Geheimnisse der Nacht 9783863496548, 386349654X


265 6 2MB

German Pages , 384 Seiten [673] Year 2011

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
IMPRESSUM......Page 2
1. KAPITEL......Page 6
2. KAPITEL......Page 40
3. KAPITEL......Page 59
4. KAPITEL......Page 99
5. KAPITEL......Page 128
6. KAPITEL......Page 140
7. KAPITEL......Page 157
8. KAPITEL......Page 181
9. KAPITEL......Page 199
10. KAPITEL......Page 221
11. KAPITEL......Page 235
12. KAPITEL......Page 246
13. KAPITEL......Page 273
14. KAPITEL......Page 298
15. KAPITEL......Page 322
16. KAPITEL......Page 343
17. KAPITEL......Page 371
18. KAPITEL......Page 420
19. KAPITEL......Page 445
20. KAPITEL......Page 474
21. KAPITEL......Page 493
22. KAPITEL......Page 530
23. KAPITEL......Page 562
24. KAPITEL......Page 591
25. KAPITEL......Page 621
26. KAPITEL......Page 647
EPILOG......Page 655
Recommend Papers

Geheimnisse der Nacht
 9783863496548, 386349654X

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Keith IMPRESSUM MYSTERY GESCHÖPFE DER NACHT erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Tel.: +49(040)600909-361 Fax: +49(040)600909-469 E-Mail: [email protected] CORA Verlag GmbH & Co. KG ist ein Unternehmen der Harlequin Enterprises Ltd., Kanada Geschäftsführung: Thomas Beckmann Redaktionsleitung: Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.) Cheflektorat: Ilse Bröhl Lektorat/Textredaktion: Daniela Peter Produktion: Christel Borges, Bettina Schult Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) Vertrieb: asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Telefon

040/347-29277 Anzeigen: Christian Durbahn Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste. Konvertiert : von Darkmon © 2002 by Margaret Benson Originaltitel: „Twilight Hunger“ erschienen bei: MIRA Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. © 2010 für die deutsche Erstausgabe by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg © 2011 für diese Ausgabe in der Reihe: MYSTERY GESCHÖPFE DER NACHT Band 11 (3) 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Justine Kapeller Fotos: gettyimages Veröffentlicht im ePub Format in 05/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein. ISBN: 978-3-86349654-8 Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. MYSTERY GESCHÖPFE DER NACHT-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer. Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag: MYSTERY, MYSTERY

THRILLER, MYSTERY GRUSELBOX CORA Leser-und Nachbestellservice Haben Sie Fragen? Rufen Sie uns an! Sie erreichen den CORA Leserservice montags bis freitags von 8.00 bis 19.00 Uhr: CORA Leserservice Postfach 1455 74004 Heilbronn Telefon Fax E-Mail 01805/63 63 65 * 07131/27 72 31 [email protected] *14 Cent/Min. aus dem Festnetz der Deutschen Telekom, max. 42 Cent/Min. aus dem Mobilfunknetz www.cora.de

Keith

Maggie Shayne Geheimnisse der Nacht

Keith 1. KAPITEL Wir Kinder hätten schlafen sollen … Doch wir erwachten, wie auf einen stummen Lockruf hin. Wir krochen in die Eingänge unserer Zelte und Wagen, wie Motten angezogen von den züngelnden Flammen des Lagerfeuers und von den düsteren, springenden Schatten der fremden Frau, die dort tanzte. Keine Musik war zu hören. Ich wusste, es gab keine, aber es schien mir doch, als füllte eine Melodie meinen Kopf, als ich um die bemalte Zeltklappe spähte und ihr zusah. Sie drehte sich, ihre Tücher wirbelten ihr wie Geister hinterher, und ihr Haar, schwarz wie die Nacht, schien im Schein des Feuers blau zu leuchten. Sie wand und drehte sich und sprang im Kreis. Dann jedoch blieb sie ganz ruhig stehen, und ihre Augen, die wie leuchtende Kohlestücke waren, vertieften sich genau in meine. Ihre blutroten Lippen verzogen sich zu einem furchtbaren Lächeln, und sie lockte mich mit einem Finger.

Ich versuchte zu schlucken, aber der Klumpen aus kalter Angst in meiner Kehle ließ es nicht zu. Ich leckte mir die Lippen, warf dann einen Blick zur Seite, auf die Zelte und die bemalten Wagen meiner Sippe, und sah die anderen Kinder unserer Bande, die nach ihr spähten, genau wie ich es tat. Einige meiner Vettern waren älter als ich, andere jünger. Die meisten sahen mir sehr ähnlich. Ihre olivenfarbene Haut war glatt, die Augen sehr rund und groß, und zu dicht von Wimpern umrahmt für Jungen, wenn sie auch bei den kleinen Mädchen schöner als alles andere aussahen. Ihre Haare waren ungeschnitten, wie meine, doch sie waren sauber und rabenschwarz. Wir waren alle Zigeuner und stolz darauf. Die tanzende Frau … auch sie war eine Zigeunerin. Ich wusste es auf den ersten Blick. Sie gehörte zu uns. Und sie lockte mich immer noch mit ihrem Finger. Dimitri, der drei Jähre älter als ich war, sah mich von oben herab an und flüsterte: „Geh zu ihr. Oder traust du dich nicht?“ Nur um zu beweisen, dass ich mutiger war als er, richtete ich mich auf und trat aus dem Zelt meiner

Mutter. Meine bloßen Füße bewegten sich mit jedem zögerlichen Schritt nur wenige Zentimeter auf dem kühlen Erdboden vorwärts. Als ich mich vorwagte, begannen auch die anderen, von meiner Kühnheit selbst ermutigt, hervorzutreten. Wir sammelten uns langsam um die schöne Fremde, wie Sünder, die sich um die Füße einer Göttin scharten, um sie anzubeten. Und während wir das taten, wurde ihr Lächeln immer breiter. Sie lockte uns näher, hatte dabei einen Finger auf ihre Lippen gelegt, und dann setzte sie sich auf einen Baumstamm in der Nähe des Lagerfeuers. „Wer ist sie?“, flüsterte ich Dimitri zu, denn auch er hatte sich uns jetzt angeschlossen, beschämt, schien es mir, nicht von Anfang an unser Anführer gewesen zu sein. „Trottel, weißt du denn gar nichts? Sie ist unsere Tante.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf und wandte seinen hingerissenen Blick dann wieder der Frau zu. „Ihr Name ist Sarafina“, klärte er mich auf. „Sie kommt manchmal zu uns … du bist wohl zu jung, um dich an ihren letzten Besuch zu erinnern. Sie darf eigentlich nicht hier sein. Wenn

die Erwachsenen sie finden, gibt es Ärger.“ „Warum?“ Auch ich war von der geheimnisvollen Fremden wie gefesselt, als sie sich auf den Baumstamm setzte und die Lagen ihrer bunten Röcke um sich ausbreitete. Sie öffnete ihre Arme, um die Jungen willkommen zu heißen, die sich zusammengeschart um sie herum auf den Boden gesetzt hatten. Ich saß ihr am nächsten, gleich zu ihren Füßen. Noch nie hatte ich eine so schöne Frau gesehen. Aber da war noch etwas anderes an ihr. Etwas … Überirdisches. Etwas Furchtbares. Und da war noch die Art, wie ihr Blick immer wieder meinem begegnete. Es lag ein Geheimnis in diesem schwarzen Blick – ein Geheimnis, das ich nicht zu sehen vermochte. Etwas in den Schatten, verborgen. „Warum wird es Ärger geben?“, flüsterte ich erneut. „Warum, warum! Sie ist eine Ausgestoßene!“ Erstaunt zog ich meine Brauen nach oben. Ich wollte gerade fragen, warum, als die Frau – meine Tante Sarafina, die ich nie zuvor im Leben gesehen hatte – zu sprechen begann. Ihre Stimme klang wie

eine Melodie. Fesselnd, tief, verlockend. „Kommt, meine Kleinen. Oh, wie ich euch vermisst habe.“ Ihr Blick wanderte über die Gesichter der Kinder, und der Ausdruck darin war kaum zu ertragen, so starke Gefühle lagen darin. „Aber die meisten von euch erinnern sich wohl gar nicht an mich?“ Ihr Lächeln verblasste. „Und du, kleiner Dante. Du bist jetzt … wie alt?“ „Sieben“, sagte ich ihr, meine Stimme nicht lauter als ein Flüstern. „Sieben Jahre“, antwortete sie mit einem schweren Seufzen. „Ich war hier am Tag, als du geboren wurdest, weißt du.“ „Nein. Das … wusste ich nicht.“ „Es ist auch egal. Oh, Kinder, ich habe euch so viel zu erzählen. Aber zuerst …“ Sie zog einen Beutel auf, der ihr von der Schärpe um ihre Hüfte baumelte, und daraus zog sie fantastische Dinge, die sie an alle verteilte. Süßigkeiten und Gebäck, wie wir es noch nie gekostet hatten, verpackt in leuchtend buntes Papier. Glitzernden Tand an Ketten, und funkelnde Steine aller Arten, geschnitzt als Vögel oder andere Tiere.

Mir gab sie einen schwarzen Onyx in Form einer Fledermaus. Ich zitterte, als sie den kalten Stein in meine Handfläche legte. Als der Beutel leer war und die Kinder wieder ruhig, begann sie, zu erzählen. „Ich habe so viele Dinge gesehen, meine Kleinen. Dinge, die ihr nicht glauben würdet. Ich bin in die Wüstenländer gereist und habe dort Gebäude gesehen, so groß wie Gebirge – jeder Stein größer als ein Zigeunerwagen! Sie sind vollkommen und glatt und verlaufen zu einer Spitze.“ Sie benutzte ihre Hände, um vor uns die Form dieser Wunder aufzuzeigen. „Niemand weiß, wer sie gebaut hat, und auch nicht, warum. Einige sagen, sie seien schon immer dort gewesen. Andere sagen, sie wurden als Denkmäler für alte Könige gebaut … und dass die Leichen dieser Regenten sich immer noch darin befinden, zusammen mit unbeschreiblichen Schätzen!“ Als wir unsere Augen weit aufrissen, nickte sie eindringlich, bis ihre rabenschwarzen Locken tanzten und ihre Ohrringe klimperten. „Ich bin über das Meer gereist … zu dem Land dahinter, wo es Kreaturen

gibt mit Hälsen, so lang wie … wie diese Eibe dort. Sie gehen auf Beinen wie Stelzen und knabbern die jungen Blätter aus den Wipfeln der Bäume. Sie sind goldgelb und gefleckt! Und aus den Köpfen wachsen ihnen Äste!“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Sicher dachte sie sich nur Geschichten aus. „Oh, Dante, aber es stimmt“, beschwor sie mich. Und ihr Blick hielt meinen gefangen, ihre Worte waren nur für mich bestimmt, dessen war ich mir sicher. „Eines Tages wirst auch du diese Dinge sehen. Eines Tages werde ich sie dir selbst zeigen.“ Sie streckte ihre Hand aus und fuhr mir durch die Haare. Dann beugte sie sich zu mir hinab und flüsterte mir ins Ohr. „Du bist mein ganz besonderer Junge, Dante. Du und ich, wir sind auf eine Art verbunden, die stärker ist selbst als die Bindung zu deiner eigenen Mutter. Merke dir meine Worte gut. Ich werde eines Tages zu dir zurückkehren. Wenn du mich brauchst, werde ich kommen.“ Ein unerklärliches Zittern durchfuhr meinen Körper.

Im selben Moment erstarrte ich. Das Keifen meiner Großmutter war nicht zu überhören. „Ausgestoßen!“, schrie sie, kam aus ihrem Zelt gerannt und fuchtelte mit ihrem Finger in Sarafinas Richtung, wie man es tat, um das Böse abzuwehren – die zwei mittleren Finger angelegt, der Zeigefinger und der kleine Finger ausgestreckt. Sie zischte dabei, sodass ich unwillkürlich an eine Schlange mit einer gespaltenen Zunge denken musste. Die Kinder rannten in alle Richtungen davon. Sarafina aber erhob sich langsam, und so anmutig, wie es nur ging. Nur ich blieb bei ihr stehen. Ohne nachzudenken stand ich ebenfalls auf und drehte mich zur Großmutter um, als wollte ich die bezaubernde Sarafina beschützen. Als könnte ich es wirklich. Ich hatte ihr jetzt meinen Rücken zugedreht, und als sie ihre Hände auf meine Schultern legte, spürte ich, wie ich ein ganzes Stück größer wurde. Doch als mich die wütenden Blicke meiner Großmutter trafen, glaubte ich, auf die Größe eines Flohs zusammenzuschrumpfen.

„Kannst du meine Anwesenheit nicht wenigstens alle paar Jahre ertragen, alte Vettel?“, fragte Sarafina. Ihre Stimme war nicht länger liebevoll oder weich und warm. Sie war tief, klar … und bedrohlich. „Du hast hier nichts zu suchen!“, gab meine Großmutter ihr zu verstehen. „Doch, das habe ich“, antwortete sie. „Ihr seid meine Familie. Und ob es dir gefällt oder nicht, ich gehöre zu euch.“ „Du bist kein Teil dieser Familie. Du bist verflucht. Verschwinde!“ Um uns herum brach Chaos aus, als die Mütter, die von den Geräuschen wach geworden waren, aus ihren Zelten und Wagen rannten, ihre Kinder zu sich holten und schnell in Sicherheit brachten. Sie taten, als wäre der meuchelnde Wolf an unserem Lagerfeuer aufgetaucht, und nicht eine ausgestoßene Tante von seltener Schönheit, die fremdartige Geschenke und unglaubliche Geschichten mitbrachte. Auch meine Mutter kam gerannt. Als sie auf mich zueilte, steckte ich die Fledermaus aus Stein in

meinen Ärmel. Sie blieb stehen, ehe sie mich erreicht hatte, und sah Sarafina in die Augen. „Bitte“, war alles, was sie sagte. Es folgte ein Augenblick der Stille, in der etwas zwischen den beiden Frauen geschah. Eine Nachricht, unausgesprochen, trieb meiner Mutter Tränen in die traurigen Augen. Sarafina beugte sich hinab und presste ihre kühlen Lippen auf meine Wange. „Wir treffen uns wieder, Dante. Zweifle nie daran. Aber für jetzt, geh. Geh zu deiner Mama.“ Sie gab mir einen sanften Stoß und nahm ihre Hände von meinen Schultern. Während ich auf meine Mutter zuging, hasste ich sie fast, weil ich die geheimnisvolle Sarafina verlassen musste, ehe ich von ihren Geheimnissen erfahren konnte. Sie packte mich fest am Arm und rannte so schnell zu unserem Zelt, dass sie mich fast hinter sich her schleifte. Im Inneren schloss sie die Klappe und nahm mein Gesicht in ihre Hände. Sie fiel vor mir auf die Knie. „Hat sie dich angefasst?“, schluchzte sie. „Hat sie dich gezeichnet?“ „Sarafina würde mir nicht wehtun, Mama. Sie ist

meine Tante. Sie ist nett und schön.“ Doch meine Mutter schien meine Worte nicht zu hören. Sie beugte meinen Kopf zu einer Seite, dann zur anderen, strich meine Haare aus dem Weg und suchte meine Haut ab. Ich hatte schnell genug davon und machte mich los. „Du darfst nie wieder in ihre Nähe gehen, verstehst du mich, Dante? Wenn du sie siehst, musst du sofort zu mir kommen. Versprich es!“ „Aber warum, Mama?“ Ihre Hand schlug auf meine Wange, so schnell, ich wäre gefallen, hätte sie mich nicht mit der anderen festgehalten. „Stell keine Fragen! Versprich es mir, Dante! Schwör es bei deiner Seele!“ Ich senkte meinen Kopf. Der Schlag schmerzte, doch ich murmelte zustimmend. „Ich verspreche es.“ Ich schämte mich der Tränen, die in meinen Augen brannten. Sie kamen eher durch den Schreck als durch den Schmerz. Meine Mutter erhob kaum jemals die Hand gegen mich. Ich verstand nicht, warum sie es in dieser Nacht tat. Dann kniete sie sich noch einmal hin, ihre Hände auf meinen Schultern, ihr ausgezehrtes Gesicht

nahe an meinem. „Dieses Versprechen musst du halten, Dante. Wenn du es brichst, ist deine Seele in Gefahr. Merk dir meine Worte gut.“ Sie atmete tief durch, seufzte und küsste die Wange, die sie gerade erst geschlagen hatte. „Und jetzt ins Bett mit dir.“ Sie hatte sich etwas beruhigt, und ihre Stimme klang fast wieder normal. Ich war alles andere als ruhig. Etwas hatte in dieser Nacht mein Blut aufgewühlt. Ich kroch in mein Bett, zog mir die Decke über den Kopf und ließ die kleine, kalte Steinfledermaus aus meinem Ärmel in meine Hand fallen. Unter der Decke, wo meine Mutter mich nicht sehen konnte, hielt ich sie fest und strich mit dem Daumen über ihre harte Oberfläche. Mama blieb noch eine ganze Weile neben meinem Bett stehen, ehe sie die Lampe ausblies und sich zusammenrollte – nicht auf ihrem eigenen Bett, sondern auf dem Boden neben meinem, mit einer abgetragenen Decke als einziges Kissen. Als ich die ruhigen Atemzüge meiner Mutter hörte, rollte ich mich an den Rand des Zeltes und stieß meinen Zeigefinger durch das kleine Loch

dort. Ich hatte es in den Stoff gemacht, damit ich die Erwachsenen noch lange, nachdem sie die Kinder zu Bett geschickt hatten, um das Feuer sitzend beobachten konnte. In der Dunkelheit riss ich das Loch ein wenig weiter auf. Und durch das winzige Loch beobachtete und belauschte ich nun Großmutter, die Weise unserer Bande, die älteste und verehrteste Frau aller Familien dabei, wie sie sich der schönsten Frau stellte, die ich je im Leben gesehen hatte. „Warum quälst du uns, indem du in unsere Mitte zurückkehrst?“, fragte Großmutter. Die tanzenden Flammen bemalten ihr ledernes Gesicht in Orange und Braun, in Schatten und Licht. „Warum? Du, meine eigene Schwester, fragst mich, warum?“ „Schwester, pah!“ Großmutter spuckte auf den Boden. „Du bist mir keine Schwester, sondern ein Dämon. Ausgestoßen! Verflucht!“ Ich schüttelte verwundert den Kopf. Was konnte Sarafina meinen? Schwester? Sie konnte kaum mehr die Schwester der alten Frau sein als … als ich selbst.

„Sag mir, warum du hierherkommst, Dämon! Es sind immer die Kinder, die du bei deiner Rückkehr um dich versammelst. Es geht um eines von ihnen, nicht wahr? Dein elender Fluch hat sich an eines von ihnen weitergegeben! Nicht wahr? Nicht wahr ?“ Sarafina lächelte zurückhaltend. Ihr Gesicht, eingetaucht in das Leuchten des Feuers, schien gleichzeitig engelsgleich und dämonisch. „Ich komme, weil ihr alles seid, was ich habe. Ich werde immer wiederkehren, alte Frau. Immer. Lange nachdem du zu Staub zerfallen bist, werde ich zurückkehren, und den Kleinen Geschenke bringen. In ihren Augen finde ich die Liebe und die Akzeptanz, die meine eigene Schwester mir verweigert. Und es gibt nichts, was du tun kannst, um es zu verhindern.“ Ehe Sarafina sich abwendete, sah sie an Großmutter vorbei und direkt in meine Augen. Als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass ich sie von der anderen Seite des kleine Lochs in der Zeltwand aus beobachtete. Sie hatte mich nicht sehen können. Und doch muss es so gewesen sein.

Ihre Lippen zuckten fast unmerklich an ihren Mundwinkeln, und ihr Mund bewegte sich. Auch wenn kein Laut hervorkam, wusste ich, welche Worte sie flüsterte. Denk an mich. Dann drehte sie sich mit fliegenden Röcken um und verschwand in der Nacht. Ich sah nur für einen Augenblick, wie die Farben ihrer Schals einem Kometenschweif gleich hinter ihr her zogen. Dann verschluckte sie die Schwärze der Nacht, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich legte mich auf meine Kissen und zitterte vor unerklärlicher Angst. Ich war es. Meine Tante war meinetwegen gekommen. Tief in meiner Seele war es mir klar. Was sie von mir wollte, konnte ich nicht erraten. Warum ich so sicher war, blieb mir ein Rätsel. Aber bis ins Innerste wusste ich, dass sie tatsächlich einen Grund hatte, trotz des Hasses, der ihr entgegenschlug, zurückzukehren. Und dieser Grund … war ich. Langsam, langsam senkte sich der Rauch der Lagerfeuer. Das Licht der Flammen wurde trüber, und die Hitze – so echt, sie hätte schwören können,

sie auf ihrem Gesicht zu spüren – kühlte ab. Morgan De Silva blinzelte sich den Traum aus den Augen. Sie sah sich nicht länger durch die großen dunklen Augen eines kleinen Jungen ein Zigeunerfeuer an. Sie saß auf dem Fußboden eines staubigen Dachbodens und starrte auf die vergilbten Seiten eines handgeschriebenen Tagebuchs. Das Leder des Einbands war mit dem Alter butterweich geworden. Die Vision, die dieses Spinnennetz aus Worten auf den Seiten gewoben hatte, war sehr lebendig gewesen. Sie war fast … Wirklichkeit. So wirklich, als sei sie selbst in diesem Zigeunerlager in der Vergangenheit gewesen, statt hier an der Küste von Maine im Frühjahr 1997. Morgan blätterte langsam um, begierig darauf, weiterzulesen … Das Klingeln des Telefons drang aus weiter Ferne zu ihr und hinderte sie daran. Mit einem ergebenen Seufzen schloss sie das große Buch und legte es vorsichtig in die alte Schranktruhe, zurück auf einen Haufen anderer, die genauso aussahen. Als sie den Deckel der Truhe schloss, knarrten die

Scharniere, und eine winzige Staubexplosion stob ihr ins Gesicht. Sie rieb ihre Hände aneinander, dann an ihrer Jeans, und blies die Kerzen aus, die ihre einzige Lichtquelle im Raum gewesen waren. Schließlich eilte sie die schmale, steile Dachbodentreppe hinab. Sie hatte nicht erwartet, etwas anderes als Spinnweben und Staub dort oben zu finden. Das heruntergekommene Haus näher zu untersuchen war nur eine neue Art Zeitvertreib, keine Neugierde. Wenn ihre eigene Arbeit irgendwie fortgeschritten wäre, sie hätte sich nie die Mühe gemacht, in dem alten, baufälligen Haus herumzustöbern. Und das wäre ein schlimmer Fehler gewesen. Sie rannte die Treppe zum Flur hinab, zwischen Wänden, an denen der Putz abblätterte und die Latten darunter hervorkamen, bis zum nächsten Treppenabsatz. Diese Treppe war breiter, aber nicht besser erhalten als der Rest des Hauses. Der dritten Stufe von oben fehlte ein Brett, über das sie auf dem weiteren Weg nach unten automatisch hinwegtrat, während das Telefon weiter klingelte. Wenn es noch ein Anwalt oder ein weiterer

Geldeintreiber war, dachte sie atemlos, würde sie sich auf die Jagd machen und sie alle umbringen. Die breite Treppe führte in ein riesiges Zimmer, das früher, vor einem Jahrhundert oder so, prächtig gewesen sein musste. Jetzt war es mit nichts weiter gefüllt als herzzerreißenden Echos und einem Kabelgewirr, das aus der gewölbten Decke ragte, wo einst ein funkelnder Kronleuchter gehangen haben musste. Hinter diesem Zimmer und einigen Türen lag ihr Zimmer. Ihr … Büro. Wenigstens für den Augenblick. Aber nur, bis sie ihr Vermögen zurückgewonnen hatte und triumphierend nach L.A. zurückgekehrt war. Also etwa genau das Gegenteil von der jämmerlichen Abreise aus der Stadt. Ihr Herz klopfte vor Anstrengung, als sie es so weit geschafft hatte, sie rang nach Atem, und außerdem war ihr schwindelig. Sie drückte eine Hand auf ihre Brust. Es war lächerlich für eine Zwanzigjährige, so schnell zu ermüden, aber so war es eben. Sie war nie gesund gewesen, und das würde sie auch nie sein. Aber wenigstens hatte ihr Zustand sich noch nicht verschlechtert. Bald würde

es so weit sein. Und sie hatte doch noch so viele Dinge zu erledigen. Endlich hob Morgan das Telefon ab, das genau so veraltet war wie der Rest des Hauses. Der Hörer wog wenigstens ein Kilogramm, schätzte sie, und die Drehscheibe schien ihren gewöhnlich hoch technisierten Geschmack verspotten zu wollen. Falls ihr „Hallo?“ verärgert klang, dann, weil sie es kaum abwarten konnte, mehr von den Tagebüchern auf dem Dachboden zu lesen, und mehr über ihren Verfasser herauszufinden. Sie mochte kurz davorstehen, zuzugeben, selbst eine untalentierte Lohnschreiberin zu sein, aber eine gute Schreibe erkannte sie immer noch, und was sie bisher dort oben gelesen hatte, war gut geschrieben. So gut, dass es wehtat. „Morgan? Wieso hat das so lange gedauert? Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“ Ihr Ärger verflog, als sie David Sumners vertraute Stimme hörte. Ihr Onkel ehrenhalber – auch wenn sie ihn schon lange nicht mehr so nannte – war die einzige Person, die sich nicht von ihr abgewendet hatte, als sie innerhalb weniger Stunden vom

verwöhnten reichen Mädchen zum mittellosen Waisenkind geworden war. Er war außerdem die einzige Person, von der sie zurzeit gerne etwas hörte. „Hey, David“, sagte sie, „ich war nur am … Stöbern. Das Haus ist riesig, weißt du.“ „Nein, ich weiß es nicht, schließlich habe ich es noch nie gesehen. Du klingst etwas außer Atem.“ „Das liegt an den zwei Stockwerken.“ Sie bemerkte sein Zögern. Er neigte dazu, sich viel mehr Sorgen um sie zu machen, als nötig war. „Wie ist das Haus eigentlich?“, fragte er schließlich. „Die reinste Ruine“, berichtete sie ein wenig ironisch, einerseits, um ihn zu beruhigen, und andererseits, weil sie ihn zu gern ein wenig aufzog. „Und das geschieht dir recht, weil du es gekauft hast, ohne es dir vorher anzusehen. Wer macht so etwas überhaupt?“ Sie sah sein Gesicht fast vor sich, die Lachfalten um die Augen, den kahl werdenden Kopf. David war ihr bester Freund, solange sie sich erinnern konnte. „Ein Freund der Familie“, hatten ihre

Eltern immer gesagt. Aber Morgan war es immer so vorgekommen, als könne er die Familie kaum ertragen. Natürlich hatte er die ganze Zeit gewusst, wie es um ihre Eltern wirklich bestellt war. Sie selbst hatte es erst vor Kurzem erfahren, durch die Schlagzeilen der Regenbogenpresse und durch die Aasfresser im Gerichtssaal. „Ich habe es wegen der Lage gekauft, das weißt du genau“, erklärte David geduldig. „Und ich vertraue meinem Immobilienguru, was solche Dinge angeht. Das Haus wird sowieso abgerissen.“ „Ja, und es trägt selbst seinen Teil dazu bei. Sogar während wir uns unterhalten.“ Er schwieg einen Augenblick. „So schlimm, was?“ Morgan hätte sich ohrfeigen können. Manchmal war sie eine richtige egoistische kleine … „Ist es nicht“, sagte sie schnell. „Das war nur ein Scherz.“ Sie sah sich in dem Zimmer um, das sie sich zum Wohnen ausgesucht hatte. Es war vor langer Zeit einmal Bibliothek oder Arbeitszimmer von

jemandem gewesen. Der kleine Junge aus dem Tagebuch kam ihr in den Sinn, und sie fragte sich, ob ihm dieses Haus gehört hatte. Als er älter war vielleicht, als er sich entschieden hatte, seine Memoiren zu schreiben. Aus dem Augenwinkel konnte sie ihn sehen. Eine dunkle, breitschultrige Gestalt beugte sich über den Schreibtisch, eine Schreibfeder in der langen eleganten Hand. Ihr Herz machte einen Sprung, und sie hielt den Atem an, als sie sich zu ihm drehte. Aber da war nichts. Kein Mann, keine Gestalt, keine Schreibfeder. Nur ihr Computer mit dem leuchtend blauen Bildschirm. Was auch immer sie gesehen hatte, war im gleichen Augenblick wieder verschwunden. Eine Vision. Eine Gedankengestalt. Vielleicht eine etwas zu reale Fantasie. Ein Schaudern kroch ihren Rücken hinauf, aber sie schüttelte es ab. „Beschreib es mir“, forderte David sie auf. „Was?“ Morgan musste sich zwingen, ihren Blick von dem alten Schreibtisch zu lösen. „Das Haus. Beschreib es mir.“ Ihr Blick huschte noch einmal hinüber zum

Schreibtisch. Niemand dort. Mit einem Seufzen versuchte sie, Davids Bitte nachzukommen. „Früher muss es atemberaubend gewesen sein. Die Verzierungen um den Kamin sind abgestoßen und verblasst, aber immer noch prächtig. Ich glaube, sie sind aus Hartholz. Du solltest das ganze Teil herausnehmen, ehe du den Rest abreißt. Und jedes Fenster hat einen handgeschnitzten Rahmen. Dieser Ort … ich weiß nicht. Er hat was.“ „Allerdings ganz anders, als das, was du gewöhnt bist“, sagte David. „Ja, na ja, es ist nicht Beverly Hills, und es kommen keine Filmstars zu den Poolpartys … aber dann würde ich ja auch nicht zum Arbeiten kommen, nicht wahr?“ „Und, kommst du? Zum Arbeiten?“ Morgan blickte auf den leuchtenden blauen Bildschirm ihres Computers – der den Mahnungen der Nachlassverwalter nur entgangen war, weil sie ihn bei sich an der Universität in L.A. gehabt hatte, als ihre Eltern verunglückt waren und das wahre Ausmaß ihrer Finanzen ans Licht kam. Sie waren pleite und so hoch verschuldet, dass Morgan die

tatsächlichen Zahlen kaum begreifen konnte. Zuerst hatte es einfach keinen Sinn ergeben. Ihr Vater war ein erfolgreicher Regisseur, ihre Mutter eine Schauspielerin, die zwar vor einem Jahrzehnt am Höhepunkt ihrer Karriere angekommen war und sich jetzt mit kleineren Rollen begnügte, die mit dem Leben aber zufrieden schien. Jedenfalls hatte Morgan das geglaubt. Sie musste dann rasch lernen, dass sie in einer Seifenblase gelebt hatte. Im Blut ihrer Eltern war bei der Autopsie genug Kokain festgestellt worden, um den Gerichtsmediziner die Frage stellen zu lassen, wie sie überhaupt hatten fahren können. Sie waren Junkies, und ihr ganzer Lebensstil war eine Lüge gewesen. Das Haus und alles was darin war, musste verkauft werden, um einen Teil ihrer Schulden decken zu können. Morgan hatte ihr Studium abgebrochen, die Gebühren waren bereits Monate im Verzug. Und anscheinend waren ihre Freunde genau so falsch, wie David es immer prophezeit hatte, denn als die Wahrheit erst einmal herausgekommen war, hatten sie Morgan

zurückgelassen wie ihre Garderobe vom letzten Jahr, und diejenigen, die Morgan immer unterwürfig erschienen waren, amüsierten sich heimlich über ihre problematische Situation. Während ihrer letzten Tage auf dem Campus hatte sie an jedem schwarzen Brett Ausschnitte aus der Klatschpresse gefunden, die lauthals das geheime, von Drogen überschattete Leben des berühmten Paars, das scheinbar alles besaß, verkündeten. Der Albtraum hinter dem Märchen und das arme kleine reiche Mädchen, das übrig blieb, um die Scherben zusammenzufegen, wurden dabei nicht ausgelassen. Sie war gedemütigt aus L.A. geflohen, ohne Ziel und ohne dass ihr etwas blieb außer dem, was sie noch hatte einpacken können. In Davids Auffahrt war sie nur mit ihrem Maserati – Gott sei Dank auf ihren Namen registriert – eingebogen und dem Zeug, was sie in einen winzigen Kofferraum hatte quetschen können. Er war ihre letzte Hoffnung, obwohl sie fast befürchtet hatte, auch er würde sich angewidert von ihr abwenden, wie alle anderen auch. Aber das tat er nicht. Er half ihr dabei, das Auto

zu verkaufen, es gegen einen bescheidenen Gebrauchtwagen einzutauschen und das restliche Geld einzustecken. Als sie dann ein Versteck brauchte, wo sie sich ihre Wunden lecken konnte, durfte sie sein Haus in Maine benutzen, mietfrei, solange sie es brauchte. Doch es sollte nicht für lange sein, hatte sie sich vorgenommen. Sie wollte ja schon immer eine berühmte Drehbuchautorin werden. Nun würde alles ein wenig früher als geplant beginnen. David war Filmproduzent. Er würde ihr dabei helfen, die richtigen Leute kennenzulernen, und ihr Drehbuch vielleicht sogar selbst produzieren. Er hatte versprochen, ihr eine Chance zu geben und alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen. Alles was sie brauchte … war eine Geschichte. „Morgan?“ Davids Stimme riss sie grob von dem Pfad, den ihre Gedanken gewandert waren. „Hast du mich gehört? Ich habe gefragt, wie du mit dem Drehbuch vorankommst?“ Blinzelnd starrte sie den leeren Bildschirm an. Der Cursor bewegte sich sozusagen im leeren Raum. „Toll. Großartig. Es geht super voran.“ So

super, dass sie sich entschieden hatte, lieber dieses uralte Wrack von einem Haus zu inspizieren, statt weiter auf den leeren Bildschirm zu starren. Die einzige Taste auf ihrer Tastatur, die ständig in Bewegung war, war „Löschen“. Sie hatte nur Müll hervorgebracht, seit sie angekommen war. Müll. „Weißt du, es ist ganz normal, wenn du Schwierigkeiten mit dem Anfang hast“, beruhigte David sie. „Zwing dich zu nichts. Du hast eine Menge durchgemacht. Dein Verstand braucht Zeit, das alles zu verarbeiten.“ Morgan zuckte mit den Schultern. „Daran liegt es nicht“, erwiderte sie. „Nein?“ „Natürlich nicht. Es ist sechs Monate her. Ich bin vollkommen darüber hinweg.“ „Vollkommen darüber hinweg, deine Eltern zu verlieren, dein Vermögen, dein Heim, deine Ausbildung und das, was du für deine Identität gehalten hast?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Das glaube ich kaum.“ „Na ja, bin ich aber. Und um dir die Wahrheit zu sagen, herauszufinden, adoptiert zu sein, hat eine

Menge Dinge erklärt. Ich meine, du weißt ja, meine Eltern haben sich nie viel … um mich gekümmert.“ „Das lag am Kokain, Schatz. Nicht an der Adoption. Nicht an dir.“ Sie räusperte sich, als ihre Kehle trocken wurde, und gab sich in Gedanken einen Tritt. „Und was den Rest angeht … ich hole mir alles zurück, David. Alles, was ich verloren habe. Und noch mehr.“ Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Daran zweifle ich kein bisschen.“ „Ich auch nicht.“ Ihr Blick ruhte auf dem leeren Bildschirm. Die Zweifel, die sie zu leugnen versuchte, erstickten sie fast. Verdammt, warum konnte das Schreiben eines Blockbuster-Drehbuchs nicht so einfach sein, wie sie immer gedacht hatte? Bei so vielen Filmen war sie völlig sicher gewesen, ihr könne im Schlaf etwas Besseres gelingen. „Also, wann kann ich mit dem Drehbuch rechnen?“, hakte David nach. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wünschte bei Gott, sie wüsste es. „Ein

Meisterwerk braucht Zeit, … und es ist … so unberechenbar.“ „Ich brauche noch ein Projekt für den Herbst. Ich halte eine Spalte für dich frei, Morgan. Drei Monate. Ich brauche das Material in drei Monaten. Schaffst du das? Es über den Sommer zu schreiben und mir bis September zu schicken?“ Sie hob ihr Kinn, schluckte verkrampft, und sagte. „Ja. Ich werde es bis September fertig haben. Kein Problem.“ Großes Problem. „Toll“, freute sich David. „Du kannst das schaffen, Morgan. Du wirst richtig gut sein.“ „Natürlich werde ich das.“ „Brauchst du sonst noch etwas?“ „Nein, nein, es geht mir gut.“ „Dein Erspartes reicht noch aus?“ Die Wahrheit konnte Morgan ihm einfach nicht gestehen. Sie hatte auf Davids Anraten hin ihre Konten geleert, ehe die Anwälte und Gläubiger an ihr Geld gelangen konnten, und sie hatte noch das Bargeld von ihrem Auto. Aber auch wenn sie keine Miete bezahlen musste, gab es andere Ausgaben.

Das Telefon, die Elektrizität, und essen musste sie auch. Die Wahrheit war, dass das Geld auf ihrem Girokonto ihr durch die Finger floss. „Es geht mir gut“, sagte sie deshalb. „Gut. Gut. Lass mich wissen, wenn du irgendetwas brauchst.“ „Mach ich, David.“ Einen Augenblick lang schwieg er. „Wie steht es mit deiner Gesundheit?“ Sie atmete scharf ein und seufzte. „Du weißt, ich kann es nicht leiden, wenn man mich für kränklich hält.“ „Habe ich gesagt, du wärest kränklich?“ „Nein.“ „Und?“ „Die kalte klare Luft hier oben wirkt wahre Wunder“, log sie erneut. Was konnte sie ihm sonst sagen? Die Wahrheit? Dass es kalt, trostlos und feucht war und sie es hasste, wenn ein später Apriltag, an dem es 15 Grad warm wurde, schon eine Hitzewelle darstellte? Während sie normalerweise bei 26 Grad neben dem Pool an ihrer Sommerbräune arbeitete, wäre sie zu Hause

gewesen? Aber es brachte ja nichts, sich etwas Unerreichbares zu wünschen. „Ich sollte Schluss machen, David“, flüsterte sie, während ein Klumpen in ihrer Kehle sie am Sprechen hindern wollte. „Wenn ich bis Herbst fertig sein soll, muss ich mich wirklich an die Arbeit machen.“ „Okay, Schatz. Ruf einfach an, wenn du etwas brauchst.“ „Mach ich, David. Danke.“ Morgan legte den alten Hörer auf seine Gabel und biss auf ihre Unterlippe. Sie drehte den klapprigen Holzstuhl in Richtung des Computerbildschirms, versicherte sich noch einmal, dass wirklich niemand darin saß, und setzte sich endlich hin. Sie legte ihre Hände über die Tastatur und befahl sich selbst, etwas zu schreiben, jetzt, heute, sonst musste sie aufgeben und sich einen Job suchen. Das Problem war nur, sie konnte nichts. Schreiben war das Einzige, was sie je wollte, und sie war früher gut gewesen. Oder … wenigstens hatte sie das gedacht. In der Schule waren ihre

Aufsätze immer gelobt worden. Die Theatergruppe hatte sogar eines ihrer Stücke aufgeführt. Alle hatten es gemocht. Die Kritiker auf dem Campus, die Lokalpresse … Aber damals war sie noch Morgan De Silva gewesen, die brillante Tochter eines berühmten Regisseurs und einer beliebten Schauspielerin, das Mädchen mit dem verzauberten Leben, dem der Erfolg sicher war. Jetzt war sie Morgan De Silva, in Ungnade gefallen, weg vom Fenster, mittellos, obdachlos, aus der Stadt vertrieben in eine Zukunft, die düsterer war, als sie es sich noch vor einem Jahr hatte ausmalen können. Jetzt … jetzt wusste sie nicht mehr, ob sie wirklich Talent besaß oder ob es die ganze Zeit ihr Name gewesen war, der das Lob eingebracht hatte. Sie wusste überhaupt nichts mehr, nicht, wer sie war oder was sie machte oder warum die Worte aufgehört hatten zu fließen. Es schien, als wäre die Quelle in ihrem Inneren Teil der Illusion, die ihr ganzes Leben gewesen war. Als wäre sie ausgetrocknet, in dem Moment, als die Illusion in Scherben zersprang.

Sie senkte ihre Hände, ohne auch nur ein Wort auf den Bildschirm gebracht zu haben. Draußen heulte der Wind; die Lichter flackerten, gingen aus und kamen gleich darauf zurück. Das alte Haus ächzte im Wind. Wahrscheinlich würde sie selbst auch stöhnen, wenn sie so alt wäre wie das Haus. Und dann fragte sie sich, wie alt genau das sein mochte. Diese Tagebücher … Es hatten keine Daten darin gestanden, aber sie waren offensichtlich vor langer, langer Zeit geschrieben worden. Wenigstens vor einem Jahrhundert – vielleicht eher vor zweien. Vorhin hatte sie über den Verfasser der Tagebücher nachgedacht. Dante. Hatte er hier gelebt, dieser Mann, der ein Zigeunerjunge gewesen war, verzaubert von seiner ausgestoßenen Tante? War er vielleicht in genau diesem Zimmer gewesen, vor dem Feuer auf und ab gegangen, und hatte seine Schreibfeder auf einem polierten antiken Schreibtisch nicht angerührt? Hatte er seine Muse so ungeduldig umworben wie sie selbst, und war er ebenso frustriert, als die Wörter nicht kommen wollten?

Wie von einer unsichtbaren Hand gezogen stand sie auf und verließ das Arbeitszimmer. Sie ging durch die gespenstische Eingangshalle und die breite Treppe hinauf. Danach durchquerte sie einen Flur und ignorierte die Türen auf beiden Seiten. Sie hatte die meisten Räume hier oben noch nicht einmal betreten. Es waren einfach zu viele. Aber ihr Ziel lag in keinem von ihnen. Ihr Ziel lag dahinter, die Hintertreppe hinauf, die auf den Dachboden führte, wo Spinnweben Hof hielten und der Staub regierte. Sie kniete sich hin, wie sie es schon zuvor getan hatte, und fischte ein Streichholzbriefchen aus ihrer Jeanstasche. Damit zündete sie die Kerzen in dem prunkvollen Tafelleuchter an, der unten wie für sie bereitgestellt dastand. Als ihr weiches gelbes Licht sich ausbreitete, öffnete sie liebevoll den Deckel der handgearbeiteten Truhe und nahm den ersten Band heraus, strich darüber und öffnete ihn vorsichtig, um die mürben Seiten nicht zu beschädigen. Sie blätterte zu der Stelle, an der sie aufgehört hatte, und begann zu lesen. Und wieder verlor sie sich selbst in den Worten.

