten können, ohne einfach als Regisseure deren ästhetische Impulse zu überformen. Was heißt es, die künstlerischen Prozesse von Kindern anzuleiten; ihnen Vertrauen in ihre ureigenen ästhetischen und ethischen Intuitionen zu geben? Wie hängen ethische und ästhetische Impulse und Entscheidungen zusammen? Aber auch: Was sind unsere politischen Rollen, und was heißt es, einem Menschen als nahezu rechteloser Privatmensch zu begegnen – oder als Mitbürger_in mit gleichen Rechten? Wie ein würdevolles globales gemeinsames Leben gestalten, einen weltweiten Konvivialismus?
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Die Rede Die Gänge des COP-Konferenzzentrums in Katowice füllen sich mehr und mehr mit den Politiker_innen und Wissenschaftler_innen, die darüber diskutieren sollen, wie das Pariser Abkommen in den nächsten Jahren umgesetzt werden soll. Im Oktober war ein revolutionierender Bericht des IPCC herausgekommen (IPCC SR1.5): Was bedeutet der Unterschied zwischen einer 1,5 und einer zwei Grad wärmeren Welt? Die Differenzen sind riesig und gefährlich, vor allem, was mögliche desaströse Kipppunkte anbelangt, die die Erwärmung bis Ende des Jahrhunderts um mehrere Grade vorantreiben können, mit Milliarden von Menschen auf der Flucht (Xu et al. 2020). Trotzdem wird von den Mächtigsten der Welt kaum darüber gesprochen, was es genau von der Weltgemeinschaft bräuchte, um die Emissionen mit jährlich über sieben Prozent einzudämmen, was die UNO fordert (Emissions Gap Report 2019). Stattdessen zeichnet sich ein Skandal schon in den ersten Tagen der Konferenz ab: Brasilien, Russland und die USA wollen diesen IPCC-Spezialrapport nicht »willkommen heißen«, sondern nur »zur Kenntnis nehmen«; das würde politische Entscheide in der Zukunft schwächen. Die schwedische Umweltministerin Lövin greift in letzter Sekunde ein, und er wird von allen Ländern akzeptiert – und damit zu einem Grunddokument für die internationale Fridays For Future-Bewegung. Greta wird es in fast jeder Rede zitieren. Es hält fest: Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, steht der Welt 2018 nur noch etwa 420 GT CO₂-Ausstoß zur Verfügung. Das ist nichts; acht Jahre weiter so und sie sind für alle Zeit aufgebraucht. Das Gefühl einer Weltstaatsbürgerschaft
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müsste entstehen, denken wir in Stockholm; die Delegierten müssten plötzlich aufwachen und sich als gemeinsame Vertreter_innen aller Menschen und der Natur sehen. Wieso wachen sie nicht auf? Wieso reagieren sie nicht? Der Donnerstagnachmittag geht in den Abend über. Ich weiß von Greta, dass sie vor dem Plenum auftreten darf. Eine Rede hat sie bereits hinter sich: Am Vortag hatte sie UN-Generalsektretär Guterres getroffen, und auf einer Pressekonferenz eine Minute lang gesprochen, viel zu frech, wie Svante, ihr Vater, später kommentieren wird. Aber es zeigt Effekt: »Wir rechnen nicht mit euch Politiker_innen«, sagt Greta, »wir, das Volk, werden handeln, egal, was ihr macht. Die Macht liegt bei den Menschen.« Bei uns erzählt sie auf dem Münzplatz kopfschüttelnd, dass diese eine Minute eingerahmt war von einer ganzen Stunde, in der alle wie Roboter den Auftritt vor der Presse üben mussten. Aber der richtige Auftritt kommt erst jetzt. Sie soll am Ende einer dreistündigen Sitzung reden. Ich kopple mich in die UNOLiveübertragung ein. Irgendein Ministerpräsident irgendeines der fast 200 Länder schwingt eine Rede voll von schönen Worten. Und alle überziehen ihre Redezeit. Gretas eigener Auftritt wird von acht Uhr auf halb neun, dann auf halb elf verschoben, und sie muss die Rede kürzen und anpassen. Dass sie überhaupt auftreten darf, hat sie »Climate Justice Now!« zu verdanken, einem Zusammenschluss von Graswurzelbewegungen und NGOs, für das sie spricht. Sie darf also nicht etwa wegen der schwedischen Regierung auftreten oder irgendwelchen mächtigen Personen, sondern indirekt wegen den schwedischen Fridays For Future-Grüppchen, die bereits mehrere Wochen solidarisch streiken, an ungefähr 50 Orten. Das gibt Greta den Status als Gründerin einer Klimabewegung und mit diesem Pondus darf sie das Graswurzelbewegungs-Netzwerk repräsentieren. Die Präsident_innen reden und reden. Ich erhalte aus dem Plenum via WhatsApp verbotenerweise den Entwurf des geplanten Abkommens der Weltregierungen. Die Sprache ist bürokratisch, halb politisch, halb wissenschaftlich, um jedes Komma wird gestritten. Es geht wie immer um die Hauptkapitel: »Mitigation«, also um das Verhindern der Klimaerwärmung; »Adaption« und »Loss and Damages«, also die Anpassung an die Schäden der Klimaerwärmung; und »Finance«, die Finanzierung der Transformation. Ich starre auf das Dokument, dann auf den Bildschirm. Wir müssten doch die Naturressourcen teilen; oder sie nicht nur als Ressourcen wahrnehmen, sondern als gemeinsame Lebensgrundlage, denke ich. Sonst werden wir keine Zukunft haben. Wir bräuchten sofort einen globalen Vertrag, der das gerecht regelt, und so die fossilen
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Brennstoffe für immer im Boden hält. Da taucht Greta auf. Sie wird auf die Bühne begleitet, fast geschubst. Das Mikrofon muss angepasst werden. Sie ist ja viel kleiner als alle Vorredner_innen. »Hej«, sagt sie. Ich filme die Rede mit, direkt vom Bildschirm. Wie wird es gehen? Über drei Monate lang haben wir zu diesem Zeitpunkt alle auf dem Münzplatz gestanden, und kennen ihre Gedanken; aber die meisten, die sie sehen in der weiten Welt, hören sie zum ersten Mal. Die Rede ist unglaublich berührend, für viele erschütternd, für einige vielleicht auch irritierend, und sie ist kompakt, viel kürzer als die am Abend im Stockholmer Theater damals. Wie kann man in zwei Minuten nur so viel sagen, denke ich in Stockholm. Ich schneide den Film, lade ihn auf eine Plattform, auf dem noch andere meiner kleinen Dokumentarfilme liegen, und poste ihn in einer kleinen Facebook-Gruppe, die #Fridays ForFuture gewidmet ist, auch so heißt und uns allen einen großen Dienst tut in diesen Monaten, eine Art Münzplatz im Netz. Einen Tag später wird der Film, also diese leicht verwackelte Version, über 200.000 Mal abgespielt worden sein; es ist fast die einizge Version, die es gibt. Die Kraft der Kombination von sozialen Medien und aufgezeichneten Reden ist enorm. Was sind schon Worte, könnte man denken. Die Rede breitet sich aus wie ein Lauffeuer. Ich kann genau sehen, wo sie gespielt wird. Im Sudan. Zweimal in Japan. Mexiko. Färöer Inseln. Deutschland, Schweden natürlich. Am nächsten Tag sprechen mich viele Leute in der Universität darauf an. Plötzlich werde ich als Aktivist gesehen. Meine Position gegenüber den Studierenden verändert sich. Am zweiten Tag erst veröffentlicht die UNO den offiziellen Mitschnitt. Unter anderen retweetet ihn Bernie Sanders und er wird binnen Stunden eine Million Mal geteilt. Die Rede spricht uns alle direkt mit einer leisen Wut und Wucht an, und gibt einigen das Gefühl, dass wir tatsächlich etwas ändern können. Sofort erfinden die Medien irgendwelche historischen Parallelen, zu Jean d’Arc und anderen Figuren der Geschichte, Überhöhungen, mit denen sich Greta nicht wohl fühlt. Und ab dem Abend mache ich mir auch konstant Sorgen. Tut das einem jungen Menschen gut, diese Exponierung, bald dieser Ruhm? Wie können wir das ethisch vertretbar hantieren? Der Klimaforscher Kevin Anderson tweetet, dass der Celebritykult nur ein Teil ist einer korrupten Gesellschaft, und versucht dadurch, Greta abzuschirmen. Auf dem Münzplatz versuchen wir, das Thema zu verstehen und zu handeln. Sowieso fällt es mir in dieser Zeit immer schwerer, die Erwachsenen zu verstehen, wie sie den Kindern zujubeln und sie toll finden in ihrem Streik, und selbst nichts tun. Das ist eigentlich nicht die Aufgabe der Kinder,
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sage ich mir immer und immer wieder. Ich bin da, nicht weil ich es gut finde, dass sie streiken, sondern weil ich die ganze Situation schief finde. Viele Jugendliche auf der ganzen Welt sehen diese Rede und werden von der Wucht nicht nur getroffen, sondern auch bestätigt in etwas, das in ihnen schon lange schlummert; nämlich in der Idee, dass sie, die Kinder, nicht einfach zusehen müssen. Dass der Gedanke nicht absurd ist, dass sie rebellieren können. So geht es Loukina in Lausanne, Isabelle in Stockholm, Hilda in Uganda, Alexandria in New York und Joshua in Ghana. Sie sitzen vor ihren Handys oder Computern, und etwas hat sich verändert in ihrem Leben. Hier spricht eine junge Person in ihrem Alter nicht nur mit Herz und Wissen über die drohende Klimakrise, sondern über ihr Leben. »Aber ich kümmere mich nicht darum, beliebt zu sein, ich kümmere mich um Klimagerechtigkeit und den lebendigen Planeten.« Es ist eher so etwas wie eine grundlegende Stellungnahme einer Generation an die Welt. Von Gerechtigkeit ist die Rede und von der Perspektive der Kinder. »Ihr sagt, ihr liebt eure Kinder über alles. Und trotzdem stehlt ihr ihnen ihre Zukunft. […] Wir sind dabei, die Biosphäre zu opfern, damit reiche Leute in Ländern wie meinem in Luxus leben können. Aber für den Luxus der wenigen bezahlen viele mit ihrem Leid« (Thunberg, 2019, S. 38). Spätestens seit dem Abend, an dem die Rede von Greta über die ganze Welt gesendet wird, ist Fridays For Future als Idee und globale Bewegung nicht mehr aufzuhalten und verändert die Situation nicht nur in Stockholm dramatisch. Tausende und abertausende von Kindern und Jugendlichen haben sie gesehen. Drei Jugendliche sind vor Ort, und sprechen Greta in den Gängen an. Jonas Kampus und Marie-Claire Graf aus der Schweiz und Luisa Neubauer aus Deutschland treffen sie in diesen Tagen, alle bestens über die Klimakrise und die politischen Hintergründe informiert, und setzen sich zu ihr und ihrem Schild, das sie nur mit Müh und Not durch die Sicherheitskontrolle des Kongresszentrums gebracht hat. Sie reisen zurück in ihre Länder, und lassen es nicht bei dem Eindruck einer wichtigen Rede bleiben, sondern organisieren die Gleichaltrigen. Sie zwingen ihr Umfeld dazu, Stellung zu beziehen. Auf dem Münzplatz sind die jungen Rebell_innen stolz auf diejenige unter ihnen, die sich getraut, die Welt aufzurütteln, und jetzt für alle sichtbar macht, wofür sie jede Woche zusammenkommen, bei Regen und Eiseskälte. Sie werfen Schneebälle und stehen zusammen auf dem winterlichen Platz zwischen Parlament und Schloss, und sehen in den Medien weltweit, was ihr Mut und ihre Arbeit gebracht hat. Doch kaum jemand versteht, dass sie es sind, die die
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Bewegung Woche um Woche am Laufen halten. Am Freitag, als Greta zurück ist, bilden sie mit ihr einen Kreis und improvisieren ein neues absurdes Kochrezept. Der Kontrast dieses Kreises der Jugendlichen zu den Reihen der COPDelegierten in ihren feinen, dunklen Anzügen könnte nicht größer sein.
Die Bildung von »Ortsgruppen« – die Schweizer_innen gehen auf die Barrikaden und fordern Klimagerechtigkeit In den folgenden Wochen passiert etwas, was die ganze Bewegung verändert. In gewissem Sinn kann man sagen, dass es sich dabei um die Geburtsstunde von Fridays For Future als strukturiertes Netzwerk handelt, nicht als Organisation, wie ein Verein eine Organisation wäre, sondern in dem Sinn, dass FFF mehr wird als eine Reihe punktueller Riesenstreiks wie in Australien und/oder dann in Belgien. Es entstehen jetzt überall Kerne, in vielen Orten, die über Monate hinweg ihre Streiks organisieren: Am 14. und 21. Dezember gehen die Schweizer_innen raus aus den Schulen, massenweise, aber eben koordiniert, mit Kerngruppen, die nicht nur einen Streik organisieren, sondern kontinuierliche Arbeit und politische Bildung machen, wie später dann in Deutschland und Frankreich die »Ortsgruppen« entstehen. Eine Art von stabiler Organisation entsteht, zum ersten Mal, weltweit; in jedem Land auf eine eigene Art, was die Bewegung stärkt: Einige benutzen WhatsApp, andere Telegram; einige arbeiten nicht mit NGOs zusammen und Jungparteien, andere schon; einige streiken an jedem Freitag, andere einmal im Monat; und alle fühlen sich als ein Teil einer gemeinsamen Bewegung. In der Schweiz nennen sie sich »Klimastreik«, in Frankreich »Youth For Climate«, in England »School Strike For Climate«; doch alle können den vereinenden #FridaysForFuture- und #ClimateStrike-Hashtag benutzen. Eine der Schulen, die in der Schweiz zu unserer Freude auf dem Münzplatz streikt, als eine der ersten und in großem Ausmaß, ist meine alte, die Kantonsschule St. Gallen. Die Jugendlichen nehmen in vielen Städten in Kauf, dass sie mit der Schulbehörde aneinandergeraten, mit ihren Lehrer_innen und den Rektor_innen. Ich sitze in Stockholm vor dem Facebook-Chat und mir kommen alle Erinnerungen hoch. Die Korridore, Lehrer_innen, meine Klasse. Die Geographiestunden. Schon damals Ende der 80er Jahre war die Klimaveränderung durch die Emission von Treibhausgasen Lernstoff. Eine halbe Ewigkeit ist es her. Wir wussten es. Wir wussten alle, was passieren
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kann. In St. Gallen sind es jetzt zuerst nur wenige, die sich das Nichtstun nicht mehr gefallen lassen. Miriam Rizvi und einige andere hatten Gretas Rede in Polen gesehen, wie sie etwa ein halbes Jahr später erzählen wird. Sie wird nicht nur in St. Gallen zu einer der engagierten Figuren werden, sondern übernimmt auch Termine in den Schweizer Medien, spricht an Veranstaltungen mit der Bundesrätin Sommaruga und nimmt an der Demo des großen internationalen FFF-Treffens in Lausanne teil. Sie könnte fast ein Zwilling von Isabelle und Tindra in Stockholm sein, eine Schweizer Variante mit amerikanischem Ursprung. Sie hat eine ähnliche Breite an politischen Interessen – es geht nicht nur um Klimaschutz, sondern genauso um soziale und globale Gerechtigkeit; und um den Kern der Schüler_innen, der organisiert und der so viel mehr ist als nur eine Ansammlung von Jugendlichen, die einen Streik organisieren, eben eine wirkliche Gemeinschaft, das »asoziale Netzwerk«, wie sie sich nennen. Bald werden sich andere Gymnasien und Schulen der Ostschweiz dem St. Galler Streik anschließen. Und wie schon in Australien, und später in Deutschland, ist es ein konkreter politischer Entscheid, der den Schweizer_innen hilft. Im Parlament wird über die CO₂-Abgabe beraten. Schon am Mittwoch nach Gretas Rede trifft sich eine Gruppe von vier, fünf Schüler_innen, die teilweise nicht einmal der St. Galler Kantonsschule angehören und bilden eine »Orga Streik«. WhatsAppGruppen entstehen und innerhalb von zwei Tagen gelingt es ihnen, 400 der etwa 1.000 Schüler_innen zu mobilisieren. Ein Brief geht an den Rektor der Schule, der gewisse Sympathien hat mit dem Ernst und dem Anliegen seiner Schüler_innen und andeutet, dass er den Streik duldet, solange er neben und nicht an der Schule selbst stattfindet. Dann geht es rasend schnell: Auf den ersten großen Streik folgt das gesamtschweizerische Treffen in einer Berner Kirche in den Winterferien. Die Forderungen der Klimastreik-Bewegung werden festgelegt; eine Webseite und ein Flammen-Logo entstehen. Dabei orientieren sich die etwa 300 Teilnehmenden aus allen Ecken der Schweiz auch an den Extinction Rebellion- und YOUNGO- (Jugendorganisation der UNO) Kommunikationsformen und Werten, von Jonas, Marie-Claire und all den anderen eingebracht: streng basisdemokratisch, konsensorientiert, mit lautlosem Zustimmungs-HandWedeln und so weiter. Die erste Forderung lautet: Sämtliche TreibhausgasEmissionen in der Schweiz müssen bis 2030 auf »Netto-Null« gebracht werden. Dann: Der Klimanotstand soll ausgerufen werden, also die Bevölkerung soll über die Krise informiert und die Gesetze danach ausgerichtet werden. Und:
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Soziale Gerechtigkeit soll das ganze prägen. Zur umstrittenen Forderung nach einem »Systemwandel« wird eine Kompromissformulierung gefunden.
Klimagerechtigkeit Der Begriff der Klimagerechtigkeit ist bald für die ganze globale FFF-Bewegung wichtig – ein »empty signifier«, wie ihn ein Teil der Forschung nennt, nicht weil er leer ist, sondern weil sich hinter ihm viele etwas unterschiedliche Positionen einen können. Er ist so etwas wie ein Kompass, der eine Richtung angibt (Thanki 2019). Die Jugendlichen stellen sich damit in eine lange Tradition. Vor allem vor dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen wurde der Begriff als Sammlungskonzept entwickelt. Das Netzwerk »Climate Justice Action« bildet sich, für das Greta in Katowice spricht. Es geht bei der Umwelt- und Klimakrise, so der Grundgedanke, nicht nur um ein begrenztes technisches Problem der Erderwärmung. Die Krisen selbst, und die Art, wie sie angegangen werden, müssen vielmehr ethisch und politisch eingebettet werden. Einige Menschen, vor allem im globalen Süden, sind viel mehr betroffen; und oft haben sie kaum etwas zur CO₂-Emission beigetragen. Einige Staaten sind viel reicher und haben bessere Ressourcen, um zur Vermeidung der Emissionen, aber auch zum Ausgleich der Schäden beizutragen. Und natürlich muss für die Arbeiter_innen in der fossilen Industrie gesorgt werden (»Just Transition«). Im Kyoto-Protokoll und im Pariser Abkommen sind Gerechtigkeit und Gleichheit als verbindlicher Kompass explizit benannt. Alle Staaten haben sich eigentlich darauf verpflichtet. Was Gerechtigkeit genau bedeutet, dazu gibt es unterschiedliche Verständnisse. Worum es aber generell geht in der Tradition des Klimagerechtigkeitstextes von Bali 2002 und der »Climate Justice«-Netzwerke, ist ein Gesamtblick, eine Haltung, die politische Konsequenzen hat. Dazu gehört es zum Beispiel, denen die Führung zu überlassen, die am meisten betroffen sind, den indigenen Bevölkerungen etwa in Brasilien und den vulnerablen Bevölkerungen im globalen Süden wie Moçambique, Bangladesch und den Inselstaaten, die bald untergehen werden. Substantiell geht es auch darum, dass die, die bereits mehr CO₂ ausgestoßen haben, und die außerdem reicher sind, deutlich mehr zur Reduktion und zur Kompensation der Schäden beitragen. Das hat Konsequenzen: Eine Schweizerin verbraucht ja um die zehn bis 14 Tonnen CO₂ pro Jahr, dürfte aber, wenn man das Budget »gerecht« verteilt, nur 1,5 ausstoßen, um eine Erwärmung zu verhindern. Und in diese Gerechtigkeit ist die mehr umfassende
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noch gar nicht eingerechnet, die historische Schulden und aktuellen Reichtum einbezieht; in dem Fall müssten die reicheren Länder einen »fair share« (dazu Civil Society Equity Review Group 2018) in einen grünen Fond einzahlen, der bei weitem über das Einsparen aller eigenen Emissionen hinausgeht. Auch auf dem Münzplatz diskutieren wir lebhaft über den Gehalt von »Klimagerechtigkeit«: Meint er noch etwas tieferes, nämlich den Blick auf das System, das unsere fossilen Gesellschaften prägt, in dem die Staaten im globalen Süden billige Rohstoffe liefern, etwa durch Schweizer Unternehmen wie Glencore, die dann von Banken wie Credit Suisse und UBS unterstützt verkauft werden – und vor allem einigen weißen, männlichen Aktienbesitzer im Norden Gewinn einbringen? In diesem Verständnis geht es nicht nur darum, wer wie viel bezahlt und durch den Lebenstil wie Fleischessen und Fliegen CO₂ ausstoßen darf (etwa mit individuellen oder nationalen Kontingenten); es müssten soziale und ökonomische Strukturen verändert werden, so dass diese Privilegien und Dominanzverhältnisse verschwinden. In meinen Vorlesungen weise ich auch darauf hin, dass man vielleicht nicht alle gesellschaftlichen Probleme als Probleme von »Gerechtigkeit« fassen kann. Vielleicht ist das Durchschauen von Dominanzverhältnissen, und ihr Bekämpfen und Auflösen anderes und mehr als ein Kampf für Gerechtigkeit. Etwa, wenn ganze Bevölkerungen im globalen Süden so behandeln werden, wie wenn ihr Wohlergehen unserem im Norden untergeordnet wäre – das klingt nicht nur ungerecht; das ist es auch. Rassismus ist in diesem Sinn nicht nur eine Frage von Gerechtigkeit, das wäre zu kurz gegriffen; es ist auch eine von Unrecht, von Unmenschlichkeit. Ein schlechtes Gewissen und das Bewusstsein um unsere Privilegien nagt die ganze Zeit an den meisten von uns Erwachsenen auf dem Münzplatz. Umso wichtiger, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Doch wie kann das gehen; die globale Politik muss sich ja ändern. Wo ansetzen?
Internationale Kontakte werden geknüpft Die Übertragung des gesamtschweizerischen Treffens ist spannend wie ein guter Film. Überhaupt, dass die Jugendlichen so transparent arbeiten, ist für viele von uns bemerkenswert und inkludiert auch die, die nicht kommen können; außerdem werden die Reisen zum Treffen für die, die keine Ressourcen haben, kollektiv bezahlt. Und alle können die erste Stunde des Treffens live via YouTube verfolgen. Können sie sich einigen oder zerfällt die Be-
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wegung gleich zu Beginn? Da sitzen sie, Fanny, Paula, Matthias, Lena, Linus, Eslem und wie sie alle heißen, aus allen Schweizer Städten und Dörfern. Zwei, die die Sitzung leiten, sind Loukina Tille und Jonas Kampus; beide um die 17 Jahre alt. Jonas kommt aus der Nähe von Zürich und Loukina aus der Nähe von Lausanne. Sie wachsen schnell in den kommenden Wochen und Monaten zu zwei der leitenden Figuren des globalen Netzwerkes heran. Die Schweizer_innen bestimmen ganz früh, dass sie keine »Stars« auf bauen wollen (was die Bewegung stärker werden lässt als die Bewegungen in den meisten anderen Ländern), und lassen permanent die Gesichter rotieren, die den Medien Auskunft erteilen.
Die beiden nehmen schon in Kürze die Planung des ersten internationalen FFF-Treffens in die Hand, als einige Fraktionen des EU-Parlamentes die Jugendlichen nach Straßburg einlädt. Jonas hält die Fäden für das Schreiben des ersten »Guardian«-Artikels der globalen Bewegung zusammen und nimmt am Lausanner Smile-Treffen teil. Loukina leitet viele Sitzungen an den ab jetzt jeden Sonntagabend stattfindenden internationalen ZoomMeetings von FFF. Da werden alle anstehenden Fragen bearbeitet, von der Planung neuer großer Streiktage bis hin zum »Empfang« neuer Länder, die zum ersten Mal streiken.
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Loukina nimmt auch früh mit ihren Streikenden im Kanton Waadt ein eigenes Projekt in Angriff: Weil die Politik nicht handelt, legen sie einen ausgearbeiteten Plan, einen »Climate Action Plan« vor, wie denn überhaupt eine 2030-Null-Emissions-Gesellschaft aussehen könnte. Ein langes detailliertes Papier entsteht. Sektor für Sektor ist darin das politische Handeln beschrieben: Wirtschaft, Energie, Landwirtschaft, wie die Ernährung umzustellen, der öffentliche Verkehr auszubauen, das Finanzwesen zu reformieren ist. Und Loukina und Jonas machen sich bald daran, mit allen Schweizer_innen zusammen, auch mit uns Wissenschaftler_innen, auch national diesen Weg eines Klimaaktionsplans zu beschreiten (www.climateactionplan.ch). In Deutschland stellt man stattdessen acht genaue Forderungen an die Regierung: vom Abstellen der Kohlekraftwerke bis 2030 bis zu einer Kohlendioxidsteuer von 180 Euro proTonne. In Schweden bestehen die Jugendlichen darauf, dass es die Machthabenden selbst sind, die mit einem Plan auftauchen müssen und lehnen konkrete Forderungen ab. Die Bewegung soll eine Notbremse sein, keine Jugendpartei. Begeistert berichte ich nach Weihnachten auf dem Stockholmer Münzplatz vom gesamtschweizerischen Tref fen. Und am nächsten Freitag, es schneit und stürmt, plaudern die Schweizer_innen via Telefon mit Greta. Ein nächster Puzzlestein ist an seinem Platz gelandet. Die globale Rebell_in nengruppe wächst; eine Art von Gemeinschaftsgefühl verstärkt sich mehr und mehr. Und in Belgien haben Anuna und Adélaïde genug bekommen von der Passivität der Erwachsenen und führen jeden Donnerstag zuerst Tausende, dann Zehntausende durch die Brüsseler Innenstadt. Schon Wochen zuvor hatten sie angefangen, in den Schulen durch ihre Alarm-Funktionen der Telefone den Unterricht unterbrechen zu lassen. Immer mehr, und immer länger. Und jetzt ist die Wut und die Lust an Veränderung nicht mehr aufzuhalten. Sie strömen zu zehntausenden aus ihren Schulen und auch Universitäten. Jeder neue Streik und Streikort wird vom Münzplatz bei den täglichen Streifzügen durch die sozialen Medien aufgefangen und retweetet, nach genauer Überprüfung: ist das wirklich ein echtes Bild? Gibt es Zeitungsberichte über so und so viele Streikende in Brüssel? In Kiel? In Zürich? In Bangladesch? Pakistan? Gibt es unabhängige Quellen? Die Bewegung ist international geworden. Und sie provoziert eine Reaktion.
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Die Reaktion der Erwachsenen und die Weihnachtsfeier auf dem Münzplatz Wie sollen die Erwachsenen reagieren? Manche sind verdutzt über die Wucht des Protests und den Mut der Jugendlichen, einfach die Schulzimmer zu verlassen – denn so geschieht es oft. Etwa in Lausanne geht Loukina Tille mit ihren Kolleg_innen durch die Gänge und ruft die Mitschüler_innen zum Streik auf; sie stehen auf und gehen unter den Augen der Lehrer_innen auf die Straße zur Rebellion. Viele Eltern reagieren abwartend. Rektor_innen werden vor schwierige Situationen gestellt. Und in den Medien macht sich Interesse breit, aber auch schnell Kritik. Fliegt ihr denn selbst, ist oft die erste Frage. Esst ihr Fleisch? Doch die Jugendlichen, und das gehört auch zu FFF von Anfang an dazu, lassen sich nicht einfach als kleine, noch nicht ganz erwachsene Individuen beiseiteschieben. Sie halten an ihrer Perspektive als Generation fest, die betrogen wird von den indifferenten Erwachsenen. Sie antworten: Ja, die individuelle Lebensweise spielt eine Rolle, eine große. Viele ernähren sich vegan, wie Tindra und Greta auf dem Münzplatz. Aber sie halten auch alle fest: Es handelt sich genauso um ein strukturelles Problem. Wie sollen die Emissionen um zehn, zwölf Prozent zurückgehen, indem einige Kinder weniger fliegen? Sie stellen die kritische Haltung der Medien als politische Stellungnahme gegen ihre Generation heraus, wenn sie auf Konsument_innen verkürzt werden. Und die Strukturen, die können sie gerade nicht ändern – sie dürfen weder wählen, noch ist die Rücksicht auf ihre Zukunft, also die Welt in 40 Jahren, in das politische System eingebaut. Um dieses Problem kommt kein Erwachsener herum. Diese Wir-sind-die-Notbremse-Haltung teilen viele der Jugendlichen, die sich nun in den verschiedenen Ländern FFF anschließen. Sie stimmen nicht nur im Fokus auf die Klimagerechtigkeitsperspektive überein, sondern auch in der Sicht auf sich als Stimme einer Generation. Sie sprechen stellvertretend. In der »Childhood/Youth Studies«-Forschung wird dies die Perspektive der Kinder oder Jugendlichen selbst genannt und der Kinderperspektive zur Seite gestellt (dazu Sommer et al. 2010). Die Kinderperspektive kann und soll von Erwachsenen eingenommen werden, wenn sie die Welt beschreiben mit Rücksicht auf das Anliegen von Kindern. Aber das bleibt immer noch die Perspektive von Erwachsenen – auf die Welt der Kinder; »advocacy« kann man es auch nennen. Hingegen als Erwachsene die Kinderperspektive selbst zur Geltung zu bringen, heißt, den Kindern den Raum einzuräumen, in dem sie selbst sprechen und gestalten können. Entsprechend werde ich gegenüber all den anderen
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»grown ups« auf dem Münzplatz und im Netz darauf beharren, dass die Bewegung von Jugendlichen initiiert und geleitet wird. Wir können höchstens helfen, oder unsere eigenen Gruppen wie die Scientists For Future gründen. Auf dem Münzplatz mache ich mir in diesen Wintertagen oft Sorgen, ob nicht die Jugendlichen der ersten Wochen, die ursprüngliche Gruppe, zu stark an den Rand gedrückt wird. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie allein protestieren zu lassen, anstatt sich dazuzustellen? Hinzu kommt, dass die großen Streiks ausgerechnet in Schweden ausbleiben. Das hat viele Gründe, die mit der schwedischen Kultur zusammenhängen, der Nicht-Streikkultur und der Selbstauffassung als »grünes« Vorzeigeland, aber vielleicht auch damit, dass sich an vielen Orten Pensionäre zu den Jungen gesellt haben. Außerdem lehnen die Jugendlichen ab, mit den Jungparteien zusammenzuarbeiten, wie dies zumindest am Rand in Deutschland und der Schweiz geschieht. Auch die NGOs spielen in Schweden eine sehr viel kleinere Rolle als etwa in Deutschland. Und eigentlich nirgendwo außer auf dem Münzplatz streiken die Jugendlichen jede Woche für sieben Stunden. In den anderen Ländern marschieren sie jede dritte Woche durch die Stadt, aber die Schwed_innen halten durch, mit einem enormen persönlichen Risiko und Einsatz. Greta, Tindra, Ell, Isabelle, Simon und die anderen tauchen Woche um Woche auf, verpassen den Unterricht, müssen an den Wochenenden nacharbeiten. Ohne sie gäbe es keine Streikbewegung in Stockholm rund um Greta. Aber das bindet auch zusammen, nicht zuletzt an den Feiertagen. Natürlich feiern sie Weihnachten zusammen, Ostern, Midsommar, alle ihre Geburtstage. Und jetzt kurz vor Weihnachten hoffen sie, dass das neue Jahr endlich eine Änderung bringt. Was, wenn tausende Schüler_innen auch hier die Schulen verlassen würden? Sie sind noch immer die »outlaws«, sitzen auf ihren Yogamatten und kämpfen für ihre Zukunft. Greta taucht nach wie vor jeden Freitag um Punkt acht Uhr auf. An den Freitagabenden und an den Samstagen liest sie hunderte von Twitter-Meldungen. Wo wurde gestreikt? Wen kann ich hervorheben? Sobald eine Gruppe in einer Stadt auftaucht mit ihren Streikschildern, oder noch besser kurzen Filmen, twittert sie zurück. Egal, ob es ein einzelnes Kind ist, oder zehntausende. Eine riesige Sammlung entsteht. Nach einer Weile setzt sie alles zu einem Instagram-Bildspiel zusammen. Mir ist lange gar nicht klar, wie viel Zeit das in Anspruch nimmt. Aber sie kann eine ihrer Fähigkeiten gut gebrauchen: das Durchscannen von großer Menge an Information, das Herauspicken des Wesentlichen und das Präsentieren, so dass es für viele möglich ist, es aufzunehmen, es zu verarbei-
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ten, und damit etwas anzufangen. Wir helfen, indem wir selbst via Twitter Streiks »posten«, die sie übersehen hat und bauen so nach und nach ein globales Netzwerk auf: Bangladesch meldet sich, Japan, Uganda, Tschechien, Frankreich, alle deutschsprachigen Orte. Wir bekommen beste Unterstützung auch von Céline Keller in Deutschland, die in diesen Monaten Verantwortliche ist für den deutschen XR-Twitter-Account. Es ist ein wenig wie mit einer Sammlung an Wertvollem, Briefmarken oder Fußballbildern früherer Generationen: Ah, ok, die streiken wieder; aber guck, hier taucht eine ganz neue Gruppe auf; die haben wir noch nicht in unserer Sammlung. Die Sammlung repräsentiert aber: die reale Welt mit traurigen, wütenden und kämpferischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in tausenden von Städten, die panisch mitverfolgen, wie durch das Zögern der Politiker_innen ihre Zukunft sich immer mehr verdunkelt. Sobald sie das Hashtag #FridaysForFuture benutzen und ihre Stadt im Tweet erwähnen, werden sie zum Bestandteil der weltgrößten Umweltbewegung und feuern selbst ihre Mitstreikenden an. Am Freitag früh kommt Greta mit Adventsschmuck anspaziert. Mitten auf dem Platz stehen zwei riesige Blumentöpfe, in denen einige Sträucher vor sich hinwachsen, gerade stark genug, um mit Weihnachtsschmuck belastet zu werden. Ich bastle an einem Schneemenschen herum, und drücke ihm ein Schild in die Pfote, mit dem Schriftzug »Schulstreik« drauf. Es ist wie immer absurd kalt, der Wind bläst vom Mälarsee und zieht ins Meer hinaus. Trotzdem setzen sich die Jugendlichen auch in diesen Wochen zwischen die Blumentöpfe und erarbeiten wie immer reihum jeweils eine Zutat improvisierend ein neues Rezept für ihre fiktive Kochsendung, ein Weihnachtsrezept:
Man nehme eine Christbaumkugel, aus Plastik, fülle sie mit Tannennadeln, halbiere sie, und lege ein einziges Reiskorn hinein, das grün angemalt werden muss, mit Acrylfarbe, und dann gibt man viel Schneuze dazu, und lässt alles über einer Flamme schmelzen. Dann ist es Zeit für eine Sauce aus geschmolzenem Schnee, noch einmal reingespuckt, und voilà.
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Fast jede Woche kommen jetzt neue Länder mit hunderten Jugendlichen in die Chats hinzu; die vor allem europäische Rebell_innenbande bildet sich. In den Tagen gegen Ende Dezember kommt die Idee auf, »deep strikes« zu veranstalten, nicht »global strikes«, aber auch nicht wöchentliche; sondern etwa monatliche. So machen es die Schweizer_innen. Anna und ihre Freund_innen aus England bestimmen sich für den 15. Februar und ihr wird Frankreich folgen. Luisa plant etwas für den 24. Januar in Berlin. Und die Diskussionen um den globalen Streik am 15. März gehen weiter. Ich staune über die Fähigkeit dieser jungen Menschen, vorauszudenken. Wie mutig, denke ich, sich auf ein Datum in der Zukunft festzulegen und zu riskieren, dass man nicht mobilisieren kann und alles im Sand verläuft. Nichts verläuft im Sand.
Wie Engagement für Nachhaltigkeit lehren? – Tiere spielen In diesen Tagen vor Weihnachten ist es an der Universität endlich so weit. Die Seminare stehen an, die ich für die Grundschullehrer_innen an den Tagen vorbereitet habe, als Greta ihren Streik anfing. Aber unterdessen hat sich alles in meinem Kopf verändert und ich baue Gretas Rede in die Workshops ein. Die Grundidee für die Improvisation, die von meinen Kolleg_innen miterarbeitet wurde: Die Studierenden reisen zu einer Klimakonferenz. Sie können wählen, ob sie Politiker_innen, Forscher_innen, Zivilgesellschaf t, Medienmenschen oder Aktivist_innen sind. Wir erarbeiten uns den ganzen fachlichen Hintergrund und sie müssen in Kleingruppen fünfminütige Reden vorbereiten und dann auch halten – während die »Medien«, »Aktivist_innen« und so weiter ihre Reaktion erfinden. Diese Form von kreativer Bearbeitung scheint mir klüger zu sein als die verbreiteten Lernspiele, in denen man »egoistisch« die Interessen eines Landes vertritt. Am Ende der Konferenz behaupte ich, alles sei live in den nordschwedischen Wald übertragen worden, die ganze Konferenz. Die Studierenden werden zu Tieren, die sich im Wald versammeln und das menschliche Treiben kommentieren, das zur schnellen Veränderung ihrer Lebensgrundlage führt. Da sitzen sie, Elche, Bären, Ameisen und Vögel aller Art und reflektieren über das, was sie gesehen haben. Ich setze mich in der Rolle des Journalisten dazu, der darüber in einer großen Zeitung berichten wird, und senke so meinen Status unter den der Studierenden, bin
Kapitel 4: Die internationale Bewegung entsteht
ich doch Repräsentant einer eher verantwortungslosen Spezies. Der Norden Schwedens wärmt sich sehr viel schneller auf als die Welt im Schnitt: zwei Grad Erwärmung anderswo bedeutet fünf bis sieben Grad für die Tiere und die indigene Bevölkerung der Samen, dessen ökonomische Existenzsicherung ganz von der Natur abhängt. Der Permafrost in Russland, das genau in der Richtung des Fensters in unserem Theaterraum liegt, schmilzt in diesen Wintern weg; es ist plötzlich 30 Grad, wo sonst der Gefrierpunkt kaum überschritten wird. Enorme Mengen an Methan werden freigesetzt. Von allen »Tipping Points« des »earth systems«, des Weltklimasystems, ist es derjenige, der mich am meisten in Panik versetzt, so unendlich viel Methan kann beim Auf tauen potentiell zu einer viergradigen Erwärmung der Welt beitragen – und er ist vielleicht bereits überschritten. Trauer macht sich auch in diesen Stunden breit, aber es ist eine eher befreiende; sie kann adäquat mit Wut vermischt oder leise geäußert werden. Die Studierenden, oder die Elche, können sich an die wertvolle Dimension in sich ankoppeln, die einem mit den anderen verbindet, und mit der Natur. Werden sie zum Agieren angeleitet? Vermittle ich in diesen »multimodalen« Lernformen (Theater, Kulissen malen, Rhetorik etc.) »agency«, Resilienz und »empowerment«, wie das in der Fachsprache heißt, den Willen die eigenen Lebensumstände zu verändern und den Glauben an die eigene Handlungskraf t und Gestaltungsmöglichkeit? Was zustande kommt, scheint mir eher etwas Fundamentaleres zu sein; ein »In-Kontakt«-Sein zu sich und anderen, und zu einer menschlichen Dimension insgesamt – komisch ist sie of t –, aus der heraus dann alles Mögliche entstehen kann (dazu Fopp 2016). Sie liegt vielleicht auch dem zugrunde, was viele »Spiritualität« nennen und den Kern von Religionen ausmachen könnte. In diesen Stunden bereiten wir uns nicht nur vor, stärken nicht einfach Kompetenzen, vergrößern wir nicht nur Wissen, sondern verbringen schlichtweg Zeit auf eine gute Art zusammen. Wenn Bildung nur Vorbereitung ist, und nicht Leben, wird vieles schief, denke ich dann und gucke in die Winterlandschaft. Und so brechen wir alle in den Winterschlaf der Weihnachtsferien auf.
Das neue Jahr beginnt Von da an zeichnet sie sich ab, die europäische und dann globale Kerngruppe der Streikenden. Sie haben durch die Reden Gretas und ihre eigenen nationalen Dokumente Grundprinzipien gefunden. Sie treffen sich an den Sonn-
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tagabenden im virtuellen Zoom-Raum und während 24 Stunden am Tag in den Chats. Über die Ferien ist die Bewegung in ganz Europa förmlich explodiert und wird langsam unübersichtlich. Welche Strukturen braucht es? Braucht es überhaupt welche? Vor allem aber: welche Strategie? Der eigentliche Kampf beginnt erst jetzt. Gigantische Firmen der fossilen Industrie pusten, so lesen wir es jeden Tag in den Twitternachrichten, Millionen Tonnen CO₂ in die Luft, unterstützt von den Banken und sogar von schwedischen Pensionsfonds. Wie soll eine kleine Zahl 16-Jähriger damit fertig werden? Es kann einem Angst und Bange werden nur bei dem Gedanken an die Mächtigen, die viel zu verlieren haben. Da entscheidet sich Greta, nach Davos zum Treffen eben dieser Elite zu fahren. Kalt ist es immer noch auf dem Münzplatz, ja noch viel kälter als im alten Jahr, doch die Jugendlichen sind schon wieder mitten im Organisieren. Der globale Streik wartet, und an diesem Freitag wollen sich die Schweizer_innen per Telefon melden. Jetzt können sie nach den Vorgesprächen direkt mit Greta sprechen, ihre Gedanken hören und Pläne für ihren Davoser Besuch beim World Economic Forum schmieden, der in zwei Wochen ansteht. Die Schweizer_innen erzählen vom bevorstehenden Großstreik. Sie haben eine andere Strategie gewählt als die meisten anderen Länder, und wechseln Freitage mit Samstagen ab, damit sich auch Lehrlinge und Eltern anschließen können. Und tatsächlich: Die Schweizer Jugendlichen verlassen eine Woche darauf ihre Schulzimmer. Es sind tausende und abertausende, allein in Lausanne, Genf und Zürich gehen je an die 10.000 auf die Barrikaden. Der 18. Januar wird zum größten Streik bis dahin im deutschsprachigen Raum, dann der 2. Februar am Samstag noch größer, mit Eltern und Großeltern als solidarische Helfer_innen. Die ganze Strecke an der Züricher Limmat entlang, die den Bahnhofsbereich mit dem Bellevue verbindet, ist voll von Punkten, Köpfen, Menschen, die ihre Pappschilder hochhalten. Die Züricher_innen werden schon bald ein neues Parlament wählen, in der Stadt und im Kanton und durch das, was die Medien »Greta-Hype« taufen, wird es zu einer rot-grünen Verschiebung kommen; das Parlament deutet an, es werde die Grundforderung des Klimastreiks, Netto-Null-Emissionen bis 2030, als Gesetz annehmen. Hoffnung kommt auf, doch genauso auch Herausforderungen: In diesen Wochen tauchen immer wieder Personen auf, die die gerade heranwachsende Fridays For Future-Pf lanze in einen hierarchischen Verein verwandeln oder die Forderungen aufweichen wollen. Abend um Abend gehen die Jugendlichen
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vom Münzplatz auf diese teilweise skurrilen Vorschläge ein. Alle weisen auf Kevin Andersons Forschung hin, und versuchen, Fridays For Future und das Gedankengut der Jugendlichen vom Münzplatz gegen diese »feindlichen Übernahmen« zu verteidigen. Und dann, endlich, tauchen die deutschen Namen in den internationalen Chats auf. Hinter den Kulissen ist nach Luisa Neubauers Treffen mit Greta in Katowice so viel los, wie man es sich kaum vorstellen kann: WhatsApp-Gruppen bilden sich, Schulen und Jugendvereine schließen sich zusammen; NGOs wie der BUND, Greenpeace und »350« helfen an einigen Orten mit Infrastruktur und Know-How. Eine Ortsgruppe nach der anderen schießt aus dem Boden. Und sie planen ein Treffen in Berlin. Neue wertvolle Helfer_innen tauchen auch auf dem Münzplatz auf (eine Beschreibung des Platzes findet sich in Strittmatter 2019): Helena Iles hat schon lange ein Klimaengagement und hilft Greta umsonst mit der Medienarbeit. Sie hat selbst ein kleines PR-Büro im Bereich der Populärkultur, und ist zusammen mit ihrem Mann Erik, der eine Naturschutz-Webzeitung leitet, fast von Anfang an für die Mittagstunden auf dem Münzplatz präsent. Aber die, die an den Jugendlichen vorbei ins Parlamentsgebäude gehen, und die formelle Macht haben, die Regeln für eine nachhaltige Gesellschaft zu erlassen, tun buchstäblich nichts. Schweden erhält in diesen Januartagen wiederum eine rot-grüne Regierung, neu gestützt von den beiden liberalen Mitteparteien. Doch sie schweigt weiterhin zur Forderung nach EmissionsBudgets und liefert kaum Pläne, die zeigen, wie die Gesellschaft Sektor für Sektor sozial gerecht in etwa zehn, 15 Jahren fossilfrei werden kann, wie es das Pariser Abkommen vorsieht (Anderson et al. 2020). Welche Mittel können wirkliche Regelveränderungen herbeiführen?
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Kapitel 5: Davos und das World Economic Forum Was ist wertvoll und was eine Wissenschaft der Ökonomie? Davos Die Krise muss überhaupt als Krise in den Köpfen etabliert werden; so lautet nach wie vor die Grundidee der Jugendlichen – etabliert in den Köpfen der Bevölkerungen und in denen der Machthabenden. Davos liegt in einem recht offenen, hoch gelegenen Alpental. Seit einigen Jahren ist hier das WEF zuhause, das World Economic Forum: das Treffen der »masters of the world«, wie Naomi Klein, die Klimaaktivistin und Designerin des amerikanischen Plans eines »Green New Deal« twittert (Klein 2020). Hier trifft sich jährlich die Weltelite aus Finanzen, Politik und Wirtschaft zu einer Neujahrskonferenz. Hinter verschlossenen Türen werden Geschäfte gemacht (oder zumindest verabredet), neue Netzwerke entstehen und Ideen werden ausgetauscht. »Da waren nur Limousinen, Limousinen zwischen Hotelblöcken, und Privatjets. Und unfassbar kalt war es auch, und alle Geräusche hört man ja so deutlich, ohne Wände«, wird Greta auf dem Münzplatz über ihre Zeltabenteuer berichten. Sie übernachtet in den Zelten der »Arctic Basecamp« Forscher_innengruppe. Mit meinen Studierenden sitze ich währenddessen im Seminarraum der Universität, und wir schauen live den offiziellen Stream des World Economic Forums in Davos an, oft in den Pausen, aber auch als Teil meiner Seminare zu nachhaltiger Entwicklung und Wissenschaftstheorie. Zwischen den sich immer schneller ablösenden Eilmeldungen der Schweizer Medien zu Gretas Ankunft f limmern Bilder aus vielen Konferenzräumen in Davos über die Monitore meines Universitätssaals. Reiche Menschen präsentieren ihre neuesten Ideen dazu, wie die Welt ein besserer Ort wird. Unter ihnen sind die, die diejenigen 100 Kapitalgesellschaften leiten, die mehr als 70 Pro-
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zent der Treibhausgasemissionen produzieren. Sind nicht sie es, die ihr Geschäftsmodell schlagartig ändern müssten? Oder geht es doch um die Politiker_innen, die ihre Geschäftsmodelle legitimieren? Die hier Versammelten könnten eine wirkliche Transformation in die Wege leiten. Könnten diese Menschen unsere Demokratien grundlegend verändern, fragen wir uns in Stockholm. »Ideen zur Wirtschaft des 21. Jahrhunderts.« »Die Bildung der Zukunft.« »Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz.« So heißen die Panels. Wenn wir den wirklichen Grund der ökologischen und Klimakrise verstehen wollen, und auch, wie wir herauskommen, denke ich vor dem Monitor in der Universität, dann ist der vielleicht wichtigste Schritt, dies zu verstehen: die Logik hinter diesem Grüppchen Menschen, das Funktionieren des Finanzsektors, die Verschränkung mit dem Rest des Wirtschaftssystems samt dessen politische Rahmenregelungen und die Rolle, die die Natur und die Menschen vor allem des globalen Südens da – nicht, oder ausgenutzt – spielen. Und wie wir das ändern, wo wir ansetzen können. Kinder und Jugendliche sind im Innern dieser Räume nicht zu sehen. Sie passen überhaupt nicht in dieses Weltbild hinein. Ihre Träume, Stimmen, Ideen und ihre Zukunft. Doch da bricht das Durcheinander aus. Am Donnerstag und Freitag der dritten Januarwoche geschieht so viel, dass die Telefonbatterien auf dem Münzplatz schon am späten Vormittag leer sind. Es ist nicht nur Greta, die zu den Schweizer_innen nach Davos fährt – in Berlin kommt es zum ersten wirklich großen Streik überhaupt in Deutschland. Plötzlich, auf einen Schlag, sitzen vorher unbekannte Jugendliche wie Jakob Blasel und Luisa Neubauer in ZDF-Sendungen, in denen Fridays For Future wie selbstverständlich als etablierte Jugendbewegung dargestellt wird. Und über alledem schwebt die Frage, was nachhaltiges Wirtschaften wäre und was wir Wissenschaftler_innen dazu zu sagen haben. Manchmal just in diesen Wochen bekommt Greta und Fridays For Future in den Medien Kritik dafür, dass sie zu Wirtschaftssystemen, etwa zum Kapitalismus, nicht Stellung bezieht, auf den Covern der Hochglanzmagazine erscheint und dadurch nur zur glamourösen Welt der Reichen beiträgt (Morningstar 2019). Umgekehrt sagen viele Jugendliche schon ganz früh in ihren Reden, und das ist auch Thema auf dem Münzplatz, dass diese Mär vom »ewigen Wachstum« ein Ende haben muss, dass just diese Ideologie hinter dem zerstörerischen Umgang mit der Natur steht. In vielen Gesprächen in diesen
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ersten Monaten werden die Jugendlichen von Fridays For Future auf der ganzen Welt sofort gefragt: Was wollt ihr denn stattdessen? Legt einen Plan für die Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft vor. Was wollt ihr denn? Was, wenn nicht Wachstum? Diese strategischen Diskussionen spielen sich auch in Davos hinter den Kulissen von »Klimastreik« ab, dem schweizerischen Teil von Fridays For Future. Den Schweizer_innen ist es zum ersten Mal seit Jahren gelungen, die Bewilligung für eine Demonstration in Davos vor den Toren des WEF zu bekommen. Jahr um Jahr war das von der Polizei untersagt worden. Doch jetzt am Donnerstagabend ist es soweit, die Demo ist erlaubt. Und dazu möchten die Schweizer Klimastreik-Jugendlichen natürlich Greta einladen. Sie kann aber nicht genau sagen, wann sie wo während der Konferenz auftreten kann. Sie weiß, dass sie in die Hochglanz-Magazin-Räume hineingelassen wird, dass die Machthabenden sich mit ihr fotografieren lassen wollen, und dass dies auch für die größere Bewegung von Nutzen ist – weil sie ihnen auf den Kopf zusagen kann, dass sie scheitern und ihrer demokratischen Aufgabe nicht nachkommen. Es wird Donnerstagmittag. Greta hält eine kurze Rede an die versammelte Elite im Kongresszentrum. Sie sucht die direkte Konfrontation und fordert Demokratie ein. Vor ihr sitzen die Reichen, etwa Bono, der Sänger von U2; aber auch Aktivist_innen wie Christiana Figueres, eine der Drahtzieher_innen hinter dem Pariser Klimaabkommen, die Gretas Unterfangen unterstützen will. Greta macht keinen Hehl daraus, dass sie sich auf dem Gebiet derer befindet, die sie bekämpf t. »Ihr seid es mit eurem Wahn nach Reichtum, die die Welt kaputt machen«, sagt sie zur versammelten Wirtschafts- und Politikelite. »Das war eine merkwürdige Sekunde«, erzählt sie uns ein paar Tage später, »direkt danach, wo niemand recht wusste, ob er klatschen soll oder nicht.« Wir alle müssen lachen. Und die, die sich in diesen Zeiten mit ihr für die Magazine fotografieren lassen, merken gar nicht richtig, die Trudeaus, Merkels und Macrons, dass sie ja auch selbst von dieser Kritik gemeint sind. Wieso hören sie nicht auf ihre Berater_innen? Greta und 14 andere Jugendliche werden sie bald vor der UNO verklagen und gegen Deutschland, Brasilien, Frankreich und Kanada einen Gerichtsprozess eröf fnen (Gonzalez 2020). Sie erhebt so auch die Stimme für die Kinder der Davoser Bevölkerung, die sich auf den Freitagsstreik vorbereiten. Wenn man nicht in die Höhle der Löwen geht, kann man kein Statement machen; man findet kein Gehör. Greta signalisiert für die gan-
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ze Welt, dass wir nicht akzeptieren müssen, dass einige die Demokratie und den Planeten krank machen. Und am nächsten Morgen, es ist Freitag, streikt sie mit den Schweizer_innen vor dem Eingang des Konferenzgebäudes. Durch die Davoser Tage treten die Schweizer_innen innerhalb der internationalen FFF-Bewegung noch zentraler hervor. Es ist Donnerstagabend. Lange Telefongespräche reihen sich aneinander. Loukina, Jonas, Lena, Miri, Marie-Claire und all die anderen sind belesen und strategisch denkend. Sie berichten von der Schweizer Gesetzgebung: welche Öf fnungen es da gibt, um schnell große nachhaltige Veränderungen zu erzielen, in Bezug auf den Finanzsektor etwa, geprägt von Credit Suisse und UBS, der durch die getätigten Investitionen für ein Vielfaches an Kohlendioxid-Emissionen außerhalb der Schweiz verantwortlich ist im Vergleich zu den Schweizer Gesamt-Emissionen. Wie könnten Gesetze formuliert werden, die dies verhindern und den Finanzsektor so umgestalten, dass das Geld die erreicht, die mit der Natur gut umgehen? Ein Verbot der Finanzierung der fossilen Industrie könnte als Volksinitiative gestartet werden. Aber wie lange dauert so ein Prozess? Was wird als wertvoll legitimiert in einer Gesellschaft? Greta kündigt eine Pressekonferenz für den Freitagmittag an.
Unterdessen in Deutschland – die Kohlekommission tagt Doch noch ist es Donnerstagabend. Eine Twitternachricht taucht auf den Handys der Bewegung auf, über die alle noch lange lachen. Die Münchner Fridays For Future-Gruppe publiziert ein Schreiben der Regierung, genauer gesagt des Bildungsministeriums, das die 16-Jährigen zu einem Gespräch einlädt. So schnell hat sich FFF als Macht etabliert und die Erziehungsministerien durch das Streiken verunsichert, dass diese sich zu Gesprächen gezwungen sehen. Man kann die Kinder nicht in die Schule zwingen; wie soll das gehen? Einige Rektor_innen und Städte wollen Busse für die Eltern einführen, aber das findet in der Bevölkerung kein Verständnis. Einige Schulen setzen durch, dass Prüfungen als nicht-bestanden gewertet werden. Die, die da streiken, nehmen eine große Last auf sich, denke ich immer und immer wieder. Da sehe ich die Antwort von FFF an das Münchner Ministerium: Wir wären gerne gekommen, aber wir sind am Freitag
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nicht da. Wir sind auf der Reise zum bundesweiten Streik in Berlin. Und was das für ein Streik wird. Die Berliner Gruppe rund um Luisa und Louis hat die gerade heranwachsenden Ortsgruppen des ganzen Landes vor das Wirtschaftsministerium in Berlin verfrachtet. Es werden über 10.000, die dem Minister Altmaier gegenüberstehen. Deutschland besitzt mit den Kohlekraftwerken die größten Kohlendioxid-Schleudern Europas. Wem gehört die Natur; wem die Zukunft? Ein Entscheid steht in der sogenannten Kohlekommission an.
»The house is on fire« – was wäre eine prosperierende Gesellschaft? (Zu Kate Raworth) In Davos wird es Freitagmittag, Zeit für die Pressekonferenz. Das Schweizer Fernsehen überträgt live. Da sagt Greta die Worte, die sofort kanonisch werden: »I want you to panic. Act as if the house is on fire. Because it is.« Das Haus brennt, wir müssen das Feuer löschen. Später wird sie erklären, dass die Leute natürlich nicht in Panik herumirren sollten, sondern vernünftig reagieren. Aber eben vernünftig angesichts der panischen Situation. In der Stockholmer Universität stellen wir uns die Frage: Wie reagieren? Wie könnte das Löschen des Feuers aussehen? Alles muss sich ja ändern. »Oh, da ist Kate mit ihrem Doughnut!« Ich habe eine Vorlesung der Ökonomieprofessorin den Studierenden auf die gemeinsame Lernplattform hochgeladen, die sie letztes Jahr am World Economic Forum in Davos gehalten hat, und wir schauen auf den Bildschirm. Wirklich, da schaut uns aus dem WEF-Stream Kate Raworth entgegen, die schon lange den Kontakt zu FFF gesucht und viele Jugendliche inspiriert hat; und redet wie immer in einem irrwitzigen Tempo über ihre Erfindung, die Doughnut-Ökonomie (Abbildung 4). Raworth’s »Doughnut-Ökonomie« (2018) zusammen mit Maja Göpels »The Great Mindshift« (2016) sind zwei der Bücher zur Umformung der politischen Ökonomie und Wirtschaft, die die Bewegung von Fridays For Future inspirieren und etwa in Webinaren besprochen werden. Unter den Jugendlichen gibt es verschiedene Meinungen zu diesen Ansätzen. Sie verzichten auf eine generelle Stellungnahme zu Fragen des Wirtschaftssystems. Und doch hilft es, zumindest den Kontext zu verstehen, in dem sich viele der auch älteren Umweltaktivist_innen bewegen (dazu auch Neubauer/Repenning 2019).
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Abbildung 4: Die Doughnut-Idee von Kate Raworth
Irgendwie hat »unsere« Art, zu wirtschaften und über Wirtschaft an Universitäten zu unterrichten und nachzudenken, auch furchtbare Konsequenzen, sagen Göpel und Raworth. Wie das ändern? Raworth erklärt ihre Grundeinsicht so: »Hier, die Innereien dieses Doughnut-Gebäcks sind der ›sichere und gerechte Raum‹ für eine zukünftige Gesellschaft. Hierhin wollen wir. Und das da«, sagt sie, und zeigt auf die Fläche außerhalb des Doughnuts, »das ist die Zone, in der wir die planetaren Grenzen missachten und überschreiten. Von da wollen wir weg. Weg von der Klimaerwärmung, von der Übersäuerung, weg von der Ausrottung der Tierarten, des Biodiversitätsverlusts, von der Vermüllung. Und hier«, ruft sie, »hier, im Innern des Doughnuts, da lauern die Gefahren von vernachlässigtem menschlichen Grundbedarf: Wohnraum, Nahrung, politische Rechte, Bildung, Gleichstellung und so weiter. Wir müssen unsere Gesellschaften so umwandeln, dass wir in den Doughnut-Teig hineinfinden!
Kapitel 5: Das World Economic Forum und die Ökonomie
Dem Bedarf aller gerecht werden und das ohne die planetaren Grenzen zu überschreiten. Wie kommen wir dahin? Das ist die ökonomische Grundfrage: Wie wirtschaften, so dass soziale und ökologische Nachhaltigkeit ermöglicht werden, also florierende Gesellschaften; nicht die, wie Wachstum hergestellt wird. Wir müssen das Ziel der Gesellschaft ändern!« Wir hier kennen den Begriff der »planetaren Grenzen«. Er wurde an der Stockholmer Universität von meinem Kollegen Johan Rockström miterfunden, der jahrelang Vorsteher des Stockholm Resilience Center war (Rockström et al. 2009). Zwar hat diese Forschung immer betont, dass die ökologische Nachhaltigkeit am wichtigsten ist und die ökonomische sich nach ihr richten muss und dafür die soziale braucht. Aber grünes Wachstum und dergleichen wurden nie in Frage gestellt, höchstens zur Debatte; zu Systemfragen hat man sich kaum geäußert (kritisch zum Sprachgebrauch der »earth system sciences«: Hardt 2018). Fridays For Future und Greta werden innerhalb kürzester Zeit diesen Diskurs verschieben; auch mithilfe von Göpel und Raworth. Sie krempeln radikal die Grundfrage um. Die eigentliche Frage, die nämlich hinter allem lauert, ist die: Was ist ein würdiges, prosperierendes Leben für alle; eine globale wirkliche Demokratie, in der alle, ohne einander oder die Natur auszunutzen, genug haben. Wie sehen diese Sicherheit gebenden Gesellschaften aus? Und: Welche Strukturen hindern uns daran, diese zu verwirklichen? Statt, wie bisher: Wie Wachstum garantieren? Nicht, dass alle Formen von Wachstum schief wären, sagt Raworth (2018, Kap. 1), aber diese Frage an die Spitze zu stellen, ist nicht nur für die Jugendlichen von FFF merkwürdig. Den meisten von ihnen leuchtet es ein, dass wir zuerst schauen müssen, dass wir nicht an Wassermangel leiden und die Böden genug Nahrung geben können für alle, und dass wir uns gegenseitig respektvoll, sozial gerecht und jenseits von Herrschaftsverhältnissen begegnen, bevor wir uns festlegen auf andere Ziele oder ein ökonomisches Dogma. »Doch was würde das für Konsequenzen haben für die Wirtschaftsweise? Vor allem: für den Finanzsektor, die Geldpolitik?« Marie-Claire Graf ist eine der aktivsten Schweizer Klimastreikenden. Sie ist als Studentin vier, fünf Jahre älter als Jonas und Loukina, Fanny, Lena, Miri und Paula, die noch auf das Gymnasium gehen. Sie studiert an der Universität Zürich Politik- und Umweltwissenschaft, hat sich seit mehreren Jahren bei der UNO engagiert, und ist Vorsitzende von derem globalen Klima-Jugendnetzwerk YOUNGO. Und sie hatte Greta zwei Monate zuvor in Katowice am COP24-Treffen getroffen und mit ihr gestreikt. Kurz später besucht sie uns auf dem Münzplatz in Schweden im Namen der »Gletscherinitiative« und wird offizielle Schweizer Delegierte für die
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Klimaverhandlungen beim COP25 in Madrid. Sie hat gerade die Unterstützung an einem Buch abgeschlossen, das der »Club of Rome«-Präsident Graeme Maxton herausgegeben hat, »CHANGE!« (2018). Wir diskutieren in den folgenden Monaten lange das, was sie am meisten beschäftigt: Wie sieht der Feuerlöscher aus, wenn das Haus in Flammen steht? Was sagen, wenn die Leute innerhalb der UNO oder den Schweizer Banken fragen: Was wollt ihr denn? Sie gehört einer Generation an, die nicht nur streiken will, sondern das erforschen, was das Alte ersetzen kann. Wir müssen beim Finanzsektor ansetzen, darauf kommen wir immer und immer wieder zurück. Oder die Logik hinter ihm, also die Logik der Investitionen, aber auch die des »erfundenen« Geldes, das von »positivem« ersetzt werden könnte (Raworth 2018, Kap. 5); und die Logik der gegenwärtigen Wirtschaftsform. Zurzeit ist es so, dass die Geldströme dahin fließen, und damit auch die Produktion, wo es sich lohnt zu investieren, also wo Rendite abgeworfen werden kann; egal, ob damit Natur zerstört wird, etwa in der Gewinnung der Rohstoffe oder in deren Verbrauch und der folgenden »Vermüllung«. Und es ist für dieses Konzept von Profitabilität auch oft irrelevant, ob es dabei Menschen gut geht. Und ob durch diese Angebot-Nachfrage-Logik überhaupt das Benötigte produziert wird, das wir als globale Bevölkerung brauchen. Die Schweizer_innen kommen in diesen Gesprächen immer wieder auf die Idee der Emissions-Budgets zurück und verbinden sie mit dem Doughnut-Rahmen. Sie geben ja vor, was ein »sicherer und gerechter« Raum wäre in Bezug auf das Klima. Sobald dieser Rahmen steht, ist klar, wie drastisch sich das Wirtschaften ändern muss, etwa in Form eines sofortigen Stopps des Baus und der Finanzierung der fossilen Infrastruktur, gepaart mit sozialer Gerechtigkeit, die für ärmere Länder diese Transformation ausgleicht. Wenn in zwölf Jahren in reicheren Ländern und in 20 Jahren global keine nennenswerten Emissionen mehr geschehen sollen, die nicht von Wäldern und Ozeanen absorbiert werden können, also »Fast-Null-Emissionen«, kommen wir wohl nicht um sofortige jährliche ungefähr zehnprozentige Standardverschärfungen und Regelungen herum: Das gilt für die fossilen Industrien selbst, aber auch für den Transport (Emissionen von Auto, Flug), Zement und Stahl, die Landwirtschaft (Ersetzung der fleischbasierten Ernährung durch pflanzenbasierte) und so weiter (dazu Anderson 2019). Budgetierungen auf globalem, nationalem, lokalem und vielleicht individuellem Niveau könnten global durch existenzsichernde Maßnahmen abgefedert werden (Raworth 2018, Kap. 5). Das Leben würde für viele sehr viel besser werden, sagt Marie-Claire, und betont, wie wichtig die Nähe zur Natur für uns alle ist, vor allem für Kinder.
Kapitel 5: Das World Economic Forum und die Ökonomie
Die Universitätsräume werden gekapert – »Rethinking Economics« Von diesen für die Jugendlichen so zentralen Überlegungen spricht kaum jemand in den WEF-Live-Sendungen. Und auch nicht in den Universitätsräumen. Oder doch. Manchmal an diesen winterlichen Donnerstagabenden, nachdem alle Studierenden sich in die Vororte der Großstadt zurückgezogen haben, tagt in unseren Universitätsräumen eine internationale Vereinigung. Eine Kollegin von unserem Institut leitet die schwedische Sektion, deren Treffen ich manchmal besuche. Sie nennt sich »Rethinking Economics« und ihr Ziel ist es, das Studium der Ökonomie an allen Universitäten dieser Welt zu verändern, zu öffnen und wissenschaftlicher zu machen. Wer nicht Wirtschaft studiert oder sich die Zeit nehmen kann, sich in den Lehrplan der wichtigsten Universitäten einzuarbeiten, könnte auf die Idee kommen, dass ein Studium der Ökonomie etwa so aufgebaut ist wie das der Politikwissenschaft, der Psychologie, Pädagogik oder Soziologie. Also, dass jedem Studierenden eine bunte Vielzahl an Herangehensweisen und Perspektiven eröffnet wird, in Theorie und Methode. In der Staatskunde etwa: Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus und andere Strömungen, Feminismus, Ökologismus, Posthumanismus. Aber in Bezug auf das Wirtschaftsstudium ist dem fast nirgendwo so, verstehe ich nach einigen dieser »Rethinking Economics«-Treffen. Stattdessen herrscht hier an fast allen Universitäten der Welt so etwas wie ein »Einheitsbrei«, der über alles gegossen wird. Er heißt Neoklassik. Alternative Theorien gibt es natürlich, zuhauf (Kelly/Howard 2019; die GemeinwohlÖkonomie von Felber 2018; die Ansätze des Postwachstums; Hickel 2020), aber sie werden kaum erwähnt. In den Lehrbüchern der Neoklassik, also den meisten Lehrbüchern zu Wirtschaft überhaupt, landet man schon nach drei Seiten in einer Welt von »pseudo«-mathematischen Darstellungen von Angebot-undNachfrage-Kurven und Marktmechanismen, aus denen Preise resultieren können. Von planetaren Grenzen oder den Grundbedürfnissen aller Menschen ist kaum die Rede. Wieso lassen die Universitäten zu, dass ganze Studiengänge so unwissenschaftlich strukturiert sind, fragen wir uns. Dass nicht verschiedene Theorien, verschiedene Grundfragen gestellt und methodisch erkundet werden. Und dann kommt die Frage, die alles andere in den Schatten stellt: Wie sollen die Studierenden sinnvollerweise Wirtschaft studieren, oder Geschichte, oder Pädagogik, oder Architektur, wenn sie nicht wissen, dass das »house on fire« ist? Greta in Davos ist ja auch und vor allem Volksbildnerin. In diesen Wo-
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chen spiele ich oft ihren TED Talk ab und lasse meine Studierenden darüber diskutieren. Danach spaziere ich durch die Gänge und überlege, wie ich und mit mir meine Kolleg_innen diese Institution der Universität im Grunde verändern können: etwa für alle Studierenden ein »Studium generale« einführen, in dem sie die existentielle Bedrohung der ökologischen Krise kennen lernen, wirklich, nicht als abstraktes Wissen, sondern didaktisch gut vermittelt, existentiell (ähnlich fordern es die Berliner Studierenden als Teil des FFF-Forderungskatalogs im Herbst 2020). Aber auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen müssen vermittelt werden, die diese Krise produzieren, die Grundursachen. Aber den meisten von uns und von unseren Studierenden ist die Struktur unseres Wirtschaftssystems nicht bewusst, wie mir in meinen Seminaren oft klar wird.
Das Problem mit dem ökonomischen Grundmodell – was ist Reichtum? Göpel und Raworth beschreiben beide auf eine ganz ähnlich Weise, wieso die Mainstream-Ökonomie in den Universitäten und das gegenwärtige Wirtschaften problematisch sind. Die Ausgangsfrage ist: Was macht denn Arbeiten aus – oder ökonomisches Tätigsein? Was ist ein gutes »Produzieren«? Das neoklassische Grundmodell besagt: Es gibt einige Ingredienzien, und deren Mischung macht das aus, was wirtschaftliches Tätigsein ist, egal ob jetzt jemand für Kinder einen Kartoffelauflauf kocht oder in einem riesigen Unternehmen ein Elektrofahrrad produziert. Einmal braucht es Materie, Natur, Ausgangsmaterial; dann Kapital, finanzielle Mittel; außerdem Werkzeuge und Wissen; und schließlich menschliche Arbeitskraft. Alles zusammen durch ökonomisches Know-How vereinigt ergibt einen Auflauf oder ein Fahrrad; also auf der einen Seite ein Produkt oder einen Service, der einen Nutzen hat (»goods«/»services« mit »utility«), und auf der anderen Seite eine Art von Investitionsgewinn, etwas, was sich gelohnt hat. Und wenn man gute Arbeit machen will, dann muss man dafür sorgen, dass man eine gute Qualität aller Ingredienzien hat. Entsprechend kann ein Unternehmen an jeder dieser Komponenten scheitern. An diesem Bild ist bereits einiges problematisch, sagen die beiden Ökonom_innen. Aber das wird sehr viel besser deutlich, wenn es wie in den traditionellen Lehrbüchern noch ein wenig ausgebaut wird. Bereits auf den ersten Seiten steht da: Was produziert wird, die Güter und Dienstleistungen, können mit einem Preis versetzt werden – sie werden oft direkt als Marktprodukte gesehen. Und
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dieser Markt selbst entscheidet, wie hoch dieser Preis ist, je nach Angebot und Nachfrage. Daraus entsteht dann die Möglichkeit für einen Gewinn, wenn das Produkt verkauft wird, und entsprechend die Möglichkeit des Verbrauchs oder Gebrauchs, das Konsumieren. Dieser Schritt ist alles andere als selbstverständlich: Ganz viele Dinge, die wertvoll sind, sind gar nicht so beschreibbar, etwa wenn wir füreinander etwas herstellen, ohne dass dies mit Geld verbunden ist: die Pflege der Eltern; die Erziehung der Kinder, kurz die gesamte »Care-« oder auch Kern-Arbeit, die etwa 30 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung ausmacht (Schmelzer/Vetter 2019). Und vieles, was in der Produktion von Sachen passiert, ist in diesem Grundmodell gar nicht gefasst: die Kosten für den Abfall, der produziert wird; das Ausnutzen der Natur als »Ressource«. Manchmal kommen sie als »Externalitäten« zumindest in den Blick, aber wie soll man den wirklichen Wert von Natur ermitteln? Auf jeden Fall sieht so nach Göpel (2016, Kap. 3.1) das Mainstream-Bild aller Ökonomiebücher aus, das, was Mikro- und Makroökonomie genannt wird. Genauer gesagt, stellt sich alles Wirtschaf ten nach dem neoklassischen Modell so dar: Es gibt zwei Pole, die Haushalte auf der einen und die Geschäf te auf der anderen Seite; und sie zusammen bilden einen produktiven Kreislauf. »Haushalte« stellen Arbeitnehmer_innen bereit, die in den Geschäf ten Sachen produzieren; sie bekommen dafür Lohn. Und sie konsumieren, was den Geschäf ten wiederum Einkünf te beschert. Ein geschlossenes System. Voilà. Das ist Wirtschaft. Dann gibt es noch die Faktoren in der Gesellschaft, die helfend (oder störend) eingreifen können: die Banken, der Staat. Diese liefern dann Geldmittel, wenn es knapp wird, ziehen Steuern ein, um die Infrastruktur des Wohlfahrtsstaates zu finanzieren: die Leute zu bilden, gesund zu halten, den Banken Kapital zur Verfügung zu stellen; Zinsen anzuheben, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und so weiter. Und alles zielt darauf ab, dieses Rad am Schnurren zu halten, das immer mehr Waren produzieren muss, wenn es überhaupt Einkommen und einen Wohlfahrtsstaat geben soll. So wird Prosperität und Reichtum von Gesellschaf ten verstanden: Die Menschen sollen gesund und gebildet viele Güter und Dienstleistungen produzieren, weil dies ermöglicht, sie zu konsumieren und Gehälter bereitzustellen samt Steuern einzuziehen. Schluss der Geschichte, die Steigerung des BNP, also des Wertes der Summe aller erstellten Güter, ist das Ziel, das in den Gesetzgebungen alles, auch die Klimagesetzgebung, prägt. Wenn es Diskussionen gibt zwischen den Mächtigen in Davos, so bewegen sich diese innerhalb des Rahmens dieses Grundmodells.
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Kritik am Grundmodell und die Skizze einer Alternative – was sind Bedürfnisse? Das klingt auf den ersten Blick plausibel, so Raworth und Göpel, zeigt sich aber als abgründig. Eine solche Wirtschaft würde zum Beispiel zusammenbrechen, wenn alle nur das produzieren und verbrauchen, was sie für ein würdiges Leben brauchen, also haltbare Produkte, die jahrelang benutzt werden können – die Wirtschaftsform, die wir jetzt auch laut UNO-Rapporten sehr schnell einführen sollten. Einige nennen dies »Degrowth« (Hickel 2020), andere »Postwachstumsmodell« (Schmelzer/Vetter 2019). So würden Steuereinnahmen einbrechen – sie sind ja an Löhne gebunden und diese an Umsatz und Konsumtion. Arbeitsplätze verschwinden, und Schulen und Krankenhäuser können nicht mehr finanziert werden. Hier stimmt etwas Grundlegendes nicht. Wie können wir das Problem beheben? Auch in der Beschreibung der Kritik und der Alternative, um die es jetzt geht, ähneln sich die Ansätze von Raworth und Göpel. Sie sagen eben: Was wir jetzt sofort ändern müssen, etwa in die Gesetzgebung übernehmen und in den Herzen und Köpfen der Menschen verankern, ist eben das Ziel des Wirtschaftens. Worum es gehen soll, ist: den Bedürfnissen aller gerecht zu werden, und zwar ohne die planetaren Grenzen (Klimasystem, Biodiversität, …) zu überschreiten. Doch was sind Bedürfnisse? Raworth definiert sie mit den 2030-Agenda-Zielen der UNO als die innere Grenze des Doughnuts: also genug Nahrung, Wasser, Wohnraum, politische Mitbestimmung, Gleichstellung und so weiter. Göpel (2016, Kap. 3.2) benutzt ein etwas anderes Modell von Manfred Max-Neef: Lebensunterhalt, Schutz, Zuwendung, Verstehen, Teilhabe, Vergnügen, Schöpferisch-Sein, Identität und Freiheit. Aber für beide stellen sie den primären Fokus allen wirtschaftlichen Tätigseins dar. Damit zeigt sich das Ökonomiebuch-Modell als schräg: Der Fokus auf Wachstum muss ja mit dem grundlegenderen Ziel, dass alle etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf, sinnvolle Arbeit und politische gleiche Mitbestimmung haben, nichts zu tun haben. Und die Welt wäre ja in der Tat eine andere, wenn wir in der politischen Rahmengesetzgebung national und global auf den Bedarf aller Menschen zielen würden. Es gibt immer noch weltweit eine enorme Armut; Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen ist nicht gegeben; über zwei Milliarden Menschen haben kein fließendes Wasser zuhause. Das verstehen die Kinder weltweit, die sich jetzt in diesen Monaten der Münzplatzbande anschließen und ihre Streiks auf Twitter dokumentieren. Also, so sagen Göpel und Raworth, muss das Wirtschaften ab sofort für den Bedarf aller nachhaltig
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sein, sozial und ökologisch; »redistributiv« und »regenerativ« nennen sie das, etwa, was Transport, Kleidungsindustrie und Landwirtschaft anbelangt. Entsprechend müsste auch das Steuermodell »redistributiv« und »regenerativ« ausgerichtet werden (Raworth 2018, Kap. 5/6). Eine regenerative Wirtschaft stellt lange anwendbare Produkte so her, dass sie in eine »zirkuläre Ökonomie« hineinpassen; dass sie, wenn sie verschlissen sind, wieder zu einem großen Teil als Rohstoff verwertet werden können. Und dass ihre Produktion nicht einfach Natur zerstört: Wälder abholzt und verbrennt; Kohlegruben aushebt und so weiter. Im Gegenteil, Wälder müssen gestärkt werden. Wie also die Wirtschaft umorganisieren? Raworth und Göpel sagen: wir müssen das Verhältnis zwischen Markt, Staat, Bürger_innen und »Commons« (kooperativ oder gemeinsam Besessenem und Produziertem) umdefinieren, auch in Gesetzen; der Markt allein regelt das nicht. Wir müssen die Krise als Krise behandeln, so denke ich in Stockholm.
Zur Eigenart der kapitalistischen Organisierung der Marktwirtschaft Maja Göpel fokussiert in ihrem Ansatz auch auf den Sachverhalt, dass die meisten Länder ihre Ökonomien in der Gesetzgebung nicht nur als Marktwirtschaften strukturieren, sondern als kapitalistisch organisierte solche (2016, Kap. 3.3). Das ist ein Unterschied, der in der Politikwissenschaft etabliert ist und dessen Betonung noch nicht mit politischen Wertungen verbunden zu sein braucht. In Davos stehen vor Greta die, die diese kapitalistisch organisierte Wirtschaftsweise mit am meisten verkörpern. Wie gesagt stammen 70 Prozent aller weltweiten Emissionen aus der Tätigkeit von 100 Kapitalgesellschaften. Und die, die am meisten Kapital verwalten und besitzen, stoßen unverhältnismäßig viel mehr aus als der ärmere Teil der Bevölkerung (Gore 2015); politische Maßnahmen, die ihr Konsumverhalten am meisten treffen, sind deswegen besonders effektiv (Anderson 2019). Und sie werden durch die spezifische Organisation des Wirtschaftssystems dabei immer reicher, ohne das Geringste dafür zu tun. Ihr Vermögen arbeitet für sie. Sie können es jederzeit als Kapital abziehen, sobald sich eine lukrativere Investition auftut. Von diesen wenigen und ihren Entscheidungen hängen die Lebens- und Arbeitsbedingungen von so viel mehr Menschen ab. Wir könnten aber auch so leben, dies die Intuition von Göpel und Raworth, dass demokratisch alle ungefähr in gleicher Weise Kontrolle über das hät-
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ten, was und wie produziert wird. Dadurch unterscheiden sich Kapitalgesellschaften grundlegend von »gewöhnlichen« Geschäften: Die Besitzer_innen von Aktien machen keine Investitionen oder Gewinne, wie dies etwa die von selbstständigen Tanzstudios oder Frisörsalons tun; mit dem Risiko, alles zu verlieren. Diese Begriffe klingen nur gleich, aber Gewinn und Investition sind anders strukturiert in einer Kapitalgesellschaft. Sie werden aus dem Geschäft entzogen, sind eben Renditen auf Kapital. Es geht ja im Geschäftsmodell gar nicht primär um die Produktion von Gütern, sondern um die Vermehrung, die Akkumulation von Geld (Göpel 2016, Kap. 3.3) für die, die bereits sehr viel haben. Was »Eigentum« ist, ist in der Form des Kapitals plötzlich losgekoppelt von Verantwortung, Sorge und Identifikation mit dem »Besessenen«. Das gilt genauso für die Organisations- und Wirtschaftsweise von Banken wie für die Öl-, Gas-, Zement-, Stahl- und Kohleindustrie; eben die 100 Kapitalgesellschaften, die am meisten für die Klimaerwärmung verantwortlich sind, und unbedingt an diesem fossilen kapitalvermehrenden Geschäftsmodell festhalten wollen. (Wind und Sonne lassen sich dagegen nicht so gut wie Kohle und Öl besitzen und als Waren verkaufen.) Die »fossilen« kapitalistisch organisierten Geschäfte funktionieren außerdem nur, wenn sie exponentiell wachsen und immer mehr Ressourcen dem Kreislauf entziehen: Aus ihnen wird ja ständig Geld als Kapitalvermehrung entzogen (Göpel 2016). Darauf sind sie auch rechtlich festgelegt – sie müssen primär den Eigentümern ihr Eigentum vermehren; was eben etwas strukturell Anderes ist als das Machen von Gewinnen durch ein erfolgreiches Geschäft. Deswegen ist es sinnvoll, so die Idee einer Tradition der Politikwissenschaft, von verschiedenen Schichten oder Klassen zu sprechen. Historisch gesehen hat sich so sehr viel Vermögen in den Händen von wenigen angesammelt; von sehr wenigen (Piketty 2018). Den reichsten zehn Prozent in Schweden und der Schweiz gehört über 80 Prozent allen Reichtums; oft sind es weiße Männer der Mittel- und Oberschicht. Der Anreiz ist sehr groß, die Geschäftsmodelle so aufzubauen, dass Natur und Mensch immer mehr an die Grenzen ihrer Resilienz gelangen. Und es sind oft dabei Frauen im globalen Süden, die in unsicheren und unterbezahlten Arbeitsverhältnissen arbeiten – für diese wenigen Männer im Westen. Und sie wohnen oft in der Nähe der Fabriken und Kraftwerke oder ärmlicheren Viertel, die von der Luftverschmutzung durch die Emissionen am meisten betroffen sind. Jährlich sterben daran sieben Millionen Menschen (WHO 2014). Auch sie würden durch das Stoppen der Emissionen gerettet. So betrachtet erscheint meinen Studierenden die so enorm produktive Weltwirtschaft als mehrfach ungerecht. Wir reden lange über just den Begriff
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der Gerechtigkeit. Ungerechtigkeiten aufgrund von Ethnizität, Gender und Klasse scheinen sich außerdem zu verschränken. Es sind die Frauen aus den BIPoC-Gemeinschaften, die oft am meisten benachteiligt sind, und es sind einige weiße, bereits reiche Männer, die am meisten profitieren. Wie könnten wir das alles demokratischer organisieren, fragen wir uns; demokratischer, was die Mitsprache am Arbeitsplatz anbelangt, aber auch, was die Eigentumsverhältnisse angeht – so, dass alle sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können und ungefähr gleich viel Macht haben? Diese geschilderten »destruktiven« Motive verschwinden, so Göpel und Raworth, wenn das Wirtschaften umorganisiert wird durch soziale Relationen und (eben postkapitalistisch ausgeformte) Eigentumsformen, die auf die Bedürfnisse aller fokussieren, etwa wenn eigene Solarzellen oder kommunale Windkraftwerke in Betrieb genommen werden (Felber 2018; Raworth 2018, Kap. 6). Die Logik des Verhältnisses zur Natur ist dann zumindest nicht notwendig verbunden mit dem Abziehen oder Herausnehmen von natürlichen und mitmenschlichen Ressourcen – wie dies im gegenwärtigen Wirtschaftssystem notwendig geschehen muss, ganz abgesehen vom möglichen »Decoupling«, also dem Loslösen des Wirtschaftswachstums von der Zunahme anderer Parameter (Verschleiß von Materialien; Vermüllung; Energieverbrauch etc.), für dessen Möglichkeit wenig Forschungsresultate sprechen (Hickel/Kallis 2019). Stattdessen, so das konstruktive Projekt, sollten wir jetzt alles so ausformen, dass wir die Ressourcen stärken – anstatt sie aus dem System abzuziehen. Wie das genau aussehen kann, das ist die Frage, der sich die jetzt zusammenschließenden Scientists For Future immer mehr zuwenden (dazu die Vorschläge im Anhang zu diesem Buch). Greta sagt in ihren Reden: Wir wissen nicht genau, wie dieses neue System aussehen wird. Wir wissen aber, was wir stoppen müssen, und was regulieren. Und es muss in Form von Krisenmaßnahmen schnell gehen.
Der wirtschaftliche Grund der Klimakrise Ich fahre mit der Vorlesung an der Universität fort und stelle die grundlegende Frage: Wieso gibt es eigentlich die Klimakrise? Was ist ihr eigentlicher Grund, und hängt die Krise zusammen mit der Art, wie wir unsere Wirtschaft strukturieren? Zunächst gibt es die Klimakrise natürlich, weil wir unter anderem Wälder abholzen, eine Massentierhaltung aufrechterhalten und Kohle, Gas und Öl
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verbrennen und verbrannt haben. Andreas Malm, mein schwedischer Universitätskollege aus Lund, sagt (2016): weil gleichzeitig zu Beginn der industriellen Revolution der Kapitalismus als politisches ökonomisches System etabliert, aufgezwungen, normalisiert wurde – und Maschinen erfunden wurden, mit Antrieben, die uns den Transport, das Heizen und so weiter abnehmen. Und, und dies ist entscheidend, indem die Natur, die dazu verbraucht wird, buchstäblich in Warenform daherkommt oder leicht in sie umgeformt werden kann. Im Gegensatz zum Wind, Wasser und den Sonnenstrahlen sind Kohleklumpen und Öl in Behälter abgefüllt Produkte, Ware schlechthin. Ihr Abbau, ihr Vertrieb und Verkauf können perfekt in kapitalistischer Weise organisiert werden. Dazu werden Sklaven verwendet, zuerst, dann schuftende Grubenarbeiter_innen, die nichts haben außer ihrer Arbeitskraft (Hickel 2018). So wird ein Produkt geschaffen, das leicht transportiert und dann auf dem Markt verkauft werden kann in beliebig steuerbaren Portionen, oft durch die Ausnutzung indigener Bevölkerungen und durch die Zerstörung von deren Lebensgrundlage. Darauf verweist Jamie Margolin immer und immer wieder, die 17-jährige Klimaaktivistin in den USA (Margolin 2020); auch darauf, dass diese Geschichte auf eine wirkliche Bearbeitung wartet. In den Chats tauchen in dieser Zeit viele Aktivist_innen aus der indigenen Bevölkerung auf, vor allem Nord- und Südamerikas, aber auch Australiens. Unvorstellbare Reichtümer wurden so in der Geschichte des »fossilen Kapitals« abgezweigt einfach durch den Besitz an kohle- und ölfördernden Geschäften, durch die Investitionen der Großbanken in diese fossile Infrastruktur und die entsprechenden Kapitalgesellschaften. Mit welcher Legitimität? Wieso sollte ihnen (und denen, die im globalen Norden wohnen) die Natur gehören? Wieso sollte ihnen die Arbeit der Minenarbeiter zukommen? Und vor allem: Was machen wir mit dieser Geschichte, die unser gemeinsames »Integritätsmaterial« beschädigt hat, wie ich dies in den Vorlesungen nenne? Der Klimakrise zu begegnen heißt dann für Andreas Malm im Kern, diese Form von Eigentumsverhältnissen, von sozialen ökonomischen Relationen ins Lot zu bringen, also die Macht über Investitionen oder Geldflüsse zu erlangen, demokratisch, weg vom Privatbesitz an Aktien, so dass sie umgelenkt werden können in den Ausbau der erneuerbaren Energien. NGOs, die Fridays For Future manchmal helfen, wie »350«, versuchen zumindest, öffentliche sowie private Institutionen dazu zu bringen, ihre Investitionen umzudirigieren in erneuerbare Energieträger. »Fossil free« heisst diese Bewegung des »Divestments«. Es sind unvorstellbare Mengen an Gelder, die so umgeleitet werden könnten, von Pensionsfonds, Banken und auch von Universitäten. Die Investi-
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tion von Trillionen von Dollar in fossile Geschäfte müsste sofort untersagt werden, so fordern es die Jugendlichen in Davos von denen, die diese Finanzflüsse steuern (Thunberg et al. 2020).
Kritik an Raworth und Göpel – woraus der Doughnut besteht und was die Welt im Innersten zusammenhält Das alles könnten wir sofort ändern, sagen Raworth und Göpel und so viele andere den Fridays For Future-Jugendlichen nahestehende Forscher_innen. Staaten und Kommunen (ja selbst die UNO-Institutionen) können das Doughnut-Modell als Ziel des Wirtschaftens in die Gesetzgebung aufnehmen; das tut etwa die Stadt Amsterdam im Jahr 2020 (Boffey 2020). Ein existenzsicherndes Grundeinkommen könnte eingeführt werden, global, weil es sonst nur noch die Ungleichheit zwischen globalem Norden und Süden verstärkt; so erhält die
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oft von Frauen ausgeführte Sorge-Arbeit Wertschätzung, und die Würde aller wird ernst genommen. Es könnte teilweise lokal gebunden werden (etwa durch Währungen), wie dies Hornborg (2017) vorschlägt, damit Transporte unterbleiben. Standarderhöhungen in Bezug auf Emissionen von mehr als zehn Prozent jährlich müssten in Europa in sämtlichen Bereichen eingeführt werden, als ordnungspolitische Maßnahmen, die in Bezug auf Verkehr, Nahrungsmittel und so weiter jedes Jahr die Gesellschaft in eine nachhaltigere Richtung steuern (Anderson 2019; Hickel 2020). Reales Geld könnte eingeführt werden, damit der Anreiz des Wirtschaftens und des Finanzsektors dem Doughnut-Ziel unterstellt wird (Raworth 2018): Eine nachhaltigere Wirtschaft zeichnet sich ab. Was sich in all diesen kritischen Punkten abzeichnet: das Wirtschaften braucht einen »Mindshift«, wie das Göpel nennt, was das Verhältnis zueinander und zur Natur angeht, vor allem in Bezug auf das, was als wertvoll und lohnenswert angesehen wird. Woran misst sich dieses »Sich-Lohnen«, das Wert-Haben eigentlich? Das scheint mir die zentrale Frage zu sein. Göpel und Raworth antworten: Das »Lohnen« sollte sich eben an der Befriedigung von Bedürfnissen messen, statt an Angebots- und Nachfrage-Marktmechanismen, und auch an dem, was sie »Well-being« nennen, Wohlergehen (Raworth 2018, Kap. 1; Göpel 2016, Kap. 3.1.5). Es kann verschieden definiert werden. Etwa durch den Human Development Index der UNO oder wie Gough (2017, Kap. 4) dies mit dem »Happy Planet Index« der New Economics Foundation vorschlägt: durch eine Formel, die als Parameter Lebenserwartung, empfundenes Wohlergehen, Ungleichheit der Einkommen und ökologischer Fußbadruck einbezieht. In den Diskussionen mit meinen Studierenden stellen wir uns die Frage: Vielleicht gibt es noch einen grundlegenderen Maßstab für unsere zukünftigen Gesellschaften und das Wirtschaften als der, der durch die Bedürfnisse aller und das individuelle Wohlergehen abgesteckt ist? Ich versuche den Kern des Problems anders zu fassen. Die Frage nach Bedürfnissen und nach Eigentumsformen, etwa ob und inwiefern wir die fossile Industrie verstaatlichen sollen, und dann schnell zurückfahren, ist eine wichtige. Aber sie löst nicht alle Probleme, weil selbst Staaten sich an einem Kompass ausrichten müssen in ihrem Handeln, der ja nicht durch die Eigentumsfrage gegeben ist. Vattenfall ist ein staatliches schwedisches Unternehmen, das die Kohlekraftwerke im Süden von Berlin betrieben hat. Einige von uns Klimaaktivist_innen haben sie mit »Ende Gelände« im Sommer 2016 durch zivilen Ungehorsam blockiert und zumindest für einige Stunden den Ausstoß des CO₂ verhindert. Aber Schweden hat dann nicht etwa die Kohle im Boden
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gehalten, als es sich als Eigentümer zurückgezogen hat, sondern an ein tschechisches Konsortium verkauft. Der Maßstab stimmt nicht. Brauchen wir nicht einen besseren für alles Wirtschaften, als dies das BNP-Wachstum, aber auch Göpels und Raworth’s Ausrichtung an Bedürfnissen und Wohlsein ist? Wohlsein und Bedürfnis fangen nicht ganz auf, worum es beim wirtschaftlichen Tätigsein eigentlich gehen sollte, so meine These – nämlich um das Aufbauen und Stärken von Ressourcen, um das Schaffen von Nachhaltigkeit. Was so fehlt, ist das Zentrum, die Definition des Teigs, aus dem der Doughnut gemacht ist; also das, was die nachhaltige Welt im Innersten zusammenhält – und was wir in der Ausbildung an der Stockholmer Universität jeden Tag in den Theaterräumen mit unserem sozialen Zusammenspiel und der existentiellen Situierung in einem konkreten Umfeld erkunden. In der Forschung taucht in diesem Zusammenhang eben der Begriff des »Connected«- oder »Deconnected«-Seins auf, das »In-Kontakt-Sein zu sich und anderen«, das die Kräfte stärken kann (Fopp 2016). In anderen Theorietraditionen wird dies nicht-entfremdetes Weltund Selbstverhältnis genannt; oder »Resonanz«, »Akzeptanz« und so weiter. Eine entscheidende Einsicht ist dabei: Wenn wir uns verkrampfen, und sei es auch nur ganz leicht, verlieren wir etwa den Kontakt zu dem, was wir eigentlich denken und fühlen, aber auch den guten Kontakt zum Anderen, zur Umwelt. Die Sicht wird leicht diffus, wir sind wie in einer Glasglocke gefangen, können nicht mehr richtig aufatmen, uns austauschen. Im Extremfall werden wir krank, seelisch oder körperlich oder beides; neurophysiologisch untersucht dies Immordino-Yang (2015) in ihren Empathie-Studien; physiologisch kann die Alexander-Technik Erklärungen liefern. Philip Pullman (2001) hat in seiner »Dunkle Materie«-Trilogie die Metapher des gutartigen Dämons gefunden, den jeder Mensch hat: ein lebendiges Alter Ego, das in Form eines Tiers um einen als eine Art externe Seele springt und spielt und mit dem wir uns unterhalten und beraten können – und von dem uns die dunklen Mächte trennen, losschneiden wollen, indem sie uns gleichgültig machen. Der Entwicklungspsychologe Winnicott (2005) nennt es das Verhältnis zum »eigentlichen Selbst«. Das Abschneiden kann zu dem führen, was Adorno (1995) und nach ihm die Forschung »autoritärer Charakter« nennt, und die politische Führung in so vielen Ländern prägt, die die Klimakrise nicht ernst nehmen. Dann werden wir wie Charles Dickens’ fiktiver gieriger Schurke »Scrooge« in der »Weihnachtsgeschichte«, die unsere Studierenden in diesen Tagen auf die Bühne bringen – und die uns sehr an die Davoser Machtelite erinnert. »Das war intensiv«, sagen sie später; »wirklich zusammenzuarbeiten und die Ideen von allen aufzunehmen – wir
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sind starke Persönlichkeiten hier …«. Aber es macht offensichtlich Spaß, sich in einen Schurken zu versetzen, die Impulse, über andere zu dominieren, nicht zu unterdrücken. Zumindest für die Probezeit. Immer wieder gehen wir in diesem Kurs auch zu den sozialpsychologischen Theorien zurück, die uns erklären, wie sich ein autoritärer Charakter entwickelt, und wie sie mit den Kindern auf eine Weise umgehen lernen, die diesen Geborgenheit und Freiheit zugleich geben und so die Persönlichkeit stärken und öffnen für ihre Umwelt. Das Spielen mit dominierenden Hochstatusfiguren ist ein gutes Mittel dazu, sehen wir ein, weil so für alle deutlich wird, was Dominieren ist, also (noch so subtil verstecktes) gewaltsames Verhalten, und was das Andere dazu wäre. Wenn uns wirklich wohl ist, haben wir Zugang zu diesem Kontakt, sagt diese Forschung. Er hat etwas Positives, Stärkendes. Wir begegnen der Welt und den anderen und uns selbst wirklich, bekräftigen uns, auch wenn es vielleicht schwierig ist. In diesem Sinn geht es gar nicht nur um ein »Wohlsein«, »Well-being«, sondern um ein fundamentaleres Phänomen, für das wir auch Unwohlsein in Kauf nehmen können. Es ist ein relationales Konzept (eben In-Kontakt-Sein zu …), anders als »Bedürfnis« und »Well-being«, eher europäische, ganz individualistische Konzepte. Die Forschung (Bowlby 2010, Winnicott 2005) zeigt außerdem etwas Zentrales auf: Dieses Im-Kontakt-Sein, ohne welches vieles sinnlos wird, können wir – entgegen Raworth’s und Göpels Theorien – nicht als »need«, Bedürfnis, definieren. Bedürfnisse können uns sogar daran hindern, in diese Dimension hineinzufinden. Dies behauptet etwa eine der am besten erforschten Theorien innerhalb der Humanwissenschaften, die Bindungstheorie. Die Grundbedürfnisse nach Nähe und Schutz sind für kleine Kinder so zentral, dass sie den wirklichen Kontakt zu sich und anderen »opfern«, um diese zu erhalten. Sehen sie, dass die Eltern oder Lehrer_innen irritiert wegsehen, wenn sie wütend werden, oder sehr freudig, dann unterdrücken sie mit der Zeit just den Ausdruck dieser Gefühle, um die Grundbedürfnisse nach Nähe und Schutz zu befriedigen. Masken entstehen, die sich in der gesamten Muskulatur festsetzen, Persönlichkeiten prägen, und wirkliches demokratisches Sich-Begegnen auf Augenhöhe verhindern. Man unterwirft sich oder versucht, zu dominieren. Hingegen könnten wir vielleicht sagen, dass es so etwas wie eine Sehnsucht nach bekräftigendem Kontakt gibt, die noch tiefer liegt als das, was wir Bedürfnis nennen. Ja, wir können Bedürfnisse und wie sie gestillt werden daraufhin ansehen, ob dadurch ein wirklicher Austausch ermöglicht wird, oder verhindert. Wir Menschen sind in der Lage, Kontakt noch dann herzustellen, wenn wir wütend sind oder einen Konflikt austragen: wenn wir nicht andere wegweisen,
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sondern eben sie ansprechen, als Personen, und sichtbar machen – etwa indem wir es explizit sagen –, wie wichtig uns die Beziehung ist, auch wenn wir über ein Verhalten irritiert sind und es stoppen wollen. Wir müssen nicht fliehen oder kämpfen, sondern können noch im Konflikt unsere Bande zum Anderen stärken, auch wenn dies schwierig genug ist. In diesem Sinn ist das In-KontaktTreten das Fundamentalste, was es in unserem Leben geben kann. So könnten wir vom »Gut-Gehen« sprechen, sage ich dann in den Vorlesungen, das an die Stelle von »Wohlsein« treten soll als Maßstab des wirtschaftlichen Tätigseins, der jetzt nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich ist. Dieses Gut-Gehen kann vor allem dann zustande kommen, wenn wir Räume haben, in denen lebendiger Austausch hergestellt werden kann. Für diese, schlage ich in den Vorlesungen vor, können wir den englischen Begriff »humane« benutzen, »menschliche« Räume. Was wir brauchen, ist dann nicht ein verstaubter Humanismus, der klassisch nach dem Modell des Verstandes des weißen kolonialisierenden Mannes modelliert ist; aber auch keinen Posthumanismus, der Menschlichkeit gar nicht als genuinen Wert ansieht, sondern eine Form von »Humane-ismus«. Dieser besagt: Dieses In-Kontakt-Sein ist unmöglich zu erreichen bei konstantem Hunger oder der Angst davor, nicht genug zu essen oder ein Dach über dem Kopf zu haben oder Arbeit zu finden; aber auch bei permanenter Konkurrenz. Und dieses Sich-Abschneiden oder In-gutenAustausch-Kommen, das Schwächen oder Stärken von Ressourcen, geschieht auch in Universitätsräumen, an Arbeitsplätzen und Schulen, in der Art, wie wir Kindern zuhören und so weiter; in allen Lebensbereichen. Hier kommt eine Kritik an Raworth’s und Göpels Wirtschaftstheorie ins Spiel, die Konsequenzen hat für das Verständnis der universitären Disziplinen, nicht nur der Ökonomie. Wir können nicht einfach an der wissenschaftlichen und philosophischen Forschung vorbeisehen, daran, was es heißt, Ressourcen zu stärken. Und das gilt in Bezug auf alle Ebenen, von sozialen bis zu Umwelträumen: angefangen bei der Verkrampfung oder Lebendigkeit in der Bewegung in und dem Umgang mit der Natur, die wir neurophysiologisch beschreiben und mithilfe der Gestalttheorie verstehen können (Immordino-Yang 2015); bis hin zur Gestaltung der demokratischen Institutionen und schließlich zur politischen Gestaltung aller Bereiche von Nahrungsproduktion bis Transport. Was in dieser Fachforschung als Gesamtbild deutlich wird: Die Organisation, in der dieser Kontakt möglich wird, ist gerade demokratisch. Wenn wir darauf zählen können, dass alle auf alle achten, und die Natur, müssen wir uns nicht mehr verkrampfen. Und: Dahin kommen wir nicht einfach durch schöne ethische und
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politische Postulate wie »alle sind gleich«, sondern indem wir solche Räume wirklich herstellen, konkret, und dabei mit dem spielen und das durchschauen, was gestalthaften Kontakt verunmöglicht: (gewaltsame) Dominanzverhältnisse. Wenn wir uns nicht auf Augenhöhe begegnen können, ist es schwierig und auf die Dauer unmöglich, den Kontakt zu behalten. Das wird, wie vorher schon angedeutet, nicht zuletzt bei Kindern so deutlich, sagt diese Forschungstradition: Begegnet man schon kleinsten Kindern nicht auf Augenhöhe, werden sie einen oft dazu bringen, indem sie den Status des Anderen senken, oder indem sie den eigenen erhöhen – oder sie schneiden sich ab und verlieren den Kontakt zu sich selbst. Hier braucht es ein Wissen und Können dazu, und nicht nur in der Universität, wie wir einander bekräftigen können, und alle einbeziehen. Dies gilt für die kleinen intersubjektiven Verhältnisse, aber auch für die großen: Das In-Kontakt-Treten setzt voraus, dass die Dominanzstrukturen in Bezug auf Gender, Ethnizität, Klasse, sexuelle Orientierung und so weiter aufgelöst und durch demokratische Begegnungen auf Augenhöhe ersetzt werden, ganz konkret in den Strukturen des Alltags.
Eine neue Logik: Wertschätzung, Freiheit und Integrität Was so zustande kommt, oder beschädigt wird, nenne ich in den Vorlesungen mit einer Metapher: gemeinsames Integritätsmaterial, Integritätsstoff. Er geht kaputt, wenn wir Böden und Wälder zerstören, wenn wir Hunger und Armut zulassen; wenn wir in Schulräumen Kinder sich verkrampfen lassen und später im Berufsleben Dominanzverhältnisse etablieren und einander diskriminieren. Und dieses Integritätsmaterial, das uns miteinander und der Natur verbindet, oder diese Verbindung ausdrückt, wird gestärkt, wenn wir für einander sorgen, durch Anerkennung, aber auch durch materielle Ressourcenteilung. Es hat auch eine historische Dimension: Das Unrecht etwa des Kolonialismus macht bis heute das geteilte Integritätsmaterial kaputt, und will repariert werden; so eine mögliche Beschreibung der gemeinsamen Situation, in der wir uns als verletzliche Wesen auf einem Planeten vorfinden. Göpels und Raworth’s Fokus auf »die Bedürfnisse« und »das Well-being« verstellt ein wenig den Blick auf dieses konkrete demokratische Einrichten von sozialen und Arbeitsräumen und das Fachwissen, das damit verbunden ist und welches das wirtschaftliche Tätigsein anleiten sollte. Was »sich lohnt« und was »wertvoll« ist, kann – ganz ähnlich wie es so viele Kinder- und Jugend-
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bücher tun – daran gemessen werden, ob es diesen gemeinsamen Integritätsstoff webt oder ihn kaputt macht (und das heißt, »Connected-Sein« zulässt oder abbricht). Dieser Maßstab ist dabei nicht von uns frei wählbar; er ist in etwa so gegeben wie die planetaren Grenzen. Selbst wenn sich alle in einer Gesellschaft darauf einigen würden, von ihm abzusehen, ist er doch da, nagt im Hintergrund und produziert Leiden, wenn er vernachlässigt wird. Daran sehen die Theorien vorbei an den Universitäten, die nur auf »Deliberation« setzt, das gemeinsame Aushandeln demokratischer Ziele. Dass wir den Kontakt zu uns und anderen verlieren können, können wir nicht wegverhandeln. Es ist unsere innere planetare Grenze, könnten wir sagen. Das heißt aber nicht, dass wir dadurch nur zu einem Teil der Natur werden, wie es uns Teile der posthumanistischen Forschung und des »Neuen Materialismus« wahrmachen möchten (Latour 2018), die unsere Universitäten zurzeit so prägen wie früher der Poststrukturalismus. Wir sind auf eine ganz andere Weise »Agenten« wie der Hügel, die Lampe oder der Computer, auch wenn es wichtig ist, unser Verwobensein mit der Natur hervorzuheben. Wir haben in einem anderen Sinn Verantwortung. Alf Hornborg (2017) und Andreas Malm (2017) betonen, dass es da eine Kluft gibt, zwischen uns, unseren sozialen Handlungen und Entscheidungen, und der Natur. Und dass es gefährlich ist, diesen Unterschied klein zu machen, wie es etwa der Posthumanismus/Latour (2018) machen; und entsprechend unsere Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten herunterspielen. Umgekehrt kann gegen Malm und Hornborg eingewendet werden, dass sie die Kluft zwischen Natur und Kultur dann überzeichnen und deswegen das Phänomen des gestalthaften lebendigen Austausches verpassen. Wenn wir unsere Gesellschaften jetzt so umformen, dass wir dies erreichen, Dominanzverhältnisse durchschauen und aufheben, bekräftigenden Kontakt ermöglichen und ein »menschliches Energiesystem« etablieren, landen wir in etwas, was wir mit der Forschung Konvivialismus (Vetter 2021) nennen können. Demokratisierung ist dann nicht etwa auf Eigentumsverhältnisse eingeschränkt, sondern zielt auf alle Arten, wie wir strukturell die Qualität unserer Beziehungen zueinander und zur Natur organisieren. Es geht nicht nur um das formale »by and for the people«, sondern um das Substantielle: dass wir weder gegen den äußeren Rahmen der planetaren Grenzen (durch das Abholzen der Regenwälder etc.), noch den inneren Rahmen angehen sollten, weil beide uns vorgeben, was unser gemeinsamer Integritätsstoff ist. Wir schauen in den Universitätsräumen wieder zum Live-Stream aus Davos. Kate Raworth redet noch immer und erklärt, wie sie Städte und Länder da-
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für gewinnen will, dass sie eine Doughnutökonomie einführen. Davos. Der Ort der Heilung, der Kurort. Wir sehen die grandiose Schneelandschaft im Hintergrund der Fernsehbilder. Die Luft ist besonders, die Wälder hier oben auf über 1.000 Meter Höhe duften intensiver, das Licht und die Farben sind kräftiger. Doch diese Welt der »masters of the universe« in den Limousinen sieht nicht heilend aus. Selbst nicht, wenn man den Paneldiskussionen zur Gesundheitsindustrie der Zukunft zuhört. Immer drängender stellt sich uns in den Seminarräumen die Frage, wie eigentlich »Wertschätzung«, »Freiheit« und »Integrität« zusammenhängen und wie sie definiert werden. Wer unsere Konzeption, unsere Idee davon ändert, was Integrität ist, der ändert die Welt. Zurzeit kann ein erwachsener Mann darauf bestehen, dass er nach Davos in seinem Privatjet fliegen will, auch wenn er und alle anderen drum herum genau wissen, dass er dadurch das Leben anderer schädigt. Der CO₂-Ausstoß ist enorm; ein direkter (kleiner) Beitrag zur Erderwärmung mit all den fatalen tödlichen Folgen. Wie ein dreijähriges Kind, das gerade in der Trotzphase ist, wirf t er sich auf den Boden, strampelt, haut mit den Fäusten auf den Boden und schreit: Aber ich will fliegen, auch zu Lasten der Menschen in Moçambique. Oder mein Steak essen. Oder mit meinem SUV im Stau stehen. Ich will diesen Wald besitzen und ihn abholzen. Und und und. Und dies wird als adäquat angesehen, weil alles andere seine Integrität kränken würde. So sieht das politisch etablierte Konzept von Integrität aus. Nur ist es nicht alternativlos. Es abstrahiert zum Beispiel von jedem Empfinden. Viele Kinder spüren, dass da etwas nicht stimmt; dass ich den Wald nicht wirklich besitzen kann. Die UNO-Programme betonen ein ums andere Mal in diesen Monaten, wie wichtig die Bewahrung der Wälder ist, und die Umstellung auf pflanzenbasierte Ernährung; ein Umdenken, das dazu führt, Natur und Tiere, aber auch Mitmenschen nicht mehr schlecht zu behandeln (etwa in den IPBES-Rapporten). Diese Form von Integritätsgefühl gilt es zu bewahren und zu stärken; und darum herum gilt es, die Bildung in Schulen und Universitäten zu organisieren, denke ich in meinen Universitätsräumen. Aber all das kann später kommen. Jetzt herrscht eine Krise. Es müssen Notstandsgesetze erarbeitet und verwirklicht werden, die die Emissionen stoppen und die erneuerbare Gesellschaft aufbauen, in den nächsten zehn Jahren. Wie soll das gehen? Demokratie muss von uns neu, global, erfunden werden.
Kapitel 5: Das World Economic Forum und die Ökonomie
Der globale Aufstand zeichnet sich ab – die Welt der Jugendlichen ist vernetzt In diesen Tagen schließt sich ein neues Land nach dem anderen der Fridays For Future-Chats an. Sie treten als eine Klimabewegung aller Länder auf – diese Jugendlichen, welche Dominanzverhältnisse aller Art nicht mehr hinnehmen wollen. Wir akzeptieren diese Art, Menschen und Natur zu behandeln nicht mehr, twittern sie, in Uganda, in Uruguay, in Japan. Und deswegen passt die Idee des globalen Streiks so gut. Dies hier ist nicht ein Problem von einigen Ländern, sondern ein systemisches von allen Bevölkerungen. Für einige Kinder im globalen Süden ist der Zusammenhang zwischen der Umweltverschmutzung, der Erderwärmung und dem Ausge-
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nutzt-Werden der Arbeitskraft täglich sichtbar, wie sie in den Chats berichten. Und sie können sich mit ihren »Peers« im globalen Norden 24 Stunden am Tag darüber austauschen, auch über das Leiden, die Hitzewellen und Überschwemmungen, die sie sehen. Es geht nicht um abstrakte »Bevölkerungen«, sondern um die Tante, die wegen der Luftverschmutzung durch das Verbrennen der fossilen Brennstoffe in der indischen Stadt kaum atmen kann. Sie bereiten sich alle zusammen je auf ihre Weise auf den 15. März vor. Die Karte und die Homepage von Fridays For Future, von Jan und Jens vor langer Zeit eingerichtet, entfalten ihr ganzes ungeahntes Potential. In einer Stadt nach der anderen weltweit taucht ein neuer Punkt auf, der markiert, wo gestreikt wird, an welchem Ort genau, wann, und wen die Einwohner da kontaktieren können. Ein englischer Twitter-Account namens »Dormouse« hilft, alle Orte festzuhalten. Die Karte ist wie eine Schatzkarte, mit der wir als Nils Holgersson über das Land, und dann die Welt, f liegen und die einzelnen Rebell_innen besuchen können. Sie wird es bleiben, bis nach einem Jahr eine internationale Jugendgruppe um Simon Lagerlöf vom Münzplatz und mithilfe von Chris in Berlin eine neue Webseite kreiert. Woche um Woche kommen neue Länder hinzu. Bangladesch, Pakistan, Kenia und so weiter. Plötzlich zeichnet sich zur Begeisterung aller auf dem Münzplatz ab, dass es wirklich zu einer »globalen« Aktion kommt. Was am Anfang nur eine Idee war in den Köpfen weniger Jugendlicher, materialisiert sich Zug um Zug. In vielen Ländern, so erhalten wir auf dem Münzplatz Rückmeldung, ist es nicht ungefährlich, zu streiken; teilweise weil es das Regime unterbindet, wie in Moskau und China, teilweise weil wie in vielen afrikanischen Ländern das Bildungssystem nicht so ausgeformt ist, dass Streikformen einfach möglich sind, wie Joshua berichtet, der schon Jahre lang von Ghana aus die Klimajugend Afrikas mitorganisiert. In vielen Ländern wie in Bangladesch ist außerdem der Freitag aus kulturellen und religiösen Gründen ein Feiertag. Einige zerbrechen sich den Kopf, wie die Jugendlichen geschützt werden können. Arbeitsgruppen entstehen. Fridays For Future ist international auf einem guten Weg, denke ich, aber immer noch so unfassbar verletzlich. Auf dem neuen Kommunikationskanal Discord, eigentlich eine Gamer-Plattform, kann sich jede_r einbringen und dann plötzlich so tun, wie wenn man eine zentrale Position in FFF hätte und Dinge vorschlagen, die potentiell alles kaputt machen könnten. Das liegt auch daran, dass viele der Jugendlichen, die sonst sehr aktiv sind, am aktivsten in ihren Ländern, nicht auch noch Zeit haben, in einem globalen
Kapitel 5: Das World Economic Forum und die Ökonomie
Kanal mitzulesen und zu kommunizieren. Und jede Woche kommt ein neuer Schauerbericht zur ökologischen Krise hinzu. Die Keeling-Kurve, die die CO₂-Konzentration anzeigt, geht hoch und hoch, weit über 410 ppm sind in der Luft. »Tipping Points« werden bereits jetzt überschritten: der Permafrost taut und das Grönlandeisschild scheint zumindest in Meeresnähe unwiederbringlich wegzuschmelzen (King et al. 2020). Die Kinder überall auf dem Planeten verarbeiten diese Nachrichten in diesen Tagen zu Motiven auf Pappschildern, die bald in Erscheinung treten sollen.