Keith 2. KAPITEL Es dauerte dreizehn Jahre, bis ich Sarafina wieder sah. Dreizehn ganze Jahre, in denen ich viele Dinge lernte. Egal wohin wir gingen, man würde uns schließlich vertreiben. Egal wie ehrlich wir sein mochten, wir wurden von Fremden als Diebe beschimpft, die nichts über uns wussten. Also lernte ich auch, mir zu nehmen, was ich wollte, und sie alle zur Hölle zu wünschen. Meine Schlussfolgerung war, dass ich die Früchte der Verbrechen, die man mir zuschrieb, genauso gut genießen konnte. Wenn man mich erwischte, bezahlte ich für diese Verbrechen, egal ob ich sie begangen hatte oder nicht. Ich wollte lieber für mein eigenes Vergehen hängen, als für das irgendeines blassen Welpen, der Ehrlichkeit vortäuschte und dem man ohne weitere Fragen glaubte, solange es einen Zigeuner in der Nähe gab, dem man die Schuld zuschieben konnte. Doch so viel ich auch lernte, das entscheidende Wissen blieb mir vorenthalten, obwohl ich es ohne

Unterlass suchte. Es gelang mir nicht, Sarafinas Geheimnis zu ergründen. Wer sie wirklich war, welche verwandtschaftlichen Beziehungen uns verbanden, warum man sie von unserer Truppe ausgeschlossen hatte. Nicht vor jener Nacht, in der mein Leben fast ein Ende fand – in der es praktisch gesehen tatsächlich endete. Es endete – und ein neues begann. Es war später Herbst, und wir schrieben das Jahr 1848. Damals war ich ein junger Mann. Hitzköpfig und unbesonnen. Meine Familie war gerade dabei, zusammenzupacken und wieder einmal weiterzuziehen. Nicht, weil wir des Ortes überdrüssig geworden waren, sondern weil die Anwohner uns beschuldigten, ihnen Vieh zu stehlen, und wir wussten, die Gesetzeshüter würden bald hinter uns her sein. Ehe wir endgültig aufbrachen, hatte ich beschlossen, unseren Anklägern noch ein wenig Fleisch zu entwenden. Tatsächlich sollte es etwas mehr sein. Es war Neumond; nur eine schmale silberne Sichel leuchtete am Himmel, als ich mich auf den

Hof des Bauern schlich. Es war mir egal, was ich in dieser Nacht stehlen würde, solange ich nur irgendetwas mitnahm. Es war Vergeltung. Ein Ausgleich für die üble Nachrede, die mir und den meinen angetan worden war. Das erste Tier, dem ich begegnete, war ein bärtiger Ziegenbock. Ich erinnere mich gut – beige und weiß und struppig. Die Hörner bogen sich von seinem Kopf. Die Hufe hätten dringend beschnitten werden müssen, wie bei einem alten Mann mit zu langen Fingernägeln. Ich schlang ein Seil um seinen Hals und führte ihn von dem Schuppen fort, in dem er angebunden gewesen war, über den zerfurchten Boden, wo tagsüber die Hennen pickten und scharrten. Jetzt schliefen sie auf der obersten Stange des Zaunes und in den wirren jungen Trieben, die hier und da aus dem Boden schossen. Der Bock kam ohne Aufheben mit mir, bis ich durch das Gatter hindurchgegangen war und begann, mich vom Hof zu entfernen. Da blieb er plötzlich stehen, grub seine Vorderhufe in den Boden und begann, laut und anhaltend zu blöken. Es klang wie ein Schrei

in der Nacht. Ich hätte das Tier loslassen sollen. Aber der Stolz eines jungen Mannes nimmt sich manchmal zu wichtig, und in mir war er begleitet von Wut und Zorn und Frustration. Also zog ich weiter an der Leine und zerrte das Tier durch saftige grüne Gräser, die feucht vom Tau der Nacht waren. Es bockte, zerrte und schüttelte seinen ruppigen Kopf von einer Seite zur anderen und blökte lauthals weiter. Der Bauer rief nicht, er befahl mir nicht, stehen zu bleiben oder die Ziege loszulassen oder irgendetwas anderes. Ich wusste nicht einmal, dass er aus seinem Haus gekommen war. So stillschweigend kam der Tod in dieser Nacht zu mir. Erst verfluchte ich noch den störrischen Bock, zerrte und drehte ihn, mit dem Seil über der Schulter und dem Tier hinter mir. Im selben Moment lag ich auch schon mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, und in meinen Ohren dröhnte der Gewehrschuss, der wie aus dem Nichts gekommen war. Es war unfassbar, wie schnell und einfach das

alles geschah. Ohne Ankündigung, ohne Theater. Der Bauer hatte einfach den Abzug an seinem Gewehr betätigt und mit einem ohrenbetäubenden Knall eine Bleikugel in meinen Rücken gejagt. Der Schock und der Schmerz wüteten in den Sekunden, nachdem ich zu Boden gefallen war, in mir. Ich fühlte einen Augenblick lang das Feuer der Kugelbahn und dann, wie ein Schwall von warmem Blut meine Kleider tränkte. Doch danach spürte ich etwas viel Beängstigenderes als den Schmerz. Taubheit. Es begann an meinen Füßen, wenn ich mich richtig erinnere. Und ich war mir dessen nicht bewusst, während es geschah, erst später, als ich die Schritte des Bauern näher kommen hörte. Ich merkte, dass ich mich nicht bewegen konnte, meine Füße nicht mehr spürte. Innerhalb kürzester Zeit breitete sich die Taubheit in mir aus und kroch meine Beine wie eine gleichmäßig steigende Flut hinauf. Dann meine Hüften, mein Becken, meinen Bauch. Sie stieg weiter, und der Schmerz, der wie Feuer in meinem Rücken brannte, verschwand. Er

verschwand einfach. Ich fühlte nichts mehr. Ich versuchte meine Arme zu bewegen, meine Beine, es war unmöglich. Ich keuchte vor Schreck auf, als mein Körper sich auf einmal umdrehte, denn ich hatte nicht gespürt, wie sich die Stiefelspitze des Bauern in meine Seite grub, um mich auf den Rücken zu wenden. Der Hass in seinen Augen, als er auf mich hinabstarrte, sein wettergegerbtes Gesicht, wie die Rinde eines alten Kirschbaumes, und sein weißer ungekämmter Schnurrbart – das alles nahm ich voller Angst in Sekundenbruchteilen wahr. „Diebisches Zigeunerpack.“ Er spuckte mich an, drehte sich um und ging dann mit seinem Ziegenbock davon. Nein, er hatte mich nicht umgebracht. Die Erleichterung darüber wurde schnell überschattet von dem Wissen, dass er es getan hätte. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, weil ich in den nächsten Minuten sowieso sterben würde. Ich konnte nicht spüren, wie sich unter mir eine Blutlache bildete, die immer größer wurde und das Gras rot färbte. Aber ich nahm wahr, wie

das Leben sich aus meinem Körper stahl, spürte, wie ich langsam durch den Blutverlust immer schwächer wurde. Spürte, wie ich … starb. Ich hörte, wie seine Schritte sich entfernten. Hörte, wie die Tür seines maroden Hauses zuknallte. Und dann umgab mich das sanfte Geräusch des leise säuselnden Nachtwinds, der in den Bäumen flüsterte. Meinen Namen flüsterte. „Oh, süßer Dante“, drang eine Stimme aus der Nähe an mein Ohr. Nicht der Wind. Dieses Mal nicht. „Das Unglück ist viel schneller über dich gekommen, als ich gehofft hatte.“ Ich blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Meine Augen schienen der einzige Teil meines Körpers zu sein, der noch meinem Willen unterstand. Sarafina stand neben mir, von der Nacht eingerahmt wie ein düsterer Engel. Die schwarzen Wolkenfinger legten sich über die Sterne hinter ihr. Ich versuchte zu sprechen, aber meine Worte waren so leise, sie konnte sie nicht hören. Dann kniete sie sich nieder und beugte sich über mich, und mit dem letzten Rest Kraft, der noch in mir war, gelang es

mir zu sprechen. „Sarafina … ich sterbe.“ Ihre sanfte Hand strich mir das dunkle Haar aus der Stirn. „Nein, Dante. Du weißt genau, ich werde das nicht zulassen.“ „A…aber …“ „Still. Es ist fast Zeit.“ Sie blickte mich an, und ich fragte mich, was sie sah. „Du bist schon fast verblutet. Es dauert nur noch einen Augenblick.“ Voller Panik riss ich die Augen auf; meine Kehle war wie zugeschnürt. „Sarafina!“, krächzte ich. Die Angst hatte meiner Stimme neue Kraft verliehen, auch wenn sie immer noch nicht mehr war als ein raues Flüstern. „Bitte!“ „Vertrau mir, mein Liebling. Du wirst nicht sterben.“ „Aber …“ „Du wirst nicht sterben“, beruhigte sie mich wieder. Mein Geist verließ nach und nach meinen Körper und die Dunkelheit umwölkte meinen Blick immer mehr. Dennoch bemerkte ich, dass sie sich nicht verändert hatte, seit ich ihr zum letzten Mal begegnet war. Sie war nicht gealtert. Nichts an ihr

war anders. „Siehst du. So ist es besser.“ Meine Augen öffneten sich, fielen zu, öffneten sich wieder. Mein Atem war flach und spärlich, und ich konnte meinen Herzschlag spüren. Er schlug mir in den Ohren, langsamer, immer langsamer … langsamer … „Hör mir zu, mein besonderer Schatz.“ Ihre Stimme schien aus so weiter Ferne zu kommen, als würde sie aus den Tiefen einer Höhle mit mir sprechen. „Du musst eine Wahl treffen, und es muss jetzt sein. Keine Zeit, lange zu überlegen. Willst du sterben? Hier und jetzt? Oder leben, auch wenn es bedeutet, im Exil zu leben, wie ich es tue? Von der Familie gehasst, ausgestoßen und vertrieben?“ Ich fühlte mich schwach. Als verwandelte ich mich in einen Schatten. Ich verstand ihre Fragen nicht. „Leben oder Tod, Dante? Antworte. Wenn du zögerst, wird dir die Wahl genommen. Du wirst sterben. Sag es mir jetzt. Was soll es sein? Leben … oder Tod?“ Ich bemühte mich, ein einziges Wort zu bilden,

hörte aber nicht, wie es meine Lippen verließ, spürte nicht, wie sie sich bewegten. Alles, was ich tun konnte, war, das Wort zu denken und mir vorzunehmen, es laut auszusprechen. Leben. „Gut.“ Sie bewegte sich. Meine Sicht verschwamm, und ich konnte nicht sehen, wohin sie ging und was sie tat. Dann drückte sie plötzlich etwas Warmes und Feuchtes an meine Lippen. „Trink, Dante. Dieses Elixier wird dir das Leben schenken. Trink“, flüsterte sie. Die warme schwere Flüssigkeit benetzte meine Lippen und belebte meine Sinne. Sofort folgte das erschreckende Gefühl, mehr zu brauchen. Ich schloss meinen Mund um die Quelle, die sie mir anbot, und trank davon wie ein Säugling. Leben schien in mir zu erwachen, gemeinsam mit einem Hunger, den ich nie vorher gekannt hatte. Meine Arme bewegten sich, meine Hände klammerten sich an ihre Beute, hielten sie fest an mein Gesicht gepresst, während sich die köstliche Flüssigkeit in meinen Mund ergoss. „Genug!“

Sarafina packte meinen Schopf und riss meinen Kopf zurück. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass es ihr Handgelenk gewesen war, an dem ich mich so begierig gelabt hatte. Ihr Blut, das ich so durstig getrunken hatte. Sie entzog mir ihren Unterarm, nahm einen Schal aus ihrem Haar und wickelte ihn fest um die Wunde. Voller Entsetzen spürte ich, wie mein Magen sich zusammenzog. Ich wendete meinen Kopf von ihr ab und wischte mit dem Handrücken über meinen Mund. „Es ist in Ordnung, Dante“, flüsterte sie. „So wird unser Geschenk eben weitergegeben.“ Ich sah hinab auf meine Hände, rot von dem Blut, das ich von meinem Mund gewischt hatte. Aber lebendig. Stark. Ich bewegte meine Finger, ballte sie zu Fäusten. „Was ist passiert?“, fragte ich sie leise. „Was … was hat das zu bedeuten?“ Und noch als ich es sagte, verließ die Taubheit meinen Körper. Das Gefühl kam zurück in meinen Oberkörper, meine Beine und meine Füße, stärker als zuvor. Meine Sinne surrten vor neuen Eindrücken. Meine

Haut kribbelte, allein weil die Luft sie berührte. Meine Augen schienen viel intensiver zu sehen, präziser, als sie es je zuvor getan hatten. Und durch meine Adern floss reine Kraft. Sie riss mir mein Hemd vom Leib und den Stoff in Streifen, während sie zu mir sprach. „Es ist ein Geschenk, junger Dante, auch wenn die Alte es einen Fluch nennt. Ein Geschenk, das ich dir gegeben habe. Du wirst jetzt niemals sterben. Niemals älter werden. Und auch wenn deine Familie sich von dir abwenden wird, du wirst nie allein sein, wie ich es gewesen bin. Denn nun sind wir zu zweit. Für immer.“ Den restlichen Stoff meines Hemdes ballte sie zusammen und drückte ihn in die Wunde an meinem Rücken, was mir enorme Schmerzen verursachte. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Sie band mehrere der Streifen eng um mich, die den Stoffballen dort fixieren sollten, streckte mir dann eine Hand entgegen und half mir auf. Im selben Moment erkannte ich den Umriss des alten Mannes, der hinter ihr lauerte. Ich öffnete meinen Mund, um sie zu warnen.

Doch ehe ich ein Wort sagen konnte, drehte Sarafina sich mit solcher Geschwindigkeit um, dass mir schwindelig wurde. Das Gewehr des Bauern flog durch die Luft, außer Sichtweite, und feuerte ziellos in die Wälder, als es auf den Boden auftraf. Und Sarafina, die schöne, elegante Frau, die mich so in ihren Bann gezogen hatte, packte den Bauern an seinem Hemd und riss ihn an sich. Ehe ich überhaupt reagieren konnte, hatte sie ihren Mund an seinen Hals gelegt. Ich hörte die Geräusche … und sah, trotz der Dunkelheit jetzt sehr deutlich, was sie tat. Sie trank … sein Blut. Labte sich an seiner Kehle. Am Anfang schlug der Bauer auf ihren Rücken ein und trat nach ihr, doch dann … ergab er sich einfach. Ich hörte sein Seufzen, beobachtete, wie er die Augen schloss und sogar seine Arme um sie schlang. Er ließ seinen Kopf zurückfallen und rieb seine Hüften an Sarafinas, während sie weiter an seinem Hals saugte. Und dann war kein Leben mehr in ihm. Sie ließ sein Hemd los, und sein lebloser Körper fiel zu Boden. Leer. Eine Lumpenpuppe.

Vollkommen ausgesaugt. Mit einem ihrer Schals tupfte Sarafina sich vornehm die Mundwinkel, während sie sich zu mir umdrehte. Ich starrte sie an und bewegte den Mund, ohne einen Laut von mir zu geben. „Schau mich nicht so schockiert an, Dante. Begreifst du wirklich erst jetzt? Hmm? Wir sind Nosferatu. Wir sind untot.“ Sie leckte sich die Lippen, legte ihren Kopf zur Seite und schenkte mir ein dünnes Lächeln. „Vampire“, flüsterte sie, und ich hätte schwören können, der Nachtwind nahm das Wort und wiederholte es tausendmal, in tausend Stimmen. Vampire. Ein Windstoß aus einer unsichtbaren Quelle ließ die Kerzenflammen flackern. Morgan löste ihren Blick von den verwitterten Seiten und sah sich automatisch um. Aber natürlich war niemand dort. Nichts war dort. Das alles war nicht echt. Es war nicht echt. „Oh mein Gott“, flüsterte Morgan. „Das ist kein Tagebuch. Keine Memoiren. Es ist … Es ist nur eine Geschichte. Eine unglaubliche,

atemberaubende Geschichte!“ Oh, vielleicht nicht für den Mann, der sie geschrieben hatte. Der wunderbar wahnsinnige Künstler, der dieses Märchen erschuf, glaubte vielleicht sogar daran. Man stelle sich vor. Ein Mann, der tatsächlich dachte, ein Vampir zu sein. Ein Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach hier gewohnt hatte. Genau hier. In diesem Haus. Etwas kratzte an der Fensterscheibe, und Morgan wirbelte herum, ihre Hand auf ihre Brust gedrückt, wo ihr Herz wild klopfte. Aber es war nur ein Ast, gebogen wie eine Klaue, der gegen das Glas schabte. Keine Kreatur der Nacht, die sich Dante nannte, war zurückgekommen, um ihre Tagebücher und ihr Haus für sich zu beanspruchen. Natürlich nicht. Vampire gab es nicht. Das unerwartete Geräusch und der Schreck lösten ein Schwindelgefühl bei Morgan aus, und ihr Herz trommelte wild. Sie wartete, bis es sich beruhigt hatte. Die Atemnot verging, wie sie es immer tat. Sie nahm einige tiefe reinigende Atemzüge und sah auf ihre Uhr. Sie hatte stundenlang auf dem dunklen muffigen Dachboden gesessen, in der ausgedachten

Welt eines Wahnsinnigen verloren. Und dabei hätte sie an ihrer eigenen fesselnden Geschichte arbeiten sollen. Gott, wie sollte sie es jemals schaffen, in drei Monaten ein verkaufbares Drehbuch für David fertig zu haben? Besonders jetzt, wo sie nichts anderes wollte, als diese unglaubliche Geschichte weiterzulesen. Sie fragte sich beiläufig, wie lange der fantasievolle Dante wohl für sein Buch benötigt hatte. Nicht lange, dachte sie – falls jedes Tagebuch auf dem Stapel gefüllt war. Und selbst dann wusste sie nicht, wie er es in einem einzigen kurzen Leben geschafft haben konnte, so viel zu schreiben. Jetzt war er tot. Er musste tot sein, weil sie endlich ein Datum gefunden hatte und daran kein Zweifel bestehen konnte. Und seine Worte, seine Geschichten – sie lagen einfach da, unberührt. So lebendig, so wunderbar geschrieben; es brach ihr fast das Herz, dass sie nie der Welt mitgeteilt worden waren. Gott, wenn sie etwas so Gutes geschrieben hätte, und niemand es je gesehen hätte,

wäre sie … Oh. Oh. Der Gedanke, der ihr gerade gekommen war! Es könnte doch ihre Arbeit werden. Für alle anderen konnten diese Worte von ihr stammen. Wer zum Teufel sollte je den Unterschied erkennen? „Nein“, flüsterte sie laut. „Das wäre nicht richtig.“ Wäre es das nicht? widersprach ihr der Verstand. Sie hatte doch gerade entschieden, es wäre ein Verbrechen, dieses Werk nicht mit anderen zu teilen. Sie hatte gerade zugegeben, sie, wäre sie die Verfasserin, hätte es in Ewigkeit bedauert, wenn ihre Worte hier unentdeckt liegen blieben. Das geschriebene Wort war schließlich dazu da, gelesen zu werden. Nicht versteckt, sondern … geteilt. Erlebt. Wieder kniete sie sich vor die Truhe und fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Was sollte schon Schlimmes passieren, fragte sie sich? Dante war lange genug tot, und niemand sonst konnte von diesen Tagebüchern wissen. Oder doch? Natürlich nicht! Wenn jemand davon wüsste, hätte er die

Tagebücher nicht auf dem staubigen Dachboden verschimmeln lassen. Und es waren so viele! „Mein Gott“, flüsterte sie noch einmal. „Das ist die reinste Goldmine. Ich sitze hier auf einer echten Goldmine.“ Und während sie dort saß und auf die mit Büchern gefüllte Truhe hinabstarrte, formte sich ein anderer Gedanke in ihrem Kopf. Die Bücher waren der Schlüssel dazu, alles wiederzubekommen, was sie wollte, alles, was sie verloren hatte. Reichtum. Macht. Ruhm. Ihre triumphierende Rückkehr nach L.A. All das lag vor ihren Füßen. Fast wie ein Geschenk – ihr hinterlassen von einem lange verstorbenen Wahnsinnigen namens Dante, der glaubte, ein Vampir zu sein. Sie nahm behutsam das erste Tagebuch und drückte es gegen ihre Brust wie einen Liebhaber, als sie sich aufrichtete. Sie drehte sich um und trug es die Treppe hinab in ihr Arbeitszimmer. Als sie dieses Mal die Hände über ihre Tastatur hielt, lag Dantes Tagebuch offen auf dem Tisch neben ihrem Computer. Und dieses Mal kamen die

Worte.

Keith 3. KAPITEL Maxine Stuart sah sich zum ungefähr zwölften Mal JFK auf ihrer kleinen TV/VHS-Kombination im Schlafzimmer an. In ihrem Schoß lag eine Ausgabe von Der Fänger im Roggen, und auf ihrem Nachttisch stand eine abgestandene Dose Cola, als sie die Sirenen hörte. Das Geräusch fuhr ihr in den Magen wie eine eiskalte Klinge. Sie stand langsam auf, und auch wenn sie nicht genau wusste, warum, trat sie ans Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Sie konnte die flackernden Blaulichter der Notfallfahrzeuge sehen, die auf dem Highway in der Ferne vorbeifuhren. In Richtung Süden. Sie sah in dieselbe Richtung und kniff die Augen zusammen, um das schwache rote Glühen am fernen Himmel besser erkennen zu können. Ein vertrauter Jeep bog in ihre Auffahrt ein, und ungefähr eine Sekunde später hörte sie, wie die Vordertür ihres kleinen Hauses sich öffnete und wie ihre Mutter mit ihren Freunden sprach, als sie die beiden hereinließ. Maxine schaltete den

Fernseher aus, drehte sich um und öffnete ihre Schlafzimmertür, während die Besucher durchs Haus eilten. Ihre zwei besten Freunde kamen um die Ecke in den Flur und blieben stehen, als sie Maxine erblickten. Irgendetwas war los. Jason ließ sich nicht so einfach aus der Ruhe bringen, und er sah wirklich beunruhigt aus. Stormy – eigentlich hieß sie Tempest, aber den Namen hasste sie – war richtig blass. Maxines Mutter folgte ihnen auf dem Fuße. „Also, was ist los, wo brennt’s?“, fragte Maxine. „Die Spukzentrale“, erklärte Jason. „Sieht schlimm aus.“ „Furchtbar“, fügte Stormy hinzu. Ihre runden juwelenblauen Augen waren feucht. „Ich glaube, da ist keiner lebend rausgekommen.“ Spukzentrale war Maxines Spitzname für den großen namenlosen Regierungskomplex vor der Stadtgrenze. Das Hauptgebäude war riesig, und obwohl es weit ab von der Straße lag, war es durch einen hohen Elektrozaun geschützt, außerdem von mehreren Überwachungskameras umgeben und

in einen Mantel des Schweigens gehüllt. Ein Forschungslabor – so lautete die offizielle Erklärung, und die leichtgläubigen Bewohner des Ortes waren davon überzeugt. Angeblich wurden dort medizinische Forschungen angestellt – sie suchten nach Heilmitteln gegen Krebs und AIDS, so etwas eben. Gute Arbeit. Fast heilig. Zu heilig, um sich einzumischen und herumzupfuschen. Wer wollte eine derart heilige Mission schon infrage stellen? Maxine hatte ihre eigenen Theorien, wie bei den meisten Dingen, und gerade jetzt betete sie zu Gott, sie möge mit der, die sie immer für die wahrscheinlichste gehalten hatte – dass dort ein Militärlabor war, das sich mit bakteriologischer Kriegsführung und biologischen Waffen beschäftigte –, völlig danebenliegen. Albtraumhafte Bilder aus Stephen Kings The Stand – Das letzte Gefecht wirbelten ihr durch den Kopf, und sie musste sich zwingen, etwas zu unternehmen. Sie drehte sich um und holte aus ihrem Zimmer ihre Jacke von einer Stuhllehne. Dann eilte sie den Flur hinab. „Gehen wir.“

„Gehen? Wohin?“ Ihre Mutter eilte hinter den dreien her, die schnell zur Tür gingen. Als niemand antwortete, drängelte Ellen sich an den jungen Leuten vorbei und stellte sich ihnen direkt in den Weg. „Max, wehe, du gehst zu denen rüber. Du wirst bloß im Weg sein und dich womöglich noch verletzen.“ „Ach komm, Mom. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich ärgere die Feuerwehrleute schon nicht. Ich will nur wissen, was los ist.“ „Dann lies es einfach in der Morgenzeitung nach, wie alle anderen auch.“ „Lieber Gott, wie kannst du bloß so nichts ahnend sein?“ Ellen Stuart seufzte. Sie sah besorgt aus, aber auch resigniert. Es war noch nie jemandem gelungen, Maxine von etwas abzubringen, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und als ihre Mutter hätte sie sich langsam daran gewöhnen müssen, schließlich hatte sie es schon oft aus erster Hand erlebt, seit sie damals das drei Monate alte Waisenkind zu sich nach Hause geholt hatte. „Sei vorsichtig.“

„Immer doch.“ Maxine nahm ihren Minirucksack vom Haken an der Tür. Die Vorderseite hatte sie mit einem Akte-X-Bügelbild dekoriert, auf dem die Worte Vertraue niemandem prangten. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter, und die drei Freunde verließen gemeinsam das Haus. Sie zwängten sich alle in Jasons milchkaffeefarbenen Jeep Cherokee. Er scherzte gerne, dass er die Farbe passend zu seiner Haut ausgesucht hatte. Und wirklich passte sie ziemlich genau. Maxine nahm auf dem Rücksitz Platz. Stormy, eine winzige Psychologiestudentin mit kurzen strubbeligen und gebleichten Haaren, stieg vorne neben Jason ein und schloss die Tür, während er bereits dabei war, in die Straße einzubiegen, die aus der Stadt hinausführte. Maxine saß auf der Kante ihres Sitzes und steckte den Kopf zwischen den vorderen Nackenstützen hindurch. „Man kann das Feuer von hier aus sehen. Guckt euch das bloß mal an.“ Das taten sie. Stormy schüttelte sich und senkte ihren Blick; Jason starrte einen Augenblick wie hypnotisiert, fing sich dann wieder und stellte das

Radio an. „Ich wusste, du würdest hinfahren wollen“, sagte er. „Es ist bei meinem Bruder über Funk reingekommen. Wenn er nicht bei der freiwilligen Feuerwehr wäre, wüsste ich wahrscheinlich bis jetzt nichts davon.“ „Immer noch nichts in den Nachrichten, Jay?“, fragte Stormy. Sie war nervös; das war sie immer, wenn sie mit dem Ring in ihrer Augenbraue spielte. Er drehte weiter an der Sendereinstellung, gab dann aber auf und schüttelte langsam den Kopf. „Ich hatte mit Sonderberichten und so einem Mist gerechnet, aber kein Wort davon, nirgends.“ „Die berichten nur über das, was man ihnen sagt“, gab Maxine zu bedenken. „Auch wenn meine Mutter so naiv ist, an das System zu glauben, in diesem Land ist doch ‚Pressefreiheit‘ ein Widerspruch in sich.“ „Ich mag deine Mom“, wagte Jason anzumerken. Maxine blinzelte ihn an, als spräche er eine andere Sprache. „Ich mag sie auch. Was zum Henker hat das mit der Sache zu tun?“ „Ich finde nur, du solltest sie nicht naiv nennen.

Das hat sie nicht verdient.“ Maxine schloss die Augen, schüttelte den Kopf und blickte Stormy Hilfe suchend an. „Er hat recht“, sagte Stormy. „Deine Mom ist cool. Du hast so ein Glück.“ „Natürlich ist sie cool! Ich hätte mir doch wohl ein Zimmer im Wohnheim oder eine eigene Wohnung gesucht oder wäre gleich in einer anderen Stadt aufs College gegangen, wenn sie nicht cool wäre, statt zu Hause zu bleiben und auf eine Gemeindeschule zu gehen. Aber das hat doch nichts mit meiner Mutter zu tun und wie cool sie ist oder eben nicht! Ich rede hier über die Regierung! Vertuschungen. Geheime Operationen.“ Stormy zuckte mit den Schultern und senkte ihren Blick. Themen wie dieses waren ihr immer unangenehm. Aber Maxine hatte keine Hemmungen, darüber zu reden. Ihr war es eher unangenehm, fast ihr ganzes Leben lang sozusagen im Schatten dieses riesigen, umzäunten, gut bewachten Komplexes gelebt zu haben, ohne je zu wissen, was darin vor sich ging. Sie wusste nur eine Sache ganz genau. Es war

nicht Krebsforschung. Sie hätte ihre Eckzähne dafür gegeben, einen Blick hinter die hohen elektrischen Zäune werfen zu dürfen. Nur einen Blick. Jetzt würde vielleicht niemand jemals die Wahrheit erfahren. Jason fuhr weiter und lenkte den Jeep auf die rechte Fahrspur, ehe sie die Stelle erreichten, an der die Unfallwagen auf beiden Seiten der Straße aufgereiht standen. Auf dem Asphalt lagen Leuchtfackeln. Orange-weiße Sägeböcke mit roten Reflektoren bildeten dahinter eine Grenze, die Unbefugte fernhalten sollte. Sie stiegen aus dem Jeep. In der Ferne loderten Flammen am Nachthimmel, und Maxine konnte bereits mit jedem Atemzug den Rauch in ihrem Mund schmecken. „Hier lang.“ Die junge Frau ging auf dem rechten Randstreifen an den geparkten Fahrzeugen vorbei, und ihre Freunde folgten ihr. Der brennende Gebäudekomplex lag auf der linken Seite, am Ende einer langen kurvenreichen Auffahrt. Sie führte die anderen vorwärts, bis sie, ohne behelligt zu werden, dem Eingang direkt gegenüber standen. Auf der anderen Seite, schon ein Stück die

Auffahrt hinauf, standen die Feuerwehrleute mit dem Rücken zu ihnen. Sie waren sowieso ganz auf ihre Arbeit konzentriert. Maxine hockte sich neben einen Krankenwagen und zog die anderen mit sich hinunter. Die Feuerwehrwagen waren anscheinend direkt durch das Tor am Ende der Auffahrt gefahren. Das Wachhäuschen in der Nähe war leer, das Tor selbst lag flach auf dem Boden. Der Zaun links und rechts davon war abgeknickt und zerbrochen. Die Überwachungskameras, die auf Pfählen gestanden hatten, waren in Stücke zerschmettert. Freiwillige Feuerwehrleute in gelben Jacken mit leuchtend silbernen Reflektorstreifen bedienten riesige Löschschläuche, die an die Tankwagen auf der Auffahrt angeschlossen waren. Jedes Mal, wenn sie die Flammen ein Stück zurückgetrieben hatten, rollten die Wagen ein Stück weiter, damit die Männer näher an die Feuersbrunst herankamen. „Ich weiß nicht, wie die das aushalten. Lieber Gott, ich kann die Hitze bis hierher spüren“, sagte Stormy und legte ihre Handfläche an eine Wange. „Es wundert mich, dass die Schläuche nicht

schmelzen“, flüsterte Jason. „Wenn die noch näher herangehen …“ „Wenn die noch näher herangehen, können wir mit rein.“ Die anderen beiden starrten Maxine an, als wären ihr Hörner gewachsen. „Was?“, entfuhr es beiden gleichzeitig. „Du musst den Verstand verloren haben, Max“, meinte Jason entsetzt, während Stormy einfach nur den Kopf schüttelte. „Wir können da nicht rein.“ „Niemand beobachtet den Eingang. Die sind alle damit beschäftigt, das Feuer zu bekämpfen. Wir können rein, ohne uns auch nur anzustrengen.“ „Okay, ich werde das noch mal neu formulieren. Wir können schon rein. Wir sollten nur nicht.“ Jetzt war es an Maxine, entgeistert zu starren. „Was seid ihr, verrückt? Seit ich alt genug bin, diese lahme Krebsforschungsgeschichte zu durchschauen, will ich unbedingt hinter das Tor da.“ „Also seit du ungefähr sechs warst“, murmelte Stormy. Maxine warf ihr einen vielsagenden Blick zu,

beeilte sich dann aber, weiterzureden. „Versteht ihr denn nicht? Das ist unsere Chance. Keine Wachen, nichts. Wir können endlich die Wahrheit herausfinden.“ „Und was genau, glaubst du, kann man da drinnen noch sehen, Max?“ Jason deutete auf das Gebäude. „Alles ist total von Flammen eingeschlossen.“ „Das weiß ich erst, wenn ich es versucht habe.“ Er seufzte, neigte seinen rasierten Kopf und fuhr mit der Hand darüber. Lange Zeit sprach keiner mehr ein Wort, während sie hockten und warteten und beobachteten. Zwanzig Minuten vergingen, ehe die Feuerwehr wieder ein Stück näher rückte. Maxine sprang auf, sah sich nach beiden Seiten um und rannte über die Straße. Ihre Freunde zögerten, dann folgten sie. Sie überquerten den Bürgersteig und rannten durch die Öffnung, direkt über dem Draht des umgefahrenen Tors, am verlassenen Wachhaus vorbei und zwischen die Bäume, die die Auffahrt säumten. Das waren eine Menge. Um den Ort noch besser vor zufällig vorbeikommenden Passanten zu schützen, dachte Maxine. Pinien. Natürlich waren es Pinien. Die verdeckten das

ganze Jahr über, was im Inneren vor sich ging. Sie duckten sich alle hinter einen der Bäume, während Maxine geradeaus starrte. Allmählich bekamen die Feuerwehrleute das Feuer unter Kontrolle. Sie waren wirklich gut, dachte sie, und fragte sich, ob Jays älterer Bruder, Mike, dabei war. Sie gaben niemals auf, obwohl mittlerweile klar war, dass vom Gebäude nicht viel übrig bleiben würde. Noch mehr Sirenengeheul war zu vernehmen, und Maxine blickte die Straße hinab. Sie sah, wie Cops aus ihren Wagen stiegen und die Schaulustigen zurückdrängten, die sich mittlerweile auf der Straße vor dem Tor gesammelt hatten. „Wir haben es gerade rechtzeitig geschafft“, flüsterte sie. „Wenn die uns hier finden, machen sie uns Feuer unterm Hintern“, meinte Jason. „Wenn wir noch näher an die Flammen herangehen, machen wir das selbst“, fügte Stormy hinzu. Die Feuerwehrleute vor ihnen kämpften weiter. Sie durchweichten das Gebäude, schlugen die

Flammen zurück und wagten sich immer näher heran. Ihre Wagen fuhren noch ein kleines Stück vorwärts, und Maxine drängte ihre unwilligen Kameraden, dasselbe zu tun. „Seht ihr den Flaggenmast da drüben?“, fragte sie und zeigte in die Richtung. Jason und Stormy sahen erst den Mast an, dann wieder zu ihrer Freundin. „Wenn sie es erst mal bis dahin geschafft haben, können wir uns an der Seite des Gebäudes vorbeischleichen und zur Rückseite vorarbeiten.“ „Und dann kann eine brennende Mauer auf uns einstürzen und uns gleichzeitig zerquetschen und rösten.“ Stormys Blick war starr auf das brennende Gebäude gerichtet, und der Schein der Flammen spiegelte sich in ihren Augen. Maxine schluckte alle Bedenken, die sie dabei hatte, ihre zwei besten Freunde mit in die Sache hineinzuziehen, hinunter und löschte sie aus, wie die Feuerwehrleute die Flammen löschten. Es war für das Wohl der Allgemeinheit, sagte sie sich. Und außerdem würde ihnen nichts passieren. Sie selbst würde dafür sorgen, dass ihnen nichts passierte. Maxine Stuart kümmerte sich um ihre

Freunde. Eine Bewegung lenkte sie ab. „Da gehen sie!“ Als der Feuerwehrwagen ein Stück vorwärtsrollte, preschte Maxine vor, schlug einen Haken nach links und entfernte sich so schnell sie konnte vom Feuerschein, der sich wie eine Aura um den Brandherd legte. Dort drüben standen keine Bäume mehr, und so blieb sie hinter dem allerletzten in der Reihe stehen. Sie versuchte, sich nicht furchtbar erleichtert zu fühlen, als sie merkte, dass Jason und Stormy immer noch bei ihr waren. Aber sie fühlte es trotzdem. Die beiden waren wirklich unglaublich loyal. Die Entfernung von der vorderen bis zur hinteren Seite des Geröllhaufens, der das Hauptgebäude gewesen war, betrug mindestens ein halbes Footballfeld, und nirgendwo gab es auch nur einen Busch, hinter dem man sich verstecken konnte. Aber es war dunkel. Es wurde mit jeder dicken Rauchwolke, die vom Feuer herübertrieb, dunkler. „Wir können das schaffen“, ermunterte Maxine sich selbst und ihre Freunde. „Die bringen uns dafür in den Knast, Max“,

erwiderte Jason. „Bereit?“ Keiner von ihnen antwortete. Maxine fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und vertraute ihnen einfach. „Los!“ Und sie rannte voran. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr folgten, bis sie das, was vor Kurzem noch das gegenüberliegende Ende des Gebäudes gewesen war, erreicht hatten und die beiden in der Dunkelheit gegen sie rannten. Hände legten sich auf Schultern, als sie sich aneinander festhielten, um nicht die Balance zu verlieren. Dann standen sie einen Augenblick da, kamen wieder zu Atem und blinzelten in die Dunkelheit. Zwischen ihnen und den qualmenden Resten der Rückseite des Gebäudes lagen fünfzig Fuß. Es sah kaum noch wie ein Gebäude aus. Es war nicht hoch und auch nicht eckig. Es war ein Geröllhaufen. Hier und da loderten noch Flammen empor, auch wenn der größte Teil des echten Feuers sich hungrig auf die Front zubewegt hatte, nachdem hier nicht mehr viel zu holen war. Unter den verkohlten Resten der skelettartigen Untermauerung bildeten sich Haufen

aus glühenden roten Gebilden. Alles war voller Asche und Rauch. Waren da drinnen Leute? fragte sie sich. Leichen? „Das ist nahe genug“, flüsterte Stormy. Max sah sich um. „Siehst du den Busch da drüben? Der liegt außerhalb des Rauches.“ Sie deutete darauf. „Ihr zwei wartet hier. Ich verspreche, ich brauche nicht lange.“ „Nicht, Max“, warnte Jason. Er klang ziemlich sauer. „Lass es einfach.“ „Fünf Minuten“, beschwor sie ihn. „Nur fünf verdammte Minuten. Eine einmalige Chance, Jay.“ Sie wartete nicht auf sein Gegenargument. Stattdessen rannte sie los. Dieses Mal folgte ihr niemand. Es war heiß. Verdammt heiß, und der Rauch brannte ihr in den Augen und in der Nase. Sie versuchte die ganze Zeit, sich nicht durch zu lautes Husten zu verraten. Sie rannte, bis sie die Rückseite des Gebäudes erreicht hatte, und bewegte sich dann immer näher und näher darauf zu, so nahe, wie sie es aushalten konnte. Wahrscheinlich wurden ihre Haare etwas

angesengt, und sie musste aufpassen, wohin sie trat, damit sich die Glut nicht direkt durch die Sohlen ihrer Schuhe schmolz. Sie sah sich um und versuchte, durch den Vorhang aus Rauch und die wabernden Hitzewellen etwas zu erkennen. Auf einem Bereich des Bodens lagen mehrere Dinge. Große, zerbrochene Boxen – Computer. In Stücke geschlagen. Einige angebrannt und verkohlt, andere einfach nur zerschlagen. Hatte sie jemand aus dem Fenster geworfen, vielleicht um sie zu retten? Oder vielleicht um sie zu zerstören? Sie gab einem davon einen Tritt. Was hätte sie nicht alles für ein Laufwerk aus einer dieser Maschinen getan. Gott allein wusste, was darauf zu finden war. Sie bückte sich und streckte eine Hand nach dem Haufen vor ihr aus, aber die Teile waren so heiß, dass sie ihre Fingerspitzen verbrannten. Maxine zuckte zurück und atmete scharf ein. „Mist.“ Sie legte die verbrannten Finger an ihre Lippen, pustete darauf, und schüttelte sie dann beim Weitergehen durch die Luft. Ihr Fuß stieß gegen etwas, das davonrollte, und sie sah nach

unten, runzelte die Stirn und sah es sich näher an. Als sie merkte, dass sie sich über die verkohlten Überreste eines Unterarms und einer Hand beugte, schreckte sie so schnell zurück, dass sie fast nach hintenüberkippte. „Jesus!“ Ihr Atem ging jetzt schneller. Ihre Lungen sogen mit jedem Atemzug mehr Rauch ein, aber daran konnte man nichts ändern. Sie machte mit ihrer Suche weiter, entdeckte weitere Hinweise auf menschliche Überreste in den Ruinen. Mehr und immer mehr. Leichen. Leichenteile. Als wäre sie in den Abfalleimer der Hölle geraten. Meine Güte, warum hatte es niemand geschafft, lebendig zu entkommen? Was zum Teufel war hier geschehen? Es war dumm. Es war dumm gewesen, hierherzukommen. Gerade als sie umdrehen wollte, nahm Maxine eine Bewegung wahr. Eine Bewegung, durch den Rauch kaum zu erkennen. Sie wurde ganz ruhig, kniff die Augen zusammen und starrte in diese Richtung. Langsam nahm eine Gestalt Form an. Ein Mann, seine Kleidung verbrannt, seine Haut so verrußt, dass sie nicht sagen konnte, ob er schwarz oder

weiß war. Er ging vornübergebeugt und ungelenk, und immer wieder bückte er sich und richtete sich wieder auf. Es sah aus, als würde er Dinge aufheben. Er schleppte sich aus den Trümmern und hob auf dem Weg immer wieder Dinge auf. Sie wollte ihm gerade Hilfe anbieten, als sie hörte, wie in der Ferne ihr Name gerufen wurde. Auch der Mann hörte Stormys Rufe. Er versteifte sich und zuckte mit dem Kopf in ihre Richtung. Irgendwo in seiner Nähe loderte eine Flammenzunge empor und beleuchtete sein Gesicht für nur einen Augenblick. Sein Haar war an einer Seite seines Kopfes komplett verbrannt, und die Kopfhaut und eine Hälfte seines Gesichts waren verkohlt. Vollkommen schwarz, nur hier und da war ein Stück Rosa zu sehen. Sie versuchte, sich seine Züge einzuprägen, das runde Gesicht, die Form seines Kinns. Er steckte, was auch immer er gehalten hatte, in seine Taschen und rannte in einem taumelnden Schritt vor der Stimme fort und direkt auf Maxine zu. Sie duckte sich tief, hielt den Atem an, und zwang sich zur Ruhe. Sie wusste nicht mit Sicherheit, ob

der Mann gefährlich war, aber wenn er etwas Gutes vorhatte, würde er nicht wegrennen. Vielleicht war er nur ein Schnüffler, wie sie selbst. Aber eher nicht. Er war in dem brennenden Gebäude gewesen. Das war offensichtlich. Er humpelte an ihr vorbei und sah nicht einmal zu ihr hinab, während sie dort kauerte und versuchte, nicht vor Angst zu zittern. Er kam ihr so nah, dass sie sein verbranntes Fleisch riechen konnte, und ihr Magen zog sich reflexartig zusammen. Zwei Gegenstände fielen ihm aus der Jacke, direkt vor ihre Füße auf den heißen Boden voller Trümmerteile. Er bemerkte es nicht einmal, er ging einfach weiter, zog ein Bein hinter sich her, stützte sich auf das andere, bis er im Rauch verschwunden war. Maxine schluckte verkrampft und griff nach den Dingen, die der Mann fallen gelassen hatte. Eines war eine CD-ROM. Das andere eine Art Ausweis. Sie hätte schwören können, dass jeder Nervenstrang in ihrem Körper vibrierte, als sie die beiden immer noch warmen Beweisstücke vorsichtig in ihre Tasche steckte, sich umdrehte

und dahin zurückrannte, woher sie gekommen war. Sie weigerte sich, sich umzusehen, auch wenn sie hätte schwören können, dass der Blick des entstellten Mannes sich in ihren Rücken bohrte. Sie rannte einfach so schnell sie konnte zurück zu ihren Freunden und ließ sich in der Nähe des Busches, hinter dem sie erwartet wurde, auf die Knie fallen. „Gott, lieber Gott, du bist wieder da!“ Erleichtert beugte sich Stormy über Maxine und streichelte ihren Rücken. „Alles in Ordnung? Was ist da hinten passiert?“ „Hast du irgendwas gefunden? Was hast du gesehen?“, fragte Jason. Maxine hob ihren Kopf und sah die beiden an. „Da hinten … da sind … Leichen.“ „Oh, Gott“, flüsterte Stormy und schloss ihre Augen. Maxine packte Jason am Arm, und er half ihr beim Aufstehen. „Lass uns hier einfach verdammt schnell verschwinden, okay?“, schlug er vor. Sie nickte. Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg, mit Maxine in der Mitte, von ihren beiden Freunden fast schützend flankiert. Sie

gelangten fast ganz bis ans Tor, als das Geräusch von brummenden Motoren die Nacht erfüllte, und Fahrzeuge die Straße hinaufrasten und in die Auffahrt einbogen. Sie duckten sich hinter die nahen Pinien und beobachteten, wie Lastwagen und Trucks in Tarnfarben, auf denen Scheinwerfer aufgebaut waren, an ihnen vorbeibrausten. Wenigstens eines der Fahrzeuge hatte auch ein Maschinengewehr auf einem Stativ auf der Ladefläche. Bewaffnete Soldaten strömten aus den Lastwagen und verteilten sich auf dem Gelände. Zehn Fuß vor Maxine stand mit dem Rücken zu ihnen ein Cop, der sich den Aufruhr mit schräg gelegtem Kopf ansah. Ihr Cop, stellte Maxine erleichtert fest. Jason bemerkte ihn zur gleichen Zeit. „Cop“, flüsterte er und packte Maxine am Arm. „Schon okay. Das ist Lou Malone.“ Jason runzelte die Stirn. „Er unterrichtet meinen Selbstverteidigungskurs für Frauen.“ „Du kennst ihn, Jay“, mischte Stormy sich ein. „Er hat immer bei unseren Schulfesten mitgeholfen.

Der, in den Max immer so verknallt war.“ „Oh, klar. Der.“ Er sah Maxine an, als wolle er fragen, ob sie es immer noch war, aber sie verdrehte nur die Augen und wendete sich ab. Jemand sprach durch eine Flüstertüte und erschreckte sie damit so sehr, dass sie ihren Blick von Lous Hinterkopf losriss. „Dies ist ein Regierungsgebäude und somit Sache des Militärs. Alle ansässigen Feuerwehreinheiten haben sofort ihre Aktivitäten einzustellen. Niemand verlässt diesen Ort ohne Freigabe. Stellen Sie sich ordentlich in der Nähe des Eingangs auf, und man wird Sie vom Gelände führen. Das ist alles.“ „Was zum Henker ist hier los, Max?“, flüsterte Stormy und krallte sich in Maxines Arm. „Die haben Waffen.“ „Die werden sie schon nicht benutzen.“ Jason versuchte, selbstsicher zu klingen, was ihm aber komplett misslang. „Ich meine, das sind Soldaten. Die müssen Waffen tragen, oder nicht?“ Sie beobachteten durch ihren Sichtschutz mit Pinienduft hindurch die Lage. Sahen, wie die Soldaten die Feuerwehrleute von ihren Schläuchen

zerrten. Einige der Feuerwehrleute gehorchten und bildeten eine krumme Linie am Tor. Diejenigen, die nicht schnell genug waren, wurden durchsucht, wo sie gerade standen, und dann bis ans Tor und nach draußen begleitet. Weitere Soldaten durchsuchten die Feuerwehrwagen und auch die Fahrzeuge an der Straße. „Ich fasse es ja wohl nicht“, sagte Officer Malone zu sich selbst. „Was zum Teufel soll das alles?“ Maxine fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und trat aus ihrem Versteck. Sie ging zu Lou hinüber und räusperte sich. Er fuhr herum und starrte sie dann erstaunt an. Sie liebte ihn. Das tat sie seit der zehnten Klasse. Und es war egal, dass sein Gesicht hart war und schon voller Falten, oder dass er achtzehn Jahre älter war als sie oder dass er sie für kaum mehr als ein nerviges kleines Kind mit zu viel Fantasie hielt. „Wenn das nicht Maxine Stuart ist, mein Lieblingsrotschopf“, begrüßte er sie und schüttelte langsam den Kopf. „Warum verdammt noch mal wundert es mich nicht, dich hier zu sehen?“ „Hey, Lou. Ich wollte mir nur das Feuer

angucken.“ „Klar.“ Er sah zu ihren Freunden. „Solltet ihr nicht langsam gelernt haben, euch nicht von Maxine in solche Sachen hineinziehen zu lassen?“ Sie zuckten die Schultern und blieben stumm. „Lou, mir gefällt das nicht“, sagte Maxine. „Die ganzen Soldaten. Die durchsuchen hier jeden.“ „Ja, das sehe ich auch.“ „Bloß eine Ausrede, um die Frauen zu begrapschen“, gab Stormy zu bedenken. „Wenn die glauben, sie können mit ihren Händen meinen ganzen Körper antatschen, haben die sich aber geschnitten.“ Maxine beobachtete Lou, der nach Stormy Ausschau hielt, und wusste, ihre Freundin hatte die richtige Taktik gewählt. „Ich hab auch keine Lust, mir von denen an den Hintern gehen zu lassen, Stormy.“ Im selben Moment schleuderte ein Soldat einen Feuerwehrmann, der sich anscheinend verweigert hatte, gegen das Wachhaus. Lou sah es und zuckte zusammen. „Ich habe Angst, Lou. Ich will einfach nur hier weg.“ Maxine sah ihn flehend an.