Eine Heimkunft, ein Abschied und ein Schneemann entsteht Eine Erleichterung macht sich breit, als Greta endlich wieder aus Davos zurück ist und hinter ihrem Schild auftaucht. Alle sind auf dem Münzplatz versammelt und zumindest unsere Welt ist wieder überschaubar. Spiegel Online steht da. ZDF auch. Es sind auch einige kritische Medien dabei, das Svenska Dagbladet, und auch der Spiegel geht investigativ vor und will all den Gerüchten nachgehen, dass Greta Geld verdienen will mit ihrem Streik. All das ist Unsinn, sage ich immer und immer wieder; es sind Isabelle, Loukina und all die anderen, die die Bewegung zusammenhalten. In den internationalen Chats läuft die Vorbereitung auf den 15. März auf Hochtouren, von dem mehr und mehr Jugendliche und Eltern mitbekommen. Brice, Benjamin und Andreas, das französisch-luxemburgisch-dänische Musketier-Trio, diskutiert engagiert: Sollen wir einheitliche Forderungen stellen? Jetzt, wo wir die Aufmerksamkeit der ganzen Welt für einen Tag haben, und uns koordinieren können; was sollen wir fordern? Die Münzplatzjugendlichen sind eher skeptisch: Lasst uns auf den gemeinsamen Aufstand fokussieren. Ich selbst bin vor allem traurig. Ich packe die Koffer. Mein Vertrag mit meiner Institution an der Universität Stockholm läuft aus. Meiner Bitte, weniger unterrichten zu dürfen, wurde nicht stattgegeben, ganz im Gegenteil müsste ich die wichtigsten Kurse der drei Jahrgänge gleichzeitig betreuen. Das ist nicht nachhaltig. Vielleicht, das zeichnet sich immerhin ab, kann ich am benachbarten Institut mit reduzierter Arbeitszeit an den Kursen weiterarbeiten. Und so gehe ich an einem dieser Streik-Freitage im Spätwinter an die Universität zurück. Alles ist still in den Korridoren. Ich denke kurz zurück, an die École Normale Supérieure in Paris, an der ich zwei Jahre geforscht habe, an meine Studienzeit in Berlin und Basel. Die Studierenden
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dieser Universitäten, die da ihre Bildung machen, in Geschichte, Psychologie, Medizin, Ökonomie, sie haben noch viel zu wenig Ahnung von der ökologischen und Klimakrise, existentiell. Der Tag nähert sich seinem Ende. Aber ich bin nicht nur verwirrt, sondern auch vergnügt. Ell, Greta und ich haben am Rand des Münzplatzes einen Schneemann gebaut. Wir lassen die Medien stehen und genießen das Unwetter. Ein unglaublicher Schneesturm bläst in die Wuschelmikrofone der Kameras. Eine Gruppe zehnjähriger hüpft und ruft wie verrückt, »wir retten das Klima, wir retten das Klima«. Sie hören nicht mehr auf. »Ich muss gehen«, sag ich. »Oh, das ist ja gar kein richtiger Schneemann«, sagt Ell. »Nein«, sag ich. »Es ist der linke Fuß eines SchneeElefanten.« Ich nicke ihnen zu und spaziere davon. Und höre gerade noch, wie sie hinzufügen: »… der erst im Sommer geschmolzen sein wird.« »Wir sehen uns!« Weit weg, in unzähligen vor allem deutschsprachigen Universitätsräumen, haben zur gleichen Zeit Wissenschaftler_innen verschiedenster Disziplinen ähnliche Gedanken und sind daran, sich zusammenzuschließen. Sie werden sich »Scientists For Future« nennen – und schreiben an einem Statement, das die Jugendlichen unterstützen soll. Sie haben genug von der Passivität ihrer Institutionen. Rechtzeitig zum globalen Streik soll die Welt von der wichtigsten Forschung hören. In diesen Tagen erreichen uns alarmierende Mitteilungen, dass die Gletscher im Himalaya wegschmelzen (Carrington 2019). 1,5 Milliarden Menschen sind davon betroffen. Die sozialen Konf likte, die daraus entstehen werden, lassen sich kaum vorstellen.
Kapitel 6: Der Aufstand Der erste globale Streik, die Belagerung von London und die Gründung von »Scientists For Future«
Der Konflikt um die Reise zum EU-Parlament in Straßburg Es kommt zum globalen Aufstand. Und im Zentrum stehen die, die alles ändern könnten, die Erwachsenen in den Parlamenten. »Ihm zerplatzt gleich der Kopf«, murmelt eine der Streikenden rund um Greta. Wir stehen am Rand des Münzplatzes in einer Gruppe mit 15 Personen: Auf der einen Seite haben sich die Klimawissenschaftler_innen der Stockholmer Universitäten versammelt, auf der anderen die Umwelt- und Klimasprecher_innen aller politischer Parteien im schwedischen Parlament. Nach einem halben Jahr des Streikens direkt vor ihrer Haustür sehen sie sich gezwungen, Stellung zu beziehen. Im Zentrum steht ein freundlicher, engagierter Klimawissenschaftler, weltführend auf seinem Gebiet, Douglas Nilsson, der bereits in der allerersten Augustwoche Greta besucht hatte, und der jetzt mit einem grünliberalen Politiker spricht. Oder spricht, eher pfeift, wie wenn gleich ein Dampf kochkessel explodieren würde. »Ja, wir begrüßen eure Forschung und auch den Streik hier«, sagt der »Mitte«-Politiker. Das sagen alle Politiker_innen, die hier vorbeikommen, und machen ein Selfie. »Aber ihr hört gar nicht auf das, was unsere Wissenschaft sagt; ihr müsst massive Reduktionen der Emissionen durchführen, jetzt, jedes Jahr. Wo bleibt die Gesetzgebung? Das ist doch eure Aufgabe.« »Wir möchten ja, aber man muss in der Politik nun einmal einen Kompromiss finden; das ist Demokratie.« Das ist das Hauptargument, das immer und immer wieder präsentiert wird. Es kommt auch von der grünen Klimaministerin und Vizestaatsministerin Isabella Lövin, die ab und zu auf dem Münzplatz vorbeikommt. »Ich würde gerne, aber …«. Der Klimaaktionsplan, der von der rot-
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grünen Regierung etwas später vorgelegt wird, wird von allen Universitäten (dem staatlich eingerichteten Klimarat) als völlig unzureichend kritisiert; vor allem, weil nicht einmal hervorgeht, wie viele Emissionen reduziert werden sollen und welche Maßnahmen in welcher Weise dazu beitragen können. In der Schweiz fordern gleichzeitig die Klimaaktivist_innen vom Bundesrat just das Vorlegen eines Klimaaktions-Plans »Netto-Null 2030«. Sie fangen an, in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler_innen und der Zivilgesellschaft selbst einen solchen Plan zu erstellen, für sämtliche Sektoren wie Transport, Ökonomie oder Energie. Auch von der sozialdemokratischen Bundesrätin Sommaruga kommt aber nur ein zögerliches Verständnis: »Wir müssen Kompromisse schließen. Wollt ihr die Demokratie aushebeln?«, fragt sie. »Wir wollen sie stärken«, antworten die Jugendlichen. »Auch über die Generationen hinweg.« Und deswegen planen die Jugendlichen den globalen Aufstand für den 15. März. Er soll die nationalen Parlamente, aber auch das EU-Parlament aufrütteln. Und so kommt es auch in den Gängen der Brüsseler und Straßburger EU-Gebäude zu einer febrilen Aktivität, denn die Wahlen nähern sich. Die rot-grünen Parteien wollen sich in letzter Sekunde auf die Seite der Jugendlichen stellen und schreiben einen Brief. Und tragen fast zur Spaltung von Fridays For Future bei. Der erste internationale Konf likt entsteht. Sind Konf likte vielleicht sogar gut für eine neu entstehende Bewegung, frage ich mich. Wie eine Bewegung stärken? Es ist die erste Märzwoche, Sportferien in Schweden, und die Vorbereitungen für den globalen Streik laufen auf Hochtouren. Die Jugendlichen treffen sich jetzt fast täglich in den Räumen von Greenpeace auf Södermalm mitten in Stockholm. Manchmal laden sie einige von uns Erwachsenen dazu, wenn sie Spezialkompetenzen brauchen können (Sicherheit, Polizeikontakte etc.). Das zentrale Organisationskomitee hat sich gefunden und wird in derselben Konstellation die nächsten globalen Streiks organisieren. Ich bestehe in diesen Tagen auch trotz Protest von einigen der anderen Erwachsenen darauf, dass die Jugendlichen die Sitzungen leiten. Sie arbeiten Tag und Nacht an Pressemitteilungen, haben Plakate designt, Videofilme gedreht und Flyer bestellt. Der Münzplatz muss für die Demonstration angemeldet werden, eine Bühne bestellt, Mikrofone organisiert. Und das Programm abgestimmt. Im internationalen Facebook-Chat taucht die Frage auf: Soll es eine koordinierte Botschaft für den Tag geben? Grundforderungen an alle Parlamente? Doch da trifft das Schreiben der grünen und sozialdemokratischen EUParlamentarier_innen ein, geschickt an alle europäischen nationalen FFF-
Kapitel 6: Der Aufstand
Abteilungen. »Ihr seid herzlich eingeladen, am 13. März an der Klima-Diskussion im Parlament dabei zu sein. Wir bezahlen Reise und Hotel, 20.000 Euro.« Wie reagieren, fragen sich die Jungen. Gegen diese Parlamentarier_in nen ist ja der ganze Streik gerichtet. Verlockend wäre eine Reise für viele der Jugendlichen, die sich noch nie außerhalb des Netzes getroffen haben. Aber wie vereinnahmend und potentiell schädlich auch, denken einige. Die ganze Bewegung hat die Wucht, die sie hat, weil sie als Stimme einer Generation auftritt. Eben nicht als Jugendverband von einer oder zwei politischen Parteien. Ist das gefundenes Fressen für die Medien: Ah, seht, dieses FFF ist ja nur die Jugendgruppe der Grünen oder Linken? Einige der Jugendlichen versuchen alles, um die anderen Länder zu überzeugen, dass man nicht hinfahren sollte; vor allem nicht hinf liegen. Die Stimmung wird immer angespannter. Aber diese Frage nach dem EU-Besuch ist nur die Spitze vom Eisberg. Im Februar und März nehmen generell die Herausforderungen zu. Alles andere wäre auch nicht zu verstehen. Plötzlich soll ein neues demokratisches Miteinander aufgebaut werden, und zwar weltweit, global; etwas, woran die meisten früheren Versuche der politischen Menschheitsgeschichte gescheitert sind. Doch jetzt vor dem großen Streiktag müssen solche Fragen geklärt werden. Kann jemand oder einzelne wichtige Gruppen die ganze Bewegung »repräsentieren«? Das wird abgelehnt. Wie zu gemeinsamen Statements und Texten in Zeitungen und Pressemitteilungen finden? Die aktivsten Jugendlichen kennen sich jetzt immer besser, sind wochenlang in einem Ausnahmezustand, können streiten und sich wieder versöhnen. Das einfachste sind noch die gemeinsamen Logos, die runden grünen von Sophie Ginst in Deutschland. Aber schon beim »open letter« an den Guardian wird es schwierig, an dem vor allem die Schweizer_innen mit einer internationalen Gruppe sitzen. Wer soll da unterschreiben; kann man für ganz Fridays For Future sprechen? Eine lebhafte Diskussion entsteht auf all den Plattformen und Chats. Gibt es überhaupt ein gemeinsames Fundament? Ist es das, was Greta sagt? Die Stärke von FFF scheint mir in diesen Tagen die zu sein, dass die nationalen Gruppierungen ihre Eigenarten, ja sogar ihre Namen wie »Klimastreik«, »Youth For Climate« und so weiter beibehalten haben; ein buntes Mischmasch an »Bottom-up«-Initiativen. Und dass diese nationalen Gruppen nur ein Akteur sind. Es gibt auch Einzelkämpfer_innen, die in den Chats aktiv sind, und Gruppierungen, die sich aus ganz verschiedenen Ländern zusammensetzen. Das Bunte beibehalten und doch Einheit stiften; wie geht das nur? Am besten durch das Miteinander-Reden, die ganze Zeit.
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Hunderte von Kleinigkeiten häufen sich auch lokal auf dem Münzplatz an. Die von den Jugendlichen designten Poster für den 15. März sind gekommen, und müssen abgeholt werden, im Copyshop mitten in Stockholm, beim Medborgarplatsen, aber mit welchem Transportmittel? Und dann sollen sie in ganz Stockholm, den Unis, und Gymnasien verteilt werden, von den Münzplatzstreikenden, die sich während der Sportferien ganz zu einer verschworenen Gruppe zusammengearbeitet haben. Sie werden in einer Nachtund-Nebel-Aktion die Stadt vollkleistern. Und eben da kommt die Meldung, dass die EU Fridays For Future einlädt zu sich nach Straßburg zur Klima-Debatte, zwei Tage vor dem Riesenstreik. Und die heftige Diskussion bricht aus, parallel in allen sozialen Medien: Soll FFF die Einladung annehmen? Wer darf fahren? Was ist FFF?
Es wird ein entscheidendes Zoom-Treffen vereinbart. Schon allein dieses Meeting zu veranstalten stellt vor demokratische Probleme. Wie können alle informiert werden; wie viele dürfen teilnehmen; sind alle Länder ungefähr gleich vertreten? Im Netz kann sich auf eine eigentümliche Weise Panik breitmachen, die in einem analogen Treffen nie zustande käme. Wer bezahlt die Einladung: die grünen und roten Parteien, oder die ganze EU? Als klar wird, dass es die ganze EU ist, stimmen die meisten einem Treffen zu. Und bald schon sind Isabelle und Tindra vom Münzplatz und Andreas aus Falun auf dem Weg nach Straßburg, bleiben mit dem Nachtzug wegen eines Un-
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wetters in Hamburg stecken, und erreichen gerade noch den Anschlusszug. Das Treffen der 60 Klimaaktivist_innen in der EU gelingt. Eine Protestaktion »gegen« die Parlamentarier_innen steht im Zentrum, nicht »mit« ihnen. So wird die Grundeinstellung meistens bleiben: FFF kooperiert nicht, sondern mahnt als Notbremse zur wirklichen politischen Veränderung. Und so entstehen die ersten wichtigen Bande, die die Bewegung über die nächsten zwei Jahre tragen.
Die Sensation – die Gründung von #ScientistsForFuture Genau gleichzeitig zu dieser Reise geschieht etwas, was es so in der Geschichte der Universitäten und der Wissenschaft wohl noch nie gegeben hat. Die Scientists For Future finden sich. Tausende von Wissenschaftler_innen über Disziplinen, Universitäten, Städte und Länder hinweg einigen sich auf Grundprinzipien für eine Graswurzelzusammenarbeit für die Zukunft – und auf eine entscheidende Stellungnahme (dazu scientists4future.org und Hagedorn et al. 2019): Die Anliegen der demonstrierenden jungen Menschen sind berechtigt. Sie übertreiben nicht. Die Medien und Politiker_innen, die etwas anderes sagen, haben keine Verankerung in der zurzeit anerkannten weltweiten Forschung, sondern verbiegen die Wirklichkeit. Es ist ernst. Die Menschen überall haben das Recht darauf, dies zu hören: Ohne ungesehene drastische Maßnahmen, die unsere Gesellschaften nachhaltig machen in wenigen Jahren, ist es unmöglich, »die Erderwärmung zu begrenzen und das Massenaussterben von Tier- und Pf lanzenarten aufzuhalten« (Hagedorn et al. 2019). Es sind nicht nur einige deutsche Klimawissenschaftler_innen, die sich in wochenlanger harter Arbeit auf dieses Dokument geeinigt haben, sondern die führenden Wissenschaftler_innen und Leiter_innen von fast 20 der wichtigsten Forschungsinstitute weltweit: von Philadelphia über Manchester bis Potsdam und Zürich. Eine zentrale Rolle bei der Koordination dieses Grunddokumentes kommt dabei Jörg Hellkvist vom Stockholmer Münzplatz zu. Einer der angesehensten Klimaforscher, Hans Joachim Schellnhuber (in Lehmann 2020), beschreibt in folgenden Worten, was da geschieht: »Der Schulterschluss von Wissenschaft und Jugend beim Kampf für eine neue Gesellschaft, die nachhaltig wirtschaftet und lebt, ist wie ein Urknall.« Bekannt gegeben wir dieser Zusammenschluss auf einer Pressekonferenz am Dienstagmittag – also drei Tage vor dem globalen Streik. Die
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Jugendlichen Luisa und Jakob sitzen neben den Professor_innen der S4F (Scientists For Future). Schon zu diesem Zeitpunkt haben über 10.000 Wissenschaftler_innen aller Disziplinen sich hinter die Stellungnahme und die global streikenden Kinder gestellt. An diesem Dienstagabend, während die Schweizer Streikende MarieClaire Graf im »Club« des Schweizer Fernsehens sitzt und Auskunft gibt über die schwierige Lage des Planeten, und während Isabelle, Tindra und Andreas auf ihrer Reise vom Münzplatz nach Straßburg zu ihren Mitstreikenden aus ganz Europa mit dem Zug im Sturm stecken bleiben, blicken stolze Forschende auf den Tag zurück und gehen der Frage nach, was eigentlich die Aufgabe einer Universität ist. Dürfen Forscher_innen sich überhaupt einbringen? Ist das nicht gefährlich für die Wissenschaftlichkeit der Forschung selbst? Was ist die Rolle von Studierenden und Wissenschaftler_innen?
Es sind viele ganz verschiedene Punkte, die das Team um Gregor Hagedorn vom Berliner Museum für Naturkunde bei der Gründung von S4F miteinander verknüpfen. Und sie sind alles andere als selbstverständlich. Was war strategisch eigentlich passiert? Einmal stellen sie die Idee einer Stellungnahme ins Zentrum. Später wird auch eine Charta entstehen mit Werten und einer Beschreibung von Sinn und Zweck der Graswurzelbewegung, an der sich ab diesem Zeitpunkt alle Wissenschaftler_innen weltweit beteiligen können. Aber jetzt am Anfang geht es darum, die beste gesicherte Forschung als Kern der Bewegung zu präsentieren. Diese Stellungnahme wird im April in einer der wichtigsten naturwissenschaftlichen Zeitschriften der Welt (Hagedorn et al. 2019) publiziert. Gleichzeitig aber wird diese Stellungnahme der ganzen Wissenschafts-Community unterbreitet. Nicht nur Klimawissenschaftler_innen sollen sich hinter sie stellen können, sondern alle, die sich auf die Resultate der grundlegenden Forschung einlassen. Daraus
Kapitel 6: Der Aufstand
ergibt sich eine Dynamik, weil sich jetzt sämtliche Interessierte anschließen können, die schon in verschiedensten Bereichen jahrelang an einer nachhaltigen Gesellschaftstransformation gearbeitet haben (Energie, Transport, Landwirtschaft, digitale Technologie, Finanzwesen; aber auch: Politik, Bildung, Wirtschaft). Ortsgruppen bilden sich, wie bei den FFF-Jugendlichen, und E-Maillisten entstehen mit hunderten von Teilnehmenden, die jederzeit für Wissenschaftskommunikation, Debatten, aber auch Aktionen erreicht werden können. Als Graswurzelbewegung gibt es keine formellen Hierarchien, wenn auch dem bald entstehenden Koordinierungsteam und dem Beirat mit seinen etwa 100 Mitgliedern eine wichtige Rolle zukommt. Als ein zentraler Punkt wird bei der Pressekonferenz am Dienstagmittag auch ein weiteres Prinzip etabliert. Es geht gerade nicht darum, nur die Resultate verschiedener Disziplinen nebeneinander zu präsentieren. Endlich soll das in Angriff genommen werden, was die Universität in ihrem Namen ankündigt – das systemische Zusammensehen und -denken aller Disziplinen. Die Annahme dahinter: Der ökologischen und Klimakrise können wir als Krise nur begegnen, und die Emissionen in so kurzer Zeit nur dann stoppen und die Erwärmung auf halten, wenn wir die großen Zusammenhänge sehen, und die spezifischen Details (Solarenergie; pf lanzlich basierte Ernährung und so weiter) mit diesen übergreifenden Kontexten verbinden. Das Projekt der S4F ist so von Anfang an das Projekt der Universität selbst: das Wissen der Humanwissenschaften zu Gerechtigkeitstheorien und Intersektionalität soll genauso beachtet werden wie das der Umwelt- und Klimawissenschaft. Deswegen sitzt auf der Bühne vor den Medien mit Maja Göpel auch eine Ökonomin, neben Volker Quaschning, dem Professor für regenerative Energiesysteme, der Meeresforscherin Karen Wiltshire und dem Arzt Eckart von Hirschhausen. Es geht darum, den wissenschaftlich fundierten Rahmen abzustecken, in dem sich die Politik sofort zurechtfinden muss. Wie dieser dann konkret ausgeformt wird, bleibt dem demokratischen Zusammenspiel aller anderen Akteure überlassen. So entsteht eine Vision eines neuen, besseren, nachhaltigeren Zusammenspiels von Wissenschaft, Politik, Bundesämtern, Rechtswesen und der Bevölkerung. Ganz transparent soll der Öffentlichkeit präsentiert werden, innerhalb welcher Rahmenbedingungen (von planetaren Grenzen und von menschlichen Bedürfnissen) wir uns bewegen und bewegen sollten; und was geschehen kann, wenn wir es nicht tun; samt welche Maßnahmen zu wirklicher Veränderung führen (dazu der Anhang zu diesem Buch).
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In den anschließenden Monaten kommt mir meine »Doppelkultur« zugute. Einmal kann ich die direkte Verbindung zu Greta und den anderen Jugendlichen auf dem Münzplatz herstellen. Andererseits sind mir die deutschsprachigen Forschungsinstitutionen nicht fremd, die im Beirat vertreten sind, und es kommt zu entsprechenden Kooperationen (mehr dazu etwa in Bezug auf das EU-Klimagesetz im Corona-Kapitel). Was mir vor sechs Monaten in Schweden mit dem S4F-Projekt kaum oder nur sehr bescheiden gelungen war, entfaltet sich jetzt zur Freude von uns allen auf dem Münzplatz in einer völlig anderen Größendimension. Gleichzeitig meldet sich bei mir aber auch eine gewisse Skepsis. Gibt es da nicht auch Forschende, die sich nicht an Gretas Kompass halten? Die lieber von 900 GT statt 420 GT als Emissions-Budget im Jahr 2018 sprechen; die gar keine Gerechtigkeitskriterien sehen wollen bei der Berechnung von Budgets – und zwar nur, weil sie sich auf das »politisch realistisch Machbare« berufen, nicht auf das wirklich Machbare und vom Pariser Abkommen demokratisch Geforderte? Ist es nicht so, dass die Jugendlichen genau wegen dieser Haltung ihren Streik angefangen haben? Und mit dieser Kritik beginnt nun nicht nur eine Geschichte der neuen Graswurzelbewegung, sondern auch die von Auseinandersetzungen um deren Ausrichtung (dazu auch das Kapitel »Smile For Future«). Wie können wir nur garantieren, so frage ich mich, dass wir als S4F uns nicht über die Jugendlichen hinwegsetzen im Namen eines »Realismus«? Durchführbar müssen die Szenarien sein, aber wer kann schon sagen, was »realistische Politik« ist? Wir befinden uns in einer Krise. Und die Scientists For Future mit den schnell über 25.000 Beteiligten gibt es nur als riesige Wissenschaftsbewegung, denke ich dann, weil die fünf Stammstreikenden monatelang auf den Münzplatz zurückgekehrt sind, in Eis und Regen. Wir sind ihnen gegenüber verpf lichtet, ein »Vorsichtigkeitsprinzip« walten zu lassen und auch intergenerationale Gerechtigkeit herzustellen: den Fokus wegzulenken von negativen Emissionstechnologien, die es noch nicht gibt und vom gefährlichen Geoengineering. Es geht darum jetzt die Emissionen zu senken, mit der universitären Wissenschaft als Ausgangspunkt. Und weil die Politik gerade dies nicht tut, wollen die Kinder streiken. Und wir Forscher_innen? Müssen wir nicht auch auf die Straßen gehen? In vereinzelten Städten und vor Universitäten bilden sich Klimastreiks der Forschenden, deren Tweets wir auf dem Münzplatz in die Welt verbreiten. Auf die Dauer braucht es mehr als Statements.
Kapitel 6: Der Aufstand
Wer bestimmt über den Streik? Bei uns in Stockholm macht sich in diesen Anfangstagen der globalen Streikwoche aber auch ein ungutes Gefühl breit. Viele sitzen an diesem Abend mit Bauchschmerzen bei sich zuhause und sinnieren über den Sinn der Bewegung. Plötzlich macht sich ein Dilemma deutlich, das es ähnlich auch in Berlin, Zürich, Tokyo, Buenos Aires und an anderen Orten gibt: zwischen verschiedenen Auffassungen, wie Fridays For Future vorangebracht werden kann, mit welchen Mitteln. Der Münzplatz mit Gretas Rede wird allgemein global als wichtiger Ort gesehen; das ist allen bewusst. Ein Druck kommt auf. Der globale Streik muss gelingen, gut aussehen. Die ganze Rebell_innengruppe vom Münzplatz hat zu einer fokussierten, intensiven Zusammenarbeit gefunden. Tagesordnungspunkte werden abgearbeitet. Alles ist ein wenig improvisiert, aber mit viel Liebe versehen, wie der Münzplatz so ist. Doch zu Beginn der Woche kommt plötzlich die Idee auf, dass weltberühmte Artist_innen eingeladen werden sollen und ein professioneller Konferencier soll durch das Programm führen, wie in anderen Städten das auch geplant und zum Standard geworden ist. Der Gedanke dahinter: Es sollen wirklich viele Kinder der Stadt zum Streik kommen, und ihnen soll etwas geboten werden. Zuerst leuchtet mir das ein, aber dann fühlt es sich auch falsch an. Das Improvisierte und Selbstgemachte der Münzplatzgruppe scheint mir einen Teil des Kerns der Bewegung auszumachen. Das Selbstgebastelte, inspiriert und getragen von Gretas Reden, ist wichtiger als das Hingestellte der Auftritte der Popgruppen, wie sie in vielen Städten zu sehen sind. Ich denke an die urkomischen improvisierten Rollenspiele der Kochsendungen zurück. Sie hatten schon lange keine neue Folge mehr geschaffen auf dem Münzplatz. Darum ging es doch: dass man zusammenlebt und aufeinander hört, im Kleinen und Großen. Nur dann haben wir eine Chance, wirklich etwas zu verändern, denke ich. Doch hinter dieser Situation steckt ein viel größeres Problem. Es ist eine Frage, welche Mittel den Zweck heiligen. Was passiert mit einer Graswurzelbewegung, wenn professionelle Akteure ins Spiel kommen? Ist es nicht der Kern von Fridays For Future, und die größte Stärke, dass es Jugendliche sind, die alles gestalten, auf ihre Weise? Die selbst gemachten Pappschilder der hunderttausenden von Kindern an diesem 15. März sind so klug, lustig und genial, wie es menschliches Geschaffenes nur sein kann. Nach diesem Tag schießen lokale FFF-Gruppen aus dem Boden, weltweit. Jugendliche fangen an, sich wöchentlich zu treffen, viele täglich. Sie tauschen sich aus, planen und vernetzen sich: Pakistan ist dabei, Uganda und Bangla-
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desch, und in Europa ist es das alle dominierende Gesprächsthema geworden. Die Zeitungen schreiben jetzt fast täglich von der neuen Umweltbewegung. Die Jugendlichen bestehen zu meiner Erleichterung auf der Konferencierrolle; die bekannten Artist_innen nehmen sie in Kauf. Ein Kompromiss. Mir teilen sie die Rolle zu, während des Streiktages alle auf der Bühne auf dem Laufenden zu halten darüber, was in der ganzen Welt passiert, so dass sie es weitergeben können: So und so viele streiken da und dort; diese Schilder sind zu sehen; diese Reaktionen zu hören. Wir sollen zu einem globalen Dorf heranwachsen. Mein Blick wandert zur »global map« auf der Fridays For Future-Webseite. Über 100 Länder haben ihre Streikteilnahme am Freitag angemeldet. Auch China, Russland, Kuba, Svalbard. Einige sind in Kontakt zu Forscher_ innen in der Antarktis. Dann wären alle fünf Kontinente an Bord. Die ganze Welt, vereint, für einen grundlegenden Wandel unseres Zusammenlebens. In der Nacht publiziert Kevin Anderson, der Klimaforscher, eine kurze Rede auf Twitter anlässlich des ersten globalen Streiks, und ruft die Erwachsenen dazu auf, sich damit auseinanderzusetzen, dass sie die letzten 30 Jahre vergeudet haben und jetzt aktiv werden müssen. Worum geht es eigentlich am Freitag, frage ich Edward vom Münzplatz. Und wie soll es mit FFF weitergehen, fahre ich fort, auch nach dem ersten europäischen Treffen in Straßburg? Welche Form soll die Bewegung annehmen? »Hm. Das Erste ist das Streiken«, sagt er. »Dazu braucht es keine große Organisation; wir müssen uns nur auf einen Tag festlegen. Dann das Zweite ist die Verankerung in den Klimawissenschaften; die kommuniziert werden muss, und etabliert in der Bewegung.« Ich erzähle begeistert vom Scientists For Future-Statement und der Pressekonferenz in Berlin. Er postet es sofort in den globalen FFF-Kanälen, und die Botschaft wird jubelnd weitergeleitet. »Hm«, sagt er. »Aber dann fehlt noch die Politik.« »Ja«, sage ich. »Politicians For Future«, sagt er. »Sonst passiert nie etwas. Aber das kann keine Partei sein«, sagt er. Eine Denkpause macht sich breit. Eine Möglichkeit muss sich öffnen, die absurde Erwärmung des Planeten aufzuhalten, den Tod all der tausenden von Tierarten zu verhindern, den Kampf um Essen und Wasser zwischen Millionen von Menschen noch während der Lebenszeit von denen, die da so febril sich auf den Freitag vorbereiten. Braucht es wirklich keine neue Partei? Vielleicht nicht; was bringt schon eine Fünf-Prozent-Partei in einem Parlament? Aber jemand muss für die veränderte Politik einstehen. Die Idee einer globalen politischen Bewegung, die mich seit Jahren umtreibt, kommt wieder auf. Ist dies nicht ein erster
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Schritt, was jetzt passiert, an diesem Freitag? Ein globaler Zusammenschluss, über 150 Länder sind dabei und stellen sich hinter Gretas Grundforderung: Haltet das Pariser Abkommen ein. Maja Göpel, die Scientists For Future-Wissenschaftlerin, hatte bei der Pressekonferenz vom Dienstag angedeutet, dass es eine solche neue politische Bewegung braucht. Und wir arbeiten hier an der Universität ja seit Jahren daran, eine neue Sicht auf Ökonomie, Gesundheit, Bildung und das Energiesystem zu skizzieren. FFF ist die Bewegung der Jugendlichen. Können wir uns als Scientists- mit den Psychologists- und den Artists-, den Workers-, Teachers- und so weiter For Future-Gruppen zusammentun zu den People For Future? Denen sich alle Menschen anschließen können?
Der 15. März – der Tag des globalen Streiks Leslie von der Financial Times meldet sich mitten in der Nacht und fragt, wie viele Streikende wir weltweit und in Stockholm wohl erwarten. Sie war einige Monate zuvor auf dem Münzplatz vorbeigekommen und hatte ein Porträt über Greta geschrieben. Keine Ahnung, schreibe ich zurück. Es wird 24 Stunden dauern, bis tief in die Nacht hinein, bis wir verlässliche Zahlen haben werden auf den selbstgebastelten Excel-Tabellen, die alle Jugendlichen in den 120 Ländern ausfüllen. Einige Ziffern sind kaum zu glauben. Paris und Madrid um die 50.000. Das kann stimmen. Die Polizei bestätigt. Aber Montreal und Mailand um die 100.000 Kinder und Jugendliche …
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Der Tag fängt undramatisch in Neuseeland an: »Wellington marschiert«, lautet die knappe Meldung via Twitter, gegen elf Uhr abends bei uns, noch am europäischen 14. März. Lachende Gesichter von Grundschulkindern. Dann: Australien, weit über 100.000 sind auf den Straßen. Die Filme aus Sydney und Melbourne sind eindrücklich. Kurz danach: Kathmandu, Nepal: hunderte. Das muss der höchstgelegene Streik sein. In Südkorea schicken die Jugendlichen Bilder und schreiben: Wir streiken im Hausinnern, weil unsere Luft so verunreinigt ist. In Indien, Kadnonin, laufen die Kinder zwölf Kilometer zum nächsten Streik. Er kommt näher. Die Erde dreht sich. Und in Stockholm regnet es zaghaft. Wie wird der Tag werden? Wie werden die Jugendlichen als Moderator_innen durch den Tag leiten? Sind die Reisenden überhaupt gesund und munter aus Straßburg zurück? Und was wird Greta sagen? Die Rede der Jugendlichen soll ein Zentrum des Tages bilden, kurz nach zwölf Uhr, nach einer Schweigeminute für all das, was die Klimaveränderung bereits kaputt gemacht hat, für die Pf lanzen-, Tier- und Menschenwelt. Während wir gegen neun Uhr früh die ersten Bilder aus Südafrika bekommen, sitzen einige Streikende aus Stockholm im größten Zeitungs-Live-Stream, »Expressen«, und geben ein Interview im Frühstücksfernsehen. Am Abend zuvor sind sie um Mitternacht mit dem Zug zufrieden von ihrer EU-Demonstration zurückgekommen. Jetzt am Morgen des globalen Streiks gucken sie aus dem Fernseher, genauso wie ihre Münzplatzmitstreikenden, die zu Gast sind beim größten Privatfernsehen TV4. »Ihr seid wirklich besorgt?«, fragt der Fernsehmoderator. »Ja. Wenn die Politik sich nicht ändert, wird unser Leben eine Katastrophe werden.« »Und ihr habt jede Woche gestreikt?«, fragt die Ko-Moderatorin bewundernd. Sie sind plötzlich – wie Stunden später auf und hinter der Bühne – diejenigen, die nicht nur anerkennende, sondern begeisterte Blicke bekommen, von tausenden Gleichaltrigen: Held_innen, von denen Medien berichten und über die die Kinder in den Cafés reden, wenn sie sich während des Streiktages bei warmer Schokolade und Zimtschnecken aufwärmen. Woche um Woche saßen sie auf dem Boden und hunderte, tausende Menschen sind an ihnen nur vorbeispaziert. Doch noch ist es ruhig auf dem Münzplatz. Etwas mehr Journalist_innen und TV-Teams sind da als gewöhnlich, und die ersten Schulklassen tauchen auch schon erstaunlich früh auf. Langsam füllt sich der Platz, es wird Mittag, und alles läuft aus dem Ruder. Auf den Plakaten hatten die Jugendlichen geschrieben: Wir treffen uns auf dem Münzplatz, ab zwölf Uhr. Aber einige waren vor einer Woche auf die Idee gekommen, dass sich vorher schon die
Kapitel 6: Der Aufstand
Gymnasien der Stadt in einem Sternmarsch auf dem zentralen Platz Stockholms versammeln könnten, dem Sergels torg. Dann sollten sie zusammen auf den nahegelegenen Münzplatz marschieren, so wie die Jugendlichen in Paris und Brüssel zuvor. Kurz vor halb zwölf brechen wir vom Münzplatz auf, und wollen neugierig sehen, was sich auf dem nahen Sergels torg tut. Verlassen die Schulklassen wirklich ihre Klassenzimmer? Niemand hat diesen Tagespunkt richtig organisiert oder auch nur angedacht. Die Drottninggatan verläuft direkt vom Münzplatz zum Sergels torg, durch die Parlamentsgebäude hindurch, am Regierungsgebäude »Rosenbad« vorbei, dann am Bildungsministerium entlang hinauf zum Åhléns, dem größten Einkaufszentrum der Stadt. Vor Greta, Ell und den anderen drängen sich Mikrofone und Kameras. Es gibt nur eine einzige Person mit einer gelben Weste, die als Schutz fungiert. Sie geht auf der einen Seite, auf der anderen boxe ich so gut es geht die Medien weg, so dass die Kinder und Jugendlichen atmen können. Die Drottninggatan ist halb leer. Das einzige Hindernis sind die Medienmenschen – bis wir alle um die Ecke spazieren, und mitten auf dem Sergels torg stehen. Da sind nicht acht Schulklassen, sondern 10.000 Jugendliche, die skandieren und schreien. Alle gehen einfach weiter, in einer Art Trance. Und stehen schließlich oben auf der Galerie, mitten auf dem Platz. Ein unglaubliches Durcheinander herrscht, wie auf den großen Plätzen gleichzeitig in Turin, Manila, Mailand, Paris, London, Berlin, Bern, Sydney, Buenos Aires und
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Tokyo. Sie stehen still. Alles ist verstopft. »Was sollen wir jetzt machen?« fragt Greta. Sie ist umringt von den meisten der Stammstreikenden. »Wir gehen einfach zurück, mit den anderen im Schlepptau«, schlägt jemand vor. »Wir können nicht durch die Drottninggatan zurück. Das erlaubt die Polizei nicht.« Der einzige Weg, der übrigbleibt, ist der lange Umweg durch den Kungsträdgården, den beliebtesten und größten zentralen Park der Stadt und dann über die Brücke vor dem Schloss hinten herum zum Münzplatz. Also über die Kreuzung, die wir vor fünf Monaten noch mit Extinction Rebellion blockiert hatten. Viele haben ihre »Es gibt keinen Planet B«-Pappschilder dabei. Und sie werden zurückschreien, als die Jugendlichen eine halbe Stunde später von der Bühne in Bezug auf Kohle, Öl und Gas rufen: »Keep it … in the ground. Keep it in the ground.« Darum geht es ihnen ja, dieser ganzen Generation. Sie wissen, dass letztlich die Kohle und das Erdöl im Boden bleiben müssen. In Deutschland, aber auch in China, Venezuela und Saudi-Arabien. Und dass politisch kein Weg etabliert ist, wie dies in einer globalen Zusammenarbeit garantiert werden soll und kann, auch wenn der UNO-Generalsekretär Guterres in der Nacht twittert, er werde wegen des globalen Schulstreiks im September ein Extra-Meeting in New York einrichten, um die Umsetzung des Pariser Abkommens zu garantieren. Zwar haben alle Staaten das Pariser Abkommen unterschrieben, aber die Maßnahmen sind nicht zureichend.
Kapitel 6: Der Aufstand
Stunden zuvor, als der Tag anfängt, sitzen die Jugendlichen auf der Bank vor der Mauer, an die wir uns alle im September noch angelehnt hatten, als es so absurd warm war auf dem Münzplatz. Das schwedische Fernsehen ist endlich da. »Was schlagt ihr vor«, will der Reporter wissen, »wie soll es weitergehen nach dem Streik? Was soll passieren?« »Alles muss sich ändern«, sagt Greta. »Wenn wir das Pariser Abkommen ernst nehmen, muss sich alles ändern.« Die Gewohnheiten der Erwachsenen können nicht mehr normalisiert werden. Was während ganzer Lebensläufe legitimiert wurde, das Ausnutzen der Natur und von Mitmenschen, all das muss auf hören, als irrational und gewalttätig dastehen; die Böden müssen nachhaltig beackert und die Tiere nicht aufgegessen werden. Menschen dürfen sich nicht bereichern durch diese Gewalt. Es ist, wie wenn die kollektive Menschheit aus einem Traum aufwachen müsste. »Es sind viele Leute hier.« Greta blickt über die Volksmassen vor ihr. Es ist jetzt nach zwölf, der Zug ist endlich am Münzplatz angekommen. Über 15.000 Kinder und Jugendliche sind es, die dastehen und begeistert mit »Greta, Greta«-Chören dem Anfang ihrer Rede zuhören; genau da, wo sonst an den Freitagen ungefähr 50 Leute leise miteinander reden. Neben ihr auf der Bühne: die ganze Münzplatzgruppe, die »original crew« oder das »Team Greta«, wie sie jetzt genannt werden. Verschiedene Streikende führen die 10.000 durch den Nachmittag. Viele Eltern berichten noch Wochen später, was der Tag für ihre Kinder bedeutet hat. »Zuerst möchte ich danken. Danke an euch, die ihr gekommen seid.« Greta wendet sich an die Stockholmer Jugendlichen, die sich getraut haben, zu streiken. Sie müssten ja eigentlich in der Schule sitzen. Mit ihnen verlassen an diesem Tag 1,6 Millionen Kinder und Jugendliche in 125 Ländern dieses Planeten ihre Schule. Dies hat es in der Menschheitsgeschichte nie gegeben. Weder eine so konzertierte ProtestAktion über alle Kontinente und politische Systeme hinweg (inklusive Antarktis), noch eine solch große Klimademonstration, noch einen solchen Streik von Jugendlichen, geschweige denn eine Kombination von alledem. »Danke an euch, die ihr hier auf der Bühne steht.« Greta schaut in ihrem gelben Regenmantel die Gefährt_innen an, die seit sieben Monaten an ihrer Seite stehen. »Und danke an alle, die geholfen haben bei der Organisation dieses Streiks.« Dann ein kurzes Durchatmen. »Wir stehen vor einer existentiellen Krise. Wir haben sie nicht gewählt. Die, die sie verursacht haben, das sind nicht wir. Wir wurden in sie hineingeboren. Wir müssen mit ihr leben. Das werden wir nicht akzeptieren. Wir werden uns wehren. Wir wer-
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den nicht aufgeben!« Sie ist plötzlich zu einer Volkstribunin geworden, denke ich hinter der Bühne, spricht frei, ohne Vorbereitung, spontan, zögert manchmal, aber es sprudelt aus ihr hinaus und erreicht die Masse, die vor ihr steht. Das schwedische Radio überträgt live, sowie die beiden größten Fernsehstationen. Die weltweit wichtigsten Zeitungen sind hier. Mitten in der Nacht einigen sich dann alle im Hauptchat darauf, dass es gesicherte Daten gibt, um mit der Ziffer 1,4 Millionen an die Presse gehen zu können; später wird die Zahl auf 1,6 Millionen korrigiert. Der weltweite FacebookChat ist völlig überfüllt, alle wollen wissen, wie es geht; neue Zahlen kommen aus Ländern hinzu, von denen wir kaum etwas gehört haben. Ein Chaos bricht aus, die Excel-Tabelle muss zweimal neu eingerichtet werden. Jonas Kampus ist da mit den Schweizer Zahlen, Luca mit den Deutschen, Janine und Benjamin versuchen, den Überblick zu behalten. Als wir die Millionengrenze überschreiten, gegen zehn Uhr am Abend, schicke ich Greta und anderen Streikenden eine Nachricht und erhalte unverzüglich einen Daumenhoch zurück. Und überall auf der Welt schlafen Kinder und Jugendliche spät ein, voll von Eindrücken, die ihr Leben verändert haben. Sie haben Macht. Wenn sie sie sich nehmen.
Kapitel 6: Der Aufstand
»Everything has to change« – ein neues Fundament für die UNO-Charta »Alles muss sich ändern.« Es ist einer der kurzen und griffigen Greta-Formulierungen, die in Tweets und Zeitungsartikeln zitiert werden. Alles muss sich ändern. Am Morgen des 15. März werden zwei Texte im Guardian publiziert. Der eine stammt aus der Feder von George Monbiot, dem Klima-Kolumnisten. Der andere von Greta und den sieben, acht anderen bekannten europäischen Gesichtern des Klimastreiks. Beide stimmen darin überein, dass es einen Grundfehler in unseren Gesellschaften gibt. Anstatt die Ressourcen und Naturgüter zu teilen, werden sie so konzeptualisiert, dass sie zu Eigentum von konkurrierenden Einzelnen und Staaten werden können, zu einem Eigentum, das außerdem als Gegenstand definiert wird, oder wie Monbiot es ausdrückt: zu etwas, mit dem man machen kann, was man will. Verbrennen. Vergeuden. Nichts, wozu man Sorge tragen müsste.
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Wie der Gap Report der UNO (UNEP Production Gap Report 2019) aber zeigt, sind in dieser politischen Denkweise und in diesem Setting so viele Infrastrukturprojekte (Kohlekraftwerke, Öltürme, Raffinerien, Gas-Pipelines etc.) in Betrieb und vertraglich bindend schon jetzt geplant, dass diese offizielle Menge bereits in den nächsten zehn Jahren das Doppelte an Treibhausgasen produziert im Vergleich zu den vom Pariser Abkommen und dem IPCC-SR1.5-Rapport zulässigen. Wie aus diesem von schwedischen, deutschen und Schweizer Regierungen legitimierten Weg in eine drei, vier Grad wärmere Un-Welt ausbrechen? Wir alle müssen an einen Tisch, denke ich am Abend des Streiktages, um die fossilen Projekte gemeinsam zu stoppen und mit erneuerbaren zu ersetzen. Aber dies setzt ein neues Denken voraus, eben eine neue Sicht auf Nation und Eigentum, auf das, was Ressourcen sind, was Natur ist, für uns alle. Monbiot verweist in seinem kurzen Text auf den Gedanken von John Locke, der unser ganzes modernes ökonomisches System noch heute prägt: dass Natur zu Privateigentum werden kann; für Locke durch und für denjenigen, der es zuerst in Beschlag nimmt und mit eigener Arbeit »vermischt«, es beackert oder, wie Monbiot festhält, von Sklaven beackern lässt. So wird es zum eigenen, zum Ding, über das wir verfügen. Mehr oder weniger jeder der 1,6 Millionen Jugendlichen, die am selben Tag durch die Straßen von Kathmandu, Melbourne, Stockholm oder Rio laufen, wird diese Idee absurd finden, denke ich; zumindest die, mit denen ich rede. Sie ist ein philosophisches Konstrukt. Die Intuition, die wohl viele der Kinder haben, ist eher: Natur ist etwas, in der wir uns vorfinden, deren Früchte wir veredeln können, ernten, aber die uns nicht als Produkt begegnet. Der moderne Eigentumsbegriff ist kaum angemessen, wenn wir über Wälder, Felder und Berge nachdenken, geschweige denn über das Innere der Erde. Wenn es eine Botschaft gab an diesem Tag, denke ich, dann die: Wir sind eine voneinander abhängige Bevölkerung auf einem einzigen lebendigen Planeten, und wir wollen für einander so sorgen, dass ein menschliches Zusammenleben möglich ist. Der Streik wird wirklich global. Plötzlich stehen Jugendliche aus allen Ländern gemeinsam und gleichzeitig auf den Straßen rund um ihre Parlamente: sowohl in Europa, Amerika, Australien als auch in Ländern aus dem globalen Süden, die jahrhundertelang kolonialistisch ausgebeutet wurden von den westlichen Machteliten (dazu Margolin 2020; Hickel 2018), in ihrem Wissen, ihrer Arbeit und den Bodenschätzen, und wie man sagen könnte: in ihrer Menschlichkeit. Es ist möglich und notwendig, dass die Bevölkerungen dieser Welt sich zusammenschließen und sämtliche Naturschätze als gemeinsame ansehen, so die Idee, die sich jetzt aufdrängt;
Kapitel 6: Der Aufstand
und nicht als abstraktes Eigentum, das man verbrauchen kann. Einen globalen Vertrag müsste es geben, denke ich, der aufzeigt, wie wir das Öl und die Kohle im Boden lassen können. Dazu könnte es einen neuen Artikel »Null« in der UNO-Charta geben, spinne ich die Utopie weiter. Natürlich denkt man, dass der Sicherheitsrat niemals eine Änderung der Grundlagen für die UNO bewilligen würde. Doch die Prämissen haben sich mit dem brennenden Amazonas verändert; das Klima ist selbst für die Regierungen zu einer der wichtigsten Sicherheitsfragen geworden (Hardt/Viehoff 2020). Als nach den unvorstellbaren Gräueln des Zweiten Weltkrieges die Weltgemeinschaft sich dazu aufraffte,
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sich eine gemeinsame Grundlage zu verschaffen, entstand die UNO-Charta, also das für sämtliche Menschen geltende Grundverständnis, wie Staaten sich zueinander zu verhalten haben, als Basis für das, was rechtens ist und was nicht. Was damals wichtig und sinnvoll war, liest sich heute anders. Es fehlt eine grundlegende Dimension. In Artikel 1 steht nämlich, dass die Weltengemeinschaft so organisiert sein soll, dass Frieden für alle zustande kommt. In Artikel 2 wird das dann so ausgeführt, dass jeder Staat für sein Territorium selbst zuständig ist und alle diese Integrität respektieren müssen. Klug, wenn man an die Angriffskriege und an den Kolonialismus denkt. Dieses rein »negative« Verständnis unseres globalen Zusammenlebens, also dass wir uns nicht einmischen in die Angelegenheiten der anderen, kommt an seine Grenzen, wenn Staaten auf ihrem eigenen Gebiet Wälder abholzen und Kohle verbrennen können, die das gesamte planetare Earth-System durcheinanderbringen; und wenn wir die gemeinsame Geschichte in die Betrachtung miteinbeziehen. Als nächster Schritt gilt es, diesen Gedanken umzusetzen: sich zu einer Konferenz zusammenzusetzen, als »one people«, verbindlich zu bestimmen, welche Vorräte an Kohle, Öl und Gas wo im Boden bleiben; wie wir gemeinsam fair verteilt die Emissionen mit über zehn Prozent pro Jahr kürzen; und wie wir allen genug Ressourcen zum Leben bereitstellen, zusammen – so ein mögliches Programm für »we, the people … For Future«. Wir dürften das toxische Gut nicht aus dem Boden holen; davon sind wir alle überzeugt. Dafür brauchen wir die Ahnung einer Weltgemeinschaft; und just dieses Bild stellt die globale Einheit der Klimastreikenden an diesem Tag dar. Sie haben sich genau darauf geeinigt an diesem Tag, in all den »Google Docs«-Dokumenten und den Chat-Diskussionen: fokussiert auf das Pariser Abkommen, das 1,5-Grad-Ziel, den wissenschaf tlichen Hintergrund und soziale Gerechtigkeit; und auf unsere Einheit als globale solidarische Bevölkerung.
Die Besetzung von London – XR und FFF finden zusammen In der Woche vor Ostern spitzt sich alles noch einmal zu. Nach fast einem Jahr Vorbereitung kommt es endlich zu der »Rebellion Week«, dem Aufstand, für den Extinction Rebellion damals im letzten Sommer – mit Greta als Rednerin – in London gegründet wurde. Jetzt geht es nicht mehr nur um eine Demonstration oder um einen Streik. Es geht buchstäblich um einen
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Aufstand, mit allen Konsequenzen. Die Innenstadt von London soll so lange besetzt und eine solche Unordnung produziert werden in der englischen Gesellschaft, bis die Regierung auf die drei Forderungen eingeht: die Wahrheit über das Ausmaß der Klimakrise zu sagen; Null-Emissionen bis 2025 durchzusetzen; und dies demokratisch durch »citizen assemblies«. Diese Form von jahrelang vorbereitetem Aufstand eines großen Teils der Bevölkerung hat es so noch nie in einer westlichen Demokratie gegeben. Ein Teil der Bevölkerung ist bereit, dafür ins Gefängnis gesetzt zu werden, um eine veränderte Politik zu erzwingen. Wir in Stockholm wissen, was an Aktionen in der Londoner Innenstadt geplant sind und beugen uns über die Karte. Vier neuralgische Punkte in London sollen blockiert und vor allem gehalten werden, permanent, über Tage, ja Wochen hinweg, so dass die Bevölkerung und dann auch die Regierung reagieren müssen: Oxford Circus, Marble Arch als
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die beiden Zentren des Einkaufsdistrikts, die Waterloo Bridge als zentrale Achse und vor allem: der Parliament Square, direkt vor dem Zentrum der Macht. Damit das funktioniert, müssen tausende gewöhnlicher Menschen bereit sein, die Plätze mit ihren Körpern friedlich zu blockieren und dafür auch verhaftet zu werden. Niemand weiß, wie die Polizei und die Ministerien reagieren werden. Wie werden die Rebellierenden die offene Fläche vor dem Parlament nur gegen hunderte von Polizist_innen halten können? Auch wir haben uns für unsere zeitgleiche Blockade in Stockholm vorbereitet. Den Plan haben wir früh verworfen, dass uns eine Blockade ganz Stockholms gelingen könnte; dafür sind wir noch zu wenige. Und doch ärgere ich mich, dass die Mehrheit nicht wirklich eine Massen-Mobilisierung durchgezogen hat und stattdessen auf einen geheimen Plan setzt. Es soll eine kleinere, doppelte Aktion durchgeführt werden, gleich am Montag, gleichzeitig mit dem Beginn der Londoner Besetzung. Zuerst geht es um ein »Die-In«, währenddessen sich alle totstellen, mitten in der Parlamentspassage, und dann soll die Regierungsbrücke besetzt und zumindest für den Tag gehalten werden, auch wenn es zu Verhaftungen kommen sollte. In den Vorbereitungen draußen in einem Fabrikgelände in einem Vorort von Stockholm sprechen wir immer und immer wieder durch, wieso das Grundgesetz auf unserer Seite steht, die Versammlungs- und Protest-Freiheit; auch warum ziviler Ungehorsam legitim ist, einen Grundstein von Demokratien ausmacht, weil er gegen Unrecht gerichtet ist und auf eine Lücke in der Ausformung der gesellschaftlichen Regeln aufmerksam macht, die geschlossen werden muss, wenn würdevolles Leben für alle möglich sein soll. Die Konfrontation, zu der es kommen muss, beruht auf dem Aufrechterhalten von falschem Recht. Nur weil dies so vielen Menschen einleuchtet, dass wir nicht zulassen können, dass die Regierung den Kindern eine Hitzekugel überlässt, können die Londoner mit der Solidarität der Bevölkerung rechnen: damit, dass plötzlich Lehrer_innen und Pensionär_innen, alle ganz gewöhnlichen Menschen sich anschließen. »Dies ist ein friedlicher Aufstand, es geht um zivilen Ungehorsam ohne Gewalt«, kabelt XR immer und immer wieder heraus, um Hooligans abzuschrecken. Doch am Dienstagabend macht sich eine große Trauer breit, und eine Art Verwirrung. Greta hatte im EU-Parlament bei der letzten Sitzung des Klimaausschusses vor den Wahlen eine Rede gehalten. Sie ruft alle zum Abstimmen auf bei der kommenden EU-Wahl, markiert aber in einem Nebensatz auch, dass keine der Parteien eine Politik hat, die wirklich ernsthaft dem
Kapitel 6: Der Aufstand
Pariser Abkommen folgt. Sie muss sich von ihrem Platz zum Mikrofon hinunterbeugen. Nach einigen Sätzen fängt sie an, all das aufzuzählen, was durch unsere Zivilisation kaputt gemacht wird, von den Wäldern bis zu den Tierarten, die von Menschen ausgerottet werden. Ihre Stimme bricht und lässt die tiefe Trauer durchscheinen. Die Stammstreikenden in Stockholm reagieren wie ich, werden traurig und wütend. Sie fangen an, eine Nachricht zu schreiben, denn sie hatte ihnen gefehlt, auf der Barrikade vor dem Parlament. Am Tag zuvor, am Montag, standen wir alle zusammen auf der Regierungsbrücke, blockierten sie und markierten wenigstens symbolisch, dass das Parlament in seiner zentralsten Aufgabe versagt: für die Zukunft der Kinder zu sorgen. Gespannt folgen wir über Twitter und Facebook, wie die Londoner gleichzeitig die Plätze einnehmen. Alles geht überraschend friedlich vonstatten. Am Marble Arch und dem Parliament Square sind tanzende Menschen zu sehen. Viele haben Pf lanzen mit sich gebracht und verwandeln den tristen Auto-Asphalt in ein buntes Wohnzimmer. Musiker_innen finden sich schnell ein, vor allem dann an den Abenden, auch klassische, und spielen auf. Der Oxford Circus mausert sich schnell zum Zentrum von Reden: ein rosafarbenes Boot wird herangefahren und mitten auf dem Platz in der Straße festgeschraubt, das »boat of truth«. Am schwierigsten ist es, den Parliament Square mit den vier Einfahrten gegen die Räumungsaktionen der Polizei zu halten.