Lou Malone schürzte nachdenklich die Lippen, und dann, endlich, nickte er. „Es ist ja nicht so, als wäret ihr Kinder eine Bedrohung für die nationale Sicherheit. Diese Typen sind etwas übereifrig, glaube ich. Da hinten, seht ihr, ist eine Lücke im Zaun, hinter den Pinien. Seht ihr den höchsten Baum? Genau dahinter. Macht schon, dass ihr hier rauskommt. Ich habe euch nie gesehen.“ „Danke, Lou.“ Besorgt betrachtete er Maxine, und ohne nachzudenken stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ihr geht sofort nach Hause, Mad Max. Ihr mischt euch nicht mehr bei den Erwachsenen ein, verstanden?“ „Versprochen.“ Dann rannten die drei in die Richtung, die er ihnen gezeigt hatte. Maxine wartete, bis Jason und Stormy nach Hause gegangen waren. Sie hatte ihnen nichts von dem Mann erzählt, der Beweismittel aus dem Geröll gesammelt hatte, und nichts von ihren ergatterten Trophäen. Sie wollte ihnen nichts erzählen, was sie in Gefahr bringen konnte oder sie zu

Mitwissern bei etwas machte, was sich hinterher als Verbrechen herausstellte. Später in derselben Nacht, sehr spät, wischte sie behutsam den Ruß von dem halb geschmolzenen Plastik des Ausweises ab. Sie fand die Fotografie eines Mannes und die Worte „Frank W. Stiles. Sicherheitslevel: Alpha. DPI.“ Sie wusste, was „Sicherheitslevel: Alpha“ bedeutete. Das hatte sie schon gelernt, als sie versuchte, die Wahrheit über Ufos und die Vertuschungsaktionen der Regierung herauszufinden. Alpha war das Wort, das sie benutzten, um die oberste Sicherheitsstufe bei einigen Agenturen unter der Schirmherrschaft der CIA freizugeben. Aber in all den Jahren ihrer Nachforschungen war sie kein einziges Mal auf einen Hinweis auf eine Agentur oder Operation namens DPI gestoßen. Jesus, was zum Teufel hatte sie da gefunden? Sie bebte fast vor Aufregung, als sie den Ruß von der CD-ROM wusch und sie in ihren Computer einlegte. Sie betete, dass die Hitze sie nicht

beschädigt hatte. Hatte sie nicht. Sie klickte auf den Dateinamen, und ihr Laufwerk begann sich in Bewegung zu setzen. Der Bildschirm wurde schwarz. Vor ihr tauchten rote Buchstaben auf. STRENG GEHEIME DOKUMENTE der DIVISION OF PARANORMAL INVESTIGATIONS AKTEN D145.9-H376.51 Weiter? Das letzte Wort blinkte sie fragend an, fast, als wolle es sie herausfordern. Sie richtete sich auf und klickte auf das Wort. Vor ihr erschien ein Inhaltsverzeichnis. Namen. Einfach nur Namen. Damien, alias Namtar, Damien, alias Gilgamesh Daniels, Matthew Daniella Dante Devon, Josephina Die Liste begann bei D, hörte bei H auf und war offensichtlich alphabetisch geordnet. Einige waren

Vor-und Nachnamen, manchmal gab es auch nur einen Namen. Es waren fast hundert Einträge, soweit sie es ohne nachzuzählen sagen konnte. Sie klickte zurück an den Anfang der Liste und begann, hinunterzuscrollen. Dann stieß sie auf einen Namen, der sie sofort innehalten ließ. Dracul, Vlad (Decknamen siehe Biografie innen.) „Was zum Teufel?“ Neugierig geworden, klickte sie auf den Namen, und eine Grafik erschien auf dem Schirm. Eine Zeichnung, kein Foto, eines vollkommen modern aussehenden Mannes mit langem schwarzem Haar und ungewöhnlich vollen Lippen. Der bekannteste seiner Art, geboren in den Karpaten und, nach gegenwärtigem Wissensstand, verwandelt Anfang zwanzig. Gezeugt von einem unbekannten feindlichen Soldaten, wahrscheinlich türkischer Herkunft. Letzte Sichtung Mai 1992, Paris. „Letzte Sichtung?“ Sie blinzelte auf ihren Bildschirm und versuchte zu verstehen, was sie dort las. „Zweiundneunzig?“

Unter dem Bild mit den stechenden Augen und der blassen Haut gab es weitere Auswahlmöglichkeiten: bekannte Todesopfer, bekannte Anhänger, bekannte Aufenthaltsorte, Biografie. „Was in Gottes Namen ist das für ein Zeug?“ Sie klickte zurück, wählte einen anderen Namen aus der Liste aus, und fand wieder das Bild der Person, dieses Mal ein echtes Foto mit dem Vermerk „Aufnahme vor Verwandlung“, und eine Kurzbiografie. Josephina Devon. Geboren in Brooklyn, NY, 1962. Verwandelt im Sommer ihres 30. Lebensjahres, Juni 1992. Erzeuger: R-532 alias Rhiannon. Der Vampir „Vampir?“ wurde im Dezember desselben Jahres von Forschern der DPI gefangen genommen. Festgehalten im Hauptquartier der DPI in White Plains, NY, USA. In Gefangenschaft verstorben 1995. Wieder die gleichen Auswahlmöglichkeiten für weitere Informationen, dieses Mal mit einem

auffälligen Zusatz: „Durchgeführte Tests & Resultate“. Das war nicht echt. Das konnte nicht echt ein. Als sie auf „Biografie“ klickte, fand sie ein über hundert Seiten langes Dokument mit Details, deren Unglaublichkeit sie schwindelig werden ließ. Als sie die Akte öffnete, die zu den durchgeführten Tests führte, glaubte sie, ihr müsse schlecht werden. Diese Person, diese Frau, war ein Versuchskaninchen gewesen. Für Experimente gefangen gehalten, in genau diesem Gebäude. In ihrer eigenen Stadt. Aber nein. Das war nicht wirklich geschehen, weil das ja alles nicht real war. Es gab keine Vampire. Und noch viel weniger eine verdeckte Regierungsagentur, die an ihnen Experimente durchführte. Und dennoch: Der Beweis lag vor ihr. Es gab sie. Was zum Teufel sollte sie jetzt bloß machen? Am nächsten Tag hatte sie sich immer noch nicht entschieden, als es an der Tür klingelte, sie öffnete

und niemanden vorfand. Es lag nur ein großer brauner Briefumschlag auf der Treppe. Ihre Mutter war bereits zur Arbeit gegangen. Meistens verließ sie das Haus, ehe Maxine überhaupt aufgestanden war. Die merkwürdige Lieferung machte die junge Frau neugierig, besonders nach letzter Nacht. Sie sah sich nach beiden Seiten auf der Straße um. Nirgendwo ein Fremder, der sich in die Schatten drückte. Keine verdächtigen Fahrzeuge mit gefärbten Scheiben. Die Nachbarschaft erwachte gerade erst. Menschen öffneten ihre Türen und holten die Morgenzeitung herein. Maxine nahm den Briefumschlag, betrachtete ihn, drehte ihn um. Nichts. Kein Wort, kein Aufkleber, nicht einmal eine Briefmarke. Stirnrunzelnd ging sie wieder ins Haus. Die Tür zog sie hinter sich zu und schloss ab. Den Umschlag in der Hand, ging sie zum Küchentisch, riss ihn im Gehen auf und schüttete den Inhalt neben ihre Schale mit Cornflakes. Fotos. Was zum Teufel? Polaroids. Drei Stück. Das war Jason, tief schlummernd in seinem Bett! Sie steckte das Bild hinter die anderen. Das nächste zeigte Stormy, vom

Hals aufwärts, in ihrer eigenen Dusche. Maxine fluchte und sah sich das dritte an. Es war eine Aufnahme ihrer Mutter, die gerade in der Garage aus dem Auto stieg, die zu dem Krankenhaus gehörte, in dem sie als Krankenschwester arbeitete. Das Telefon klingelte, und sie fuhr fast aus der Haut vor Schreck. Maxine ließ die Fotos auf den Tisch fallen und ging ans Telefon. „Gefallen dir die Fotos, Maxine?“ Die Stimme war ein Flüstern, und eine seltsame Kälte lief ihr den Rücken hinunter. „Wer zum Teufel ist da?“ Maxine langte nach dem Anrufbeantworter auf dem Tisch und presste den Aufzeichnen-Knopf mit ihrem Zeigefinger. „Die Aufnahmen stammen alle aus den letzten zwölf Stunden.“ „Warum?“ Ihre Hand schloss sich so fest um den Telefonhörer, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Lieber wäre ihr der Hals dieses Hundesohns gewesen. Wie konnte er es wagen? Gott, er war in Jasons Schlafzimmer gewesen. In Stormys Badezimmer. Und in der Tiefgarage, allein mit

ihrer Mutter. „Um dir zu zeigen, wie leicht es mir fällt, alles über dich herauszufinden, und wie schnell und einfach ich an die Leute herankomme, die dir etwas bedeuten. Um auf sie zu schießen. Dieses Mal mit der Kamera, aber …“ „Wenn Sie meiner Familie oder meinen Freunden irgendetwas antun, sind Sie tot. Ist das klar?“ „Das ist eine ziemlich gewagte Drohung von einem Mädchen, das gerade die Highschool hinter sich gelassen hat.“ Er lachte, ein tiefes leises Geräusch, das bald zu einem rasselnden Husten wurde. Maxine hielt sich den Hörer vom Ohr. Sie starrte mit großen Augen darauf, als es ihr endlich klar wurde. Das war er. Der verkohlte Typ, den sie beim Brand gesehen hatte. Er musste sie also doch bemerkt haben. Er hörte auf zu husten, und sie legte den Hörer zurück an ihr Ohr. „Warum rufen Sie mich an? Was wollen Sie eigentlich von mir?“ „Ich will, dass du alles vergisst, was du gestern Nacht gesehen hast. Tu so, als wärest du nie dort gewesen. Erzähl niemandem davon.“

„In Ordnung. Ist mir ein Vergnügen. Wenn Sie mir erklären, was gestern Nacht dort geschehen ist.“ „Ich will nicht mit dir verhandeln, Maxine. Du tust, was ich dir sage. Vergiss, dass du mich je gesehen hast.“ „Aber …“ „Jetzt hör mir mal zu, du neugierige kleine Schlampe!“ Die Wut in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. „Wenn du auch nur erwähnst, dass du mich bei dem Brand gesehen hast, dann findest du als Nächstes eine Leiche vor deiner Tür. Oder einen Teil davon. Ich werde die Fotos einfach mischen und es dem Zufall überlassen, wen ich ziehe. Hast du das jetzt kapiert?“ „Ja!“ Maxine hielt inne und atmete durch. Die Empörung war einer schrecklichen Angst gewichen. Er würde ihrer Mutter wehtun, ihren Freunden. „Ja, ich … hör zu, ich weiß überhaupt nichts. Ich bin keine Bedrohung. Und ich bin die Einzige, die Sie gesehen hat. Ich habe den anderen nichts erzählt. Ich habe niemandem etwas erzählt. Sie wissen überhaupt nichts.“ Sie zitterte. Sie musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen,

weil ihre Beine sich so anfühlten, als würden sie nicht mehr lange mitmachen. „Das ist gut. Sorg dafür, dass es so bleibt. Ich beobachte dich, Maxine. Und glaube mir, ich weiß, wie man das macht. Ich werde alles hören, was du sagst, und alles sehen, was du tust. Stell mich nicht auf die Probe.“ „Werde ich nicht.“ Er legte auf. Maxine wäre am liebsten in sich zusammengesunken. Sie fühlte sich ausgeliefert und verletzbar. Dann trennte sie die Verbindung. Mit zitternden Fingern drückte sie erst die Sterntaste, dann sechs und neun. Vielleicht war das schon zu gewagt. Vielleicht machte er keine Witze und würde wissen, wenn sie es versuchte. „Die letzte Nummer, die diese Verbindung angerufen hat, war“, sagte die Computerstimme. Dann folgte eine Pause, in der die Schaltkreise arbeiteten. „Es tut uns leid. Diese Nummer ist nicht verfügbar.“ Die Information endete mit einem Klicken. Maxine schluckte und legte auf.

Was um alles in der Welt sollte sie jetzt bloß machen? Beobachtete er sie wirklich? Konnte er sie sogar in diesem Augenblick sehen? Gab es in ihrem eigenen Haus Wanzen oder versteckte Kameras? Sie dachte fieberhaft nach und fragte sich, was Oliver Stone an ihrer Stelle wohl tun würde. Maxine zwang sich, ihren Verstand zu benutzen. Nachzudenken. Okay. Der Typ war letzte Nacht bei einem Brand gewesen. Verwundet, verbrannt. Litt anscheinend auch an Rauchvergiftung, seinem Husten nach zu urteilen. Er musste sie beim Verlassen des Geländes gesehen haben, vielleicht war er ihr sogar nach Hause gefolgt und dann Jason und Stormy nachgefahren. Er hatte herausgefunden, wo sie wohnten, hatte sich eine Kamera besorgt, sich zurückgeschlichen und die Aufnahmen gemacht. Dann war er zu Maxine zurückgekehrt und hatte ihr Haus beobachtet. Als der Morgen graute, war er ihrer Mutter bis zur Arbeit gefolgt, um dort ein Foto von ihr zu machen. Anschließend hatte er den Briefumschlag abgeliefert und sie angerufen. Nicht

von einem Münztelefon, das hätte sich zurückverfolgen lassen. Vielleicht von einem Handy. Sie beugte sich über den Anrufbeantworter, spulte zurück und drückte auf Play. Im Hintergrund der Aufnahme hörte sie Verkehrsgeräusche und das verräterische Knistern. Sie hielt die Maschine an und nahm die Mikrokassette heraus. Er war mit dem Auto unterwegs. Genauso hörte es sich an. Er würde sie zwar beobachten, das schon. Wenn er zur CIA gehörte, dann wusste er, wie man Wanzen und Kameras anbrachte. Aber hatte er dazu schon Zeit gehabt? Wahrscheinlich glaubte er, er konnte sie genug einschüchtern, um sie im Zaum zu halten, bis er alles geregelt hatte. Na gut. Sie ging in ihr Zimmer, speicherte den gesamten Inhalt der CD-ROM auf ihre Festplatte, nur für alle Fälle, und steckte dann die CD und den Ausweis gemeinsam mit der Kassette in ihre Tasche und verließ das Haus. Es würde nicht ungewöhnlich aussehen, wenn sie sich auf den Weg zum Campus machte. Heute war ein ganz normaler

Vorlesungstag. Dieser mysteriösen Sache würde sie nicht weiter nachgehen, wenn sie dadurch ihre Mutter oder ihre Freunde in Gefahr brachte. Es war klar, dass der Mann seine Drohungen wahr machen und noch weiter gehen würde. Gott allein wusste, zu welchen Grausamkeiten die Regierung in der Lage war und damit auch durchkam. Besonders, wenn stimmte, was sie auf der CD-ROM gefunden hatte. Aber sie würde nicht vergessen. Und sie würde ausreichend Kopien von ihren Beweisen an verschiedenen Orten aufbewahren. Denn eines Tages würde sie älter sein und in einer Position, in der sie bestimmte, wo es langging. Eines Tages, wenn sie sich etabliert hatte, wenn sie einen Doktortitel ihr Eigen nannte und eine Anwaltslizenz und eigenen Einfluss. Dann konnte sie Antworten verlangen. Aber noch nicht jetzt. Noch war sie nur Mad Max Stuart, die zwanzigjährige Studentin mit zu viel Fantasie. Fantasie, ja sicher, dachte sie. Endlich gab es einen Beweis dafür, dass die Regierung in ihrer

Heimatstadt nichts Gutes vorhatte. Wenn dieser Bastard am Telefon glaubte, seine Drohungen schüchterten sie ein, hatte er sich geschnitten. Seine Drohungen waren wie die Bestätigung, die ihr immer verwehrt geblieben war. Sie war nicht verrückt. Sie hatte recht. Sie hatte die ganze Zeit recht gehabt. Und sie konnte sehr geduldig sein.

Keith 4. KAPITEL 5 Jahre später Als Dante erwachte, drang das Geräusch knisternder Flammen in seine Ohren und der Geruch nach Rauch in seine Nase. Die Eindrücke glichen seinem ältesten Albtraum so sehr, dass er einen Augenblick lang glaubte, es war genau das, eine traumhafte Erinnerung, gekommen, um ihn heimzusuchen. Und er rührte sich nicht. Aber dann spürte er die Hitze und das Stechen in seinen Augen. Er spürte die wütenden Flammen und wusste, sie waren echt. Zu schnell setzte er sich auf und musste dann blinzeln, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er bemerkte dumpf, dass noch nicht Nacht war. Er war immer noch geschwächt durch die Trägheit seines Tagesschlafes. Seine Glieder fühlten sich schwer an, als er sich in dem breiten Bett auf die Seite drehte und seine Beine auf den Boden setzte. Sie kribbelten rebellisch, als er sein Gewicht verlagerte, aber es gelang ihm dennoch,

splitternackt über den weichen Teppich auf die Schlafzimmertür zuzuwanken. Er kam nicht weit. Das musste er auch nicht. Hinter der Tür züngelten und fauchten die Flammen. Die glänzende Lackfarbe begann Blasen zu werfen und zu schwitzen. In Dantes Nase brannte der Geruch, in seinem Kopf die Fragen. Das war kein Zufall. Er wendete sich zum Fenster, zog die schweren Vorhänge zur Seite, und duckte sich dann, als das helle Sonnenlicht seine nackte Haut verbrannte. Die Sonne hing tief am Himmel, dieser blendende gelbe Tod, aber sie war noch da, verdammt. Wenn er aus dem Haus ging, würde sie ihn rösten. Und wenn er blieb, widerfuhr ihm das Gleiche. Die Tür stöhnte bedrohlich auf und schwoll nach innen an, ehe ihr schwangerer Bauch platzte und hungrige Flammen gebar. Rauch wehte ins Zimmer wie ein großer schwarzer Geist. Sein Fleisch zischte. Dante knurrte tief in seiner Kehle, riss die Vorhänge von ihrer Stange und wickelte sie um sich wie einen Umhang, ehe er sich durch die Glasscheibe warf.

Der Erdboden gab keinen Zentimeter nach. Er schlug brutal auf, die Luft wich ihm aus den Lungen, seine Zähne stießen schmerzhaft aufeinander, seine Knochen schienen zu bersten. Er rollte sich ab, stand auf und rannte blind davon, während er spürte, wie die Sonne durch den Stoff hindurch seine Haut erhitzte. Zu seiner Linken bewegte sich etwas, und schon stieß er mit etwas zusammen, das sich wie ein Auto anfühlte. Bremsen quietschten, jemand fluchte und drückte dazu brutal auf die Hupe, aber Dante lief einfach weiter. Er musste durch eine Öffnung in dem schweren Vorhangstoff sehen, um zu wissen, wohin zur Hölle er überhaupt lief. Über die Fahrbahn, ja, so weit richtig. Er rannte geradeaus, verließ die Straße über einen mit Unkraut bewachsenen Parkplatz, und mit jedem Schritt bildeten sich mehr Brandblasen auf seinen Füßen. Immer auf die Küste zu. Das Sonnenlicht begann jetzt, durch den Vorhang zu dringen, und er konnte die Blasen auf seiner Haut spüren. Verdammt, verdammt, verdammt. Er eilte voran, den Kopf geneigt, die bloßen Füße pochend vor Schmerz, den Vorhang

wie einen Umhang um sich gezogen. Ein Geräusch. Ein surrendes Geräusch, und dann grub sich etwas in seinen Arm. Es fühlte sich an, als hätte man ihn mit einem rot glühenden Messer erstochen. Er blieb vor Schmerz gelähmt stehen, griff mit seiner einen funktionierenden Hand unter den Vorhang und fühlte einen Zylinder, ähnlich wie ein Pflock, in seinen Oberarm eingebettet. Aus der Eintrittswunde quoll warmes, dickflüssiges Blut. „Getroffen!“, brüllte jemand. Eine Männerstimme. Die eines toten Mannes, dachte Dante boshaft. Er zwang sich dazu, sich wieder zu bewegen. Endlich spürte er das Wasser an seinen Füßen. Er preschte vor, bis es ihm bis zu den Knien stand, dann bis zur Mitte des Oberschenkels. Die kühle, salzige Nässe war ein Labsal für seine Haut. Verdammt, er brutzelte regelrecht. Noch ein paar Meter mehr, und er warf sich mit dem Kopf voran in den Atlantischen Ozean und tauchte unter. Schmerz preschte durch seinen ganzen Körper, aber ihn zu fühlen hatte er keine Zeit. Immer tiefer bewegte er sich in das kühle Nass hinunter, bis er das heiße Sonnenlicht auf seiner Haut nicht mehr spürte.

Dann drehte er sich um. Sein Körper berührte den Sand und die Muscheln und den Dreck am Meeresgrund und wühlte eine wässrige Wolke auf, als er nach oben blickte, an die Oberfläche. Der Himmel über dem Wasser war immer noch blass, aber er wurde immer dunkler. Das Wasser kühlte sich ab und beruhigte seine verbrannte Haut, aber in seinem Arm loderte immer noch der Schmerz, und nach einem Augenblick fiel ihm auf, dass das Wasser eine rosige Färbung bekam. Er sah hinab auf seinen Arm. Hoch auf der Außenseite, zwischen Schulter und Ellenbogen, saß immer noch der Pflock, und um ihn herum quoll stetig Blut hervor und verteilte sich im Wasser. Der Wahnsinnige hatte mit einer Armbrust auf ihn geschossen. Dante hob seinen Arm und betrachtete den Pfeil, der aus der Unterseite ragte. Wunderbar. Mit einer Hand ergriff er dieses Mordinstrument, und er hätte schwören können, dass dieses Ding eine Meile lang war. Als das Holz aus seinem Fleisch glitt, biss er die Zähne zusammen, um den Schmerz besser ertragen zu können. Jesus!

Sterbliche würden nie so viel Schmerz empfinden wie Vampire. Niemals. Er ließ den Pfeil auf den Meeresboden fallen, aber das Blut floss weiter. Und es würde nicht aufhören, bis er ausgeblutet war, wenn es ihm nicht gelangt, die Blutung zu stoppen. Die Wunde konnte nur während seines Tagesschlafes heilen. Falls er noch so lange lebte. Dante fasste hinab auf den Grund des Meeres, nahm eine Handvoll schlammigen Sand in seine hohle Hand und rieb ihn sich mit letzter Kraft in die offene Stelle. Er wurde fast zerrissen von dem höllischen Schmerz. Nachdem er beide Seiten der Wunde mit Sand verschlossen hatte, rupfte er eine Handvoll Algen aus und wickelte sie sich um den Arm. Mit den Zähnen und einer Hand schaffte er es schließlich, die festen Blätter zu verknoten. Der Schmerz hatte ihn geschwächt, seine Lungen sehnten sich nach Luft, und auch wenn er nicht an Sauerstoffmangel sterben konnte, war es fast unmöglich, seinen Körper davon abzubringen, Atem zu holen. Als er wieder aufblickte, war der Himmel dunkel, und er flüsterte ein stummes

Dankgebet an die Schutzengel der Untoten, wer sie auch sein mochten. Dann stieß er sich mit den Füßen vorsichtig vom Meeresboden ab. Langsam, ganz langsam, ließ er sich an die Oberfläche treiben. Als sein Kopf auftauchte, sog er gierig den Atem ein. Es fühlte sich himmlisch an, wie seine Lungen sich füllten und sein Kopf wieder klar wurde. Er schob sich die nassen Haare aus dem Gesicht und sah sich am Ufer um. „Früher oder später muss er auftauchen.“ Dante folgte dem Klang der Stimme zu ihrem Besitzer, einem Mann, der am Ufer stand und mit einer starken Taschenlampe über die Wasseroberfläche leuchtete. Er suchte siebzig Meter zu nahe am Ufer. Dachte wie ein Mensch, wendete menschliche Einschränkungen an auf eine Kreatur, die darüber nur lachen konnte. „Wenn er das tut, bringt er uns beide um“, sagte ein anderer Mann. „Die Sonne ist untergegangen.“ „Aber …“ „Wir haben versagt. Du musst lernen, zu welchem Zeitpunkt man sich sein Versagen eingesteht und einfach verschwindet, Raymond. Sonst überlebst

du nicht lange genug, um es noch einmal zu versuchen. Nach Einbruch der Dunkelheit haben sie die Kontrolle. Verstehst du? Die Nacht ist unser Feind.“ Dante blickte durch die Dunkelheit und entdeckte den zweiten Mann am Ufer. Die linke Seite seines Gesichts, zwischen Wange und Auge, war fleckig und vernarbt und verzog das Auge selbst zu einem grotesken Blinzeln. Darüber lag ein rosiger Fleck nackter Kopfhaut, auf dem keine Haare wuchsen. „Mach das Licht aus“, befahl der entstellte Mann. Der andere, Raymond, gehorchte. „Wie kann er so lange im Wasser bleiben? Hä? Ich wusste nicht, dass die unter Wasser atmen können wie verdammte Fische oder so was.“ „Können sie auch nicht. Aber es dauert sehr lange, bis einer von denen wegen Sauerstoffmangel das Bewusstsein verliert.“ Fast geräuschlos zog Dante seine Arme durch das Wasser, kam immer näher ans Ufer heran und brannte darauf, ihnen die Kehlen herauszureißen und sie leer zu saugen. Er hatte eine bedenkliche Menge Blut verloren, die er auf deren Kosten

wieder auffüllen konnte. Die zwei bettelten ja geradezu um seinen Zorn. Doch ehe er seinen Plan verwirklichen konnte, eilten sie davon. Er hörte, wie Türen zuschlugen, ein Motor startete, und dann sah er die Lichter eines Autos, das vom Strand wegfuhr. Es war nicht länger notwendig, sich besonders langsam oder leise zu bewegen, und Dante schwamm, bis seine Knie auf Sand stießen. Dann richtete er sich auf und watete aus dem kalten Ozean. Als er am Strand stand, noch bis zu den Knöcheln im Wasser, splitternackt und kalt wie Stein, sah er auf die flammende Fackel zurück, die eines seiner liebsten Häuser gewesen war. „Ich werde die zwei umbringen müssen, wer zum Teufel sie auch gewesen sind.“ „Dante?“ Sofort erkannte er diese Stimme und wartete, tropfnass, und sein Arm schrie immer noch vor Schmerzen, bis Sarafina aus den Schatten trat. Sie war wunderschön, wie immer. Ihr langer Rock war aus schwarzer Spitze mit einem Muschelsaum. Sie trug eine weiße Bauernbluse, die ihre milchigen

Schultern freiließ. Bunte Seidenschals an ihrer Hüfte und in ihren schwarzen, lockigen Haaren folgten ihr wie ein Kometenschweif, wenn sie sich bewegte. Nur ihr Make-up hatte sie zu dick aufgetragen. Das hatte sie schon immer getan. Dicker schwarzer Eyeliner und dunkler Lidschatten verliehen ihr ein bedrohliches Aussehen, und die langen, gebogenen, blutroten Fingernägel taten ihr Übriges. Aber sie war eine Zigeunerin. Sie machte sich die Vorurteile zu eigen, die mit diesem Blut einhergingen. Es war ihre Marotte. Sie kam näher, packte ihn an den Schultern, dass er vor Schmerz zusammenzuckte, und küsste sein Gesicht und seinen Mund. Er spürte ihre Wärme und roch ein frisches Opfer in ihrem Atem. „Es geht dir gut?“, bemerkte sie, als sie ihn endlich losließ. „Ich habe ein Loch im Arm, aber es wird schon gehen. Diese Bastarde haben mein Haus angezündet.“ „Hast du sie gesehen?“, fragte sie. „Ja, aber sie sind geflüchtet, sonst wären sie schon tot.“

„Hatte einer von ihnen ein vernarbtes Gesicht?“ Dante warf ihr einen scharfen Blick zu und nickte. „Du bist ihnen schon begegnet?“ „Dem einen wenigstens. Er hat mich eines Nachts in Rom verfolgt. Ich hätte ihm die Kehle herausgerissen, aber als er merkte, dass ich ihn gesehen habe, ist er weggerannt wie ein Kaninchen.“ Dante seufzte. „Der Mann ist die reinste Pest.“ „Dieser Mann möchte gern umgebracht werden.“ Dante verdrehte die Augen und zwang sich trotz seines Schmerzes zu einem Lächeln. „Du glaubst, jeder Sterbliche möchte gern umgebracht werden, Sarafina.“ „Dreißig von uns sind im Schlaf ermordet worden, Dante. Und Weitere sind Bränden wie diesem nur knapp entronnen. Jemand weiß von unseren Geheimnissen.“ Ein kalter Schauer überlief ihn – ob es an ihren Worten lag oder an der Temperatur, wusste er nicht mit Sicherheit. „Lass uns irgendwo hingehen, wo ich mich abtrocknen kann“, sagte er. „Wir können uns dort weiter unterhalten.“

„Ja. Du wirst bald einen Haufen Schaulustiger anziehen, wenn du dich so unbekleidet zur Schau stellst.“ Sarafina nahm ihn am Arm und führte ihn zu einer schwarzen Limousine, die hinter einer Kurve geparkt war. Sie sorgte dafür, dass er sich auf die Rückbank setzte und stieg neben ihm ein. Ihre Extravaganz entlockte ihm ein Lächeln. Der Fahrer äußerte sich nicht zu dem klatschnassen nackten Mann, den seine Arbeitgeberin da anschleppte. Er sah ihr nicht einmal direkt in die Augen, als sie mit ihm sprach. Er war gut ausgebildet, dachte Dante. Sehr gut. Vielleicht zu gut. Sarafina drückte auf einen Knopf, und die Glastrennwand zum Vordersitz senkte sich ein Stück. „Bring uns zurück zum Apartment, Schatz. Und dreh die Heizung hier hinten auf.“ Der Fahrer antwortete nur mit einem Nicken, während das Glas sich schon wieder schloss. Dann setzte der Wagen sich in Bewegung. Sarafina nahm einen großen gehäkelten Schal und rieb damit Dantes Schultern, Brust und seine Haare. „Ich glaube, das sind diese furchtbaren

DPIs“, überlegte sie laut. „Die müssen dahinterstecken.“ Dante warf ihr einen durchdringenden Blick zu und zuckte mit dem Kopf in Richtung des Mannes auf dem Vordersitz. „Oh, mach dich nicht lächerlich, Liebling. Er kann mich nicht hören, wenn die Trennscheibe oben ist, und selbst wenn er es könnte, würde er kein Wort wiederholen.“ Dante sah noch einmal zu dem Mann auf dem Fahrersitz. Er war sehr blass und sehr dünn. Seine Augen wirkten hohl. Der Hals des Mannes war zwar nicht zu sehen, aber der Rollkragenpullover unter seiner dunkelblauen Jacke sprach schon Bände. Dante sah wieder zu Sarafina. „Du solltest sie nicht als Sklaven missbrauchen, Fina. Das gehört sich nicht.“ Nachlässig zuckte sie mit den Schultern. „Wenigstens bringe ich sie nicht einfach um. Es sei denn, sie verärgern mich. Hör auf, das Thema zu wechseln. Was sollen wir wegen dieser Organisation unternehmen?“ Kopfschüttelnd fragte er sich, ob er den

Sterblichen aus seinem Elend erlösen sollte, wenn die Fahrt zu Ende war. Andererseits, was würde das bringen? Sarafina würde sich nur einen anderen suchen, der ihr zu Willen war. Je öfter ein Vampir von einem Sterblichen trank, ohne ihn zu töten, desto abhängiger wurde der Sterbliche, bis er kaum mehr war als ein unterwürfiger Wurm ohne Verstand, wie der Fahrer, der sich nur danach sehnte, noch einmal zu spüren, wie seine Herrin ihre Zähne in seinem Fleisch vergrub. „Die DPI wurde vor fünf Jahren zerstört“, gab Dante zu bedenken. „Danach hat die Regierung ihre finanzielle Unterstützung zurückgezogen. Es gibt sie nicht mehr.“ „Und wer macht dann noch Jagd auf Vampire?“ Er zuckte die Schultern und wendete den Blick ab. „Noch interessanter wäre es herauszubekommen, wer ihnen ihre Informationen gibt. Woher wissen die, wo wir uns ausruhen, wo wir jagen, wo wir leben? Sogar die DPI mit all den Recherchen hatte nicht so viele Informationen über unser Privatleben.“ Sie ließ den feuchten schwarzen Schal auf den Sitz zwischen ihnen fallen. „Genau

diese Person müssen wir finden, Dante. Wer auch immer er ist, wir müssen ihn umbringen – und zwar langsam, schlage ich vor. Ich möchte gerne eine Weile dabei zusehen, wie er sich windet.“ Als sie auf einen Knopf drückte, öffnete sich die Glasscheibe zwischen den Sitzen erneut. Sie beugte sich vor. „Dein Handgelenk, mein Schatz. Deine Herrin ist hungrig.“ Mit einem matten Lächeln hob der Fahrer seinen Arm und steckte seine Hand durch die Öffnung. Den Ärmel seiner Jacke hatte er bereits zurückgerollt, und auf seinem Unterarm waren mehrere alte Einstichwunden zu erkennen. Sarafina packte seinen Unterarm mit beiden Händen, versenkte ihre Reißzähne in seinem Fleisch und saugte eine lange Zeit an ihm. Dante blickte weg, konnte aber nicht leugnen, dass sich auch in ihm der Hunger regte. Sie hob ihren Kopf und leckte sich die roten Lippen sauber. „Möchtest du auch etwas, Dante? Mein Schatz ist ziemlich lecker.“ „Du bist grausam, Sarafina. Bring ihn um, damit es ein Ende hat.“

Als hätte er sie verletzt, hob sie die Brauen und richtete ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf den Fahrer. Sie leckte die Blutspuren von seinem Arm und rollte behutsam seinen Ärmel hinab. „Na also, Schatz. Fahr hier bitte an den Straßenrand.“ Er nickte und brachte die Limousine zum Stehen. Dann stieg er aus, kam nach hinten und öffnete ihre Tür. Sie waren mitten auf dem Highway. Der Verkehr, der an ihnen vorbeirauschte, war ein einziges Gemisch aus Licht und Bewegung. Sarafina stand nicht auf. Sie sprach, ohne ihn auch nur anzusehen. „Ich möchte, dass du etwas für mich tust, Schatz.“ „Alles“, flüsterte der Fahrer. Er war ein großer Mann. Dunkles Haar, von grauen Strähnen durchzogen, dünnes, scharfkantiges Gesicht und eine Hakennase. „Ich möchte, dass du dich umdrehst und mitten auf die Fahrbahn marschierst.“ Der Fahrer starrte sie an, nicht direkt in ihre Augen, sondern irgendwo darunter. „Sarafina …“, setzte Dante an. „Tu es sofort“, befahl sie.

Dante schloss die Augen und fluchte leise. Der Fahrer drehte sich um und trat mitten in den entgegenkommenden Verkehr. Sein Körper wurde ungefähr hundert Meter durch die Luft geschleudert. Da saß allerdings schon Sarafina hinterm Steuer und fuhr davon. Sie blickte nicht einmal zurück. „Ich verstehe einfach nicht, wieso du nicht zurück nach L.A. ziehst, Morgan. Du hast alles, was du wolltest. Du kannst jetzt triumphierend zurückkehren, genau, wie du es dir immer gewünscht hast.“ Morgan ging auf den marmornen Fliesen in dem großen Raum hin und her, und ihre Absätze klapperten mit jedem Schritt. Sie trug eine locker sitzende petrolfarbene Bluse und passende Hosen aus gebürsteter Seide, die ihre Haut sanft streichelten, wenn sie sich bewegte. Sie liebte dieses Gefühl. „Ich mag es hier“, sagte sie. „Komm schon, David, selbst du musst zugeben, dass ich in den letzten fünf Jahren mit diesem Haus ein Wunder vollbracht habe.“ „Ich fange an, mir zu wünschen, ich hätte es dir

nie verkauft“, murmelte er fast wortlos. Er ließ sich in einen antiken Sessel mit Klauenfüßen sinken und sah sich dabei in dem großen Zimmer um. Sie wusste, dass ihm nichts anderes blieb, als zu bewundern, was er sah. Die mit Stuck verzierte Decke war neu gemacht worden, bis hin zu den kleinen Engeln in den Ecken und in der gewölbten Kuppel über ihnen. Sie setzte sich ihm gegenüber und gab ihm ein Glas Sodawasser auf Eis. Ihr eigenes Glas sah genauso aus, allerdings enthielt es trotz der frühen Morgenstunde Wodka. Sie brauchte die Kraft. Sie liebte David, aber verdammt noch mal, sie wollte, dass er einfach wieder ging. Ihr war nichts mehr wichtig, außer, zurück zu den Tagebüchern zu kommen. Zu den Fantasien und dem Mann, der sie geschrieben hatte. Gott, eine einzige wache Stunde, schon gar einen Tag zu verbringen, ohne sich in seinen Gedanken zu verlieren, war ihr unerträglich. Sie verließ das Haus überhaupt nicht mehr. Sie wollte es einfach nicht. Und wenn sie schlief – oh, es war am besten, wenn sie schlief. Weil er in ihren Träumen so viel echter war.

„Ich muss zugeben, ich bin verwirrt“, gestand David, nahm sein Wasser und nippte daran. „Ich dachte, alles wäre schon entschieden. Du wolltest dich hier draußen verstecken, deine Wunden lecken, deinen Blockbuster schreiben, dein Vermögen machen und dann nach Hause kommen und alles zurückfordern, was du verloren hast.“ „Ahh, ja. Und die Ehre des Namens De Silva wiederherstellen.“ Sie lächelte nur dünn. „Hätte ich gewusst, dass du so schreiben kannst, wie du es tust, und so schnell, ich muss zugeben, ich hätte dich nie hierherkommen lassen.“ Morgan wendete ihren Blick ab. „Ich konnte damals nicht so schreiben. Nicht dort. Ich habe meine … Inspiration, in Ermangelung eines besseren Wortes, hier gefunden. In diesem Haus. Ich könnte nirgendwo sonst arbeiten. Ich kann es nicht, David. Ich werde es nicht tun.“ „Das ist abergläubischer Unsinn.“ Nein, dachte Morgan. Das war es nicht. Dante war hier. Sie spürte ihn. Ihren eigenen atemberaubenden Wahnsinnigen. Er – seine Tagebücher wenigstens – hatte ihr das Leben

geschenkt, und gleichzeitig auch einen Teil davon geraubt. Der Mann namens Dante hatte ihren Geist gefangen, ihre Seele, auf eine dunkle Art und Weise, die sie erst noch verstehen musste. Er war für sie real. Er war mehr als ein vor langer Zeit verstorbener Wahnsinniger, der seine verrückten Wahnvorstellungen aufgeschrieben hatte. Er war echt. Er lebte … in ihr, auf irgendeine Art. In diesem Haus. Nichts davon konnte sie David erklären. Stattdessen starrte sie hinauf zu dem Kristalllüster, den sie im großen Zimmer hatte installieren lassen, und fragte sich, wie ähnlich er dem Stück war, das ursprünglich dort gehangen hatte. Als Dante hier gelebt hatte. Es war nicht einfach gewesen, das Haus zu restaurieren. Und es war auch nicht billig gewesen. Aber dank des Erfolgs, den die ersten beiden Filme ihrer Vampirserie an den Kinokassen einfuhren, konnte sie es sich leisten, genau das zu tun, was sie wollte. Dazu hatte auch gehört, Experten anzuheuern, die ihr dabei halfen, das Haus genau so zu restaurieren, wie es seiner

Bauperiode entsprach. Wenn auch viel, viel opulenter. Ihr dritter Film war seit genau acht Wochen in den Kinos, und er hatte Morgan bereits reicher gemacht, als sie es sich in ihren wildesten Träumen hatte ausmalen können. David ebenfalls. Und jetzt warteten sie darauf, welche Träume noch wahr werden konnten. Morgan warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ist es noch nicht so weit?“ „Wahrscheinlich spät genug. Komm mit.“ David stand auf und bot ihr seine Hand an. Sie nahm sie und ließ sich von ihm aufhelfen. „Lieber Gott, Morgan, du musst etwas zunehmen. Du bist keine Schauspielerin, weißt du.“ Sie lächelte ihn an und überspielte die Schwäche in ihren Beinen und das Schwindelgefühl, das sie oft überkam, wenn sie zu schnell aufstand. „Man kann nie zu reich sein oder zu dünn“, witzelte sie. „Und außerdem, wenn alles gut geht, muss ich in ein paar Wochen in einem Kleid gut aussehen, das sich einer von diesen Designern ausgedacht hat.“ Klar. Als würde sie diesen Ort je wieder

verlassen. Nicht einmal dafür. Sie gingen über die Fliesen zu der Doppeltür, die in ihr Arbeitszimmer führte. Der Kamin funktionierte jetzt mit Gas, und nachdem sie den Raum betreten hatten, feuerte Morgan ihn als Erstes an. Auf dem neu versiegelten Parkettfußboden lagen sündhaft weiche Orientteppiche. Der Schreibtisch war ein Nachbau, der Computer das neueste Modell. Und an den Wänden hingen dicht an dicht Bilder von Dante. Holzkohlezeichnungen, die sie selber angefertigt hatte, statt Aufnahmen aus ihren Filmen. Der Schauspieler, der ihn verkörperte, machte seinen Job ausgezeichnet, natürlich, aber er war nicht Dante. Sie kannte ihren Helden. Es gab eine Zeichnung von ihm als kleinen Jungen mit großen dunklen Augen, der zu einer wunderschönen Zigeunerin aufsah, die um ein Lagerfeuer tanzte. Auf einer anderen Zeichnung saß er an seinem Schreibtisch und grübelte über seinen Tagebüchern. „Das ist fast gruselig“, sagte David und schauderte kaum merklich, als er das große

Zimmer durchquerte, sich hinsetzte und eine Fernbedienung in die Hand nahm. „Wird er dir nie über?“ Morgan blieb neben einer weiteren Zeichnung stehen und sah in die ausdrucksvollen Augen des Objekts. „Ich kenne jede Falte und jede Kontur seines Gesichts“, flüsterte sie. Dann, als die Stille sich immer weiter ausbreitete, schüttelte sie sich und zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich ist das unmöglich. Das alles sind nur Hirngespinste, die meine Fantasie aus dem Material der Ta… der Drehbücher zusammengebastelt hat. Aber es scheint so echt. Ich sehe ihn in meinen Träumen, so wirklich, als wäre er real.“ Sie lächelte. „Ich kenne sogar den Klang seiner Stimme.“ „Autoren“, murmelte David. Er drückte auf einen Knopf, und die Türen der nachgebildeten antiken Vitrine öffneten sich, bis dahinter ein Großbildfernseher zu sehen war. Er drückte auf einen weiteren Knopf, um ihn anzuschalten, und einen, um den Kanal zu wählen. „Mir würde er über werden“, meinte er, „egal, ob real oder nicht.“

„Ich könnte in ihm ertrinken, und er würde mir doch nicht zu viel werden“, gab Morgan zu. „Manchmal glaube ich, ich tue genau das. Ich ertrinke in ihm.“ Als David nicht antwortete, schaute sie zu ihm hinüber und bemerkte seinen merkwürdigen Blick. Morgan lachte kurz, um seinen sorgenvollen Blick zu verscheuchen. „Wir Kreativen müssen doch von Natur aus exzentrisch sein. Verzieh dein Gesicht nicht so, das gibt Falten.“ Er wendete sich mit einem Seufzen ab und blickte wieder zum Fernseher. Dann schnappte er sich die Fernbedienung und stellte den Ton lauter. „Da ist es!“ Das berühmte Paar auf dem Podium verlas abwechselnd eine Liste, und Morgan schien es, als würde dieser kurze Clip länger dauern als jeder zweistündige Film, den sie je ertragen hatte. Sie kippte ihren Drink hinunter und wartete, bis sie zu dem Teil kamen, der sie interessierte. „In der Kategorie ‚Bestes Originaldrehbuch‘ sind nominiert …“ Ein Brummen schien ihren Kopf anzufüllen, das

ganze Zimmer, ihre Ohren. Sie konnte nicht mehr hören, was sie sagten, aber plötzlich sah sie auf dem Bildschirm neben vier Namen auch ihren eigenen. „Morgan De Silva für Twilight Hunger.“ David sprang auf und drückte sie fest an sich. Er lächelte und lachte und sprang von einem Fuß auf den anderen, während er sie immer noch festhielt. Morgan ergab sich der überwältigenden Dunkelheit, die in ihr aufstieg, und sackte in seinen Armen zusammen. Sie lag auf der Couch, als sie die Augen wieder öffnete. David saß dicht neben ihr und hielt ihre Hand. „Da bist du ja wieder. Alles in Ordnung. Das Ganze hat dir wahrscheinlich mehr bedeutet, als mir klar gewesen ist.“ „Das ist es nicht …“, fing sie an. Dann erinnerte sie sich an das, was gerade geschehen war. Lieber Gott, es stimmte. Sie war für die höchste Auszeichnung der Filmindustrie nominiert. Für eine Arbeit, die nicht einmal ihre eigene war. Sie hatte nie erwartet, dass es so weit gehen würde. Und doch hatte sie es gewusst. Es musste einfach so sein. Die Geschichten waren zu gut, um nicht als

solche erkannt zu werden. An ihnen war etwas … Überweltliches. Etwas, das fast bis in das Innerste des Publikums eindrang. „Alles in Ordnung?“ Sie nickte, versuchte aber gar nicht erst, sich aufzusetzen. Das alles war sehr merkwürdig. Sie hatte erwartet, sich über diesen Augenblick … zu freuen. War es nicht mehr, als sie sich je erträumt hatte? Sollte es nicht alles wiedergutmachen, was in ihrem Leben falsch gelaufen war? Warum fühlte sie sich dann immer noch so leer? „Jetzt musst du mit zurück nach L.A. kommen“, freute sich David. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein schütter werdendes honigblondes Haar, das an den Schläfen bereits ergraute. „Wegen der Partys. Der Empfänge. Der Interviews. Du solltest dich sehen lassen.“ Der Gedanke daran, diesen Ort zu verlassen, brachte ihr Herz zum Rasen. Sie schüttelte schnell den Kopf und kämpfte gegen die Panik an. „Ich kann jetzt hier nicht weg.“ „Aber …“ „Das neue Skript ist noch zu zerbrechlich, David.

Ich kann nicht aufhören zu arbeiten, ohne meinen Schwung zu verlieren. Und woanders kann ich auch nicht arbeiten. Also muss ich genau hier bleiben.“ Er schloss die Augen langsam, als versuchte er, ihre Worte zu begreifen. „Wenn die Verleihung ansteht, bin ich bestimmt fertig. Dann werde ich kommen. Versprochen.“ Zweifelnd starrte David sie an. „Aber du brauchst ein Kleid. Und deine Haare, und … Liebes, andere Leute planen monatelang, um sich für diese eine, besondere Nacht fertig zu machen. Lieber Gott, wenn das Gleiche dem Mädchen passiert wäre, das ich vor fünf Jahren kannte, dann hätte sie darauf bestanden, von mir nach Paris geflogen zu werden, um ein Kleid zu kaufen. Und wahrscheinlich hätte sie drei gekauft, ehe sie entscheidet.“ Sie setzte sich sehr, sehr langsam auf, damit ihr nicht wieder schwindelig wurde, und sah ihm in die Augen. „Das Mädchen bin ich jetzt nicht mehr.“ „Nein“, sagte er. „Das bist du nicht. Du hast dich verändert, Morgan. Und nicht zum Besseren. Du

bist die reinste Einsiedlerin geworden.“ Ihre Wut durfte er jetzt nicht bemerken. David hatte recht, und wenn sie ihm die Wahrheit sagen würde, dann müsste sie ihm befehlen, nach Hause zu gehen, damit sie endlich wieder allein sein konnte. Damit sie zurück in die samtene Dunkelheit von Dantes Welt kriechen konnte. Sie hasste es, nicht darin verwickelt zu sein, vermisste ihn wie einen Liebhaber, wenn sie einen Tag verbringen musste, ohne in seinem Leben zu wühlen, ohne es durch ihren eigenen Verstand und ihre eigene Seele zu verarbeiten, damit es auf ihrem Bildschirm Platz fand. Ohne seine Erinnerungen, seine geheimsten Gedanken in Dialoge und Regieanweisungen zu verändern, damit sie auf der Leinwand zum Leben erwachen konnten. Es war fast, als versuchte sie irgendwie, ihn von den Toten auferstehen zu lassen, indem sie seinen Erinnerungen Leben einhauchte. Nicht genug. Gott, es war nie genug. „Ich habe dich verärgert.“ David sah sie beunruhigt an. „Nein. Nein, ich bin nur … überwältigt.“ Sie lächelte zu ihm auf. „Also, spendierst du mir ein

Frühstück zur Feier des Tages, oder was?“ Er hob die Augenbrauen und seufzte. „Ja, natürlich. Wie schnell kannst du fertig sein?“ Sie zwang sich dazu, glücklich auszusehen. Die Rolle der aufgeregten Ehrenträgerin zu spielen, die sich darauf freute, die Auszeichnung ihres Lebens zu feiern. In Wahrheit wollte sie es einfach nur hinter sich bringen und nach Hause zurückkehren. In sein Haus. Um allein zu sein mit dem nicht existierenden Mann, der sie Tag und Nacht heimsuchte. Ihr Herz und ihre Seele. Der ihren Verstand in Beschlag nahm. Dante. Der Mann, der Band um Band in der Ichform geschrieben hatte, und der, davon war sie überzeugt, an jedes Wort glaubte, das er notiert hatte. Er hatte geglaubt, ein Vampir zu sein. Fast wünschte sie sich, es wäre wahr.