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Während wir von unserer Brücke die Blockade errichten, hören wir von den ersten Verhaftungen in London. Es werden viele werden, hunderte, Tag für Tag. Londons Innenstadt verwandelt sich in eine Besetzungsschlacht ohne Gewalt. Der Parliament Square direkt vor der Regierung wird immer und immer wieder von endlosen Polizeiketten umgeben. Aber er fällt nie, nicht am Montagabend, nicht am Dienstag, nicht am Mittwoch. Die Juristin Farhana Yamin, die am Pariser Abkommen mitgeschrieben hatte, klebt sich an einem Gebäude fest, so dass sie nicht abtransportiert werden kann. Wir in Stockholm halten für den Tag die Brücke, die das Parlament mit dem Regierungsgebäude verbindet. Die meisten der klimastreikenden Jugendlichen wollen an der Blockade teilnehmen, obwohl sie wissen, dass sie verhaftet werden können. Die Münzplatz-Erwachsenen stehen auf der Seite, die dem Parlament zugewandt ist, direkt den Münzplatz vor Augen, daran anschließend die Münzplatzjugendlichen und etwa 100 Rebell_innen hinter ihnen. Vor uns stehen die Polizist_innen, und es ist lange unklar, wie sie reagieren und ob sie Personen verhaften werden. Wir stehen in einem Bezirk, der als besonders schutzbedürftig angesehen wird und der Polizei umfassendere Befugnisse gibt. Wir halten die Brücke, mit all der Unsicherheit und Angst, die viele begleitet, und nach einer Stunde, in der wir einige Passanten durchlassen, blockieren die Jugendlichen sie für den Rest des Tages ganz, auch gegen die Aufforderungen der Polizei. Und so kommt es zu einem Bild, das für diesen Monat einen Schlüsselmoment darstellt. Lorentz Tovatt verlässt als Abgeordneter das Parlament und stellt sich vor uns hin, Jens Holm schickt ein Bild: Die klimapolitischen Sprecher_innen der grünen und linken Parteien stehen uns buchstäblich gegenüber, getrennt nur von einer riesigen Banderole. Sie wollen oder können die Gesetzesänderung nicht durchführen, die der Lage laut UNO und der Wissenschaftsgemeinschaft angemessen wäre, obwohl sie im Parlament sitzen, ja teilweise sogar in der Regierung. Die Emissionen sinken nicht. Die schwedischen Banken und die Pensionsfonds finanzieren weiterhin die fossile Industrie. Die Forderung von XR sind ja: die Krise als Krise mitteilen; bis 2025 Null-Emissionen erreichen; und dies alles demokratisch absichern durch die Einbeziehung der Bevölkerung. Ich halte es mit FFF und denke, 2030 ist als Forderungen angemessen. Aber auch nach dem Gespräch mit den klimapolitischen Sprechern während der Blockade ist uns allen unklar, wie Schweden überhaupt seine Emissionen um zehn oder zwölf Prozent pro Jahr verringern will und kann. Fliegen, Autofahren, Fleischessen, Konsu-
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mieren, in Ölaktien Investieren wird kaum eingeschränkt, nicht durch politische Mittel. Die Reichen, die am meisten Emissionen produzieren, sollen in den nächsten vier Jahren sogar große Steuererleichterungen bekommen. Wir auf der Brücke haben alles Recht in der Welt, wie all die Menschen, die London blockieren und eingesperrt werden, auf unseren Forderungen zu beharren. Eines Tages müssen wir so viele sein, dass die Parlamente kippen und ihre demokratische Pf licht wahrnehmen, denke ich. Und gleichzeitig wird die Verletzlichkeit von denjenigen so sichtbar, die sich mit dem Körper da in die Machtverhältnisse hineinstellen oder für die Biodiversität in der EU Reden halten. Alle Gedanken, diese Verletzlichkeit loszuwerden, sind leer. Das geht nicht, ist nicht der Weg, den wir gehen können. Das ist genau der Weg, den die gehen, die die Welt an den Rand des Untergangs bringen, denke ich: Sie bauen Panzer, Schutzwälle, Mauern, Waffen, SUV-Fahrzeuge und versuchen sich vergeblich, vor ihrer »condition humaine« zu verstecken. Wir sind unendlich verletzlich und aufeinander angewiesen, auf die Sorge, wenn wir klein oder sehr alt sind, um unseren verletzlichen Körper, auf Hilfe, auf aufmunternde Worte. Das hat Kierkegaard mit dem Wort »absurd« bezeichnet: dass wir Menschen unsere Leben leben, ja sogar andere Mitmenschen und Tiere lieben, Beziehungen auf bauen wollen, obwohl wir wissen, dass in der nächsten Stunde dem anderen ein Ast auf den Kopf fallen kann. Damit müssen wir umzugehen lernen. Die Gesellschaft, die Wirtschaft, die wir zusammen auf bauen müssen, jetzt, in den nächsten zehn Jahren, muss darauf auf bauen, auf dieser Einsicht, dass wir einander brauchen. In Rom am nächsten Tag wird Greta wie in Davos deutlicher: All diese Zerstörung dient der Bereicherung von einigen wenigen. Sie nehmen in Kauf, dass die ganze Umwelt kaputtgeht, tausende von Menschen sterben, in Fluten wie in Moçambique einen Monat zuvor, in der Dürre wie in Syrien, in Stürmen und Kriegen um das Erdöl, seit Jahrzehnten. Es geht um ein ökonomisches System, und um Gerechtigkeit. In Paris wird an diesem selben Tag von Extinction Rebellion die »Défense« besetzt, das Viertel, in dem die Hauptzentralen der großen Banken und der Erdölfirmen liegen wie »Total«. Hier sind die Reichsten und Mächtigsten zuhause. Gegen Ende ihrer Rede auf dem Piazza del Populo, dem Platz des Volkes, schaltet Greta um, ähnlich wie nur wenige Wochen zuvor am 15. März in Stockholm, geht in den Modus der Anführerin, der Tribunin, zapft sich an eine andere Energie an und ruft: »Wir werden das nicht akzeptieren, wir werden weitermachen. Es kann Tage dauern, nein, Wochen, Jahre. Wir werden nicht aufgeben. Wir lieben euch
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alle!« In London geht unterdessen die Polizei immer entschlossener gegen die Besetzenden vor. Emma Thompson, die Oscar-ausgezeichnete Schauspielerin, steht auf dem rosa Boot mitten auf dem Oxford Circus und muntert die Rebell_innen zum Bleiben auf, umgeben von einem Kreis von Polizist_innen. Der ganze Platz ist außerdem jetzt abgeblockt mit einem weiteren Kreis von gelben Polizist_innen. Kate Raworth, die Ökonomieprofessorin twittert: He, die bilden ja meinen Doughnut, die Form ihrer Vision einer gerechten und nachhaltigen Wirtschaft. Im englischen Fernsehen taucht Rupert Read auf, der Philosophie-Professor-Kollege von der East-Anglia-Universität und beschreibt, wie ernst die Lage ist (dazu Read 2018). George Monbiot hatte eine Woche zuvor auch im staatlichen Fernsehen dazu aufgefordert, dieses System abzuschaffen, das immer mehr in sich hineinstopft, weil es exponentielles Wachstum anstrebt – wie soll das die Natur aushalten? Und am Abend wird der BBC-Dokumentarfilm mit David Attenborough ausgestrahlt, der mit einem Besuch bei uns auf dem Münzplatz beginnt, und der deutlich aufzeigt, wie dramatisch die Lage sich schon verschlechtert hat. Wir alle atmen ein wenig auf. Es ist also möglich, in den Medien diese Informationen zu verbreiten. Doch umgekehrt herrscht ein völliges Schweigen im Rest von Europa, was die dramatischen Ereignisse in London anbelangt. Die schwedischen Zeitungen berichten von nichts. Die deutschen auch kaum. Wo sind sie jetzt, das ZDF, Le Monde, alle meine bekannten Journalist_innen, die aus aller Welt begeistert auf dem Münzplatz vorbeigesehen haben? Wieso schweigen sie jetzt, wo es zu einer wirklichen Auseinandersetzung kommt und es nicht nur um einen Starrummel und Kinder geht? Immer und immer wieder droht die Blockade vor allem vom Parliament Square zusammenzubrechen, am Donnerstagabend am dramatischsten. Doch da taucht plötzlich eine Schlange von Fahrradfahrer_innen auf, mit dem XR-Symbol auf ihren Rücken. Und als alle denken, dass der Platz ganz geräumt wird, da marschiert eine Trommelgruppe ein, hunderte Menschen, der Nachschub. Und die Polizei muss mit den Verhaftungen wieder von vorne anfangen. Der Platz wird nie aufgegeben während dieser ersten Woche. Auch der Oxford Circus wird, jetzt ohne Boot, gehalten. Über 1.000 landen in den Gefängnissen der Stadt. Auch bei uns auf der blockierten Regierungsbrücke spitzt sich die Situation zu. Die Polizei berichtet, sie hätte den Zustand P24 ausgerufen und sei befugt, uns sofort festzunehmen. Wir nehmen es zur Kenntnis und sagen, dass wir uns beraten müssen, ganz zur Verblüffung der Polizist_innen. Und
Kapitel 6: Der Aufstand
nun nimmt das seinen Gang, was FFF und XR in den letzten Monaten so ausgezeichnet hat. In den einzelnen demokratischen Kleingruppen, die wir gebildet haben, wird heftig diskutiert, ein Konsens gesucht, abgestimmt, mit der Thermometerangabe: Hände vor sich bedeutet, »weiß nicht genau«; rauf bedeutet »ja«, runter bedeutet »nein«. Eine Delegierte wird an die Gesamtversammlung geschickt. Alles nicht einsehbar für die Polizei, weil wir die Spruchbänder zu einer Wand geformt haben. Wir verzögern die Entscheidung. Doch dann entscheidet sich die Rebell_innenbande vom Münzplatz, die Blockade ganz durchzusetzen. Sie legen sich als menschlicher Teppich einfach auf die Straße. Manchmal erscheinen in diesen Wochen Artikel in deutschen Zeitungen wie der »Welt«, die sagen, die Kinder und Jugendlichen von FFF seien nur instrumentalisierte Puppen von Erwachsenen, von geldgierigen Profis. Das Gegenteil ist der Fall. Wir älteren sind nur da, weil Greta und diese zehn mutigen Kinder und Jugendlichen uns klargemacht haben, dass wir handeln müssen. Sie sind es, die den Aufstand initiiert haben. Sie sind es, die am mutigsten agieren, solidarisch und als Gruppe. Greta twittert am nächsten Tag: »London, ich bin nur zwei Zug-Tagesreisen entfernt und werde am Montag zu eurer Rebellion eintreffen.« Wenn Greta da auftaucht, denken wir hier, dann bekommt die Polizei ein Problem, das sie schon bei uns hatte: Wollen sie wirklich anfangen, hunderte von Kindern zu verhaften? Vor wem muss die Gesellschaft geschützt werden? Nach dem globalen Streik und der Rebellion von London hat sich zumindest für einige 100.000 Menschen weltweit die Perspektive leicht verschoben: Für den, der sich zusammenschließt, ist Veränderung möglich. Und es ist befreiend, gemeinsam aufzustehen. Das Resultat der australischen Wahl: Entgegen aller Prognosen gewinnen die rechtsbürgerlichen Parteien, die die Kohleproduktion fortsetzen und verstärken wollen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, dass die AdaniKohlegrube gebaut wird, eines der weltweit größten fossilen Infrastrukturprojekte überhaupt, das das Weltklima der nächsten Jahrzehnte beeinf lussen wird. Die parlamentarische Diskussion zu ihrem Bau hatte damals im November die ersten internationalen Streiks provoziert. Gleichzeitig werden in Australien Temperaturen von 49 Grad gemessen.
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Kapitel 1: Der zweite globale Streik und die Vorbereitungen zur Week For Future April – August: Die Aufgabe für die Zivilgesellschaft Kapitel 2: Smile For Future in Lausanne und die Scientists For Future August – September: Die Aufgabe für die Wissenschaft Kapitel 3: Die Week For Future September: Der Aufstand von acht Millionen weltweit Kapitel 4: COP25 in Madrid Oktober – Dezember: Die Aufgabe einer vereinten Bewegung Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die Klimagerechtigkeitsbewegung Januar – September 2020: Die Krise und das globale Demokratieprojekt
Kapitel 1: Der zweite globale Streik und die Vorbereitungen zur Week For Future Die Aufgabe für die Zivilgesellschaft
Die erste große Welle der Rebellion ist vorbei. Während sich eine gewisse Erschöpfung unter den Jugendlichen breitmacht, schwappt die Bewegung jetzt definitiv über in die breite Öffentlichkeit und verändert das politische Geschehen. Geprägt vom globalen Streik, Gretas Reden vor der EU und dem britischen Parlament, aber auch dem neuen BBC-Dokumentarfilm von David Attenborough zur Klimakrise, fangen Regierungen und Stadtparlamente an, den Klimanotstand auszurufen. Stadt um Stadt in der Schweiz und Deutschland (Konstanz zuerst), dann weltweit schließt sich an, gedrängt von den Klimastreik-Jugendlichen. Ein großer Teil der Energie innerhalb der Bewegung f ließt zu dieser Zeit in dieses Projekt, neue »Climate Emergency«-Facebook-Chats entstehen. Klimanotstandserklärungen mit konkreten Veränderungsvorschlägen für Schulen und Universitäten werden erarbeitet (dazu www.cedamia.org). Auch bei uns auf dem Münzplatz macht sich die Einsicht breit: Etwas Grundlegendes hat sich verändert. Die Frage ist nicht mehr, ob es eine Klimakrise gibt, sondern wie darauf zu antworten ist. Ein erster, wichtiger Schritt ist der globalen Bande gelungen, ein historischer Durchbruch. Oder? Die EU-Wahlen warten im Mai, ein Prüfstein, ob die Bevölkerungen Europas das Problem wirklich ernst nehmen. Die Jungen dürfen nicht wählen. Kaum deutlicher als in diesen Wochen vor der Wahl zeigt sich ein Loch in unseren Demokratien: Es ist ihre Zukunft, die auf dem Spiel steht, und doch haben sie nichts zu sagen. Und die Aufgabe, die sich die Münzplatzgruppe gegeben hat im letzten September, ist noch nicht gelöst. Die Zeitungen berichten täglich darüber, dass das Pariser Abkommen von kaum einem Land eingehalten wird, auch nicht von Schweden, Deutschland oder der Schweiz, die ihre
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Zweiter Teil: Die Erwachsenen antworten
Emissions-Budgets weit überziehen. Wir lesen in den UNO-Rapporten, dass die Weltgemeinschaft unterwegs ist in eine drei Grad wärmere abgründige Zukunft (Emissions Gap Report 2019). Die Grundfrage ist immer noch: Wie die Welt vereinen im Kampf um eine sichere Zukunft für alle? Wie weltweit politische Regeln etablieren, welche die Gesellschaften in sämtlichen Sektoren zur Umstellung zwingen, und zwar so, dass dabei mehr Gerechtigkeit herauskommt, mehr Demokratie und Strukturen von Herrschaft abgebaut werden? Der erste globale Streik war ein historischer Schritt in die richtige Richtung, denken viele. Doch was kommt nun? Eines ist klar: Die Erwachsenen werden gebraucht. Sie können nicht mehr nur am Rand stehen und applaudieren; und zwar breitere Gruppen der Zivilgesellschaft, nicht nur die, die sich schon seit 40 Jahren für den Umweltschutz engagieren. Doch gerade diese machen jetzt von sich reden. Die globalen Verantwortlichen der großen Umweltverbände samt 350, Avaaz und wie die NGOs alle heißen, mischen sich im Mai in das Geschehen ein. Die Frage spitzt sich am Tag des zweiten globalen Streiks zu, ein Risiko wird sichtbar und eine Möglichkeit: Die Idee einer viel größeren globalen »Bewegung aller Bewegungen« taucht zum ersten Mal auf, die Idee einer einzigen globalen Bewegung, der sich alle Menschen überall anschließen können, Erwachsene wie Jugendliche. Aber damit droht auch die Gefahr (und sie wird nie verschwinden), dass diese Organisationen das Netzwerk der Jugendlichen unterlaufen. Es ist der frühe Morgen des 24. Mai, Vogelgezwitscher ist im Park zu hören. Die ganze Münzplatzgruppe steht zu einem Kreis versammelt in einer kleinen, dunklen Wohnung. Die Stimmung ist angespannt. Der Raum befindet sich unter Stockholms größtem Stadtpark, dem königlichen Kungsträdgården. Oben auf der riesigen Bühne soll gleich der zweite globale Streik stattfinden, in zwei Tagen sind die EU-Wahlen. Wir befinden uns in den unterirdischen Bühnenräumen, die sonst weltberühmte Artist_innen benutzen. »Wir müssen zusammenhalten«, sagen einige. Alle nicken. Was war passiert? Die NGOs tauchen auf. Am Vortag hatten sie, und mit ihnen die älteren »Superstars« der etablierten Klimabewegungen einen Artikel im Guardian publiziert, der für Rabalder sorgt; nicht etwa wegen der Grundidee, denn die Jugendlichen bitten jetzt die ganze Zivilgesellschaft, inklusive Gewerkschaften, sich ihnen im September im Rahmen eines riesigen Streiktages anzuschließen. Die Erwachsenen könnten nicht einfach zusehen und applaudieren, sondern müssten ihre Verantwortung übernehmen. Aber die NGOs stimmen sich mit
Kapitel 1: Der zweite globale Streik und die Vorbereitungen zur Week For Future
den Jugendlichen nicht richtig ab, als sie nun mit dem Datum des 20. Septembers zum monumentalen weltweiten globalen Generalstreik aufrufen. Wie sich zeigen sollte, war dies nicht mit »der« Bewegung abgesprochen (wie sollte das vor sich gehen; es gibt immer noch parallel die Discord-Plattform, die WhatsApp-Gruppen und so weiter), sondern im besten Fall mit einzelnen. Die meisten der Streikenden hatten sich auf den 27. September als nächsten Streiktag geeinigt, zusammen mit den »Earth Strike«-Organisator_innen, alles freiwillige Jugendliche, nicht bezahlte NGO-Mitarbeiter_innen. Und viele Länder hatten das auch schon so kommuniziert: Wir streiken am 27. September, wir Jugendlichen, und rufen die Gewerkschaften dazu auf, uns zu helfen. Viele Erwachsene hatten sich für den Tag freigenommen. Und jetzt stehen sie plötzlich da: die viel größeren NGO-Tankschiffe und geben ihre eigene Kampagne bekannt, sogar mit eigener Webseite, die sich »climatestrike.org« nennt, was viele der Jugendlichen als Provokation ansehen. Es ist doch ihr Streik und sie wollen nicht die Kontrolle verlieren. Viele von ihnen in den globalen FFFKommunikationskanälen fühlen sich überrumpelt, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer ausbreitet, ausgerechnet in der Nacht vor dem globalen Streik. Es kommt zu einem kollektiven Nervenzusammenbruch und während des Streiktages sind alle so übermüdet, dass die Geschehnisse rund um die EUWahlen an vielen vorbeigehen. Die Einheit von FFF ist wichtiger; alle Missverständnisse müssen geklärt werden. Die Erwachsenen müssen sich nach den Jugendlichen richten, nicht umgekehrt. Was in den nächsten Wochen und Monaten passiert, bietet eine historische Chance, denke ich oft in der Zeit, aber birgt auch die Gefahr, dass alles kaputtgeht, alles, was die Jugendlichen in einem Jahr aufgebaut haben. Es genügt ja ganz generell, in einer Gruppe nur wenig zu verändern, eine kleine Verschiebung, Erwachsene müssen nur etwas deutlicher die Leitung übernehmen, und dann ziehen sich viele zurück, die vorher noch aktiv waren. So funktionieren wir Menschen. Vor allem Jugendliche. Das ist die Subtilität von demokratischen Verhältnissen: dass wir unglaublich genau darauf achten müssen, dass jede_r sich motiviert fühlt, sich einzubringen; und sich dies auch getraut. Dass nicht Einzelne ihre Meinung so laut kundtun, dass die anderen sich zurückziehen und denken, »ah ja, die oder der wird schon wissen, was er macht; und was habe ich selbst schon zu sagen?« Dies droht, in diesen Monaten zu passieren. Und doch liegt in der Zusammenarbeit aller Klimabewegungen auch eine Chance. Wie die Balance finden in der Zusammenarbeit zwischen Jugendlichen und Erwachsenen?
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Doch von diesem Tag an lässt mich die Frage nicht mehr los: Wie sähe eine globale Organisierung eines Auf bäumens aus, sowohl der Jugendlichen als auch der Erwachsenen? Kein Mischmasch, das steht für mich fest. FFF soll den Jugendlichen gehören; sie müssen die Leitung haben. Doch was ist die Rolle der Erwachsenen? Ich versuche, im infektierten Streit um das nächste Streikdatum (der 20. oder 27. September) zu vermitteln, und den Jugendlichen das letzte Wort zu geben. Dabei schnappe ich eine Idee auf und drücke sie durch, nämlich die beiden Tage durch eine ganze Aktionswoche zu verbinden. Wir, die an einer globalen Vernetzung arbeiten, Streikende, NGO-Mitarbeitende und »Earth Strike«-Organisator_innen, schreiben ein Papier: Eine »Week For Future« soll zustande kommen, ein globaler gigantischer Protest, an dem die Regierungen nicht vorbeisehen können. In einer Nacht- und Nebelaktion müssen die beiden Seiten des Konf liktes überzeugt werden; zusammen wird im kleinsten Kreis eine Pressemitteilung verfasst, und bald darauf können wir uns alle auf das größte aller bisherigen Projekte konzentrieren. Noch können wir nicht ahnen, dass drei Monate später acht Millionen Menschen in der größten global koordinierten politischen Aktion aller Zeiten auf die Straßen gehen werden; in Bern sind es 100.000. Und doch: Letztlich, denke ich, letztlich kann es nicht nur darum gehen, dass Erwachsene sich den Streiks anschließen, die immer mehr zu gewöhnlichen Demonstrationen werden – sie müssen sich auch selbst organisieren zu der
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politischen Kraft, die die politische Veränderung weltweit durchsetzt; oder aber wie XR wirklich rebellieren.
Doch zunächst geht es darum, mit den »global directors« der etablierten NGOs und der Graswurzelbewegungen einerseits und den Jugendlichen andererseits den gemeinsamen globalen Streik zu planen. (In Deutschland entsteht dafür die Plattform »Together For Future« und die Webseite »climatestrike.org«, die die ganze Zivilgesellschaft versammelt.) Und jede Woche schließen sich jeden Mittwoch Aktive aus den NGOs, von FFF und XR in globalen Zoom-Treffen zusammen, und besprechen die Lage; eine globale Rebell_innenbande ist entstanden. Die Grundidee ist die, dass die Erwachsenen auch streiken sollten, nicht nur applaudieren oder demonstrieren, sondern dass sie wirklich ihren Arbeitsplatz verlassen; wie FFF und XR es aufgezeigt haben: nicht mehr nur Märsche organisieren, Flyer verteilen oder Petitionen einreichen, das Alltagsgeschäft der NGOs, sondern wirklich das Weiter-so der Wirtschaft blockieren. Werden die Menschen sich getrauen, ihre Arbeitsplätze zu verlassen? In Stockholm machen sich die Jugendlichen auf und gehen bei allen wichtigen
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Zweiter Teil: Die Erwachsenen antworten
Gewerkschaften vorbei. Andere richten sich an die Universitäten und an die Studierenden. Doch was sollte als Gehalt dieser Protest- und Streikwoche kommuniziert werden? Worum geht es jetzt, ein Jahr nach dem Beginn der Streiks? Wohl für ein würdiges Leben für alle, auch zukünftige Generationen, weil wir eine einzige Weltbevölkerung sind und uns kümmern müssen um einander und die »earth systems«, den wunderbaren Planeten und die verschränkten Ökosysteme. Das ist die Chance, denke ich, und schicke allen ein Papier: Lasst uns diese Woche global nutzen, um in allen Menschen diesen einen Gedanken einer gemeinsamen globalen Bewegung mit einem gemeinsamen Ziel zu pf lanzen und sie als eine globale im weitesten Sinn politische kenntlich zu machen. Wir streiken ja bereits an tausenden von Plätzen in 160 Ländern, also fast allen; wir müssen unsere Einheit deutlicher machen, ganz wenige Forderungen etablieren, vor allem da jetzt die Jugendlichen selbst sagen, dass sie uns Erwachsene dabeihaben wollen. Wir sind eine einzige Weltbevölkerung auf einem sehr sensiblen Planeten, und müssen gemeinsam für alle sorgen. Der erste Freitag könnte dieser Idee gewidmet sein; der Samstag dann dem Gedanken von Kohlendioxidbudgets und Aktionsplänen, einem globalen Budget (von ca. 350 GT CO₂) und nationalen, so dass allen Menschen klar wird, wie unfassbar schnell wir die Emissionen stoppen müssen, wenn wir die Temperatur halbwegs menschenfreundlich halten wollen. Der dritte Tag könnte dann dem Aspekt der »Equity« oder sozialen Gerechtigkeit gewidmet sein, die diese Budgets fair verteilt, so dass der reichere Teil den globalen Süden unterstützt und nicht weiter ausnutzt. Und am vierten soll dann in großen »citizen assemblies« allen basisdemokratisch die Gelegenheit gegeben werden, darüber nachzudenken, wie die Gesellschaft sich transformieren müsste, welche Regeln in welchen Sektoren wir brauchen (Nahrung hin zu nicht-animalische Produkte; Transport weg von Auto und Flug; Finanzsektor zu demokratischeren Strukturen und weg von der Finanzierung der fossilen Industrie; Energie hin zu erneuerbar und so weiter). Jeder Tag müsste Wissen vermitteln, Raum zum Gespräch geben und konkrete Bilder der gemeinsamen globalen Transformation aufzeigen. Alles sollte dazu führen, dass bereits vorhandene Machtstrukturen, in denen Bevölkerungsgruppen benachteiligt werden (intersektional: Gender, Klasse, Ethnizität …) durch nicht-dominante Beziehungen ersetzt werden. Die Demokratie muss gestärkt werden. Diese Idee bleibt aber bloßer Traum. Stattdessen kommt es zu einem gemeinsamen, einfach gehaltenen Papier, das die Grundidee der Woche skiz-
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ziert und die beiden Freitage hervorhebt: den ersten als Schulstreik und den zweiten als Generalstreik; die Gewerkschaften sollen organisiert werden, und in der Mitte findet der UNO-Klima-Sondergipfel mit Greta in New York statt. Wir können die Pressemitteilung verschicken, und die Welt fängt an, das vorzubereiten, was dann im September Millionen von Menschen auf die Straßen treibt. Allein in Montreal werden es eine halbe Million sein, bei uns in Stockholm wird es die vermutlich größte Demonstration der Nachkriegsgeschichte. Wir können nicht beliebig lange weiterstreiken und marschieren, denke ich, ohne eine globale Bewegung zu etablieren, die auch da ist in den Zwischenzeiten zwischen den globalen Aktionen. Ansonsten »brennen« sich viele »aus«. Mit diesen Gedanken fangen die Sommerferien auch auf dem Münzplatz an. Einige von uns aber bereiten eine längere Reise vor …
Bei der EU-Wahl gewinnen nach dem globalen Streik vor allem die deutschen Grünen massiv hinzu. Bei den Jugendlichen unter 30 werden sie mit weit über 30 Prozent Stimmenanteil zur größten Partei. Der Rechtsrutsch im europäischen Parlament kommt nicht so zustande, wie er von vielen angekündigt worden war. In Schweden gibt es kaum politische Verschiebungen.
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So fängt der Sommer an, und mit ihm wird eine weitere Gruppe Erwachsener noch aktiver: die Wissenschaftler_innen. Vor allem aber finden sich die Schwed_innen vom Münzplatz plötzlich in der Schweiz wieder. Vom Genfer See weht eine leichte Brise über das Stoppelfeld hoch zum modernen Glasbau der Universität Lausanne. Einige Jugendliche stehen vor dem Audimax, noch verschlafen, und schauen auf das Wasser hinunter. Es ist Anfang August, genau ein Jahr ist vergangen seit dem ersten Streik, und hinter den Glaswänden des Universitätsgebäudes wuseln über 400 Jugendliche durch die Gänge: die Teilnehmer_innen des ersten großen internationalen FFF-Treffens. Sie sind aus allen europäischen Ländern angereist, auch aus Russland, der Ukraine, Afghanistan und Israel; und aus Stockholm. Loukina Tille, die gerade noch hier in Lausanne ihre letzten Tage am Gymnasium hinter sich gebracht hat, hatte zusammen mit Jonas, Isabelle, Saoi und all den anderen die Idee während der Straßburger Reise im März entwickelt. Sie leitet das Organisationsteam und findet Stipendien, die für die 400 Jugendlichen aus über 28 Ländern die Fahrtkosten, Kost und Unterkunft garantieren. Mit einem kleinen Team stellt sie ein Programm zusammen, findet eine Kerngruppe, die die Medienarbeit übernimmt, und leitet die Pressekonferenzen. So viele Fragen hatten sich damals im März ergeben, die noch immer allen in ihren Ländern unter den Fingernägeln brennen: Wie Entscheide organisieren? Wann und wie oft soll gestreikt werden? Und: Soll es globale Forderungen geben, europäische? Die Temperaturen sind nicht nur in der Westschweiz fast unerträglich. In einem Land nach dem anderen werden Höchstwerte gemessen, seit Menschen überhaupt Temperaturen festhalten. Das Gletscherwasser wird
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zu einem großen Teil weggeschmolzen sein und Milliarden werden f liehen müssen, weil sie an zu heißen und trockenen Orten wohnen, sagen jetzt die Forscher_innen (Xu et al. 2020), bereits Mitte des Jahrhunderts, wenn Loukina und Isabelle so alt sein werden wie ich es jetzt bin – falls die Politiker_innen nicht die ganze Wirtschaft umorganisieren, zusammen mit den Menschen, die in der Tram in Lausanne neben uns sitzen und irritiert die »Klimagerechtigkeits«-Rufe verfolgen. Loukina steht vorne auf der Bühne der Universität. In den Bänken vor ihr sitzen sie alle, die gleichaltrigen Held_innen, die so lange nur via Chats miteinander die Nächte durchdiskutiert haben: Balder aus Holland, der uns auf dem Münzplatz besucht hatte; Saoi aus Cork in Irland und Anna aus London; David aus Turin, den Greta in Rom getroffen hatte; Jakob aus Kiel, der bei uns so früh aus dem deutschsprachigen Gebiet aufgefallen war; Jonas, Fanny und die Gruppe aus Zürich; und viele der Jugendlichen vom Münzplatz in Stockholm, umgeben von 400, die in ihren jeweiligen Ländern die Streiks organisieren. Einige Stunden zuvor hatte der Präsident der Universität und ein Forschungsteam die Jugendlichen begrüßt. Jetzt liegt eine erwartungsvolle Stimmung über der Menge. In den Räumen des labyrinthischen Gebäudes sollen oft parallel Workshops und Seminare stattfinden, etwa zur Frage der sozialen Gerechtigkeit; zur Organisation der Kommunikationskanäle auf Facebook, Discord oder Telegram; und zu den Grundforderungen an die Politik. Eine »Deklaration von Lausanne« soll entstehen: Welche Werte, welche Prinzipien, welche organisatorischen Leitlinien und welche Forderungen sollen – zumindest als Vorschlag von diesen hunderten von Jugendlichen – gelten und die europäische FFF-Bewegung ab jetzt prägen? Mitten in diesem Gewusel sitzt Greta und die anderen Schwed_innen auf dem Boden und diskutieren. Hier sitzen sie, in einer Universität, die für sie und ihre Grundidee das ganze Hauptgebäude eine Woche lang zur Verfügung stellt, umgeben von hunderten von Gleichaltrigen, die über die Details von Fridays For Future als komplexe Bewegung diskutieren und die weltweite Rebellion für den September planen. Dabei auch einige von den Stammstreikenden, die sich bereits in der ersten Woche damals vor genau einem Jahr zu Greta gesetzt haben. Ich stehe draußen vor dem Eingang und sehe in der Glasfassade den See und die französischen Alpen, die sich postkartenmäßig dahinter auf bäumen. Hinter der Glasscheibe arbeiten sie fokussiert, die Jugendlichen, die die Professor_innen angeschrieben, mit der Universität telefoniert und das Programm mit allen Workshops organisiert haben.
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Im Juli 2019 werden Temperaturen in europäischen Ländern gemessen, wie sie zuvor kaum denkbar waren. In Deutschland wird es über 42 Grad warm (zuvor lag die höchste Temperatur, die je gemessen wurde, bei 40,5 Grad). Ähnliche Rekorde verzeichnen auch Frankreich (Paris über 40 Grad) und Belgien. Der Monat Juli wird der wärmste (gemessene) Monat der Menschheitsgeschichte.
Das europäische Netzwerk und der Mont Pèlerin Mein Blick schweift hinüber zur Schweizer Seite des Genfer Sees. Nur einige wenige Kilometer vom Campus entfernt, wirklich nur ein Katzensprung, hatten sich vor 70 Jahren ebenfalls einige politisch Interessierte versammelt, auf den See hinuntergeschaut, mit dem Willen, die Gesellschaft zu verändern, nicht nur hier, sondern auf der ganzen Welt. Auch sie haben ihre Vorstellungen zum Menschenbild und zur Ökonomie diskutiert und so die berühmt-berüchtigte Mont-Pèlerin-Gesellschaft gegründet. Zu zahlreichen Nobelpreisträger_innen für Ökonomie sollten sie später ernannt werden, diese Hauptteilnehmer wie Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und wie sie alle heißen. Sie sind die Erfinder und Entwickler dessen, was als neoliberales Gesellschaftsmodell das europäische und globale Leben und Wirtschaften mehr geprägt hat als jede andere ideologische Strömung der
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letzten 50 Jahre. Staatliche Regulierungen sollten abgeschafft werden, das meiste privatisiert, zugänglich einem globalen Markt, der Konkurrenz aller gegen alle ausgesetzt, mit minimalen sozialen Hilfsnetzen, wenn überhaupt; alle Bereiche des Lebens umfassend, und auch alle Bereiche der Natur (Mirowski/Plehwe 2015). Sie wird definiert und benutzt als gigantischer Lieferant von kostenlosen Rohmaterialien und, unthematisiert, als Müllhalde. Die Politik seit den 80er Jahren mit Reagan und Thatcher an der Spitze wird auf sie hören, sie als Konsulte anstellen, ihnen Preise verleihen und so die Öl-, Gas-, und Kohleindustrie stärken, die Automobilindustrie, die Landwirtschafts-Konzerne wie Monsanto und Bayer mit ihrer Mischung aus Monokulturen und Pestiziden, und vor allem die gesamte Finanzindustrie, eben die 100 multinationalen Firmen, die nach wie vor über 70 Prozent aller Treibhausgase produzieren; Exxon, Shell, BP, JPMorgan Bank, UBS, CS und so weiter sind ohne den Mont Pèlerin, die Ideologie und die Rahmengesetzgebung der entsprechenden Politik in ihrer Entwicklung undenkbar. Was aber vielleicht die größte »Errungenschaft« dieses Elite-Netzwerks, dieser Mont-Pèlerin-Gruppe war, ist die Verankerung einer Idee in den Köpfen von großen Teilen der Menschheit: Es gibt keine Alternative zu diesem ökonomischen und sozialen Modell. Es ist das, was uns Menschen entspricht. Es kann in allen Bereichen angewandt werden, selbst in der Schule und der Universität. Es bestimmt, wer wir sind, was als wertvoll angesehen wird, und was nicht. Und es hat zu unermesslichem Reichtum für einige wenige geführt – und zu einer systematischen Vernichtung von vielem, was diese Jugendlichen als das Wichtigste ansehen. Mein Blick geht zurück in das Audimax. Greta und Isabelle stehen gerade auf und gesellen sich zu den anderen Schwed_innen, um die Lage zu besprechen. Loukina kommt dazu, ihr Essen in der Hand, das sie den ganzen Tag immer nur herumträgt, weil sie keine Zeit findet, um es zu verspeisen. Ich denke: Das ist das Gegenmodell. Hier in der Lausanner Universität mit all den Jugendlichen ist es zumindest zu erahnen. Statt einer Ansammlung von Männern ohne wissenschaftliches Fundament, ohne Medien, mit eigenen ökonomischen Interessen, streng geheim, rennt jetzt die überwiegend weiblich geprägte Gruppe Jugendlicher hier herum. Sie haben alle Medien eingeladen, auch die Boulevardpresse, die zu im Prinzip allen Veranstaltungen freien Zugang hat. Sie sind belesen, und stehen mit der Wissenschaft im permanenten Austausch. Und sie sind genauso entschlossen, unser Leben wirklich zu ändern. Sie haben weder einen internationalen Verein mit
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Statuten gegründet noch Finanzen noch ein Grundsatzprogramm. Doch jetzt sind sie auf der Suche nach den Strukturen, die sie stärker machen können. Schnell gehe ich durch die Gänge des Gebäudes zurück, und setze mich hinten im Plenum neben die Wissenschaftler_innen aus der Schweiz und Österreich. Wir wollen das Team der Scientists For Future bilden, eine Art wissenschaftliche Hilfsgruppe. Alle Fragen der Jugendlichen werden gesammelt und in das bestehende Netzwerk der 25.000 deutschsprachigen Wissenschaftler_innen weitergegeben, die sich im März im Vorfeld des ersten globalen Streiks zusammengefunden hatten. Mehrere hundert von ihnen antworten jeweils nach wenigen Minuten, unter anderem einige der berühmtesten Klimaforscher_innen der Welt. Doch dann beginnt die Woche, und damit auch die Probleme und Herausforderungen unter den Jugendlichen und unter den Wissenschaftler_ innen. Debatten kommen auf, existentielle, die im Grunde die Strategie betreffen. Im Kern geht es um die Frage, wie die Gesellschaft das giftige Erbe von Mont Pèlerin loswerden kann. Und dahinter die größte aller Fragen: Wie organisieren wir Demokratie wirklich? So dass sich alle einbringen und Gehör finden können? Und so, dass für den Grundbedarf aller gesorgt ist?
Der Grundkonflikt Am Dienstagabend spitzt sich die Debatte zu. Die Strategiegruppe der Jugendlichen tagt. Draußen vor der Türe sitzen einige der aktivsten Schweizer_innen, die schon seit den Anfängen im Dezember aktiv sind, und genießen die Abendsonne auf dem Boden im Obergeschoss der Universität. Zur Überraschung vieler haben die Schweizer_innen die Konferenz so vorbereitet, dass es zu allen erdenkbaren politischen Themen wie Energiepolitik, Agrarpolitik, Transport und so weiter bereits Thesen und Forderungen gibt, zu denen nun alle Stellung beziehen sollten. Die Tür öffnet sich und wütende Gesichter kommen uns entgegen. Die eine Fraktion ist skeptisch: Wir erachten es nicht als klug, sagen sie, auf diese Detailforderungen einzugehen. Wir wollen Streiks organisieren, und nicht so tun, als wenn wir eine Jungpartei wären, die sich mit Regierungen auf Augenhöhe mit Policy-Forderungen einlässt und deren Spiel mitspielt; wir wollen wirkliche Veränderung. So sieht der Konf likt aus, der für die ganze Geschichte von FFF symbolisch ist: auf der einen Seite die, die konkrete Forderungen stellen und mit regieren-
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den Politiker_innen über Policyvorschläge (wie die Kohlendioxidbepreisung) diskutieren wollen; und auf der anderen die, die betonen, dass dadurch die ganze Dynamik der Bewegung schief wird. Oder mit den Worten des französischen Philosophen Jacques Rancière (2002): Die einen sehen sich auf der Seite des wirklich »Politischen«, das darin besteht, den Diskurs der Machthabenden radikal zu durchbrechen, die anderen auf der Seite des »Polizeilichen«, das die Ordnung vor allem verbessern will. Zwei Bedürfnisse zeigen sich: das danach, zu verstehen, wie eine Null-Emissions-Gesellschaft 2030 konkret aussehen könnte; und das nach der Dynamik wirklicher Veränderung. Am Mittwochvormittag spitzt sich die Lage weiter zu. Es soll im Plenarsaal mit den hunderten von Jugendlichen und der versammelten Presse zu einer Abstimmung kommen. Für die einen ist die Situation abstrus. Sie wollen nicht abstimmen, denn sie sind nicht für oder gegen die spezifischen Forderungen, etwa nach einer Null-Emissions-Gesellschaft 2030 mit vorwiegend vegetabiler statt animalischer Ernährung, mit einem Preis für Kohlendioxid-Ausstoß, ohne Subventionen für fossile Infrastruktur und so weiter; das finden sie alles richtig. Sie sind nur dagegen, dass überhaupt solche Forderungen just im Namen von FFF gestellt werden. Sie finden die Forderungen selbst richtig, die meisten, aber das Stellen von Forderungen falsch. Wie soll man sich in einer solchen Situation verhalten? Sie ziehen sich schlicht zurück, markieren dadurch, dass etwas hier nicht stimmt, und zwingen das Plenum in eine verfrühte Mittagspause. Gegen außen mag diese heikle Situation als merkwürdig erscheinen. Selten sind so übereinstimmende Menschen in einem Raum gewesen, bis in die Details hinein: Anfang 2030er Jahre würde als Datum für die letzten Emissionen gelten, nicht etwa 2035 oder 2045 wie die schwedische oder 2050 wie die Schweizer Regierung verlangen. Das heißt, über zwölfprozentige Emissionsreduktionen in allen Sektoren müssen jetzt einsetzen (Anderson et al. 2020). Es gibt kaum einen inhaltlichen Konf likt. Die Grundprinzipien teilen die meisten Anwesenden: Die Klimaforschung muss gehört werden; die Umstellung muss sozial gerecht geschehen, lokal und global; und die Rebellion muss gewaltfrei vonstattengehen. Selbst nach einem turbulenten Jahr ist die weltgrößte Klimabewegung so geschlossen in der inhaltlichen und wertemäßigen Ausrichtung wie man als Bewegung nur sein kann. Die Jugendbewegung hat gerade darin eine unglaubliche Kraft, die in den Universitätsräumen für uns Wissenschaftler_innen sichtbar wird. Das einzige, was Diskussionen erzwingt, ist eben die strategische Ausrichtung: wie dem beizukommen ist, was jetzt alles
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lahmlegt, die Mont-Pèlerin-Ideologie und Gesellschaftsstruktur. Die einen sind der Meinung, dass einen Forderungskatalog zu verabschieden bedeuten würde, sich in den etablierten politischen Diskurs einzuklinken und das ganze Potential der Streikbewegung einzubüßen, die sich ja gegen und an die wendet, die regieren; diese müssen sich ändern. Und nur weil diese Adressierung möglich ist, können sich überhaupt Millionen mit der Wucht und Kraft anschließen, die FFF so von jeder anderen Umweltbewegung, NGO und Jungpartei unterscheidet. Das Schwierige in diesen Stunden im Lausanner Audimax ist nur, dass den meisten im Saal diese Alternative gar nicht ganz klar zu sein scheint, so stark sind die meisten mit dem Druck von Erwachsenen konfrontiert in ihren Ländern, mit Lösungen zu kommen; als 15-Jährige. Das bringen die Erwachsenen eben nicht auf die Reihe, denke ich, hinten bei den Wissenschaftler_innen im Saal sitzend, dass sie den Kindern das abnehmen: einen durchdachten, global-lokalen Entwurf vorzulegen, der alle Sektoren und die Wirtschaftsweise abdeckt. Sie fordern lieber von Kindern einen Forderungskatalog und weisen dann auf kleine Fehler hin oder schließen faule Kompromisse. Und so geraten diese Jugendlichen in eine unmögliche Doppelsituation. Sie müssen zugleich durch zivilen Ungehorsam überhaupt den Status quo durchbrechen; die Regierungen als fahrlässige Pyromane hinstellen; die Notbremse ziehen – und zugleich auch ausarbeiten, was an die Stelle dieser fossilen Gesellschaft treten sollte. Die Spannung, die an diesem Dienstag und Mittwoch in der ersten Augustwoche im Saal der Universität Lausanne liegt, rührt von einem Versagen meiner Generation, denke ich, nicht nur von einem Konf likt der 15-Jährigen. Dieser ist nur ein Symptom eines gesellschaftlichen Schweigens, für das sie nichts können. Wir Erwachsenen müssen endlich agieren. Die Situation spitzt sich zu. Wie soll es weitergehen? Die einen sind enttäuscht, haben sie doch monatelang an diesen Forderungen gearbeitet. Es wird zwei Uhr, alle 400 Teilnehmenden finden sich vor dem Plenarsaal ein, aber nur die Strategiegruppe von etwa 30 wird hineingelassen. Die beiden Gruppen verhärten sich immer mehr in ihren Positionen. Irgendwelche »Facilitatoren« werden von außen hinzugeholt. Und plötzlich, wie in einem Film, sitzen sie da, vorne auf der Bühne versammelt: all diejenigen, die in einer Tour de Force die Jugendbewegung geschaffen und miteinander fast täglich gesprochen haben in den letzten acht Monaten. Eigentlich sollten sie über das Stoppelfeld tollen, denke ich, alle zusammen, doch das haben wir Erwachsene ihnen mit der ausbleibenden Politik verbaut. Und so stehen sie da, auf der Bühne, und
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schwingen politische Reden, die das Wesen der Demokratie beschwören, Machtverteilung, politische Strategie und die gemeinsame Zukunft, wie jüngere und weibliche Doppelgänger_innen von Robespierre und Danton während der französischen Revolution. Eine Demokratisierung der Strukturen wäre sicher eine gute Idee. Darauf können sie sich einigen.
Eigentlich werden zwei Probleme auf einmal verhandelt: Auf der Oberf läche geht es um den Forderungskatalog mit politischen spezifischen Lösungen; in der Tiefe um demokratische Entscheidungsstrukturen, oder eigentlich, viel einfacher und zentraler: darum, dass alle, die hunderttausenden von Jugendlichen, das Gefühl haben, Relevantes beitragen zu können und als solche von allen gesehen zu werden. Wie alle einbeziehen, und doch den Kompass behalten? Die Konferenz einigt sich darauf, die Detailforderungen zur Energie-, Agrar-, Wirtschafts- und Transportpolitik als mögliche Wege darzustellen, die man einschlagen könnte statt als ultimative Forderungen. Beide Seiten können damit leben. Auf der einen Seite stehen diese Detailforderungen aus-
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formuliert in der »Deklaration von Lausanne«, dem ersten und lange einzigen FFF-Hauptdokument. Auf der anderen Seite kann die Bewegung endlich wieder auf das fokussieren, worum es zentral geht, den Streik, das Stoppen des Immer-weiter-so; die Rebellion. Am Freitag stehen sie alle nebeneinander, beim Streik in der Lausanner Innenstadt. Doch ich ahne, dass sich hinter dem Konf likt ein Unbehagen meldet, das einigen vielleicht gar nicht bewusst ist. Die Wunde, dass hier Kinder sich gegen die eigene Gesellschaft samt Elterngeneration auf bäumen müssen, lässt sich nicht wirklich verdecken.
Fluch und Segen der Wissenschaftler_innen – die Fakten Ein anderer Konf likt spielt sich hinter den Kulissen unter den Wissenschaftler_innen von Scientists For Future ab. Die Jugendlichen, allen voran die Schweizer_innen, hatten uns mitten in den hektischen Schlussvorbereitungen für die Konferenz gebeten, uns noch einmal in die Grundproblematik einzuarbeiten, und sie in einem kurzen Input der Strategiegruppe zu präsentieren: ob wir unsere Gesellschaft innerhalb von zehn oder 15 (rund um 2030) oder aber 30 Jahren (2050) umbauen müssen, indem wir die Emissionen stoppen, spielt eine Rolle. Wie sehen die Argumente aus? Ich recherchiere und schreibe dann eine Sammel-E-Mail, in der ich die global führenden Wissenschaftler_innen um Argumente anfrage, vor allem die, von denen ich weiß, dass sie etwas unterschiedliche Ansichten in der Frage haben. Die Antworten sind entsprechend breit gefächert, aber halten sich in einer deutlichen Spannbreite: Rund um die zwölf Jahre stehen den reicheren Ländern zu, bis sie bei »fast«-Null-Emissionen angelangt sein müssen, soll das 1,5-Grad-Erwärmungsziel nicht deutlich überschritten werden, wenn man sich an eine zentrale Berechnung des IPCC-SR1.5-Rapportes hält. Die Kriterien werden immer klarer: Die Ausgangsbasis bildet die Budgetberechnung von unter anderen Kevin Anderson (2020) samt Rahmstorf und Schellnhuber (2019), die von den allermeisten geteilt wird und mit dem IPCC SR1.5 übereinstimmt (also dem Spezialrapport zum 1,5 Grad-Ziel vom Oktober 2018). Die Idee ist wie gesagt die: Es gibt ein Budget, eine Menge an Kohlendioxid (samt Äquivalente), die wir ausstoßen dürfen, wenn die Erde sich nicht über 1,5 Grad erwärmen soll, weil es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen CO₂Ausstoß und Erderwärmung. Das sind wie gesagt Anfang 2018, und da gibt es natürlich eine gewisse Unschärfe in den Berechnungen, ungefähr 420 Gi-
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ga-Tonnen CO₂; so sagt es die UNO gemäß dem Szenario 1 des IPCC-Rapportes (Abbildung 5). Und zurzeit stoßen wir etwa 45 bis 50 Giga-Tonnen pro Jahr aus. Die Klima-Prognosen der letzten 40 Jahre stimmen fast unfassbar genau. Wenn wir so weitermachen, verbrauchen wir alles Öl, alle Kohle und alles Gas, die wir je ausstoßen dürfen, in acht Jahren, wollen wir die 1,5 Grad Erwärmung nicht überschreiten. Für immer. Deswegen muss die ganze Welt bald Null-Emissionen erreichen, spätestens gegen 2040, so Schellnhuber vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (2017): Also müssen die Emissionen bei uns in Europa mit über zwölf Prozent zurückgehen, ab sofort. Abbildung 5: Der IPCC-SR1.5-Sonderbericht vom Oktober 2018
Table 2.2 from Rogelj, J., D. Shindell, K. Jiang, S. Fifita, P. Forster, V. Ginzburg, C. Handa, H. Kheshgi, S. Kobayashi, E. Kriegler, L. Mundaca, R. Séférian, and M. V. Vilariño, 2018: Mitigation Pathways Compatible with 1.5 °C in the Context of Sustainable Development. In: Global Warming of 1.5 °C. An IPCC Special Report on the impacts of global warming of 1.5 °C above pre-industrial levels and related global greenhouse gas emission pathways, in the context of strengthening the global response to the threat of climate change, sustainable development, and ef forts to eradicate poverty [Masson-Delmotte, V., P. Zhai, H.-O. Pörtner, D. Roberts, J. Skea, P. R. Shukla, A. Pirani, W. Moufouma-Okia, C. Péan, R. Pidcock, S. Connors, J. B. R. Matthews, Y. Chen, X. Zhou, M. I. Gomis, E. Lonnoy, T. Maycock, M. Tignor, and T. Waterfield (eds.)]. In Press.
Am Mittwochmorgen verschiebt sich meine Präsentation immer und immer wieder, die Temperaturen in den Universitätsräumen sind nicht auszuhalten, es ist weit über 30 Grad, und die Strategiegruppe wird noch einmal
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in kleinere Gruppen aufgeteilt. Meine Einstellung ist die: Ich versuche, die wissenschaftliche Lage und die Debatten so verständlich wie möglich, aber nicht unterkomplex darzustellen, und mich dann zurückzuziehen. Ich habe mit dem Entscheid der Jugendlichen für die mögliche Ausrichtung der FFFBewegung nichts zu tun. Diese Linie habe ich seit dem ersten Streiktag im letzten August verfolgt und will ihr treu bleiben. Wir Erwachsenen können nicht für sie entscheiden, sie nicht einmal »beraten«, wie dies einige Wissenschaftler_innen nennen, und zu meiner Sorge mehr und mehr vor allem in Deutschland auch praktizieren. Wir können nur auf ihre Fragen eingehen, die Forschungslage schildern – und zwar unter Berücksichtigung der Perspektiven, die für sie am wichtigsten sind, möglichst vielfältig und transparent. Den Kompass müssen sie sich schon selbst vorgeben. Der wissenschaftliche Disput in den Antwortschreiben aller Professor_ innen rund um das Null-Emissions-Jahr 2030/35 oder 2050 für europäische Länder entspinnt sich um folgende Fragen: Wie viel Prozent »Risiko« ist man bereit in Kauf zu nehmen; also genauer gesagt, folgt man dem 67-Prozentoder dem 50-Prozent-Szenario des IPCC SR1.5? »Risiko« ist jedoch ein missweisender Begriff, geht es doch eher um die Unschärfe in der Berechnung der Korrelation zwischen Erwärmung und Emissionen (dazu MacDougall et al. 2017). Die zweite Frage ist noch umstrittener: Was heißt soziale Gerechtigkeit genau, oder, wie es im Pariser Abkommen heißt, »Equity«, also Fairness? Wie sollen wir diese wissenschaftlich berechnen? Die europäischen Länder, vor allem die westeuropäischen (die sogenannte II-Gruppe) kann aus Gerechtigkeitsgründen als reicher Kontinent, der außerdem bereits historisch für ein unproportionales Ausmaß an Emissionen verantwortlich ist, nicht gleich viel vom globalen Emissions-Kuchen haben wie die ärmeren Länder (hinzu kommt das koloniale Erbe). Die Schweizer_innen legen extra Wert darauf, dass wir auch innerhalb von Europa noch einmal unterschiedliche Maßstäbe anlegen müssen, nicht dass ärmere osteuropäische Länder benachteiligt werden. Ein berühmter Wissenschaftler schreibt in den E-Mailantworten, die bei uns eingehen, die Abwägungen dazu seien nicht naturwissenschaftlicher, sondern ethischer Natur, und deswegen nicht wissenschaftlich beantwortbar. Andere Forscher_innen protestieren und verweisen darauf, dass man auch Fragen nach Gerechtigkeit und Fairness wissenschaftlich angehen kann. Das muss sich ändern, denke ich in der Lausanner Hitze; dass Naturwissenschaftler_innen Ethik und politische Philosophie gar nicht als Teil ihrer Universitäten sehen.
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Auch die dritte Frage führt unter den Wissenschaftler_innen zu Kontroversen: Sollen die Jugendlichen so etwas wie politische Durchführbarkeit berücksichtigen, wie einige fordern? Das Argument ist: Bei der Erwähnung von zwölf bis 15 Prozent jährlichen Emissionsreduktionen oder der Jahreszahl 2030/5 als Null-Emissions-Ziel werden viele rufen, dass dies nicht »realistisch« sei. Man müsste die Produktion neuer Diesel- und Benzinautos schnell stoppen, auch das Ersetzen von Öl- durch Gasheizungen nicht erlauben, die Fleischproduktion sofort jedes Jahr um zehn Prozent eindämmen, vom Zement auf Holz als Baustoff umstellen, und so weiter. Deswegen müsse man auf 2040 ausweichen, schreiben einige. Auch da zeichnen sich verschiedene Meinungen in den Antwort-E-Mails ab. Ich gehe deswegen noch einmal Gretas Reden durch und sehe ein, dass sie diese drei Fragen klar beantwortet, von Anfang an: Wir können nicht mit der Zukunft der Menschheit spielen, also kein allzu großes Risiko eingehen. Wir müssen »Equity«, also Fairness, wirklich einrechnen und als westeuropäische Länder mehr Verantwortung tragen bei der globalen Transformation der Energiesysteme und der Wirtschaft. Und wir können nicht im Vorhinein sagen, dass etwas politisch zu anspruchsvoll sei, sondern wir müssen uns an das halten, was wirklich gebraucht wird, um nicht ganze Länder einer unerträglichen Hitze auszusetzen und Millionen von Menschen in die Flucht zu treiben; und die Überschwemmungskatastrophen, die es jetzt schon gibt, zu verhindern. Wenn man so argumentiert, landet man bei den zwölf bis 15 Prozent Emissionsreduktionen pro Jahr in den reicheren Ländern (Anderson et al. 2020). Zusätzlich müssten europäische Länder massiv in die grüne sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltige Transformation der ärmeren Länder einzahlen, weit über das hinaus, was bisher angedacht ist (dazu civilsocietyreview.org). Anders gesagt: Die Schweizer_innen, die laut dem Schweizer Bundesamt für Statistik etwa 14 Tonnen CO₂ pro Jahr ausstoßen, müssen innerhalb weniger Jahre einen Richtwert von 1,5 Tonnen erreichen, der weltweit gerecht erscheint. Aber wie um Himmels willen, fragen die Jugendlichen nach, kommen dann ihre Regierungen darauf, ihre ganze Politik, alles, von Landwirtschaft bis Transport auf ein »Netto-Null-Emissions-Ziel 2050« auszurichten, also mit 20 Jahren Verspätung, und das heißt, mit einem Vielfachen des Emissions-Budgets, das zu vielleicht dreigradiger Erwärmung führt? Nun, antworten die Scientists: Sie nehmen enorme »Risiken« in Kauf; sie vernachlässigen mehr oder weniger ganz den Gerechtigkeits- und »Equity«-Aspekt
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des Pariser Abkommens; aber vor allem halten sie sich gar nicht an das sogenannte Szenario 1 des UNO-Berichtes IPCC SR1.5. Stattdessen nennen sie Zahlen, die nur zustande kommen, weil in deren Berechnung riesige Mengen an sogenannten Negativ-Emissionen eingerechnet sind, also zukünftige Verfahren, mithilfe derer durch enorm teure und kaum vorhandene Technik das Kohlendioxid wieder aus der Luft eingefangen werden soll. Deswegen sprechen alle von »Netto-Null«: Die Summe von zu vielen Treibhausgasen und den negativen soll Null sein. (Es gibt auch »natürliche« negative Emissions-Mittel wie die Aufforstung von Wäldern, gegen die niemand etwas einzuwenden hat.) Es ist, wie wenn die Regierungen eine Kläranlage für das Trinkwasser bauen und sagen: Wir bauen die Anlage so, dass 30 Prozent der giftigen Partikel passiert, aber wir werden sie danach im Trinkwasser wieder auffangen. Mit einer famosen Technologie. Die es kaum gibt. Wie die Schülerin Leonie Bremer von FFF nach einer Diskussion mit dem deutschen Wirtschaftsminister Altmaier sagt: Die Regierungen verfehlen nicht nur Jahr um Jahr drastisch die selbstgesteckten Klimaziele. Diese Klimaziele selbst sind absichtlich schief gesteckt; und das ist das viel größere Problem. Unsere scheinbar demokratisch agierenden Regierungen hören gegen jedes demokratische Prinzip nicht auf die Wissenschaft. Und weil es Regierungen sind, braucht es viel, bis die Bevölkerung solche Ziele hinterfragt. Aber darum geht es Greta und all den anderen hier, in Lausanne, und den 25.000 Wissenschaftler_innen an ihren Computern zuhause. Dies ist einer der entscheidenden Knackpunkte, seit Greta vor einem Jahr ihr A4-Papier mit einem Stein beschwert neben ihr berühmtes Schild gelegt und an die Passant_innen verteilt hat. Diese Argumentation scheint vernünftig zu sein, aber ich will der ganzen Arbeitsgruppe nicht zuvorkommen oder sie manipulieren, und schicke ihnen die ganze Kontroverse zu, und erläutere sie auf der Konferenz; samt möglichen Einwänden. Das wichtigste für mich ist, dass diese Zahlen überhaupt für die gesamte Bevölkerung auf den Tisch kommen und alle sehen, wie winzig das verbleibende Emissions-Budget ist. Alle Kohlekraftwerke und Ölpumpen in Deutschland, China, Amerika und Norwegen (wo zeitgleich gerade das größte Ölfeld eröffnet wird, das auf 40 Jahre Betrieb hin gebaut ist) müssten bald angehalten werden. Selbst der konservativste der Forschenden schreibt am Ende in meinen E-Mailkorrespondenzen: »Der Gehalt aller meiner Ausführungen ist der, dass wir sofort die Handbremse ziehen und drastische Maßnahmen einleiten müssen.«
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Die Temperaturen draußen vor der Universität werden wieder unerträglich warm. Ich entferne mich vom Wissenschaftsteam, nehme mir einen Plastikstuhl und setze mich mitten in das Stoppelfeld und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Wie verrückt, denke ich, dass es Leute gibt, die sich freiwillig in diese Sachverhalte vertieft und diese ganzen Zusammenhänge herausgefunden haben: den Treibhaus- und den Albedo-Effekt, den Zusammenhang zwischen Kohlendioxid-Emissionen und Erderwärmung und so weiter. Jemand könnte den Albedo-Effekt, also den Lichtstrahlungs-Spiegelungsgrad meiner Nasenspitze berechnen. Wie verrückt, denke ich noch einmal. Wie kann man diese Erfahrung der Sonne auf meiner Nasenspitze auf physikalische Prozesse verkürzen? Die Welt ist doch voll mit Geschichten, so viel reichhaltiger und magischer, als dies uns diese Naturwissenschaften suggerieren. Ich vermisse, wie so viele der Jugendlichen hier, meine Bücherwelt, meine Studierenden, die als Michel oder Ronja durch die Theaterräume in Stockholm rennen. Die Phantasie. Dieses Jahr mit der Klimabewegung ist auch ein Jahr, das uns alle auf Wesen mit einem reinen naturwissenschaftlichen Weltbild zu reduzieren droht, denke ich. Wieso folgen die Sonnenstrahlen einem Gesetz und können nicht frei durch die Luft f liegen, wie es ihnen passt! Am selben Tag teilt die nahe gelegene UNO-Außenstelle in Genf in einem zentralen »IPCC-Land«-Rapport mit (IPCC 2019): Die Weltbevölkerung muss wegen der ökologischen und Klimakrise und des Biodiversitätsverlustes im großen Ganzen sehr schnell auf vegetarische oder vegane Kost umstellen.
»Tipping Points« und »Feedback Loops« – wie steht es um die Welt? Am nächsten Tag stellen sich all diese Überlegungen schon wieder in anderem Licht dar. Roger Hallam, die Gründungsfigur von XR, ist nach Lausanne gekommen und hält ein Seminar zur Strategie von FFF und XR. Einige Monate später wird er sich ins Abseits der Klimabewegung begeben und eine eigene politische Partei gründen. In der Verzweif lung über den auf kommenden und sich bereits abzeichnenden Horror der Klimakrise gibt er ethisch für die meisten von uns inakzeptable Kommentare, in denen er die Klimakrise mit den Gräueln des Holocaustes vergleicht. Noch ist er
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eine der Figuren, auf die die meisten hören. Der Seminarraum ist riesig, so dass die Jugendlichen darin fast verloren gehen. Es ist Donnerstagvormittag und alle sind müde. Vor mir sitzt ein Teil der Münzplatzgruppe. Roger steht vorne am Pult, und starrt ins Publikum. Er ruft noch einmal in Erinnerung, wie soziale Veränderungen geschehen, und wie nicht, nach seiner soziologischen Forschung, die er für seine Doktorarbeit betrieben hatte. Was nur wenig ändert, sind Märsche, Klicks für Petitionen, Flyer und sonst was. Was in der Geschichte funktioniert hat, sind massive Störungen des Status quo, die direkt an die Regierungen gewendet sind. Das haben die Bürgerrechtsbewegungen von Martin Luther King und Rosa Parks gezeigt; die Suffragetten in der Frauenbewegung, Gandhis Aufstand, die Arbeiterbewegungen und so weiter. Wirkliche Veränderung geschieht, wenn Hauptplätze der Hauptstädte mehrere Tage durch Blockaden besetzt werden; oder wenn Kinder die Schule immer mehr bestreiken und die Ministerien anfangen, hart durchzugreifen, und so die Bevölkerung gegen sich auf bringen. Die Öffentlichkeit muss einsehen, dass man jahrzehntelang einem falschen, ungerechten Kompass gefolgt ist. Dabei geht es natürlich darum, das eigentliche Problem zu benennen, nicht einfach nur zu streiken: also die ökologische und Klimakatastrophe. Und dann fängt er noch einmal an, alle Beispiele des ökologischen Kollapses aufzuzählen, die uns durch die Arbeit der letzten Monate vertraut geworden sind. Vom unfassbar schnell vorgehenden Abschmelzen des Arktiseisschildes bis zu den Dürrekatastrophen. Nach seinem Bild ist das Risiko massiv, dass es innerhalb von 20, 30 Jahren zu einem so großen Ausfall an Ernten kommt und generell die Produktion von Nahrung weltweit so gestört wird, dass es zu riesigen sozialen Konf likten kommt, Hungersnöten und vielleicht Kriegen um die wesentlichen Ressourcen. Er malt – vereinfacht – eine Kausalkette auf: es werden Kohlekraftwerke gebaut oder in Betrieb gehalten, um unsere fossile Automobil-, Heizungs-, und Zementindustrie-Gesellschaft aufrecht zu erhalten; die Regierungen ergreifen keine wirklichen Maßnahmen; das Arktiseis schmilzt; der Jetstream schwächt sich ab; es kommt zu extremeren Dürren und Niederschlägen; das schlägt die Nahrungsproduktion aus in einigen Teilen der Welt; das Trinkwasser wird knapp; und damit beginnen sehr bald die sozialen Verteilungskonf likte. Einer seiner wichtigsten Punkte ist es, die ganze Diskussion des Emissions-Budgets in Frage zu stellen, also all die Arbeit, die wir in den vergangenen Tagen so sorgfältig präsentiert hatten (dazu Hallam 2019/1 und 2019/2).
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Wir seien, so seine These, wohl bereits über das 1,5-Grad-Ziel hinausgeschossen. Deswegen braucht es radikale Maßnahmen. Wiederum kopple ich die Wissenschafts-Community via E-Maillisten ein und lasse sie die Thesen kontrollieren. Das einstimmige Resultat dieser hunderten von Klimawissenschaftler_innen: Ja, es gibt das Problem der »commited emissions« und der Luftverschmutzung (»Aerosole«), die dafür sorgen, dass wir die bereits im System befindliche Erderwärmung nicht sehen können. Die Schätzungen gehen auseinander, ob es sich dabei um 0,2 bis 0,4 oder gar 0,8 Grad handeln könnte – desaströse Ziffern. Denn mit der bereits jetzt gemessenen Erwärmung um 1,1 Grad hätten wir dann bereits das Ziel des Pariser Abkommens passiert – selbst wenn alle fossile Infrastruktur, alle Kohlekraftwerke, alle Ölraffinerien sofort abgestellt würden, und alle Autos, Flüge, Stahl- und Zementfabriken angehalten. Aber, was noch viel verwirrender ist und worauf Roger Hallam jetzt Wert legt: Die meisten IPCC-Szenarien (auf die sich alle Regierungen stützen) nehmen weder auf die Kipppunkte noch die »Feeback Loops« acht, die bald eintreten können oder schon eingetreten sind. Zum Beispiel schmilzt der Permafrost im Norden Russlands drastisch; und das dadurch freiwerdende Methan fördert diese Dynamik. Auch darin sind sich alle Scientists, die uns antworten, einig. Vielleicht sind sie sogar schon in Gang, diese Prozesse, ohne dass wir es merken. Und sobald diese Effekte berechnet werden, scheint die Rede davon, dass wir noch so und so viele Tonnen CO₂ ausstoßen dürfen, problematisch: Es ist schon viel zu viel in der Luft, und die Gefahr von sich selbst verstärkenden Effekten ist real. Und damit das Schreckensszenario von zwei bis drei Milliarden auf der Flucht in kaum mehr als 50 Jahren (Xu et al. 2020). In meiner E-Mailbox landen einige Ausführungen von Wissenschaftler_innen wie Stefan Rahmstorf, die darauf hinweisen, dass die Angaben zu den »commited emissions« und den Aerosolen (der Luftverschmutzung) stimmen, und auch die Berechnungen auf die Erderwärmung, dass aber diese Prozesse wiederum leicht mildernde komplementäre in Gang setzen könnten (Rahmstorf 2019). Wenn also Regierungen von 2050 als Ziel reden, ignorieren sie alle diese Aspekte, die »commited emissions«, die »Tipping Points« und »Feedback Loops«; und sie rechnen riesige negative Emissionen ein mit einer teuren Technologie, die es kaum gibt; und setzen auf ein Nicht-Vorsichtigkeitsprinzip, nehmen also enorme Risiken in Kauf. Gleichzeitig verlieren bereits bei der momentanen Erwärmung von 1,1 Grad Millionen von Menschen in Bangladesch und China wegen Überschwemmungen ihr Zuhause. Dabei besteht
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Einigkeit in der Wissenschaftscommunity, dass die Keeling-Kurve eine Konzentration des Kohlendioxids in der Luft von 415 ppm anzeigt. 350 ppm gelten als halbwegs stabil für das jetzige Klima. Also müssten wir bereits jetzt massiv in die Aufforstung von Wäldern investieren, zusätzlich dazu, dass die Emissionen gestoppt werden müssen. Deswegen ist auch die Idee des »Offsetting« so unzureichend, sagen viele unserer Stockholmer Wissenschaftler_innen. Wir müssen sowieso riesige Summen in das »Rewildering«, das Bewahren und Auf blühen von Wäldern investieren. Das kann nicht als Kompensation für unseren Lebensstil kolonialistisch ausgelagert werden. Eine der Münzplatzjugendlichen legt ihren Kopf auf das Pult der Uni und seufzt. Die meisten von ihnen werden noch weitere Jahre in die Schule in Stockholm spazieren und sich vielleicht an den Freitagen auf dem Münzplatz zum Streik treffen. Sie beschäftigen diese Szenarien: Was soll man von ihnen halten? Welche Argumente gibt es? Dass plötzlich gewaltige Hungersnöte und soziale Konf likte entstehen, in wenigen Jahrzehnten, ist möglich. David Wallace-Wells hat die Forschung dazu in seinem Buch »The Uninhibatable Earth« (2019) versammelt und neue Resultate kommen laufend hinzu. Ich sitze in der Bank des Audimax’ und denke über diese Szenarien nach. Die deprimierendsten Varianten des »Hothouse«-Effektes (dazu Lynas 2020) nenne ich eigentlich kaum in den Gesprächen mit den Jugendlichen. Mir scheint auch wissenschaftlich Vorsicht geboten zu sein. Aber genau so wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass die Regierungen und Parlamente eigentlich weltweit die Bevölkerungen an der Nase herumführen, indem sie all diese Risiken nicht ernst nehmen und mit den Zahlen tricksen. Ich blättere durch Gretas Reden und Papiere. Sie hat das meiste vom ersten Tag an gesagt, das mit den Aerosolen, den negativen Emissionen, den »Feedback Loops« und Kipppunkten: dass sie alle in den Berechnungen der Regierungen fehlen. Für mich hat es ein Jahr lang gedauert, bis ich es und damit die wirkliche Dimension der Gefahren richtig verstanden habe. Die Regierungen wissen, dass sie bereits mit großer Wahrscheinlichkeit ihre eigenen Verträge, etwa das Pariser Abkommen, nicht mehr einhalten. Hier stimmt etwas Grundlegendes nicht. Angela Merkels Loblied auf die Automobilindustrie und die Nord-Stream-2-Gaspipeline fallen mir wieder ein, wie sie sie an der Münchener Sicherheitskonferenz geäußert hatte; und im gleichen Atemzug andeutete, Fridays For Future sei von russischen Geheimdiensten gesteuert. Dabei sitzen die Jugendlichen, die das Ganze organisieren, vor mir und kämpfen um ihre Zukunft.
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Fluch und Segen der Wissenschaft – der Konflikt um die Grundprinzipien der Scientists For Future Wenn einige 1.000 Kinder wegen ihres immer ausgedehnteren Schulstreiks bestraft werden, sagt Roger vorne an der Tafel, dann fangen politische Konstellationen an, sich zu verändern. Dann gibt es die Konfrontation, die zu wirklicher Veränderung führen kann; so wie es mit der Bürgerrechtsbewegung in Amerika geschehen ist. Der Kontrast könnte im Gestus nicht größer sein zu den gepf legten Konversationen, die die Scientists For Future in den E-Mail-Listen führen. Und plötzlich befällt mich wieder ein schlechtes Gefühl. Aus der kleinen Präsentation am Mittwochvormittag zu der NullEmissions-Debatte entstehen plötzlich Wellen im Gewusel des Lausanner Universitätsgebäudes. Die Wissenschaftler_innen kommen auf die Idee, den Jugendlichen während des Kongresses anzubieten, mehr Fragen an uns zu stellen – und sie dann an die Scientists For Future weiterzuleiten. Daraus entsteht ein Fragekatalog und ein Dokument, das schnell an die 80 Seiten lang ist, ein Büchlein zu den dringendsten Fachfragen der FFF-Jugendlichen zur ökologischen Krise. Und damit sind Probleme verbunden, die im Kern alle die großen Fragen unserer Zeit betreffen: Was ist Wissenschaftlichkeit; wie verhält sich Wissenschaft zu Politik; und wie sollen sich die Erwachsenen zu den Kindern und Jugendlichen verhalten? Die von den Jungen aufgeworfenen Fragen werden zuerst an die E-MailListen verschickt. Mehr und mehr Wissenschaftler_innen senden ihre Antworten zurück. Und die sind – natürlich, wie sollte es anders sein – persönlich gefärbt. Ich stutze. Einiges ist unproblematisch, einfach physikalischer Sachverhalt, wie der Mechanismus hinter dem Treibhausgasef fekt selbst, oder hinter »Tipping Points«. Aber es gibt kaum Fragen, die nicht irgendwie politisch gefärbt sind, also nicht nur politische Konsequenzen haben, sondern einen politischen Unterton. Funktioniert »zirkuläre Ökonomie«? Was müssen wir tun, um die Klimakrise zu stoppen? Und so weiter. Nicht, dass plötzlich eine politische Komponente ins Spiel kommt, ist das Problem, sondern dass die, die antworten, dies wie übergehen und einfach munter ihre eigenen persönlichen Stellungnahmen schicken: Vielleicht sollte man die Bevölkerungsmenge reduzieren; um ein Beispiel für eine Argumentation zu nehmen, die die meisten von uns für falsch oder sogar rassistisch halten; sind es doch die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung, die mehr als 50 Prozent aller Emissionen produzieren. Sie müssen ihr Verhal-
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ten ändern. Doch was sind die Kriterien, an die wir uns halten können? »So geht das nicht«, sage ich zu den anderen, die Tag und Nacht am Dokument arbeiten, und fühle mich wie ein Spielverderber. »Das ist weder wissenschaf tlich noch sinnvoll. Die Jugendlichen hier werden ja einfach mit ideologischen Annahmen überhäuft, ohne dass dies kenntlich gemacht wird.« Sie stimmen zu. Wir müssen ein Verfahren entwickeln, das dieses Problem ref lektiert. Daraus ergeben sich Fragen: Was sind eigentlich die Prinzipien, die uns Wissenschaftler_innen prägen sollen, die wir uns Scientists For Future nennen? Natürlich Wissenschaftlichkeit; jederzeit Resultate in Frage stellen; methodisch vorgehen; und so weiter. Aber es macht ja keinen Sinn, die Fragen der Jugendlichen irgendwelchen Wissenschaf tler_innen zu schicken, die nicht über die Diskussionen und Fakten zu Themen wie soziale Gerechtigkeit und Klimakrise verfügen. Was zeichnet überhaupt uns als Scientists For Future aus im Verhältnis zu unseren Kolleg_innen? Lange Diskussionen entstehen, in Lausanne, aber vor allem hinter den Kulissen in all den wissenschaftlichen Netzwerken. In Berlin und Stockholm. Diese Gespräche werden noch befeuert von einer anderen grundlegenden Entwicklung der S4F: Im März hatten sich zuerst 15.000, dann 25.000 hinter Greta und die anderen Jugendlichen gestellt und verkündet: Ihr sagt die Wahrheit (Hagedorn et al. 2019). Es stimmt: »The house is on fire«. Aber dabei lassen diese S4F es nicht bleiben. Diese Einstellung bleibt zwar die Grundlage für alles andere. Aber immer mehr entsteht das Bedürfnis der Spezialist_innen, auf ihrem Gebiet das zu formulieren, was an gesellschaftlicher Transformation angebracht wäre: also die Null-Emissions-Welt 2030/5 zu beschreiben, die sie seit langem erforschen, ein unfassbar buntes und kraftvolles Projekt. So schreiben einige ein Papier zur CO₂-Bepreisung. Andere »helfen« Jugendlichen, Forderungskataloge zu verfassen, in denen alles Mögliche vorkommt: von Gebäudesanierungen zum Bau von Windkraftwerken, von der Umstellung des Transportsektors zu nachhaltigem Landwirtschaften. Es ist Donnerstagabend und diese Diskussionen versetzen mich mehr und mehr in Panik, haben wir den Jugendlichen doch versprochen, am nächsten Tag mit Antworten zu kommen. Die einzelnen Vorschläge scheinen alle sinnvoll zu sein. Aber die Dynamik, die dahinterliegt, scheint mir suspekt und für die ganze Bewegung gefährlich. Das eine ist das Verhältnis zu den Jugendlichen. Es ist ihre Bewegung, und wir können ihnen nichts in den Mund legen. Darauf bestehe ich. Wir können Informationen geben,
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Debatten aufzeigen, informieren, aber wir sind keine Berater für Forderungskataloge. Beraten kann man Kunden oder Regierungen, nicht Kinder. Wir müssen schon selbst für das stehen, woran wir glauben; wir können es nicht den Jugendlichen unterschieben. Was aber viel wichtiger ist: Mehr und mehr ergibt sich aus dem Wust an Policyvorschlägen das schiefe Bild, wie wenn wir nur hunderte von kleinen Stellschrauben anziehen müssten, und wir würden eine Gesellschaft erreichen, die wirklich nachhaltig wäre. Das ist ja genau die Ideologie der Parteien, die seit fünf Jahren im schwedischen Parlament das Sagen haben; ohne dass sich etwas tut. Gegen deren Politik haben sich Greta und all die Anderen vor das schwedische Parlament gesetzt, weil sie gerade nicht dafür sorgt, dass die Emissionen zurückgehen, oder die Wirtschaftsweise die Biodiversität zerstört. Eigentlich scheint fast niemand von den Wissenschaftler_innen explizit so ein Bild entwerfen zu wollen: also dass es nur hunderte von Policyvorschlägen braucht, um der Klimakrise beizukommen. Es ist einfach der Effekt einer Hyperspezialisierung der Wissenschaftswelt und einer Aufteilung der Maßnahmen in Sektoren. Es fehlt das Systemische, also das Auge dafür, wie dies alles zusammenhängt, und wie es welche Schichten der Gesellschaft trifft. Die CO₂-Steuer, wie sie von S4F vorgeschlagen wird, würde Sozialhilfeempfänger_innen sozial ungerecht am härtesten treffen, rechnet uns eine Spezialistin vor. Das will keiner der in Lausanne versammelten Jugendlichen. Und so weiter. Ein systemischer Ansatz muss her. Man kann nicht politische Maßnahmen einzeln diskutieren, ohne etwa das ökonomische System als Ganzes zu betrachten: Was, wenn wir ein Grundeinkommen bräuchten, auch global, an lokale Währungen gebunden; oder etwas ganz anderes, andere Maßnahmen, die viele verschiedene Bereiche umkrempeln würden, etwa schnelle Verstaatlichungen der fossilen Industrie, die dann zurückgefahren werden könnte; oder eine Demokratisierung der Wirtschaft: dass die »care economy«, das Sich-Kümmern um Kinder und Kranke, das Ernähren und Erziehen, in den Mittelpunkt gerät; dass wir aus dem Verschleißen der Natur und von Produkten herauskommen, auf dem alles fusst; und aus den ungerechten Produktionsbedingungen? Sollen wir das alles behalten, und stattdessen Elektroautos subventionieren? Hier stimmt etwas nicht und lauert eine Gefahr für uns Spezialist_innen. Auch beschleicht mich das Gefühl – das ist vielleicht das schlimmste an der Situation –, dass sich plötzlich diese Wissenschaftler_innen gar keine Vorstellung davon machen, wie diese Gesetzesvorschläge wirklich Gehör finden sollen, und dass sie darauf auch negativ Einf luss
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haben könnten. Wieso sollten plötzlich Regierungen, die jahrzehntelang an Gesetzgebungen festgehalten haben, die vor allem den etablierten fossilen Industrien und Banken helfen, plötzlich die Forderungskataloge der Jugendlichen oder der Erwachsenen entgegennehmen und sagen: »Ah ja, danke schön, das leuchtet uns ein, wir werden jetzt diese Detailgesetzgebung durchpauken, die unsere Industrien im Grunde verändern wird«? Dieses Problem taucht in Lausanne immer dramatischer auf. Die deutschen Wissenschaftler_innen hinken ein Jahr hinter Gretas Strategieüberlegungen her. Um einen Systemwechsel und eine Rebellion kommen wir wohl nicht herum, so denken viele Jugendliche; und da tun die Wissenschaftler_innen, die plötzlich FFF Forderungskataloge unterschieben, einen Bärendienst, weil sie den Status quo bestärken.
Die Grundprinzipien für die Wissenschaft und Politik Was wir stattdessen machen sollten, denke ich, wäre einen Rahmen für eine Krisengesetzgebung abzustecken. Ich mache mich daran, eine Lösung für die Prinzipienfrage zu skizzieren. Nach tagelangem Hin und Her scheinen mir vier solche Prinzipien berechtigt. Erstens: Die oben skizzierte vorsichtige Interpretation der Emissionszahlen (IPCC SR1.5, Szenario 1 mit 420 GT im Jahr 2018) ist angebracht und stellt als Resultat der Klimaforschung eine Grundlage für alle Argumentationen dar; wir können nicht hinter die Maßstäbe der Jugendlichen zurück und müssen uns an ein »Vorsichtigkeitsprinzip« halten. Zweitens: Wir können nur die Lösungen einbeziehen, die es gibt; zukünftige noch nicht erfundene Technologien, die zu Negativ-Emissionen führen, oder das »Geoengineering« dürfen keine Rolle spielen. Drittens: Der Aspekt von sozialer Gerechtigkeit und »Equity«, der auch im Pariser Abkommen genannt wird, soll immer als Ausgangspunkt aller Argumentation dienen; auch, was die Berechnungen von Emissionskürzungen und des Umbaus der Gesellschaften anbelangt. Und dies gilt sowohl für den Aspekt historischer Gerechtigkeit, was den bisherigen Ausstoß von Treibhausgasen anbelangt, als auch die Verteilungsgerechtigkeit von Reichtum, was die Verantwortung reicherer Länder betont – die ihren Reichtum außerdem oft auf Kosten (kolonialer) Ausnutzung ärmerer Länder aufgebaut haben; und zwar zwischen Ländern und innerhalb von Gesellschaften. Viertens: Wir dürfen das Systemische nicht aus den Augen verlieren, also eine nachhaltige Gesell-
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schaft global und im Ganzen. Wir können zum Beispiel nicht einfach dogmatisch die bestehende Wirtschaftsweise voraussetzen, sondern müssen immer im Auge behalten, wie einzelne Gesetzesvorschläge mit anderen und dem ganzen System von Regeln zusammenhängen. Wir brauchen eine systemische Veränderung, weil wir ansonsten nie in zehn, 15 Jahren die wichtigsten Sektoren umgestellt haben können; kurz: wir brauchen einen anderen Rahmen. Und dieses Systemische wiederum muss den Prinzipien genügen, die eben für die Jugendlichen zentral sind: soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit, oder in den Worten meiner Vorlesungen: Wir akzeptieren keine Dominanzverhältnisse mehr (Gender, Klasse, Ethnizität, …), sondern nutzen die Transformation für eine Demokratisierung unserer Gesellschaften (siehe Anhang).
Aber, wie die Jugendlichen immer und immer wieder betonen: Alles, worauf es kurzfristig ankommt, ist überhaupt ein angemessenes Krisenbewusstsein zu wecken. Und dem stehen die Präsentation tausender Detailvorschläge von Wissenschaftler_innen im Wege, die suggerieren, dass man eigentlich alles beim Alten belassen könnte. Hinter diesem Problem steht ein viel größeres: Wie können wir die Universitäten schnell so umbauen, dass dieses systemische gesellschaftlich relevante Denken, das unser Spezialwissen der Einzeldisziplinen vereint und neu beleuchtet, möglich wird? Und auch in der Lehre müssten sämtliche Studierende aller Fächer einen Crashkurs zu die-
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sem existentiell wichtigsten Wissen erhalten. (Hunderte von auf diese Frage spezialisierte Fridays For Future-Jugendliche weltweit arbeiten in diesen Monaten in einem extra dafür eingerichteten Chat zusammen, der sich um »Climate Emergency Declarations« in Schulen und Universitäten kümmert und diese ins Curriculum einbauen will [cedamia.org].) All dies muss ich bei meinen Kolleg_innen an den Universitäten verankern, denke ich, sobald ich aus meiner Heimat wieder zurück in Stockholm bin.
Ein Streik und ein Abschied Und so geht der Sommer zu Ende. Die Münzplatzgruppe steht auf dem Lausanner Bahnhofplatz. Es geht bald los mit dem Abschlussstreik, schließlich ist es Freitag, und am Freitag streiken sie, egal, wo sie sich befinden. Wenn es nur nicht an die 30 Grad warm wäre. Am Abend zuvor steht sie auf der Aussichtsterrasse der Lausanner Kathedrale, die Stockholmer Gruppe. Sie schauen hinüber zu den französischen Alpen. Wir reden über das vergangene Jahr und was kommen wird. Einige werden bald studieren, Philosophie vielleicht oder Humangeographie, Biologie? Was wird aus ihnen werden? Es gab in den 70er und 80er Jahren vier subtile schwedische Komiker, die philosophisch waren, und unfassbar lustig, Filme gemacht, sich politisch engagiert und Lieder geschrieben haben. So ein Leben wäre nicht schlecht; darauf können wir uns einigen. Aber auch darauf, dass die Klimakrise wie ein dunkles Omen über all solchen Plänen schwebt. Mit diesen Gedanken beginnt die Abschlusskundgebung in der Lausanner Innenstadt. Greta versucht, sich so gut wie es geht vor dem enormen Maß an Sinneseindrücken zu schützen und hält sich das schwere Stockholmer Schild über den Kopf. Erst als die Hälfte der Menge schon unterwegs ist, spaziert sie los, und wir ihr nach. Und dann, mitten im Streikzug in der französischsprachigen Schar von Menschen, halten die Münzplatzjugendlichen das Transparent mit Gretas Slogan »Skolstrejk för klimatet« hoch und schreien: »Genug mit leerem Gerede, davon wird das Klima nicht besser«, was sich auf Schwedisch besser reimt. Greta schubst mich an. »He, du musst mitmachen.« Stimmt ja, ich bin Teil der schwedischen Crew, auch hier in der Schweiz, in der ich wählen darf. In drei Monaten werden die Schweizer Parlamentswahlen stattfinden, und die Medien sprechen von einem möglichen Greta-Effekt, der die Machtbalance nach Jahrzehnten verschieben könnte.
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Lange gehen sie so schwedisch johlend durch die Lausanner Straßen. Dann lassen Greta und ich als Gepäckträger die anderen weiterspazieren. Sie muss zurück zum Bahnhof, in den Hambacher Forst und dann am nächsten Tag nach Plymouth und von da aus mit dem Segelboot nach New York. Wir schlendern zurück durch die leeren Gassen. Ein Jahr ist seit den frühen Streikvormittagen vergangen, in denen alle die Ruhe genossen und sich an die Mauer des Münzplatzes gelehnt hatten. Nach einer Weile fangen wir an, uns die Ereignisse in Amerika vorzustellen. Und plötzlich katapultieren wir uns wieder zurück in die Anfangswochen, als aus allen Ländern Journalist_ innen aufgetaucht sind – und auf uns so oft wie Karikaturen ihrer nationalen Stereotype gewirkt hatten. Der Däne mit Hawaiihemd, unverständlich mit den Armen gestikulierend; der ordentliche Deutsche, der schon seit Wochen das Interview und den Termin vorbereitet hat; die Französinnen, die einfach auf gut Glück vorbeispazieren … Wir malen uns mögliche Typen in den Vereinigten Staaten aus: Werden Erdölbarone aus Texas auftauchen; New Yorker Intellektuelle? Ich schaue dem Zug nach. Möge es eine gute Reise werden. Ein besonderer Gast ist da an Bord. Und ich mache mir wieder Sorgen. Ist das nicht alles viel zu viel? Wir können es nicht zulassen, dass Kinder und Jugendliche sich genötigt sehen weit über die Grenze des Zumutbaren zu gehen, weil sie sehen, wie es um den Planeten bestellt ist, und wie die Erwachsenen nicht reagieren. Wir müssen diese Arbeit übernehmen. Da treffen die Twitter-Nachrichten von den Freitagsstreiks ein, wie es in diesen Monaten jede Woche geschieht: Hunderte Gruppen von Jugendlichen sind zu sehen in Japan, in Bangladesch, Kenia, Sierra Leone, den Philippinen; und es nimmt kein Ende. Und eine neue Stadt taucht auf. Lange schaue ich den Film der jungen Frauen an, die durch die Straßen von Kabul in Afghanistan gehen, hinter einem riesigen Fridays For Future-Banner. Es ist das erstaunlichste Bild, das ich je gesehen habe. Ausgerechnet Kabul. Was für eine Kraft in einem solchen Netzwerk steckt. Die europäischen Jugendlichen hier in Lausanne sind Teil einer viel mächtigeren, globalen Bewegung. Und diese steht jetzt auf.
Kapitel 3: Die Week For Future Der koordinierte Aufstand von acht Millionen Menschen weltweit »The house is on fire« – Rückkehr auf den Münzplatz Der Wald brennt. Zwei Wochen sind seit dem Treffen in Lausanne vergangen. Es ist Ende August 2019. Der Amazonas Regenwald steht in Flammen, während Greta im Boot über die Strömungen des Golfstroms segelt. Unzählige Feuer wüten und zerstören die Lunge der Welt. Die Tundra in Sibirien brennt. Die Arktis. Brennt. Der Orkan Dorian zerstört die Bahamasinsel komplett und dreht kurz vor Florida um. Miami wird noch einmal verschont. Der Regenwald brennt, weil die Regierungen ihn brennen lassen, und weil die Europäer_innen Fleisch essen. Dazu muss der Wald gerodet werden. Pro Jahr wird eine Waldf läche weltweit abgerodet, die fast der Fläche von England entspricht. Es geht schnell. Die weltweiten CO₂Emissionen steigen unverändert an, und ein Streikjahr geht seinem Ende zu. Noch im Zug zurück nach Stockholm skizzierte ich einen Text für den dritten globalen Streik vom 20. September, der als Beginn der Week For Future schnell näherrückt. Die Vorbereitungen mit dem Designen von Plakaten und Flyern laufen schon. Einige Jugendliche diskutieren mit den Gewerkschaften. Der 27. September, der Abschlusstag der Woche, soll ja ein wirklicher Streik werden, an dem alle Erwachsenen teilnehmen, eine neue intergenerationale Zusammenarbeit entsteht. Manchmal gehe ich in den folgenden Wochen an den Freitagen ganz früh auf den Münzplatz, noch vor acht Uhr, spreche kurz mit dem Personal des Parlamentsgebäudes und sehe den Wachen vor dem königlichen Schloss zu. Wir Erwachsenen werden bald unseren eigenen Streik auf der anderen Seite der Brücke organisieren, direkt vor dem Wohnsitz des Premierministers. Ich skizziere die Rede. Der Text soll an die schwedische Öffentlichkeit ge-
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richtet sein und lautet etwa so: »In der ersten Woche habe ich Greta auf dem Münzplatz besucht und gefragt, was sie sagen will. Behandelt die Krise wie eine Krise, sagte sie. Seither habe ich in 52 Wochen gesehen, wie sich zehn Jugendliche hingesetzt haben, um für uns alle ein würdiges Leben auf einem lebendigen Planeten zu ermöglichen. Aber vor allem konnte ich sehen, wie sie aufgestanden sind, mutig. Sie haben Vorlesungen gehalten, globale Streiks organisiert und ein weltweites Netzwerk aufgebaut. Und ich konnte Woche um Woche die Reaktion der Erwachsenen sehen. Die Skepsis. Den Hass. Die Neugierde. Das Lob und das Klopfen auf die Schultern. Gut macht ihr das. Und genau hier stimmt etwas nicht, etwas ganz Grundlegendes. Wir müssen uns ändern. Wir sind es ja, die Erwachsenen, denen sie sagen, dass wir ihre Zukunft kaputt machen, täglich, indem wir einfach weiter so machen wie bisher. Da können wir ihnen nicht auf den Kopf tätscheln. Wir müssen es ihnen gleichtun und uns zusammenraufen. Und endlich die Verantwortung übernehmen. In wenigen Jahren werden wir diese Gesellschaften umgebaut haben. Keine Emissionen mehr, die nicht von den Wäldern kompensiert werden könnten. Vom Bauen zum Transport, von der Ernährung bis zur Energie. Für alle gibt es genug zu tun. Alle werden benötigt, und wir bauen eine globale Solidarität auf. Die Jugendlichen von FFF haben immer gesagt: Dazu braucht es Strukturen mit sozialer Gerechtigkeit, Sicherheit für alle in diesem Umbruchsprojekt. Jetzt ist es an uns, auf sie zu hören.«
Die Week For Future vom 20. bis 28. September Und so beginnt die Week For Future. Am Freitagmorgen sitzen sie wieder da, wie vor genau einem Jahr, die, die sich als erste dem Streik angeschlossen hatten. Ohne Greta. Kein Schild wird um die Ecke kommen; es befindet sich in New York. Doch noch etwas fehlt. Manchmal hat man das Gefühl, dass eine Vorbereitung fast abgeschlossen ist, ein Fest, eine Theatervorstellung, irgendetwas wird bald kommen, und man hat das vergessen, was den Kern des ganzen ausmacht. Irgendetwas fehlt. Es ist der 27. September, ein wunderschöner Herbsttag im Stadtpark Kungsträdgården, blauer Himmel, die Blätter der Bäume schon leicht verfärbt, kühl, aber nicht kalt. Die ersten Scientists For Future stehen herum und versuchen, ihre Frage-Antwort-Pappschilder an den Laternen festzukleben. Ich schaue auf die riesige Bühne und verfalle ins Grübeln. Was kann es
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sein? Irgendetwas fehlt. Ich schau mir den Ablauf der 60 Minuten Bühnenshow an, die die Jugendlichen zusammengestellt haben und durch die sie führen. Zuerst kommt die Nachhaltigkeitsforscherin Line Gordon dran, die Vorsteherin des Stockholm Resilience Centre. Dann die samische Sängerin und Aktivistin Sara-Elvira von der indigenen Bevölkerung aus Nordschweden. Diese hat die Klimaveränderung viel stärker zu spüren bekommen als wir dies hier in der Hauptstadt tun. Ihre Vegetation ändert sich sehr schnell, sehr drastisch, und damit auch die Einkommensmöglichkeiten, die Kultur, das Zusammenleben. Der Gesang hat etwas Magisches. Dann ein Rapper aus dem südlichen Vorort von Stockholm, schließlich sieben Vorstehende von verschiedenen Religionen, dann eine weitere Band, die Jugendlichen mit ihrer Rede und am Ende Robyn, die weltberühmte Musikerin.
Langsam spaziere ich an der Bühne vorbei, über die Brücke, die wir damals mit Extinction Rebellion blockiert hatten, vor einem Jahr, und am Schloss vorbei zum Platz hoch, von wo aus wir hinunter zum Kungsträdgården marschieren werden, am Münzplatz vorbei. Einige der Jugendlichen kommen mir entgegen und gehen zum Soundcheck weiter. Isabelle und Tindra stehen bereits auf dem Platz und warten auf die ersten Interviews. Andere kommen dazu. Die Stunden f liegen vorbei. Letzte Vorbereitungen. Gelbe Westen für uns, die den Marsch absichern sollen. Wasser holen. Und immer dieses Gefühl, dass etwas fehlt.
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Die Week For Future geht an diesem Tag zu Ende und sie ist bereits ein riesiger Erfolg, zahlenmäßig. In Deutschland sind 1,4 Millionen Menschen auf die Straße gegangen, bereits am vergangenen Freitag. Meine Skepsis gegenüber all den NGOs ist nicht ganz verschwunden, aber die Grundidee eines gemeinsamen »movements of movements« hat Früchte getragen und kann ausgebaut werden. Die Jugendlichen haben neue Poster gemalt, knallgelbe, die überall in der Stadt hängen. Ich hatte alle Rektor_innen der schwedischen Universitäten angeschrieben und diesen offenen Brief in der Zeitschrift ETC veröffentlicht. Darin fordere ich die akademische Welt auf, sich dem Streik anzuschließen und die Ausbildungen zu ändern, die Klimakrise wirklich ernst zu nehmen, die Didaktik und den Inhalt der Ausbildungen umzustellen, aller Fächer, von Architektur bis Ökonomie. Immerhin antworten die meisten Rektor_innen persönlich, mit einer ähnlichen Argumentation wie die Gewerkschaften, dass sie den Streiktag unterstützen, aber nicht zum Streik aufrufen wollen. Dieser Teil der Erwachsenenwelt versteht noch nicht, wie er agieren könnte, sollte, denke ich verärgert. Es fehlt an Informationen zur Krisensituation und an Einsichten in Handlungsmöglichkeiten. Die Menschen, die die Gewerkschaften und Universitäten leiten, müssten ihre Verantwortung sehen. Es geht um sichere Arbeitsplätze, um ein Aufwachen der Forschungsinstitutionen; und um Mut, das anzupacken, was getan werden muss.
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Und schließlich geht es los, ein Grüppchen nach dem anderen aus den verschiedensten Teilen der Stockholmer Bevölkerung sammelt sich. Klein und groß, jung und alt, mit all ihren bunten Schildern. Der Marsch beginnt. Als wir an der Spitze des Umzuges um die Ecke biegen und vom Mälarsee aus auf den Münzplatz zugehen, den wir auf dem Weg zum Kungsträdgården passieren, sind es um die 50–60.000, die hinter den Jugendlichen herlaufen. Es ist die größte politische Veranstaltung Schwedens seit den Irakkriegsdemos, eine der größten der gesamten Nachkriegszeit. Es kommen immer und immer mehr, spazieren über die Slussenbrücke in die Altstadt, eine Schlange, die nicht auf hören will.
Wir stehen hinter der Bühne und schauen uns an. »Was haben wir gemacht?«, ruft Ell eins ums andere Mal. Das Merkwürdige an der Situation ist, dass es sich um eine so kleine Gruppe handelt, die alles in den letzten Wochen organisiert hat, ein mittlerweile eingeschworenes Team, das die drei globalen Streiks auf die Beine gestellt hat. Ohne Budget. Die Kosten belaufen sich auf ungefähr 7.000 Euro, für den Marsch und ein 90-minütiges Bühnenprogramm vor 60.000 Menschen. Die Jugendlichen haben ein Crowdfunding gestartet und die größten NGOs übernehmen je ungefähr Kosten zu 1.500 Euro, die in ihren Jahresrechnungen als Miniposten untergehen. Wie viele Nachmittage und Abende haben sie nicht im Greenpeace-Lokal vebracht; so auch am Montag vor dem Riesenstreik. Sie sehen Greta zu, wie sie auf die Bühne des UNO-Gebäu-
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des in New York geht und ihre »How dare you«-Rede anfängt. Und obwohl tausende von Kilometern zwischen ihnen liegen, ist es spürbar, dass es eine von ihnen ist, die sich da mit Verzweif lung in der Stimme an die passiven Regierungen wendet. Eine unendliche Betroffenheit und Trauer machen sich breit. Wie gut, dass sie einander haben, denke ich, als sie sich noch weit in den Abend hinein trösten und gleichzeitig an den Pressemitteilungen weiterschreiben.
Die Stunden am Freitag in Stockholm mit den Tausenden von Menschen werden magisch. Die Reden, der Gesang, der Tanz und die Musik. Die Stimmung ist heiter, friedlich, aber auch voll von Erwartung. Die Welt kann sich ändern. Und doch fehlt etwas. Greta und Svante schicken eine Nachricht, dass sie den Marsch gerade in Amerika live in den sozialen Medien verfolgen und haben genauere Angaben zu den Teilnehmenden als wir selbst vor Ort. Sie werden fünf Stunden später vor 500.000 Menschen den Marsch in Montreal anführen. Eine halbe Million in einer Vier-Millionen-Stadt. Die Bevölkerungen geben in tausenden von Städten den Regierungen ein Signal, das deutlicher kaum sein kann. Wir akzeptieren euer Zögern nicht mehr. Wir sind bereit für eine Transformation unserer Gesellschaften. Wir streiken, verlassen unsere Arbeitsplätze und schließen uns zusammen. Insgesamt werden es sieben bis acht Millionen Menschen werden, die sich an den beiden Freitagen auf die Straßen machen, in über 160 Ländern. Zum ersten
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Mal an 30 Orten in Russland. Ich bin verantwortlich dafür, den Jugendlichen immer wieder die Neuigkeiten aus der Welt mitzuteilen, wie beim ersten globalen Streik im März, damit sie sie von der Bühne weitergeben können. Nur sind es jetzt viel mehr Orte. Allein in Bangladesch sind es unzählige, die auf meinem Twitternetzwerk auftauchen. Der Streik beginnt wiederum in Wellington in Neuseeland, als es bei uns tiefe Nacht ist, und kommt näher, über Indien und Nigeria zu uns nach Stockholm. In Bern steht am Tag danach Loukina Tille vor fast 100.000 Menschen auf der Bühne und verspricht, dass es 2020 erst so richtig losgeht; im Mai soll es zu einem richtigen Generalstreik kommen. Und ich ahne, was gefehlt hat. In Loukinas Stimme wird etwas deutlich. Und plötzlich rasen zwei der jugendlichen Rednerinnen an mir vorbei. Isabelle sagt noch: Ich bin nervös. Du kannst das! Dann gehen sie raus, verlassen den Schatten des kleinen Bühnenhäuschens und stellen sich vorne an die Rampe, vor die Stockholmer_innen.
Ihre Rede fängt an. Und eine enorme Erleichterung setzt bei mir ein. Es hätte so leicht ein schöner Tag werden können, ein magischer Tag, ein Woodstocktag, eine 68er Atmosphäre. Doch hier stehen sie und getrauen sich, mit der ganzen Wut, die immer noch in ihnen steckt, direkt die Politiker_innen
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anzusprechen. Ihr müsst die Politik ändern, euer Agieren ist falsch, ein Betrug. Wir werden nicht gehen. Immer heftiger wird ihre Rede, immer deutlicher werden sie. »Das ist keine Demonstration. Das ist ein Streik. Eine Rebellion. Wir werden dafür sorgen, dass ihr unsere Gesellschaften umbaut. Wir akzeptieren nicht, dass ihr an diesen falschen Regeln festhaltet.« In dieser Wut und dem Mut steckt das Magische, das vorher eine Stunde lang den Rest geprägt hat, denke ich. Die Liebe zu den merkwürdigen Geschöpfen, die herumstolpern auf diesem Planeten.
Doch in den Tagen danach antworten die Regierungen und Machthabenden der Welt, auch die in Schweden, mit völligem Schweigen. Es ist, als ob nichts geschehen wäre, als ob sich nicht die Hauptstadt an einem gewöhnlichen Freitag in einen einzigen riesigen Protestmarsch verwandelt hätte. Der Münzplatz fühlt sich in den folgenden Wochen kalt an. Das liegt nicht nur am Herbst und Winter, die jetzt Einzug halten, sondern am Parlamentsgebäude, das unbewegt auf den Platz starrt, und an der Politik, die gleich bleibt. Wie können wir nicht nur mobilisieren, sondern wirklich die Änderung der Regeln herbeiführen? Doch in dieser Woche im September 2019 hat sich eine globale Klimabewegung gebildet aus allen Schichten der Bevölkerung, jung und alt, Arbeiter_innen und Studierende, in tausenden Städten der Welt, die ein gemeinsames Ziel gefunden hat. Millionen von Kindern wird die Bedeutung der
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ökologischen und Klimakrise richtig bewusst. An mir nagen trotzdem Zweifel: War die Strategie mit den Riesenmärschen und der Zusammenarbeit mit den NGOs die beste? Vielleicht braucht die globale Bewegung eine andere Form und einen inhaltlichen Rahmen? Zwei Aufgaben zeichnen sich ab: Wie die Kontinuität der gemeinsamen Bewegung herstellen, auch zwischen diesen »Riesenevents«, und so, dass der globale Süden mit die Leitung übernehmen kann? Und: Wie zu gemeinsamen Forderungen finden, einem politischen Rahmenwerk, hinter das sich die Weltbevölkerung kontinuierlich und vereint stellen kann?
Bei den nationalen Wahlen in der Schweiz vom 20. Oktober gewinnt die grüne Partei so viele Sitze im Parlament hinzu wie es noch keiner Partei in der Schweizer Geschichte gelungen ist. Auch die grünliberale Partei legt mehrere Prozentpunkte zu. Hingegen büßen die Sozialdemokraten ein, ebenso wie die Schweizer Volkspartei. Die Medien sprechen von einem grünen Erdrutsch und einer Greta-Wahl. Die rechts-bürgerliche Mehrheit im Parlament wird durch eine Grün-Mitte-Mehrheit abgelöst. Gleichzeitig brennen in Kalifornien und Australien die Wälder wie noch nie in der Geschichte. Venedig steht unter Wasser.
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Kapitel 4: COP25 in Madrid Die Aufgabe einer vereinten Bewegung Eine Umkehr Es ist ein kühler Freitag im Oktober. Wir stehen auf dem Münzplatz herum, als Andrea Herrera zu uns stößt. Sie hilft oft den Streikenden und gehört zur Kerngruppe der Streikorganisation. Schaut euch diese Videos aus Chile an, sagt sie, dem Land, in dem viele ihrer Verwandten leben. Große Teile der Bevölkerung lassen sich die enorme soziale Ungleichheit im Land nicht mehr gefallen und ziehen zu Tausenden durch die Straßen von Santiago. Sie wollen eine politische Veränderung sehen, eine Demokratisierung ihrer Gesellschaft. Gleichzeitig macht sich Greta nach ihren Streiktagen bei der indigenen Bevölkerung Nordamerikas und Kanadas nach Santiago auf – zum Klima-COP-Treffen aller Länder. Die Unruhen in Chile nehmen täglich zu. Die Regierung geht immer brutaler vor und sagt das COP-Treffen ab. Madrid springt ein. Und Greta macht sich auf den Rückweg nach Europa.
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Die globale Gruppe findet sich »Wo ist sie denn?«, f lüstern die Jugendlichen einander zu, unter ihnen Vega von der Münzplatzgruppe. Sie schaut sich in der anonymen Messehalle von Madrid um und setzt sich zu ihren etwa 50 gleichaltrigen streikenden Jugendlichen aus aller Welt auf den Boden der Eingangshalle des UNO-Klimatreffens. Es ist Dezember geworden. Draußen in den Straßen von Madrid ist die Luft mild. In den riesigen Hallen der COP25 (Conference of the Parties) sollen die Regierungen aller Länder der Welt mithilfe ihrer spezialisierten Delegationen politische Antworten auf die Klimakrise finden. Genau ein Jahr ist seit Gretas Rede in Katowice vergangen, ein Jahr, seit sie Jonas, Marie-Claire und Luisa getroffen hatte; genau zehn Jahre seit den gewaltsamen Maßnahmen gegen die Proteste durch die Polizei beim Gipfel COP15 in Kopenhagen. Aber jetzt hat sich die Situation verändert. Es stehen nicht erwachsene Aktivist_innen der Polizei gegenüber, sondern hunderte von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen den verantwortlichen Politiker_innen. Etwas Neues liegt in der Luft. Die Bewegung ist wirklich global geworden, geht mir durch den Kopf an meinem Platz zwischen Blumentopf und Abschirmband. Vor mir sitzen seit einer halben Stunde schweigend nicht nur die Europäer_innen vom Smile-Treffen vom Sommer, sondern auch Hilda und Leah aus Uganda, Fernando aus Mexiko und Kanada, Xiye aus New York und Arshak aus Russland, der zwei Wochen später wegen seines Schulstreiks in Moskau in ein Gefängnis gesperrt wird – buchstäblich Jugendliche von allen Kontinenten und Ecken des Planeten. Es sind die Gesichter, die uns auf dem Stockholmer Münzplatz im Twitterstrom so vertraut geworden sind. Viele von ihnen haben in ihren Ländern die Streikbewegungen aufgebaut, wie etwa Hilda Flavia Nakabuye aus Uganda, die in Madrid eine vielbeachtete Rede hält (Nakabuye 2019). Sie ist schon lange eine wichtige Stütze von FFF und eine der kräftigsten Stimmen in der afrikanischen Klimajugendbewegung. Und jetzt ist es Freitag, Streiktag. An ihnen sind 30 Minuten lang die Delegierten aller Nationen vorbeigegangen, oft ohne hinzusehen, vor allem auch aus den Staaten, die eine zentrale Rolle spielen in den Verhandlungen: Brasilien allen voran mit dem Bolsonaro-Regime, Australien von Premier Morrison und immer noch die USA von Trump, die an allen Ecken und Enden bremsen, obwohl sie bereits den Ausstieg aus dem Pariser Abkommen unterzeichnet haben.