Keith 5. KAPITEL Dante stand draußen in der Dunkelheit. Der Wind wehte ihm ins Gesicht und durchfuhr mit seinen kalten feuchten Fingern seine Haare. Er brachte Regen. Dante konnte spüren, wie er leise seine Haut berührte. Er schmeckte ihn. Kurz hinter dem Haus schlug das Meer seine Wellen an den Strand. Sein Haus – wenigstens war es das einst gewesen. Warmes gelbes Licht strömte aus seinen Fenstern, als wolle es ihn zu Hause willkommen heißen. Aber er wusste es besser. Jemand befand sich darin. Er konnte die Person auf die gleiche Art und Weise spüren und schmecken wie den Regen in der Luft. Eine Frau. Als er sich entschlossen hatte, hierherzukommen, war er sich nicht einmal sicher gewesen, ob es den Ort überhaupt noch gab. Als er das Haus zum letzten Mal gesehen hatte, war es eigentlich schon dem Verfall anheimgegeben. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Jemand hatte sehr viel Zeit, Mühe und Geld investiert und es wieder so hergerichtet,

wie es vor über einem Jahrhundert ausgesehen hatte. Er erinnerte sich genau an den weißen Weg aus Steinplatten, der sich zur Vordertür hinaufschlängelte. Er sah genauso aus wie früher. An seinem Ende standen Laternen wie Wachposten. Damals waren sie natürlich nicht elektrisch gewesen. Die Lampen im Haus auch nicht. Aber die Fensterläden waren schwarz und die Farbe des Hauses weiß und frisch. Und der Schornstein hatte die gleiche Größe und Form, auch wenn die Steine alle brandneu waren. Die Tür, bemerkte er, war jetzt anders. Sie war weiß gewesen, mit vier Glasscheiben und Trompetenmuster am oberen Rand. Die neue Tür war viel aufwendiger gestaltet, breiter, und ihr Rahmen war aus gedrechseltem Hartholz. Über ihr streckte sich ein gebogenes Sims in die Breite, auf dem falsche Blumen angebracht waren. Für einen Augenblick traf ihn diese imitierte Echtheit. Es sah lächerlich aus. Der Geruch von Plastik und Seide verspottete die Schönheit der echten Blumen nur. Künstliche Blumen waren ein Sakrileg. Eine ovale Buntglasscheibe streckte sich über fast

die gesamte Länge der Tür, und ihre Klinke war aus glänzendem Messing. Es sah alles fast wie neu aus. Zwei Autos standen auf der mit weißem Kies bedeckten Auffahrt, beide schnell und ausländischer Herkunft. Hier lebte jetzt Geld. Eine Frau mit Vermögen. Und Jugend. Auch das konnte er in der Luft schmecken. Da war auch ein Mann. Älter. Robust. Stark. Während die Frau von Schwäche umgeben war. Es lag kein Sex in der Luft, also ging er von einer platonischen Beziehung aus. Dante war neugierig, das musste er zugeben. Begierig zu sehen, was innen im Haus gemacht worden war. Und es blieb ihm sowieso keine Wahl. Seit er dem vernarbten Mann so knapp entkommen war, hatte er festgestellt, dass jeder seiner Zufluchtsorte aufgedeckt, jeder seiner vertrauten Aufenthaltsorte überwacht werden konnte. Irgendwoher kannte der Mann seine Geheimnisse. Also war Dante hierhin zurückgekommen – an einen Ort, den er seit über einem Jahrhundert nicht betreten hatte –, um Sicherheit und Trost zu finden, bis seine nächsten

Schritte geplant waren. Natürlich war er viel zu lange fortgeblieben. Ein anderer wohnte jetzt hier. Aber das tat sowieso nichts zur Sache. Er umrundete das Haus bis zur Rückseite und bis zur Weide, die immer noch dort stand. Sie war so viel größer geworden, dass er zweimal hinsehen musste. Lieber Gott, die Zeit verging wirklich wie im Flug. Er sprang leichtfüßig auf einen der unteren Äste und begann, den Baum zu erklimmen. Die glatte Rinde, die biegsamen Äste, das Flüstern des Windes in den hängenden Blättern, all das war ihm vertraut. Er selbst hatte den Baum vor hundert Jahren an dieser Stelle gepflanzt. Als er in die Nähe seines alten Schlafzimmers kam, hielt er inne, legte seinen Kopf zur Seite und weitete seine Vampirsinne. Er spürte etwas. Nicht ganz einen Duft in der Brise. Etwas anderes. Etwas … das seine Nerven anspannte wie ein Magnet, der über Metallspäne gehalten wurde. Was war das? Indem er den Ast verließ und seine Hände um das kalte Metall der Balkonbrüstung legte, näherte er

sich dem Haus. Dann ließ er sich auf den Balkon selbst hinab und schlich sich an die geschlossenen Glastüren heran. Dahinter hingen luftige weiße Vorhänge. Durchsichtig genug, um das Schlafzimmer zu erkennen. Es schien die Besitzerin des Hauses zu sein, die schlafend in einem Himmelbett lag. Ihr Haar hatte die Farbe von Zimt, üppig und lang lag es über ihr Kissen gefächert. Ihre Haut war sahnig weiß und so blass, als hätte er bereits von ihr gekostet. Ihre nackten Arme lagen auf einem dünnen weißen Laken. Er spürte, dass sie nicht von mehr bedeckt wurde. Ihr Hals war lang und schlank. Dante befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge und merkte, wie in ihm Begehren erwachte. Normalerweise labte er sich nicht an unschuldigem Blut. Er tötete, das ja. Er konnte auch von kaltem, abgestandenem Blut aus Plastikbeuteln leben, wie einige andere es taten. Aber das war nicht das wirkliche Leben. Also tötete er, aber meistens nur die, die getötet werden mussten. Manchmal bezahlte er auch dafür, seine Lust befriedigen zu lassen. Es gab Frauen, die sich darauf spezialisiert

hatten, Bedürfnisse wie das seine zu stillen. Sie waren diskret, und er bezahlte ihnen genug, damit es auch so blieb. Diese Frau … war keine von ihnen. Und doch fühlte er sich zu ihr hingezogen wie von einem unsichtbaren Faden. Er begehrte sie. Er stand so nahe an der Glastür, dass sein kühler Atem das Glas beschlagen ließ. Vorsichtig wischte er die Scheibe ab und betrachtete sie. Wie schön wäre es, sie möge das Laken wegziehen, damit er sie besser sehen konnte. Damit er mit Sicherheit wissen konnte, ob sie noch etwas anderes auf ihrer Haut trug, unter ihrer Decke. Noch ehe der Gedanke zu Ende gedacht war, hatte die Frau ihre Hand an den Rand des Tuches gelegt und begann, es langsam von ihrem Körper zu ziehen. Sie war darunter vollkommen nackt, genau wie er vermutet hatte. Und einen Augenblick lang konnte er nichts weiter tun als sie anzusehen und sich an ihrer Schönheit zu laben. Kleine Brüste, aber weich, mit rosigen Spitzen. Sie war viel zu dünn; unter ihrer Haut zeichneten sich die Rippen ab. Das Haar zwischen ihren Schenkeln hatte die

gleiche lodernde Farbe wie ihr Kopfhaar. Er ließ seinen Blick wieder ihren Körper hinaufwandern. Verweilte lüstern auf ihren Brüsten, und im gleichen Augenblick wurden ihre Brustwarzen hart. Dante legte die Stirn in Falten und beobachtete sie ungläubig. Konnte sie seine Gedanken auf irgendeiner Ebene empfangen? Er konnte einen Sterblichen mit schwachem Willen durch seine Gedanken kontrollieren, das wusste er, aber dazu musste er es wenigstens versuchen. Ein einzelner beiläufiger Gedanke sollte nicht … Dante blickte auf ihr Gesicht und fragte sich, ob sie vielleicht, falls er daran dachte, wie ihre sahnigen Schenkel sich für ihn öffneten … Langsam spreizte sie ihre Beine. Dante bebte vor Verlangen und Hunger und auch vor Angst. Erst als er sich von ihr entfernte, klärte sich sein Verstand und gab ihm die Antwort, auf die er sofort hätte kommen sollen. Plötzlich verstand er, was er vorher gespürt hatte, diesen Schauer aus Aufmerksamkeit und Anziehungskraft. Sie war eine von denen. Sie war eine der Auserwählten.

Er ging rückwärts über den Balkon bis zum Geländer, drehte sich um und sprang dann, ohne zu zögern, hinunter. Auf dem Boden angekommen, richtete er sich auf, blickte sich um und dann hinaus aufs Meer, als würde er dort die Antworten finden, die er suchte. Wenn er einen anderen Ort auf der Welt hätte, an den er gehen konnte, egal wo, er wäre gegangen, und das leichten Herzens. Aber die Sonne würde bald aufgehen. Und dieser Ort war die einzige Zuflucht, die ihm noch blieb. Er konnte sich weitere schaffen, doch das brauchte Zeit. Nein, erst einmal war er nur hier sicher. Allerdings musste er diese Frau um jeden Preis meiden. Er hatte diese Art von Verbindung noch nie zu einer Sterblichen gespürt. Nie. Auch nicht mit anderen seiner eigenen Art. Was zum Teufel sollte das bedeuten? Er ging hinaus zu den Klippen und sah an dem ihm vertrauten Punkt hinab auf den Steinvorsprung etwa fünf Meter unter ihm. Hinter diesem Vorsprung lag eine kleine Öffnung in der Steinwand. Sie war noch immer von den Ranken verdeckt, die er vor Jahren dort gepflanzt hatte. Die Wurzeln hatten sich

in dem kargen Boden am Absatz der Klippe verankert. Von dort rankten die Triebe hinab und verhängten den Zugang zur Höhle wie ein Vorhang. Hoffentlich war der Gang, der unter der Erde bis zurück zum Haus führte, nicht zusammengebrochen und die Räume, die unter dem alten Haus verborgen lagen, nach all der Zeit nicht zu Staub zerfallen. Wieder träumte sie von Dante. Er stand über ihr Bett gebeugt und blickte zu ihr hinab. Er stand einfach da. Er sagte kein Wort, und er fasste sie nicht an. Wie sehr wünschte sie sich, er würde etwas tun oder sagen. Irgendwas. Aber er tat nichts. Morgan öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, und merkte, dass es ihr nicht gelang. Stattdessen sah sie ihn an. Es war seltsam, wie gut sie sein Gesicht kannte, während sie ihn im Traum betrachtete. Es war kantig und irgendwie grausam. Lang und umschattet. Sein Kiefer war scharf geschnitten, seine Nase schmal. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und waren so dunkel, dass er sie aus etwas, was tief dahinter lag, anzustarren

schien. Vielleicht aus seiner Seele. Ihre Augen blieben jetzt, da sie einmal seinem Blick begegnet waren, dort gefangen. Und sie wusste, was er wollte. Sie selbst wollte nichts mehr, als ihm zu gehorchen. Sie hob eine Hand, schob ihre Decke zurück und lag einfach da, vollkommen nackt und ohne Scham, um sich von seinem dunklen begehrenden Blick verbrennen zu lassen. Jeden Teil von ihr. Berühr mich, flehte sie ihn stumm an. Lieber Gott im Himmel, berühr mich einfach. Dann blinzelte sie – und er war verschwunden. Einfach so, ganz plötzlich. Morgan schlug abrupt ihre Augen auf. Ihre Decke lag auf dem Boden, und ihr Körper bebte. Aber sie war allein. Lieber Gott, diese Träume schienen ja wirklich ein Eigenleben zu entwickeln. Vielleicht sollte sie über irgendeine Therapie nachdenken. Nicht, dass sie noch nie von ihm geträumt hätte, wieder und wieder, Nacht für Nacht, seit sie in dieses Haus gezogen war. Aber dieses Mal war es anders gewesen. Dieses Mal war es … real.

Sie setzte sich langsam auf, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und stand auf. Sie zog sich einen Morgenmantel aus cremefarbenem Satin an, ging zu den Glastüren und öffnete sie. Dann trat sie hinaus auf den Balkon und atmete die Nachtluft tief ein. Der Geschmack auf ihrer Zunge war intensiv und gut. Plötzlich hielt sie inne und starrte direkt geradeaus. Auf den Klippen stand ein Mann. Der Wind zerzauste seine Haare, während er hinaus aufs Meer starrte. Sein Gesicht konnte sie kaum erkennen, und doch war etwas unglaublich Vertrautes an ihm. Am Fall seiner Haare. Seiner Haltung. Irgendetwas. Ihr Magen rebellierte, als die Wolken den Mond freigaben und sein Gesicht nur für einen Augenblick vom Mondlicht beleuchtet wurde. „Dante …“ Sie flüsterte seinen Namen atemlos. Und als hätte er sie gehört, auch wenn das aus der Ferne unmöglich war, drehte er sich abrupt um und sah genau in ihre Richtung. „Kann es sein …?“ Morgan schloss die Augen,

atmete dreimal tief ein und spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. „Es kann nicht sein.“ Dann öffnete sie ihre Augen wieder. Die Klippen, das Meer, der Wind und nichts sonst. Da war niemand. Da war überhaupt niemand.

Keith 6. KAPITEL Maxine lehnte sich in ihren ergonomisch geformten Stuhl zurück und zwinkerte mehrmals mit den Augen. Wenn man den ganzen Tag auf den Computerbildschirm starrte, zwinkerte und blinzelte man zu wenig. Das hatte sie irgendwo gelesen. Es war nicht gut für die Sehkraft. Die Vordertür öffnete sich, und Stormy kam herein, eine große weiße Bäckertüte in einer Hand, die morgendliche Post in der anderen. „Zeit für eine Pause!“, rief sie. „Fett, Kalorien und Cremefüllung, genau was der Arzt verordnet hat.“ Maxine seufzte und schob ihren Schreibtischstuhl zurück. Er rollte vom Schreibtisch bis in die Mitte des ehemaligen Wohnzimmers, das jetzt ihr Arbeitszimmer geworden war – wenn man das Wort im weitesten Sinne verwendete. Es ähnelte eher einer Explosion in einer Fabrik für Papier und Schnellhefter. Mit Computern. Jeder Menge Computern. Stormy stellte die Tüte auf ihren Schreibtisch,

setzte sich dahinter und spähte hinein. „Mmm, ich habe Marmelade und Cremefüllung, und jetzt kann ich mich nicht entscheiden.“ „Wie viele sind da drin?“, fragte Maxine und hob ihre Augenbrauen. „Halbes Dutzend.“ Stormy sah nicht hoch. Die Donuts hatten sie in ihren Bann geschlagen. „Dann nimmst du am besten von jedem einen.“ Da sah sie endlich auf, die Augenbrauen ebenfalls hochgezogen. „Glaubst du?“ „Oh, klar. Besser, als das Risiko einer falschen Wahl einzugehen.“ „Ich mag es, wie dein Verstand funktioniert.“ Stormy lächelte anerkennend, während sie in die Tüte langte, um sich einen Donut zu greifen. Maxine stand von ihrem Schreibtisch auf und schlenderte in die Küche, die ihren Charakter noch nicht eingebüßt hatte. Dort schenkte sie zwei Becher frischen Kaffee ein. „Hast du dir mal überlegt, wie armselig es ist, dass ich nach all den Jahren immer noch im selben Ort, im selben Haus, im selben Trott lebe?“ „Nein.“

Maxine musste lächeln, weil Stormy mit vollem Mund nuschelte. Sie trug die zwei Becher zurück ins Arbeitszimmer und sah gerade noch, wie ihre Freundin einen weiteren Bissen nahm und vor Wonne die Augen schloss. Sie stellte Stormy einen Becher hin und langte selbst nach einem Donut. Maxine wusste, wenn sie es nicht tat, würden sie bald alle verschwunden sein. „Möchtest du die Antwort noch weiter ausführen oder bei der einen Silbe bleiben?“ Stormy schluckte, schleckte sich die Lippen ab und nahm einen Schluck Kaffee. Sie hatte immer noch einen Ring aus Puderzucker um den Mund, aber was machte das schon. „Wer würde nicht in diesem Haus bleiben? Mensch, Mädchen, deine Mutter hat es dir umsonst und völlig problemlos überlassen. Du wärest verrückt, es nicht anzunehmen. Und ich sehe auch keinen Trott. Du leitest nicht nur eine, sondern zwei Firmen, und beide machen Gewinn, wenn ich das noch hinzufügen dürfte.“ „Knapp“, murmelte Maxine. Sie seufzte, tunkte

ihren Donut in den Kaffee und nahm einen großen Bissen. Als sie damit fertig war, ließ sie die erste Bombe hochgehen. „Webdesign wird langsam langweilig, Stormy. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich werde damit aufhören.“ „Du hörst auf?“ „Ich schließe den Laden.“ Nachdenklich stellte Stormy den Becher auf ihrem Tisch ab und stand auf. „Warum? So verdienst du den Großteil deines Einkommens.“ „Ja, aber das war nie mein Lebensziel. Ich meine, es ist schon okay. Ich bin gut darin, aber es ist nicht mein Traumjob. Das war es nie.“ „Was soll das heißen? Werden neue Leute bei Spion & Co gesucht?“ Maxine warf ihr einen funkelnden Blick zu. „Mach darüber keine Witze.“ „Was dann?“ Stormy fuchtelte mit ihren Händen in der Luft, drehte sich langsam um und suchte mit dem Blick nach oben an der Decke nach einer Erklärung. „Ich dachte, dein Nebenjob hat gereicht, um den Schnüffler in dir zu befriedigen, Max. Etwa nicht?“

„Nein, hat er nicht. Wenn überhaupt hat er meinen Appetit nur angeregt.“ Maxine war vor etwa einem Jahr von einem Kunden um Hilfe mit einem CyberStalker gebeten worden. So war sie mit der Internetkriminalität in Berührung gekommen und hatte schon ein halbes Dutzend weitere Stalker aufgespürt, und zwar mithilfe ihrer superanonymen, angeblich nicht auffindbaren Usernamen. Sie hatte sogar dabei geholfen, einige Betrügereien aufzudecken, die mit den sogenannten paranormalen Wissenschaften zu tun hatten. Schwindler, die sich im Internet auf alles von Hellseherei bis Geistervernichtung stürzten. Alles legal, bis man an ihre Partner geriet, die leichtgläubigen Menschen einredeten, sie bräuchten übernatürliche Hilfe, manchmal auch durch Drohungen. All das hatte Maxine außerdem immer wieder die Gelegenheit gegeben, mit ihrem Lieblingscop in Kontakt zu bleiben. Nicht, dass das irgendwas mit ihrer Entscheidung zu tun hatte, sich ganz in diese Richtung zu orientieren. „Was würdest du also sagen, wenn ich vorhätte,

eine weitere kleine Firma zu starten?“, fragte sie jetzt. Stormy drehte sich zu ihr um und sah ihr misstrauisch ins Gesicht. „Eine dritte?“ „Ich lasse das mit dem Webdesign. Also wäre es nur eine zweite. Und im Grunde würde es auch nur die, die es schon gibt, auf eine neue höhere Ebene heben.“ „Was hast du vor?“ Maxine wischte sich ihre zuckrigen Finger an ihrer Jeans ab und ging an ihren Schreibtisch. Sie öffnete eine Schublade, nahm ein Stück Papier heraus und schob es über die Oberfläche. „Sieh dir das hier an und sag mir dann, was du denkst.“ Stormy trat näher, beugte sich vor, und las laut. „Maxine Stuart, lizenzierter Privat…“ Sie blickte auf. „Lizenzierter Privatdetektiv? Seit wann?“ „Es kam heute in der Post. Den Antrag habe ich vor Monaten abgeschickt.“ „Max …“ „Ich weiß, okay. Es klingt total abgehoben, aber wenn du mal drüber nachdenkst, dann habe ich das sowieso schon die ganze Zeit gemacht. Nur eben

im Internet und nicht in Echtzeit.“ „Im Internet kann man dich nicht erschießen.“ Stormy verdrehte die Augen. „Wer weiß sonst noch davon?“ Maxine zuckte mit den Schultern. „Maxine Stuart, wer weiß sonst noch davon?“ Sie senkte ihren Blick. „Na ja, Lou weiß es.“ „Lou. Lou Malone. Das hab ich mir gedacht. Wahrscheinlich hat er dich noch ermuntert, was?“ „Also er … na ja, er hat mir mit der Anmeldung geholfen. Ich durfte ihn als Referenz angeben.“ „Aha.“ „Hör zu, ich bin echt gut. Und Lou hat schon ein paar Fälle, die er mir zuschieben könnte.“ „Verdammt. Ich weiß nicht, wieso du den Mann nicht endlich anspringst und es hinter dich bringst, Max.“ „Das habe ich vor. Sobald ich ihn in eine Ecke treiben kann.“ Stormy riss die Augen auf, während ihre Freundin sie schelmisch anlächelte. „Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wenn ich nur in Lous Nähe kommen wollte, hätte ich bei der Polizei angefangen. Das wäre einfacher gewesen.“

„Ja. Klar. Muss der alte Knacker nicht sowieso bald in Rente?“ Ein Räuspern erklang, und als sie beide sich umdrehten, stand der alte Knacker höchstpersönlich in der Tür. Maxine konnte nicht abschätzen, wie lange er dort gestanden hatte, oder wie viel er gehört haben könnte. Das Anspringen, von dem sie gerade gesprochen hatten, würde sich wahrscheinlich leichter gestalten, wenn sie sich heimlich anschleichen konnte. Aus der Hinterhand, so in der Art. Er war zu dünn, deshalb sah sein Anzug etwas schlottrig aus. „Störe ich gerade?“ Stormy drehte ihm den Rücken zu und starrte Maxine genervt an, was Maxine einfach ignorierte. „Komm rein, Lou. Hast du die Donuts gerochen, oder was?“ Er lächelte nicht, und er neckte sie nicht zurück, wie er es normalerweise tat. „Es ist, äh – etwas delikat.“ Stirnrunzelnd ging sie auf ihn zu. Er wartete nicht. Stattdessen drehte er sich um und trat hinaus auf die Veranda. Als sie sich ihm dort anschloss und

die Tür hinter sich zuzog, begann er zu reden. „Ich lade dich auf eine Tasse Kaffee ein. Dort können wir reden. In Ordnung?“ „Klingt ernst.“ „Ja. Ich brauche deine Hilfe. Es ist quasi genau deine Sache, Max, sonst würde ich dich nie darum bitten.“ „Warum nicht?“ „Warum was nicht?“ „Warum würdest du mich nie um etwas bitten?“ Mit einem tiefen Atemzug und schwer seufzend hob er zu einer Antwort an. „Weil du noch ganz neu bei der Sache bist, und ich hatte eigentlich vor, dich mit so was wie Milchbrötchen anfangen zu lassen. Hintergrundinformationen zu Verdächtigen zusammensuchen und so was.“ „So viel Vertrauen hast du also in mich?“ „Du bist noch ein Kind.“ „Ich bin fünfundzwanzig.“ „Wie gesagt …“ „Halt die Klappe, Lou.“ Sie riss die Autotür auf und setzte sich neben ihn. Er nahm sie nicht mit in den Coffee Shop, wie sie gedacht hatte. Stattdessen

fuhr er ans Drive-in-Fenster irgendeiner FastFood-Kette und bestellte zwei große Kaffee, einen schwarz, einen mit zweimal Milch und drei Stück Zucker. Sie lächelte, als er die Bestellung herunterrasselte, ohne sie zu fragen. Er wusste genau, wie sie ihren Kaffee mochte. Sich auf ihn zu stürzen würde ein Kinderspiel werden. Er fuhr auf den nächsten Parkplatz, stellte den Motor aus und drehte sich zu ihr um. „Mann, Lou, falls du auf dem Rücksitz fummeln willst, solltest du dir ein lauschigeres Plätzchen aussuchen.“ Röte überzog sein Gesicht. „Ja, klar.“ „Im Süden der Stadt gibt es die alte Kieskuhle, wo in der Highschool jeder mal zum Rummachen hinfährt. Kennst du die?“ Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. „Natürlich kenne ich die.“ „Mmm. Dann warst du schon mal dort?“ „Klar. Um mit der Taschenlampe nach den Kindern zu leuchten, die es besser wissen müssten, und sie nach Hause zu ihren Mamas zu schicken.

Also, willst du mit mir über Geschäftliches reden oder rumalbern, Max?“ Maxine wollte albern. Mit ihm. Jetzt. Aber sie hatte ihn offensichtlich nur geärgert. Er ärgerte sich immer, wenn sie mit ihm flirtete, schon beim kleinsten bisschen. „Schon gut. Geschäfte. Schieß los.“ Sie lehnte sich zurück und nippte an ihrem Kaffee. „Okay. Da ist diese Frau. Sie ist eine Freundin von mir. Eine gute Freundin.“ In ihrem Kopf kratzten Fingernägel auf Schultafeln, und Maxine setzte sich aufrechter hin. „Sie heißt Lydia Jordan. Die Leiterin von Haven House.“ Während ihr Kopf sich mit Fakten füllte, sah sie ihn skeptisch an. „Das Mädchenhaus in der Innenstadt? Für Ausreißer in Not?“ Er nickte. „Ich dachte, das wird von zwei ehemaligen Prostituierten geleitet.“ Wieder nickte er. Sie hob ihre Augenbrauen und sah ihn an. „Deine Freundin ist eine Nutte?“

„War eine Nutte.“ „Und wie zum Teufel kommt es, dass du sie so gut kennst?“, fragte sie, und es war ihr egal, wie zickig sie klang. Er lächelte sie an. „Verdammt, Max, wenn ich nicht alt genug wäre, um dein Vater zu sein, man könnte denken, du wärest eifersüchtig.“ „Du bist so was von nicht alt genug, um mein Vater zu sein.“ Das war er doch, aber sie würde es bestimmt nicht zugeben. Seufzend schüttelte Lou den Kopf. „Ich bin Lydia zum ersten Mal begegnet, als ich sie wegen versuchter Prostitution verhaftet habe. Ich war damals noch ein Neuling, und sie kann nicht älter als achtzehn gewesen sein. Über die Jahre habe ich sie bestimmt ein Dutzend Mal mitgenommen, ehe sie ihr Leben in den Griff bekommen hat. Kimbra kannte ich nicht so gut. Aber die beiden haben sich auf der Straße getroffen, sind beste Freundinnen geworden, und haben sich gegenseitig geholfen, von vorne anzufangen.“ „Das ist die Partnerin? Die andere Hälfte des dynamischen Duos?“

Er nickte. „Sie haben sich richtige Jobs besorgt, Abendkurse besucht, und nachdem sie das geschafft hatten, haben sie sich um andere Mädchen gekümmert, denen es so ging wie ihnen. Ich glaube, sie haben beide einige Zeit in Haven House verbracht, ehe sie es übernommen haben. Egal, das ist jetzt nicht mehr wichtig.“ „Natürlich ist das wichtig. Wie nahe stehst du dieser Lydia genau, Lou?“ Diesen Blick sah sie bei ihm nur selten. Er war wütend und zeigte ihr, dass sie eine unsichtbare, unausgesprochene Grenze überschritten hatte und sich verdammt noch mal lieber zurückhalten sollte. Sie seufzte und senkte den Blick. „Kimbra Sykes ist tot. Ermordet. Und Lydia hat sich in den Kopf gesetzt, irgendwelche übernatürlichen Kräfte hätten damit zu tun.“ Maxine zeigte sich wenig beeindruckt. „Hat wohl eine Menge Drogen genommen, als sie noch anschaffen ging, was?“ „Nein. Aber sie ist schon immer unheimlich abergläubisch gewesen.“ Am liebsten hätte sie ihn gefragt, warum zum

Henker es sie kümmern sollte, ob diese Exhure nun abergläubisch war oder nicht. Sie hasste die Frau. Spontan und automatisch. „Und warum meinst du, ich kann irgendwas tun, um ihr zu helfen?“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Max, habe ich dich irgendwie wütend auf mich gemacht?“ „Nein.“ Sie sah ihn nicht einmal dabei an. „Und wieso schmollst du dann so?“ Er seufzte nur, als sie ihm nicht antwortete. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich dachte nur – verdammt, du weißt doch Bescheid mit diesem Zeug. Weißt du noch, die Frau, die gedacht hat, in ihrem Haus würde es spuken, und die sich einen Geisterjäger aus dem Internet bestellt hat, damit er die Sache für sie erledigt?“ „Und dann stellte sich raus, dass er selber für den Spuk verantwortlich war? Ja, daran erinnere ich mich.“ „Du wusstest es. Du wusstest von Anfang an, dass es ein Schwindel war. Und du hast die Frau davon überzeugen können, weil du so viel Fachwissen hattest. Du hast ihr gesagt, ein echter Geist würde sich nie wie ihrer verhalten – erinnerst du dich?

Sie hat dir quasi aus der Hand gefressen!“ Sie zuckte mit den Schultern, aber sein Lob wärmte sie von innen. „Ich bin ziemlich gut, wenn ich mich mit der Sache auskenne.“ „Und du kanntest dich mit der Sache aus. Du und dein skeptischer Verstand, ihr habt euch immer in Sachen vergraben, die irgendwie unstimmig waren. Du hast alles darüber in Erfahrung gebracht, was du konntest, und dann den Schwindel aufgedeckt.“ „Es ist nicht so, als würde ich nicht an paranormale Phänomene glauben. Ich weiß nur, dass neunundneunzig Prozent der Geister, Kobolde, Hellseher und Medien da draußen Betrüger sind. Ich glaube an das, was ich mit eigenen Augen sehen kann, nicht, was die Leute mir erzählen. Und selbst wenn ich es mit eigenen Augen sehe, glaube ich kaum etwas von dem, was die Regierung oder irgendwelche Autoritätspersonen mir auftischen. Wenn mich das zum Skeptiker macht, bin ich ein Skeptiker.“ „Du bist ein Skeptiker.“ Trotzdem verstand sie noch nicht, was er von ihr wollte. „Ich verstehe immer noch nicht, was ich für

deine … Freundin machen soll.“ „Du sollst sie davon überzeugen, dass ihre beste Freundin nicht von einem Vampir ermordet worden ist.“ Ganz langsam hob Maxine ihren Kopf. Sie sah ihm in die Augen und suchte nach einem Funken des Lachens, der ihr verriet, dass er nur Witze machte. Aber da war keiner. „Vampir?“ „Ja. Ist das die verrückteste, abgefahrenste Sache, die du jemals gehört hast, oder was?“ Ihr Nicken wirkte beiläufig, aber in ihrem Kopf war sie schon zurück in dem ausgebrannten Gebäude, vor fünf Jahren, mit den Soldaten, den Lichtern. Verdammt. Sie hatte gewusst, das würde noch einmal zu ihr zurückkommen. Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen sollte. Dinge, die niemand wissen sollte. „Wann kann ich diese Lydia treffen?“ „Dann machst du es?“, fragte er. Sie sah ihm in die Augen und musste schlucken. „Für dich? Immer, Lou. Du weißt, dass ich dir nichts abschlagen kann. Ich wünschte nur, du

würdest mich irgendwann mal um etwas bitten, was ein wenig mehr Spaß macht.“ Er lachte unsicher, tätschelte ihr den Kopf und wendete seinen Blick ab. Dann ließ er den Motor wieder an und fuhr sie zurück nach Hause.

Keith 7. KAPITEL Dante erwachte in der Dunkelheit seiner Gruft und sah sich um. Er konnte alles sehen. Es war keine richtige Gruft. Nicht im eigentlichen Sinne, auch wenn es nur eine oder zwei verwesende Leichen bräuchte, um zu einer zu werden. Der würfelartige Raum aus Zement war groß, fensterlos, unbelüftet. Hier unten atmete man abgestandene Dunkelheit und Moder statt Sauerstoff. In diesem unterirdischen Raum gab es nur wenige Dinge: eine Kerosinlampe auf einem wackligen alten Tisch und einen Sarg. Und auch wenn er es für ein lächerliches Klischee hielt, in so einem Ding zu schlafen, hatte es seine Vorteile. Zuallererst schreckte es jeden ab, der irgendwie seinen Weg in diesen Raum fand. Jeden, außer Vampirjäger natürlich. Zweitens waren Särge äußerst stabil und haltbar gebaut. Dieser hatte sich seit Dantes letztem Besuch kaum verändert. Das Polster innen war noch weich und intakt, auch wenn es nicht mehr ganz frisch roch. Der Sarg

stand auf einem Rechteck aus Beton aufgebahrt, das ihn über den Boden erhob. Genau deshalb hatte er die Bahre gebaut, und sie war der dritte Vorteil. Innen war sie hohl und führte in einen zweiten Tunnel. Er hatte die Falltür im Boden des Sargs noch nie benutzen müssen, aber es war gut zu wissen, dass es sie gab, sollte es sich ergeben. Dante fühlte sich an diesem Ort geschützt. In Sicherheit. Aber er war nie dafür gedacht gewesen, dort zu wohnen. Er war seine letzte Zuflucht, nicht mehr. Dazu gezwungen zu sein, sich hierhin zurückzuziehen, sollte ihn bloß anspornen, umso schneller etwas dagegen zu unternehmen. Er musste herausfinden, wer diese neuen Vampirjäger waren und woher sie ihre Informationen bekamen. Er musste sie aufhalten. Dante strich sich die Kleider glatt und warf nur einen einzigen Blick auf die Wendeltreppe aus Zement, die zu einer massiven Decke hinaufführte. Dort befand sich eine Falltür im Boden, die von oben nicht zu erkennen war. Als er sie allerdings aus Neugierde öffnete, um zu sehen, was diese Frau aus seinem Haus gemacht hatte, war er auf

eine hölzerne Barriere gestoßen. Irgendwer hatte anscheinend in seinem Arbeitszimmer einen neuen Parkettboden über den alten gelegt. Oh, natürlich hätte er das Holz mit Leichtigkeit durchbrechen können, aber auf seine Gegenwart aufmerksam zu machen war das Letzte, was er im Sinn hatte. Schlimm genug, dass sie in der ersten Nacht, kurz vor Sonnenaufgang, einen Blick auf ihn erhaschen konnte. Sie hatte ihn direkt angesehen und seinen Namen geflüstert. Trotz der Entfernung hatte er es deutlich gehört. Seine Sinne waren durch die Jahrhunderte der Unsterblichkeit und, wie er glaubte, auch durch den Konsum von Blut, geschärft. Lebendes Blut war für seine Art wie pure Macht. Sie hatte seinen Namen gesprochen. Und er hatte sie gehört, aber auch in seinem Geist vernommen. Er hatte den Widerhall ihres Flüsterns in seinen Gedanken gefühlt. Und er hatte die intensive Sehnsucht, die darin lag, spüren können. Und sogar in seinem eigenen Herzen vernahm er ein Ziehen, auch wenn das wirklich überhaupt keinen Sinn ergab. Er kannte diese Frau nicht einmal. Aber sie

kannte anscheinend ihn. Das gab ihm Rätsel auf und marterte sein Gehirn. Hatte sie seinen Namen auf irgendeinem Papierfetzen gefunden, den er im Haus hatte liegen lassen? Er stand nicht auf dem Kaufvertrag – damals hatte er einen falschen Namen benutzt. Und selbst wenn sie seinen Namen irgendwo entdeckt hatte, erklärte das noch nicht, wie sie ihn mit dem Fremden am Strand in Verbindung bringen konnte, auf den sie im Dunkel der Nacht nur einen kurzen Blick erhaschte. Sie hatte ihn erkannt. Das alles war ihm mehr als rätselhaft. Ganz sicher war sie eine der Auserwählten, eine der wenigen besonderen Sterblichen mit dem seltenen Belladonna-Antigen in ihrem Blut. Genau das Antigen, das auch in allen Vampiren vorhanden war. Sie waren die einzigen Sterblichen, die sich erfolgreich verwandeln ließen. Und sie zogen seine Art an wie Magneten. Viele Vampire sahen es als Ehrensache an, über die Auserwählten zu wachen. Sie zu beschützen. Dante hatte das immer extrem leichtsinnig gefunden. Sich zu Sterblichen hingezogen zu fühlen, sich auch nur das Geringste

aus ihnen zu machen, ließ einen Vampir nur verwundbar sein, schwach. Es hieß, einem Vampir war es fast unmöglich, einem von ihnen zu schaden, wenn er nicht wahnsinnig war oder vor Lust den Verstand verlor. Blutlust wahrscheinlich. All das und noch mehr musste er über die Frau in seinem Haus herausfinden. Obwohl er schon jetzt die legendäre Anziehung spürte, die zwischen seiner Art und ihrer bestand. Doch er konnte dagegen ankämpfen. Er brauchte sie nur für die Informationen. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal etwas von dem Antigen in ihrem Blut, das sie von den anderen Sterblichen unterschied. Er wusste selbst nicht viel darüber, nur, dass es sich bei allen Vampiren finden ließ. Und von der geistigen Anziehungskraft, die zwischen Sterblichen mit dem Antigen und Vampiren bestand. Man konnte es an ihnen riechen wie ein Parfum. Und auch jetzt lag dieser Geruch in der Luft! Über seinem Kopf erklangen Schritte auf dem Boden, und Dante richtete sich abrupt auf und horchte. Sie war es. Er spürte sie. Ihre Füße waren

entweder bloß oder nur in etwas Weiches gekleidet, Socken oder Strümpfe oder dünne Pantoffeln. Sie blieb stehen. Direkt vor dem Kamin, falls es den Kamin noch gab. Dante konnte nicht widerstehen und stellte sich genau unter die Stelle, an der sie stand. Er hob die Arme über seinen Kopf, legte seine Handflächen an die Decke, schloss seine Augen und öffnete seinen Geist. Morgan beugte sich vor, um den Knopf am Gaskamin zu betätigen. Das Feuer flackerte auf, und sie blieb einen Moment einfach stehen und bewunderte die Flammen. Und dann, ganz plötzlich, bekam sie ein sehr flaues Gefühl im Magen. Das Blut schien ihr aus dem Kopf zu weichen, und ein eiskalter Schauer lief ihr die Wirbelsäule hinauf. Sie stützte sich mit den Händen am Kaminsims ab, beugte sich vor, und atmete mehrmals tief und zitternd durch. „Was zum Teufel war das?“, flüsterte sie. Dann wurde sie sehr ruhig und hob langsam ihren Kopf. Blinzelnd drehte sie sich um, sah hinter sich.

„Wer ist da?“ Keine Antwort. Das Haus blieb still, leise, leer. David war vor Stunden nach L.A. aufgebrochen. Und doch hatte sie das untrügliche Gefühl, nicht alleine zu sein. Mit einigen tiefen Atemzügen schaffte sie es, sich zu beruhigen, Natürlich hatte sie sich das alles nur eingebildet. Genau wie sie sich den Mann auf den Klippen letzte Nacht eingebildet hatte. Den Mann, der ihrer Vorstellung von Dante genau entsprach, diesem Wahnsinnigen, der vor einem Jahrhundert in ihrem Haus gelebt hatte. Vielleicht verbrachte sie etwas zu viel Zeit vergraben in seinen Tagebüchern. Natürlich tat sie das. Aber warum sollte sie nicht, wenn sie doch nichts anderes mehr tun wollte? Sie zwang sich, den Raum zu durchqueren und zu ihrem Schreibtisch zu gehen, auch wenn ihre Füße sich zuerst jeder Bewegung verweigerten. Das ungute Gefühl ließ nach, als sie sich in ihren Stuhl setzte, den Computer hochfuhr und die Datei öffnete. Sie arbeitete nachts besser als am Tag. Kein Wunder, bei diesem Thema.

Die Szene, an der sie gerade schrieb, spürte sie in jeder Faser ihres Körpers. Als sie seinen Bericht in den Tagebüchern gelesen hatte, durchlebte Morgan alles selbst. Und jetzt durchlebte sie es erneut, als sie die Geschichte in ihren Computer bannte. Zum ersten Mal aus der Sicht einer Frau erzählt. Dantes Opfer. Die Frau hatte bemerkt, wie der dunkle Fremde sie nachts beobachtete – aber sie hatte sich ihm nie genähert. An ihm war etwas Gefährliches, und doch strahlte er etwas aus – etwas Sündiges. Das zog sie an, lockte sie, führte sie mit unreinen Gedanken in Versuchung, die sie kaum unterdrücken konnte. Und dann, eines Nachts, kam er zu ihr, während sie in ihrem Bett schlief. Sie wurde durch seinen Mund auf ihrem geweckt. Auch wenn sie nicht wirklich wach war. Eine Stimme in ihrem Kopf versicherte ihr, alles wäre nur ein Traum. Ein Traum, in dem sie ihm nicht widerstehen konnte. Und so ergab sie sich willig, sogar eifrig, seinen Berührungen, seinen Befehlen. Es war gut, weil es nicht real war. Und am Morgen erinnerte sie sich

an nichts mehr als einen beschämenden Traum. Während sie die Szene niederschrieb, wurde Morgan in ihrer Vorstellung selbst zu dieser Frau. Dantes ahnungslose Liebessklavin. Sie spürte jede Berührung, die sie beschrieb. Schmeckte seinen Mund auf ihrem, fühlte, wie seine Zunge in sie eindrang, ihre Beschaffenheit, ihre kühle Feuchtigkeit, die einen Pfad über ihr Kinn und ihren Hals bis hinab zu ihren Brüsten zeichnete. Sie keuchte leise auf, als seine Lippen sich um ihre Brust schlossen, ohne das Nachthemd auszuziehen. Der Impuls, ihn von sich zu stoßen, die Scham, die Schuld … Aber es ist nur ein Traum. Du kannst dich nicht bewegen, Liebling. Es ist nur ein Traum. Sie schmolz vor Wonne, als er an ihr saugte und dann jede Brustwarze mit den Zähnen kniff, während sie vor Lust erbebte. Morgans Herz klopfte schneller, ihre Finger rasten über die Tastatur. Sie lag auf ihrem Bett, gelähmt durch den Traum, und Dante zog ihr das Nachthemd mit sicheren Händen über den Kopf. Dann liebkoste er ihre

Haut, berührte und neckte sie an Stellen, die sie nie gewagt hatte, von einem Mann berühren zu lassen. Er drang in alle ihre geheimsten Orte ein. Er drang in ihre Seele ein. Und es gefiel ihr. Alles. Sie wollte mehr. Seine Augen. Lieber Gott, seine Augen, wie sie brannten, wenn er in ihre blickte. Er zwang sie, befahl ihr, ruhig zu sein. Sich zu ergeben. Es ist nur ein Traum, dachte sie. Ich kann nicht aufwachen, und ich kann mich nicht bewegen. Also ist es in Ordnung. Es ist in Ordnung, ihn tun zu lassen, was er tun wird, denn ich habe keine andere Wahl. Mit den Fingern erforschte er die feuchte Stelle zwischen ihren Beinen und bewegte sie zuerst ganz langsam, als er eingedrungen war. Sein Daumen fand den empfindlichsten Punkt an ihrem Körper und drückte und massierte ihn, während sich seine Finger immer schneller bewegten. Plötzlich bemerkte sie, dass sie nicht wie leblos auf dem Bett lag, denn voller Wollust öffnete sie ihre Beine für ihn. Er beugte sich näher zu ihr und massierte sie mit geschickten Händen, auch als ihr ganzer Körper unter seinen Händen zu zucken begann.

Sein Mund öffnete sich, und er küsste ihren Hals, saugte ihre Haut zwischen seine Zähne und biss zu. Seine Zähne gruben sich in ihre Kehle, während der Orgasmus durch ihren Körper fuhr. Morgan schrie laut auf. Ihr ganzer Körper bebte, sie legte eine Hand an ihren Hals, wo sie das Gefühl hatte, ein Mund trank an ihr. Ihr Herz klopfte schnell, sie war feucht und selber kurz vor dem Höhepunkt, selbst wenn niemand sie angefasst hatte. Sie atmete scharf ein und stand unstet auf, um sich vom Computer zu entfernen. Lieber Gott, es war so echt. Sie hatte gespürt, wie seine Zähne ihre Haut durchstoßen hatten. Seine Mund auf ihrem, seine Hände auf ihrem Körper, seine Finger … Und dann dieser kurze scharfe, herrlich stechende Biss. Noch nie war sie so erregt gewesen, stellte sie zitternd fest. Sie löste ihre Hand langsam von ihrem Hals und betrachtete ihre Handfläche. Sie war sich sicher gewesen, dort Blutspuren zu finden. Aber da war nichts. „Lieber Gott, was ist das? Was geschieht mit

mir?“ Auf wackligen Beinen drehte sie sich um, sah auf die Uhr und merkte, dass die Zeit wie im Flug vergangen war. Die Seitenzahl in der Ecke ihres Bildschirms verriet ihr, dass sie ein Dutzend Seiten düsterster Erotika verfasst hatte, und sie fragte sich, wie zum Teufel sich das auf die Leinwand übertragen sollte. Konnte es nicht. Sie warf einen Blick auf die vollgeschriebenen Seiten, markierte schließlich alles und drückte auf „Löschen“. Stattdessen fügte sie die Bühnenanweisungen ein, aus denen die Schauspieler und der Regisseur machen konnten, was sie wollten. „Sie haben leidenschaftlichen Sex, ohne es zum Vollzug kommen zu lassen. Er trinkt von ihr. Am nächsten Tag erinnert sie sich nur an einen Traum.“ Als sie damit fertig war, speicherte sie die Datei ab, schaltete den Computer aus und blieb blinzelnd davor stehen. Sie fragte sich, was zum Teufel da eben von ihr Besitz ergriffen hatte. Morgan war auf eine Reise gegangen. Ein

Rundflug durch ihre Vorstellungskraft. In ihren Gedanken hatte sie jede Berührung gespürt. Und auch wenn sie schon vorher an Dante gedacht hatte, daran, mit ihm zu schlafen, oder eher mit dem Charakter, den er in seinen wahnsinnigen Ausführungen darstellte, war es nie so echt gewesen. So lebendig. Sie war feucht. Ihre Haut fühlte sich heiß an, ihre Brüste schwer und empfindlich. Und das Blut pulsierte rasch in ihrem Hals, dort, wo sie seinen Mund noch immer spürte. Auf unsicheren Beinen wankte sie nach oben, um sich ein kühles Bad einzulassen. Es war höchste Zeit für einen neuen Liebhaber. Sie war anscheinend ziemlich frustriert. Dante hatte sich bewegt, als auch sie sich bewegt hatte, und seine Hände dort, wo sie saß, gegen den Boden gepresst. Er hatte sie auf der anderen Seite der hölzernen Barriere gespürt und seinen Geist für ihren geöffnet. Was er dort fand, fesselte ihn. Sie dachte an sich selbst. Und weil sie sich selbst deutlich vor ihrem inneren Auge sehen konnte, konnte auch er sie dort

sehen. In ihrer Vorstellung war sie nicht so dünn und blass wie in Wirklichkeit. Sie war gesund und besser in Form. Ihre Haare waren dieselben, rostrot, lang und kräftig. Ihre Augen – er hatte vorher nicht die Gelegenheit gehabt, ihr in die Augen zu sehen. Sie waren Smaragde, die unter einem Vorhang aus Tränen glänzten. Sie lag auf einem Bett, von weißen Vorhängen eingehüllt, und er selbst, Dante, stand über ihr und starrte auf sie hinab. Er sah sein eigenes Gesicht deutlich in ihren Gedanken, auch wenn es hinter den Nebeln ihrer Fantasie verschwamm. Wenn sie sich konzentrierte, teilten sich diese Nebel. Seine Gesichtszüge waren präzise. Es war sehr, sehr lange her, seit Dante das letzte Mal in einen Spiegel gesehen hatte. Aber das hier war nicht zu vergleichen. Wie umschattet sein Gesicht wirkte. Wie tief seine Augen lagen. Wie breit sein Mund war. Es erstaunte ihn, sich selbst in ihren Gedanken zu finden. Und nur für einen Augenblick musste er sich aus ihrer Vision zurückziehen. Er konnte nicht atmen, wenn er so tief in ihr versunken war. Den

dunklen Raum betrachtend, in dem er sich befand, nahm er ein leises klapperndes Geräusch wahr. Schnell und unregelmäßig, dann und wann unterbrochen. Und dann spürte er das Zittern der Frau über ihm und wendete ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu. Er richtete sich auf die Vision aus, die sich in ihren Gedanken entfaltete, während das merkwürdige Klappern schneller wurde. Er sah, wie er selbst die Frau auszog, und hörte sich dabei zu, wie er ihr einredete, alles wäre nur ein Traum, und sie hätte keine Kontrolle darüber, was geschehen würde, und trug deshalb auch keine Verantwortung dafür. Weil es nicht real war, konnte sie es sich erlauben, Dinge zu empfinden, die sie sonst nie ohne Schuldgefühle oder Scham empfinden könnte. Er bat sie, sich ihm zu ergeben, und sie seufzte zustimmend. Dann kniete er sich neben das Bett und zog sie langsam aus, während sie nur dalag, ihm nicht widerstehen konnte und es auch gar nicht wollte. Die Szene breitete sich vor ihm aus, hypnotisierte ihn und hielt ihn gefangen. Sein Geist war

gefesselt, als der eingebildete Dante jeden Körperteil dieser Frau berührte und liebkoste, erst mit seinen Händen, dann mit seinen Lippen. Er spürte alles, was sie in ihrer Fantasie empfand, konnte sie riechen, fühlen und schmecken. Und als er sah, wie er seine Zähne in ihren Hals schlug, sah, wie sie sich in das zarte Fleisch gruben, biss er selbst unbewusst die Zähne zusammen, und schmeckte für einen köstlichen Augenblick ihr Blut auf seiner Zunge und ihren Orgasmus, der durch ihren ganzen Körper bebte und sie seinen Namen schreien ließ. Dann zerplatzte die Vision. Sie musste aufgesprungen sein, er hörte, wie ihre Füße den Boden berührten. Der Raum war wieder schwarz, und er stand einfach da, unter ihr, und zitterte von Kopf bis Fuß am ganzen Körper. Gegen die kühle Zementwand gelehnt, rang er schließlich nach Atem. Was zum Teufel machte diese Frau mit ihm? Woher kannte sie sein Gesicht, seine Stimme, warum verstand sie die dunkle Macht, die er besaß? Woher konnte sie wissen, was er war?