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Die Konferenz dreht sich vor allem um einen Aspekt, den »Artikel 6« des Abkommens: Ein zweifelhafter Austausch von Emissionsrechten soll genauer definiert werden, durch den sich reiche Länder bei ärmeren von eigenen Emissionsreduktionen freikaufen können. Aber leider ist nicht dieser Mechanismus selbst umstritten. Was verhandelt wird, ist nur, ob sich dann beide Länder diese Reduktion zugute rechnen können – was das Pariser Ziel wohl unmöglich werden ließe, weil plötzlich viel zu viele Emissionsrechte im Umlauf wären. Insofern kann – so sagen viele Vertreter_innen der großen NGOs wie Greenpeace, Germanwatch, 350 oder Avaaz – der Gipfel gar nicht gelingen. Nur das Schlimmste eines »double-counting« kann verhindert werden. In diesem Sinn muss sich die versammelte globale Klimabewegung auch auf andere eigene Ziele besinnen. Wie kann es weitergehen? Wie können wir Kontinuität schaffen? Wenn es irgendwo Menschen gibt, junge und ältere, die ein globales politisches »one people, one planet«-Projekt verfolgen wollen, dann hier, denke ich. Sie müssen nur in den riesigen Hallen gefunden werden. Da bricht plötzlich ein Tumult aus. »Sie kommt«, f lüstern die Jugendlichen einander zu. Greta, an diesem Morgen um neun Uhr mit dem Nachtzug aus Lissabon angekommen, hat unsere Tweets gesehen, und plant, sich dem Streik anzuschließen. »He!«, ruft der New Yorker UNO-Polizist und weist bestimmt einen Journalisten zurück, der ihm sein Stativ im Krawall über den Kopf geschlagen hat. Sofort sind hunderte Journalist_innen da. Greta schlüpft unter dem Absperrband hindurch und gesellt sich zu ihren Gleichaltrigen und entkommt am Ende nur mit Mühe der enormen Schar
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von Kameras. Irgendwie landen wir, jugendliche und erwachsene Aktivist_innen, in einem Raum, der eher einem Präsidentenpalast ähnelt, mit dickem Teppich und teuren Bildern an der Wand. Wir befinden uns noch immer auf dem Messegelände, sind durch die Hallen 1 bis 10 gegangen, an den Pavillons der Länder vorbei und an dem großen Plenumssaal, in dem die Verhandlungen der Regierungen laufen; die Jugendlichen aus der ganzen Welt um uns, dahinter die Medienmeute. Ich will alles hören, was in Amerika passiert ist. Doch bald handelt das Gespräch um die Frage: Was ist der Plan für Madrid und die Weltklimakonferenz? Was passiert hier? Alle im Raum beschäftigt, dass die EU-Kommission mit Ursula von der Leyen an der Spitze einen neuen »Green Deal«, das größte EU-Projekt der nächsten Jahrzehnte, an ein Netto-Null-2050-Ziel bindet – 30 Jahre sollen die EU-Staaten weiterhin CO₂ in die Luft ausstoßen können. Der Gefahr einer drei- oder viergradigen Erwärmung des Planeten kann damit nicht begegnet werden. Und wieder zeigt sich das Problem, das sich bereits auf der COP-Konferenz in Katowice vor einem Jahr gezeigt hatte. Theoretisch könnten die Delegationen unter Rücksprache mit ihren Regierungen hier (wo und wann sonst?) die großen Lösungen entwickeln: den globalen Masterplan zum Stoppen der ökologischen und Klimakrise. Sie könnten ja wirklich die Regeln ändern, Gesetze etablieren, die die Emissionen in diesem Jahrzehnt um mehr als die Hälfte reduzieren weltweit, wie es Hans Joachim Schellnhuber und andere Forscher_innen dem IPCC folgend längst verlangen. Stattdessen sieht es so aus, wie wenn sie ansteigen würden, diese Emissionen. Norwegen hat gerade eine neue gigantische Ölplattform Johan Sverdrup in Betrieb genommen, die jahrzehntelang Öl fördern wird. Und Saudi-Arabien geht mit dem Ölgeschäft an die Börse. Aramco wird sofort die größte Firma der Welt, größer als Apple, Amazon und Microsoft. Die Delegationen in Madrid könnten sich auf einen Stopp des Baus von fossiler Infrastruktur einigen samt ihrer Finanzierung durch etwa Schweizer Banken. Und auf den Bau eines globalen erneuerbaren Energiesystems mit Hilfeleistungen der reicheren Nationen (Jacobson et al. 2019; Teske et al. 2019), das die Macht aus den Händen weniger Kapitalgesellschaften nimmt und sie an die Bevölkerungen übergibt. Und vielleicht, denke ich, vielleicht würden die Bevölkerungen aller Länder selbst, »the people«, hinter einer solchen politischen globalen Veränderung stehen, wenn sie denn gefragt würden. Da klingelt Gretas Telefon im Madrider Konferenzzentrum. Isabelle und die anderen Stockholmer_innen sind am anderen Ende. Genau gleich-
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zeitig an diesem Freitag findet nämlich in Stockholm der vierte globale Streik statt, und nun wollen die Mitstreikenden Greta live via Telefon auf der Bühne dabeihaben – diesmal nicht etwa im noblen KungsträdgårdenPark in der Mitte der Stadt, sondern im Vorort Rinkeby. Klimagerechtigkeit ist das Thema und die Gruppe hat Kontakte in die Vororte geknüpft, die in Stockholm so segregiert sind; in die reichen weißen und die ärmeren der BIPoC-Bevölkerungsschichten. Wenn wir nicht global gerecht zusammenarbeiten, wird die nachhaltige Gesellschaftsumstellung nicht gelingen, denke ich, und schaue zu den 100 Jugendlichen aus aller Welt hinüber. Auch sie, die Jugendlichen von Fridays For Future in den COP-Hallen, schmieden Pläne für die kommenden Tage und Monate. Die Welt soll sehen, dass die Jungen nicht mehr mitspielen und den Regierungsdelegationen nicht die Macht überlassen, über ihre Zukunft hinwegzugehen. Doch wie das gestalten? Eine große Aktion soll am Mittwoch nach Gretas Rede stattfinden. Tägliche Treffen finden statt. Of fizielle COP-Räume werden über das UNOSystem gebucht. Sie finden sich schnell zurecht im Gewusel der zehn Messehallen, wissen, wo es gratis Kaf fee gibt, wo die Batterien aufgeladen, die neuesten Informationen zu den Verhandlungen aufgetrieben werden können, kommunizieren rasend schnell das Neueste via WhatsApp und essen kaum etwas. Am Mittwoch hält Greta ihre Rede im großen Plenarsaal, gefüllt mit hunderten von Delegierten und Minister_innen. Kaum hat sie das Mikrofon weggelegt, kommt es zu der großen Aktion. Zum ersten Mal in der Geschichte der COP-Verhandlungen stürmen 100 Jugendliche das Podium des Plenarsaals und okkupieren es, vor den Augen aller Delegationen. Ich stehe am Rande des Saals und sehe, wie sie alle plötzlich aufstehen, sich getrauen, an den Polizist_innen vorbeizutauchen, über die Absperrung hinweg, auf die Bühne. Da fangen die ersten an, noch sehr zögernd, ihre Klimagerechtigkeitssongs anzustimmen, und nach und nach fallen mehr in die so bekannten Gesänge ein. Und so stehen sie da und machen deutlich, dass sie das nicht akzeptieren, was die unten im Saal in ihren Verhandlungen tun. Sie sind buchstäblich aufgestanden, gegen diese Regime, die ihre Zukunft bedrohen. Und werden kurz darauf von der UNO-Polizei unsanft aus dem Kongresszentrum verwiesen, zusammen mit uns Vertreter_innen der Zivilgesellschaf t. Wir versuchen, ihnen zu helfen; und planen unsere eigene Zukunf t. So eine Aktion ist sehr viel aufwändiger durchzuführen, als man denkt. Wie kommen überhaupt 100 Jugendliche in den Saal voll mit
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Minister_innen und hochrangigen Delegat_innen? Dazu werden of fizielle Tickets benötigt. Und wann sollen sie zusammen aufstehen und die Bühne einnehmen; was singen? Greta hält ja zuvor eine Rede, und es wäre Unsinn, ihre Rede zu unterbrechen, aber danach geht die Verhandlung gleich wieder los. Was tun, wenn die Polizei eingreift? Was auf der Bühne tun? Alles wird sorgfältig geplant. Noch am Abend zuvor sitze ich mit fünf, sechs anderen Erwachsenen von NGOs und der Zivilgesellschaf t in einer Bar mitten in Madrid. Eigentlich wollten wir die Zukunft der Bewegung besprechen und die Strategie für das kommende Jahr durchgehen. Wir bestellen ein Getränk und Klimagerechtigkeit, bekommen aber nur das Erstere. Febril versuchen wir, auf eine Idee zu kommen, wie wir den Jugendlichen helfen können, in den Saal zu kommen. Alle möglichen legalen und illegalen Varianten werden durchgespielt. Können wir die Tickets fälschen … Und doch trotz des Adrenalinkicks haben wir alle ein mulmiges Gefühl. Die Weltkonferenz sollte mit ihren Entscheiden die Klimaveränderung und die ökologische Krise abmildern. Beschlüsse sollten die Emissionen drastisch reduzieren und ärmere Staaten unterstützen, nicht nur beim Übergang zu erneuerbaren Energien, sondern auch bei dem, was »loss and damage« genannt wird, den Zerstörungen, die bereits jetzt Dürren und Stürme verursachen, und tausende von Menschen ins Elend stürzen. Nichts von dem ist geschehen. Am Ende droht der brasilianische Delegationsleiter sogar, das dürf tige Dokument abzulehnen, und muss sich eine Brandrede von Tuvalus Delegation anhören, bis er in letzter Sekunde einwilligt. Sämtliche inhaltlichen Knackpunkte werden auf das Meeting im nächsten Jahr in Glasgow vertagt. Plötzlich spüren wir alle, wie riesig unsere Aufgabe ist und auch wie übermächtig die fossile Industrie und die Regierungen sind, welche die Infrastruktur der fossilen Gesellschaft aufrechterhalten. Und doch, vielleicht zum ersten Mal überhaupt kommt es zu einem Zusammenschluss der gesamten zivilen Gesellschaft, getragen und angeführt von den Jugendlichen dieser Welt und den indigenen Bevölkerungen. Es geschieht in stundenlangen Gesprächen, in gemeinsamen Aktionen, in einer Atmosphäre von Einverständnis, die sich immer mehr breitmacht und uns verbindet, auch wenn es noch viele ungeklärte strategische und organisatorische Fragen gibt: Wie stark sollen politische Forderungen formuliert werden; wie sehr sollen die NGOs den Jugendlichen auch strukturell helfen, wogegen ich mich immer noch sträube. Jahrzehntelange Fehden zwischen Klimagerechtigkeitsbe-
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wegungen werden nach den Annäherungen vor dem Gipfel in Kopenhagen 2009 nun ganz beigelegt. Der gemeinsame Nenner ist dabei nicht der kleinste, sondern der maximale. Greta und ihre FFF-Freund_innen halten an ihrer Analyse fest, zusammen mit den Wissenschaftler_innen des IPCC: Wir brauchen nicht irgendwelche abstrakten Ziele von »Netto«-Null 2045 oder 2050, sondern wirkliche Maßnahmen, die sofortige zehnprozentige Reduzierungen weltweit pro Jahr garantieren. Und wirkliche globale Gerechtigkeit, konkrete Hilfe für die Menschen. Doch immer deutlicher wird die Einsicht: Dazu brauchen wir »the people«, große Teile der Weltbevölkerung, weil die Delegationen an diesen COPTreffen die Kinder und Jugendlichen und damit die zukünftigen Generationen vor allem im Stich lassen. Und zwar fast alle, nicht nur China, Brasilien und Australien, sondern selbst die, die so tun, wie wenn sie die progressivsten wären in den Hallen von Madrid. Während der Konferenz verkündet die EU unter der Leitung von Ursula von der Leyen zwar einen »Green Deal«, aber vieles bleibt diffus. Die deutsche Regierung preist ihr »Klimapaket« als Erfolg an, obwohl es nur wenig zur Reduktion der Emissionen beitragen wird. Und Schweden wird Tage später einen Klimaaktionsplan für die nächsten vier Jahre vorlegen, also das Dokument, das steuert, inwiefern die Münzplatzgruppe just vor dem schwedischen Parlament weiterstreiken muss: Garantiert es die Einhaltung des Parier Abkommens? Es wird vom offiziellen staatlich eingesetzten Beirat, dem alle wichtigen schwedischen Forschungsinstitutionen angehören, vernichtende Kritik erhalten. Aus dem Dokument geht nicht einmal hervor, ob und wie viele Treibhausgase eingespart werden. Alle diese Länder preisen sich als progressivste Akteure weltweit an. Sie entrüsten sich in Madrid über die Schurkenstaaten und behaupten, sie würden die Krise ernst nehmen. Und es ist so leicht, ihnen zu glauben, wenn man nicht bis ins Detail hinein informiert ist. Das ist das Thema von Gretas Rede vom Mittwoch, dieses »Diffus-Machen« durch die scheinbar aufgeklärtesten Regierungen. Gefragt, was sich für die Bevölkerung ändert durch diesen schwedischen »Action Plan«, fällt der Umweltspezialistin des größten Fernsehsenders TV4 nichts ein: Die gleichen Firmen werden die gleichen Autos verkaufen; die gleichen Fleischmengen; die gleichen Flugreisen; die gleichen Zementvorräte; die gleichen Finanzinstitute werden diese Geschäfte unterstützen. Das können wir nicht akzeptieren, denken wir. Da sitzen Menschen von Inselstaaten im Plenumssaal von Madrid, die buchstäblich untergehen werden während der nächsten Jahrzehnte.
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Die Rebell_innenbande verdoppelt sich – die Treaty-Idee und die drei Pfeiler der politischen Veränderung Wenn von diesen Regierungen keine Reaktion auf die Krise kommt, was haben wir für andere Möglichkeiten? Ich lasse die Jugendlichen streiken und begebe mich zu den erwachsenen Klimabewegungen. Mit in diesen Gesprächen dabei sind einmal Aktive der beiden globalen Zusammenschlüsse an Graswurzelbewegungen und NGOs: CAN, also das Climate Action Network, und DCJ, Demand Climate Justice. Dann Vertreter_innen der indigenen Bevölkerungen, etwa aus Ecuador, die vor Kurzem in der Verfassung ein Recht der Natur (gegen die Zerstörung durch Menschen) durchgesetzt haben, und schon lange dafür kämpfen, dass die Kohle im Boden bleibt und dass dies sozial gerecht geschieht. Dann die NGOs, deren Rolle auch darin besteht, direkt die Delegationen der Länder am Verhandlungstisch zu beeinf lussen, etwa als der deutsche Wirtschaf tsminister Altmaier plötzlich die Definition von »grün« oder »nachhaltig« aufweichen will, so dass auch Gas als grüne Energie gilt, als es um die Definition geht, worin der riesige »Green Fund« denn als nachhaltig investieren darf. Aber wie diese Vision einer einigen zivilgesellschaf tlichen Bewegung, die wirklich die Weltpolitik ändert, herunterbrechen in politische Wirklichkeit? Dafür bräuchte es eine globale politische Bewegung, so nach wie vor mein Gedanke; nicht eine parteipolitische, sondern eine politische im weiten Sinn des Wortes. Wen kann ich dafür gewinnen? Können wir unsere Zusammenarbeit von der Week For Future ausbauen, so dass die Kontinuität einer globalen Bewegung entsteht? Eine, hinter die sich jede und jeder, jederzeit, und überall, stellen könnte? Die kurz und prägnant für das einsteht, was ein würdiges Leben auf einem bewohnbaren Planeten garantiert? Wie eine so klare und doch deutliche Gegenerzählung kreieren, die die Regierungen als verantwortungslos gegenüber allen Jugendlichen und damit der eigenen Bevölkerung kenntlich macht? Und hinter der sich genug Menschen aller Bevölkerungen versammeln können, auch in den Zwischenzeiten, wenn gerade nicht ein globaler Streik stattfindet; jenseits von Märschen und Petitionen? Mitten in diesen Gesprächen taucht nach und nach ein Plan am Horizont auf. Es sind einzelne, die sich lose kennen, aus verschiedenen Kontinenten, mit verschiedenem Hintergrund: Forscher_innen, Aktivist_innen, Jurist_innen und so weiter, und die über große soziale (und beschränkte
Kapitel 4: COP25 in Madrid
finanzielle) Ressourcen verfügen. Und die dieselbe Idee verfolgen. Am Sonntag zwischen den beiden Konferenzwochen, es regnet mittlerweile und ist kalt, sitzen wir außerhalb des COP-Geländes in einem dunklen Theaterraum mitten in der Madrider Innenstadt. Vor mir sitzt sie: die erwachsene globale Rebell_innenbande. Einige fein gekleidet. Aber nichts desto trotz eine Rebell_innenbande. Aus allen Ländern dieser Welt, genauso wie die Jugendlichen es sind in den Messehallen. Australier_innen und Kanadier_innen sind dabei, Menschen aus Nigeria, Schweden und Ecuador. Ein zentrales Herzstück ist für diese Gruppe die Idee eines neuen »Treaty«, eines globalen Vertrages (www.fossilfueltreaty.org). Gerade ist nämlich der UNEP Production Gap-Rapport (2019) veröffentlicht worden und prägt die Pausengespräche des COP-Meetings. Er besagt: mit der jetzt bis 2030 geplanten und bereits in Bau befindlichen fossilen Infrastruktur (Ölbohrtürme, Kohlegruben etc.) ist das Pariser Abkommen unmöglich einzuhalten. Die Welt hat bereits viel mehr fossile Brennstoffe in das Energiesystem eingeplant. Und weil das Wichtige hier die absoluten Zahlen sind, ist dies nicht umkehrbar: Sind die fossilen Brennstoffe gefördert und verbrannt, wird die Temperatur ansteigen, um zwei, drei, vier Grad. Damit ist aber die entscheidende strategische Weichenstellung vorgegeben: Das Reduzieren von Emissionen genügt nicht. Das ist zentral. Und das Auf bauen neuer fossilfreier Infrastruktur auch nicht. Diese beiden Prozesse sind zwar Pfeiler der Umstellung, die beiden zentralen. Aber sie müssen um einen dritten ergänzt werden: das Stoppen des Baus der bereits geplanten und vertraglich geregelten Infrastruktur und den sofortigen Rückbau der befindlichen. Und genau dazu hat diese Gruppe eine Idee entwickelt. Was, wenn sich die Weltgesellschaft einigt auf einen
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Vertrag, der genau dem ähnelt, der zum Abbau der nuklearen Waffen geführt hat, dem »Nuclear Non-Proliferation Treaty«: ein »Fossil Fuel Non-Proliferation Treaty« (Newell/Simms 2019)? Alle Nationen, alle Regierungen verpf lichten sich dazu, die Kohle, das Gas und das Öl im Boden zu lassen; sowie zu einem gemeinsamen Stoppen und Rückbau der fossilen Infrastruktur. Und dies ist bis ins Detail skizziert von dieser Gruppe, dass es sozial gerecht geschehen kann, was die Verhältnisse in und zwischen den Ländern anbelangt. Was es jetzt braucht, ist der Druck von der Straße, so dass die Länder diesen Vertrag ratifizieren, der dies alles global regelt. Wir könnten ja kontrollieren, so die Überlegung, dass nicht mehr Kohle, Öl und Gas gefördert wird als mit dem Pariser Abkommen verträglich ist. Nur so haben wir eine geringe Chance, den folgenden Generationen überhaupt einen lebenswürdigen Planeten zu übergeben. Natürlich gibt es große Herausforderungen auf dem Weg zu einem solchen »Treaty«: Die erdöl-, gasund kohlefördernden Länder müssen ja mit im Boot sein. Und eine Kompensation für deren Vorräte im Boden ist schwer zu bezahlen. Der globale Vertrag muss deswegen so designt sein, dass er allen als gerecht und vernünftig erscheint. Aber der Gewinn ist riesig: Wir alle können davon ausgehen, dass das Gift im Boden bleibt und die Erwärmung in Schach gehalten wird. Immerhin: Die Idee ist auf dem Tisch. Und damit auch die Idee in den Köpfen der Menschen, dass das Ausbuddeln von Öl, Gas und Kohle und das Inbetriebhalten von Kohlekraftwerken und Ölfeldern dem Drücken auf den roten Knopf von Atomwaffen ähnelt. Sie sind toxisch. Ihre Herstellung muss weltweit verboten werden. Dies könnte Gretas Fokus auf die Emissions-Budgets als zentrale Idee einer globalen Bewegung komplettieren. Und dies ist nur ein Eckstein der Pläne, an denen wir an diesem Vormittag arbeiten. Wir versuchen, gemeinsam noch einmal ganz grundlegend zu verstehen, worin »die fossile Gesellschaft« eigentlich besteht, wirklich, im Grunde. Wie es möglich ist, dass etwa das Finanzsystem, die Großbanken noch immer an der Investition in fossile Industrien festhalten, wo sich diese doch eigentlich nicht mehr lohnen, weil die Sonnenenergie etwa viel günstiger ist. Und wie ist es möglich, dass in der Öffentlichkeit immer noch eine »social licence« dafür etabliert wird von gewissen Medien und der Politik? Was ist es genau, dieses System, das vor Jahrzehnten den Fokus auf die fossilen Brennstoffe mit der kapitalistischen Organisation der Wirtschaft so zusammengeschweißt hat? Und was könnte es ersetzen?
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Komponenten und Prozesse der fossilen Gesellschaft Wie funktioniert die fossile Gesellschaft? Wer beeinf lusst welche Prozesse, so dass diese auf blühen oder gestoppt werden; wer profitiert; welche Form von Herrschaft oder Dominanz und Macht werden dadurch möglich? Und wo können wir eingreifen und diese Prozesse umlenken in wirklich demokratische, von denen alle profitieren (dazu Stilwell 2019)? Auf der Ebene von Werten und Ideen: Wie können wir dafür sorgen, dass es keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr für diese fossile Gesellschaft und die dahinterliegende Energie- und Finanzindustrie gibt? Dass die Politiker_innen, die die Gesuche zur Suche nach neuen fossilen Energiequellen und deren Exploatierung akzeptieren, als verantwortungslos dastehen? Weil führende Spezialist_innen für das Verständnis des Funktionierens der fossilen Industrie im Raum sind, können wir ins Detail gehen. Wir zeichnen mithilfe der Systemtheorie das Rückgrat unserer fossilen Gesellschaft auf, und unterscheiden Komponenten auf der einen und Prozesse auf der anderen Seite, die auf diese einwirken. Da sind einmal die Komponenten: die Suche nach neuen fossilen Brennstoffen, also dem merkwürdig abgestorbenen, organischen Material tief im Boden; dann das »Bergen«, die Extraktion; das Transportieren; das Verfeinern in Raffinerien; das Exportieren und Importieren oft an Häfen; Transport und Lagerung; das Herstellen der Produkte (Benzin, Plastik …); deren Vertrieb; der Verkauf und schließlich die Konsumtion, die zur Produktion der Treibhausgase und zum Einstreichen der Gewinne führt. Zwischen diesen einzelnen Komponenten gibt es Verstärkungs- beziehungsweise Stoppmechanismen: Je mehr extrahiert wird, desto größere Transporte, desto größere Konsumtion, desto größerer Umsatz und CO₂-Emission. Auf all diese Komponenten wirken Prozesse ein: politische wie die Bewilligung der Suche, der Exploitation, der Zulassung des Baus der Infrastruktur selbst (Nord Stream/Pipelines); juridische; mediale (der Normalisierung durch die Murdoch-Presse etwa, oder Werbung für die fossilen Produkte wie Autos, Flug); und ökonomische wie das private oder öffentliche Finanzieren dieser Vorgänge und das Investieren und Spekulieren mit ihnen; und schließlich wiederum politische und ideen- und wertmäßige, die diese ökonomischen Prozesse regeln. Und hinter all dem die Sicht auf das, was als wertvoll angesehen wird. So ist die Frage, wieso Banken und sogar öffentliche Institutionen wie Universitäten, Pensionsfonds oder Zentralbanken immer noch ihr Geld in
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die fossile Industrie investieren, mehrere Billionen pro Jahr, mit der Logik verbunden, durch die Gewinne gemacht werden am Finanzmarkt. Wer diese Prozesse und die Komponenten nicht versteht, kann nur schwer zu einer Delegitimierung dieser fossilen Gesellschaft beitragen, kann nicht ihre soziale Akzeptanz in Frage stellen; und Regeln vorschlagen, die diese in Richtung einer nachhaltigen Gesellschaft ablösen und zu veränderten Prozessen führen, die nicht auf Dominanzverhältnissen beruhen, also nicht einigen wenigen Macht zuschanzen auf Kosten der Natur und der jungen Generation. In diesen Tagen publiziert die Harvard-Professorin Naomi Oreskes einen Artikel, der ihr Buch »Merchants of Doubt« (2012) weiterführt, zur schier unfassbaren Lobby-Arbeit, die diese fossile Gesellschaft mit reinen Lügen aufrechterhält, finanziert von den Konzernen wie Shell und Exxon. Was diese größten fossilen Kapitalgesellschaften, unterstützt von den Banken und der Politik – in Ländern wie der Schweiz, Deutschland und Schweden – den Lebensverhältnissen der Kinder antun, die sich in Madrid auf die Bühne stürzen, wird man wohl eines Tages als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstufen; so entwickeln sich unsere Diskussionen. Die Zeit vergeht viel zu schnell. Wir einigen uns vor allem auf den Fokus auf den globalen »NonProliferation Treaty«: Der Weltbevölkerung muss klar sein, was der UNEP Production Gap-Bericht besagt. Wir müssen die fossilen Brennstoffe im Boden lassen, weltweit. Wir skizzieren, welche Prozesse sehr schnell gestoppt werden können, und welche anderen längerfristig: Das Verbot des Baus und der Finanzierung neuer Kraftwerke, aber auch der Suche nach neuen fossilen Energieträgern und der Infrastruktur kann morgen bereits global beschlossen werden. Bis wir eine Wirtschaft am Laufen haben, die nicht mehr auf Dominanzverhältnissen basiert, gegenüber Mitmenschen und der Natur, wird es etwas länger dauern; bis 2035 muss sie weltweit etabliert sein. Dies scheint die einzige wirklich nachhaltige Art zu leben zu sein, vor allem für zehn Milliarden Zweibeiner auf diesem Planeten. Die Idee von nicht-dominanten auch sozialen Relationen muss in den Köpfen und Herzen verankert werden in einem transformierten Bildungssystem. Die, die im Raum sitzen, sind bestens vernetzt mit den weltweiten Graswurzelbewegungen, die für soziale und Klimagerechtigkeit sowie für das »keep it in the ground« schon seit Jahrzehnten vor allem auch im globalen Süden kämpfen; mit hunderten von solchen großen und kleinen Bewegungen – mit ihrer Geschichte von kolonialer Ausbeutung und von jetziger Erneuerung. Sie sind bestens vernetzt mit den weltführenden Forscher_innen
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an den Universitäten nicht nur in Bezug auf die Klimaforschung, sondern auch auf die Umweltsystemwissenschaften, die Transformationsforschung, die neuen ökonomischen Systemansätze und so weiter. Wirklich eine Rebell_innenbande mit Potential. Der Gerechtigkeitsaspekt ist dabei zentral. Was bringt es, sagen mir die Mitglieder dieser Treaty-Gruppe aus Nigeria, wenn die Jugendlichen oder andere Bewegungen für zehnprozentige Emissionsreduktionen streiken – aber in der Region gibt es gar keine Energie, die reduziert werden könnte, sondern stattdessen einen Bedarf nach grundlegender Infrastruktur? Ich erinnere mich zurück an Gretas Reden. Schon von ganz Anfang an betont sie just das: dass die ganze Streikidee und die Veränderung der Gesellschaften nur funktioniert, wenn wir nicht nur auf Treibhausgasreduktionen achten, sondern uns zugleich »holistisch« dem Aufbauen würdiger Lebensbedingungen für alle und überall zuwenden. Das ist das gemeinsame Projekt; allen die Ressourcen zu garantieren, die wir zum Leben brauchen. Dem müssten wir uns alle leicht anschließen können. Zeitgleich zur Madrider Konferenz publizierten Prof. Jacobson und sein Team (2019) von der Stanforder Universität ein detailliertes Papier, ähnlich zum Ansatz von Teske et al. (2019), wie in den nächsten 20 Jahren ein weltweites, erneuerbares, fossilfreies Energiesystem aufgebaut werden könnte: Land für Land, für 150 Länder, mit Angaben zu dem Typus der erneuerbaren Energie und zum Energienetz, das zur Distribution des Stroms gebraucht wird. Wir können ja nicht nur einfach das fossile Energiesystem verbieten, ohne global eine Alternative aufzubauen. Kombiniert man diese beiden Grundideen kommt man bereits weit, denke ich: ein globaler Vertrag zum Verbot und Rückbau der fossilen Infrastruktur; gepaart mit einem weltweiten Auf bau des erneuerbaren Energiesystems. Fehlt nur noch der dritte Pfeiler. Das Stoppen der Emissionen durch das Etablieren von nationalen, regionalen und individuellen Budgets, also das, was Greta und Fridays For Future ins Zentrum gerückt haben, so deutlich wie keine Bewegung zuvor, zusammen mit der Idee der »fair shares«, also dass die reicheren Länder ärmeren helfen müssen. Kombiniert man alle drei Pfeiler (globaler Vertrag zum Stopp und Rückbau der fossilen Infrastruktur; alternatives erneuerbares Energiesystem; politisches Durchsetzen der Emissions-Budgets) und dies auf eine gerechte Weise durch eine Transformation der wichtigsten Sektoren (Agrar, Transport, Bau und so weiter, getragen von einer Veränderung des Finanzsektors und der Wirtschaftsstruktur), hätten wir zumindest eine Ahnung, wie wir der größten Herausforderung der Menschheit gerecht werden könn-
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ten. Wenn es sozial gerecht geschieht. Das kann aber nur funktionieren, und darüber sind wir uns einig im Madrider Theaterraum an diesem Sonntag im Dezember, wenn wir uns auf etwas stützen, was ich das Nicht-Dominanzprinzip nenne, oder: globale Demokratisierung. Wie sollte eine nachhaltige Gesellschaft entstehen, wenn wir Diskriminierung oder Strukturen von Dominanz noch zulassen, sei es in Bezug auf Gender, Ethnizität oder Klasse (dazu Fopp 2020)?
Ideen zu mehr Demokratie Es ist Mittwoch geworden, das zweiwöchige Treffen neigt sich dem Ende zu. Die Politiker_innen der Weltgemeinschaft haben kaum etwas zustande gebracht. Greta steht vorne auf der Bühne im gefüllten, riesigen Plenarsaal, und hält ihre Rede. Vor ihr sitzen die 100 mitstreikenden Teenager, gut verteilt im Raum, so dass die Delegierten nichts von der bald stattfindenden Okkupations-Aktion ahnen. Sie fängt plötzlich an, über das zu sprechen, was Demokratie ist und sein sollte. Ging es ihr im ersten Teil ihrer Rede darum, davor zu warnen, sich vom Netto-Null-2050-Versprechen der EU und der anderen Staaten samt Konzernen einlullen zu lassen, erinnert sie jetzt daran, dass auch die Vorstellung, Demokratie bestehe darin, jedes vierte Jahr zur Wahl zu gehen, gefährlich ist. Dieses Selbstbild von uns als Bürger_innen müssen wir verändern, weil die Änderung jetzt kommen muss; so die Argumentation. Wir haben keine vier weitere Jahre Zeit. Wie der wohl wichtigste Umweltsystemwissenschaftler unserer Zeit, Johan Rockström, 20 Minuten zuvor von derselben Bühne hinunter gesagt hat: Wir müssen die weltweiten Emissionen in diesen zehn Jahren mehr als halbieren. Demokratie ist auch anderes, sagt Greta in ihrer gestreiften grünen Pulli-Jacke vorne auf der Bühne. Es ist auch die öffentliche Meinung, das, was »the people« artikulieren und tun. Wir also, jeden Tag. Wir können laut und deutlich machen, auch mit zivilem Ungehorsam, dass wir Regeln und Gesetze einfordern, die uns schützen, unsere Versorgung sicherstellen, in unseren Ländern und global, und zwar so, dass dies auch noch für die Kinder, die im Saal auf ihre Aktion warten, möglich ist. Greta bekommt gerade noch mit, wie ihre 100 Mitstreikenden nach ihrer Rede die Bühne stürmen, bevor sie selbst auf bricht. Wir stehen alle zusammen im Zentrum der Madrider Messehallen, kurz bevor es für sie losgeht,
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endlich zurück nach Hause, nach den Monaten auf See und in Amerika, zurück auf den Münzplatz – und sehen, wie effektiv die FFF-Maschinerie mittlerweile funktioniert. Die Frage steht plötzlich im Raum, wo sie in Europa auf der Rückreise am Freitag streiken könnte. Wir schauen uns an. Da springt die Rebell_inenngruppe ein, die eine ruft ihre Freund_innen um David in Turin an, die andere fragt bei Loukina in der Schweiz nach, überallhin erstreckt sich das Netz. Eine halbe Stunde später steht Turin fest, und keine zwei Tage später versammeln sich tausende Jugendliche und ziehen durch die Stadt. Dann winkt Greta uns Schwedischsprechenden aus dem Elektroauto zu, ruft »hejdå« und »god jul«, »frohe Weihnachten«, und »wir sehen uns auf dem Münzplatz!« und verschwindet Richtung Stockholm. In den Hallen fangen wir Klimagerechtigkeitsaktivist_innen aller Länder und Generationen an, über das zu reden, was im nächsten Jahr mit der globalen Klimabewegung und mit Fridays For Future wohl geschehen wird. Das Winter-/Frühjahrssemester geht bald los, diesmal für mich an der Institution an der Stockholmer Universität, die sich auf die Pädagogik und das Zusammenleben der Generationen spezialisiert hat. Und, so denke ich mitten in den COP-Messehallen in Madrid, dieses tägliche Streben nach nichtdominanten Verhältnissen gilt natürlich auch für unsere Klimagerechtigkeitsbewegungen selbst. Auch sie können demokratischer werden. Wenn Demokratie wirklich angegangen wird, macht sie Spaß. Davon bin ich überzeugt, egal ob es sich um ein Universitätsseminar, einen ganzen Arbeitsplatz, eine Gesellschaft oder eine Jugendbewegung handelt. Dann kommen Menschen zusammen, mit ihren Geschichten, Erfahrungen, Sorgen und Ängsten, Bedürfnissen und Sehnsüchten. Und am Ende entstehen neue Lösungen, die geteilt und umgesetzt werden können. Wir fangen an, über verschiedene Organisationsmodelle zu diskutieren. Was ist das beste? Ein Modell, das von vielen von uns Erwachsenen in Madrid geschätzt wird, geht von kleinen Gruppen aus. Für jede dieser Gruppen (»affinity-group«), die an einem gemeinsamen Problem arbeiten, gilt: Zuerst muss in Bezug auf die gemeinsame Problemstellung die gleiche Information vorliegen, ein ähnliches Wissen. Sodann müssen alle ihre Sorgen äußern dürfen, ihre Ängste und Erwartungen. Erst dann beginnt ein Brainstorming in Bezug auf mögliche Lösungsvorschläge. Diese werden dann mit einem Temperaturcheck bewertet; wenn man sich sieht, ist immer noch das Hände-in-die-Luft-Halten die beste Lösung, so dass angezeigt werden kann, wie sehr man eine Lösung für gut, schlecht oder indifferent hält. Ein »Facilitator« leitet all diese Prozesse, ohne
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selbst mit der eigenen Meinung einzugreifen, und versucht, einen Konsens herbeizuführen. Eine gute Regel ist die, dass nur dann jemand ein Veto hat, wenn man wirklich eine Lösung für völlig unangemessen hält. Ein_e Sprecher_in wird bestimmt, die diese Lösung der Gruppe in einer höherstufigen Gruppe vertritt, die aus allen Sprecher_innen der Basisgruppen gebildet wird; und mit dem Mandat versehen, mit diesen Sprecher_innen bei Nichtkonsens eine neue Lösung zu suchen, die dann zurückgemeldet und ausverhandelt wird an die ursprüngliche Gruppe. Dieser Prozess kann beliebig höherstufig wiederholt werden, so dass tausende von Menschen demokratische Entscheide hervorbringen. Einige zusätzliche Mechanismen müssen eingebaut werden, aber das ist das basisdemokratische Grundmodell. Und so könnten auch die lokalen und nationalen Klimagerechtigkeitsgruppen zu Entscheidungen finden. Eine kollektive Intelligenz kommt zum Zuge und kann sich entfalten. Dies ist das Gegenmodell zur fossilen Gesellschaft und ihrer Logik, in der sich Macht, Ressourcen und Einf luss in den Händen weniger konzentriert.
Weit weg, im nebligen Zürich, spaziert Loukina zu dieser Zeit kurz vor Weihnachten zu ihrem ETH-Vorlesungsraum. Sie hat mit ihrem Studium der Umweltwissenschaft begonnen, konnte sich die Zeit nicht freischaufeln und fehlt deshalb in der großen Schweizer Menge in Madrid. Die Schweizer_innen arbeiten in diesen Tagen auch an einem Demokratisierungs-Projekt. Die ganze Schweizer Bevölkerung soll mittels Bürger_innenversammlungen oder -räten in einen solchen demokratischen Prozess eingebunden werden,
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im nächsten Mai. Die Politik agiert nicht. Die Streiks genügen nicht. Die ganze Bevölkerung wird gebraucht. Wir sind 500.000 Jugendliche und Erwachsene, als wir während des COP-Treffens am Streik-Freitagabend durch die Straßen von Madrid laufen, wohl die größte Klimademonstration, die es je gegeben hat. Kinder sind überall mit ihren Pappschildern zu sehen: Auch hier gibt es keinen Planeten B. Die fast unfassbare Menge wird angeführt von den globalen Streikenden, die mir mittlerweile so vertraut sind. Sie tragen ein gigantisches Banner vor sich her (»Climate Justice«) und tanzen die drei Stunden durch die Gassen. Hinter ihnen folgt eine halbe Million Menschen. Sie sagen sich: Genug ist genug. Wir wollen Veränderung. Wir sind »the people«. Wir stehen auf.
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Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die Klimagerechtigkeitsbewegung Die Krise und das globale Demokratieprojekt Der Münzplatz wird leer – der gestoppte Streik Und so fängt das Jahr an, in dem wir lernen, was es heißt, eine Krise als Krise zu behandeln. Die Münzplatzgruppe hat sich wieder versammelt. Es ist Mitte März, langsam nähert sich der Winter seinem Ende. Oder: Es ist gar nie Winter geworden. Fünf Grad sind die Wintermonate wärmer als normal; zum ersten Mal überhaupt, seit ungefähr im Jahr 1750 die Messungen in Stockholm begonnen haben (SU 2020). Und jetzt geht es um den Feinschliff für die geplante größte Streikaktion aller Zeiten in Schweden, dem globalen Streik am 24. April. Hunderttausend könnten kommen; darauf hoffen wir alle. Im dritten Stock des Gewerkschafts-Hauses »ABF« mitten in der Stockholmer Innenstadt steht sie vor den riesigen Papierbahnen, die ganze Gruppe. Sie kümmern sich um Polizeikontakt, Sicherheitsdispositiv, Bühnenmanagement und Finanzen. Es soll zum ersten Mal richtig am Meer entlanggehen, unter den Fenstern der reichsten Stockholmer_innen vorbei und hinauf zum wilden Stadtpark »Gärdet«. Das Team ist eingespielt und die letzten Details stehen zur Besprechung an. Wo ist eigentlich die Steckdose da mitten im Park? Sollen wir mit der Ankündigung der Musiker_innen an die Öffentlichkeit gehen und alle, die ganze Zivilgesellschaft, »the people«, zum Streik aufrufen und endlich die Politik zum Handeln zwingen? Dieses Jahr soll die Wende bringen. Einige Aktivist_innen, mit denen wir im Austausch stehen, haben sich zu einer Bewegung zusammengetan, die FFF, XR und andere zivile Ungehorsam-Bewegungen vereinigt und sich »By 2020 We Rise Up« nennt, weil jetzt das Jahr kommt, in der sich die Weltpolitik ändern und die Emissionen fallen müssen. Greta, Simon, Isabelle und Ell befinden sich ge-
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rade noch in Brüssel vor den Gebäuden der EU und streiken da. Wir warten auf ihre Rückkehr. Dann kann es losgehen. Da ändert sich alles. Ein Virus breitet sich als Corona-Pandemie in der ganzen Welt aus. Die Jugendlichen sagen umgehend alle Streiktage ab und verlagern den #ClimateStrikeOnline ins Netz. Eine neue Art des Aktivismus beginnt: Sie halten sich weltweit rund um die Uhr in Zoom-Treffen auf dem Laufenden, bilden sich in unzähligen »Webinars« weiter und warten ungeduldig auf die weitere Entwicklung. Einige organisieren Hilfe für die vom Covid-19-Virus am meisten betroffenen indigenen Jugendlichen rund um Manaus im brasilianischen Regenwald, die schon lange selbst in den FFFChats aktiv sind. Spenden werden gesammelt und schmerzhafte Erfahrungen ausgetauscht. Und plötzlich wird deutlicher, was es heißen könnte, eine Krise als Krise zu behandeln. Ich erinnere mich zurück an den Tag damals im August 2018, an dem ich Greta und den Rest der Münzplatzgruppe zum allerersten Mal getroffen hatte, vor eineinhalb Jahren. »Was willst du uns sagen?« »Behandelt die Krise als Krise.« In diesen Tagen im Frühsommer 2020 ahne ich erst, was das konkret bedeuten könnte. Damals hatte ich es nicht wirklich verstanden. In einer Krise geht es darum, außergewöhnlich zu handeln, nicht undemokratisch, im Gegenteil, die Demokratie stärkend. Neue Gesetze werden jetzt im Hinblick auf die Pandemie erlassen, zumindest in den Staaten, die nicht von autoritären Präsidenten regiert werden. Jedes Leben gilt es zu schützen. Sagen sie. Und doch, einige Leben scheinen weniger wert zu sein. Die der etwa sieben Millionen Todesopfer jährlich, die durch die Luftverschmutzung verursacht werden, also durch das Verbrennen der fossilen Brennstoffe; und die vor allem die BIPoC-Bevölkerungsschichten trifft weit weg vom Zürichsee oder der Stockholmer Strandpromenade (WHO 2014). Ich denke in diesen Tagen: Im Fall der Klimakrise muss jetzt dasselbe eintreten. Und dies sagen viele in den Zoom-Treffen auch der erwachsenen Gruppe rund um die Idee eines globalen Vertrages, der die fossilen Brennstoffe im Boden halten soll. Wir können nicht Jahre darauf warten, dass neue Wahlen abgehalten werden; in denen vielleicht umweltbewusste Parteien einige Prozente mehr bekommen; die dann in mehreren Jahren Gesetze aushandeln; die erst Jahre später Effekte zeigen. So vergehen die zehn Jahre, in denen sich die Gesellschaften weltweit gemäß der UNO »drastisch verändern« müssen, bevor überhaupt etwas geschieht. Wir müssen die Situation als Krise behandeln und sofort Nachhaltigkeit garantieren, Verträge
Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die Klimagerechtigkeitsbewegung
auf lösen und einen neuen Gesellschaftsvertrag etablieren, so dass weltweit die Emissionen um sieben Prozent jährlich in sämtlichen Bereichen fallen, bei uns im Norden um über zwölf Prozent, jedes Jahr. Dazu braucht es auch eine globale Zusammenarbeit, eine Art globaler Demokratie. Die Corona-Krise beleuchtet zwei Aspekte. Einmal, dass sogar ein so drastischer Stopp der Weltwirtschaft die Emissionen nicht einmal um das reduziert, was von jetzt an jährlich gefordert ist. Eine solche Minderung müsste außerdem ganz anders demokratisch und nachhaltig organisiert werden. Und: Die Wirtschaft ist so aufgebaut, dass sie zusammenbricht, wenn die Menschen nur das kaufen, was sie wirklich brauchen. Die schlecht entlöhnte (genderstereotyp weibliche) Kernarbeit unserer Wirtschaft taucht so deutlich auf: die »care economy«, die Sorge- und »Reproduktions«-Ökonomie. Und mit dem Einsparen von Energie, dem Weniger-Konsumieren, brechen die Steuereinnahmen und damit der Sozialstaat weg. Innerhalb dieses Systems lässt sich der Klimakrise nicht begegnen, nicht einmal im Ansatz; so schreiben es auch die Jugendlichen in ihren sozialen Medien. Doch wie diese systemische Veränderung gestalten?
Black Lives Matter, Rassismus und radikale Inklusion Gerecht muss diese Transformation zugehen. Darüber sind wir uns einig. Da wird eine weitere Herausforderung auf die denkbar schmerzhafteste Weise im Mai deutlich, als ein rassistischer Mord an George Floyd unzählige BlackLivesMatter-Demonstrationen hervorruft. Der Blick öffnet sich sowohl für die Jugendlichen als auch für uns ältere Aktivist_innen und Wissenschaftler_ innen in diesen Monaten wiederum und noch viel dringlicher auf die Problematik, dass die ökologische Krise und der Weg aus ihr gebunden ist an einen anderen Auf bruch, den aus rassistischen Strukturen und Unterdrückung. Am Institut an der Stockholmer Universität, an dem ich jetzt wieder lehre – es ist nun das benachbarte für Jugendforschung samt Lehrer_innenausbildung – diskutieren meine Studierenden Demokratietheorien. Was ist wirklich Demokratie für alle? Nicht diskriminieren, antworten einige, weder aufgrund von Gender, Ethnizität, Klasse noch sexueller Orientierung. Alle miteinbeziehen; nicht nur alle »inklusiv« zulassen, sondern zusehen, dass alle die nötigen Ressourcen haben. Allen auf gleicher Augenhöhe begegnen. Macht verteilen. Eine Debatte entsteht um die Frage, wie sich denn diese
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Weisen des Unterdrückens oder des Unrecht-Tuns zueinander verhalten. Gibt es eine interne Logik, wie Rassismus, Heteronormativität, Patriarchat und das Etablieren von Gesellschaftsklassen durch das Wirtschaftssystem zusammenhängen? Es sind vor allem Schwarze und indigene Frauen aus der Arbeiterschicht, die oft am härtesten unter den Folgen des Klimawandels und der fossilen Industrie leiden, zeigt die Forschung (dazu Sengupta 2020; WHO 2014). Ist eine dieser intersektionalen Dimension zentraler als die anderen? Oder beruhen sie auf ein und demselben Systemfehler? Für einige ist diese Diskussion eher ein Gedankenexperiment. Für andere ist es ihr Leben, und entsprechend engagiert sind sie in den Stunden. Sie wissen, was es heißt, keine Wohnung mieten zu können, nur weil sie einen ausländisch klingenden Namen haben. Oder eben, wie es ist, an einem Institut als Schwarze zu studieren, in dem nur Weiße in leitenden Positionen sind. Als am 25. Mai George Floyd als Schwarzer in Minneapolis von einem weißen Polizisten brutal ermordet wird, zu Tode erdrückt, gehen Tag für Tag tausende Menschen mit #BlackLivesMatter auf die Straßen und kämpfen für Gerechtigkeit und die Gleichheit aller Menschen auf einem lebendigen Planeten. Genug ist genug, sagen auch viele in den Klimagerechtigkeitsbewegungen: Die Polizeigewalt gegen Schwarze muss gestoppt werden; aber auch die Diskriminierung und der strukturelle Rassismus in den Gesellschaften weltweit. Die Geschichte der letzten 400 Jahre muss auf den Tisch; das autoritäre Denken und mörderische Handeln der »white supremacist«, die unter dem Trump-Regime immer mehr Aufwind erhalten haben, muss durch eine wirkliche Demokratie abgelöst werden. In hunderten von Städten weltweit schließen sich tausende Menschen wochenlang den Demonstrationen an. Auch in Stockholm nehmen einige der klimastreikenden Jugendlichen mit Masken an den Demonstrationen teil. Es geht um den gemeinsamen Kampf für eine gerechtere Welt und um eine andere Art, miteinander und der Umwelt umzugehen.
Wie gerecht sind die Klimagerechtigkeitsbewegungen? Was auch als Reaktion auf die BlackLivesMatter-Demonstrationen entsteht, ist eine neue Dynamik in den Klimabewegungen selbst. Gibt es nicht auch Sexismus, Rassismus und Unterdrückung in den Bewegungen? Wie dann aktiv nicht-dominante Strukturen auf bauen?
Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die Klimagerechtigkeitsbewegung
Diese Frage taucht bereits im Januar in Davos auf. Wieder ist Greta unterwegs zum World Economic Forum, doch diesmal nicht mehr allein. Zu ihr gesellen sich Luisa aus Deutschland, Loukina aus der Schweiz, Isabelle vom Münzplatz und Vanessa aus Uganda. Sie nehmen gemeinsam Stellung zur Passivität der versammelten Machtelite aus Wirtschaft und Politik und versuchen aufzuzeigen, dass es nicht genügt, von »Klimaneutralität« bis 2030 oder 2050 zu reden. Die Emissionen müssen wirklich sofort sinken; und das muss gemeinsam weltweit organisiert werden, etwa durch den Stopp der Finanzierung der fossilen Infrastruktur. Dies schreiben sie gemeinsam in einem »Guardian«-Artikel (Thunberg et al. 2020).
Ich versuche aus der Stockholmer Ferne den Davoser Klimastreikenden bei der Vorbereitung ihrer »citizen assembly«, ihrem Bürgerrat, zu helfen. Viele Streikende sind unterwegs nach Davos auf einer dreitägigen Protest-Schneewanderung. Die Polizei überlegt sich, ihnen die letzte Tagesstrecke zu untersagen, was sie nicht daran hindert, auf Umwegen in das Bergdorf zu ziehen. Nur der Bürgerrat verschiebt sich dadurch in die Nacht. Als Gegenpol zur elitären Machtkonzentration wollen die Jugendlichen wirkliche Demokratie organisieren und die Dorf bevölkerung in die großen Zukunftsfragen involvieren. Wie wollen wir in zehn Jahren zusammen eine nachhaltige Gesellschaft erreichen? In Frankreich und Großbritannien tagen unterdessen von der Regierung eingesetzte »assemblies«: zufällig ausgewählte, aber im Ganzen repräsentative Personen, die Gesetzesänderungen im Hinblick auf die Klimakrise vorlegen sollen (Chrisafis 2020). Die jungen Klimaaktivist_in nen Loukina und Isabelle wechseln zwischen den Räumen hin und her: der glamourösen Welt des WEF und der Volksversammlung – und landen auf einem entscheidenden Bild. Die internationale Presseagentur schickt ein Foto um die Welt, aus dem Vanessa hinausgeschnitten wird, die neben Greta, Luisa, Loukina und Isabelle sitzt. Vanessa Nakate aus Uganda mit ihrem
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Zweiter Teil: Die Erwachsenen antworten
dunkelhäutigen Äußeren passt nicht in das Bild der weißen Klimajugendbewegung hinein. Der Rassismus wird für alle sichtbar, weil Vanessa dieses Unsichtbar-Machen nicht hinnimmt und das unbearbeitete Bild, auf dem sie zu sehen ist, twittert. Die Münzplatzjugendlichen versuchen, auf die Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Ell und Greta geben einige Tage später eine Pressekonferenz zusammen mit ihren Aktivist_innen in Afrika. Und viele fahren zusammen mit Greta in diesen Wochen zu ihren mitstreikenden Freund_innen im Norden Schwedens, die als Teil der Ursprungsbevölkerung einer ähnlichen strukturellen Diskriminierung ausgesetzt sind.
Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die Klimagerechtigkeitsbewegung
Was sich in den folgenden Wochen so auch verbreitet, ist die Einsicht, wie teilweise unzureichend Schwarzen Aktivist_innen und BIPoC-Jugendlichen in der Bewegung Platz gegeben wird. Gleichzeitig ist bei vielen das Bewusstsein ausgeprägt, dass die Klimakrise die Menschen im globalen Süden sehr viel stärker trifft; und dass rassistische Strukturen auch des Wirtschaftsystems die ganze Problematik mit verursacht haben (Hickel 2020). »No climate justice without racial justice«, schreiben auch die Münzplatzstreikenden. In intergenerationaler Zusammenarbeit arbeiten sich die jungen und älteren Aktivist_innen in den Klimabewegungen durch Texte wie das Workshop-Buch »Me and White Supremacy« von Saad (2020) und die Ideen von Mary Annaïse Heglar und Leah Thomas (kommuniziert via Twitter) zu einer intersektionalen Klimabewegung hindurch, lesen Klassiker von bell hooks (2000) und Angela Davis (1983), und versuchen, die eigenen Privilegien und den eigenen Anteil am strukturellen Rassismus genauer zu verstehen und – als lebenslange Aufgabe – zu bekämpfen. Viele beschreiben das Problem zuerst in ihren Instagram-Bildern in Begriffen von Gerechtigkeit. Sie sagen, Klimagerechtigkeit sei ohne ethnische Gerechtigkeit nicht zu denken: »No climate justice without racial justice«, und umgekehrt. Es entspannen sich Diskussionen um die Frage, ob es sich ausschließlich um eine Frage der Gerechtigkeit handelt oder auch um mehr, eines tieferen Unrechts, von Unmenschlichkeit? Braucht es nicht für eine auch sozial nachhaltige und gerechte Gesellschaft viel tiefergreifende Veränderungen? Da meldet sich Tonny Nowshin, die uns in dieser Suche weiterbringt. Wir hatten uns in Madrid kennen gelernt und damals bereits ähnliche Diskussionen angefangen. Tonny kommt aus Dhaka in Bangladesch, ist dort aufgewachsen, als junge Erwachsene in den Westen gekommen und arbeitet in einer kleinen Klima-NGO in Berlin. Sie ist vom Alter her nah an den Jugendlichen von FFF dran, kann als eine von ihnen gelten, aber auch zugleich ihnen gegenüber als erfahrene Person auf treten. Auch sie hat innerhalb der Klimabewegung aufgrund ihrer dunklen Haut schlechte Erfahrungen gemacht. Eine größere NGO hatte sie auf einem Bild nicht berücksichtigt, als in diesen Wochen die Proteste vor dem nagelneuen Kohlekraf twerk »Datteln 4« stattfinden, das die deutsche Regierung bewilligt und der finnische Staat mitgebaut hat. Wie können wir dieses Unrecht in den Bewegungen verändern und zu einem anderen, bekräf tigenden Miteinander finden?
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Eine Idee entsteht. Und so treffen sich an einem Donnerstagabend im virtuellen Zoom-Raum meiner Universität einige der aktivsten Jugendlichen von Fridays For Future weltweit mit Tonny. Es gibt so viele Fragen: Wie agieren bei der Organisation der lokalen Proteste? Wie generell das FFF-Netzwerk so gestalten, dass wirklich die BIPoC-Aktivist_innen mit dabei sind und die Leitung haben? In meinen eigenen Worten wiedergegeben – es handelt sich also nicht um eigentliche Zitate – kommen folgende Gedanken im Gesprächsverlauf auf (dazu auch Tonnys eigener TAZ-Artikel: Nowshin 2020). »Hm«, sagt Tonny. »Ihr könnt früh anfangen. Eine eigene Arbeitsgruppe dazu bilden. BIPoCGemeinschaften ansprechen. Euch herumhören, aktiv. Dann ergibt sich das eine aus dem anderen. Einfach anfangen und öffentlich eine Gruppe bilden; den ersten Schritt machen und bewusst Menschen ansprechen, und ihnen auch die Leitung übergeben.« Wir sprechen über Privilegien, Scham- und Schuldgefühle und vor allem über die Vorurteile, die in vielen von uns stecken, ob wir wollen, oder nicht, Bilder, die wir aktiv bearbeiten müssen, um sie zu verändern. »Wie reagierst du, wenn du oder jemand anderer auf die Hautfarbe oder Herkunft angesprochen wird?« »Ich kann sagen, dass das Innere zählt. Aber ich spreche schon darüber, wie verletzend es ist. Und ich rede über die Klimakrise. Es ist ja schief, wenn
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ich nur als Expertin für das Rassismusproblem gelte. Ich will über die Klimakrise und unseren Aktivismus sprechen, und dann sehen die Menschen ja, wer ich bin.« So beginnt in dieser Stunde ganz konkret eine Veränderungsarbeit; auch eine Art gemeinsame Suche fängt an – nach dem Zusammenleben jenseits von struktureller Herrschaft. An Freitagen zu streiken funktioniert etwa in Bangladesch nicht, weil an Freitagen gar keine Schule stattfindet. Also müssen alle bei der globalen Planung Rücksicht nehmen. Wir artikulieren die Angst, dass in einigen Wochen alles wieder zum Status quo zurückkehrt und das Dominieren unsichtbar wird. Ist wirklich durch die BlackLivesMatterDemonstrationen ein sozialer »Tipping Point« erreicht worden? Strukturelle Unterdrückung wird vielleicht als solche benannt. Menschen, die einfach weitermachen wollen, können es nicht mehr so ohne weiteres tun. Wie bei der MeToo-Bewegung passiert etwas in der gesellschaftlichen Ausrichtung der Werte. Könnte das auch in Bezug auf die Klimakrise und ihre Auswirkungen geschehen? Tonny spricht über ihre Angst und Trauer in Bezug auf Bangladesch, die unfassbaren Überschwemmungen, die gerade in diesen Sommermonaten das Grenzgebiet zu Indien zerstören; und die neuen Kohlekraftwerke, die mithilfe von deutschen Firmen gebaut werden sollen. Bangladesch droht buchstäblich im Meer unterzugehen und wird gleichzeitig von Hitzewellen heimgesucht. In diesen Wochen erscheint ein Artikel in der angesehenen Zeitung PNAS (Xu et al. 2020), der fast absurd anmutet. Bis zu drei Milliarden Menschen könnten bis 2070 in Gebieten leben, die unbewohnbar sind, und das Gebiet um Bangladesch gehört dazu. Sie bekommt eine letzte Frage. »Wie können wir mit dem Dilemma umgehen, dass die Kleider, die wir kaufen, in Bangladesch hergestellt werden, zu schlechten Löhnen, die Umwelt belasten, aber doch Arbeitsplätze garantieren? Ist das sinnvoll? Sollen wir Kleider von H & M boykottieren?« Und damit kommen wir zurück zur Frage nach Recht und Gerechtigkeit. »Hm«, sagt Tonny. »Hier stimmt ja etwas nicht. Etwas Grundlegendes. Etwas, was mit dem System als solchem zu tun hat, wir kommen da nicht drum herum. Es geht um etwas Tieferes als die Frage, ob kaufen oder nicht kaufen.« Hier ist ja ein rassistisches Moment eingebaut, könnte man sagen: Millionen von Frauen arbeiten in Bangladesch, wodurch einige wenige weiße Männer unfassbar reich werden, in Schweden, Amerika und so weiter. »Das können wir nicht korrigieren, indem wir kaufen oder nicht kaufen«, sagt Tonny. Wir müssen zusammen ein ganz anderes Projekt angehen und diese Strukturen aufzeigen und ersetzen,
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so dass für alle gleichermaßen gesorgt ist und die Macht sich verteilt. Es sind eben 100 Kapitalgesellschaften, oft von weißen Männern im globalen Norden besessen und geleitet, die 70 Prozent aller Emissionen ausmachen und im Zentrum der ökologischen Krise stehen. So zeigen sich für eine solche Sichtweise alle Dominanzdimensionen (Gender, Ethnizität, Klasse) und die Klimakrise als miteinander verbunden. Für mich ergibt sich aus diesen Gesprächen die Einsicht: Wenn wir ein Programm für die »People For Future« erarbeiten wollen, müssen wir diese Herausforderung annehmen und deutlich machen, dass das Umbauen der fossilen Gesellschaft zugleich eine Bewegung weg ist von diesen systemischen Fehlern. Doch wie dieses »Demokratisierungsprinzip« genauer ausformulieren?