Wollte sie das, wovon sie in so lebhaften Details träumte, als würde sie die Szene laut beschreiben, wie eine Zigeunerin, die alte Geschichten erzählte? War es das, worum es ging? Begehren? Lust? Er war hart, erregt und hungrig. Verdammt hungrig. Er wusste viel zu wenig über die auserwählten Sterblichen und ihre Verbindung zu den Untoten. Aber er hatte bereits gespürt, dass diese Verbindung viel stärker war, als er bisher angenommen hatte. Und deshalb musste er unbedingt mehr herausfinden. Dante musste trinken. Aber nicht von ihr. Lieber Gott, wenn die Fantasie schon so betäubend gewesen war, wie würde dann die Realität aussehen? Wahrscheinlich würde er sie umbringen. Wenn er sie berührte, würde er alle Kontrolle verlieren und alles nehmen, was sie zu geben hatte. Ihren Körper. Ihr Blut. Ihr Leben. Obwohl er versuchte, diese hartnäckigen Bilder abzuschütteln, blieb doch die Lust, die sie in ihm geweckt hatte, ließ sich nicht so einfach ignorieren.

Er schritt auf die geschwungene Stahltür am Ende des Raumes zu, entriegelte sie und betrat den höhlenartigen Tunnel davor. Dann machte er sich auf den Weg in die Stadt. Um zu trinken. Morgan lag in ihrem opulenten Badezimmer im kühlen Badewasser und versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben. Oh, sie hatte schon früher von Dante geträumt, aber es war immer ganz deutlich gewesen, dass es sich eben nur um einen Traum handelte. Und sie sah jeden Tag durch seine Augen und in seine Gedanken, wenn sie seine Geschichte niederschrieb und nach Herzenslust ausschmückte. Allerdings hatte sie bisher immer gewusst, dass all das ihrer Fantasie entsprang. Alle Autoren lebten in den Köpfen ihrer Figuren. Aber sie wussten, was Wirklichkeit war, und was nicht. Dieses Mal war es anders gewesen. Dieses Mal hatte sie seine Hände auf ihrer Haut gespürt, seinen Atem an ihrem Hals, seine Zähne in ihrer Haut, seinen Mund, der an ihr saugte. Es war echt gewesen.

Und atemberaubend. Mit einem Seufzen glitt sie tiefer ins Wasser, schloss ihre Augen und versuchte an etwas anderes zu denken, egal was. Die Preisverleihung. Das Kleid, um das sie sich immer noch nicht gekümmert hatte. Die Zeit, die sie in L.A. verbringen musste. So wenig wie möglich. Irgendetwas ging hier vor. Etwas, um das sie sich kümmern musste, bis sie es ganz und gar verstand. Sie würde nirgendwo hingehen, solange sie das nicht tat. Sie konnte genauso gut gleich damit anfangen. Sie schloss ihre Augen und stellte sich noch einmal die Szene vor, die sie gerade geschrieben hatte. Beugte ihre Knie, bis sie aus dem Wasser ragten, und glitt mit der Hand an ihrem Schenkel hinab. Sie berührte sich selbst und stellte sich vor, es wäre seine Hand. Sie bebte und flüsterte seinen Namen. „Dante …“ Er konnte sich sehr schnell fortbewegen, wenn er es musste, und heute Nacht war es dringend nötig. Bereits eine Stunde später kam er in Bangor an und

ging mit wachsamen und scharfen Augen durch die Straßen. Nach kurzer Zeit hatte er sie gefunden. Sie musste nicht arbeiten, nicht mit dem, was er ihr bezahlte, damit sie sich für ihn bereithielt. Und er hatte keine Zeit, eine Unschuldige zu verführen oder ein Opfer zu jagen, das den Tod verdient hatte. Nicht heute Nacht. Heute Nacht brauchte er Befriedigung, die schnell und ohne Fragen gewährt wurde. Sie öffnete die Tür, als sie das Klingeln vernahm und lächelte ihn an. „Es ist eine Weile her.“ Er nickte, trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Möchtest du etwas …“ „Nein. Komm her.“ Sie schien sich zu fürchten, obwohl dazu kein Grund bestand. Sie hatten es schon oft genug getan. Dante versuchte, seine Gesichtszüge zu glätten, bemühte sich sogar um ein Lächeln. „Komm her.“ Sie schluckte und trat näher. Ihre Hände drückten gegen seine Brust, fuhren sein Hemd hinauf und legten sich um seinen Hals. Sie ließ ihren Kopf zurückfallen. Dante zögerte nicht. Er beugte sich hinab und biss

zu. Sie keuchte, wurde regungslos, entspannte sich dann sehr langsam und schmolz gegen ihn. Ihr Blut ergoss sich über seine Zunge, rann seinen Hals hinab, füllte ihn, wärmte ihn. Leben wirbelte durch seine Adern, er spürte das Kribbeln und wie es ihn selbst zum Leben erweckte. Begehren begann sich in ihm zu rühren. Er schmiegte sich an sie, während er trank. Seine Hände glitten an ihr hinab und pressten ihre Hüften gegen seine. Lieber Gott, wie er es brauchte, sich sehnte, hungerte! Ihr Blut rann mit jedem Schlag ihres Herzens in seinen Mund – doch dann wurde es langsamer. Erschreckt löste er sich von ihr, leckte sich die Lippen – sie war einfach köstlich – und sah zu ihr hinab. Der Kopf der blonden Frau hing zu einer Seite hinab. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Haut war sehr blass. In ihrem Hals klafften zwei kleine Löcher, und aus jedem von ihnen rann ein Band aus Blut. Jesus, hatte er sie umgebracht? „Belinda? Komm schon, wach auf.“ Er schüttelte sie sanft und klopfte ihr die Wangen.

Ihre Augenlider flatterten, hoben sich aber nicht. Mit einem Seufzen nahm er sie in seine Arme, trug sie zum Sofa und legte sie dort nieder. Er schob ein Kissen unter ihre Füße und legte dann eine Decke um sie. Dann endlich begann sie, sich zu regen und ihre Augen langsam zu öffnen. Ihr Lächeln war schwach. „Verdammt, war das gut“, flüsterte sie. „Alles in Ordnung?“ Langsam atmete sie ein und schien sich erst selber wieder zurechtfinden zu müssen. „Schwindlig. Benommen wie nur was. Das ist noch nie passiert.“ Ihre Worte kamen lallend, als wäre sie betrunken. Er hatte zu viel genommen. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Meine Schuld. Ich … es wird nicht wieder vorkommen.“ Sie lächelte schwach. „Mir gefällt es. Es wäre nur schön, wenn du dich auch auf andere Art bedienen würdest, wenn du schon mal hier bist. Ich würde es dir besorgen, bis du schreist, Baby. Warum lässt du mich nie?“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Das ist nicht Teil der Abmachung.“ Er atmete tief ein und

seufzte. „Es wird dir bald besser gehen. Schlaf jetzt, in Ordnung?“ „Alles, was du sagst, Baby. Du bist der Boss.“ Sie schloss ihre Augen, und er spürte fast sofort, wie sie einschlief. Dante stand auf, nahm zehn Hundertdollarscheine aus seiner Tasche und legte sie auf den Couchtisch. Ein Bonus für Belinda, die früher ihren Körper verkauft hatte, um über die Runden zu kommen, jetzt aber nur noch ihr Blut anbot und so zehnmal mehr verdiente. Sie war seine Privathure. Es war ihm wichtig, ihr nie zu nahe zu kommen, zu viel Zeit mit ihr zu verbringen oder sie mehr zu berühren, als unbedingt nötig war. Und er trank nur ein paarmal im Jahr von ihr. Er hatte noch andere, im ganzen Land verteilt, und in Europa. Belinda zog freiwillig zwischen drei Städten an der Ostküste umher, damit sie sein konnte, wo er sie brauchte, wenn er sie brauchte. Er hielt sie in prachtvoll ausgestatteten Apartments und bezahlte ihr einen großzügigen monatlichen Lohn. Sie beschwerte sich nie. Er wusste nicht, was sie oder die anderen von ihm

hielten. Ob sie wussten, was er war oder ihn für einen reichen Mann mit einem Vampirfetisch hielten. Er wusste nur, dass sie nie ein Wort verraten würden. Die Bezahlung war viel zu gut, und er hatte von Anfang an mehr als deutlich gemacht, dass das Geld und auch die Frauen selbst verschwinden würden, wenn sie von ihm und seinem außergewöhnlichen Appetit sprachen. Dante hatte sie auf der Straße aufgelesen. Meistens in der Gosse. Wenn man jemanden aus diesem Elend holte, war er normalerweise dankbar genug, um loyal zu bleiben. Man konnte niemandem vertrauen, der reich geboren worden war. Jedenfalls war er immer dieser Meinung gewesen. Zum Beispiel diese Frau, die jetzt in seinem Haus in Maine wohnte. Sie war reich geboren worden. Das konnte er riechen. Er vertraute ihr nicht. Und jetzt, da er seinen Blutdurst gestillt hatte, konnte er in Ruhe zu ihr zurückkehren und sich ihr nähern, um herauszufinden, was sie wirklich wusste. Noch das kleinste Geheimnis würde er entdecken.

Keith 8. KAPITEL In dieser Nacht kam er wieder zu ihr. Und wieder wusste sie, es war nur ein Traum. Sie war nach ihrem Bad zu Bett gegangen. Und sie hatte die Balkontüren offen gelassen, fast wie eine Einladung. Fast als hielte sich ein lächerlicher Teil ihres Verstandes an der irrsinnigen Idee fest, er könne tatsächlich eine reale Gestalt sein. Ausgedachte Figuren wurden nicht einfach so lebendig und besuchten ihre Autoren, redete sie sich selbst ein. Und warum bürstete sie sich dann so lange die Haare, bis die immer gleiche Armbewegung sie erschöpfte? Warum trug sie den kurzen, durchsichtigen schwarzen Morgenmantel auch noch beim Zubettgehen? Sie war so dumm. Sie war wie besessen. Verliebt in einen Mann, der nicht existierte. Wahrscheinlich war sie verliebt in einen Mann, den es nie gegeben hatte, der nur die Ausgeburt eines wahnsinnigen Autors war. Der dunkle Einzelgänger, Dante, die unsterbliche erotische Kreatur der Nacht, war nie

echt gewesen. Er war nur das Hirngespinst eines Tagebuchschreibers. Und doch war sie vollkommen und unabdingbar besessen. Sie lag lange Zeit wach und flehte ihn stumm an, in ihren Träumen zu erscheinen, während sie schlief. Endlich übermannte sie doch der Schlaf. Und dann spürte sie eine kühle Brise, die durch die offenen Balkontüren wehte, und wusste, er war gekommen. In ihrem Traum öffnete sie die Augen und sah ihn, wie er am Fuß ihres Bettes stand und sie mit einem Blick wie brennender Onyx anstarrte. Und wieder war es anders als alle vorherigen Träume. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass es unmöglich war, sie hätte alles für real gehalten. „Dante“, flüsterte sie. Er hob seine Augenbrauen, als wäre er überrascht. „Die meisten Frauen würden anders reagieren, wenn sie beim Aufwachen einen Fremden vorfinden, der sie im Schlaf beobachtet hat.“ „Du bist kein Fremder“, flüsterte sie. „Ich kenne

dich.“ „Das habe ich schon gemerkt.“ Seine Stimme war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Tief und sehr weich. Erotisch. Aber auch klar und voll. „Was ich gerne wissen würde ist … wie?“ Die Morgan, die sie im Traum war, setzte sich im Bett auf. Sie ließ ihre Decke hinabfallen. Ließ zu, dass er sie sah. Sie wollte gesehen werden. „Wie?“ Er antwortete so, wie sie es sich gewünscht hatte. Natürlich tat er das. Es war ihr Traum. Sein Blick wanderte langsam ihren Körper hinab und blieb an ihren Brüsten hängen, die durch den dünnen schwarzen Stoff deutlich hervortraten. „Woher kennst du mich?“ Sie schloss ihre Augen und spürte, wie ihr Körper auf seinen Blick reagierte wie auf eine Berührung. „Ich bin mir selbst nicht sicher. Es ist, als wäre ich vollkommen besessen von dir.“ Sie öffnete die Augen und starrte ihn an. „Oder vielleicht will ich es einfach sein.“ „Willst du?“ „Es ist merkwürdig, weißt du. Ich habe noch nie

für einen Mann empfunden, wie ich für dich empfinde. Und du – du bist nur eine Fantasie. Ein Traum.“ Sie wandte ihren Blick von ihm ab. „Wahrscheinlich ist es gut so. Besser sogar. So wird niemandem wehgetan.“ Er legte seinen Kopf zur Seite. „Ein Traum soll ich sein?“ Morgan nickte. Lächelnd blickte er sie an. „Willst du, dass ich das für dich bin? Ein Traum? Wie der, den du heute Abend hattest?“ Eine Welle des Begehrens und der Angst breitete sich in ihrem Körper aus. Eine berauschende Mischung. Sie antwortete nicht, aber er bewegte sich weiter auf sie zu, bis er neben ihrem Bett stand. Dann streckte er eine Hand aus, nahm ihr Laken und zog es langsam an ihrem Körper hinab, bis ihre Hüften, Beine und Füße bloß lagen. „Sag mir, was ich wissen will, und ich komme deiner … Bitte vielleicht nach.“ Er setzte sich auf ihre Bettkante. Sie hatte sich halb ausgestreckt und gegen das Kopfteil gelehnt. Er streckte seine Hand wieder aus und fuhr mit dem Handrücken über ihre

Brüste. Seine Fingerknöchel streiften die Brustwarzen gerade so. „Fangen wir mit deinem Namen an.“ „Morgan. Morgan De Silva.“ „Sehr gut.“ Er drehte seine Hand um und kniff leicht in ihre Brustwarze, ihre Belohnung, die sie vor Wonne aufkeuchen ließ. „Ich frage mich, Morgan, wärest du auch so willig, wenn du mich für real hieltest?“, fragte er und streichelte dabei sanft immer wieder über ihre wohlgeformten runden Brüste. „Wärest du echt, würdest du mich zu dem machen, was du bist.“ Die Worte erstaunten ihn. Er hörte auf mit seinen verführerischen Liebkosungen und sah ihr fest in die Augen. „Warum sollte ich das tun?“ „Weil wir füreinander bestimmt sind, Dante. Du bist ein Teil von mir, und ich bin ein Teil von dir.“ Sie senkte ihren Blick. „Es ist eine Fantasie, ja. Aber in der Realität hätte ich genau dieselben Gefühle. Und du könntest ihnen genauso wenig widerstehen wie ich.“ Nur einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, in

seinen Augen einen Funken Angst aufglimmen zu sehen. Seine Hand ruhte noch immer auf ihrer Brust, die sie nun mit ihrer eigenen bedeckte. „Aber du bist nicht real. Selbst wenn meine Fantasie auf einmal viel wirklicher geworden ist, als sie es je vorher war.“ Sie sah hinab auf die Hand an ihrer Brust. „Ich kann dich spüren.“ Seine Finger nahmen ihre gleichmäßigen Liebkosungen wieder auf. „Ich möchte alles mit dir spüren, Dante. Alles, was ich mir vorgestellt habe.“ Er zog seine Hand fort. „Unmöglich.“ „Natürlich ist es möglich. Im Traum ist alles möglich.“ „Ich muss gehen.“ Er stand auf, doch noch ehe er nur einen Schritt in Richtung der Tür getan hatte, war sie ebenfalls aufgestanden, hatte ihn an der Schulter gepackt und zu sich gedreht. Zögerlich wandte er sich ihr zu, als hätte er es lieber nicht getan, und als sie seiner Aufmerksamkeit gewiss war, ließ sie die Träger ihres Nachthemds von ihren Schultern gleiten und

den Stoff zu Boden fallen. Sie stand nackt vor ihm. Seine Augen betrachteten ihren ganzen Körper und verschlangen jeden kleinsten Teil von ihr. Sie nahm seine Hand und zog ihn zurück zu ihrem Bett. Dort legte sie sich auf den Rücken. „Nimm mich, Dante.“ Sie schob ihr Haar von ihrem Hals. „Trink von mir. Ich will es wieder spüren, so wie vorhin. Ich will von dir besessen sein, mit Blut, Seele und Körper.“ Sie sah, wie er bebte, aber sie hielt immer noch seine Hand und zog ihn sanft näher zu sich. Wieder setzte er sich auf ihre Bettkante, und diesmal richtete sie sich auf, presste ihre Lippen auf seine und schlang ihre Arme um seinen Hals. Seine Küsse waren fordernd, er labte sich an ihrem Mund und kostete ihre Zunge, kratzte mit seinen scharfen Zähnen daran, bis einige Tropfen Blut austraten. Als er sich endlich auf sie legte, schob er ein Knie zwischen ihre Knie und drängte sie auseinander, und jetzt konnte sie auch seine Härte spüren, die sich durch den trennenden Stoff seiner Jeans hindurch gegen ihre nackte Mitte presste.

Sie griff nach seinem Reißverschluss. Mit einer Hand gebot er ihr Einhalt und zog die ihre dann vorsichtig zurück, ehe er den Kuss abbrach. „Ich werde dir wehtun“, flüsterte er. „Du kannst mir nicht wehtun. Wir sind in meinem Traum.“ Schwer atmend setzte er sich wieder auf. „Schließ deine Augen, Morgan“, flüsterte er, „und ich gebe dir, was du willst.“ Erwartungsvoll tat sie, wie ihr geheißen. Sie schloss die Augen. Er beugte sich wieder dicht zu ihr hinab, und seine Lippen waren jetzt ganz nah an ihrem Ohr. „Ergib dich mir“, flüsterte er, langsam, und wiederholte seine Worte immer wieder. „Öffne dich mir. Lass mich in dich eindringen. In deinen Geist.“ „Ja“, flüsterte sie ergeben. Sie öffnete die Beine für ihn, aber er berührte sie nicht. Und doch spürte sie ihn. Ohne sie zu berühren, streichelte er sie. Wie Geister glitten seine Finger über ihre Haut, streichelten und liebkosten sie überall und doch nirgendwo. Ihre Gedanken nahmen das alles auf,

sie konnte es spüren, als wäre es real, aber sie wusste, er hatte sich nicht bewegt, keinen Muskel. Er saß da wie vorher und starrte sie an. „Genau so“, flüsterte er. „Lass dich gehen. Spür mich, Morgan. Ich bin in dir und um dich. Spürst du mich?“ „Ja!“ „Um dich, in dir, ich besitze dich, du gehörst mir. Dein Körper ist unter meinem Bann: Ist es nicht so, Morgan?“ Nur ein Nicken war ihre Antwort, während sie sich auf dem Bett wand und drehte und sich nach mehr sehnte, nach so viel mehr. Nah an ihrem Ohr befahlen seine Lippen ihr das Ersehnte. „Komm, Morgan.“ Der Orgasmus erschütterte sie wie eine Explosion. Sie schrie seinen Namen, schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn fest an sich. Und dann spürte sie es. Sein Mund öffnete sich und schloss sich über ihrem Hals. Seine Zähne drangen durch ihre Haut, und dann das köstliche Saugen. „Ja, ja, ja“, stieß sie hervor, als der Höhepunkt in Wellen immer wieder kam, tausendfach verstärkt

durch sein Trinken. Und dann wurde sie ruhiger, verlor sich ganz in ihm. Dante leckte sich das Blut von den Lippen und hob seinen Kopf. Er hätte nicht von ihr kosten dürfen. Verdammt, er hatte es nicht vorgehabt. Ihre Arme fielen von seinem Hals. Behutsam legte er Morgan zurück auf die Kissen. Dann richtete er sich auf, deckte sie zu, drehte sich ab und schloss die Augen. Schon jetzt sehnte er sich nach mehr. Nur mit der Kraft seines Geistes war es ihm gelungen, sie zu befriedigen. Aber auch auf ihn hatte es eine genauso starke Wirkung gehabt. Und als sie ihn an sich gezogen hatte, als sie sein Gesicht an ihren Hals gedrückt hatte und unter ihm erbebt war und sich aufbäumte, hatte er sich in ihrem Duft verloren. Das Blut, das so dicht unter ihrer Haut raste, ihre Hände, die ihn immer näher zogen, ihr Hals, der sich ihm entgegenbog. Also hatte er sie genommen. Ohne nachzudenken hatte er seine Zähne in ihr sinnliches Fleisch gesenkt und von ihr getrunken.

Nur ein wenig. Dennoch hatte es eine Macht auf ihn ausgeübt, die er sich nicht erklären konnte. Sie erschütterte ihn. Ihre Lebenskraft in seinem Körper. Sie brachte ihn zum Erbeben. Sie brachte ihn dazu, mehr zu wollen. Dante stand vom Bett auf und machte fast strauchelnd zwei Schritte auf das Fenster zu, ehe er sich wieder in der Gewalt hatte. Nein. Er konnte sie nicht verlassen, nicht jetzt. Sie schlief, und auch wenn er nur wenig in ihr Denken eingedrungen war, hatte er dort Blätter gesehen, die mit seiner eigenen Handschrift beschrieben zu sein schienen, und einen Raum – der ihm bekannt vorkam. Sein Arbeitszimmer. Was das alles zu bedeuten hatte, war ihm noch unklar, aber er war hergekommen, um genau das herauszufinden. Dante warf noch einen Blick zurück auf das Bett, in dem sie tief schlief, und traf seine Entscheidung. Er würde sich von seiner hitzigen Zuneigung zu irgendeiner Sterblichen bestimmt nicht von seiner Aufgabe abbringen lassen. Und doch hatte er Schwierigkeiten dabei, seinen Blick von den zwei

kleinen Löchern in ihrem Hals und den roten Spuren, die daraus hervordrangen, zu lösen. Fast hätte er sich hinabgebeugt, um die entkommenen Tropfen aufzulecken, doch er entsagte. Gott allein wusste, er konnte genauso leicht ihre Kehle herausreißen. Er bewegte sich leise, ohne jedes Geräusch, am Fußende des Bettes vorbei auf die Tür zu. Dann öffnete er sie und schlüpfte hinaus auf den dunklen Flur. Die Schlafzimmertür zog er hinter sich zu. Plötzlich rissen die Nebel der Zeit vor ihm auf, und er war ganz still, als er ein Jahrhundert in die Vergangenheit zu blicken schien. Der Parkettfußboden glänzte wie neu versiegelt, er konnte den Lack riechen. Und die breite Treppe, die am Fuß noch breiter war als an ihrem Absatz, führte hinab in einen großen Raum, der genauso aussah, wie er es in Erinnerung hatte. Die gewölbte Kuppeldecke mit dem Kristalllüster. Die makellosen Holzarbeiten mit dem aufwendig geschnitzten Rand. Erst jetzt merkte er, wie ihm dieses Haus gefehlt hatte. Während er die Treppe langsam hinunterging und

seine Handfläche über das auf Hochglanz polierte Geländer gleiten ließ, bemerkte er einige Unterschiede. Es hingen andere Bilder an den Wänden. Der Kronleuchter war elektrisch und nicht mit Gas betrieben wie damals, zu seiner Zeit. Die Möbel waren anders. Oh, die Epoche hatte sie dennoch gut getroffen. Wie sie erraten hatte, dass er das ganze Haus mit abgewetzt aussehenden Repliken aus der Zeit der nordischen Invasion eingerichtet hatte, konnte er sich kaum vorstellen. Aber ihre Auswahl war fast identisch. Die Stühle sahen aus wie die Throne von Barbarenkönigen. Solide, viereckige Beine und Lehnen, die an den Enden mit Köpfen von Bären oder Löwen verziert waren. Dazu passend viereckige Tische und in den Ecken Granitsockel, auf denen Skulpturen von legendären Kriegern standen. Erik, der Rote, mit seinem gehörnten Helm. Eine muskelbepackte Walküre auf einem geflügelten Pferd. Er hatte nicht genau die Gleichen ausgewählt. Aber dass sie sich für die gleiche Kultur, die Wikinger, entschieden hatte, konnte kein Zufall sein. Diese Frau kannte ihn. Das Zeitalter war

damals sein Hobby gewesen. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er blickte auf die Flügeltüren aus dunklem Holz, die zu seinem Arbeitszimmer führten. Oder vielmehr, die es einst getan hatten. Es war sein Zufluchtsort gewesen. Sein Schutz vor der Welt. Dante spürte Angst und musste sich überwinden, den Raum zu betreten. Er ging auf die Türen zu, packte die Messingknäufe, drehte sie und zog dann die Türen auf. Vor ihm breitete sich sein Arbeitszimmer aus, als würde er wieder einen Blick in die Vergangenheit werfen. Der Kamin an der gegenüberliegenden Wand war in seinen Urzustand zurückversetzt worden. Der riesige antike Schreibtisch in der Ecke war nicht genau wie seiner, aber die Größe stimmte. Der Stuhl davor war modern, verständlich, und mit Rollen versehen, und der Computer, der auf dem Schreibtisch stand, schien überhaupt nicht in den Raum zu passen. Vor einigen Stunden, als er in ihren Geist eingedrungen war, musste sie genau hier gesessen haben. Als er gespürt hatte, wie sie ihre Fantasien

über ihn spann. Er hatte alles gespürt, was sie sich vorstellte, als wäre es echt gewesen. Ehe er darüber noch länger nachdenken konnte, ergriff ihn eine Art Vorahnung, etwas, das ihn den Kopf herumschnellen ließ und seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Zeichnungen an den Wänden. Einige gerahmt, einige nur wahllos angepinnt. Lieber Gott, es waren Dutzende. Und sie waren alle … von ihm. Dante starrte wie gebannt und ging gegen seinen Willen näher. Er betrachtete jede Linie, jede Schattierung und jeden Schatten, der die Konturen seines Gesichts bildete. Gedankenlos fuhr er dabei mit den Fingern über sein Kinn, seine Wangen und seinen Kiefer. Es war unnatürlich, sich selbst auf diese Weise betrachten zu können, wo er doch sein Spiegelbild schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Seit Jahrhunderten. War sein Gesicht so kantig? Waren seine Augen so tief liegend, so umschattet? Er sah regelrecht heimgesucht aus. Woher kannte diese Frau ihn? Wie war das möglich? Der Raum erschien ihm plötzlich zu klein und

stickig. Er atmete einmal tief durch, dann noch einmal, doch er schien nicht genug Luft bekommen zu können. Wahrscheinlich der Schock, sich selbst so deutlich dargestellt zu sehen. Er öffnete jede Schublade, aber er fand keine Hinweise, und er betrachtete auch die Bücherregale, ohne etwas zu finden. Der Computer schien ihn zu verspotten. Er wusste nur sehr wenig über diese Maschinen. Seinen Inhalt zu durchsuchen würde eine Herausforderung sein. Und dennoch würde er es wahrscheinlich wenigstens versuchen. Zuerst aber brauchte er Luft. Es war schwer, das alles zu verdauen. Besonders, als er eine Zeichnung von sich als Kind entdeckte, neben dem Lagerfeuer seiner Familie, wo Sarafina tanzte. Sein Atem stockte. Dante schleppte sich zum nächsten Fenster, entriegelte es und schob es mit Leichtigkeit nach oben. Endlich füllten sich seine Lungen mit der kühlen frischen Nachtluft. Ein schrilles, durchdringendes Geräusch zerriss die Stille der Nacht und damit auch seine neu gewonnene Fassung. Zum Teufel, das musste eine

Alarmanlage sein. Er presste seine Hände auf seine empfindlichen Ohren, sprang durch das geöffnete Fenster und floh aus dem Haus in die tröstenden Arme der Nacht. Als er stehen blieb und sich hinter einige Büsche kniete, um zu beschließen, was zum Henker er als Nächstes tun sollte, kam sie. Morgan. Der Alarm hatte sie geweckt, und sie war sofort in ihr Arbeitszimmer gegangen, wo er bis eben gewesen war. Als hätte sie es gewusst. Die Verbindung zwischen ihnen machte ihm Angst. Sie stand am offenen Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Ihr Gesicht verriet die Verwirrung und war vollkommen verwundbar. Sie würde sich an ihre Begegnung nur als einen Traum erinnern. Und doch wusste sie, dass jemand in ihrem Haus gewesen war. Ihr suchender Blick, ihre hoffnungsvollen Augen verrieten den sehnlichen Wunsch, ihn tatsächlich zu erblicken, anstatt sich davor zu fürchten. Morgan hatte keine Ahnung, auf welche Macht sie sich da einlassen wollte. Nicht die geringste Ahnung.

Und sie sollte lieber darauf hoffen, es auch nie herauszufinden. Gerade wollte er gehen, als er eine Bewegung an ihr registrierte, und etwas an der Art, wie ihre Augen sich veränderten, erweckte seine Aufmerksamkeit. Sie drehte sich zur Seite und starrte in die Fensterscheibe. Dann legte sie eine Hand an ihren Hals. Oh, Gott, das Spiegelbild. Jetzt, in der Nacht, sah sie die Wunden, die eigentlich mit der ersten Berührung des Sonnenlichts auf ihrer Haut verschwunden wären. Sie sah die zwei Einstiche, die dünnen Bänder aus Blut auf ihrem weißen Fleisch. Sie sah sie – und sie wusste es.

Keith 9. KAPITEL „Ich persönlich glaube ja“, sagte Lou, „Lydia hat sich zu viele Filme angesehen. Dieser übernatürliche Mist ist auf der Leinwand doch gerade der letzte Schrei.“ „Echt?“ Maxine sah ihn von der Seite an. Er fuhr seinen heruntergekommenen Buick, und zwischen ihnen befand sich eine Konsole. Sein Kaffeebecher war dort untergebracht, sein Frühstückscroissant, ein kleines Notizbuch, mehrere Bonbonpapiere und vieles andere mehr. Der Mann verbrachte viel zu viel Zeit in seinem Auto. „Klar“, sagte er. „Was, das weißt du nicht? Ich dachte, du siehst dir jeden einzelnen Monsterfilm an, sobald er das erste Mal im Kino läuft.“ Sie schenkte ihm ein spöttisches Lächeln. „Ich mag keinen schlecht gemachten Horror“, erklärte sie ihm. „Es ist einfach nicht mehr so wie früher. Immer nur Splatter, keine Klasse mehr. Verstehst du?“ „Klar doch.“

„Außerdem“, fuhr sie fort, „gehe ich nicht gerne alleine ins Kino. Und es ist nicht so, als würden sich vor meiner Tür die potenziellen Dates die Köpfe einschlagen.“ Nachdenklich betrachtete er Maxine. „Kann ich mir gar nicht vorstellen.“ „Nicht? Na, das ist lieb von dir, Lou. Aber das sagst du nur so. Ich bin nicht gerade hübsch.“ Er grunzte unwillkürlich. „So ein Schwachsinn“, platzte es ihm heraus. Maxine wendete ihren Blick ab und tat so, als würde sie aus dem Beifahrerfenster sehen, damit er ihr selbstzufriedenes Grinsen nicht bemerkte. „Na gut, vielleicht bin ich ganz niedlich“, lenkte sie ein. „Aber niedlich ist nicht das Gleiche wie sexy. Männer finden mich so gut wie nie sexy.“ „Blinde Männer vielleicht.“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. Jetzt durfte sie sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen. Überrascht und mit hochgezogener Augenbraue wendete sich wieder zu ihm um. „Soll das heißen, du findest mich sexy, Lou?“ „Ich …?“ Er presste die Lippen aufeinander, zog

seine Augenbrauen zusammen und sah direkt durch sie hindurch. „Weißt du, du solltest einen alten Mann wie mich nicht so aufziehen. Das ist nicht sehr nett.“ „Aber ich …“ „Wir sind da“, sagte er und lenkte mit Schwung auf den Parkplatz, als wäre es die Sicherheitszone in einem Fangspiel auf Leben und Tod. „Also, denk dran, Kleines. Diese Lady ist eine alte liebe Freundin von mir. Ihre Gefühle sind mir wichtig. Sie hat gerade ihre beste Freundin auf der ganzen Welt verloren, und ich muss dir ehrlich sagen, das ist noch das Geringste, was sie in ihrem Leben durchgemacht hat. Also legst du lieber dein bestes Benehmen an den Tag. Richtige Manieren, Max. Zeig ein wenig Respekt.“ „Mann, du tust so, als würde ich da reingehen und sie anspucken oder so etwas.“ „Ich will einfach, dass du sie beruhigst. Mehr nicht. Bring sie von dieser an den Haaren herbeigezogenen Theorie von blutsaugenden Stalkern ab. Okay?“ Sie senkte ihren Kopf, hob ihren Blick und sah ihn

unter bebenden Wimpern an. „Alles, was du sagst, Lou.“ Lou verdrehte die Augen gen Himmel, als er sein Auto auf dem ersten freien Platz vor June’s abstellte. Auf der einen Seite befand sich eine Bar, auf der anderen ein Imbiss. Spätmorgens an einem Wochentag war es dort ziemlich ausgestorben, und wahrscheinlich, nahm Maxine an, hatte Lou es genau deshalb ausgesucht. Sie stieg auf ihrer Seite aus, ohne die Beifahrertür wieder zu verriegeln. Ein wenig genervt erledigte Lou das. Maxine dachte es sich so: Wenn jemand so verzweifelt einen fahrbaren Untersatz brauchte, dass er sich mit Lous Rostmobil aus dem Staub machte, hatte er es auch verdient. Lou würde mit der Versicherungssumme mehr anfangen können. Sie gingen die Treppe zum Imbiss hinauf. Lou hielt die Tür für sie auf, und sie ging so dicht an ihm vorbei, dass sich ihre Körper berührten. Er tat so, als würde er nichts merken. Eine Frau blickte von ihrem Tisch auf, als sie eintraten. Ihre Augen streiften Maxine nur kurz und leuchteten auf, als sie Lou erblickten. Ihr Lächeln

wirkte dünn und wässrig. Und Max hätte wahrscheinlich für jede andere Person, die so lächelte, einen Schwall Mitleid empfunden. Nur war diese Frau eine dralle Wasserstoffblondine, die auch in einem Futtersack noch gut ausgesehen hätte, und sie schenkte dieses wässrige Lächeln ihrem Cop. Maxine musste sich tatsächlich beherrschen, während Lou sie an den Tisch führte. „Lydia“, sagte Lou jetzt. „Wie geht es dir, Schatz?“ Während er sprach, zog er sie in eine sanfte Umarmung, und Max spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte. „Es geht mir ganz gut. Danke, dass du gekommen bist, Lou.“ Sie lockerte ihren Griff um ihn und sah zu Maxine. „Lydia, das ist Maxine Stuart, das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe. Max, Lydia Jordan.“ Lydias Lächeln verlor nichts an Freundlichkeit, und es wurde auch nicht zu einer gezwungenen oder angestrengten Grimasse, wie Max es erwartet hatte. Wahrscheinlich hielt sie Max für zu jung, um eine ernsthafte Konkurrenz um Lous Zuneigung

darzustellen. Na ja, sie würde ja bald merken, wie verdammt falsch sie lag. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass Sie einem Treffen zugestimmt haben, Maxine“, sagte Lydia und nahm ihre Hand in ihre beiden. „Lou sagt, Sie verstehen mehr von diesen Dingen als irgendwer sonst. Und ich brauche dringend die Meinung von einem Experten, dessen Urteilsvermögen man ohne Weiteres vertrauen kann.“ Maxine blinzelte überrascht. Also hatte Lou ihr ein Loblied gesungen, was? Cool. Gut zu wissen. Sie warf Lou einen Blick zu, aber er wich ihr aus und deutete auf die Stühle. „Setzen wir uns und bringen es hinter uns.“ Maxine setzte sich an eine Seite des kleinen quadratischen Tisches, Lou auf die andere und Lydia dazwischen. Toll. Eine Kellnerin erschien und füllte die Kaffeebecher, die auf dem Tisch bereitstanden, ließ die Speisekarten da und verschwand wieder. „Was für ein Plappermaul“, kommentierte Maxine. „Ich habe denen gesagt, wir wollen so weit es

geht in Ruhe gelassen werden.“ Lydia schluckte, als hätte sie einen Kloß im Hals, und sah Max in die Augen. „Soweit ich weiß, hat Lou Ihnen bereits die Fakten erzählt. Meine Partnerin … meine … meine beste Freundin auf der Welt, Kimbra Sykes … wurde vor zwei Wochen auf dem Weg nach Hause ermordet.“ „Ich habe Lous Notizen darüber gelesen“, erklärte Maxine mit leiser Stimme, falls irgendjemand sie belauschen sollte. Sie würde Lou um nichts in der Welt noch mehr Ärger machen wollen. „Sie haben sie am nächsten Morgen in einer Gasse gefunden.“ Lydia nickte, und ihre blonden Haare wippten bei jeder Kopfbewegung mit. Sie trug zu viel Make-up, dachte Maxine ungnädig. Das machten diese alten Tussis oft. Dick aufspachteln, um die Spuren der Zeit zu überdecken. „Lou wird deswegen stinkwütend auf mich sein, Maxine, aber …“ Lydia zog einen Umschlag aus dem schwarzen Aktenkoffer neben ihrem Stuhl und schob ihn über den Tisch. „Ich habe Kopien der Tatortfotos und vom Autopsiebericht, die entstanden sind, ehe das FBI den Fall übernommen

hat.“ „Verdammt noch mal, Lydia, was zum Teufel …“ Lou brach ab, als Maxine anfing, den Umschlag zu öffnen, und Lydia eine Hand hob, um sie aufzuhalten. „Ich gehe mich erfrischen, dann haben Sie genug Zeit, sich alles anzusehen.“ Maxine hielt plötzlich inne. „Entschuldigung, ich habe nicht nachgedacht.“ „Schon in Ordnung. Na los, deshalb habe ich die Sachen schließlich mitgebracht.“ Sie stand auf, machte sich in Richtung der Gästetoiletten davon und verschwand aus Maxines Blickfeld. „Du wusstest nicht, dass sie dieses Zeug hat?“, fragte Maxine, während sie die Dokumente und Fotos aus dem Umschlag holte. „Nein, und ich habe auch keine Ahnung, wie sie es in die Finger bekommen hat. Die verfluchten Bundesagenten haben sich eingemischt, alle Beweise beschlagnahmt und alle unsere Kopien vernichtet.“ Maxine sah zu ihm auf. „Das haben die gemacht?“ „Ja. Einfach so. Irgendwas ist los, Max, aber ich weiß verdammt noch mal nicht, was. Müsste ich

raten, ich würde sagen, es gibt einen Serienkiller mit der gleichen Vorgehensweise. Aber wenn du auch nur ein Wort davon sagst, streite ich es ab.“ „Gott sei Dank hält Big Brother die Öffentlichkeit so gut auf dem Laufenden“, murmelte sie. Sie legte den Stapel zurück auf den Tisch, drehte die oberste Seite um und starrte hinab auf eine Tatortaufnahme. Eine Frau, sehr groß und schlank, vielleicht Anfang vierzig, lag in einer Gasse auf dem Boden. Sie trug Khakis und einen dunkelgrünen Pullover mit VAusschnitt. Ihr helles braunes Haar war zu einem ordentlichen Knoten gesteckt. „Kein Haar gekrümmt“, murmelte Maxine. „Sieh dir ihre Kleider an, Lou. Sie sind nicht schmutzig oder zerrissen. Ihr Make-up ist nicht einmal verschmiert.“ „Ich weiß.“ Ein Foto nach dem anderen schaute sie sich an, bis sie zu den Autopsiebildern gelangte, die wie Routineaufnahmen aussahen. Dann erblickte sie die Nahaufnahmen vom Hals der Toten. Zwei winzige Einstiche verunzierten dort die lilienweiße Haut. Wieder blätterte sie schnell weiter, bis sie den

Autopsiebericht fand. „Die Frau ist an Blutverlust gestorben“, sagte sie zu Lou. „Hier steht, es verblieb nur noch eine unwahrscheinlich geringe Menge Blut in ihrem Körper, sie war aber nirgendwo verwundet. Keine Schnittwunde, keine Prellungen, keine inneren Blutungen, nichts – bis auf diese zwei Einstiche an ihrem Hals.“ Sie überflog die Seite und wendete sich dann wieder dem ersten Stapel Fotos zu, den sie schnell durchblätterte. „Und auch am Tatort kein Tropfen Blut.“ Sie sah auf und begegnete Lous Blick. Als sie Lydia bemerkte, die langsam wieder zurückkam, schob sie die Papiere und Fotos zurück in den Umschlag. Niemand sollte seine beste Freundin so sehen müssen. „Und?“, fragte Lydia, als sie neben dem Tisch stehen blieb. „Was meinst du?“ „Kann ich die behalten?“, fragte Maxine und hob den Umschlag an. „Ich würde sie mir gerne genauer ansehen.“ „Natürlich. Ich habe Kopien gemacht. Aber … was meinen Sie, Maxine? Bin ich vollkommen

verrückt, zu glauben, es könnte ein … ich meine …“ „Sie sind überhaupt nicht verrückt. Entweder, jemand hat sich alle Mühe gegeben, den Mord wie das Werk eines Vampirs aussehen zu lassen … oder es war wirklich einer.“ „Max …“ Lou sah aus, als wolle er sie erwürgen. „Tut mir leid, Lou, aber mal ganz ehrlich, hast du etwa eine bessere Theorie?“ „Hunderte! Außerirdische wären eine bessere Theorie als das. Mensch, Max, ich habe dich hergebracht, damit du die Sache besser machst, und du machst alles nur noch schlimmer.“ „Schrei sie nicht an“, beschwor Lydia ihn. Ihre Stimme war sanft, aber fest. „Ich wollte eine ehrliche Meinung von ihr, und die hat sie mir gegeben, obwohl sie gewusst haben muss, dass du wütend auf sie wirst, Lou. Lass sie in Ruhe.“ Sie wendete sich an Maxine. „Was glauben Sie, was ich jetzt machen soll?“ Allein diese Frage ließ Maxine etwas größer werden. Lydia fragte sie um Rat, als wäre sie wichtig, jemand, dessen Meinung etwas zur Sache

tat. Und das, merkte Maxine jetzt, war sie wirklich. Niemand konnte Lydia besser helfen als sie selbst. Aber verdammt, das war ein Wespennest, in das sie wirklich nie wieder hatte stechen wollen – oder wenigstens jetzt noch nicht. Sie erinnerte sich an das verbrannte, verrußte Gesicht des Mannes, an den Klang seiner Stimme, die ihr über das Telefon drohte, ihren Freunden etwas anzutun. Sie schüttelte sich und merkte, dass Lydia immer noch auf eine Antwort wartete. „Das Erste und Wichtigste ist, dass Sie niemandem von dieser Sache erzählen. Niemandem. Tun Sie so, als wären Sie völlig unwissend. Tun Sie so, als hätten Sie geschluckt, was die Ihnen an Märchen über Kimbras Tod aufgetischt haben. Bedanken Sie sich bei denen, und widersprechen Sie ihnen nicht. Stellen Sie keine Fragen. Ich schwöre Ihnen, das ist am wichtigsten.“ Lydia sah überrascht aus, nickte aber mit Nachdruck. Lou andererseits hatte die Augen zusammengekniffen und starrte Maxine an, als hätte sie den Verstand verloren. „Abgesehen davon machen Sie einfach so normal

weiter, wie Sie können. Halten Sie sich von der Straße fern, schließen Sie nachts die Türen ab. Gesellschaft wäre auch nicht schlecht. Ich meine, nur für den Fall.“ „Ja, klar.“ Der Spott in Lous Stimme war nicht zu überhören. „Und wahrscheinlich schlägst du als Nächstes vor, sie soll sich Knoblauch und Kruzifixe ums Bett hängen, was, Max?“ Ihr Blick war vernichtend. „Ich glaube nicht, dass das funktioniert.“ Lou verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Lydia, geh nach Hause und vergiss dieses Treffen. Ich hätte es besser wissen sollen, als Mad Max Stuart als Stimme der Vernunft mitzubringen. Lass die Obrigkeit ihren Job machen, und ich verspreche dir, du bekommst schon deine Antworten. Du musst nur geduldig sein.“ Dann drehte er sich um. „Und zu dir …“ „Lou, bitte“, sagte Lydia. Maxine sackte auf ihrem Stuhl zusammen. „Ist schon in Ordnung, Lydia“, sagte sie. „Kehren Sie ruhig in Ihren Alltag zurück. Ich bin an der Sache dran.“ Dann seufzte sie. „Vielleicht sollten Sie

jetzt gehen. Ich glaube, Lou würde mich gerne eine Weile anbrüllen.“ Lydia sah sie an und nickte schließlich. „Sieht aus, als könnten Sie mit ihm fertig werden.“ „Kann ich.“ „Danke, Maxine. Vielen Dank. Wir bleiben in Kontakt.“ Maxine zupfte eine Visitenkarte aus ihrer Tasche und gab sie Lydia, fast, als hätte sie sich gerade erst daran erinnert. „Es ist, äh – eine meiner alten Karten. Ich habe noch keine neuen drucken lassen.“ Lydia nickte und steckte die Karte in ihre Tasche. Dann umarmte sie Lou und verließ den Imbiss. Maxine stand auf. „Komm mit, Lou.“ „Mit wohin?“, fragte er. „Zu mir. Ich muss dir ein paar Dinge zeigen. Und wenn du mich danach immer noch anbrüllen willst, dann kannst du das gerne tun. Ich bleibe ganz still dabei. Aber wenn nicht – dann musst du mir bei der Sache helfen.“ „Nichts, was du mir zeigst, kann entschuldigen, was du dieser Frau gerade angetan hast, Max. Das werde ich dir nie verzeihen.“

„Doch, wirst du.“ Er griff nach dem Umschlag, doch sie schnappte ihn vom Tisch, ehe er ihn an sich nehmen konnte. „Das ist vertraulich.“ „Ich weiß.“ Maxine blickte ihn ruhig an. „Und ich habe zu Hause noch einen Haufen mehr. Also passt es da ganz gut rein.“ Mit aufgerissenen Augen wartete er auf die Pointe – doch die kam nicht. „Komm mit“, wiederholte sie ihre Bitte. „Ich erklär dir alles, wenn wir da sind.“ Lou bemerkte ihre Veränderung sofort. Maxine hatte ihn wirklich überrascht, als sie Lydia unterstützt hatte, statt sie zu beruhigen. Maxine war wild, das schon. Ungestüm, das auch. Respektlos, und ein wenig selbstbezogen. Aber verdammt, er hätte nie gedacht, sie würde ihm in den Rücken fallen, wenn er sie am meisten brauchte. Das alles enttäuschte ihn sehr. Andererseits war sie nur ein Kind. Was sollte man da schon erwarten? Jetzt allerdings begann er, sich Sorgen zu machen. Sie benahm sich merkwürdig beim Verlassen des

Imbisses, so als könnte sie jemand beobachten. Sie sah sich auf der Straße um, sah unter sein Auto, ehe sie einstieg, sah auf den Rücksitz und dann auch immer wieder in den Rückspiegel, während er fuhr. „Was ist los, verdammt?“, wollte er wissen. Sie warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf. „Halt bei der Bank an. Ich muss etwas holen.“ Mit gerunzelter Stirn sah er sie von der Seite an, fuhr aber auf die Einfahrt der Bank zu. „Drive-inFenster?“ „Schließfach.“ Okay, das ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Was zum Teufel hatte Mad Maxine vor? Er parkte den Wagen, während sie in ihrer Handtasche herumwühlte und schließlich einen Schlüssel ans Licht brachte. Dann folgte er ihr hinein, und er sollte verdammt sein, wenn ihr Verhalten bei ihm nicht alle Alarmsirenen losgehen ließ. Er hatte sie schon zynisch erlebt, skeptisch und lächerlich, aber noch nie war sie ihm paranoid vorgekommen. Und ein Teil von ihm – ein kleiner

Teil – wollte nicht leugnen, dass sie vielleicht einen Grund dazu hatte. Er erwischte sich dabei, wie er ihr den Rücken deckte, als wäre sie seine Partnerin und sie hätten gerade einen Raum voller Halsabschneider betreten. Ganz sicher bemerkte sie sein Verhalten, das konnte er sehen, als ihre Augen anerkennend aufleuchteten. Sie hatte einfach höllische Augen. Groß und grün und leuchtend. Passend zu ihrem feuerroten Haar. Sie war eine Frau in Technicolor. Sowohl im Geiste als auch im Aussehen. Sie zwinkerte ihm zu und schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln, während der Bankangestellte sie in den hinteren Bereich führte. Lou knirschte mit den Zähnen. Er ging näher heran, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, durch die sie gegangen war, beobachtete die ganze Bank und versuchte, seinen beschleunigten Puls zu ignorieren. Maxine hatte keine Ahnung, was sie ihm antat, wenn sie so mit ihm flirtete, wie es ihre Art war. Die ganze Zeit schon. Sie hielt ihn für zu alt, um auf sie zu reagieren, dachte, er wäre keine

Bedrohung, keine Gefahr. Ein Kastrat. Schmeichelhaft war das nicht gerade, aber um ehrlich zu sein gefiel es Lou, dass sie sich bei ihm sicher fühlte. Er schämte sich für seine Reaktion, nicht nur in Gedanken, auch körperlich konnte er sie nicht immer verhindern. Er würde sich eher erschießen lassen, als ihr das einzugestehen. Auf keinen Fall sollte sie ihn für einen alten Lustgreis halten. Achtzehn Jahre Altersunterschied. Theoretisch war er alt genug, um ihr Vater zu sein. Ein junger Vater, schon, aber dennoch … Als sie zurückkam, bemerkte er in ihren Händen nichts, was sie nicht schon vorher bei sich gehabt hatte. Doch, ihre Handtasche war praller gefüllt als vorher. Jesus, sie war wirklich vorsichtig. Er führte sie hinaus zum Wagen, hielt ihr die Tür auf, setzte sich dann hinters Steuer und startete den Wagen. „Bist du so weit, mir zu erzählen, was das alles soll, Max?“ Ihre Blicke trafen sich, als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. „Du bist der einzige Mensch auf der Welt, dem ich genug vertraue, um darüber

zu sprechen, Lou. Sonst darf es niemand wissen. Niemand. Ich habe meiner Mom nichts gesagt oder Stormy oder sonst irgendwem.“ „Verstehe.“ „Ich wollte es dir schon lange sagen, aber ich hatte Angst, dass du deswegen Ärger bekommst. Und ich weiß, es kann dich in Gefahr bringen.“ Er drehte seinen Kopf abrupt zu ihr um. „Lass uns zu dir fahren, okay? Bei mir ist zu viel los. Stormy geht den ganzen Tag ein und aus, und außerdem wissen die, wo ich wohne.“ „Wer weiß, wo du wohnst? Jesus, Max, langsam bekomme ich Angst.“ „Du hast zu Hause einen Computer, oder? Mit CD-ROM-Laufwerk?“ Er nickte und dachte kurz über den Zustand seiner Wohnung nach, aber das war wohl nicht wichtig. Irgendetwas hatte Max richtig Angst eingejagt. Und sie war kein dummes kleines Mädchen. Er glaubte nicht, dass sie eine harmlose Sache derart unpassend aufblasen würde. „War das in deinem Schließfach, Max? Eine CDROM?“

„Und ein Ausweis.“ Er hob seine Augenbrauen. „Was für ein Ausweis genau?“ „Ungefähr wie deiner. Nur statt Polizei der Stadt etc. steht DPI drauf.“ „Nie gehört.“ „Ich bin mir ziemlich sicher, es handelt sich dabei um eine geheime Unterabteilung der CIA, und ihr Hauptquartier war früher genau hier in White Plains. Jedenfalls bevor es bis auf die Grundmauern abgebrannt ist.“ Ohne ein Wort zu sagen fuhr er durch die Stadt, um zu verarbeiten, was sie ihm gerade erzählt hatte. Dann begriff er. „Du meinst das Krebsforschungszentrum, das vor etwa fünf Jahren abgebrannt ist?“ Sie nickte. „Genau. Nur war das alles Tarnung.“ Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab und umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Dann drehte er sich zu ihr um. „Du warst damals dort und hast herumgeschnüffelt. Nachts. Ich weiß noch, du hast mich gebeten …“ Er unterbrach sich, als ihm ein Licht aufging. „Du hast das Zeug in

jener Nacht aus dem Feuer geholt, oder, Max? Und deshalb musste ich dir helfen, an diesen Soldaten vorbeizukommen, die damals aufgetaucht sind.“ „Jetzt hast du es. Und es wird noch besser, Lou. Noch jemand außer dir hat gesehen, wie ich damals herumgeschnüffelt habe.“ „Wer?“ „Der Typ, dem dieser Ausweis gehört, nehme ich an.“ „Heilige Mutter …“ „Du darfst jetzt noch nicht durchdrehen, das war erst der glaubwürdige Teil der Geschichte. Komm mit. Wenn ich dir den Rest nur erzähle, bin ich auf halbem Weg in die Irrenanstalt, ehe ich fertig bin. Du musst dir das Zeug selber ansehen.“ Sie öffnete die Beifahrertür, stieg aus und schob ihre Handtasche höher auf ihre Schulter. Lou stieg ebenfalls aus, aber ihm war schwindelig. Er konnte nicht glauben, dass Maxine geheimes Material von irgendeinem Zweig der Regierung gestohlen haben sollte. Mein Gott, Leute waren schon für weniger ins Gefängnis gekommen. Er nahm ihren Arm und führte sie die Treppe zu

seiner Wohnung im ersten Stock hinauf. „Ich weiß nicht, wo zum Teufel du dieses Mal wieder hineingeraten bis, Max“, sagte er leise. „Ich hoffe nur bei Gott, dass du auch wieder herauskommst.“

Keith 10. KAPITEL Morgan arbeitete ununterbrochen, bis weit in die Nacht. Sie tippte an ihrem Computer oder ging im Zimmer auf und ab und sprach mit sich selbst, während Dante sie bei jeder ihrer Bewegungen beobachtete. Er sah nie, wie sie etwas aß. Sie trank allerdings die ganze Zeit. Wodka, vermischt mit irgendeinem Softdrink, den sie gerade zur Hand hatte. Was auch immer sie da schrieb, sie war besessen davon. Und er spürte, es hatte mit ihm zu tun. Aber dass es etwas damit zu tun hatte, wie seine Geheimnisse in die Hände seiner Feinde geraten waren, das wollte er nicht glauben. Sein nächtlicher Besuch hatte die Sache anscheinend nur noch verschlimmert. Vielleicht wäre es nicht dazu gekommen, hätte sie den Beweis für seinen Kuss nicht mit eigenen Augen gesehen. Am nächsten Tag waren alle Spuren verschwunden. Dann hätte sie weiter an ihrem Traum festgehalten.

Aber offensichtlich war sie sich nicht mehr sicher. Er konnte nicht in das verdammte Arbeitszimmer kommen, um herauszufinden, woran sie arbeitete – nicht, ohne den Alarm auszulösen, der sowohl sie selbst als auch die Polizei auf ihn aufmerksam machen würde. Selbst wenn er einen Zugang fände, würde es schwierig, das Gesuchte auch zu finden. Er hatte ihr Nacht für Nacht dabei zugesehen, wie sie wie im Fieberwahn schrieb. Sie speicherte alles auf CDs ab und verschloss sie in einem großen Safe, den sie hatte einbauen lassen und der hinter einem falschen Bücherregal verborgen lag. Seine Tür öffnete sich in Richtung des Fensters, durch das er jede ihrer Bewegungen beobachtete, also hatte er nicht sehen können, was sich noch darin befand. Heute Nacht beobachtete er wieder, wie sie wie wild auf die Tastatur einhämmerte. Er hatte auch noch einmal versucht, seine Hand auf den Boden unter ihr zu legen, um sich leichter mit ihren Gedanken verbinden zu können und zu sehen, was sie sah, aber der Versuch blieb erfolglos. Sie hatte irgendeine Art von Barriere errichtet. Zumindest

während sie wach war. Während sie schlief, würde sie diesen Schutz nicht aufrechterhalten können. Aber verdammt, er hatte Angst davor, sich ihr noch einmal im Schlaf zu nähern. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Letztes Mal hatte er das fast … Sie arbeitete bis spät in die Nacht, und wenn sie aufhörte, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, als wäre sie vollkommen ausgelaugt. Unbeschreiblich, wie schön sie war. Haut wie Alabaster, langes, glattes Haar in der Farbe von Kupfer, das leuchtete, als wäre es eine eigene Lichtquelle. Sie war so dünn. Es war drei Tage her, seit er im selben Raum mit ihr gewesen war, sie berührt hatte – und er war entschlossen, es niemals wieder zu tun. Er würde sie beobachten, und früher oder später würde sie vergessen, abzuschließen oder den Alarm anzuschalten, oder vielleicht würde sie das Haus verlassen. Seine Gelegenheit würde kommen. Aber nicht heute Nacht. Sie stand endlich auf und sah auf ihre Armbanduhr. Der Sonnenaufgang näherte sich, das spürte er instinktiv; es musste

also fast zwei Uhr morgens sein. Sie stand auf unsicheren Beinen. Ihr Zustand hatte nur eines zu bedeuten: Morgan war krank. Tatsächlich schien sich die Schwäche, die er in jener ersten Nacht wahrgenommen hatte, alarmierend zu verschlimmern, genau wie die unnatürliche Blässe ihrer Haut. Er sorgte sich um sie. Lieber Gott, ihm wurde ganz schwindelig. Doch sogar wenn sie sich schlecht fühlte, dachte Morgan daran, die CD aus dem Laufwerk zu nehmen, sie in ihre Hülle zu stecken und in den verdammten Safe zu legen. Es war höllisch frustrierend, dass er nicht sehen konnte, welche Zahlenkombination sie eingab. Fast so frustrierend wie die Unfähigkeit, den Computerbildschirm zu erkennen, an dem sie Stunde um Stunde um Stunde schrieb. Doch keines von beiden war so frustrierend, wie ihr so nahe zu sein und doch zu wissen, er konnte sie nie wieder berühren. Oder zu spüren, dass sie krank war, und nicht zu wissen, warum. Er träumte von ihr, wenn er tagsüber ruhte, und das war sehr ungewöhnlich für einen Vampir.

Normalerweise war ihr Schlaf tief und traumlos. War das überhaupt schon einmal vorgekommen? Wahrscheinlich nicht. Er hatte noch nie geträumt – nicht ein einziges Mal, seit Sarafina ihm das Reich der Nacht eröffnet hatte. Nicht ein einziges Mal – bis er zum ersten Mal von Morgan De Silvas Blut gekostet hatte. Sie schaltete den Computer aus und ging nach oben. Dante war nicht böse, als er sich von seiner unbequemen Haltung vor dem Fenster erheben konnte. Er ging um das Haus herum, um an der Rückseite auf einen Baum zu klettern und sie zu beobachten, wie er es jede Nacht tat. Sarafina würde ihn wahrscheinlich auslachen, wenn sie das wüsste. Wahrscheinlich würde sie seine kindischen Possen auf reine Lust zurückführen – und sie hätte damit nicht ganz unrecht. Aber hier war noch mehr als nur Begehren im Spiel. Da war diese Bindung – er leugnete sie, aber er spürte sie dennoch. Er musste wissen, woher Morgan ihn kannte. Sie betrat das Schlafzimmer und ging direkt in das angrenzende Badezimmer. Während seiner Zeit

hatte das Schlafzimmer aus einer Suite mit zwei Räumen bestanden. Aus dem ehemaligen Bad hatte sie einen begehbaren Kleiderschrank gemacht. Was damals ein ganzes Wohnzimmer gewesen war, hatte sie in ein Badezimmer von königlichen Ausmaßen verwandelt. An den meisten Tagen beließ sie es bei einer schnellen erfrischenden Dusche am Morgen. Dafür gab es in der Ecke eine auf drei Seiten von gefrostetem Glas eingeschlossene Kabine. Dieses Mal aber ging sie nicht in die Dusche. Sie trat stattdessen an die riesige Badewanne, drehte die Wasserhähne auf und setzte sich dann einen Moment lang auf den Rand, als hätten diese einfachen Bewegungen sie schon so erschöpft. Die Tür schloss sie nicht hinter sich. Das tat sie nie. Warum sollte sie auch, ganz allein im ersten Stock? Warum sollte sie annehmen, jemand könnte sie sehen? Er wollte bleiben. Ihr beim Baden zusehen. Aber wenn er das tat, würde er wahrscheinlich die Fensterscheibe einschlagen und seine Entscheidung, sich ihr nie mehr zu nähern, in den

Wind schreiben. Deshalb nahm Dante all seine Willenskraft zusammen und sprang auf den Boden. Er nahm ein Bad im Meer und verbrachte eine Stunde damit, am Strand spazieren zu gehen, sich selbst zur Vernunft zu bringen und sein Verlangen unter Kontrolle zu bekommen. Als er auf den Balkon zurückkam, erwartete er, sie in ihrem Bett vorzufinden, tief schlafend. Morgan schlief tief und fest. Aber nicht in ihrem Bett. Ihr blasser Körper lag schlaff in der Badewanne, ihr Kopf hing zur Seite, ihr Haar ins Wasser. Er hielt sie schon für tot, als er die Balkontüren aufriss und hineinrannte, durch das Schlafzimmer und ins Bad. „Morgan?“ Sie reagierte überhaupt nicht. Er trat an die Wanne, hob sie in seine Arme und trug sie noch tropfnass zu ihrem Bett. Im Vorbeigehen schnappte er sich ein Handtuch. Sie lebte noch. Das wusste er sofort, er hörte das Leben in ihren Zellen sprudeln, diese singende Energie, die niemand beim Namen nennen konnte. Erst mit dem Tod hörte sie auf zu singen. In den

Untoten sang sie dafür aber nur um so lauter und deutlicher. Sie hob ihren Kopf schwach von seiner Schulter. „Dante?“ „Ich bin ein Traum. Ich bin nur ein Traum“, beruhigte er sie. In seinen Armen entspannte sie sich. Er trug sie zum Bett, trocknete sie ein wenig ab und legte sie hin, dann deckte er sie schnell zu, um ihre nackte Haut nicht sehen zu müssen. „Warum bist du so krank, Morgan?“ Sie lächelte ganz sanft. „Ich muss bald sterben. Wusstest du das nicht?“ Seine Hände vergruben sich in der Decke, die er immer noch an ihren Schultern festhielt. Dann blickte er in ihre Augen. „Sterben …“ „Ich habe diese seltene Blutgruppe“, erklärte sie ihm. „Die Ärzte sagen, jeder, der sie hat, stirbt jung, aber niemand hat bisher herausgefunden, warum.“ „Das Belladonna-Antigen“, flüsterte er. „Ja, genau das.“ Sie ließ ihren Kopf in die Kissen sinken und seufzte. „Ich hatte nicht erwartet, dass

es sich so schnell verschlimmert.“ „Es tut mir so leid. Ich wusste nicht, was es … ich wusste nicht, dass es tödlich ist.“ „Natürlich hast du das gewusst. Du lebst in mir. Du weißt alles über mich.“ „Das nicht.“ Sie lächelte matt. „Ich bin so müde.“ Die Augen fielen ihr zu, ihr Kopf neigte sich zur Seite, und eine Haarlocke legte sich über ihre Augen. „Ich hoffe, noch nicht heute Nacht“, flüsterte sie. „Ich hoffe, ich habe … noch ein paar Wochen. Ich muss noch fertig werden … und dann die Preisverleihung …“ Während sie schon hinüberglitt in den Schlaf, murmelte sie Unverständliches, das vielleicht für sie einen Sinn ergab, er jedoch konnte nichts damit anfangen. Er versuchte, in ihre Gedanken zu blicken, als sie eingeschlafen war. Sie war ihm nicht länger verschlossen, aber sie war so müde, dass alles leer zu sein schien. Sie schlief wie eine Tote. Und in ihrem Fall war das nicht mal ein Klischee. Dante versuchte, das Leben in ihr zu erspüren, um

zu wissen, wie viel Zeit ihr noch blieb. Es war schwach. Verdammt, er wollte die Bindung zwischen ihnen nicht noch weiter stärken, und doch war er verlockt, es zu tun – er wollte ihr helfen. Sein Verstand schlug Alarm. Es würde die Bindung zwischen ihnen vertiefen. Es würde noch schwieriger werden, seinem Begehren zu widerstehen. Aber sie war so schwach. Und sie verging. Er spürte es. Es lief alles auf eine einfache Tatsache hinaus: Er wollte sie nicht gehen lassen. Er schob seinen Ärmel hoch, legte sein Handgelenk an seinen Mund und biss zu. Seine Fangzähne gruben sich tief in sein Fleisch, durchtrennten den Knorpel und öffneten die Ader, aber nicht zu weit. Nur ein wenig. Er legte den Daumen seiner freien Hand über die Wunden, drückte sie ab und legte sein Handgelenk dann an Morgans Lippen. Mit seinen Gedanken manipulierte er ihr Denken und befahl ihr zu trinken. Dann drückte er sein Handgelenk fester gegen ihren Mund. Sie trank. Ihre Lippen öffneten sich und legten sich

an die Einstiche, aus denen warm und nass das Leben quoll, und saugten an ihm wie ein Baby an der Brust seiner Mutter. Wie eine elektrische Entladung durchfuhr ihn das Verlangen nach ihr. Sie leckte, schluckte, saugte fester. Sein Atem beschleunigte sich, und er wurde hart vor Erregung. Endlich, die Zähne zusammengebissen vor süßer Qual, hielt er ihre Stirn mit einer Hand und entzog ihr sein Handgelenk. Er riss einen Schal von ihrem Nachttisch und warf dabei ein Buch auf den Boden. Während er sich das Handgelenk verband, warf er einen Blick auf den Titel. Selbstverteidigung in Gedanken. Dion Fortune, ausgerechnet. Kein Wunder, dass er Morgans Gedanken nicht mehr so einfach lesen konnte. Er verknotete den Schal so fest wie eine Aderpresse. Das würde bis zum Sonnenaufgang reichen. Der war tatsächlich nicht mehr weit. Er blickte hinab zu Morgan auf dem Bett. Ihre Haut war schon rosiger, und sie fühlte sich warm an, als er sie berührte. Schon morgen würde sie sich kräftiger fühlen. Allerdings durfte sie nicht erfahren, was

geschehen war. Sie durfte sich an ihn nur als Traum erinnern. Und verdammt noch mal, er musste endlich herausfinden, warum sie so viel über ihn wusste, wie sie all das herausbekommen konnte. Vielleicht war sie hellseherisch begabt. Irgendetwas hatte er übersehen. Vielleicht hatte sie die letzten Reste seiner Spuren in der Atmosphäre dieses Hauses entdeckt. Wieder sah er sie an. An ihren Lippen hingen noch Spuren von seinem Blut. Dante beugte sich vor, presste seinen Mund auf ihren und küsste die Tropfen weg. Ihre Augen flatterten auf. „Wie kann ich einen Mann lieben, der nicht existiert?“, flüsterte sie. „Das tue ich, weißt du. Ich liebe dich, Dante.“ Vor Schreck weiteten sich seine Augen. „Die letzte Frau, die diese Worte zu mir gesagt hat, hat mich fast das Leben gekostet.“ „Ich weiß.“ Morgan rollte sich auf die Seite. Die Augen fielen ihr bereits wieder zu. „Laura Sullivan, das Mädchen aus Dunkinny.“ Dante erstarrte. „Woher kennst du diesen Namen?“ Aber sie antwortete nicht. „Morgan?“

Aber nein. Er könnte sie wecken, doch das wäre zu riskant. Sie musste ganz wach sein, damit er richtige Antworten aus ihr herausbekam. Aber dann würde er sie nie wieder davon überzeugen können, dass alles nur ein Traum gewesen war. Also legte er ihr stattdessen die Hände an die Stirn, konzentrierte sich auf ihre Gedanken und begann mit der Erkundung. Was er fand, war sie selber, schön, gesund, und sie starrte in die Augen eines Mannes – seine Augen. „Ich werde dich nie betrügen, wie Laura Sullivan es getan hat, Dante“, flüsterte sie. Dann sah er eine Leinwand hinter sich, auf der bewegte Bilder aufflackerten, die seine Geschichte von Neuem erzählten. Er sah die Frau, die er geliebt hatte, die einzige Sterbliche, der er je seine wahre Natur anvertraut hatte. Er sah sie, und sie sah genauso aus wie damals. Sie führte die wütende Meute der Dorfbewohner an, alle mit Fackeln bewaffnet, und sie brüllte. „Er ist ein Untier, sage ich euch. Er hat versucht, mein Blut zu trinken, und mir gestanden, was er ist – und sein Freund Donovan ebenfalls! Wir müssen sie

vernichten!“ „Brenne, brenne, brenne“, brüllten die anderen, während sie ihre lodernden Fackeln auf die Burg schleuderten, die er mit Donovan O’Roarke, seinem jungen Zögling, bewohnte. Die Leinwand wurde schwarz. In ihren Gedanken waren sie wieder nur zu zweit. „Ich weiß bereits, was du bist, Dante. Ich liebe dich trotzdem.“ Sie streckte sich ihm im Traum entgegen und presste ihre Lippen auf seine. Dante zog sich hastig aus ihren Gedanken zurück und schüttelte sich. Es stimmte. Sie kannte alle seine Geheimnisse. Alle.

Keith 11. KAPITEL Bis in den späten Nachmittag schlief sie tief und fest. Aber als Morgan endlich erwachte, tat sie es mit einem Ruck. Ihre Augen öffneten sich weit, und sie setzte sich mit einem Keuchen auf, als hätte sie etwas aus ihrem Schlaf geschreckt. Da war nichts. Sie blinzelte und drückte die Hand gegen ihre Stirn, um dem Schwindel entgegenzuwirken, der sie immer überkam, wenn sie sich zu schnell aufsetzte oder aufstand oder die Treppe hinaufrannte oder nach tausend anderen Dingen. Allerdings wurde ihr heute nicht schwindelig. Und während sie so dasaß, bemerkte sie allmählich, wie sie sich fühlte. Sie fühlte sich … besser. Fast gut. Mit einem Stirnrunzeln schlug sie ihre Decke zur Seite und stand auf. Sie überprüfte ihr Gleichgewicht und wartete darauf, dass die Schwäche sie überkam. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wie sie letzte Nacht zu Bett gegangen war. Im Grunde erinnerte sie sich nur noch an das

Bad, und dann … dann an den Traum. Sie schloss langsam ihre Augen und ließ ihren Atem durch die Lippen entweichen. Dante. Er war wieder im Traum zu ihr gekommen. Der süße Schmerz, den die Erinnerung mit sich brachte, war kaum zu ertragen. Trotzdem versuchte sie, sich an alle Details zu erinnern. Doch nichts wollte ihr deutlich einfallen. Nur die Erinnerung an seine Stimme, die sie mit ihrer tiefen Samtigkeit getröstet hatte. Seine Hand, die sich auf ihrem Gesicht kühl anfühlte. Seine Nähe. Alles war so wirklich gewesen. Oh, und sein Geschmack! Davon hatte sie wirklich geträumt? Sie verlor den Verstand, so viel war klar. Hatte sich vollkommen verloren im Leben eines Mannes, der gar nicht existierte. Sie lebte seine Geschichten am Tag und träumte von ihm in der Nacht. Mein Gott, sie war eine berühmte Drehbuchautorin. Und doch war es ihr egal. Ihr war alles egal außer ihm, einem Mann, der nicht existierte – der nicht existieren konnte! Etwas zwang sie dazu, die breiten Türen zu

prüfen, die auf den Balkon hinausführten, ehe sie etwas anderes tat. Sie waren verschlossen. Von innen. Natürlich waren sie das. Was hatte sie denn erwartet? Mit einem Seufzen drehte sie sich um und ging ins Badezimmer. Sie blieb im Türrahmen stehen und starrte die Badewanne an, die immer noch voll Wasser war. „Das ist ja merkwürdig.“ Mehr als merkwürdig, warnte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Es sah ihr absolut nicht ähnlich, das Wasser in der Wanne zu lassen. Sie war mit diesem Haus sehr pingelig, und zwar seit sie seinen früheren Besitzer kennengelernt hatte. Für sie war das Haus Dantes Gedenkstein. Sein Andenken. Sein Zeichen. Sie ehrte es. Wahrscheinlich bloß ein weiterer Schritt auf ihrem Weg zum Nervenzusammenbruch. Und was um Himmels willen hatte sie sich dabei gedacht, den ganzen Tag zu schlafen? Andererseits, beschweren konnte sie sich nicht. So gut, wie sie sich gerade fühlte, konnte sie die verlorene Zeit gut in der Nacht aufholen. Sie ging zurück in ihr Schlafzimmer und

beschloss, das Haus für eine Weile zu verlassen. Sie wollte nach draußen, an die klare Frühlingsluft, vielleicht einen Spaziergang machen, am Meer entlang bis in das malerische Örtchen eine Meile entfernt. Das würde ihr guttun. Außerdem konnte sie sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal dazu in der Lage gefühlt hatte, am Strand entlangzuspazieren. Sie duschte schnell, zog ein Paar Jeans und einen bequemen Pullover an, weiße Socken und leichte Tennisschuhe. Ihr Haar rubbelte sie nur mit einem Handtuch trocken und ließ es offen. Dann nahm sie eine Handtasche, die sie selten benutzte, und nur für alle Fälle auch eine Jacke. Als Morgan die breite Treppe hinabging, erfüllte sie eine ungeahnte Vorfreude, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Es war nicht klug, so schnell zu gehen, bald würde sie außer Atem kommen, ermahnte sie sich selbst. Doch nichts dergleichen passierte. Ihr Herz schlug nicht einmal schneller. Vielleicht ging es ihr langsam besser. Vielleicht tat ihr die Seeluft gut, oder die Nahrungsergänzungsmittel, die sie einnahm, zeigten

langsam Wirkung. Vielleicht … Sie ging eilig durch das Haus, durch die Hintertür hinaus und über den breiten grünen Rasen auf die Klippen zu. Einen Augenblick lang stand sie einfach da und blickte zum Horizont. Ein riesiger lodernder Feuerball, der sich langsam in der kühlen Umarmung der See selbst löschte. Sie hatte die Sonne schon seit Jahren nicht mehr im Pazifik untergehen sehen. Aber heute würde sie dabei zusehen, wie sich die Dunkelheit langsam über dem Wasser ausbreitete und seine Farbe veränderte, während die Sonne weit, weit hinter ihr unterging. Sie überlegte sich Worte, die einen solchen Anblick am besten beschreiben könnten. Wie das Wasser sich veränderte, schien es immer einen Ton dunkler als der Himmel zu bleiben. Der strahlend blaue Himmel wurde erst violett, dann indigo und schließlich mitternachtsblau. Das türkise Meer wurde erst lila, dann ebenholzschwarz. Der Wind wehte immer stärker, je weiter die Sonne unterging. Salzig und immer kühler drängte er Morgan neckend vorwärts und forderte sie

heraus, sich gegen ihn aufzulehnen. Sie stand eine lange Zeit einfach da und sah dabei zu, wie die ersten Sterne am dunkler werdenden Nachthimmel auffunkelten. Sie seufzte anerkennend und atmete die Nachtluft tief ein. Sie schmeckte gut. Noch war sie nicht bereit, wieder ins Haus zu gehen. Sie drehte sich um und wanderte den Pfad am Rand der Klippen hinab, dort, wo er sich in einem flachen Winkel dem Ufer näherte. Als sie den Strand erreicht hatte, folgte sie der steinigen, sandigen Küste nach Süden, zur Stadt. Easton war klein. Malerisch, aber nicht genug, um zu einer Touristenfalle zu werden – noch nicht, wenigstens. Morgan wendete sich vom Strand ab und ging nördlich von der Innenstadt die Hauptstraße hinauf. Sie schlenderte auf dem Gehweg entlang und sah sich die Schaufenster der Läden an, die fast alle schon geschlossen waren. Sie bemerkte eine Menschenmenge, und als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass sie vor dem Kino anstanden, unter einer kleinen beleuchteten Reklametafel. Das Kino war wirklich klein, nur zwei Leinwände, ein paar Hundert Sitze. Kein

Surround-Sound, keine Großbildleinwand. Bis der Film begann, war der Saal geschlossen und wurde erst eine halbe Stunde vor Filmbeginn geöffnet, keine Minute früher. Als sie einen Blick auf die Anzeigetafel warf, musste Morgan lächeln. Ihr neuester Film wurde gezeigt, und unter dem Titel rollte in bunten Lichtern immer wieder eine Nachricht: „Nominierung Bestes Drehbuch für Eastons Morgan De Silva! Sehen Sie den Film noch heute!“ Glücklich sah sie sich um. Es schien fast, als wäre sie hier in der Stadt eine Art Berühmtheit. Komisch, dass noch niemand beim Haus gewesen war, um sie zu belästigen. Natürlich hielt sie sich auch sehr bedeckt und ging kaum aus, hatte ihre Telefonnummer nicht eintragen lassen und jede Menge elektronische Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Vielleicht wussten die Leute hier draußen auch nur die Privatsphäre des anderen zu schätzen? Es musste noch mehr sein. Und wenn sie ehrlich zu sich war, wusste sie auch, woran es lag. Vielleicht war es aber auch albern von ihr,

anzunehmen, die Leute mieden ihr Haus immer noch, weil es nichts von der dunklen Energie früherer Tage verloren hatte. Noch immer trug sie ihre Jacke über dem Arm. Jetzt zog sie sie an, setzte die leichte Kapuze auf und versteckte ihre langen Haare darunter. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Etui ihrer Designersonnenbrille und setzte auch die auf. Dann stellte sie sich hinten in die Reihe. Plötzlich lief ihr ein Schauer über den Rücken, wie ein kalter Atem in ihrem Nacken, und sie drehte sich schnell um. Aber hinter ihr stand niemand. Allerdings stand jemand auf dem Gehweg, einige Meter entfernt, in der Richtung, aus der sie gekommen war. Ein Mann. Er stand im Schatten, ganz am Ende des Häuserblocks, an der Ecke. Und genau in dem Moment, als sie in seine Richtung sah, glitt er um die Ecke und außer Sichtweite. Sein Gang … sein Umriss war nichts als eine dunkle Gestalt in der Nacht gewesen. Und doch hatte sie fast geglaubt … Nein. Sie ließ schon wieder ihre Fantasie mit sich durchgehen.

„Miss?“ Sie drehte sich um und merkte, dass sie an der Reihe war, an den Schalter zu treten. „Entschuldigung. Einmal bitte, für Twilight Hunger.“ Sie schob einen Zehner über den Tresen und wartete auf ihr Wechselgeld, das als brandneuer Fünfer zusammen mit ihrem Ticket kam. Weil sie, seit sie hergekommen war, so selten ausging, überraschten die niedrigen Eintrittspreise sie immer noch. Sie schob den Fünfer in ihre Jeanstasche und behielt das Ticket auf dem Weg ins Kino in der Hand. Sie nahm sich einen der hinteren Sitze und saß ruhig da, während die Vorschauen begannen. Morgan hatte angenommen, sie wäre die Letzte gewesen, aber ein paar Minuten nach den Vorschauen öffneten sich die Türen noch einmal, und ein weiterer Besucher kam herein. Wieder lief ihr dieser Schauer über den Rücken, und Morgan drehte sich nach ihm um. Er war bereits auf dem Weg zur anderen Seite des Raumes, aber er nahm ebenso wie sie einen Platz in der hinteren Reihe ein. Er trug einen langen

Mantel und hatte den Kragen hochgeschlagen, und auch er trug eine Sonnenbrille, die sein Gesicht verdeckte. Es war albern von ihr, an Dante zu denken, als sie den Fremden erblickte. Er war nur eine weitere einsame Seele, die gerne unerkannt bleiben wollte. Dante existierte nicht. Der Dante aus den Tagebüchern, der ihren Verstand heimsuchte, hatte niemals existiert. Es gab nur einen leicht gestörten Mann mit einer wilden Fantasie und einer großen sprachlichen Begabung. Der Dante, dessen Leben sich gleich auf der Leinwand entfalten würde, war nur ein fiktiver Charakter. Eine Ausgeburt der Fantasie seines Erschaffers, vielleicht noch von Morgans eigener Fantasie angereichert. Aber er war nicht echt. Und sie musste das endlich in ihren Kopf bekommen. Er war nicht echt. Nur weil sie diese lebhaften intensiven Träume von ihm hatte … Und nur weil sie sich in jener Nacht diese Wunden an ihrem Hals eingebildet hatte … Sie waren da! unterbrach sie ihr Verstand. Ich habe in den Badezimmerspiegel gesehen, und sie

waren da! Aber am Morgen spurlos verschwunden, ermahnte sie sich selbst. Und so lebhaft, wie ihre Träume in letzter Zeit gewesen waren, wie konnte sie sich da so sicher sein, dass diese Wunden nicht auch ein Teil davon gewesen waren? „Dante ist nicht echt“, flüsterte sie sich selbst zu, „und er sitzt ganz bestimmt nicht hier in diesem dunklen Kino und beobachtet mich dabei, wie ich mir diesen Film ansehe.“ Und warum sank sie dann immer weiter in ihren Sitz, während ihre Geschichte sich vor dem Publikum ausbreitete – und als die Worte auf der Leinwand allen verkündeten, dass sie selbst, Morgan De Silva, sie erfunden hatte?

Keith 12. KAPITEL Lou bekam einen Anruf, ehe Maxine ihm zeigen konnte, was sich auf der CD befand, und dann gelang es ihm, sie für ein paar Tage zu meiden – verdammt, sie war sich nicht einmal sicher, warum, es sei denn, er stellte selber einige Nachforschungen an. Sie erwischte ihn endlich, indem sie nach seiner Schicht vor seiner Wohnung auf ihn wartete. Und dann zwang sie ihn, sich hinzusetzen und auf seinen Computer zu starren, während sie die Maus betätigte und ihm die Vampirakten der Organisation zeigte, die sie als DPI kannte. Als sie fertig waren, sah Lou Maxine an, als hätte sie ihm mit einem Knüppel zwischen die Augen geschlagen. Noch lange, nachdem sie die Datei schon geschlossen und die CD aus dem Laufwerk genommen hatte, starrte er auf den Bildschirm. „Glaubst du, wenn du diese Ausgeburt von Bill Gates Gehirn lange genug anstarrst, findest du den Weg zurück in die logische Welt, in der alles einen

Sinn ergibt?“ Er warf ihr einen unsicheren Blick zu. „Glaub mir, das funktioniert nicht. Ich habe selber ein paar Stunden das Windowslogo angestarrt, nachdem ich gesehen habe, was auf der CD ist. Hat kein bisschen geholfen.“ „Das ist Wahnsinn. Das muss ein übler Scherz sein.“ „Der Mann, den ich in der Nacht, als das Feuer ausbrach, gesehen habe, war kein Scherz, Lou. Er war echt. Und er hat die CD und den Ausweis fallen lassen. Dieser Ort, dieses sogenannte Forschungszentrum – da wurde wirklich geforscht, und wie. An Vampiren.“ Mit einem Kopfschütteln versuchte Lou diese Möglichkeit abzuwehren. „Ich habe dir nie gesagt, was am nächsten Morgen passiert ist. Am Morgen nach dem Feuer.“ „Am nächsten Morgen ist etwas passiert?“ „Mir wurde ein Umschlag vor die Tür gelegt.“ Lou hob seine Augenbrauen, während er sie betrachtete. „Was war drin?“ „Fotos. Meine Freunde, Jason Beck schlafend im

Bett und Stormy in ihrer Dusche. Und es gab auch eines von meiner Mutter, in der Garage von ihrer Arbeit. Es wurde am selben Morgen aufgenommen.“ „Irgendeine Nachricht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, er hat angerufen.“ „Er hat dich angerufen?“ Maxine nickte. Lou wurde jetzt richtig aufgebracht. Das hatte sie gewusst. Er war der gelassenste Typ auf dem Planeten, bis jemandem, den er mochte, ein Schaden zugefügt wurde. Dann wurde er auf einmal verdammt gefährlich. Und er mochte sie, auch wenn er zu schwer von Begriff war, um es zu merken. „Der Mann, den du in der Nacht gesehen hast?“ „Ich glaube schon, ja. Ich meine, er muss es gewesen sein.“ „Was hat er zu dir gesagt, Max? Wusste er, dass du die Sachen genommen hast?“ Langsam schüttelte Maxine den Kopf. „Nein. Aber er wusste, dass ich ihn dort gesehen habe. Er hat deutlich gemacht, dass er meine Freunde und meine Mutter erreichen kann, wann er will, hat mir

befohlen, zu vergessen, dass ich jemals dort gewesen bin, und wenn ich auch nur erwähne, dass ich ihn gesehen habe oder selber beim Feuer war, dann würde er es herausfinden, und ich müsste es bereuen.“ „Er hat gesagt, er tut deiner Mutter etwas an.“ Sie nickte. „Und ich habe ihm geglaubt. Das tue ich noch. Ich habe übrigens eine Aufnahme von dem Gespräch gemacht, Lou. Du kannst es dir selbst anhören.“ Niemand konnte behaupten, sie sei nicht für alles vorbereitet. Sie nahm die Kassette aus dem Umschlag, legte sie in Lous Anlage und drückte den Startknopf. Lou murmelte leise ein paar saftige Flüche. „Ich brauche ein Bier“, meinte er, als die Aufnahme zu Ende war. „Ich könnte selbst eins gebrauchen.“ Sie ließ ihn sitzen, wo er war – auf dem Rand seiner Couch, die Ellenbogen auf seine Knie gestützt –, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Wie sie erwartet hatte, war er gut gefüllt. So viel Bier, Aufschnitt und Käse, wie ein Mann essen konnte. Ein paar Flaschen Ketchup, Senf, Salsa, scharfe

Sauce und Meerrettich. Meerrettich? Sie nahm zwei Flaschen, öffnete sie und nahm sie mit zurück in das Wohnzimmer der Dreizimmerwohnung. Sie gab ihm eine der Flaschen, ließ sich dann auf die Couch neben ihn sinken und nahm einen langen Zug aus ihrer eigenen. Lou sah sie merkwürdig an. „Was?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe dich noch nie Bier trinken sehen.“ „Das darf ich schon seit Jahren, Lou.“ „Ist mir klar. Ich sehe dich nur einfach nicht so.“ „War mir gar nicht aufgefallen“, sagte sie und versetzte ihre Worte mit so viel Sarkasmus, wie sie aufbringen konnte. Einen ewigen Augenblick lang sagte er gar nichts, nippte an seinem Bier und beobachtete sie dabei, wie sie an ihrem nippte. Wie sie das hasste. Endlich stellte er die Flasche auf seinen Couchtisch und fügte dabei zweifellos seiner Sammlung aus angetrockneten Wasserringen einen frischen hinzu. „Du musst halb gestorben sein vor Angst, Max.“

Maxine nahm noch einen Schluck, bevor sie antwortete. „Hat mich ein wenig aufgewühlt, das schon.“ „Du hättest es mir erzählen sollen.“ „Und was hättest du machen können, Lou? Einen Bericht einreichen? Dieser Typ arbeitet für einen Zweig der CIA, Lou. Die verdammte CIA.“ Er seufzte. „Selbst wenn das stimmen sollte …“ „Es stimmt. Und wenn ich dir davon erzählt hätte, hätte er es gewusst. Wenn du einen Bericht eingereicht hättest, hätte er es rausgekriegt, und vielleicht wäre auch dir gedroht worden – oder noch schlimmer.“ „Du hast mich beschützt.“ Lou sagte das völlig emotionslos. „Nicht nur dich. Mich, meine Mutter, Stormy und Jason.“ „Und mich.“ Es stimmte tatsächlich, deshalb wendete sie ihren Blick ab. „Vielleicht vertraue ich euch Cops einfach nur nicht.“ „Ich weiß, du vertraust Cops nicht. Aber du vertraust mir.“

Sie lächelte nur ein bisschen. „Ja, und du vertraust mir doch auch, oder nicht?“ Seine Antwort kam spontan. „Du bist klug. Du lügst nicht, und es ist verdammt schwer, dir eine Lüge aufzutischen. Wie soll man da kein Vertrauen haben?“ „Du vertraust mir“, sagte sie nachdrücklich. „Also musst du mir auch in dieser Sache vertrauen. Es gibt in der gesamten zivilisierten Welt keine als bei Verstand geltende Person, die an Vampire glaubt. Wenn sie es aber nicht tun, warum hat die Regierung dann ganze Bände vollgestopft mit Nachforschungen über sie? Warum kennt die Regierung ihre Namen und die Lebensgeschichte von so vielen von ihnen? Das ist echt, Lou. Es gibt sie wirklich.“ „Das will mir einfach nicht in den Kopf, Max.“ „Das kommt schon noch. Bei mir hat es ja auch fast fünf Jahre gedauert. Dir bleibt bloß leider nicht so viel Zeit.“ Er warf ihr einen Blick zu, und sie wusste, er wünschte sich, sie würde den Gedanken nicht zu Ende führen, aber sie musste. „Lydia Jordans

Freundin wurde von einem von denen umgebracht, Lou. Daran führt kein Weg vorbei.“ Das alles wollte nicht in seinen Kopf. „Sie war mehr als eine Freundin. Und du kannst Lydia trotzdem nichts von der ganzen Sache erzählen.“ „Warum nicht? Was bringt es, die Geschichte geheim zu halten?“ „Ich weiß nicht, was es bringt, aber irgendetwas muss dran sein, sonst würde die Regierung sich ja nicht die Mühe machen, es zu tun!“ Sie riss die Augen auf und nickte ihm zu. „Verdammt, Max … lass mich nachdenken, okay?“ „Klar.“ Sie trank ihr Bier aus, lehnte sich zurück, griff ohne nachzudenken nach einer Zeitung, die auf dem Couchtisch ausgebreitet lag, und blätterte sie durch. Sie wählte die Boulevardseite, die sie immer zuerst las. Sie schlug sie auf, hielt inne und lachte irritiert. „Wenn man vom Teufel spricht.“ „Was?“ Sie hielt ihm die Seite hin, damit er den Titel des Artikels lesen konnte. „Vampirthriller erhält begehrte Nominierung.“ Er verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

„Passt ja prima.“ Der Artikel berichtete über den Film und die zurückgezogen lebende Drehbuchautorin. Als Maxine zur Zusammenfassung des Inhalts kam, stutzte sie. „Ähm … Lou!“ „Ich denke immer noch nach.“ „Ja, okay, dann denk mal über das hier nach. War nicht einer der Namen auf dieser CD, ‚Dante‘?“ Er warf ihr einen scharfen Blick zu. „Ich glaube schon. Warum?“ „Vielleicht sollten wir uns seine Akte noch mal ansehen. Und, ähm – dann sollten wir zwei bald mal ausgehen. Vielleicht ins Kino.“ Im Kino entspann sich der Film, eine Vorgeschichte zu den beiden ersten Teilen, auf der Leinwand. Ein junger Mann, ein Zigeuner, lag auf dem Boden. Sein improvisierter Verband war zerrissen und blutig. Aber er verspürte keine Schmerzen mehr, und seine Kraft kam langsam zurück. Nein, das war falsch, sie durchflutete ihn und sang in seinen Adern wie tausend Violinen. Er riss sich den Verband vom Leib, ballte ihn zusammen und warf ihn auf den Boden. Dann

starrte er seine Tante Sarafina an. Ihre schwarzen Augen leuchteten in der Nacht, auch wenn es kein Licht gab, das sie reflektieren konnten. Und er sah jetzt mehr, als er vorher gesehen hatte, als sähe er alles durch neue Augen. Wie er etwas so Offensichtliches nicht hatte bemerken können, war ihm schleierhaft. Sarafina war kein Mensch. Ihre Haut war zu glatt. Keine Poren, keine Unreinheiten. Ihre Lippen waren zu dunkel, und ihre Augen hatten dieses Glühen, dieses Licht, genau wie ihre Haare. Da war noch etwas. Ohne es zu wollen, legte er instinktiv den Kopf in den Nacken und nahm einen Duft an ihr wahr. Etwas Stechendes und Exotisches, wie eine Mischung aus Sex und Blut. Ihr Duft. „Auch dein Duft“, erklärte sie ihm leise. Ihre Stimme war eine vieltönige Mischung aus harmonischen Klängen, nicht so flach, wie er Stimmen immer empfunden hatte. Es war, als hätte er nie vorher richtig gehört. Sein Erstaunen wandelte sich in Abneigung, als ihm klar wurde, dass sie seine Gedanken gelesen

haben musste. Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich von ihr fort und rannte in die Wälder. „Und wo willst du deiner Meinung nach hin, Dante?“ „Nach Hause. Zurück ins Dorf. Wo ich hingehöre.“ „Du kannst jetzt nicht mehr dorthin zurück.“ Sie folgte ihm nicht. Sie blieb stehen, wo sie war, und sie schrie auch nicht. Wieso konnte er sie so deutlich hören, egal, wie weit er von ihr entfernt war? „Du bist jetzt ein Ausgestoßener. Genau wie ich.“ „Du lügst“, brüllte er und rannte schneller und schneller. Als er sich dem Dorf näherte, wunderte sich der junge Mann, weil er keine Musik hörte. Es war ihre letzte Nacht in diesem Lager. Am Morgen wollten sie weiterziehen. Alles, was gepackt werden konnte, war gepackt. Heute Nacht sollte es ein riesiges Feuer geben, mit Musik und Tanz und Geschichten von früheren Abenteuern, erzählt mit der aufgeregten Erwartung von neuen, die in der Zukunft lagen.