Was ist der Kern der veränderten Politik? – Jugendliche und Wissenschaftler_innen schreiben ihre Manifeste Und plötzlich schreiben alle Aktivist_innen Statements dazu, wie die Welt aussehen sollte; auch weil die Gelegenheiten zu wirklichen Aktionen eingeschränkt sind. Es ist immer noch Corona-Zeit. Viele sitzen zuhause und schreiben, was getan werden sollte. Nutzt die Gelegenheit, rufen viele: Wenn schon Milliarden investiert werden, um aus der Corona-Krise herauszufinden, dann doch in »grüne« Projekte: »Build Back Better«; »Green Recovery« und so weiter heißen diese Strategiepapiere der NGOs. Aber wieso sollte ein schöner Text von einigen NGOs die Politiker_innen wie Merkel, Macron oder Bolsonaro plötzlich zum Umdenken und Handeln bringen, denke ich in den Sitzungen mit den »global communication directors«. Aber auch die großen Massen der Weltbevölkerung erreicht man kaum auf diese Art. Es müsste doch um das Auf bauen einer wirklichen Bewegung gehen, die daran glaubt, dass wir das politische Rahmenwerk verändern können. Doch wie? Wie müsste das Manifest dieser Bewegung aussehen? Wir brauchen eine Plattform, um alle zu sammeln, denke ich; und den Fokus auf zwei, drei Kernpunkte, hinter die sich alle stellen können. Das wäre eine ganz andere Art von Text. Und eine andere Art von Bewegung. Wie dieser Text aussehen könnte, entwerfen in diesen Monaten zwei parallel arbeitende Gruppen. Zum einen Greta mit Anuna, Luisa, Adélaïde und anderen jugendlichen Mitstreikenden weltweit. Und zum anderen wir
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erwachsenen Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen. Die Ergebnisse präsentieren die Jugendlichen in einem offenen Brief an die EU; #FaceThe ClimateEmergency nennen sie ihn (climateemergencyeu.org). Er wird innerhalb von Tagen von mehr als 100.000 Menschen unterzeichnet, auch von den bekanntesten Klimawissenschaftler_innen und von vielen »celebrities«. Wissen die, wie systemisch verändernd diese Gedanken sind, frage ich mich und denke: Genau das bräuchte es, eine ganz breite Volksbewegung für systemische Veränderung. Und von uns Scientists For Future erscheint unter anderem ein offizielles »Statement« an die EU, die sich in diesen Monaten ein neues Klimagesetz gibt. Schnell zeichnet sich ein gemeinsamer Kern beider Ansätze ab. Was sind die Grundkriterien? Beide Gruppen, die Jugendlichen und Erwachsenen zielen auf eine mittlere Ebene zwischen zu spezifischer (Partei-)Politik und abstrakten Forderungen. Und beide präsentieren sowohl zwei, drei Prinzipien, an denen sich die Politik ausrichten soll; als auch zwei, drei ethische Werte für deren Umsetzung. Worin besteht dieser Kern von »we, the People For Future«? Es sollen faire Emissions-Budgets erstellt werden, global, national, lokal, ausgehend von den etwa verbleibenden 350 GT. Und alle Regierungen müssen Pläne sofort vorlegen, wie sie in allen Sektoren umgesetzt werden können – ein neues Rahmenwerk muss entstehen, das alle politische Entscheidungen prägen kann. Zweitens soll ab sofort die fossile Infrastruktur nicht mehr weiter finanziert und ausgebaut werden; sondern zurückgebaut und ersetzt durch ein nachhaltiges Energiesystem, finanziert durch »fair shares«, in Einklang mit dem Emissions-Gap-Rapport der UNO. Und drittens soll dies gerecht geschehen. Der globale Süden soll ganz anders in das Zentrum dieser globalen Gesellschaftsumwandlung gerückt werden. Weil nämlich viertens Strukturen von Dominanz beseitigt werden müssen in all diesen Schritten, was Gender, Klasse und Ethnizität anbelangt. Ungefähr so sieht die Schnittmenge der verschiedenen Papiere aus. In demokratischen Arenen muss dann, wenn dieser Rahmen etabliert ist, weiter diskutiert werden, was das konkret bedeutet, etwa wie das mit einem Schuldenerlass, globalem Grundeinkommen und so weiter verbunden sein kann, wie es die meisten Klimagerechtigkeitsbewegungen und NGOs fordern. Als wichtigstes brauchen wir unmittelbar eine Kriseneinsicht, schreiben die Jugendlichen, und eine systemische Veränderung. Davon spricht Greta in ihrem Sommerprogramm im schwedischen Radio vor einer Million Zuhörenden, und von einer Demokratie, in der wir global füreinander sorgen
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(Thunberg 2020/3). Und ich denke wieder: Das eine ist es, Unrecht sichtbar zu machen und aufzuheben. Das andere, komplementäre Projekt, aktiv ein würdiges Leben für alle zu garantieren. Es genügt ja nicht, dass Menschen nicht ausgenutzt werden. Alle müssen wir genug zu essen haben und ein Dach über dem Kopf, das nicht weggeschwemmt wird. (Der »Anhang« in diesem Buch entwickelt diese gemeinsamen Grundgedanken weiter zu einem gemeinsamen Programm der »People For Future«.)
Das S4F-Statement zum neuen EU-Klimagesetz Auch wir Wissenschaftler_innen von Scientists For Future arbeiten also an einem Statement. Es soll direkt die europäische Politik der nächsten zehn Jahre verändern. Einige sind in diesen Monaten mit dem ersten großen Kongress der Graswurzelbewegung beschäftigt. Auch zeichnet sich ein neues Großprojekt am Horizont ab. In »Zukunftsbildern« soll der breiten Öffentlichkeit die mögliche Zukunft in drei Szenarien geschildert werden, und damit die benötigte gegenwärtige Transformation. Es sollen mithilfe des systemischen Denkens, das alle akademischen Disziplinen überbrückt, aufgezeigt werden, was jetzt geschehen muss, für die ganze Bevölkerung leicht zugänglich, mithilfe von Künstler_innen aller Art: wie die Landwirtschaft nachhaltig wird, das Bauen, der Verkehr, der Energiesektor, das Finanzwesen und so weiter. Doch das Projekt, das in diesen Monaten am meisten drängt, ist die neue EU-Gesetzgebung. Die EU will sich noch in diesem Jahr ein neues Klimagesetz geben, das die gesamte Politik des Weltteils prägen wird. Judith Hardt, eine meiner Forscherkolleg_innen aus Berlin, meldet sich. Sie sagt: Wir haben einen humanistischen Auftrag als Forschungsinstitutionen und Wissenschaftler_innen; und damit auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Wenn wir sehen, dass die Politik nicht mit dem Pariser Abkommen und mit unserer Forschung übereinstimmt, sollten wir reagieren. Und immerhin, wir beide sitzen im mächtigen Beirat der Scientists For Future, der jetzt aus etwa 100 Professor_innen besteht, unter anderem den Leiter_innen von Universitätsinstitutionen und gigantischen Forschungszentren (Helmholtz Wissenschaftszentrum Berlin). Wir haben außerdem Kontakte zu den Klimaspezialist_innen im EU-Parlament. Es ist die EU-Kommission, die den Gesetzesvorschlag im März vorlegt, aber es ist das Parlament, das es in einem halbjährigen Prozess ändern und gutheißen soll. Hier wird ein Hebel
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sichtbar. Und zusätzlich kommt ein konkreter Termin in den Blick: Greta, Isabelle, Ell und Simon vom Münzplatz fahren nach Brüssel und treffen sich mit ihren Mitstreikenden aus ganz Europa vor dem Parlament. Wir als Scientists For Future könnten gleichzeitig eine Stellungnahme publizieren; so die Idee. Und während sich der Virus in Europa mit furchtbaren Folgen in der Welt verbreitet, gewinnen wir die 100 Wissenschaftler_innen vom S4FBeirat für unsere Idee. Eine Arbeitsgruppe bildet sich. Alle lesen den Vorschlag der EU-Kommission für das Gesetz genau durch und finden konkrete Änderungsvorschläge. Der politische Rahmen muss mit der Wissenschaft übereinstimmen. Ein herausfordernder Arbeitsprozess unter hohem Zeitdruck entfaltet sich. Wir schreiben alle gleichzeitig in einem Google Docs; sperren es immer wieder für Stunden, um alle Kommentare zusammenzufassen; arbeiten weiter; lassen die Schlussversion zirkulieren; ändern; lassen sie wieder zirkulieren – und finden zu einer gemeinsamen Position. Natürlich haben die Spezialist_innen, weltführende Klimaforschende, am meisten zu sagen, und doch geht es uns um ein systemisches Denken, in dem wir alle akademischen Disziplinen verbinden, die Klimawissenschaft mit der Ethik, die Ökonomie mit der politischen Philosophie. Die Kernpunkte sind: Die Ziele müssen deutlich verschärft werden; 50 oder 55 Prozent Reduktion der Treibhausgase bis 2030 genügen nicht. Die ganze Welt muss ja bis spätestens 2040 bei nahezu Null-Emissionen angekommen sein (Schellnhuber 2015). Deswegen wird von Europa aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten eine drastischere Transformation gefordert als in dem Gesetzesvorschlag veranschlagt. So heben wir den Gerechtigkeitsgesichtspunkt hervor. Und vor allem sehen wir es als zentral an, im Gesetzestext die Idee eines wissenschaftlichen Beirates zu verankern, der der EU-Politikentwicklung kontinuierlich beisteht. Die Zeit, dass die Politiker_innen an den Fakten der ökologischen und Klimakrise vorbei agieren können, muss endlich vorbei sein. Das Statement wird publiziert, Greta twittert es in die Welt. Die Parlamentarier_innen, mit denen wir im Kontakt sind, tun das ihre. Und vielleicht auch deswegen nimmt Jytte Guteland, die schwedische EU-Parlamentarierin, die die Gesamtleitung der Arbeit zum Klimagesetz innehat, einige der Ideen auf und schreibt einen neuen Gesetzestext inklusive der Idee des »Beirates«, wenn auch mit zu geringen Emissionsreduktionszielen. Kevin Anderson und Isak Stoddard von der Universität Uppsala berechnen in diesen Tagen (Anderson et al. 2020), dass die EU mit ihren Zielen etwa das Doppelte der Treibhausgase ausstoßen würde als mit dem Pariser
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Abkommen kompatibel – wenn sie denn eingehalten würden. Wir müssen das der Öffentlichkeit klarmachen, denke ich. So sind wir auf dem Weg in eine zwei, drei, vier Grad wärmere Welt, mit all den desaströsen Folgen. Und eigentlich geht es ja um globale Probleme. Müssten wir als Wissenschaftler_innen nicht auch auf dieser Ebene der Weltgemeinschaft agieren? Greta versucht mit Mitstreikenden in diesen Wochen, die möglichen neuen Mitglieder für den UNO-Sicherheitsrat für das Problem der Arktis (dem Bau neuer fossiler Infrastruktur) zu sensibilisieren. Und Judith hat ihre Dissertation (Hardt 2018) zu neuen Konzepten geschrieben, was Sicherheit für eine Welt in der Klimakrise bedeuten könnte; und arbeitet jetzt an ähnlichen Gedanken vor allem im Hinblick auf den UNO-Sicherheitsrat. Sie verdeutlicht die Aufgabe des Sicherheitsrates in einem Forschungsprojekt mit Spezialist_innen aller 15 Staaten, die im Jahr 2020 in ihm vertreten sind (Hardt/ Viehoff 2020) und definiert dabei Sicherheit substantieller als dies vor ihr gemacht wurde: nicht nur traditionell auf gewaltsame Konf likte oder Frieden bezogen; auch nicht nur in Termen von Resilienz, höheren Deichen und resistenteren Nahrungsmitteln, also als ein »Bewahren des Status quo«, wie es die »earth scientists« so oft tun. Sie verortet Sicherheit im veränderten Verhältnis zu einander und zum Planeten. Und wie wir einen neuen »Artikel Null« in der UNO-Charta brauchen, in dem die zentralen Werte des Schutzes der zukünftigen Generationen und des Umweltsystems enthalten sind, so nötig ist auch eine demokratische Umformung des globalen Organs, das allen Menschen Sicherheit garantieren soll. Doch wie dieses neue Denken in den Regierungen verankern? Genügt es, wenn wir als Wissenschaftler_innen Forschungsrapporte und Stellungnahmen schreiben? Oder müssten wir auch streiken? Oder die eigenen Universitäten zu einem radikalen Umdenken zwingen, was Inhalt und Methode der Lehre und der Forschung anbelangt? Viele der Verantwortlichen glauben noch immer, es gehe bei der Herausforderung durch die ökologische und Klimakrise nur um das Einsparen von Energie, das »divesting« der Gelder und das Reduzieren von Flügen; statt um das Etablieren eines neuen, nachhaltigen Fundamentes für die Akademie. All diese Gedanken führen zu einer Idee. Eine neue Week For Future könnte alle diese Stränge verbinden, denke ich: die spezifische Gesellschaftsveränderung in Zukunftsbildern fundiert aufzeichnen, so dass uns klarer wird, was jetzt geschehen muss und kann; aber auch die Zerstörung auf halten, die die fossile Gesellschaft verursacht durch direkte Aktionen und zivi-
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len Ungehorsam, die die Zentren der Macht blockieren. Und wir können zu den People For Future werden, uns als Scientists mit den Parents, den Artists, Workers, Economists und so weiter zusammenschließen (wie es Together For Future in Deutschland schon tut), die unterdessen in verschiedenen Ländern zu eigenen Netzwerken mit tausenden Aktiven geworden sind. So dass eine gigantische globale, kontinuierliche Volksbewegung zustande kommt. Die sich an den gemeinsamen zwei, drei Grundprinzipien ausrichtet, die die Jugendlichen und wir uns in zwei Jahren erarbeitet haben; und für die wir so lange aufstehen, bis sich der politische Rahmen verändert hat.
Bildung für Nachhaltigkeit ganz anders gedacht »Sind Kinder von sich aus gut?« Diese Frage erhalte ich in einem Schweizer Radioprogramm zur Klimabewegung (Dillier 2020). »Sie reagieren auf Unterdrückung«, antworte ich. Das scheint mir angemessener formuliert zu sein. Wir sind demokratische Wesen: Wenn andere auf uns hinunterschauen oder uns ignorieren, ziehen wir uns zusammen. Das wollen wir nicht. Und auch wenn wir es bei anderen sehen, agieren wir. Schon kleinste Kinder reagieren empört darauf, wenn eine Figur einer anderen Schaden zufügt. Wir wollen Bekräftigung erhalten, ansonsten üben wir selbst Dominanz aus. Wir würden uns getrauen, zusammen für alle zu sorgen, besagt diese Forschung, aber es braucht eine »social licence«, eine Legitimierung, eine Normalisierung dieser Grundhaltung. Wenn jemand »demokratisches Leadership« übernimmt, und offen sagt, jetzt sehen wir zu, dass es allen gut geht, dann blühen wir auf und getrauen uns, mitzumachen. So sagen es die Bücher, die uns als Forschungsgrundlage dienen (Johnstone 1987, Winnicott 2005), und so sagt es meine Erfahrung in den Räumen mit den hunderten Studierenden. Einigen kostet das ihr Privilegium und ihre Machtstellung und sie leisten vielleicht am Anfang Widerstand. Aber die allermeisten blühen auf in Situationen, in denen wir uns gegenseitig bekräftigen. In diesem Sinn, so argumentieren wir weiter, genügt es eben nicht, nur abstrakt Ethik zu unterrichten oder politische Philosophie. Wir müssen alle mit Haut und Haar, unserer Phantasie und in konkreten Situationen zusammen mit anderen durch dieses Auf heben von individueller und struktureller Herrschaft, vom Hochhalten und »Untenhalten« so hindurch, dass wirklicher bekräftigender Kontakt zustande kommen kann. Dann wäre alle Bildung in der
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Schule und Universität eine für Nachhaltigkeit, nicht nur einzelne Lektionen zur Klimakrise. Gemeinsam die Ressourcen zu stärken bringt die Dimensionen von sozialer, ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit zusammen, auch weil so alle angekoppelt sind an die Bedürfnisse und die Umwelt. Ein Schritt wäre es dann, überhaupt die Fächer in ihrem Inhalt und in der Art, sie zu lehren, mithilfe der neuesten Forschung auf diese Dimension »menschlicher Energie« umzustellen und Demokratie konkret auszuprobieren und zu leben (dazu auch Emmett/Nye 2017). Doch wer so denkt, kann mit dieser Bildung nicht Halt an der Schul- oder Universitätstüre machen. Bilder fallen mir wieder ein von den Forschungsjahren an der École Normale Supérieure in Paris, einer der berühmtesten Universitäten Europas. Keine Schwarzen Lehrer_innen weit und breit. Auch nicht Studierende; auch kaum welche der Arbeiterschicht. An einem Abend spielte eine Band direkt vor der Schule, in der Nähe vom Pantheon, und im Publikum sind fast nur Schwarze zu sehen. Für eine ganz kurze Zeit ist das sichtbar geworden, was die ganze Zeit da ist. An der École Normale ist nur das Putz- und Wachpersonal aus Afrika oder hat afrikanischen Migrationshintergrund. Damals wusste ich nicht, wie wir reagieren können oder habe mich nicht getraut, etwas zu sagen. In Stockholm gehen meine Studierenden und ich immerhin zur Dekanin. Aber was ist dieser Schritt im Vergleich zu dem, was in globalen Verhältnissen geschehen sollte?
Zurück auf dem Münzplatz Und endlich, Ende August ist es so weit. Genau zwei Jahre sind seit dem Streikbeginn vergangen. Die Münzplatzstreikenden versammeln sich wieder auf dem Platz zwischen Parlament und Schloss – mit Sicherheitsmaßnahmen: Abstand und Masken; unter ihnen einige, die sich damals in der ersten Woche zu Greta gesetzt haben. Sie lehnen sich wie gewohnt an die Mauer und schauen zum Parlament. In derselben Augustwoche blockieren alle Klimabewegungen zusammen unter der Leitung von Extinction Rebellion die Innenstadt von Stockholm, zuerst die Brücken rund um das Parlament, dann die zentralen Einkaufsstraßen. Isabelle, Simon und andere Jugendliche sind mit dabei. Diesmal sind wir nicht 100, wie genau vor zwei Jahren, sondern hunderte.
Kapitel 5: Corona, #BlackLivesMatter und die Klimagerechtigkeitsbewegung
Und schließlich: Am 25. September findet der erste globale Streik nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie statt. Die Jugendlichen haben sich in ihren Chats darauf geeinigt, die kommunikativen Strukturen von FFF so zu ändern, dass die Betroffenen im globalen Süden und die BIPoC-Gemeinschaften die Leitung unter dem Namen MAPA (»Most Affected People and Areas«) mitübernehmen. Das zentrale Thema des Streiks: die Klimakrise und die globale soziale Gerechtigkeit. Tausende Jugendlichen melden sich weltweit zurück in den Straßen dieses wundersamen Planeten. Wir können sie nicht allein lassen.
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Dritter Teil: Gemeinsam in die Zukunft Ein Gespräch (mit Isabelle Axelsson und Loukina Tille)
Kapitel 1: Worum es der Klimastreikbewegung geht Kapitel 2: Zum Verhältnis von Jugendlichen und Erwachsenen Wie wir alle Geschichte schreiben können
Kapitel 1: Worum es der Klimastreikbewegung geht Der Kompass Worum geht es? Das frage ich Loukina Tille und Isabelle Axelsson, als wir im Sommer 2020 auf die ersten beiden Jahre zurücksehen. Die beiden gehören zu den Jugendlichen, die überhaupt das Zustandekommen der weltweiten Bewegung ermöglicht haben. Mittlerweile studieren sie an der ETH Zürich Umweltwissenschaft und an der Universität Stockholm Kulturgeographie. Sie sind seit Dezember 2018 dabei, damals noch als Schülerinnen, haben sich in den globalen Chats schon ganz früh zusammengeschlossen, die weltweiten FFF-Sitzungen geleitet und sich im März 2019 kurz vor dem ersten globalen Streik in Straßburg mit 60 anderen europäischen Jugendlichen getroffen. Später haben sie zusammen am World Economic Forum in Davos teilgenommen. Und ohne sie wäre es vielleicht nicht zum Lausanner Smile-Treffen im August 2019 gekommen, an dem sie mit 400 anderen Jugendlichen die Bewegung weiterentwickelt haben. Wenn jemand – ohne die neuen Klimabewegungen zu kennen – eine Bewegung aufbauen wollte, die die Welt verändert und Millionen von Menschen vereinigt im Kampf gegen die ökologische und Klimakrise, auf welche Prinzipien würde man sich da festlegen? Was sollte im Zentrum stehen und garantieren, dass sich hunderttausende von Menschen anschließen wollen; dass aber auch wirklich klar wird, wieso und wie unsere Gesellschaften verändert werden müssen? Was haben eigentlich die Jugendlichen als Bewegung geschaffen? Das Fridays For Future-Dokument, das am nächsten einer Grundsatzerklärung kommt, ist die Deklaration von Lausanne. Weil es nur von vor allem weißen, europäischen Jugendlichen aus 28 Ländern geschrieben wurde, erhebt es nicht den Anspruch, für die ganze Bewegung zu sprechen; darauf legen auch Isabelle und Loukina Wert. Aber es stellt ein gutes Ausgangsmaterial dar für ein besseres Verständnis der Grundanliegen.
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Dritter Teil: Gemeinsam in die Zukunft
In diesen Wochen denke ich: Greta und ihre Mitstreiter_innen hätten sich vor ihre Schule setzen können; mit einem politischen Programm; und sie hätten eine NGO vertreten oder eine neue organisieren können. Aber sie haben nichts dergleichen getan, sondern sich um den Kern der Demokratie gekümmert. Sie sitzen vor dem Parlament, dem Zentrum der Macht, und streiken. Sie verweisen auf die öffentlich finanzierten Forschungsinstitute der Demokratie, die Universitäten mit ihren wissenschaftlichen Forscher_ innen, und sie denken von Anfang an global, beziehen mit dem Hashtag und englischen Namen alle ein. Und die Ausgangsbasis ist das Dokument, das Pariser Abkommen, das im Prinzip alle Staaten bereits unterschrieben und anerkannt haben. Was gefordert wird von der Welt ist nichts Radikales, sondern das, was ihnen bereits alle versprochen haben und nicht einhalten. Ihnen geht es um das Strukturelle, und sie fassen es in Lausanne so zusammen: 1. Folgt dem Pariser Abkommen, also bringt Regeln zustande, die die Erderwärmung wenn möglich unter 1,5 Grad halten! 2. Setzt alles um mit der Perspektive der Klimagerechtigkeit und »Equity«/ Fairness! 3. Folgt der besten zugänglichen Wissenschaft!
Forderung »Folgt der Wissenschaft« Dass die größte Umweltbewegung der Geschichte sich genau auf diese Prinzipien verpf lichtet, ist nicht selbstverständlich. Was bedeutet das »hört auf die Wissenschaft« und die »Klimagerechtigkeit« eigentlich, frage ich Loukina und Isabelle. »Wir gehen von den Fakten zur ökologischen und Klimakrise aus; wir setzen da an. Es geht uns zunächst nicht um Meinungen oder Überzeugungen wie in anderen Bewegungen oder Parteien. Wir setzen bei den Krisen an, ihrem wissenschaftlichen Hintergrund und beim Wissen, dass sie für unsere Zukunft schlecht sind und bereits jetzt Schaden zufügen. Menschen und Tiere leiden und werden leiden.« Diese Fakten über die Welt lassen sich nicht wegdiskutieren. Darum setzen die Jugendlichen da an. »Denen, die das bezweifeln oder leugnen«, sagt Loukina, »können wir darlegen, dass diese Zusammenhänge, die hinter den Krisen stecken, ein ums andere Mal wissenschaftlich aufgezeigt wurden. Es geht um Natur-
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gesetze. Und diese sind verschieden von subjektiven Überzeugungen. Es gibt da eine Essenz, die jenseits von unseren Wünschen liegt.« Die Bewegung meint mit dem »hört auf die Wissenschaft« vor allem die Grundlagenforschung, nicht jede Meinung von jeder Wissenschaftler_in. Deswegen ist der Spezialrapport IPCC SR1.5 so wichtig für sie, der genau zu Beginn der Streiks von der UNO publiziert wird als politisch legitimiertes Resultat von hunderten von Forschungsgruppen und der zeigt, wieso es so wichtig ist, die 1 5-Grad-Erwärmung nicht zu überschreiten, weil sonst unter anderem potentiell desaströse »Tipping Points« erreicht werden. Auf diesen Konsens der Wissenschaftscommunity beziehen sie sich. »Natur ist etwas, was jenseits von uns Menschen und jenseits unserer Projektionen liegt. Wir können nicht plötzlich sagen, dass es keine Gravitation mehr gibt, oder die erhöhte CO₂-Konzentration keine Erwärmung erzeugt. Es geht wirklich um die Moleküle und ihr Verhalten. Und sie verhalten sich immer gleich, ein ums andere Mal«, fährt Loukina fort, »aber im Europa und in der Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts haben wir eine eher selbst-zentrische Sicht, die bewirkt, dass Leute ganz verwirrt sind, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, das jenseits von ihnen liegt und nicht von ihrer Meinung abhängt. Und nicht in die Algorithmen passt, die die sozialen Medien ihnen auf den Leib schneidern. Sie schieben oft die Fakten einfach weg, ignorieren sie. Da fangen wir an einem anderen Ende an.« Aber ist es wichtig, dass alle Menschen die wissenschaftlichen Grundlagen der Klimakrise verstehen, wenn sie reagieren sollen? Oder geht es darum, dass sie zumindest die Fakten anerkennen? »Ich verstehe ja nicht einmal die ganzen wissenschaftlichen Prozesse, und ich studiere sie an der Universität«, sagt Isabelle. »Aber ich verstehe die Korrelation zwischen unseren Emissionen und der Erderwärmung, die dann wiederum zu möglichen Desastern führen kann. Wenige Menschen werden die Chemie und Physik hinter alledem verstehen, aber wir sollten die Konsequenzen unseres Agierens einsehen. Insofern müssen alle verstehen, was sie verursachen, wenn sie Emissionen produzieren.« »Ja genau, und es ist auch die Aufgabe von Wissenschaftler_innen, dies zu kommunizieren«, fügt Loukina hinzu. Aber noch einmal: Ist es nicht erstaunlich, dass sich die ganze Bewegung auf dieses Motto festlegt, »listen to the science«, und die Menschen an die Universitäten verweist? »Das ist auch eine Reaktion auf allzu spezifische Forderungen«, erklärt Isabelle. »Es geht eben nicht um unsere Meinungen oder Parteipolitik, sondern um ein ganzheitliches Verständnis der Krise und wie wir das ›earth system‹ verändern; und dass wir damit schnell auf hören
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müssen. Außerdem gibt es uns Legitimität. Wir behaupten nicht, selbst mit allen Lösungen zu kommen. Wir verweisen auf die Forschung. Und wir sagen den Politiker_innen: Hej, ihr müsst auf dieses Wissen eingehen, das an den Universitäten als demokratische Institutionen anerkannt ist, und es ins reale Leben übersetzen, durch angemessene Maßnahmen.« »Und das würde bedeuten«, führt Loukina den Gedanken weiter, »dass diese Politik akzeptiert, dass es diese Art von Forschung gibt, und man nicht einfach irgendetwas behaupten kann und dann keine Verantwortung für den Zustand der Welt übernimmt. Wir müssen diese Art von Relativismus durchbrechen, also dass die Leute nicht argumentieren und sich der Welt annähern und stattdessen sofort darauf verweisen, alle hätten ein Recht auf ihre eigene Version der Welt. ›Hört auf die Wissenschaft‹ ist eine Art Gegenprogramm dazu.« Es führt zu einem Gespräch, denke ich, dazu, miteinander die Sicht zu schärfen, und sich der Welt zu nähern. Darin besteht der eigentlich demokratische Prozess.
Forderung »Klimagerechtigkeit« Und wie hängt die Forderung nach Klimagerechtigkeit mit all dem zusammen? Wie kommt sie ins Spiel? Man kann ja verstehen, dass die Jugendlichen die Regierungen auf das Pariser Abkommen festlegen wollen samt auf die Wissenschaft, die etwa im IPCC-SR1.5-Rapport genau sagt, was es bedeutet, die Erderwärmung unter zwei oder 1,5 Grad zu halten. Dass wir praktisch keine Emissionen mehr produzieren dürfen. Aber man kann sich ja Klimaund Umweltbewegungen ausmalen, wie etwa Extinction Rebellion, die dies einfordern, ohne auf die Gerechtigkeitsdimension einzugehen. »Das hat damit zu tun, wie die Welt funktioniert«, sagt Isabelle. »Dass alle Aspekte verbunden sind. Würden wir nur eine politische Maßnahme oder Forderung anpeilen, würden wir sofort einsehen, dass diese nicht genügt, um der Klimakrise beizukommen. Es sind so viele Aspekte, die zu den Krisen beitragen, dass du bald siehst, oh, es ist ein ganzes System; diese Dinge hängen zusammen.« Beide verweisen auf unsere Gesellschaften, wie wir essen, uns kleiden, Dinge transportieren und wie dies alles zusammenhängt; aber auch wie unser Verhalten im globalen Norden mit den Verhältnissen im globalen Süden verbunden ist. Wenn wir zum Beispiel plötzlich auf hören, bestimmte T-Shirts zu kaufen, verlieren auf einen Schlag tausende von Menschen ihre Arbeit in Bangladesch. »Das muss man gerecht organisieren, diese Trans-
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formation. Sonst trifft es die am härtesten, die sowieso am wenigsten zu sagen haben«, sagt Isabelle, »und die bereits lange Zeit ungerecht behandelt wurden und bereits unter den Verhältnissen leiden.« »So vieles hängt wirklich mit allem anderen zusammen in dieser globalen Wirtschaft so wie wir sie aufgebaut haben seit der industriellen Revolution. Und eine so drastische Veränderung, wie wir sie jetzt brauchen, kann da ganz ungerechte Konsequenzen haben. Auf die Wissenschaft zu hören und die Veränderung gerecht zu gestalten, heißt also nicht nur, auf einige Länder zu achten, und auf einige Menschen, sondern auf alle, und es gerecht und sicher zu gestalten für alle. Vielleicht ist Fridays For Future auch deswegen so schnell zu einer globalen Bewegung geworden, weil dieser Blick auf alle von Anfang an da war.« »In der Schweiz haben wir lange über diese Forderung nach Klimagerechtigkeit diskutiert«, erklärt Loukina. »Das sind zunächst ja einfach zwei Begriffe, die aneinander gepappt sind. Aber es macht Sinn. Wir müssen jetzt sehr schnell von Punkt A nach Punkt B gehen, und da ist notwendigerweise eine ethische Entscheidung involviert, wie genau wir das tun. Wir können uns eben dafür entscheiden, dabei einen Blick auf alle einzunehmen.« Aber was ist Gerechtigkeit? Ich denke an die Fakten, wie zum Beispiel, dass jeder Mensch nur etwa 1,5 Tonnen CO₂ pro Jahr ausstoßen darf, wenn allen weltweit gleich viel zugemessen wird. Die Europäer_innen, die reicheren, müssen 90 Prozent ihrer Emissionen einsparen in zehn, fünfzehn Jahren. Stattdessen wollen sie sich durch das Offsetting freikaufen bei ärmeren Ländern und ihren Lebensstandard halten. Ist das gerecht? Flughäfen müssen geschlossen, die Ernährung muss vegetarisch umgestellt, der öffentliche Verkehr ausgebaut werden; und dies überall. Berufe verschwinden, neue entstehen; und das muss gerecht organisiert werden. »Wie du Gerechtigkeit definierst, entspricht deinem Wertesystem«, sagt Loukina. »Ja, und verschiedene Menschen haben verschiedene«, fügt Isabelle hinzu, »je nach politischer Philosophie.« Bedeutet das, dass es gar kein gemeinsames Verständnis gibt von Klimagerechtigkeit? Es gibt so etwas wie ein Grundverständnis, darin sind sich beide einig. Dass die reicheren Länder mehr bezahlen müssen, etwa an »fair shares«, als die ärmeren (civilsocietyreview. org/report2018); und dass sie ihre Emissionen schneller reduzieren müssen. Und dass es so etwas wie eine historische Last gibt, was die Emissionen anbelangt, aber auch das Ausnutzen des globalen Südens durch den Norden in der fossilen Gesellschaft seit hunderten von Jahren. Und eben, dass die einzelnen Schritte der Gesellschaftsveränderung, die wir jetzt alle zusammen
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angehen müssen, so geregelt werden sollen, dass die an Ressourcen Ärmeren in den Ländern und im globalen Süden in Schutz genommen werden. Dazu gehört auch die finanzielle Hilfe für Schäden, die bereits jetzt geschehen und immer mehr zunehmen. Isabelle ist schon seit Beginn des Streiks zusammen mit den anderen Münzplatzjugendlichen in Kontakt zu Isak Stoddard, der an der Universität Uppsala ein detailliertes Modell zur Berechnung all dieser einzelnen Gerechtigkeitsgesichtspunkte ausgeformt hat (Anderson et al. 2020). »Natürlich haben verschiedene Menschen verschiedene Auffassungen von dem, was Gerechtigkeit ist«, fahren die beiden fort. »Einige betonen vielleicht mehr, dass der Staat vor allem die Freiheit aller garantieren sollte. Andere würden sagen, nein, es geht vor allem um das Ausbügeln der ungleichen Ausgangsbedingungen oder die Reaktion auf strukturelle Diskriminierung, was Gender, Klasse, Ethnizität anbelangt.« »Deswegen ist es wichtig, dass Fridays For Future all diese Dimensionen anspricht. Jugendliche mit verschiedenen Wertesystemen sollen sich anschließen können. Aber es ist schwer zu verstehen, wieso einige Menschen es grundsätzlich besser haben sollten als andere; etwa, was den gesamten Kohlendioxidausstoß oder den ökologischen Fußabdruck anbelangt. Das ist eine Frage der Würde, des Anstands. Und da müssen die Europäer_innen ja schnell 90 Prozent ihres CO₂-Ausstoßes und 75 Prozent ihres ökologischen Fußabdruckes loswerden.« Beide weisen darauf hin, dass dies nicht mit dem Sich-Freikaufen in ärmeren Ländern kompatibel ist. Sie haben die Fachliteratur studiert und die Argumente dafür und dagegen zur Kenntnis genommen. »Wir müssen auch innerhalb der Bewegung immer und immer wieder alle Argumente prüfen und einander herausfordern«, sagt Loukina. »Was bedeutet deine Freiheit, wenn die Freiheit eines anderen Menschen durch dein Verhalten eingeschränkt wird? Nicht alle Konzeptionen von Gleichheit und Fairness sind gleich gut. Wir können da weiterkommen. Freiheit zum Beispiel auf bewusste Entscheidungen zu verkürzen ist zu einfach gedacht; was, wenn es Optionen gibt, von denen du gar nichts weißt? Wir brauchen Philosoph_innen, die diese Konzepte wie Gerechtigkeit und Freiheit neu definieren für unsere Zeit, mit den Argumenten, die die globale Klimakrise nahelegt.« »Ja, und es geht darum, Kriterien festzulegen davon, was wir erreichen wollen. Daran können wir dann Gerechtigkeit messen.« »Niemand soll leiden. Alle sollen ein anständiges Leben haben. Niemand hat das Recht, andere auszunutzen. Wieso soll es einigen besser gehen als anderen, oder sogar auf Kosten anderer, etwa indem man mehr vom Emissions-Kuchen benutzt?«
Kapitel 1: Worum es der Klimastreikbewegung geht
Die Verbindung der drei Forderungen und die Frage nach dem Systemwechsel So sind ja alle drei Forderungen verbunden, denke ich, im Rückblick auf unser Gespräch. Schließlich steht ja im Pariser Abkommen, dass das Agieren der Staaten sich an Kriterien und Prinzipien der Fairness und Gerechtigkeit bemessen lassen soll. Darauf haben sich alle Länder verpf lichtet. »Folgt dem Pariser Abkommen sowie der Wissenschaft, die erläutert, was es heißt, die Erderwärmung deutlich unter zwei, wenn möglich 1,5 Grad zu halten; und verwirklicht das Prinzip der Gerechtigkeit.« Das Besondere an der Konstruktion von FFF’s Forderungen ist dabei, dass die einzelnen Elemente unschuldig aussehen. Die demokratisch legitimierte Politik (Pariser Abkommen); die Wissenschaft (IPCC SR1.5); und die Ethik (Gerechtigkeit). Aber deren Mischung ist explosiv, und wie. Wer gerecht die Politik so umgestalten will, dass die Erderwärmung und die ökologische Krise aufgehalten werden, muss die Emissionen in reicheren Ländern mit über zwölf Prozent kürzen, dabei Macht verteilen und ein würdiges Leben für alle garantieren. Das kommt in den Augen von vielen einem systemischen Wandel gleich, einem Demokratisierungsschub, den die tausenden Jugendlichen vorantreiben: Alle Menschen müssen in ihren Bedürfnissen gesehen, die Macht verteilt und der Einf luss auf die Gesetzgebung durch die Teilnahme größerer Teile der Bevölkerung verbreitet werden. In diesen Sommerwochen kommen Berichte der WMO, der UNO-Weltorganisation der Meteorolog_innen (WMO 2020), dass die Temperatur zwischen Juni 2019 und Juni 2020 bereits 1,39 Grad über der vorindustriellen Zeit liegt und dass es in den nächsten fünf Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent dazu kommt, dass mindestens ein Jahr mehr als 1,5 Grad wärmer ist. Das Pariser Abkommen lässt sich immer noch einhalten, aber der Druck, sofort die Emissionen zu stoppen, ist enorm. »In der Schweiz haben wir auch weitere Grundforderungen diskutiert und eingeführt«, sagt Loukina. »Etwa den Notstand auszurufen. Wie sollte man sonst die Gesetze so schnell verwirklichen? Und außerdem haben wir erwähnt, dass es vielleicht einen Systemwandel braucht. Wiederum haben wir versucht, möglichst vielen die Teilnahme an der Bewegung zu ermöglichen, und doch einen internen Kompass zu etablieren, für dessen Bestimmung und Durchsetzung wir immer bessere Argumente finden können.« »Von systemischem Wandel oder Transformation zu sprechen ist auch deswegen klug«, sagt Isabelle, »weil wir
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Dritter Teil: Gemeinsam in die Zukunft
dadurch anerkennen, dass die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen eben holistisch sein müssen, ganzheitlich. Es genügt nicht, wenn wir mit einer Forderung in Bezug auf die Landwirtschaft daherkommen.« »Aber die meisten Menschen würden wohl immer noch für Parteien stimmen, die nichts von solch einem Systemwandel und vom Durchsetzen der Gerechtigkeitsprinzipien halten«, sagt Loukina. »Wir müssen deren Denkweise und Argumente verstehen, so dass wir sie einbeziehen können.« Wie könnte ein solch gerechter Systemwandel also zustande kommen, überlegen die beiden, und denken an ihre gemeinsame Zeit in Davos zurück. Man muss ja umdefinieren, was Wirtschaften ist, und was ein gutes Leben für alle. Etwa bei einem Treffen der Mächtigsten wie beim World Economic Forum? Könnten diese ein gerechteres und nachhaltigeres System designen und durchsetzen? »Aber denen geht es viel zu gut, die stopfen ihre Schokolade in sich hinein da in den Schweizer Bergen und sind nie mutig genug, wirklich eine Veränderung anzustreben.« Ich erinnere die beiden an die neoliberale Mont-Pèlerin-Gesellschaft, die so etwas durchgesetzt hat, einen Masterplan entwickelt und das globale Wirtschaftssystem nachhaltig verändert, Think-Tanks gegründet, Seilschaften geschmiedet und so weiter. »Wie ihr in Lausanne beim internationalen FFF-Treffen …«, füge ich hinzu. »Das Problem ist nur, dass die Mächtigen diesmal nicht profitieren werden.« Wie wird die Veränderung kommen? Wenn nicht von solchen Machtklüngeln, wie dann; von Regierungen? »Ja, diese Veränderung könnte von den Regierungen kommen«, sagt Isabelle. »Aber nur, wenn die Bevölkerungen, wir alle, unsere Stimme erheben.«
Graswurzelbewegungen, Gerichtsprozesse und der neue Zeitgeist Deswegen sind Graswurzelbewegungen so wichtig, denke ich. Und deswegen sollten wir es allen ermöglichen, sich einer großen Bewegung anzuschließen und eine sofortige Veränderung für eine gerechte, nachhaltige Welt einzufordern, überall. »Die müssen sich bedrängt fühlen, solange sie am Alten festhalten. Es ist noch viel zu angenehm, einfach so weiterzumachen. Wir müssen sie dazu bringen, den Notstand einzugestehen. Gesetze in einem normalen Verfahren durchzubringen, dauert etwa fünf Jahre. Bis dahin müssten wir ja bereits massiv Emissionen gestoppt haben. Wir können nicht
Kapitel 1: Worum es der Klimastreikbewegung geht
nach den üblichen Regeln vorgehen. Wir brauchen sofort ein Klimagesetz, das wirklich Veränderung bringt. Wie soll das gehen?«, fragen die beiden. »Ich komme zu den Bürger_innenversammlungen zurück, oder etwas ähnlichem«, sagt Loukina. »Wie wir es in Davos probiert haben. Die Bevölkerung muss sich melden und zusammenschließen, zeigen, dass wir uns andere Regeln geben können. Wir können alle zusammen beschließen, wie wir leben wollen, dass wir den Rahmen für das Zusammenleben umbauen wollen und es auch tun.« Die Gerichte, das Justizwesen könnten eine Rolle spielen, füge ich hinzu, etwa mit deren Verständnis von Gerechtigkeit, gerade von intergenerationaler, also dem Recht der Jugendlichen auf eine sichere Zukunft (dazu Greenwell 2019). »Auf der anderen Seite hat ein Gericht gerade grünes Licht gegeben für den Ausbau der Preemraff-Ölraffinerie in Schweden, was den CO₂-Ausstoß des Landes enorm erhöht«, sagt Isabelle. »In der Schweiz hat ein Gericht unseren Mit-Aktivist_innen Recht gegeben, als sie in der Credit Suisse Tennis spielten und so auf die Finanzierung der fossilen Industrie aufmerksam machten«, hält Loukina dagegen. In Amerika stoppt das föderale Gericht in diesen Wochen den Betrieb der Dakota-Pipeline und reagiert damit auf den jahrelangen Aktivismus. Und ein anderes erklärt in einem wegweisenden Prozess die Hälfte von Oklahoma zum Grund und Boden der Ursprungsbevölkerung, inklusive der Halb-Millionenstadt Tulsa (Healy/ Liptak 2020). Und die Prozesse von Greta und 14 anderen Kindern gegen Macron und Merkel laufen noch. Dänemark hat ein neues Klimagesetz etabliert, das Mechanismen umfasst, die es trotz möglicher Regierungswechsel für die nächsten zehn Jahre auf Kurs halten sollen. In Irland verurteilt das Gericht die Regierung zu deutlicherer und wirkungsmächtigerer Klimapolitik – wie in Holland einige Jahre zuvor (Göbel 2019). »Ökozid« wird vielleicht bald als Vergehen vom Internationalen Strafgerichtshof anerkannt. Sie verschieben durch ihren Klimastreik und den täglichen Kampf vielleicht gerade den Zeitgeist, das, was als vernünftig gilt, denke ich. Bis es plötzlich ethisch nicht mehr vertretbar ist, so weiterzumachen, für keine Regierung, kein Gericht, wie im Fall der Frauenbewegung einige Jahrzehnte zuvor. Und sich Machtverhältnisse wirklich verschieben. Dies bewirken sie mit ihrem Mut, diese beiden, und mit ihnen Millionen andere Kinder und Jugendliche, vor unseren Augen: dass sie weltweit zusammen mit Vanessa und Hilda in Uganda, Howey Ou in China, Mitzi auf den Philippinen und Arshak in Moskau, mit denen sie im permanenten Austausch stehen, den Maßstab verschieben.
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Sie alle sind bereit, mit ihrem Streik in die Öffentlichkeit zu treten und Strafen und Sanktionen entgegenzunehmen. Sie markieren, dass es nicht mehr in Ordnung ist, zur Fleischproduktion den Regenwald zu roden, Palmöl anzubauen, Kohlekraftwerke zu bauen, Banken zu betreiben, die dieses System aufrechterhalten, so dass die Macht bei einigen Menschen und Geschäften konzentriert wird; weil es das Leben dieser Jugendlichen in einer kaum vorstellbaren Weise kaputt macht und machen wird, und weil Demokratie als die gleiche Macht aller nicht mit diesem System kompatibel ist. Wer will an eine Milliarde Menschen auf der Flucht vor Wasserknappheit und Hitzewellen denken? Die oft weißen reichen Männer hinter der fossilen Gesellschaft stehen plötzlich als groteske Wesen da, die am Alten festhalten. Vielleicht arbeiten die Jugendlichen am meisten daran: dass eines Tages das Ausbuddeln und Verbrennen von Kohle, Öl und Gas als verbrecherisch gesehen wird, als ethisch völlig schief; und das Festhalten an Geschäftsmodellen, das Macht fokussiert und nicht allen dient, auch. Einige mutige Menschen sagen: Nein. Ab sofort ist das absurd. Wir sind gleich, frei, eine Menschheit auf einem Planeten. So geht es nicht mehr weiter. In diesen Sommermonaten des Jahres 2020 schmilzt der Permafrost in Sibirien in einem rasenden Tempo. Plötzlich ist es 38 Grad warm im Norden Russlands und wochenlang herrscht eine unerträgliche Hitze, wie sie noch nie gemessen wurde. Die Spezialist_innen sprechen von ihren Alpträumen, die das freiwerdende Methan durch das Auftauen der Permafrostböden verursacht. Und die Abholzung des Regenwaldes beschleunigt sich in Brasilien unter dem Bolsonaro-Regime im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent, während die betroffenen Dörfer der indigenen Bevölkerung rund um Manaus von der Corona-Krise hart getroffen werden (Phillips/Maisonnave 2020). Forscher_innen zeigen gleichzeitig auf, wie die Wahrscheinlichkeit von »Tipping Points«, wie dem Auftauen des Permafrostbodens, bereits durch die Überschreitung des 1,5-Grad-Zieles deutlich erhöht wird, und nicht erst bei zwei Grad (Lenton et al. 2019). Neue Studien zeigen: Die Gletscher schmelzen in den Alpen mit etwa einem Prozent pro Jahr (Sommer et al. 2020). Sie werden fast alle bis zum Ende des Jahrhunderts verschwunden sein, für immer, und mit ihnen ein Teil der Trinkwasserversorgung.
Kapitel 1: Worum es der Klimastreikbewegung geht
Die deutsche Regierung beschließt im Juni, die Kohlekraftwerke bis 2038, also noch fast 20 Jahre, im Betrieb zu halten und verspricht den privaten Betreibern wie RWE Kompensationszahlungen in Milliardenhöhe. Das neue Kohlekraftwerk »Datteln 4« geht ans Netz. Kevin Andersons Studie (et al 2020) wird im Juni publiziert und zeigt: Die Emissionen müssten über zwölf Prozent zurück, pro Jahr, jedes Jahr, ab sofort, in den europäischen Ländern; gerade aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten. Das Schweizer Parlament strebt stattdessen zur gleichen Zeit im neuen CO₂-Gesetz insgesamt etwa 25 Prozent Minderung an innerhalb der Schweizer Grenzen, in den nächsten zehn Jahren. Die Klimakrise verstärkt die Intensität und Häufigkeit der weltweiten Naturkatastrophen. In Uganda meldet sich Hilda, als der Victoriasee über die Ufer schwemmt. China wird überf lutet, so dass Millionen Menschen ihr Heim verlieren. Die wohl mutigste Klimastreikende der globalen Rebell_innen, Howey Ou, schreibt Mitte Juli einen verzweifelten Tweet aus dem überschwemmten China, der aufschrecken lässt. Am selben Tag wird der klimastreikende Arshak in Moskau verhaftet und von der Polizei weggeführt. Die Keeling-Kurve zeigt im August mit 417 ppm eine CO₂-Konzentration in der Luft an, die die höchste ist seit etwa drei Millionen Jahren, als der Meeresspiegel mehrere Meter höher lag. Die reichen Länder investieren in der Corona-Krise viel mehr Geld in die fossile Wirtschaft als in die erneuerbaren Energien (Simon 2020).
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Kapitel 2: Zum Verhältnis von Jugendlichen und Erwachsenen Wie wir alle Geschichte schreiben können Ein Weckruf – wie die Erwachsenen erreichen? Was braucht es jetzt? Einen Weckruf an alle, an die Machthabenden und die breite Masse? »Einen Wecker kann man ja einfach abstellen«, sagen Loukina und Isabelle. »Wir brauchen etwas Anderes.« Das leuchtet mir ein: Die Gefahr ist, dass die Parlamentarier_innen und Regierungen – und mit ihnen ein großer Teil der Bevölkerung – einfach immer alles weiter hinauszögern werden. So können die Jugendlichen nicht wissen, ob die Emissionen wirklich zurückgehen werden. Wie ihre Zukunft aussehen wird, ist völlig unklar. Bisher hat diese zaudernde Strategie der Politik wenig gebracht, vor allem auf dem globalen Niveau. Neue Kraftwerke werden gebaut. Die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre steigt weiter und weiter an, und entsprechend die Temperatur weltweit – mit all den verheerenden Konsequenzen von Dürren, Überschwemmungen und ausfallenden Ernten in diesem wärmsten Jahrzehnt, das je gemessen wurde. Wie diese Dynamik durchbrechen, die Greta in ihrer Rede in Madrid »misleading« statt »leading« nennt? Eine »Prokrastination«, wie Isabelle sagt. »Wir müssen allen die Augen öffnen und offenhalten, sie nicht nur wecken«, fügt Loukina hinzu. »Die Nase, die Ohren und den Geschmackssinn, so dass sie nicht mehr in den Halbschlaf zurückfallen können.« Was würde es brauchen, denke ich, damit wir alle wieder friedlich schlafen und durchatmen könnten? Damit wir wissen könnten, dass ein gigantisches Gesellschaftsprojekt auf die Beine gebracht ist, das wirklich die Krise ernst nimmt und das die Erwärmung und den Artenverlust stoppt? Vielleicht könnte gerade das Aufzeigen eines solchen Krisenplans das sein, was die Augen öffnet. Wir müssten jetzt alle zusammensitzen, die Krise ein-
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gestehen und ein neues Rahmenwerk definieren und implementieren. Das könnte in wenigen Wochen oder Monaten geschehen.