Stattdessen war es still. Er hörte das Feuer knistern und roch es lange, ehe er es hätte riechen sollen. Aber Stimmen hörte er kaum. Nur dann und wann ein Flüstern und das leise Rascheln von Stoff, wenn einer aus seinem Volk sich im Lager bewegte. Er trat aus den Bäumen und blieb ungläubig stehen. Seine Großmutter kniete neben einem großen Findling und rieb Kräuter mit Mörser und Stößel. Seine Vettern rannten nicht herum und spielten wie sonst, sie saßen einfach da und sahen ihr zu, die Augen feucht, die Schultern gebeugt. Die Männer hatten sich am anderen Ende des Lagers zusammengerottet und murmelten leise mit wütenden Gesichtern. Dante fragte sich, was sie so aufgebracht hatte. Sie sahen aus, als hätten sie etwas Gewalttätiges vor. Die Frauen scharten sich um das Zelt, das Dante und seiner Mutter gehörte. Und durch sie alle hindurch konnte er das leise, gebrochene Schluchzen seiner Mutter hören, das aus dem Zelt drang. Er fühlte sich vom Licht der Flammen angezogen. „Mutter?“, rief er. „Ihr alle, was ist geschehen?“

Köpfe fuhren herum, Augen wurden aufgerissen und wendeten sich in seine Richtung. Er hörte, wie seine Mutter seinen Namen mit bebender Stimme aussprach, und dann schob sie sich durch die Frauen hindurch und trat aus dem Zelt. Im selben Moment trat die Großmutter ihr in den Weg und stellte sich genau zwischen die beiden. „Bleib fort!“, befahl sie Dante und hielt die Hände mit ausgestrecktem Zeigefinger und kleinem Finger empor. Sie zischte, während sie das Zeichen mehrmals in seine Richtung stach. „Bleib fort, sage ich!“ Dante blickte sie erschreckt an. „Großmutter … was ist los? Ich bin es, Dante. Was …?“ Seine Mutter schob die alte Frau zur Seite und kam näher. „Bist du es wirklich, mein Sohn? Dimitri hat gesagt, sie haben dich getötet. Erschossen, als du versucht hast, eine Ziege zu stehlen.“ „Wenn du uns deswegen belogen hast …“ Die tiefe Drohung kam von Dimitris Vater. „Ich habe nicht gelogen! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Er wurde erschossen. Der alte

Mann hat beide Läufe seiner Flinte auf ihn abgefeuert.“ „Du warst nicht einmal dabei!“, fauchte Dante seinen Freund an und verleugnete instinktiv die Wahrheit. Er wusste aus irgendeinem Grund, seine Familie würde ihn für eine Art Dämon halten, wenn er zugab, was wirklich geschehen war. Für einen Vampir würden sie ihn halten, wie auch Sarafina es behauptet hatte. Aber das stimmte nicht. Es stimmte einfach nicht! „Ich bin dir gefolgt, Dante.“ Dimitri sah ihn jetzt mit zusammengekniffenen Augen an, misstrauisch, vielleicht sogar ängstlich. „Ich wusste, dass du auf ein Abenteuer aus bist. Ich wollte mich dir anschließen, als ich gesehen habe, wie der alte Mann aus dem Haus gekommen ist. Ich habe gesehen, wie er geschossen hat. Ich habe gesehen, wie du gefallen bist.“ „Und dann bist du weggerannt, nicht?“, fragte Dante und klammerte sich an den Gedanken wie ein Ertrinkender an einen Baumstamm. „Gib es zu. Du hast das Gewehr gehört, bist weggerannt und hast mich dort sterben lassen.“

„Ich bin weggerannt.“ Dimitri neigte beschämt sein dunkles Haupt. „Seht ihr?“ Dante zwang sich zu einem nervösen Lächeln, als er zu seiner Mutter und seiner Großmutter blickte und dann zu den Männern, die sich um sie herum versammelt hatten. Die Frauen hatten ihre Kinder zu sich geholt und standen so weit von ihm entfernt wie möglich. Es waren so viele große braune Augen auf ihn gerichtet. „Er ist nicht lange genug geblieben, um zu sehen, dass der Schuss des Mannes mich gar nicht getroffen hat. Ich habe mich nur erschreckt, deshalb bin ich hingefallen. Ich bin nicht einmal getroffen, schon gar nicht getötet worden.“ Einige von ihnen blickten zu Dimitri auf der Suche nach Bestätigung. Der hob langsam seinen Kopf und starrte Dante an. „Ich habe das Blut gesehen. Du bist wie ein Bruder für mich, Dante, und ich liebe dich, aber ich habe das Blut gesehen.“ Dante zitterte. Er wusste, wie viel Angst Dimitri gehabt haben musste, Zeuge bei einer solchen Sache gewesen zu sein. Er sah sich Hilfe suchend nach den anderen Männern um, fand in ihren Augen

aber nur Misstrauen. Und ihm fiel auf, dass einige von ihnen nicht einmal anwesend waren. „Dreh dich um, Dante“, befahl ihm die Großmutter. „Lass mich deinen Rücken sehen.“ „Dort wirst du nichts finden.“ „Dreh dich um!“ Niemand verweigerte der Großmutter den Gehorsam. Dante drehte sich um, betete, dass sie nichts finden möge, und wünschte sich, seinen eigenen Rücken sehen zu können. Alle starrten ihn an. Er reckte seinen Hals, um über die Schulter nach den anderen zu sehen, und sah, wie seine Mutter ihn genau untersuchte. „Da ist keine Wunde“, sagte sie, „und ich sehe auch kein Blut, allerdings klebt hier so viel Dreck, dass man sich kaum sicher sein kann.“ „Warum könnt ihr nicht einfach meinem Wort glauben?“, fragte Dante. „Dimitri hat sich geirrt. Mutter, du hast um mich geweint, als du geglaubt hast, ich wäre tot. Kannst du dich nicht freuen, jetzt, wo du siehst, ich lebe?“ Sie starrte ihn an, und in ihren Augen begann Hoffnung zu flackern. Sie hob eine bebende Hand

an sein Gesicht, und er schloss die Augen in Erwartung ihrer warmen Berührung. Der Wald neben ihm erwachte zum Leben, als Männer daraus hervortraten, die Männer, die er vorher in der Menge vermisst hatte. Als sie ihn sahen, fuhren sie zusammen, als erblickten sie einen Geist, und Dante blickte fragend zu seiner Mutter. „Wir haben sie ausgeschickt, damit sie uns deine Leiche bringen, Dante“, erklärte sie ihm. „Sagt uns“, befahl die Großmutter, „was habt ihr bei der Hütte des Bauern gefunden?“ Der Gruppenälteste, Alexi, hob seine Hände. Er hielt einen Ball aus Stoff darin, und als er ihn ausbreitete, wusste Dante, was es war. Er konnte Alexi nicht davon abhalten, ihn hochzuhalten und allen zu zeigen. Dantes Hemd, mit einem Loch im Rücken, in Fetzen zerrissen und vollkommen durchtränkt von getrocknetem Blut. „Der Bauer war tot“, sagte Alexi leise. „Zwei Löcher, genau hier.“ Er benutzte seine Finger, um sich selbst gegen den Hals zu stechen, und der junge Dante erinnerte sich daran, wie seine Tante,

Sarafina, den alten Mann durch einen Biss in die Kehle ausgesaugt hatte. „Nosferatu!“, kreischte die Großmutter, schob seine Mutter hinter sich und stach wieder mit ihren Fingern nach ihm. „Verlasse uns, Dämon! Geh deinen Weg und verlasse uns!“ Wie ein Mann wich das gesamte Dorf vor Dante zurück und näher ans Feuer. Er schüttelte den Kopf und hob flehend eine Hand. „Bitte! Ich bin kein Dämon! Ich bin genau wie vorher. Ich bin Dante.“ Er fand die Augen seiner Mutter in der Menge. „Ich bin dein Sohn!“ „Mein Sohn ist tot.“ Die Worte waren leise, tief und vibrierten vor Schmerz. „Nein!“ „Es war Sarafina, nicht wahr, Junge?“, fragte die Großmutter ihn. „Sie ist zu dir gekommen, als du im Sterben lagst. Sie hat ihren Fluch auf dich übertragen. Stimmt es nicht?“ „Nein!“ Die Großmutter spuckte auf den Boden. „Das werden wir sehen, junger Teufel. Denn die Sonne wird bald aufgehen. Die Seele unseres Dante wird

Frieden finden, wenn dein Körper brennt!“ Dantes Mutter fuhr gen Osten herum und starrte in den blasser werdenden Himmel. Dann rannte sie zu ihm, legte ihre Hände auf seine Brust und schob ihn fort. „Geh, Dante! Geh jetzt. Ich kann es nicht ertragen, dich zweimal zu verlieren.“ „Mutter? Ich kann nicht –“ „Geh! Bedeck dich!“ „Du tust ihm keinen Gefallen, Kind“, murmelte die Großmutter. Dann spürte Dante es. Eine Hitze, die aus seinem tiefsten Inneren aufloderte, als die ersten Sonnenstrahlen den Himmel erleuchteten. Die Strahlen drangen wie Pfeile tief in ihn ein und verbrannten ihn. „Ah!“ Er schlang seine Arme um sich und biss die Zähne zusammen. Dünne Rauchsäulen begannen aus seinem Fleisch aufzusteigen. „Lauf! In die Wälder. Such dir Schutz!“, schrie seine Mutter. Das Brennen wurde unerträglich. Dante drehte sich um und rannte los. Die Bäume boten nur für Sekunden Erleichterung, während er sich kopfüber

in den Wald stürzte und nach Schutz vor der Sonne suchte. Sein Herz brach, seine Gedanken rasten, aber all das trat an zweite Stelle hinter den lodernden Schmerz seines brennenden Fleisches. Er warf sich in einen Haufen Laub und vergrub sich immer tiefer darin, verteilte die Blätter und Zweige über und um sich, während er sich bis ganz auf den Grund des Haufens arbeitete. Und dann saß er ganz still da und wartete darauf, dass der Schmerz verging, wartete ab. Er musste nachdenken. Er musste verstehen, warum das alles mit ihm geschah. Doch plötzlich war sein Kopf so schwer. Viel zu schwer, und seine Augen, obwohl sie mit Tränen gefüllt waren, fielen ihm zu. Er kämpfte darum, wach zu bleiben. Gott, wie konnte er schlafen, wenn seine ganze Welt gerade auf den Kopf gestellt worden war? Aber diesem Schlaf konnte er nicht widerstehen. Im Grunde fühlte es sich gar nicht an wie Einschlafen. Es schien, dachte er, und Panik ergriff sein Herz, als würde er sterben … Morgan stand auf und rannte aus dem Kinosaal. Dante, der zugesehen hatte, wie sein eigenes Leben

sich auf der Leinwand entfaltete, und dabei immer ungläubiger und wütender geworden war, bemerkte, dass sie ging, stand langsam auf und folgte ihr. Sie hatte das getan. Irgendwie war diese Frau an seine Geheimnisse gekommen. Und sie hatte sie der ganzen Welt verraten. Dafür musste sie bezahlen. Noch heute Nacht. Lou hatte die gesamte DPI-Akte über den angeblichen Vampir, der sich Dante nannte, gelesen, ehe sie ein Kino fanden, in dem der Film noch lief, den Mad Max unbedingt sehen wollte. Er war vor ein paar Monaten herausgekommen, aber jetzt, wo er die Nominierung für das beste Drehbuch bekommen hatte, war er von einigen Kinos wieder ins Programm genommen worden. Während er noch las, machte Maxine ein Kino aus, in dem der Film lief, und dann kam sie und las über seine Schulter mit, weil noch zwei Stunden Zeit waren bis zur nächsten Vorstellung. Also waren sie beide ganz gut auf dem Laufenden über den Mist in der Akte, als sie endlich im Kino saßen. Was bedeutete, er wusste es, und er wusste, dass sie wusste, dass da auf der Leinwand so

ziemlich genau das passierte, was auch in der Akte stand. Natürlich nicht so trocken. Eigentlich sogar verdammt fesselnd. Aber die Höhepunkte waren die gleichen. Zigeunerkind, erschossen, weil es eine Ziege gestohlen hatte, zu einem Vampir verwandelt von der exotischen Tante, die nicht älter wurde. Klar. Die Fiktion auf der Leinwand waren harte Fakten, wenn es nach dieser Regierungsbehörde ging. Der einzige Unterschied war, dass der Film Sympathie für diese Kreatur weckte. Er schien verwundet und einsam, verflucht und gejagt. In der Akte handelte es sich dagegen um ein wildes Tier, das geschlachtet werden musste. Lou wusste verdammt genau, er konnte Maxine jetzt nie mehr davon überzeugen, dass beide Versionen Mist waren. Jetzt nicht mehr. „Verstehst du jetzt, wovon ich rede, Lou?“ Er ging neben ihr die mit Teppich ausgelegte Rampe des Kinos hinauf. Jemand rempelte sie an, brachte sie aus dem Gleichgewicht, und er griff automatisch nach ihrem Oberarm. „Alles, was ich sehe, ist, dass deine streng geheimen Informationen

anscheinend doch nicht so streng geheim sind.“ „Wenn das der Fall wäre, wüsste die Öffentlichkeit davon. Irgendein Reporter hätte schon längst alles herausgefunden.“ „Was, hast du die letzte Ausgabe des Enquirer verpasst? Ich bin mir sicher, die haben darüber geschrieben. Gleich neben dem Baby, das in einem Kürbis gefunden wurde, der noch an der Ranke hing, und der Häufung von Entführungen durch Außerirdische in Nirgendwo, Nebraska.“ Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Wenn die Öffentlichkeit davon wüsste, stünde es in der Times.“ „Ja sicher.“ „Lou, die Sache ist echt. Wir haben die gleichen Fakten aus zwei verschiedenen Quellen. Diese Frau, diese Drehbuchautorin, weiß mehr darüber als wir beide zusammen. Wir müssen mit ihr sprechen.“ Er führte sie zu seinem Wagen, hielt ihr die Tür auf und setzte sich dann hinter das Steuer. „Ich will nicht mehr mit dir darüber sprechen. Morgen früh werde ich ein paar Leute anrufen, die mir noch

einen Gefallen schulden.“ „Nein.“ „Ich habe einen Kumpel, der bei der CIA arbeitet. Kein hohes Tier, aber trotzdem … er wird wissen, wen man fragen muss wegen dieser … diesem DPI-Mist.“ „Lou, nein.“ „Ich bin ein Cop, Max. Ich schlucke keinen Fetzen von dieser Geschichte. Das ist einfach nicht meine Art. Nicht ohne Beweise.“ Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre flachen Hände und drehte ihn zu sich. Sie war ihm so nah. Nah genug, dass er ihren Atem auf seinen Lippen spüren konnte. Er roch nach heißem, gebuttertem Popcorn und war genau so verlockend. „Sag es niemandem. Lou, bitte. Es ist zu gefährlich.“ Er sah sie an. Sie hatte diese riesigen grünen Augen, und im Augenblick stand die Angst darin. Er hatte noch nicht oft gesehen, dass Maxine Stuart Angst hatte. Verdammt, wenn sie ihm bloß nicht so nahe kommen würde. Er seufzte, hob eine Hand, fuhr ihr durch die kurzen roten Haare und brachte

dabei Abstand zwischen ihr Gesicht und seines. „Okay, in Ordnung. Gut. Ich sage nichts.“ „Und wir versuchen, die Drehbuchautorin zu finden. Morgan De Silva. Nur um mit ihr zu reden.“ Er seufzte und parkte seinen Wagen vor Maxines Haus-Schrägstrich-Büro. „Ich denke darüber nach.“ „Ich mache es mit dir oder ohne dich, Lou.“ „Jetzt hör mir zu, Max. Du musst etwas mehr Geduld haben. Gib mir ein paar Tage, um die Sache durchzusehen.“ Er fuchtelte mit dem erhobenen Zeigefinger, wie ein Vater. „Und in der Zwischenzeit kein Wort zu Lydia. Verstanden?“ „Kein Wort zu Lydia über was, Lou?“, fragte eine Stimme. Er fuhr herum und sah Lydia selbst, die neben seinem Wagen stand. Anscheinend hatte sie darauf gewartet, dass Max nach Hause kam. „Kommen Sie mit rein, Lydia“, rief Maxine, stieg aus Lous Wagen und ging zum Haus hinauf. „Ich erkläre Ihnen dann alles. Bis später, Lou.“ „Aber …“

„Bye, Lou“, verabschiedete Lydia ihn lächelnd. Lou schüttelte kurz den Kopf und fragte sich, wie zum Henker er so schnell die Kontrolle über die Situation verloren hatte. „Hör zu, Lydia, alles was sie dir erzählt, ist reine Spekulation. Das musst du von Anfang an wissen.“ Lydia verdrehte die Augen und schloss sich Maxine an. Gemeinsam gingen sie die Treppen der Veranda zur Eingangstür hinauf. „Und keine von euch macht irgendetwas, ohne mich vorher anzurufen. Verstanden?“ Maxine blickte über die Schulter zu ihm zurück und zwinkerte ihm zu. „Natürlich nicht. Ohne dich macht es doch keinen Spaß.“ Dann öffnete sie die Tür, und die beiden gingen gemeinsam ins Haus. Lou fuhr nicht nach Hause. Stattdessen machte er sich auf den Weg zur Wache, denn dort bewahrte er alle seine Telefonkontakte auf. Er suchte sich die Nummer seines Kumpels bei der CIA heraus und rief den Mann an. So vage wie möglich bat er seinen Freund, etwas über eine angebliche geheime Unterabteilung der CIA herauszufinden,

die als DPI bekannt war. Dann fuhr er zurück zu Maxines Haus und beobachtete es für den Rest der Nacht.

Keith 13. KAPITEL Eine weiche Hand legte sich auf Morgans Schulter, als sie dort am Strand saß und weinte. „Warum weinen Sie?“ Es war die Stimme einer Frau, tief und voll und mit einem leichten Akzent. Morgan hob ihren Kopf und wischte mit den Händen über ihre Wangen. Sie konnte die Frau, die neben ihr aufgetaucht war, kaum sehen. Sie war nur ein großer, schlanker, verschwommener Fleck. Dunkles Haar, preiselbeerfarbener Mantel. „Oh Gott, Sie müssen mich ja für den letzten Idioten halten.“ „Nein. Auch mich hat der Film sehr stark berührt. Aber Sie sind ja ganz mitgenommen.“ Sie setzte sich in den Sand neben Morgan. „Sie … Sie waren auch im Kino?“ „Mmm. Ich habe gesehen, wie Sie weggelaufen sind und geweint haben, und habe mir Sorgen gemacht.“ Endlich hatten Morgans Augen sich weit genug geklärt, um sich die Frau, die neben ihr im Sand

saß, ansehen zu können. Ihr weinroter Trenchcoat reichte ihr bis zu den Knöcheln und war ganz zugeknöpft. Sie trug lange schwarze Stiefel, die ihre Waden umschmeichelten. Ihre Hände steckten in Handschuhen aus passendem schwarzem Leder, und ihr Gesicht wurde zum Teil verdeckt von einer Mähne aus schwarzen Locken. Sie trug viel Makeup. Viel mehr, als Morgan normalerweise für angebracht hielt. Und doch wirkte es nicht störend. Sie starrte hinaus auf die Wellen, nicht in Morgans Augen. „Was hat Sie dazu gebracht, so aus dem Kinosaal zu stürzen?“ Morgan senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam. Die Frau schien nicht zu wissen, wer sie war, und das sollte auch so bleiben. Zum Glück hatte sie weder die Sonnenbrille noch den Schal abgelegt. „Die Geschichte scheint so echt zu sein“, sagte sie leise. „Ich habe sie schon ein Dutzend Mal gesehen.“ In ihrer Fantasie waren es unzählige Male. „Und immer habe ich die gleiche Reaktion, wenn seine Familie ihn auf diese Art verstößt. Ihn ganz alleine in eine Welt der Dunkelheit schickt.

Ich nehme an, auf irgendeiner Ebene berührt mich das zutiefst.“ „Mmm. Mich auch. Ich wurde von meiner Familie fast genauso behandelt.“ Jetzt drehte sie sich um und schien durch die Sonnenbrille hindurch direkt in Morgans Augen zu sehen. „Und Sie auch, nehme ich an?“ „Ja.“ Sie sprach, ohne es zu wollen. Als würden die Worte aus ihr herausgesaugt. Diese Frau hatte atemberaubende Augen. Dunkel, vielleicht schwarz, und irgendwie leuchtend. Die Sonne war schon lange untergegangen, und unter dem mit Sternen betupften Himmel schlugen die Wellen sanft gegen den Strand. „Erzählen Sie es mir“, bat sie jetzt mit weicher, tiefer Stimme. Verlockend. „Ich … ich habe meinen Eltern nie nahegestanden. Aber erst nachdem sie gestorben waren, habe ich erfahren, dass ich adoptiert bin.“ „Ahhh“, sagte sie beim Einatmen, „Sie Arme. Und dann haben Sie sich gefragt, wer Ihre richtige Familie ist. Ihr eigenes Blut.“ Während sie sprach, streckte sie eine Hand aus und strich behutsam

Morgans langes Haar von ihrer Schulter, das sich über ihren Rücken legte. Ihre Augen glitten über Morgans Kinn, berührten ihren Hals, und die Haut dort wärmte sich, als wäre die Berührung echt. „Ja“, gestand Morgan, „ich habe mich gefragt, wer sie sind. Wie sie wohl waren.“ „Vielleicht fühlen Sie wegen Ihrer eigenen Geschichte so viel Mitgefühl für Dante – den Vampir in dem Film.“ „Oder vielleicht liegt es daran, dass ich in seinem Haus wohne.“ Die Frau zuckte zusammen, ihre Augen weiteten sich, und ihr Blick schnellte wieder auf Morgan. Der Zauber ihrer leisen Stimme war durchbrochen. Sie klang jetzt schärfer. „Was soll das heißen, Kind?“ Was hatte sie sich nur gedacht? Meine Güte, so ein Schnitzer konnte ihre aufkeimende Karriere zerstören. Sie durfte nie, niemals zugeben, dass die Story in ihren Filmen eigentlich die Erfindung eines anderen war – und noch viel weniger, dass sie in dem Haus lebte, das einst ihm gehört hatte. Wenn sie das tat, würde auch der Rest ans Licht

kommen. Dass sie seine wahnsinnigen Fantasien abgeschrieben hatte, um ihre eigene Arbeit zu schaffen, die jetzt für die höchste Auszeichnung der Filmindustrie nominiert war. Sie versuchte ein falsches Lächeln und schüttelte missbilligend den Kopf. „Das Haus in einem der Filme hat mich immer an mein eigenes erinnert, das ist alles.“ „Oh.“ Diese merkwürdige Frau glaubte ihr nicht, das merkte Morgan sofort. Sie stand auf, bürstete sich den Sand von der Kleidung und drehte ihr dabei den Rücken zu. „Ich sollte gehen, es wird spät, und …“ Morgan drehte sich wieder um. Aber da war niemand. Morgan kniff die Augen zusammen und suchte den Strand erst in die eine, dann in die andere Richtung ab, dann das Wasser und den Weg zur Stadt. Nichts. Niemand. Hatte sie sich das Gespräch nur eingebildet? Sie presste eine Hand gegen die Stirn und schloss ihre Augen. „Vielleicht muss ich für eine Weile von hier weg. Nur für eine Weile.“ Aber schon, als sie es aussprach, wusste sie, dass es unmöglich war.

Sie konnte hier nicht weg. Es war nicht länger nur eine Frage des Wollens. Sobald die Worte ausgesprochen waren, fühlte sie sich krank, und schon beim bloßen Gedanken daran, das alles zu verlassen, stieg Panik in ihr auf. Alles … und ihn. „Was zum Teufel hast du mit dem Mädchen gemacht, Sarafina?“, verlangte Dante zu wissen, und sein Ton war scharf. Vielleicht zu scharf, denn Sarafinas perfekt geschwungene Augenbrauen hoben sich fragend. „Dann kennst du sie also. Mmm. Was bedeutet sie dir?“ „Nichts.“ Er fuhr sie an, ohne ihr in die Augen zu schauen, nur für den Fall, dass sie zu viel sah. „Was machst du überhaupt hier? Ich konnte es nicht glauben, als ich im Kino deine Anwesenheit gespürt habe.“ Voller Unschuld zuckte Sarafina die Schultern, auch wenn er nur allzu genau wusste, dass es in ihrem ganzen Körper keinen unschuldigen Knochen gab. Sie schüttelte ihren Kopf und ließ sich ihre wilden Haare vom Wind zerzausen. „Ich bin gekommen, um dich zu sehen. Als ich durch die

Stadt gefahren bin, habe ich deine Anwesenheit im Kino gespürt, also bin ich hineingegangen. Stell dir vor, wie überrascht ich war, als sich deine Geschichte auf der Leinwand ausbreitete.“ Er schloss seine Augen, weil er darauf keine Antwort hatte. Es hatte ihn bis ins Mark erschüttert, sein eigenes Leben in diesem Film wiederzuerkennen. Und es fühlte sich viel zu sehr wie Betrug an. Besonders jetzt, wo er die Wahrheit kannte. Es war Morgan. Sie hatte das Drehbuch geschrieben. Wieder hatte eine Frau, die behauptete, ihn zu lieben, seine Geheimnisse dem Feind überlassen. Jedem. Der Welt. „Anscheinend hat es das Mädchen genauso aufgewühlt, wer sie auch sein mag. So wie sie aus dem Saal gerannt ist.“ Sarafina ließ ihn nicht aus den Augen. „Ich frage dich noch einmal. Was bedeutet sie dir, Dante?“ „Sie ist eine unschuldige Sterbliche, nicht mehr als das.“ Er verriet ihr nicht, dass er in der Nähe gewesen war und ihr ganzes Gespräch mit Morgan belauscht hatte. Er hatte jeden Moment erwartet,

eingreifen zu müssen. „Oh, sie ist viel mehr als eine einfache Sterbliche, mein Liebling. Viel, viel mehr.“ Sie nahm seine Hand, und gemeinsam gingen sie am Strand entlang, eine Meile entfernt von der Stelle, an der Sarafina mit Morgan gesprochen hatte. „Aber dazu kommen wir noch“, sagte sie. „Warum hast du mich unterbrochen, während ich eine so erleuchtende Konversation mit diesem Hündchen hatte?“ „Damit du ihr nicht die Kehle herausreißt, liebe fürsorgliche Tante. Sie ist im Ort bekannt, man würde sie vermissen.“ Um die Wahrheit zu sagen, war er selbst versucht gewesen, Morgan das Gleiche anzutun – sie zu vernichten. Aber als er die blutdurstige Sarafina bei ihr sah, spürte er einen Stich aus Angst und den untrüglichen Instinkt, sie zu beschützen. Er hatte Sarafina in Gedanken angebrüllt, und sie war so schnell an seine Seite gerannt, dass kein menschliches Auge ihr hatte folgen können. „Das zeigt nur, wie schlecht ich dich unterrichtet habe, nicht wahr?“, fragte sie. „Und wie sehr du dich all die Jahre isoliert hast. Ich hätte ihr nicht

schaden können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Sie ist eine der Auserwählten.“ Dante nickte. „Das habe ich schon selbst herausgefunden. Aber ich gebe zu, ich weiß kaum, was das bedeutet, außer dass sie dasselbe Antigen in sich trägt wie wir und dass sie werden kann, was wir sind.“ Nur selten hatte er Sarafina seufzen hören. „Ich wusste, sie befindet sich im Kino, ehe ich nur einen Herzschlag lang dort war.“ Sie blieb stehen, als sie an einen großen Findling kamen, und setzte sich darauf wie eine Königin, die ihren Thron bestieg. Dante stand dicht bei ihr und beobachtete, wie sie aufs Meer hinausstarrte. Es hatte die schwarzblaue Farbe von nassem Schiefer. „Wir können ihre Anwesenheit spüren. Das weißt du bereits. Wir können ihnen kein Leid zufügen.“ „Nicht?“ Er dachte einen Moment darüber nach. „Ist es nicht eher so, dass wir es meistens nicht wollen. Was glaubst du, würde passieren, wenn wir es dennoch versuchten?“ Irritiert sah sie ihn an. „Hast du einen Grund, ihr Schaden zufügen zu wollen?“

„Ich kenne sie kaum.“ Er senkte seinen Blick, während er sprach. „Wenn wir es versuchen – nun, ich bin mir nicht sicher, was dann passiert. Die Wahrheit ist, wir fühlen uns eher dazu gezwungen, sie zu beschützen, wenn wir ihnen zufällig begegnen.“ Das erklärte den Drang, sich zwischen seine Tante und die weinende Morgan zu stellen. „Sie haben eine verkürzte Lebenserwartung, wusstest du das?“ Sein Kopf fuhr hoch. Morgan hatte es ihm erzählt, aber es war ihm so unwahrscheinlich erschienen. „Nein, das wusste ich nicht“, log er deshalb. Er wollte und konnte seine Tante nicht wissen lassen, wie intensiv er und Morgan in ihrem Traum schon kommuniziert hatten. Sarafina nickte nur. „Mmm. Werden kaum älter als dreißig sterbliche Jahre alt. Sie sieht aus, als ob sie bereits im Verfall begriffen ist.“ Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. „Was kann man dagegen tun?“, fragte er und blickte suchend in Sarafinas Gesicht. „Nichts. Man verwandelt sie oder lässt sie

sterben. Es ist eigentlich eine ganz einfache Wahl. Man sagt, es gibt für jeden Vampir einen Auserwählten, mit dem die geistige Bindung stärker ist. Ich habe immer gedacht, das muss blanker Unsinn sein. Verklärte Romantik, nicht mehr als das.“ „Oh, glaubst du? Deine Bindung an mich war also nicht so?“ „Meine Bindung zu dir war damit überhaupt nicht zu vergleichen, Dante. Du warst meine Familie. Mein Neffe. Der Einzige meines Klans, der noch irgendeine Beziehung zu mir hatte. Deshalb habe ich dich geliebt.“ Sie starrte auf das Meer hinaus, und der Wind hob ihr die Locken von den Schultern. „Nein, diese andere Bindung, von der man unter Untoten nur flüstern hört, soll viel intensiver sein. Sie äußert sich als extrem starke psychische Verbindung zwischen den Gedanken. Einige behaupten, der Vampir kann mental mit seinem besonderen Sterblichen kommunizieren und er oder sie auch mit ihm. Außerdem schafft die Bindung ein starkes sexuelles Verlangen zwischen den beiden, das noch stärker wird, wenn sie sich

Blut teilen.“ Sie fixierte Dante, der sich schnell abwendete. „Lebt sie in deinem Haus, Dante?“ Es gelang ihm, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen und einen Schutz um seine Gedanken zu errichten. „Ja.“ „Und wo wohnst du dann?“ Er wollte ihr das Innere von Morgans Haus nicht zeigen. Sie würde merken, dass es Morgan war, die seine Geschichten für die Leinwand schrieb – ein Geheimnis, das er sowieso nicht sehr lange würde bewahren können, wenn Sarafina in der Stadt blieb. Aber je länger, desto besser. Er war sich sicher, wenn einer von ihnen den Instinkt, einem der Auserwählten nicht zu schaden, überwinden konnte, war es Sarafina. Und das würde sie, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Sie würde das Mädchen umbringen und sich über die Folgen erst später Gedanken machen. „In einer Höhle. Nichts, was dir passen würde, Schatz.“ Sie hob eine Augenbraue. „Ungefähr eine Meile von hier ist ein leer stehendes Haus zu mieten.

Sollen wir es für unseren Zweck anwerben?“ Sein Nicken war unverbindlich. Er musste daran denken, wie sehr er sich danach verzehrte, Morgan wiederzusehen, und fragte sich, wie zum Henker er Sarafina in der Zwischenzeit loswerden konnte. „Dann wird das unsere Mission für die Nacht“, sagte sie. „Morgen Abend sehen wir uns den Film noch einmal an. Dieses Mal ganz. Und wir müssen herausfinden, wer unsere Geschichte an die Filmemacher verkauft und wie er an diese Informationen gekommen ist. Ein Bewohner dieses Ortes, wenn man der Leuchtreklame glauben darf. Auch wenn er wahrscheinlich inzwischen in eine glamourösere Stadt umgezogen ist.“ „Er?“, fragte Dante mit einem Stirnrunzeln. „Morgan … irgendwas. Morgen merke ich mir den ganzen Namen.“ Sie lächelte ihn an. „Aber heute Nacht geht es mir zuerst um das Haus. Es steht recht einsam. Wir können bereits diese Nacht dort verbringen, ohne dass es jemand merken muss.“ „Geh du vor“, flüsterte er. „Kümmere dich um das Haus. Ich schließe mich dir bei Sonnenaufgang an.

Ich muss … trinken.“ Sarafina hob erneut eine Augenbraue. „Das Haus wird bereit sein. Es liegt eine Meile nach Norden, die Küstenstraße entlang. Es ist viktorianisch und war früher wunderschön, jetzt aber ist es schrecklich gelb angestrichen, mit einer rosagrünen Bordüre.“ Dieses Haus kannte er. „Ehrlich gesagt überrascht es mich, dass du es nicht bereits selbst gemietet hast.“ Warum sollte er. Er hatte in der Nähe der Frau gelebt, die sein Körper so sehr begehrte. Und jetzt wusste er immerhin mit Sicherheit, woher dieses Begehren kam, nur stillte das seinen Hunger noch nicht. „Ich brauche keine großen Annehmlichkeiten, Fina.“ Sie beugte sich zu ihm, packte mit beiden Händen seinen Kragen, und küsste ihn auf den Mund. „Sei da, ehe die Sonne aufgeht, Liebling, sonst komme ich dich suchen.“ „Werde ich.“ Bis seine feinen Sinne sie nicht mehr in der Nähe

erspürten, blieb er regungslos sitzen. Und dann machte er sich auf den Weg zu Morgan. Die Zeit für Spielchen war vorbei. Er brauchte Antworten. Sofort. Es war vier Uhr morgens, als Lous Handy ertönte und ihn aus etwas, was fast schon ein Nickerchen gewesen sein könnte, hochriss. Er hatte die ganze Nacht in seinem Auto gesessen und Maxines Haus beobachtet. Er nahm an, Lydia hatte dort übernachtet, weil sie nicht herausgekommen war. Und er machte ihr daraus bestimmt keinen Vorwurf. Wahrscheinlich hatte Maxine ihr da drinnen noch mehr Vampirgeschichten erzählt. „Ja?“ „Malone, wo zum Donnerwetter bist du?“ Lou runzelte die Stirn, als er die vertraute Stimme seines Partners hörte, mit dem er zusammenarbeitete, seit sie noch genug Leute gehabt hatten, um zwei Cops in jeden Wagen zu setzen. „Denny?“ „Die suchen dich überall, Lou. Hör zu, du kommst am besten hierher, und zwar pronto.“ „Aber mein Dienst beginnt erst in …“ Er sah auf

seine Uhr. „Nicht auf die Wache. Zu deiner Wohnung, Lou. Es ist eingebrochen worden, und … es sieht nicht gut aus.“ Er runzelte die Stirn und spürte einen Stich in seiner Brust. Allein Dennys Tonfall sagte ihm, dass er am Telefon nicht mehr erfahren würde, also machte er sich nicht die Mühe, zu fragen. „Ich komme sofort.“ „Wenn, äh, du die Nacht bei jemandem verbracht hast, bringst du die am besten auch mit.“ Lou hielt sein Telefon von sich und starrte es an. Dann legte er es langsam zurück an sein Ohr. „Soll das heißen, ich könnte ein Alibi brauchen, Den?“ „Wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee.“ Lou fluchte leise. „Was zum Teufel ist da drüben los?“ Zu spät. Sergeant Dennis Kehoe hatte bereits aufgelegt. Jemand klopfte an Lous Fensterscheibe und erschreckte ihn fast zu Tode. Es war allerdings bloß Maxine, die ihn angrinste und einen Becher Kaffee in der Hand hielt. Er legte sein Handy hin

und kurbelte die Fensterscheibe herunter. „Wenn du die ganze Nacht damit zubringen willst, mich zu beobachten, könntest du einfach etwas sagen, Lou. Es ist nicht so, als hätte ich etwas dagegen. Allerdings hätten wir beide mehr Spaß, wenn du dabei näher dran wärest.“ Er starrte sie an, während sie ihm den Kaffeebecher in die Hand drückte. „Dann weißt du, dass ich die ganze Zeit hier war, seit ich dich abgesetzt habe?“ Sie schüttelte den Kopf. „Kurz danach warst du für zwanzig Minuten weg. Erinnerst du dich?“ „Mist.“ Er erinnerte sich. Er war zur Wache gefahren, um seinen Freund bei der CIA anzurufen. Verdammt. „Was ist los, Lou?“ Erst jetzt bemerkte Lou, dass sie immer noch angezogen war. Wenn man es so nennen konnte. Sie hatte nie viel an. Shirts mit dünnen Trägern, die eng anlagen und auf deren Brust irgendwelche schlauen Sprüche standen, oder lockere Seidenblusen, die noch besser aussahen. Wenn es kalt wurde, warf sie sich einfach eine Jacke über.

„Wo ist Lydia?“ Ihre Gesichtszüge spannten sich ein wenig an. „Sie schläft fest. Warum?“ „Steig ein, okay? Wir müssen kurz zu meiner Wohnung.“ „Schon gut, schon gut, Lou. In Ordnung.“ Sie ging um den Wagen herum und stieg ein. „Du siehst gar nicht gut aus. Alles okay?“ „Sage ich dir, wenn wir bei mir sind.“ Wie es sich herausstellte, war es nicht okay. Es war überhaupt nicht okay. Er wusste es schon, als er vorfuhr und nicht einmal parken konnte, weil alles voller Polizeiautos war. Gelbes Absperrband vor jedem Eingang, und gerade fuhr ein Krankenwagen davon. „Was zum Teufel …?“ Lou legte Maxine eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen, stellte den Wagen ab und stieg aus. „Du wartest am besten hier. Ich hole dich, wenn ich dich brauche.“ „Klar.“ Sie öffnete ihre Tür, stieg aus und ging so nahe neben ihm, dass ihre Hüfte und ihr Schenkel mit seinem zu verschmelzen schienen, außerdem

schlang sie einen Arm um seinen und hielt ihn fest. „Malone.“ Captain Howard Dutton, Lous Boss, hob das Absperrband, damit die beiden darunter durchkommen konnten. „Ich muss wissen, wo Sie heute Nacht gewesen sind. Die ganze Nacht.“ „Er war bei mir.“ Maxine spuckte die Worte geradezu aus, ehe Lou auch nur den Mund öffnen konnte. „Wer war in dem Krankenwagen?“ Der Captain blickte sie irritiert an. Lou wusste, er war es nicht gewohnt, von so kleinen Dingern wie Maxine Stuart ausgefragt zu werden. Er starrte Lou an. „Du bist die ganze Nacht bei dieser Frau gewesen?“ „Nein“, gab Lou zu. „Ich habe sie gegen zehn Uhr bei sich zu Hause abgesetzt. Dann bin ich zur Wache gefahren, um etwas auf meinem Schreibtisch zu suchen und wieder zurückgefahren. Alles in allem war ich etwa zwanzig Minuten weg.“ „Hat dich in der Zeit irgendwer gesehen? Kannst du beweisen, dass du nicht hierher, zu deiner Wohnung, zurückgekommen bist?“ Lou fühlte, wie sein Magen sich zusammenzog.

„Nein.“ „Doch, kann er, Captain.“ Maxine schon wieder. Beide Männer starrten sie an. Maxine zuckte die Schultern und konzentrierte sich auf Lou. „Okay, ich gebe es zu. Ich dachte, du schleichst dich weg, um eine andere Frau zu treffen …“ „… andere Frau?“ Wovon zum Henker redete sie da? „… also bin ich dir gefolgt. Ich habe gesehen, wie du in die Wache gegangen bist, und dann habe ich gewartet, bis du wieder herauskommst. Dann bin ich dir zurück zu mir gefolgt.“ „Und Officer Malone hat Sie nicht gesehen, Ma’am?“ „Ich, äh … ich habe hinten geparkt und bin zur Hintertür rein. Er hat nicht einmal gemerkt, dass ich weg war.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Würden Sie uns jetzt bitte endlich sagen, was hier los ist? Wer war in dem Krankenwagen?“ Der Captain seufzte und wendete sich wieder an Lou, womit er Maxine offensichtlich ausschloss. Lou wusste, das würde sie fuchsteufelswild machen. „Wir hatten einen Anruf wegen einem

Herumtreiber in deinem Gebäude, Lou. Als wir angekommen sind, stand deine Wohnungstür offen, alles war durchwühlt, und auf dem Boden lag eine Frau. Man hatte ihr aus nächster Nähe in den Kopf geschossen. Neben ihr auf dem Boden lag eine Zweiundzwanziger, keine Fingerabdrücke.“ Er drehte sich um. „Denny, wo ist die Waffe?“ „Hier, Sir.“ Dennis hielt den Plastikbeutel mit dem Beweismaterial hoch, während er zu ihnen eilte. Lou sah sie an und hätte sich fast übergeben, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Das ist meine. Ich bewahre sie im Wandschrank auf.“ „Das dachte ich mir bereits“, sagte Captain Dutton. Er drehte sich um und führte sie die Treppe hinauf auf die Wohnung zu. „Du musst dich umsehen und sagen, ob irgendetwas fehlt.“ Lou nickte. Er ging direkt hinter dem Captain, Maxine immer noch dicht neben ihm. „Was ist mit der Frau?“, fragte Lou. „Ist sie tot?“ „Sie tun das Übliche“, antwortete Dutton, ohne sich umzudrehen. „Wird wahrscheinlich nicht durchkommen. Hat hier etwa fünf oder sechs

Stunden gelegen. Wir haben keinen Herumtreiber gefunden, aber eine Nachbarin will etwas, das ein Schuss gewesen sein könnte, gehört haben. Gegen zehn Uhr. Sie dachte, es wäre eine Fehlzündung, und hat nicht weiter darauf geachtet. Auf dem Ausweis in der Tasche des Opfers stand Jones. Tempest Jones. Hast du sie gekannt?“ Maxine blieb stehen. Lou drehte sich zu ihr um, noch während er versuchte, den Namen zu verarbeiten, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Als er Maxines Gesicht sah, das vollkommen weiß geworden war, vergaß er alles andere. Ihr Mund stand offen und bewegte sich lautlos, und der Griff um seinen Oberarm wurde fest wie eine Schraubzwinge. Große grüne Augen starrten ihn an und wurden feucht. „Stormy“, flüsterte sie. Mist. Maxines beste Freundin. Maxine war verdammt nahe daran, rückwärts die Treppe hinunterzukippen, als ihre Knie nachgaben. Ihre Hand auf seinem Arm wurde schlaff, und sie wäre in sich zusammengesackt, wenn er nicht schnell nach ihr gefasst und sie an sich gezogen hätte. In Zeiten wie diesen war das wahrscheinlich erlaubt.

Der Captain drehte sich um. „Dann hast du das Opfer tatsächlich gekannt?“ „Sie ist eine Freundin“, erklärte Lou. Maxine hatte ihre Arme um seine Hüfte geschlungen und ihr Gesicht in sein Hemd gepresst. Er fühlte Feuchtigkeit, aber sie weinte nur leise. „Captain, können Sie die Wohnung absichern und einen Mann hier abstellen? Ich muss Max ins Krankenhaus bringen.“ Der Captain verzog das Gesicht, nickte aber. „Ja, klar, in Ordnung, aber eins noch, Lou. Wie gut hast du dieses Mädchen gekannt? Tempest Jones?“ Er schüttelte den Kopf. „Gut genug, um manchmal Donuts und Kaffee mit ihr zu teilen. Nicht gut genug, um ihren richtigen Namen gleich zu erkennen. Reicht dir das?“ Der Captain seufzte und nickte mit dem Kopf. „Geht schon.“ „Danke.“ Lou schob Maxine zur Seite, und es gelang ihm, sie die Treppe hinunter und am Absperrband vorbei zu seinem Auto zu manövrieren. Jemand öffnete ihm die Beifahrertür, und er sah kurz auf und nickte Denny dankend zu.

Sein Kollege sah besorgt aus und auch etwas überrascht. Natürlich sah er überrascht aus. Es musste für ihn, für jeden hier, so aussehen, als wären er und Mad Maxine so was wie ein Paar. Als könnte es jemals so weit kommen. Er half ihr auf den Beifahrersitz, aber sie hielt sich immer noch an ihm fest. „Kleines, du musst jetzt loslassen, okay? Nur für eine Minute, damit ich uns ins Krankenhaus fahren kann. Hmm?“ Sie schniefte und nickte gegen seine Brust, dennoch dauerte es unendlich lange Sekunden, ehe sie ihren Griff um seinen Hals lockerte. Er legte ihr den Gurt an und schloss die Tür. Sobald er hinter dem Lenkrad saß, schmiegte sie sich wieder an ihn. Kopf auf seine Schulter, Hände fest um seinen Arm. Machte es etwas schwer, zu fahren, aber das war schon okay für ihn. „Was ist, verdammt noch mal, passiert?“, fragte sie Lou, während er fuhr. „Warum ist Stormy zu deiner Wohnung gegangen?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß es verdammt noch mal nicht, Max.“ Dann senkte er den Kopf. Ihm gefiel nicht, was er dachte. Aber all das war

passiert, nachdem er seinen alten Freund bei der CIA angerufen hatte. Und Stormy Jones war eine der Personen, die dieser Affe anscheinend auf seiner Liste stehen hatte. Es durfte einfach keinen Zusammenhang geben. Verdammt noch mal, das konnte nicht sein.

Keith 14. KAPITEL Dante hatte nicht vor, zu ihrem Fenster hinaufzuklettern, wie er es in den Nächten zuvor getan hatte. Er wollte den Weg zu ihrer Vordertür nehmen, klingeln und sich vorstellen, wenn sie öffnete. Ja, das würde ihr einen Schreck einjagen. Aber auch wenn sie körperlich zerbrechlich war, spürte er eine emotionale Stärke in ihr, die sie noch nicht selbst erschlossen hatte. Sie würde mit dem Schreck fertigwerden. Und dann sollte sie für das geradestehen, was sie getan hatte. Mit großen Schritten erklomm er das hügelige Land von der Küste zu der mit Gras bewachsenen Spitze des Hügels und ging dann über den hinteren Rasen und um das Haus herum. Doch als er näher kam, kribbelte seine Haut, nicht mit der Anziehungskraft, die er immer spürte, wenn er sich ihr näherte, sondern wie eine Warnung. Aufmerksam geworden sah er sich um und bemerkte das fremde Fahrzeug in der Auffahrt. Er roch keine Abgase in der Luft. Es musste schon seit

geraumer Zeit dort stehen. Wer auch immer sich im Haus bei Morgan befand, hatte auf sie gewartet, als sie endlich nach Hause gekommen war. Dante schloss die Augen und stimmte seine Sinne ein. Wie immer war Morgans Aura klar und einfach zu erkennen. Der andere war viel schwieriger wahrzunehmen. Es kostete ihn Mühe, fast, als hätte der Mann – ja, es war ein Mann – eine Mauer um seinen Geist geschaffen. Der Fremde hatte etwas an sich, das Dante nicht gefiel. Er fühlte sich … gefährlich an. Langsam ging er um das Haus herum und fuhr mit einer Hand über das Holz, als er zwischen die Pflanzen und Büsche trat. Sie waren nicht ins Arbeitszimmer gegangen. Er wusste nicht, warum, aber er sollte ihr dazu gratulieren. Und dann tat er es. Ohne es zu wollen schickte er die Nachricht. Gut gemacht, Morgan. Er muss nicht dort hineingehen. Er erstarrte bis aufs Mark, als er ihre Antwort in seinem Geist vernahm. Dieser Raum ist mein besonderer Ort. Meiner … und Dantes. Niemand darf dort hinein.