Öffentlichkeit »Doch wie die öffentliche Meinung verändern? Es gibt so wenige öffentliche Räume«, sagt Loukina. »Bürger_innenversammlungen müssen her, an denen sich alle beteiligen können. Die Bevölkerung will ja nicht die Zerstörung ihrer eigenen Grundlagen.« Wie die Meinungsumfragen im April und Juni 2019 zeigen, damals, als der erste globale Streik stattfand und die XRBlockade von London, kippte die öffentliche Meinung um. Plötzlich fanden weit über die Hälfte der Brit_innen, dass die Politik ganz anders auf die ökologische und Klimakrise reagieren sollte, etwa mit einer Notstandserklärung (Barasi 2019). Eine »Disruption« hat zu einer Änderung der öffentlichen Meinung geführt. Sie haben die Diskussion und den Diskurs bereits verschoben, aber jetzt kommt der schwierigste Schritt. Wie wirkliche Änderungen politisch verankern? Meine Studierenden, denke ich, diese jungen Erwachsenen, wenn sie im Universitätsraum diskutieren, finden oft auch, dass die Klimakrise bedrohlich ist; und dass wir alle Formen von Herrschaft hinterfragen und ersetzen sollten, was Gender, Klasse, Ethnizität, Heteronormativität und so weiter anbelangt. Sie hören den Forschenden zu, wägen Argumente ab, und stimmen in vielem überein. Sie wünschen sich ernsthafte politische Änderungen. Dann gehen sie aus dem Zimmer hinaus, und alles scheint wie nur ein Traum gewesen zu sein. Wie wenn da etwas geschehen würde, wenn sie die Türschwelle überschreiten und im öffentlichen Raum landen. In ihm für Regelveränderungen einzustehen, wird zu einem enormen Schritt. Und dies, obwohl wir mit unseren Studierenden Hegemonie-Theorien durchgeackert haben, die beschreiben, wie eine herrschende normierende politische Ideologie wirkt. Was abweicht, wird als merkwürdig definiert, als nicht legitim, selbst wenn viele eigentlich diesem Neuen zustimmen würden. Die meisten wollen das Richtige tun, denke ich, aber es gibt noch keine Möglichkeit, dies niederschwellig zu machen, so dass man nicht als schräg angesehen wird. »Wir Kinder und Jugendlichen denken anders«, sagen Isabelle und Loukina. »Bei uns gibt es noch eine Bereitschaft, unkonventionell zu denken, oder eben vernünftig. Wir sind nicht gefangen in den Mechanismen, die die Ge-
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fahren wegerklären, wie sie diese Davos-WEF-Machthabenden entwickelt haben.« »Und wir trauen uns noch, wirklich den Schritt über die Schwelle zu tun.« Isabelle und Loukina erinnern sich zurück an den ersten Streik, an den Moment, als sie diesen Schritt gemacht haben. »Ich sollte das nicht tun, ich sollte es nicht tun, dachte ich, aber es ist so wichtig«, sagt Isabelle. »Und dann wird es fast schon eine Routine, und als ich dann einmal nicht hinging zum Streik, fühlte es sich so falsch an.« »Wir haben immer von zehn Uhr an gestreikt«, sagt Loukina. »Also wir gingen wirklich aus der Schule hinaus, was ein großer Schritt ist, weil man ja vor den Lehrenden steht. Man nimmt ein Mikrofon und ruft: Geht raus, streikt! Wir wussten, dass wir das Richtige wollen, nicht den Unterricht vermeiden, sondern auf die Krise aufmerksam machen. Wir haben den Klassen erklärt, wieso es wichtig ist, und dann gerufen: Es ist Zeit, zu streiken!«
Die Rolle der Erwachsenen Welche Rolle haben die Erwachsenen, die breite Bevölkerung? »Man kann das Bild einer Hand mit Fingern benutzen. Fridays For Future ist ein Finger, derjenige, der von uns Jugendlichen initiiert wurde und geleitet wird. Erwachsene können helfen, wenn sie freundlich sind, aber nicht plötzlich leitende Funktionen übernehmen«, sagen die beiden. Vor allem, denke ich, müssten alle unterschreiben, dass das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen Priorität hat. »Ihre Aufgabe ist es da vor allem, dass sie an uns glauben, uns vertrauen«, führt Loukina aus. »Wir haben unsere unkonventionellen Ideen, machen Dinge, die vielleicht schief sind, aber diesen Freiraum müssen wir haben. Sie können sich bei den Parents- oder Scientists-Gruppen voll einbringen.« »Das heißt aber nicht, dass wir nicht alle brauchen. Eben als ergänzende Teile der einen umfassenden Klimagerechtigkeitsbewegung, eben der Hand mit allen Fingern«, führt Isabelle aus. »Leider sind nur die Jungen präsent und die Großeltern, aber nicht die mittlere Generation, die an der Macht ist. Deswegen wollten wir einen Generalstreik durchziehen, um alle Arbeitenden in die Bewegung hineinzuholen«, erklärt Loukina. »Wir brauchen alle. Viele haben zwar mit Blick auf das Klima gewählt, aber alles geht so schnell, und die Leute vergessen wieder, worauf es ankommt. Das war das Gute an der Week For Future im September, da waren wir alle zusammen auf den Straßen.«
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Aber gibt es nicht doch eine Problematik, dass es die Erwachsenen sind, die die Misere verursacht haben, jetzt an der Macht sind und die Zukunft der Kinder verdunkeln? »Diese Dynamik gibt es, auch dass wir manchmal unglaublich wütend sind, etwa wenn wir Politiker_innen gegenüberstehen. Wobei sich das auch verändert über die Zeit. Manchmal erwartet man schon gar nichts mehr von ihnen, so beschränkt sehen sie auf ihre Handlungsoptionen.« »Es ist, wie wenn sie die Krise als Krise nicht fassen könnten. Sie sind gefangen in ihrem Denken.« »Aber auf jeden Fall kann es ja nicht darum gehen, dass die jüngere Generation die Älteren nur wegstößt und verachtet. Das haben wir so auch nie gesagt, nur dass wir ihnen nicht vergeben und ihr Handeln nicht akzeptieren, wenn sie nicht mit uns eine Lösung finden.« »Wir brauchen ja die Macht und Kraft der Erwachsenen auf unserer Seite. Es ist auch nicht der Fehler von Individuen, sondern ein systemisches Problem. Und einige von ihnen kämpfen ja in allen Weltteilen schon seit Jahrzehnten um ihr Überleben und das Erhalten der Natur.« Oft sind es die, die diesen Blick der Jugendlichen behalten haben, denke ich. Sie haben die Komplexität und Interdependenz aller Aspekte im Blick. »Aber wir Kinder haben schon eine eigene Art, zu denken und zu handeln. Wir sind freier, unabhängiger, offener oft auch. Wir sind nicht korrupt, kümmern uns als Gruppe nicht so sehr darum, was die Erwachsenen denken. Die Erwachsenen sollten viel mehr auf uns hören«, führt Isabelle aus. »Gerade wenn wir die Rahmenbedingungen verändern wollen, müssen wir viel mehr die Jugendlichen einbeziehen«, sagt Loukina. »Im Grunde müssen die Politik, die Wirtschaft, ja die ganze Gesellschaft auf Prinzipien beruhen, die Jugendliche grundsätzlich verstehen; sonst stimmt etwas nicht«, ergänzt sie. »Das ist auch eine Form von Machtkampf, weil es um Weltbilder geht.« Das Beste, was in diesen Augenblicken meiner Erfahrung nach zustande kommen kann, wenn die Jugendlichen und Erwachsenen zusammenarbeiten, ist, dass ein Blick auf das Wesentliche und Ganze zustande kommt, ein Blick darauf, was es bräuchte, um die Rahmenbedingungen zu verändern, so dass es gut für alle herauskommt. Wir sollten diese Jugendlichen viel besser inkludieren, denke ich, und ihnen wirklich Respekt zeigen; etwa das Wahlalter senken und ihnen in allen Institutionen Mitbestimmung einräumen. »Als wir für einige Wochen auf allen Ebenen gearbeitet haben, lokal in Lausanne, national und global, da konnten wir uns diese Frage stellen: Was bedeutet die globale Gerechtigkeitsperspektive hier in der Stadt oder dem Kanton? Und umgekehrt«, führt Loukina aus. Es ist dieser Blick, denke ich, den
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wir jetzt brauchen, wenn wir uns die neuen Regeln für das Zusammenleben vorgeben. Nicht dass wir einfach wie gewohnt weitermachen mit einigen Korrekturen, sondern uns getrauen, die Rahmenbedingungen abzustecken; das, was »es wirklich braucht«. So ähnlich praktizieren es die Scientists For Future um Maja Göpel und Kate Raworth, welche in vielen Städten zusammen mit den Betroffenen ihr Doughnut-Modell ausprobiert (Boffey 2020). Wenn wir jetzt die gemeinsamen Prinzipien skizzieren und demokratisch festlegen, lokal und global, benötigen wir diesen ganzheitlichen Kompass. Einen Kompass, hinter den sich alle stellen können, Kinder und Erwachsene, und zwar überall, weil er das beschreibt, was es für ein würdiges Leben braucht, für uns alle. Diesen global-lokalen holistischen Blick müssen wir jetzt festhalten, und so für alle zugänglich machen, dass daraus eine kontinuierliche Bewegung entsteht, hinter die sich alle stellen können. Dann könnten diese Jugendlichen aufatmen, weil sie wissen: Da sind Erwachsene, die sich um die Welt kümmern und die uns so viel Sicherheit geben wollen, wie es nun einmal geht im Zusammenspiel mit der Natur. Im Schweizer Radio stellt der Moderator die Frage: »Ist nicht das das Problem der Klimabewegung, dass das Auftauen des Permafrostes und das Aufsteigen des Methans unsichtbar sind? Dass wir eben nicht zusehen können, wie Tierarten in rasendem Tempo aussterben und unser eigenes Überleben bedrohen? Wie der Regenwald abholzt wird? All das ist unsichtbar, für die meisten Menschen.« Aber unsichtbar ist nicht der Klumpen im Magen dieser Jugendlichen, antworte ich. Diese Krisen beschäftigen die allermeisten Kinder weltweit, oft täglich. Sie produzieren eine dunkle diffuse Angst. Diese Jugendlichen sehen ja mögliche Bilder ihrer eigenen Erwachsenenzeit, aufgezeichnet von Forschenden in den Medien, mit Hungersnot und sozialen Konf likten (dazu Sengupta 2020).
In die Zukunft Wie können die Erwachsenen einfach so weitermachen und nicht dafür sorgen, dass diese Angst jetzt verschwindet, frage ich mich. Wir könnten uns als Weltgemeinschaft hinsetzen und gemeinsam die Rahmenbedingungen ändern, so dass sich eine produktive Energie freimachen kann; so die Utopie. So funktionieren wir Menschen, meine Studierenden an der Universität und wohl die meisten anderen auch: Sobald wir einen gemeinsamen Rahmen haben, Prinzipien und Regeln, auf deren Einhaltung wir uns verlassen können,
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haben wir Energie – etwa wie beim ersten globalen Streik, als eigentlich nur das Datum bekannt war, und die Grundforderungen. Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, einen Prinzipienrahmen und gleichzeitig genügend Freiraum haben, gibt es kaum Grenzen. Also brauchen wir den Rahmen, die Prinzipien. »Veränderung geschieht«, so fügt Loukina hinzu, »nicht nur, wenn wir neue Informationen erhalten oder zu neuem Verhalten aufgefordert werden, sondern wenn die Erwartungen sich in Bezug auf das verändern, was als normal angesehen wird. Diese Erwartungen der ganzen Bevölkerung inklusive der Machthabenden können wir bearbeiten.« Dabei geht es dieser Generation gerade nicht um Moral. Oft werden diese Jugendlichen in den Medien, fast durchweg, als die moralische oder puritanische Gruppe dargestellt. Aber sie klagen nicht andere an, sondern zielen eben auf den Rahmen und den »Mindshift« (Göpel 2016); die Verschiebung von Normalität, so dass wir uns in dem einrichten, was auf die Dauer funktioniert und nachhaltig ist. Das sind die beiden Alternativen, denke ich. Entweder wir machen weiter so wie in den letzten 30 Jahren. Mit diffusen »Klimaneutralitäts«-2050Zielen; jährlichen COP-Meetings, auf denen kaum etwas passiert; Marktanreizen für eine konsumtionsgesteuerte Umstellung; leicht veränderte Investitionsf lüsse; Hoffnungen auf neue negative Emissionstechnologien; alles global nur lose koordiniert; die fossilen Brennstoffe als national zu verwaltende Waren behandelnd – und der Wahrscheinlichkeit, dass die Emissionen wenn überhaupt nur wenig fallen und die Erwärmung immer weiter geht. »Es scheint immer eine höhere Instanz zu geben«, sagt Loukina. »Die Leute an der Macht geben dir das Gefühl, dass sie eigentlich nichts wirklich tun können. So dass du dich die ganze Zeit fragst, aber wo ist dann die Macht, die etwas verändern könnte? Sie tun oft so, wie wenn sie nicht verantwortlich wären. Kaum einer sagt: Ja, stimmt, wir etablieren jetzt eine neue Gesetzgebung. Ich werde vielleicht nicht wiedergewählt, aber was soll’s, wir können den gegebenen Rahmen transzendieren.« »Und viele sind so überzeugt, dass sie genug tun, oder behaupten, dass dies nicht in ihren Bereich falle, sondern stattdessen auf einer globalen oder lokalen Ebene gelöst werden müsse«, fügt Isabelle hinzu. Die Alternative: Wir etablieren zusammen als eine globale Bevölkerung, zusammenlebend in einer so komplexen Biosphäre, ein neues Regelwerk, das der Krise als Krise gerecht wird. Wir halten fest, wie wir es analog mit einem Vertrag beim Abbau der nuklearen Waffen getan haben, dass die Kohle, das Gas und Öl im Boden bleiben müssen, sofort, weil der Gap Report sagt,
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dass die bereits existierende Infrastruktur in den nächsten zehn (!) Jahren so viel an Emissionen produzieren wird, dass das Pariser Abkommen unmöglich einzuhalten ist, weil sich die Welt um mehr als 0,5 Grad erwärmen wird (UNEP Production Gap Report 2019). Und wir legen fest, wie dies gerecht ausgestaltet werden kann. Wir setzen Emissions-Budgets fest, globale, nationale und lokale (und eventuell individuelle), so dass wir sicher sein können, dass die Emissionen in den reicheren Ländern jährlich um weit über zehn Prozent zurückgehen und bald gestoppt werden. Wir entscheiden uns zusammen dafür, dass der Regenwald in Brasilien, Kongo und Indonesien nicht weiter für den westlichen Bedarf nach Fleisch und Palmöl abgeholzt wird, sondern im Gegenteil, dass Wälder erhalten und erweitert werden; dass große Mächte wie Deutschland und China nicht weiter auf die Kohlekraft setzen können; und dass keine neuen Investitionen durch Schweizer Banken in die fossile Gesellschaft geht, weil dies mit den Emissions-Budgets unvereinbar ist. So schaffen wir Vertrauen ineinander. Und ein gigantisches gemeinsames Gesellschaftsprojekt. Wir geben denen Einf luss, die das Know-How haben in Bezug auf nachhaltige Landwirtschaft, den Städtebau und so weiter. Aber wir setzen nicht bei diesen Sektoren an, sondern beim einfachen grundlegenden Rahmenwerk (siehe Anhang). Es ist diese Krisenregelung, die wir jetzt gemeinsam und gerecht hinbekommen müssen, halten wir in unseren Gesprächen fest. Und gleichzeitig können wir sie so ausformulieren, dass wir für sie einstehen und uns einsetzen können, jeden Tag, und sie durchsetzen, jung und alt; durch Disruptionen einerseits, durch den Auf bau einer breiten Volksbewegung andererseits; und durch Rechtssprechung und Bildung. Dies, denke ich, ist das wunderbare an FFF und S4F, und was die Geschichte der letzten beiden Jahre auch so wichtig macht. Sie haben ja nicht nur den öffentlichen Diskurs verschoben durch ihren Streik, und Millionen sensibel gemacht für die ökologische und Klimakrise. Sie haben die ganze Zeit auch an diesem Rahmen gearbeitet, indem sie sich mit uns Wissenschaftler_innen zusammengetan haben. Das war unser gemeinsames Projekt, eigentlich schon nach wenigen Tagen damals im September 2018, als wir inspiriert von Gretas Idee die erste Scientists For Future-E-Mail verschickt hatten an verschiedene Professor_innen verschiedener Disziplinen in verschiedenen Städten und gesagt haben: Wir brauchen die Unterstützung für die Jugendlichen und das Aufzeigen, dass das, was sie wollen, nicht unmöglich ist. Wir haben ja mit öffentlichen Geldern an den Ideen für diese nachhaltige Gesellschaftsumstellung die ganze Zeit gearbeitet. Wir sind in
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der Lage, zumindest an einigen Instituten, Klimawissenschaft und Ethik zusammenzubringen und zu genau solchen benötigten Rahmenbedingungen als Forschungsergebnis zu kommen, global und lokal. Und wir sind in der Lage, systemisch zu denken, wie es die Jugendlichen fordern, etwa was den Finanzsektor und die Ökonomie generell betrifft. Wie das Gesamtbild dieser Gesellschaftstransformation genau aussieht, weiß vielleicht niemand. Es gibt unzählige Szenarien. Aber den Rahmen können wir skizzieren. Das ist unser demokratischer Auftrag und die zentrale Aufgabe von uns allen, die an Universitäten arbeiten, lehren und lernen. In diesen Wochen nach zwei Jahren gemeinsamem Aktivismus liegt eine Skizze zu einer solchen Alternative vor, als Greta im Juli 2020 mithilfe von Wissenschaftler_innen und anderen FFF-Jugendlichen einen offenen Brief an die EU schickt und 20 FFF-Jugendliche aus dem globalen Süden einen ähnlichen Brief an die G20 (wie im Kapitel zur Corona-Krise und im Anhang beschrieben). Welche Auseinandersetzungen hat es nicht gebraucht, um zu diesem Rahmen zu gelangen, sowohl unter den Jugendlichen als auch unter den Wissenschaftler_innen? Dies ist eben die Geschichte von FFF und S4F; und nicht zuletzt die Geschichte der Diskussionen zwischen Isabelles und Loukinas Standpunkt. Sie haben so oft miteinander gesprochen und diskutiert, schon zu Beginn in Straßburg, dann in Lausanne und in Davos. Wie genau sollen wir für so einen Rahmen einstehen? Sollen wir Klimaaktionspläne mit Wissenschaftler_innen aushandeln oder nur grobe Rahmenpläne? Wie sollen diese aussehen; was bedeutet Klimagerechtigkeit dabei? Sie haben sich trotz der Meinungsverschiedenheiten nicht in Details verloren, sondern das gemeinsame Projekt im Auge behalten. Wie Prof. Knutti sagt (Ryser 2019): Die großen Umwelt-Probleme (zum Beispiel das Ozonproblem) haben wir als Weltgemeinschaft nie über Anreizsysteme gelöst. Es braucht einen Ruck, der uns alle auf ein neues Niveau versetzt, indem die Rahmenbedingungen als Antwort auf die Krisen neu ausgerichtet werden. Die Krise als Krise ernst nehmen, so wie die Corona-Krise ernst genommen wurde: das heißt eben, die grundlegenden Regeln zu ändern und der Realität anzupassen. Und das heißt: sich auf die Prinzipien zu einigen, und sie demokratisch zu verankern, lokal, national und global. Indem wir eingestehen, dass wir verletzlich sind und völlig voneinander abhängig, über die Nationsgrenzen hinweg. Auf dieses neue Niveau des Zusammenlebens müssen wir uns jetzt hieven. Vor zwei Jahren gab es ein Schild und ein A4-Papier, das Greta mit sich nahm. Dann haben sich fünf junge Frauen das Herz ge-
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fasst, und sich dazugesellt, Woche um Woche, auch als sich niemand um sie gekümmert hat und nichts passiert ist, in Kälte und Regen. Und jetzt besteht eine globale Bewegung von zehntausenden Jugendlichen und Wissenschaftler_innen, die über ein Programm verfügen, auf das wir uns stützen können; und dem sich alle Menschen, die auch in anderen Bewegungen aktiv sind, in Gerechtigkeits- und Klimabewegungen wie XR oder den NGOs, anschließen können zu einer gemeinsamen riesigen Volksbewegung. An einem Freitag, irgendwann, können wir zu uns sagen: Wir haben gemeinsam beschlossen, dass wir die Regenwälder bewahren, die Emissionen stoppen, die Brennstoffe im Boden halten und gemeinsam gerecht für die Grundbedürfnisse aller weltweit sorgen. Dieses Bild eines gemeinsamen neuen Krisen-Übereinkommens aufzumalen ist vielleicht ein wichtiger Teil von dem, was Loukina und Isabelle als »Augen öffnen« beschreiben: nicht nur wach zu rufen, aufzuwecken, auf die Katastrophe aufmerksam zu machen; nicht nur zu protestieren, sondern klar zu machen, dass wir erst Ruhe geben, wenn sich die Regeln geändert haben. Und nicht in irgendeine Richtung, sondern in die, die wir alle als von einander abhängige Lebewesen auf einem lebendigen Planeten brauchen. Darauf könnten wir uns festlegen, die globale Gemeinschaft. Die Idee zu den Mechanismen dazu gibt es (siehe Anhang). Dann können wir am Morgen aufwachen und wissen, oder zumindest hoffen: Oh, das Öl bleibt in Venezuela und Saudi-Arabien im Boden, die Kohle in China und Deutschland. Die Wälder bleiben stehen. Die Ernährung ist weitgehend pf lanzenbasiert. Wir wissen, dass wir die Emissionen mit über zwölf Prozent zurückfahren in Europa. Die Energie wird dezentraler und nachhaltig produziert. Vor allem aber: niemand kann andere dominieren oder ausnutzen dabei. Wir beseitigen mit den Ölbohrtürmen auch das Unrecht, das einige (vor allem Kinder, Frauen, BIPoC) unten hält und durch diese fossile Gesellschaft zugunsten einiger weniger so lange unten gehalten hat. Im Gegenteil sichern wir die Lebensgrundlage für alle, als gleiche. Wir haben dafür die Instrumente und Ideen. Wir haben ein demokratisches Rahmenwerk; und wir sind Millionen von Jungen und Älteren. Wir geben nicht nach, bis es verwirklicht ist, »we, the people … For Future.« Und wir erfinden auf dem Weg dahin, die ganze Zeit neue Wege und Mittel, wie wir dies gemeinsam verwirklichen können, mit disruptiven, gewaltfreien direkten Aktionen im Zentrum der Macht, so dass diese nicht mehr einfach so weitermachen kann, und mit breiter Volksbildung. Alle sind willkommen, alle sind gebraucht.
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Anhang: Wofür sich eine globale vereinte Klimabewegung einsetzen könnte – die Grundprinzipien
Worum könnte es einer globalen, vereinten Klimabewegung gehen? Welche »neuen Regeln« brauchen wir als »one people on one planet«? Inspiriert vom Zusammenschluss der Jugendlichen von FFF mit allen erwachsenen Klima- und Gerechtigkeitsbewegungen am COP-Treffen in Madrid entstand folgende Skizze (dazu Fopp 2020). Die Überzeugung ist die, dass es eine riesige Volksbewegung braucht, der sich alle Menschen anschließen können. Die Ideen gehen in diesem Sinn über die von FFF und XR hinaus, nehmen aber wesentliche Punkte auf (etwa festgehalten im of fenen Brief #FaceTheClimateEmergency vom August 2020 auf climateemergencyeu.org; siehe Corona-Kapitel). Mit all diesen Bewegungen teilt der folgende Vorschlag die Grundlage: Was hier folgt, ist nur eine Ausbuchstabierung des Pariser Abkommens, zu dem sich die allermeisten Länder und Parlamente bereits bekannt haben. Die Welt brennt. Was wir brauchen, ist eine globale, (im weitesten Sinn) politische Bewegung. Wir können nicht weiterhin zusehen, wie der Amazonas-Regenwald abgeholzt wird, um Fleisch für den globalen Norden zu produzieren; wie in Deutschland Kohlekraftwerke im Betrieb gehalten werden bis 2038 und gleichzeitig zehntausende von Arbeitsplätzen im Sonnen- und Windenergiesektor verschwinden; wie Milliarden Tiere in den australischen Buschfeuern umkommen; wie Millionen von Menschen in Bangladesch, China und Moçambique ihr Zuhause in den Überschwemmungen verlieren; und wie Schweizer Banken mit ihren Investitionen in die fossile Industrie weiterhin Geld machen. Wir brauchen eine gemeinsame und globale Reaktion als »one people on one planet«. Wie in Madrid auf der COP25 deutlich wurde: die gesamte Zivil-
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gesellschaft kann sich einen, kann aufstehen, für eine gemeinsame Gesellschaftstransformation. Es braucht nur noch den Schritt, dass alle kleinen wie großen Bewegungen, die Graswurzelbewegungen für soziale und Klimagerechtigkeit samt große und kleine NGOs und schließlich FFF samt XR, zusammenwirken, weltweit, und sich als Teil einer gemeinsamen globalen Bewegung verstehen und eine gemeinsame Alternative zu dem präsentieren, was jetzt bereits der Welt und der Zukunft der Kinder und Jugendlichen so großen Schaden zufügt. Was könnte der Kern einer solchen sozialen und politischen Veränderung sein, hinter den sich alle Menschen überall stellen könnten? Und die fundamental unsere Grundlagen des Zusammenlebens nachhaltig gestaltet, innerhalb von zehn, spätestens 15 Jahren weltweit? Wie könnte das Rahmenwerk aussehen, an dem alle Bewegungen, Regierungen und Organisationen sich messen lassen und zu dessen Verwirklichung sie jeden Tag aufgerufen werden müssen?
Überblick Wir sollten auf drei Pfeiler und zwei Prinzipien setzen: (1) faire globale, nationale und lokale Treibhausgas-Emissions-Budgets mit Aktionsplänen, die sofortige drastische Minderungen in allen Sektoren anleiten – statt abstrakte Ziele wie »klimaneutral, Netto-Null 2050«, die in absoluten Zahlen gemessen nichts bedeuten; (2) einen globalen Vertrag (»Fossil Fuel Non-Proliferation Treaty«), um die fossilen Brennstoffe (Öl, Kohle, Gas) im Boden zu halten; und zugleich ein unmittelbares Stoppen der Finanzierung und des Baus aller fossiler Infrastrukturen bei einem kontinuierlichen Rückbau der existierenden, als Reaktion auf den »UNEP Production Gap Report 2019« und inspiriert vom nuklearen »Non-Proliferation Treaty« (dazu www.fossilfueltreaty. org und Newell/Simms 2019); (3) eine von der öf fentlichen Hand demokratisch finanzierte, schnelle Transformation des Energiesystems hin zu einem 100 Prozent erneuerbaren, inspiriert von den globalen, nationalen und lokalen Szenarien etwa der Stanford-Gruppe (Jacobson et al. 2019) und der Gruppe um Teske et al. (2019), welche für 150 Länder einen solchen unmittelbaren Über-
Anhang: Wofür sich eine globale vereinte Klimabewegung einsetzen könnte
gang durchrechnen und im Detail beschreiben. Dieser Finanzierungsplan soll verbunden werden mit der Hilfe für die bereits geschehenen und erwarteten Schäden für die Bevölkerungen, die bereits am meisten von der Klimakrise betroffen sind und unter ihr leiden. Folgende zwei Prinzipien sollten bei dieser Umstellung gelten: (A) soziale Gerechtigkeit (global, national, lokal) und »Equity«/Fairness (im Pariser Abkommen und in der Klima-Konvention vorgeschrieben) als jeden Schritt anleitend; (B) führend zu und basierend auf dem grunddemokratischen Prinzip der Nicht-Dominanz in Bezug auf alle gesellschaftlichen Bereiche (Gender, Klasse, Ethnizität, …). Diese drei Pfeiler und zwei Prinzipien könnten den so dringend von uns allen benötigten Rahmen ergeben, der die ökologische und Klimakrise als Krise ernst nimmt. Es gibt nichts wichtigeres als seine Durchsetzung. Was bedeutet dies im Detail?
Die drei Pfeiler (1) Null-Emissions-Budgets (statt »Netto«-Null) gemäß dem IPCC-SR1.5Szenario 1 (statt Jahreszahl-Zielsetzungen wie »klimaneutral 2045 oder 2050«) samt dazu passende Aktionspläne für sämtliche Sektoren Jede politische Maßnahme sollte auf die Gesamtmenge an ausgestoßenen Treibhausgasen fokussieren, auf deren drastische jährliche sofortige Reduktion, wenn die Erwärmung aufgehalten werden soll. Und da stehen zur Erreichung des 1,5-Grad-Zieles weltweit nur noch um die 340 GT CO₂ zur Verfügung (Anfang 2020), bei einem Ausstoß von ca. 45 GT jährlich (Anderson/Jewell 2019). In acht Jahren ist alles aufgebraucht und wir nähern uns immer mehr gefährlichen »Tipping Points«. Das Einhalten dieses winzigen globalen Budgets (ohne nicht-vorhandene negative Emissionstechnologien) bedeutet für reichere Staaten eine Minderung der Emissionen um mehr als zehn Prozent pro Jahr und Nahe-Null-Emissionen gegen Ende des Jahrzehnts.
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Die Budgets können auf die globale, nationale, lokale und individuelle Ebene heruntergebrochen und als politischer Rahmen für sämtliche Gesetzgebung durchgesetzt werden. Dies erfordert eine Umstellung aller systemisch zu betrachtenden Gesellschaftssektoren in etwa zehn Jahren, etwa durch jährliche zehnprozentige Verschärfungen der Standards. Gemäß der UNO-Forschungsrapporte bedeutet dies eine sofortige Umstellung auf erneuerbare Energien samt eine massive Einsparung des Energieverbrauchs; auf überwiegend vegetarische (oder vegane) Ernährung, und eine regenerative, schonende Landwirtschaft; auf öf fentlichen Verkehr und generell fossilfreie Transportmittel; auf ein nachhaltiges Bauen mit weniger Zement; und auf eine Sicht auf die politische Ökonomie, den Finanzsektor und das monetäre System, die das Wirtschaften nicht zum Überausnutzen der Natur und der Mitmenschen zwingen. Staaten, Kommunen und Institutionen müssen jetzt solche Aktionspläne für sämtliche Bereiche vorlegen und die Emissions-Budgets beziffern. (Nach wie vor halten sich selbst die angeblich progressivsten Staaten wie die Schweiz und Schweden nicht an Emissions-Budgets; Pläne sind nicht transparent hin auf wirkliche Emissionen.) Wie das im Detail erreicht wird, ist Sache von demokratischer Diskussion, unter Berücksichtigung der beiden Grundprinzipien der Fairness und Nicht-Dominanz (siehe »Eine mögliche Politik«). Weil die reicheren Nationen bereits einen überproportionalen Anteil an Treibhausgasen ausgestoßen haben, müssen sie – über einen gemeinsamen Fond – ihren »fair share« dazu beitragen, dass die ärmeren eine menschenwürdige Energieversorgung bereitstellen können. Dieser »faire share« kann Staat für Staat berechnet werden (Anderson et al. 2020).
(2) Globaler Vertrag (»treaty«) zum Stoppen des Baus, der Finanzierung und des Betriebes fossiler Infrastruktur; analog zum nuklearen »Non-Proliferation Treaty« Gemäß dem UNEP Production Gap Report können wir bereits mit der weltweit geplanten und in Bau befindlichen fossilen Infrastruktur (Öl, Kohle, Gas) das 1,5-Grad-Ziel unmöglich einhalten. Es werden in den nächsten zehn Jahren bis zum Doppelten der möglichen Menge gefördert und zur Verbrennung aufgearbeitet. Deswegen brauchen wir unmittelbar einen globalen
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Vertrag darüber, dass wir als globale Weltenbürger diesen Bau stoppen und die fossilen Energieträger im Boden lassen und sie als »toxisch« markieren. Vorbild ist der »Non-Proliferation«-Vertrag in Bezug auf die Produktion und Verbreitung nuklearer Waffen. Wir können und sollten das Fördern und Verbrennen von fossilen Brennstoffen als toxisch und potentiell analog zum Drücken auf einen roten Knopf markieren. Zur Ausformung dieses globalen Vertrages gibt es bereits einen wissenschaftlich untermauerten Vorschlag (Newell/Simms 2019). Die Staaten müssen so schnell wie möglich diesen Vertragsprozess einleiten (siehe www.fossilfueltreaty.org). Ein erster Schritt in diese Richtung ist der sofortige gesetzlich geregelte Stopp der (durch die Großbanken, Pensionsfonds, Universitäten etc. getätigten) Finanzierung der fossilen Industrie (nach wie vor wird mehr in fossile Projekte investiert als in erneuerbare, siehe Thunberg et al. 2020); und das unmittelbar wirksame weltweite Verbot des Ausbaus neuer fossiler Infrastruktur.
(3) Aufbau von einem erneuerbaren, global-lokalem Energiesystem (inspiriert von der Stanford-Gruppe um Prof. Jacobson [2019]; samt Teske et al. 2019) samt Aufbau einer gemeinsamen globalen Nachhaltigkeitsgesetzgebung Ein öffentlicher Fond soll eingerichtet werden, durch den eine sofortige Transformation des globalen Energiesystems umgesetzt werden kann. Dafür gibt es bereits bis ins Detail ausgefeilte und (mit öffentlichen Mitteln) finanziell abgesicherte Berechnungen und Pläne zum Bau eines global-lokalen erneuerbaren Energiesystems, durchgeplant für 150 Länder, gekoppelt an Berechnungen für die Verbesserungen der »public health« (Jacobson et al. 2019; Teske et al. 2019). Diese Finanzierung muss verbunden werden mit derjenigen, die Ländern und Kommunen hilft, die bereits von »loss and damage«, also den Schäden des Klimawandels betroffen sind und immer stärker betroffen sein werden. Mindestens 30 Prozent der Weltmeere und Erdf lächen müssen als Allmenden durch UNO-Entscheide bis 2030 geschützt werden (Rockström 2020); Wälder wirklich geschützt und ausgedehnt. Damit kann ein Set an Regeln verbunden werden, die die Logik der exponentiell steigenden Neuproduktion von Waren und der Vermüllung und Zerstörung von Lebensräumen von Mensch und Tier durchbricht.
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Die zwei Prinzipien Wir können uns bei dieser fundamentalen Umgestaltung unserer Gesellschaften an zwei leitende Prinzipien halten. Der alles prägende Gedanke ist der, dass wir voneinander abhängig sind, auch weil wir zusammen auf einem lebendigen Planeten wohnen, und die Aufgabe darin besteht, zusammen diesem Zuhause und einander Sorge zu tragen (wie es eigentlich die UNCharta vorgesehen hat oder vorsehen sollte).
(A) Gerechtigkeits- und Fairness-Prinzip Der Pariser Vertrag fordert bereits von allen Regierungen, dass sie ein »Equity«-Prinzip bei aller Gesetzgebung einhalten; auch von sozialer Gerechtigkeit bei der Umstellung zu einer nachhaltigen Gesellschaft ist die Rede. Darauf haben sich alle Staaten verpf lichtet. Dieses Prinzip hat eine historische Dimension (von gemachten Emissionen sowie von kolonialen Bereicherungen), eine globale (von globalem Norden und Süden) und eine nationale Dimension (von ungleichen Ressourcen). Global impliziert dieses Prinzip, dass reichere Staaten ihren »faire share« beitragen (dazu civilsocietyreview.org) und ärmeren Staaten sowohl bei der Umstellung auf erneuerbare Energien sowie bei dem, was »loss and damage« genannt wird, also den bereits geschehenden und zukünftigen Schäden helfen (sowie auf das Wissen hören, das etwa bei indigenen Bevölkerungen vorhanden ist). Dieses Equity/Gerechtigkeitsprinzip bedeutet außerdem, dass reicheren Ländern weniger an dem globalen Emissions-Budget zur Verfügung steht als ärmeren; und dass das Stoppen der Emissionen tatsächlich durch die Umstellung der Lebensweise in diesen Ländern geschehen muss und nicht woanders kompensatorisch »eingekauft« werden kann. Damit sind »Geoengineering«, »Offsetting« und Handelslösungen keine fairen Optionen. Es geht um wirkliche Veränderungen, nicht um das »Aussourcen« von Reduktionen. Vor allem sollten nicht-vorhandene negative Emissionstechnologien von keiner Regierung mehr in die Kalküle eingerechnet werden, wie dies überall geschieht. Dies hat bereits dramatische Konsequenzen für das Verständnis der benötigten Emissionsreduktionen. Der Maßstab hierbei ist der Gesichtspunkt intergenerationaler Gerechtigkeit. Die Kinder fordern zurecht von der Generation der Machthabenden, endlich Verantwortung zu übernehmen.
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(B) Nicht-Dominanz-/Demokratisierungs-Prinzip Bei dieser Umstellung unserer Gesellschaften können wir das grundlegende Demokratisierungsprinzip durchsetzen, das gebietet, dass bestehende Beziehungen und strukturelle Relationen, die auf Dominanz beruhen, abgebaut und neue verhindert werden; gegenüber der Natur (»Ökozid«; Auslaugen von Böden; Tierhaltung …) und allen Mitmenschen. Jeder Mensch sollte jedem auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Die human- und sozialwissenschaftliche Forschung hat für diese Transformation sogenannte intersektionale Analysen von Machtstrukturen (Gender, Klasse, Ethnizität usw.) bereitgestellt; und Vorschläge, wie demokratische Verhältnisse verwirklicht werden. Alle vorgeschlagenen Lösungen zur benötigten globalen, nationalen und lokalen Transformation müssen diesem Maßstab genügen. Auch transnationale Lösungen (wie der problematische »Green Climate Fund«) müssen so ausgeformt werden, dass nicht bestimmte Gesellschaftsschichten oder Individuen von der benötigten Umstellung auf Kosten anderer profitieren, sondern dass strukturelle Dominanzverhältnisse gerade abgebaut werden. Die Struktur der Wirtschaftsweise und des Finanzsektors müssen nachhaltig werden, indem sie unmittelbar diesem Nicht-Dominanz-Prinzip angepasst werden (siehe Kapitel zur Ökonomie).
Das Ziel Oft wird das Ziel so formuliert: Es geht um ein würdiges demokratisches Zusammenleben aller auf einem bewohnbaren Planeten, oder in einer etwas längeren Version: um die tatsächliche gemeinsame Versorgung der Grundbedürfnisse aller (von Nahrung, Gleichstellung und Wohnraum über Erziehung bis politische Mitsprache) in einer Weise, so dass die planetaren Grenzen (Klima, Biodiversität, Vermüllung, Nitrate, …) nicht überschritten werden (Raworth 2018, Göpel 2016, Hickel 2020). Diese Grundausrichtung – ergänzt um das oben skizzierte Demokratisierungsprinzip der Auf hebung von Dominanz-Verhältnissen – soll in globalen, nationalen und lokalen Dokumenten die Ausrichtung aller Politik vorgeben und bestehende politische und ökonomische Ziele ersetzen. Das ist der Rahmen, der alles anleiten kann.
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Eine mögliche Politik Wie genau dieses Rahmenwerk (der drei Pfeiler; und der zwei Prinzipien von Gerechtigkeit und Nicht-Dominanz) ausgefüllt wird, das ist Thema der demokratischen Debatte, die wir jetzt überall in allen möglichen Arenen führen sollten (Mitbürger_innenversammlungen; Parlamenten; und innerhalb der Graswurzelbewegungen). Fridays For Future und Scientists For Future enthalten sich solcher politischer Stellungnahmen. Ein Vorschlag unter vielen anderen, der sich in der Klimabewegung als eine Art möglicher gemeinsamer Nenner abzeichnet (bei Hickel 2020, Pettifor 2019, Göpel 2016, Hornborg 2017 und Raworth 2018), wäre einer, der über die drei Pfeiler hinaus (globale, nationale, lokale und eventuell individuelle Emissions-Budgets; globaler Vertrag und globales erneuerbares Energiesystem) • ein globales (!) existenzsicherndes Grundeinkommen vorsieht, um die »Care«-Arbeit aufzuwerten, Machtverhältnisse auszugleichen und wirklich den Bedürfnissen aller gerecht zu werden; teilweise lokal gebunden ausbezahlt, um Transporte von Waren zu vermeiden; • kombiniert mit der Einführung von »positivem« Geld, so dass die willkürliche Macht von Banken und die Schuldzinsen-Dynamik aufgelöst wird; und die Kapitalgesellschaften mit der Zeit überführt werden in demokratischer verfasste Organisationen, die nachhaltig für eine zirkuläre Wirtschaft produzieren, so dass vor allem die 100 Korporationen, die weltweit 70 Prozent aller Emissionen ausstoßen, inhaltlich schnell in eine erneuerbare Richtung umgelenkt werden können; • wobei gleichzeitig durch einen grünen, öffentlichen Fond ein globales erneuerbares Energiesystem aufgebaut wird, das dezentral den Menschen Macht über die Energieversorgung gibt; • wobei in sämtlichen Sektoren (Bauen, Transport, Kleidung, Ernährung und so weiter) nachhaltige Modelle die derzeitigen ersetzen sollen (siehe etwa die »Zukunftsbilder« der Scientists For Future, die Klimaaktionspläne für alle Sektoren skizzieren). Dies gilt vor allem für die Landwirtschaft, die sich nach UNO-Rapporten sofort wegbewegen muss von der animalischen auf die pf lanzliche Basis und dabei den Böden Sorge tragen muss. Wobei jährliche Regulierungen durch Standarderhöhungen zu sieben- beziehungsweise 15-prozentiger Emissionsminderung (je nach Reichtum des Landes) in allen Bereichen führen kann (Anderson 2019);
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kombiniert mit einer progressiven globalen CO₂-Bepreisung von ungefähr 180 Euro/Tonne als bald zu erreichendem Richtwert. Dabei gilt es wie oben skizziert, durch die Berücksichtigung von »fair shares« den ärmeren Ländern den Auf bau einer Infrastruktur zu garantieren, die für alle ein würdiges Leben ermöglicht. Solche Maßnahmen würden vielleicht dem Pariser Abkommen entsprechen. Aber es gibt sicherlich auch andere Szenarien, die den Kriterien des Rahmens gerecht werden. Der zentrale Schritt ist die Verankerung des Rahmens in der Gesetzgebung aller Länder; und die Eröffnung demokratischer Foren, die dessen Ausgestaltung diskutieren lassen.
Die Bewegung Hinter diesen »one people, one planet«-Veränderungen könnten sich die Bevölkerungen dieses lebendigen Planeten gemeinsam stellen, als globale demokratische politische Bewegung, die sich unmittelbar an alle Regierungen wendet. Die Forderungen der drei Pfeiler lassen sich sofort umsetzen. Sie gehen alle Ebenen an, vom Lokalen bis zum Globalen. An ihnen können die politischen Regeln von Regierungen, Parteien, Institutionen, Bewegungen und den relevanten Gesellschaftsakteuren gemessen und entsprechend Protest artikuliert werden. Sie zeichnen vor, was jetzt sofort zu tun ist (etwa den Stopp des Baus und der Finanzierung aller neuer fossiler Infrastruktur) und geben gleichzeitig den langfristigen Kompass vor. Ihre Durchsetzung setzt aber voraus, dass ganz gewöhnliche Menschen »wie du und ich« anfangen, zu rebellieren und sich nicht von der Rede von »klimaneutralen NettoNull-Emissionen 2050« beirren lassen. Die Regierungen von Staaten wie der Schweiz, Schweden und Deutschland sind meilenweit von der skizzierten Umstellung entfernt. Von den Regimen in Brasilien, China, Russland und Saudi-Arabien ganz zu schweigen. Machen wir weiter, so wie es die Staaten mit ihren NDCs (den nationalen Reduktionsplänen) vorschlagen, werden die streikenden Jugendlichen, wenn sie älter sind, in einer drei oder vier Grad wärmeren Welt leben. Die die Hölle ist, und bleiben wird. Wir brauchen den Aufstand der Zögernden und Ängstlichen. Märsche, Demonstrationen und Petitionen genügen nicht. Wir brauchen neue gemeinsame politische Regeln, und dafür eine gemeinsame Bewegung. Weltweit.
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Die Methoden Um diesen neuen Rahmen (drei Pfeiler, zwei Prinzipien) durchzusetzen, der die Krise ernst nimmt, und um die Politik weltweit wirklich zu verändern, brauchen wir ein Spektrum an Methoden. Drei Prozesse können wir dabei koordinieren. Der eine besteht im Ausbauen der »Notbremse«-Funktion, die so deutlich und gut von FFF und XR repräsentiert wird. Wir können nicht zulassen, dass die fossile Gesellschaftsmaschinerie einfach so weitermacht. Das Mittel, um eine wirkliche Veränderung herbeizuführen, ist das gemeinsame Stoppen dessen, was demokratisch nicht akzeptabel ist. Die Schulstreiks sind ein hervorragendes Mittel; die Blockaden der Hauptplätze der Länder ein anderes. Ziviler Ungehorsam ist legitim, ein vorgesehenes demokratisches Werkzeug (Chenoweth 2012). Manche können sich weiterhin spezialisieren auf die Blockade der fossilen Industrien und der sie finanzierenden Institute. Aber die Idee von massiven, gewaltlosen Blockaden und Protesten im Zentrum der Macht über Tage hinweg hat historisch die besten Effekte gezeigt. Die zweite Aufgabe ist die, konkret aufzuzeigen, was es jetzt braucht. Da arbeiten sowohl Klimastreikende als auch die Scientists For Future an sofort umsetzbaren »Zukunftsbildern«, die Netto-Null-Gesellschaften bis Anfang der 2030er Jahre ermöglichen; und zwar geprägt von einem systemischen Denken, das nicht nur einfach hundert Policy-Vorschläge als Forderungskatalog unterbreitet. Aber nicht nur Forscher_innen, sondern alle Menschen als Expert_innen auf ihrem Arbeitsgebiet (Workers-, Architects-, Teachers-, Economists-, Designers-, Doctors-, Nurses- … For Future) können sich sofort daran machen, konkret mit Ideen und Handlungen zu diesem Umbau beizutragen, von ihm zu berichten und ihn als Teil der Bewegung Anderen jeden Freitag mitzuteilen. Eigentlich wäre das die Aufgabe der Politik. Aber weil die Politiker_innen nicht einmal die benötigten Emissions-Budgets erstellen, können sie auch kaum systemische und gerechte Maßnahmen und Gesetze vorschlagen und durchsetzen. Dazu muss es aber jetzt kommen. Damit dies geschehen kann, so die Grundidee, braucht es eine kontinuierliche vereinigte Bewegung, der sich alle leicht anschließen können: »We, the people … For Future«. Dies ist der dritte Strang: Dazu gehört das Verbreiten des Wissens um diesen gemeinsamen Rahmen (mit den drei Pfeilern und zwei Prinzipien), so dass sich jeder Mensch für sie spezifisch lokal und global einsetzen kann. Und dies braucht es jetzt vielleicht am meisten: eben
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das Bewusstsein, dass wir eine Krise haben und Krisenregelungen brauchen, also ein neues Rahmenwerk. Nur so können wir gemeinsam, global zusehen, dass der Regenwald erhalten bleibt; die Ölfelder in der Arktis nicht gebaut werden; die bestehenden Kohlekraftwerke abgeschaltet und die Finanzierung gestoppt wird; und dass sich im selben Prozess eine nachhaltige, gerechte Gesellschaft entwickelt, in der alle Menschen ein würdiges Leben führen können, weil wir gemeinsam die Ressourcen für die grundlegenden Bedürfnisse bereitstellen. Deswegen sollten auch die, die am meisten betroffen sind von der ökologischen und Klimakrise, oft Menschen im globalen Süden und BIPoC-Gemeinschaften, eine leitende Rolle in dieser vereinten Bewegung haben. Dafür können und müssen wir jetzt aufstehen, gewaltfrei und gemeinsam.
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Epilog – »We, the People … For Future«
Viele der Jugendlichen, aber auch der älteren Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen sind vielleicht Menschen, die am liebsten unter einem Baum am Rand eines Feldes sitzen, an einem Grashalm kauen, in die Weite schauen und davon träumen, wie es wäre, in ein Abenteuer verwickelt zu sein. Viele wollen nichts lieber, als wieder dahin zurück, zu diesen Sommerabenden, als die Wärme sich noch nicht so heftig bemerkbar gemacht hatte. Aber für so viele ist das eine Utopie: Sie leben in Gegenden, die regelmäßig von Stürmen heimgesucht und überf lutet werden, oder die durch Hitze und Dürren fast unbewohnbar geworden sind. Doch irgendwann, vielleicht, werden wir alle »Earthlings«, die jeden Freitag auf dem Münzplatz in Stockholm und auf all den anderen Plätzen weltweit stehen (und im Netz), im Sommer hinausfahren und uns ohne existentielle Sorgen unter einen Baum setzen und zurücksehen können. Weil es uns allen bis dahin gelungen ist, die Politik grundlegend zu verändern und etwa diejenigen 100 Kapitalgesellschaften der Welt zu stoppen, die durch das Geschäft mit fossilen Brennstoffen und entsprechenden Finanzinstrumenten für 70 Prozent aller Emissionen verantwortlich sind. Wir alle könnten dann auf den Bau einer erneuerbaren Energie-Infrastruktur schauen, die die Welt verbindet; und auf das gemeinsame Bereitstellen der grundlegenden Ressourcen für alle Menschen; auf eine gerechtere Welt für uns alle Kreaturen, die wir auf diesem Planeten herumspazieren. Erinnerungen könnten sich dann melden an die ersten Tage, als es ganz wenige Jugendliche waren, die streikten, und alle Menschen einfach an ihnen vorbeispaziert sind; daran, wie Greta auf das Podium in Polen gestiegen ist, und die Welt war nicht mehr dieselbe am nächsten Tag. Oder Erinnerungen an die Australier_innen und Schweizer_innen, die aus den Schulen strömten im November und Dezember 2018; an die Streikenden bei Minister Altmaier in Berlin und an die Aufregung vor dem ersten globalen Streik; an
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die Jugendlichen in Kabul, die für den Klimaschutz durch ihre Stadt zogen. Erinnerungen auch an die Gründung der Scientists For Future, an den FFFKonf likt in Lausanne und den Sturm der COP-Bühne in Madrid, die Einsicht in die strukturellen Dominanzverhältnisse innerhalb der Bewegungen und das veränderte Verhalten gegenüber dem globalen Süden und den BIPoCGemeinschaften; und an die Zeit im Herbst 2020, als die von den Krisen am meisten betroffenen Aktivist_innen aus den Philippinen, Brasilien und Indien die Leitung der wichtigsten Arbeitsgruppen der Klimabewegung übernahmen. Aber noch stehen sie zusammen da, die Held_innen vom globalen Münzplatz, jeden Freitag, und halten ihre Pappschilder hoch, manchmal vor Ort, manchmal im Netz. Man braucht nur innezuhalten in dem, was man tut, durchzuatmen und sich zu organisieren.
»We, the people … For Future« Viele möchten, dass sich die Welt verändert; möchten Sicherheit, genug zu essen für alle. Viele haben genug von den furchtbaren Bränden der Regenwälder, von den Dürren und Überschwemmungen. Und wollen dazu beitragen, all dies zu stoppen; auch kontinuierlich. Aber wie? Fridays For Future (und Extinction Rebellion) hat die Idee einer globalen vereinten Graswurzelbewegung eröffnet, mithilfe der Forschung der Wissenschaft und der Universitäten. Nun geht es darum, dass diese Idee Tragkraft erhält. Nicht, indem den Jugendlichen reingeredet wird. Die Erwachsenen können ihre eigene Verantwortung übernehmen, als Lehrer_innen, als Pf leger_innen, Eltern, Großeltern, oder einfach als Menschen, »we, the people«. Dazu braucht es noch eine andere Form der Organisation als nur ab und zu auf die Straße zu gehen: eine wirkliche Volksbewegung. Die Politik hat sich in den meisten Ländern nicht verändert. Die Emissionen weltweit steigen Jahr um Jahr an – abgesehen von der Minderung durch die CoronaPandemie. Und die fossile Infrastruktur wird an vielen Orten nach wie vor ausgebaut. Wie diesen Prozess stoppen und die Demokratie neu erfinden? Als eine globale vereinte Bewegung, die deutlich macht, dass wir von einander abhängig sind, auf einem ungeheuer komplexen lebendigen Planeten. Wie das
Epilog – »We, the People … For Future«
angehen? Nicht, indem plötzlich eine Parteipolitik vorgelegt wird; da verschwindet man in der Masse von Vorschlägen. Umgekehrt sind abstrakte Forderungen zu undeutlich; kaum etwas bewegt sich. Die ökologische und Klimakrise als Krise einzusehen, bedeutet: einen neuen Rahmen aufzuzeigen und für ihn aufzustehen, in einem Aufstand von uns allen, bis er durchgesetzt ist. Genau darum geht es jetzt, um diesen Rahmen. Während der letzten beiden Jahre haben Jugendliche von FFF und Wissenschaftler_innen von S4F genau an ihm gearbeitet (#FaceTheClimateEmergency, siehe climateemergencyeu.org und ähnliche Texte), auf bauend auf jahrzehntelanger Forschung und der Geschichte des Kampfes gegen die ökologische und Klimakrise (oft im globalen Süden und durch BIPoC-Gemeinschaften). Dabei geht es darum, zwei Teile dieses Rahmenwerkes auszumachen: die Grundpfeiler auf der einen und die Grundwerte oder -prinzipien auf der anderen Seite. Was muss jetzt verändert werden (Pfeiler), und wie (Prinzipien)? Ein Rahmen verdeutlicht diese beiden Elemente anstatt eine Liste von halbkonkreten Vorschlägen vorzulegen, die diese Punkte vermischen. Wie sieht dieser Krisen-Rahmen aus? Hinter welchen Gehalt und welche Werte können wir uns alle stellen? Und welche garantieren ein nachhaltiges Zusammenleben auf diesem Planeten? Wie sieht ein Rahmen aus, der dann die Freiheit und Kreativität eröffnet, ihn lokal und national durch verschiedene demokratische Entscheidungsformen (wie etwa Mitbürger_innen-Versammlungen) zu füllen? Wir können auf drei Pfeiler setzen (siehe »Anhang« zu allen Punkten). Erstens: die sofortige faire globale, nationale und lokale Einführung von Treibhausgas-Emissions-Budgets statt »Netto-Null-« oder »Klimaneutralität 2050«; und von entsprechenden Aktionsplänen für alle Sektoren (Ernährung, Landwirtschaft, Transport, Energie, Finanzen usw.), so dass die Emissionen weltweit im Schnitt sofort um über sieben Prozent pro Jahr zurückgehen; in reicheren Ländern um über zehn Prozent. Das entspricht dem Pariser Abkommen und dem IPCC-SR1.5-Rapport (mit dem Ausgangswert 420 GT im Jahr 2018). Dies kann die Erderwärmung bremsen. Zweitens: ein sofortiger Stopp des Baus und der Finanzierung von fossiler Infrastruktur und Industrie (Öl, Kohle, Gas; Waldzerstörung) samt deren Rückbau; organisiert durch einen globalen, gerechten »Fossil-Fuel«-Vertrag, der sich am Nuklearwaffenvertrag ausrichtet (www.fossilfueltreaty.org und Newell/Simms 2019). Dies entspricht dem UNEP Production Gap Report (2019) der UNO.
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Und drittens helfen wir uns, unter anderem durch einen »Green Fund« und »fair shares« beim Bereitstellen eines global-lokalen »erneuerbaren« Energiesystems (Teske et al. 2019, Jacobson et al. 2019) samt der Grundressourcen, so dass jeder Mensch weltweit garantiert ein würdiges Leben führen kann. Das ist der Rahmen, der in den nächsten 15 Jahren weltweit umgesetzt sein soll. Dabei werden zwei Prinzipien wichtig. Erstens das Achten auf Gerechtigkeit oder Fairness wie im Pariser Abkommen schon vorgegeben – innerhalb von Ländern, zwischen Ländern und Kontinenten und zwischen Generationen. Mit einer Perspektive auf die problematische koloniale Geschichte und auf die jetzigen verfügbaren Ressourcen. So dass wir zweitens Demokratie vertiefen, also die Herrschaftsverhältnisse und eingefahrenen Strukturen von Dominanz abbauen (Ethnizität, Klasse, Gender …) und endlich ersetzen durch das demokratische Begegnen auf Augenhöhe. Wir sind gleiche und freie Mitbürger_innen, verletzliche und von einander abhängige, auf einem einzigen wundersamen und komplexen lebendigen Planeten. Was heißt es, wir stehen dafür auf, bis dieser Rahmen umgesetzt ist? Wie? Eben als kontinuierliche globale People For Future-Bewegung (oder: »One people on one planet«- oder »Together For Future«-Bewegung), die sich als solche versteht. Bei der alle mitmachen können, ohne Mitgliedschaft, ohne die Identität anderer Bewegungen und Organisationen aufzugeben. Der Kern: Wir stehen auf für diese drei Grundideen und zwei Prinzipien. Jeden Tag, zusammen. Gegenüber Regierungen, Institutionen, Universitäten und innerhalb aller NGOs und Bewegungen. Bis wir sie verwirklicht haben. Mit Streiks oder zivilem Ungehorsam in den Zentren der Macht. Und mit Bildung, Wissensvermittlung und kontinuierlicher Organisation. Alle können dabei drei Funktionen einnehmen. Einmal die Notbremse zu sein, die streikt, blockiert, buchstäblich nicht mehr zulässt, dass die Maschinerie der »great acceleration« immer weiterläuft mit der Vermüllung, dem Niederbrennen der Wälder, dem Festhalten an Öl, Kohle und Gas. Aber wir können auch als »Workers«, »Artists«, »Developers«, »Economists«, »Teachers« und »Parents«-For Future, als Expert_innen, das Nachhaltige auf bauen, nicht nur davon träumen, sondern es umsetzen und davon berichten. Und schließlich können alle dazu beitragen, kontinuierlich diesen Rahmen deut-
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lich machen, den wir jetzt als Krisenreaktion brauchen, auch wenn wir nicht auf den Straßen sind. »Es gibt uns. Wir können auf die entscheidenden wissenschaftlichen Erkenntnisse verweisen. Wir wissen, was es heißt, den Bedürfnissen aller innerhalb der planetaren Grenzen nachzukommen. Und wir sorgen dafür, dass es dazu kommt. We, the people … For Future.« Alle sind willkommen, alle werden gebraucht.
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Abbildungsverzeichnis
Herzlichsten Dank an Jana Eriksson, von der die meisten Bilder in diesem Buch stammen. Sie ist Fotografin und selbst wichtiger Bestandteil der schwedischen und der Stockholmer Klimabewegung. Die anderen Bilder stammen von David Fopp (Seite 26, 28, 31, 67, 78, 91, 96, 100, 107, 163, 168, 193, 225, 227, 240, 241, 259), Isabelle Axelsson und Loukina Tille (Seite 115, 156, 221, 247, 261), Tonny Nowshin (Seite 250), Carl-Johan Utsi (Seite 248) und William Persson (Seite 165, 166).
Literatur
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»Hope dies – Action begins«: Stimmen einer neuen Bewegung 2019, 96 S., kart. 7,99 € (DE), 978-3-8376-5070-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-5070-3 EPUB: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-7328-5070-9
Jan Brunner, Anna Dobelmann, Sarah Kirst, Louisa Prause (Hg.)
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Politikwissenschaft Sebastian Haunss, Moritz Sommer (Hg.)
Fridays for Future – Die Jugend gegen den Klimawandel Konturen der weltweiten Protestbewegung Oktober 2020, 264 S., kart. 22,00 € (DE), 978-3-8376-5347-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5347-6 ISBN 978-3-7328-5347-2
Helmut König
Lüge und Täuschung in den Zeiten von Putin, Trump & Co.
September 2020, 360 S., kart. 29,50 € (DE), 978-3-8376-5515-5 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5515-9 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5515-5
BICC Bonn International Center for Conversion, HSFK Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, IFSH Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, INEF Institut für Entwicklung und Frieden
Friedensgutachten 2020 Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa Juni 2020, 160 S., kart., 33 Farbabbildungen 15,00 € (DE), 978-3-8376-5381-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5381-0
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Philosophie Die konvivialistische Internationale
Das zweite konvivialistische Manifest Für eine post-neoliberale Welt September 2020, 144 S. 10,00 € (DE), 978-3-8376-5365-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5365-0 ISBN 978-3-7328-5365-6
Ashley J. Bohrer
Marxism and Intersectionality Race, Gender, Class and Sexuality under Contemporary Capitalism 2019, 280 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4160-8 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4160-2
Jürgen Manemann
Demokratie und Emotion Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet 2019, 126 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-4979-6 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4979-0
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Philosophie Harald Lemke
Szenarien der Ernährungswende Gastrosophische Essays zur Transformation unserer Esskultur 2018, 396 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4483-8 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4483-2 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4483-8
Anke Haarmann
Artistic Research Eine epistemologische Ästhetik 2019, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4636-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4636-2 EPUB: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4636-8
Hilkje Charlotte Hänel
What is Rape? Social Theory and Conceptual Analysis 2018, 282 p., hardcover 99,99 € (DE), 978-3-8376-4434-0 E-Book: 99,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4434-4
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