Sie sprach mit ihm und dachte, sie spräche mit sich selbst. Führte einfach diesen inneren Dialog, den die Leute oft mit sich selbst hielten. Wusste nicht, dass die andere Seite des Gesprächs von einem anderen kam. Ich mag diesen Mann nicht, dachte sie. Er ist gefährlich, warnte Dante und konzentrierte sich schnell auf das Wichtigste. Nimm dich in Acht vor ihm. Er wusste, dass sie zu sich selbst nickte, wie zu ihm, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Und dann erreichte er die Außenwand des Wohnzimmers und spürte das Surren ihrer Lebenskraft direkt durch die Wand hindurch. Er blieb dort stehen, wendete sich dem Haus zu, legte beide Hände flach gegen die Wand und drang tiefer in ihren Geist ein. Und immer tiefer. Als er auf Widerstand stieß, flüsterte er in ihre Gedanken: Öffne dich für mich, Morgan. Ich bin es nur. Lass mich ein. Du weißt, ich werde dir nicht wehtun. Und sie gehorchte. Mit einem bebenden Seufzen entspannte sie sich und öffnete sich ihm völlig. Er sah durch ihre Augen. Hörte mit ihren Ohren. Er

übernahm die Kontrolle nicht. War sich nicht einmal sicher, ob er es könnte, wenn er es versuchte, aber es war auch nicht wichtig. Er war ihr nicht deshalb so nahe gekommen. Er wollte sie beschützen. Komisch, dachte Dante, wo er doch noch beim Herkommen wütend genug gewesen war, sie umbringen zu wollen. Wenigstens hatte er sich das selbst eingeredet. Jetzt fragte er sich, ob das wirklich stimmte. Der Mann, der Fremde, stand mit seinem Rücken zu Morgan und betrachtete den Grundriss des Hauses mit vorgetäuschter Bewunderung. Er nickte mit gespieltem Beifall. „Sehr hübsch, was Sie aus dem alten Kasten gemacht haben.“ „Mir gefällt es“, antwortete sie, „aber Sie haben gesagt, Sie sind hier, um mich wegen meiner Arbeit zu interviewen, Mr. Stiles.“ „Bitte, nennen Sie mich Frank. Mir ist klar, dass ich mich beeilen sollte. Ich hätte Sie niemals um vier Uhr morgens belästigt, wenn ich nicht gesehen hätte, wie Sie nach Hause gekommen sind. Ich bezweifle nicht, dass Sie müde sein müssen. Es war furchtbar freundlich von ihnen, mich überhaupt

hineinzulassen.“ „Na ja, schließlich sind Sie sechs Stunden hierhergefahren, um Ihre Deadline noch zu schaffen. Aber wie schon gesagt, wir werden uns kurz fassen müssen. Setzen Sie sich bitte.“ Sie bot ihm keine Erfrischung an. Er bat auch nicht darum. Stattdessen drehte er sich um und setzte sich in einen massiven Hartholzstuhl mit Löwenklauen und einem Samtpolster. Dante betrachtete sein Gesicht durch Morgans Augen und fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Oder war es Morgans Herz? Die linke Gesichtshälfte des Mannes war von unebenem, rosigem Fleisch überzogen, das wie eine geschmolzene Plastikpuppe aussah. Das Augenlid hing herunter, die Wange sackte ab, die Lippe war verzerrt und das Ohr war nur ein unförmiger Klumpen. Er trug auf dieser Seite auch ein Haarteil. Dante hatte es erst nicht gesehen, aber jetzt erkannte er deutlich, dass das Haar einen etwas anderen Farbton hatte und auf einer Seite des Kopfes etwas weniger strubbelig war als auf der anderen. Es war gute Arbeit. Gut genug, um

einen Sterblichen zu täuschen. Der entstellte Frank lächelte sie an. Man musste es Morgan hoch anrechnen, dass sie zurücklächelte. Aber auch sie spürte Gefahr. Allerdings glaubte sie, wegen seiner Narbe nervös zu sein, und schalt sich selbst, denn dafür konnte der Mann nun wirklich nichts. „Sie müssen sehr aufgeregt sein wegen Ihrer Nominierung“, sagte er. „Ich finde, Sie haben es verdient.“ „Danke. Ja, ich bin ziemlich überwältigt, dass der Film so gut angenommen wurde.“ „Es ist ein guter Film.“ Er zog einen Notizblock aus der Tasche, dann einen Stift. Genau, wie man es von einem Reporter erwarten würde. Ein weiteres Warnsignal für Dante. „Aber andererseits waren die ersten beiden auch gut. Warum, glauben Sie, ist dieser so viel besser angekommen?“ Dantes Herz schien schon wieder auszusetzen. Die ersten beiden? „Die ersten beiden Filme hatten ein viel kleineres Budget“, antwortete Morgan, „aber dennoch haben sie eine Anhängerschaft gewonnen, die größer war

als unsere wildesten Erwartungen. Das führte natürlich dazu, dass wir den dritten viel größer aufziehen konnten.“ Der Mann nickte. „Und ein vierter ist in Arbeit?“ „Natürlich.“ Während Dantes Herz zusehends aus dem Rhythmus geriet, kritzelte der Reporter lächelnd auf seinen Notizblock. „Ich glaube, diese Filme haben einen Realismus an sich, der anderen Vampirfilmen – eigentlich allen Horrorfilmen – fehlt. Der Charakter Dante … er ist vollkommen glaubwürdig. Sehr echt.“ Morgan schluckte nervös. Er ist echt – für mich wenigstens, flüsterten ihre Gedanken. Laut sagte sie etwas anderes. „Das ist der Schlüssel für gute Fiktion, wissen Sie. Es glaubwürdig erscheinen zu lassen.“ „Tatsächlich“, hakte er nach. „Aber es ist mehr als glaubwürdig. Fast … ja, fast wie eine wahre Geschichte. Und als ich dann darüber gestolpert bin, dass Ihr Haus früher einem Mann namens Dante gehört hat, na ja, da bin ich zugegebenermaßen neugierig geworden.“

Jeder Nerv in Morgans Körper wurde zum Zerreißen gespannt. „Wovon reden Sie, Mr. Stiles?“ „Ach, kommen Sie. Die Akten sind für jeden einsehbar.“ Sie schüttelte langsam mit dem Kopf. „Nein“, sagte sie, „sind sie nicht.“ Dann schien sie sich zu fangen. „Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen beziehen, aber sie sind falsch. Dieses Haus wurde von seinem früheren Besitzer verlassen, einem gewissen Mr. Daniel Taylor. Der Staat hat es für sich beansprucht, nachdem er, ohne Erben zu hinterlassen, gestorben war, und mein Onkel David hat es von ihnen gekauft.“ „Daniel Taylor war einer der vielen Decknamen, die der Vampir Dante über die Jahre benutzt hat.“ Fassungslos starrte sie ihn an. Dante konnte es nicht sehen, aber er konnte fühlen, wie sie die Lippen verzog und die Brauen hob. Was sie da zu hören bekam, war viel zu absurd, um überhaupt darüber nachzudenken. „Meine Güte, Sie haben eine grenzenlose Fantasie.“ „Es ist eine Tatsache, Morgan. Genau wie die

Dinge in Ihren Filmen Fakten sind.“ Langsam stand sie auf. „Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, dass es Vampire tatsächlich gibt, Mr. Stiles. Und ich empfange nicht gerne wahnsinnige Fremde nach Einbruch der Dunkelheit. Ich denke, es ist Zeit für Sie, zu gehen.“ „Und ich denke, es ist Zeit für Sie, die Wahrheit zu sagen. Vampire sind echt, Ms. De Silva. Sie wissen das, und ich weiß das. Dante ist echt, und er wird wahnsinnig vor Wut werden, wenn er herausfindet, dass Sie erfolgreiche Kinofilme aus seinen dunkelsten Geheimnissen gedreht haben.“ Sie schritt durch den Raum, auch noch, als ihr ein kalter Schauer über den ganzen Körper fuhr. Durch die Eingangshalle, zur Tür. Sie griff nach der Klinke. Der Mann blieb die ganze Zeit dicht hinter ihr und legte seine Hand auf ihre. „Ich bin kein Reporter“, gestand er nun, „ich arbeite für die Regierung. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Kreaturen wie Dante zu beobachten, Ms. De Silva, und ich weiß genug über sie, um zu wissen, dass Sie in ernster Gefahr sind. Wenn er Sie findet …“

„Raus.“ Sie riss die Tür auf, obwohl seine Hand noch auf ihrer lag. „Sofort, Stiles.“ „Woher haben Sie die ganzen Informationen über ihn? Sagen Sie es mir.“ Nur mit Mühe konnte sie ihre Wut zügeln. „Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei.“ „Das werde ich nicht zulassen.“ Ihre Hand bewegte sich ebenso schnell wie ihr Herzschlag zu dem kleinen Nummernfeld an der Wand. Ihre Finger tanzten über die Knöpfe des Sicherheitssystems, ehe er sie aufhalten konnte. „So. Die Polizei ist in fünf Minuten hier.“ „Ich versuche, Ihnen zu helfen. Er ist ein Monster, Ms. De Silva. Er wird Sie finden, und glauben Sie mir, dann bringt er Sie um, wenn ich Ihnen nicht beistehe.“ Sie beugte sich zu ihm. „Vampire gibt es nicht“, flüsterte sie ihm zu. Dann lächelte sie, als eine Sirene in der Ferne erklang. „Hmm, schneller, als ich dachte.“ Mit einem frustrierten Seufzer drehte er sich um und rannte unsicheren Schrittes aus dem Haus. Sie sah seinem Auto nach, als er wegfuhr, und merkte

sich schnell das Nummernschild, ehe sie die Tür schloss und verriegelte. Dann, langsam, ganz langsam, wurde sie sehr ruhig und still und durchdachte noch einmal das Gespräch. Dante sollte echt sein. Er würde wütend auf sie sein, weil sie der Welt seine Geheimnisse mitgeteilt hatte. Er würde sie umbringen. Aber er konnte sie nicht umbringen, dachte sie zögerlich. Er liebte sie. Nein, nein, berichtigte sie sich. Sie liebte ihn. Wenn er echt wäre, würde er sie auch lieben, weil sich die Kraft ihrer Verbindung nicht verleugnen ließ. Aber er war nicht echt. Es gab ihn nicht. Also liebte er sie auch nicht. Und er konnte ihr bestimmt nicht wehtun. Dante zog sich aus ihren Gedanken zurück. Nur langsam begann er, wieder sein eigenes Fleisch zu spüren. Er öffnete die Augen und blinzelte, bis er wieder deutlich sehen konnte. Er bewegte seine Hände und öffnete und schloss seine Fäuste ein paarmal. Die Sirenen kamen näher. Stiles war lange fort. Aber dafür war jetzt die Polizei auf dem Weg. Und der Sonnenaufgang ebenfalls, ihm blieben nur noch wenige Stunden. Und doch ging er

nicht zu Sarafina oder zu dem Haus, das sie zweifellos bereits für sie beide bereit gemacht hatte. Er ging überhaupt nicht weit weg. „Er hat behauptet, ein Reporter zu sein“, erzählte Morgan dem Polizeibeamten, der bei ihr aufgetaucht war. Der Lautstärke seiner Sirene nach zu urteilen, hatte sie fast eine kleine Armee erwartet, die ihr die Tür einrannte. Stattdessen war da nur dieser eine Kerl, der wie ein harmloser Opa aussah. Hätte er noch ein einziges Haar auf dem Kopf oder im Gesicht gehabt, er wäre als Weihnachtsmann durchgegangen. So wie es aussah, hatte er vom Weihnachtsmann nur das warme Lächeln, die funkelnden Augen und den Bauch. Seine Uniform war tiefblau, fast schwarz. Er trug keine Mütze, und sein Kopf war genauso glänzend und rosig wie seine Wangen. Er stellte sich als Sandy Gray vor, was eher wie eine Farbe klang. „Sie haben ihn also ins Haus gelassen“, stellte Sandy fest. „Hat er sich irgendwie ausgewiesen?“ Morgan schüttelte den Kopf. Sie und Officer Sandy standen sich im Foyer gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, er um Haaresbreite

kleiner, und sie wurde von Minute zu Minute müder. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, reinzukommen, wo wir uns hinsetzen können?“, fragte sie. „Natürlich nicht.“ Er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie vor wenigen Augenblicken noch mit diesem merkwürdigen Mann gesessen hatte. „Ich bin heute lange spazieren gewesen. Da habe ich erst gemerkt, wie sehr ich aus der Form bin. Es hat mich richtig geschlaucht.“ Sie setzte sich in ihren Lieblingssessel. Der Cop blieb stehen, das konnte sie nachvollziehen. Wenigstens war er so größer. Es machte ihr nicht einmal etwas aus. „Sie haben gesagt, der Mann hat Ihnen seinen Namen genannt“, brachte er sie wieder zurück zum Thema. „Ja. Stiles. Frank Stiles. Es ist mir zu dem Zeitpunkt nicht wie ein ausgedachter Name vorgekommen.“ Er schrieb ihn auf. „Er hatte einen Notizblock, genau wie Ihren. Einen Füller, keinen Bleistift. Hat gesagt, er hätte auf die Gelegenheit gewartet, mich wegen meiner

Nominierung zu interviewen, und dass er sechs Stunden durchgefahren ist, damit er seinen Abgabeschluss noch schafft.“ Der Mann nickte. Er wusste von der Nominierung. Seit sie die Leuchtschrift am Kino gesehen hatte, war Morgan klar, dass jeder in der Stadt es mittlerweile wissen musste. „Was ist dann geschehen?“ Sie atmete durch. „Ich habe ihn hier hereingebracht. Er hat dort gesessen.“ Sie zeigte auf den Stuhl. „Hat mir ein paar Fragen gestellt. Dann hatte ich das Gefühl, er ist gar kein richtiger Reporter.“ „Wirklich. Was hat er gesagt, das Sie zu der Annahme gebracht hat?“ Sie blinzelte. „Ich weiß nicht. Nichts, eigentlich, es war nur so ein Gefühl.“ Sie zuckte mit den Schultern und ging schnell zum nächsten Punkt über. „Ich habe ihn gebeten, zu gehen, und er hat sich geweigert. Er erschien mir irgendwie bedrohlich, also habe ich auf den Alarmknopf an der Sicherheitsanlage gedrückt. Sobald er gemerkt hat, was ich getan habe, ist er weggerannt.“

„Er hat Ihnen also auf keine Weise Schaden zugefügt?“ „Nein.“ „Und er hat nichts mitgenommen?“ „Nein.“ Sandy klappte seinen Notizblock zu. „Ich kann nicht erkennen, dass hier ein Verbrechen verübt wurde.“ Sie legte ihren Kopf zur Seite und starrte ihn an. „Na ja, nicht sofort zu gehen, wenn man darum gebeten wurde, ist noch kein kriminelles Verhalten.“ Sie seufzte. „Wahrscheinlich nicht. Aber es kommt auch nicht jeden Tag vor, Officer. Ich meine, ich will hier nicht als Zicke rüberkommen, aber ich bin schließlich schon irgendwie berühmt. Ich glaube, er will etwas von mir, und ich glaube, er kommt noch einmal wieder.“ Er sah ihr ins Gesicht. „Besessener Fan? Etwas in die Richtung?“ „Klar. Kann doch sein, oder nicht?“ Das schien besser zu funktionieren als alles, was sie bisher gesagt hatte. Der Officer dachte darüber

nach und nickte. „Warum beschreiben Sie ihn mir nicht erst einmal, Ma’am? Dann können alle ein Auge offen halten.“ Bis ins letzte Detail versuchte sie Frank Stiles zu beschreiben, von seinem vernarbten Gesicht bis zu der Kleidung, die er getragen hatte. Aber sie erwähnte kein einziges Mal, dass er behauptet hatte, für die Regierung zu arbeiten, oder Vampire, oder die Vorwürfe des Plagiats, die der Mann gegen sie erhoben hatte. Trotzdem sah der Cop immer skeptischer aus, je länger sie ihn beschrieb. „Ich äh … habe mir sein Nummernschild gemerkt, als er weggefahren ist.“ „Haben Sie?“ Sie nickte, zog den Fetzen Papier, auf den sie die Nummer geschrieben hatte, aus der Tasche, und gab sie dem Cop. Er sah sich den Zettel an, dann Morgan. „Kennzeichen aus Maine?“ „Nein. New York.“ „Hmm.“ Er steckte das Papier in seine eigene Tasche. „Kann ich Sie für den Rest der Nacht hier allein lassen, Ma’am?“ Komischerweise kam ihr in den Sinn, dass sie gar

nicht allein war. Aber sie war sich nicht einmal sicher, woher der Gedanke gekommen sein mochte, so wenig Sinn ergab er. „Ich komme zurecht. Ich werde die Alarmanlage aktivieren und dieses Mal keinen Fremden mehr reinlassen.“ „Das ist gut. Wir schicken heute Nacht noch ein paar Streifenwagen bei Ihnen vorbei, okay? Wenn irgendwas Merkwürdiges auffällt, kommen die sofort zu Ihnen rein.“ „Merkwürdiges!“ Sie schüttelte kurz mit dem Kopf. „So etwas wie Leichenteile im Vorgarten, eingeschlagene Fenster und Türen und dergleichen?“ Jetzt hatte sie seine Berufsehre verletzt. „Dazu wird es nicht kommen, Ma’am. Mit Ihnen ist ganz sicher alles in Ordnung? Ich könnte Sie in die Stadt fahren, Ihnen irgendwo ein Zimmer besorgen, wenn …“ „Nein. Nein, es geht mir gut. Das ist nur meine verdrehte Art von Humor.“ Er verzog immer noch keine Miene. „Danke, Officer Gray.“ Sie brachte ihn zur Tür und schloss hinter ihm ab, ehe sie die Alarmanlage neu einstellte.

Dann ging sie nach oben, duschte schnell, zog sich ein kühles Nachthemd an und machte es sich mit einem weiteren von Dantes Tagebüchern im Bett bequem. In dieser Nacht jedoch gelang es ihr nicht, sich darin zu verlieren, nicht einmal in den betörenden Worten ihres Phantomliebhabers. Die Worte des anderen Mannes, des entstellten Mannes, kamen immer und immer wieder zu ihr zurück. Vampire gibt es wirklich … Dante gibt es wirklich, und er wird furchtbar wütend sein, wenn er herausfindet … Sie seufzte, streifte ihre Decke zurück und vergaß für den Augenblick das wertvolle Buch, das in ihrem Schoß lag. Es fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden, und Staub stieg daraus empor. Es war auf den Rücken gefallen und hatte sich weit geöffnet, und als sie sich liebevoll hinabbeugte, um es aufzuheben, fielen ihr einige Worte von den vergilbten Seiten ins Auge. Falltür … Unter dem Haus … Sarg …

Sie zitterte, als sie das Buch vom Boden aufnahm. Es war der achte Band, ein Teil, den sie noch nicht gelesen hatte. Und als sie die vergilbten Seiten überflog, fuhr ihr ein kalter Schauer über den Körper. Endlich etwas, wovon sie sich selbst überzeugen konnte. Ein Beweis. Wenn sie den Mut hatte. Morgan klappte das Buch zu und legte es vorsichtig unter ihre Kissen. Dann beschloss sie, wieder nach unten zu gehen. An der Flügeltür zu ihrem Zufluchtsort, dem Raum, der Dantes Arbeitszimmer gewesen war, blieb sie stehen. Sein Lieblingsort und ihrer auch. Sie schluckte verkrampft, ging hinein und auf den Kamin zu. Sie rollte den Orientteppich zurück und legte das Parkett darunter frei. Es war unversehrt. Ganz. Keine Scharniere, kein Umriss einer Falltür, wo sie im Buch beschrieben war. Aber der Boden war vielleicht im Laufe der Jahre, seit diese Seiten geschrieben worden waren, erneuert worden. Sie erinnerte sich an dieses Gefühl, das sie ergriffen hatte, das Gefühl, Dante ganz in der Nähe zu spüren, wie er sie berührte, in

ihrem Geist – wie oft in den letzten Wochen? Oft war sie genau in diesem Raum gewesen. Entschlossen griff sie sich den eisernen Schürhaken, ging wieder durch das Zimmer, von einer Wand zur anderen, und klopfte dabei den Boden mit dem Schürhaken ab. Klack, klack, klack, klack, klack, klock. Sie blieb wie versteinert stehen und fragte sich, ob sie den Unterschied wirklich gehört oder ihn sich nur eingebildet hatte. Sie klopfte den Boden noch einmal ab, und wieder veränderte sich das Geräusch dort, wo die Falltür gewesen sein sollte. Als wäre darunter etwas hohl. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie rammte die Spitze des Schürhakens zwischen die Bodenbretter und stemmte sich dann darauf, um sie anzuheben. Die Bretter widerstanden selbstverständlich allen Versuchen. Sie stieß tiefer und fester zu und versuchte es noch einmal. Sie legte sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf. Wieder und wieder. Bis sich endlich ein einzelnes Brett löste und in der Mitte zerbrach. Außer Atem und schweißüberströmt stand Morgan

da, lehnte sich auf den Schürhaken und starrte hinab. Unter der Holzdiele befand sich ein weiteres, verrottetes Brett. Nur ein einziger Stoß mit dem Haken genügte, um ein Loch zu schlagen, das ihr Einblick in den dunklen Abgrund unter dem Haus gewährte. Immer noch außer Atem, eilte Morgan zu ihrem Schreibtisch, um sich eine Taschenlampe zu holen. Sie schaltete die Lampe an und leuchtete mit ihrem Strahl hinab durch die Öffnung. Direkt unter ihr befand sich eine alte Wendeltreppe. Sie führte von dem Boden, auf dem sie stand, hinab. Sie richtete sich wieder auf, und ihr Herz schlug so heftig – sie glaubte, es müsste jeden Augenblick bersten. Sie starrte auf das Loch. „Mein Gott, kann es die Wahrheit sein? Könnte es ihn wirklich geben? Dante?“, flüsterte sie. Dann griff sie wieder nach dem Schürhaken und hob eine weitere Diele an, dann noch eine. Sie zerschlug die verrottete Falltür – und ja, genau das waren die alten Bretter gewesen. Jetzt war es deutlich – sie konnte die verrosteten Scharniere sehen –, und endlich hatte sie eine Öffnung, die

groß genug war, um hindurchzusteigen. Sie schluckte einmal, nickte entschlossen, nahm den Schürhaken in eine Hand, die Taschenlampe in die andere und senkte sich hinab durch das Loch und auf die Treppe. Morgan war nicht in ihrem Schlafzimmer, als Dante vom Balkon aus hineinspähte. Er hatte sich doch dagegen entschlossen, einfach an ihre Tür zu klopfen und sie mit den Tatsachen zu konfrontieren. Nach dem Schreck, den ihr der entstellte Mann in der Nacht eingejagt hatte, wäre das vielleicht zu viel gewesen. Sie arbeitete nicht mit diesem Kerl zusammen. Spielte ihm keine Informationen zu, jedenfalls nicht bewusst. Dante war wütend auf sie, das schon, und wollte sie damit konfrontieren und seine Wut über das, was sie ihm angetan hatte, an ihr auslassen. Genauso sehr wollte er sie aber in ihren Träumen besuchen, wie er es zuvor getan hatte. Er wollte sie in Gedanken verführen, auch wenn es die Hölle für seinen Körper war. Auf eine Art verschaffte es ihm Erleichterung. Er hungerte nach ihr und verzehrte sich nach ihr, auch wenn er sie würgen

wollte, bis sie für immer schwieg. Doch sie lag nicht im Bett und wartete auf seine geisterhafte Berührung oder seine vampirische Wut. Und sie war auch nicht in ihrem Bad und duschte oder badete, sodass er beobachten konnte, wie das Wasser von ihrer Alabasterhaut perlte, oder sie ertränken konnte. Seine Sinne verrieten ihm sogar, dass sie sich weit entfernt von diesem Teil des Hauses befand – und sehr aufgebracht war. Er dachte an ihre Begegnung mit diesem Stiles, und Sorge begann an seinen Eingeweiden zu nagen. Idiot, der er war, fühlte er, wie jede Zelle seines Körpers sich danach sehnte, zu ihr zu gehen und sie zu beschützen, sie zu retten. Er spürte die Anwesenheit des Mannes nicht mehr. Aber er wusste, dass er Ärger bedeutete. Er war es, der schon seit Monaten auf der Jagd nach Dante und seiner Art war. Es musste der Film gewesen sein, der ihn zu Morgan geführt hatte. Stiles würde sie benutzen, um an ihn heranzukommen. Irgendetwas Schreckliches stimmte nicht mit Morgan. Dante spürte ein Ziehen in seinen

Eingeweiden, das nicht zu ihm gehörte, ein Stocken seines Atems, einen Schauder der Furcht – nein, der reinen Panik. Keine Zeit für Vorsicht. Er reagierte auf den unwiderstehlichen Instinkt, eilte durch ihr Zimmer in den Flur und folgte der magnetischen Anziehungskraft, die ihr Wesen auf ihn hatte. Er rannte die Treppe hinunter. Die Tür des Arbeitszimmers war dieses Mal offen, und er preschte in den Raum, bereit, sie gegen alles, was ihr gegenüberstehen konnte, zu verteidigen. Sekunden später blieb er wie erstarrt stehen, als er die zerbrochenen Bodendielen neben dem zusammengerollten Teppich sah und das klaffende schwarze Loch dahinter. Dante wusste nicht, was er tun sollte. Für einen Augenblick stand er wie erstarrt da. Dann hörte er ihren Schrei.

Keith 15. KAPITEL Morgan ging vorsichtig die gewundene hölzerne Treppe hinab, die sie unter ihrem Parkett gefunden hatte. Sie setzte ihre Füße langsam, bedächtig und verlagerte ihr Gewicht nur vorsichtig Stück für Stück. Die Stufen stöhnten unter Protest auf, als könnten sie jeden Augenblick nachgeben. Aber das taten sie nicht, und es gelang ihr, bis ganz an den Fuß der Treppe vorzudringen. Sie fand sich in einem feuchten, dunklen Raum wieder. Ein Keller – einer, den es laut den Plänen gar nicht geben dürfte. Sie hatte weiß Gott genug Zeit damit verbracht, sich Blaupausen und Baupläne und uralte Aufzeichnungen anzusehen, während sie beim Umbau ihr Bestes getan hatte, um das Haus wieder so aussehen zu lassen, wie es ursprünglich gewesen war. Sie hatte die Farbe der Einrichtung von mehreren Räumen herausgefunden. Sie hatte eine Zeichnung des großen Kristalllüsters gefunden und ein vergilbtes Foto der hinteren Gärten. Aber nirgendwo war von einem Keller die Rede

gewesen. Tatsächlich wurde sogar mehr als einmal in diesen Dokumenten erwähnt, dass es keinen gab. Fast entschuldigend, als handele es sich um ein unverzeihliches Übersehen des Erbauers. Der Erbauer – Daniel Taylor. Daniel Taylor ist einer der vielen Decknamen, die der Vampir Dante benutzt hat … Oh, verdammt. Morgan atmete einmal tief die abgestandene Luft ein, die noch nie das Sonnenlicht berührt hatte, schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete umher. Die niedrige Decke wurde von hölzernen Balken gestützt. Die Wände waren aus flachen Steinen gebaut, die man einfach aufeinandergeschichtet hatte. Es war kaum zu glauben, dass sie immer noch standhielten. Am Ende des kleinen Raumes befand sich eine halbrunde Öffnung, auf die sie zuging, ihr Licht immer auf den Weg gerichtet. Keine Spinnweben. Sie fand es merkwürdig, dass ihr keine Spinnweben im Gesicht kleben blieben, während sie auf Zehenspitzen und fast ohne zu atmen über den Sandboden schlich.

Sie trat näher und schließlich durch den Torbogen in einen kleineren, noch dunkleren Raum, der aus Zement gegossen war. Der Strahl ihrer Lampe schwang zur Linken und auf einen kleinen Tisch, eine Kerosinlaterne, ein Streichholzbriefchen. Sie konnte den Brennstoff riechen. Das Glas der Laterne war sauber. Morgan ging zu der Laterne und klemmte sich ihre Taschenlampe unter einen Arm, damit der Lichtstrahl blieb, wo sie ihn brauchte. Sie fand den Hebel, mit dem sie das Glas der Laterne heben konnte, zündete ein Streichholz an und hielt es an den Docht. Nachdem sie das Glas wieder gesenkt und die Flamme eingestellt hatte, füllte ein weiches gelbes Licht den Raum. Es war so eine unglaubliche Erleichterung, eine hilfreichere Lichtquelle gefunden zu haben, dass sie seufzte, als sie sich umsah, um herauszufinden, wie es – jetzt, wo sie besser sehen konnte – dort unten aussah. Am anderen Ende des Raumes, auf einer Plattform, die sie vom Boden hob, stand eine Kiste aus Holz, mit der Zeit stumpf geworden, so dunkel, dass es schwarz wirkte, und mit angelaufenen

silbernen Griffen an den Seiten. Sie stand da und starrte, und für die lange Zeit zwischen zwei Herzschlägen weigerte ihr Gehirn sich, die Informationen zu verarbeiten, die ihre Augen ihr sendeten. Dann erst flüsterte ihr Verstand ihr die Wahrheit zu. Ein Sarg. Ein Schreckensschrei löste sich so laut aus ihren Lungen, dass er von den Wänden abprallte und wieder in ihre Ohren hineintauchte, um sich dort zu verstecken. Sie biss sich auf die Lippe, um sich selbst zum Schweigen zu bringen, und rang nach Atem. Ihr Herz galoppierte. Der Deckel des Sarges war geschlossen. Er sah alt aus. Wie lange stand dieses Ding schon dort? Lieber Gott, was befand sich darin? Ihr Verstand wollte es wissen. Er befahl ihrem Körper, näher heranzugehen, das Holz zu berühren, den Deckel zu heben und dann … Er. Dante. Jede Zelle, jeder Muskel ihres Körpers kribbelte und zuckte mit dem Drang, sich umzudrehen und diesem Ort zu entfliehen. Aber ihr Körper verweigerte beides. Ihre Beine zitterten so sehr,

dass sie kaum stehen konnte. Stress verausgabte sie normalerweise genau so schnell wie körperliche Anstrengung, und heute hatte sie beides in Maßen durchgemacht, die sie eigentlich seit einem Jahr nicht mehr aushielt. Es ist alles nicht wahr. Alles nur wieder einer dieser lebendigen Träume. Das ist alles. Aber nein. In ihren Träumen war sie immer vital, kräftig und platzte fast vor Energie. Und sie hatte nie Angst. In den Träumen liebte er sie. Hatte der entstellte Mann recht gehabt? Konnten die Tagebücher echt sein? Konnte ihr Dante genau hier in diesem Sarg liegen? Perfekt erhalten, unsterblich? Untot? „Vielleicht nicht“, murmelte sie. „Vielleicht hat er sich hier nur heimlich begraben lassen. Vielleicht ist das alles. Der hundert Jahre alte verrottete Leichnam eines reichen exzentrischen Wahnsinnigen ist wahrscheinlich alles, was in dem Kasten ist. Mittlerweile nur noch Knochen. Das ist alles.“ Und wenn sie dann endlich sah, dass Dante nur ein normaler Mann gewesen war, mit einer lebhaften Vorstellungskraft und einer Gabe für das

Schreiben, wäre das vielleicht genug, um den Bann zu brechen, der auf ihr lag. Vielleicht konnte sie sich dann aus dem klebrigen Netz befreien, das ihre eigene Besessenheit immer dichter um sie wob. Sie rang nach Atem und zwang ihre Füße, sich dem Sarg weiter zu nähern. Einen Schritt, dann noch einen. Hätte sie wirklich den Mut, den Deckel zu öffnen, fragte sie sich immer wieder. Vielleicht war er auch versiegelt. Er sollte versiegelt sein, oder nicht? Man warf doch Leichen nicht einfach in Kisten und ließ die dann offen. Normalerweise versteckte man sie aber auch nicht unter Häusern. Jetzt war sie am Sarg angelangt und schaffte es mit äußerster Willensanstrengung, ihre Hände behutsam auf den Sarg zu legen. Er fühlte sich kalt an, und zwischen dem Holz und ihrer Handfläche befand sich eine Lage Schmutz. Sie atmete tief durch und befahl sich, den Deckel zu öffnen. „Nicht“, erklang eine tiefe, volle, gespenstisch vertraute Stimme hinter ihr. Morgan erstarrte und schloss die Augen. Er war

geräuschlos eingetreten. Sie hatte keinen Ton gehört, keinen Schritt. Nichts. „Finger weg, Morgan. Dort drinnen befindet sich nichts, was Sie sehen müssen.“ „Dante?“, flüsterte sie, immer noch mit geschlossenen Augen. „Ich …“ Die Stimme zögerte, und Morgan öffnete die Augen in der Gewissheit, die nächsten Worte würden Lügen sein. Sie wusste es so sicher, als wollte sie sich selbst den nächsten Teil spontan überlegen und aussprechen. Sie spürte, wie er nach Worten suchte, wie er seinen Verstand nach einer überzeugenden Lüge durchforschte. „Ja, ich bin Dante, aber nicht der, für den Sie mich halten. Er war mein Ur-Ur-Großvater.“ „Und er ist hier begraben“, sprach sie seinen nächsten Satz für ihn. „Es war sein Letzter Wille.“ Sie nickte. „Und warum sind Sie hier?“ „Um Sie zu sehen.“ Er hielt inne, atmete tief ein, und sie spürte, wie er Antworten suchte und erfand. „Ihr Film ist den Wahnvorstellungen des alten Mannes so ähnlich, und als ich

herausgefunden habe, dass Sie in seinem Haus leben, das er gebaut hat, wusste ich, dass Sie irgendwie von seinen Fantasien erfahren haben mussten und sie für Ihre Drehbücher benutzen.“ Immer noch stand sie mit dem Rücken zu ihm. Sie drehte sich nicht zu ihm um. Noch nicht. „Sie meinen, das alles ist nicht wahr?“ Er zwang sich zu einem Lachen, eigentlich nur zu einem Atemzug. Es war so falsch; alles in ihr sträubte sich. „Natürlich ist es nicht wahr.“ „Und Sie haben mein Haus betreten, ohne zu klopfen?“ „Ich … wollte gerade klopfen, als ich Ihren Schrei hörte.“ „Von draußen.“ „Natürlich.“ „Und doch haben Sie keinen Alarm ausgelöst, als Sie hereingekommen sind?“ Er sagte nichts. Morgan musste schlucken, nahm all ihren Willen zusammen und drückte den Deckel nach oben. Der Sarg war leer, das weiße Satinfutter mit den Jahren vergilbt. Der Deckel blieb offen stehen, als sie ihn losließ und sich

langsam umdrehte, um dem Liebhaber aus ihren Fantasien zum ersten Mal ins Gesicht zu sehen. Er stand in schwarzen Hosen und einem schwarzen Seidenhemd, das bis zum Kragen geknöpft war, vor ihr, keine Jacke, keine Krawatte. Er war dunkel. Alles an ihm war … dunkel. Leer. Hohl. Sein Gesicht genau so gemeißelt, wie sie es sich vorgestellt hatte, seine Wangen hohl, seine ebenholzschwarzen Augen endlos tiefe Schächte. Er raubte ihr den Atem. Weil sie ihn liebte. Weil sie auf eine Art an ihn gebunden war, die sie nicht einmal verstehen konnte. Weil er genau so war, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Vertraut. Geliebt. Er gehörte zu ihr. „Du bist echt“, flüsterte sie. Schweigend starrte er sie an. Dann spürte sie, wie er sich in ihren Geist stahl. Fühlte, wie er sie glauben machen wollte, dass alles nur wieder ein Traum war, fühlte, wie sehr er wollte, dass sie es glaubte. Sie öffnete die Augen weit und schüttelte energisch mit dem Kopf. „Du bist kein Traum. Das glaube ich einfach nicht.“ „Wie kannst du dir da sicher sein?“

„Es hat keinen Zweck, Dante. Selbst wenn du tun könntest, was auch immer du mit meinem Verstand versuchst – die kaputten Bodenbretter, dieser Raum … Das alles wird immer noch da sein, wenn ich wieder aufwache. Selbst du würdest es nicht schaffen, alle Beweise zu beseitigen, ehe die Sonne aufgeht.“ Er betrachtete sie mit forschenden zusammengekniffenen Augen. „Du bist entweder sehr mutig oder sehr dumm, Morgan. Weißt du nicht, wie wütend du mich gemacht hast? Ich sollte dich umbringen für das, was du mir angetan hast.“ „Dann tu es.“ Der Schock, den ihre Worte in ihm auslösten, entging ihr nicht. Sie ließ sich davon nicht aufhalten. Stattdessen legte sie die Hand an den hohen Kragen ihres Nachthemds und riss es einfach auf. Bis zu ihrer Taille sprangen die Knöpfe ab. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. „Tu es, Dante.“ Ihr Puls beschleunigte sich, als sie seine Blicke auf ihrer Kehle spürte. Sie konnte fühlen, wie er zitterte, spürte die Hitze in ihm aufsteigen. Sie

wollte etwas, was sie selbst nicht benennen konnte, so wenig Sinn das auch ergab. Sie musste sterben, und zwar bald, wenn man von ihren Krankheitssymptomen ausging. Wenn sie sterben musste, warum dann nicht so, wie er es so erotisch in seinen Tagebüchern beschrieben hatte? Warum konnte sie nicht im Zustand höchster Ekstase sterben, während ihre Lebensgeister sich in ihn ergossen? Und plötzlich war er ihr ganz nah, hatte die Arme fest um sie geschlungen, ihren Körper an seinen gezogen und sich über sie gebeugt. Sein Mund schloss sich um ihren Hals, und sie flüsterte: „Ja …“ Er biss zu, ohne die Haut zu durchbrechen, und saugte an ihr. Sie presste ihre Hüften an seine und spürte seine Erregung. Noch nie hatte ein solches Feuer in ihrem Körper gelodert wie in diesem Augenblick. Ihre Hände gruben sich in sein Haar, und sie wand und krümmte sich in seinen starken Armen, presste ihren Körper näher an ihn und beugte ihren Hals seinem hungrigen Mund entgegen. Sie spürte seine Lippen warm und feucht auf ihrer Haut. Seine Zunge, die sie streichelte und

schmeckte. Das köstliche Stechen seiner Zähne, die sie nur vorsichtig bissen. Doch dann, plötzlich, entwand er sich ihr und trat mit einem solchen Ruck zurück, dass sie stolperte und auf den Boden fiel. Atemlos blieb sie dort liegen, die Knie unbequem verrenkt, die Arme auf den Boden gestützt, und starrte ihn an. Seine Augen, in denen jetzt ein seltsames Glühen lag, das nicht von der Kerosinlampe zu rühren schien. Sein Gesicht, das den verzerrten Ausdruck einer ungenannten Qual widerspiegelte. „Du hast ja keine Ahnung, mit was du da spielst, Morgan“, beschwor er sie, die Stimme heiser und brüchig. „Ich weiß es.“ Ihre Worte waren weniger fest, als sie es sich gewünscht hätte. Ihre Brust hob und senkte sich schnell, weil sie zwischen den Worten nach Atem rang. „Ich kenne dich … besser als jeder andere es je getan hat, Dante … oder es je tun wird.“ Langsam wurde er ruhig. In seinem Blick lagen unzählige Fragen. „Wie kann das sein?“ Sie schloss die Augen und ließ ihren Kopf in den

Nacken fallen. Dann beugte sie die Arme und legte sich flach auf den Boden. Mit einem Mal fühlte sie sich so schwach. Es war alles zu viel. Leise fluchend beugte er sich zu ihr hinab, um sie in seine Arme zu nehmen. Er trug sie fort von diesem Ort, die verfallene Treppe hinauf, und es gelang ihm auch, durch das aufgerissene Loch im Boden zu steigen. „Tut dir etwas weh?“ Er fragte zögerlich, während er sie durch das Haus trug, in dem er sich so gut auskannte. „Nein.“ „Aber du bist krank“, sagte er überflüssigerweise. Sie nickte und legte ihren Kopf gegen seine Brust. „Du wechselst das Thema.“ „Tue ich das?“ Sie befanden sich jetzt im Korridor, wo er ohne zu zögern den richtigen Weg in ihr Schlafzimmer fand. Dort legte er sie auf ihr Bett. Noch bevor er sich wieder aufrichten konnte, lagen Morgans Arme schon um seinen Hals und hielten ihn fest. „Willst du wissen, woher ich so viel über dich weiß?“ Über sie gebeugt, ein Knie auf dem Bett, das Gesicht nur eine Handbreit von ihrem entfernt,

nickte er. „Ich muss es wissen.“ „Dann liebe mich, Dante, und ich werde dir alles erzählen.“ Ihre Blicke begegneten sich, und sie sah die qualvolle Begierde in seinen Augen. „Das kann ich nicht, Morgan. Du bist zu schwach.“ „Dafür nicht. Niemals.“ Sie hob ihren Kopf von den Kissen, zog sich an ihm hoch und drückte ihre Lippen auf seine. „Bitte.“ Leise stöhnend erwiderte er den Kuss, schob seine Arme unter sie und drückte sie an sich. Seine Zunge fuhr ihre Lippen nach, und als sie den Mund öffnete, drang er in sie ein, um sie zu schmecken. Sein Atem wurde schwerer, schneller, und er gab ihre Lippen frei, um eine Spur hinab zu ihrem Hals zu beschreiben und sie dort zu küssen, wo er es vorher getan hatte. Er ließ sie los, ließ sie fallen. „Ich kann nicht …“ „Du hast es schon einmal getan. Hast du, ich weiß, es war real. Es war kein Traum. Verdammt, Dante, du hast bei mir gelegen, Nacht für Nacht.“ „Es war nicht echt. Es war in deinem Kopf und in meinem. Es war nicht echt.“

„Dann sorg dafür, dass es echt wird!“ Seine Muskeln waren so angespannt, dass er zitterte, und sein Kiefer war hart wie Stein. Dann blickte er zum Fenster, und sie folgte seinem Blick und merkte, dass der Sonnenaufgang kurz bevorstand. „Erzähl niemandem, was du heute Nacht gesehen hast. Ich schwöre dir, Morgan, wenn du auch nur ein Wort sagst, musst du sterben. Verstehst du? Mir bleibt dann keine andere Wahl.“ „Glaubst du wirklich, ich würde dich hintergehen? Mein Gott, Dante, ich würde nie …“ „Du hast es bereits getan.“ Sie blinzelte verwirrt, bis ihr klar wurde, dass er den Film meinte. „Das ist nicht so, wie du denkst.“ „Du hast der ganzen Welt meine Geheimnisse verraten, Morgan. Einige meiner engsten Freunde sind gestorben, weil du in deinem Film Dinge über mich und meine Art aufgedeckt hast. Deinetwegen werde ich gejagt, jeder meiner Schritte wird von dem Mann verfolgt, der heute Nacht zu dir gekommen ist.“ Sie spürte, wie ihre Augen größer wurden. „Das wusste ich nicht. Ich hätte deine Geschichten nie

erzählt, Dante, wenn ich gewusst hätte, dass sie wahr sind. Du musst mir glauben!“ Er stand auf und trat ans Fenster. „Ich muss jetzt gehen.“ Mit letzter Kraft sprang sie aus dem Bett, schwach, fast völlig erschöpft, und klammerte sich an den Rücken seines Hemdes. „Dann komm zurück, Dante, versprich mir, dass du heute Nacht zu mir kommst. Ich werde dir alles erzählen, ich schwöre.“ „Aber vielleicht wartet der entstellte Mann auf mich, wenn ich wiederkomme?“ „Zuerst müsste er mich umbringen …“ Sie fiel auf die Knie, zu schwach, um zu stehen. Ihr Kopf fiel nach vorn, und sie atmete flach. „Ich würde lieber sterben, Dante, als dich zu hintergehen.“ Ihre Worte waren hastig aneinandergereiht und kamen in einem Atemzug, nur ein Ausatmen, nicht einmal ein Flüstern. „Diese Worte habe ich schon einmal gehört, Morgan.“ Dante kniete sich neben sie, packte sie an den Schultern und hob ihr Kinn, um ihr ins Gesicht zu sehen. Dann zog er sie an seine Brust,

hielt sie mit einer Hand dort fest und nahm mit der anderen etwas aus seiner Tasche. Sie sah es aufleuchten, als er es öffnete. Ein kleines, spitzes Messer, wie ein Lederdorn. Er führte es an seinen eigenen Hals, stach zu und stöhnte vor Schmerz auf. Morgan keuchte. Ihre Blicke hafteten auf seinem sehnigen Hals, als er das Messer fortzog und ein scharlachroter Blutfaden aus der Stichwunde hervorquoll und seine Haut hinabfloss. Sie leckte sich die Lippen. Der Duft stieg ihr in die Nasenlöcher, und in ihren Eingeweiden rumorte eine animalische Lust. Seine Hand war in ihrem Haar, an ihrem Hinterkopf, und zog sie näher an sich, aber sie brauchte seine Hilfe nicht. Sie wusste, was sie brauchte. Sie vergrub ihr Gesicht in der Kuhle seines Halses, schloss ihren Mund über der Wunde und saugte das Blut aus seinem Körper. Sie zog an der Öffnung, und ihre Zunge schoss hervor, um die Tropfen aufzufangen, die ihren hungrigen Lippen entgingen. Sie labte sich an ihm, bis er sie von sich schob und eine Hand an die Wunde an seinem Hals

drückte. Einen wahnsinnigen Augenblick lang kämpfte sie gegen ihn an, drückte sich an ihn, kratzte an seiner Hand und versuchte, mehr von dieser Droge zu bekommen, nach der sie sich so verzehrte. Sie hätte in diesem Augenblick seinen Hals mit ihren eigenen Zähnen aufreißen können, wie ein Wolf. Sie hätte ihn umbringen können. Es war nicht schwer, sie abzuwehren. Aber als sie ihm ins Gesicht sah, sah sie dieselben gebleckten Zähne, den gleichen unstillbaren Hunger, das gleiche wilde Leuchten in seinen Augen. Oh Gott, er wollte sie auf genau die gleiche Art verschlingen. Wie ein Tier. Ein Raubtier. Er schleuderte sie fast auf ihr Bett, sprang auf den Balkon und verschwand über die Brüstung. Morgan blieb liegen, halb auf dem Bett, halb auf dem Boden, und atmete schwer. Ihr ganzer Körper war lebendig, kribbelte, ihr Herz schlug lauter und stärker. Sie fühlte sich nicht mehr schwach. Sie fühlte sich lebendig, wie schon viele Jahre nicht mehr. Das, wurde ihr klar, musste ein Hauch davon sein, wie es sich anfühlte, zu sein wie … wie Dante.

Wie ein Vampir. Ja, sie wollte es. Plötzlich wollte sie es mit aller Macht. Und sie fragte sich, ob sie bereits verwandelt war? Ob es ausreichte, sein Blut zu trinken, um zu dem zu werden, was er war. Dante eilte so schnell er konnte zu dem Haus, von dem Sarafina gesprochen hatte. Er fand sie dort, unruhig, wie sie auf ihn wartete, doch er rang sich nur einen knappen Gruß ab, ehe er an ihr vorbei in den Keller ging. Sie folgte ihm natürlich auf dem Fuße. „Wo bist du gewesen? Was hat dich aufgehalten, Dante? Jesus, ist das dein Blut, was ich da rieche?“ „Ein kleiner Unfall.“ „So etwas gibt es nicht!“ Sie packte ihn an der Schulter, um ihn aufzuhalten, aber er bewegte sich einfach weiter, stieg in die Kiste, die sie für ihn vorbereitet hatte, und zog den Deckel über sich zu. Sie hielt den Deckel mit beiden Händen fest, damit er sich nicht vollkommen bedecken konnte, und schimpfte weiter. „Du weißt, wie leicht wir ausbluten, Dante. Was zum Teufel ist passiert, dass du so nachlässig warst?“

„Ich bin unserem vernarbten Vampirjäger begegnet“, erzählte er ihr. Denn wenn sie je die Wahrheit herausfand, würde sie explodieren. Und nichts, nicht einmal die Verbindung zu ihrer Art, würde Morgan dann vor Sarafinas Zorn beschützen. Sie war unheimlich besitzergreifend. Nicht nur, was ihre Sklaven anging, auch bei ihm. Er war ihre einzige Familie. Das bedeutete Sarafina sehr viel. „Der vernarbte Mann? Er ist in der Stadt?“ „Ja. Sei also vorsichtig.“ Dante zerrte noch einmal an seinem Deckel. „Je eher ich schlafe, desto eher kann der Verjüngungsprozess meine Wunde heilen, Fina.“ Mit einem Seufzen – und offensichtlich immer noch voller Fragen – sicherte Sarafina den Deckel über ihm. Er fand die Riegel, die er von innen vorschieben konnte, und schloss sie. Dann hörte er zu, wie Sarafina sich bettfertig machte und in ihre eigene Kiste stieg. Er lag ganz ruhig da, schloss seine Augen. Wartete. Länger als sonst dauerte es, bis der Schlaf ihn übermannte. Und selbst dann erschienen immer

dieselben Bilder vor seinen Augen. Bilder von ihm – und Morgan. Nackt, umeinandergeschlungen. Sein Körper bis zum Anschlag in ihrem vergraben. Seine Zähne, die in ihr Fleisch sanken. Ihr Blut, das in seinen Körper floss. Gott, wie er sie wollte. Er wollte jeden Teil von ihr besitzen. Ihre Seele. Ihr Fleisch. Ihr Blut. Und er wusste, es würde jetzt noch schlimmer sein. Sie hatte nicht nur einmal, sondern zweimal von ihm getrunken. Er hatte von ihr gekostet, und er wusste genau, er würde es wieder tun, wenn er nicht unglaublich vorsichtig war. Wenn er sich mit ihr vereinigte, würde er auch von ihr trinken. Sie vielleicht aussaugen. Er würde sich selbst nicht aufhalten können. Und in ihrem geschwächten Zustand würde er sie umbringen. Er würde sie umbringen. Um alles in der Welt, er wollte Morgan De Silva nicht umbringen. Er wollte … er wollte sie lieben. Schade nur, dass er nicht dazu in der Lage war, irgendwen zu lieben.

Keith 16. KAPITEL Maxine und Lou saßen im Wartezimmer des Krankenhauses, wo sie auch schon die letzten vier Stunden verbracht hatten. Es war Tag geworden. Stormys Eltern waren verständigt und endlich in ein kleines Privatzimmer gebracht worden, wo sie jetzt auf Nachrichten warteten. Es waren bisher keine gekommen. Überhaupt keine. Es war die grausamste Folter, die Lou sich vorstellen konnte. Die bei der CIA sollten davon Gebrauch machen. Einfach den Eltern nicht sagen, wie es ihrem verwundeten Kind ging, bis sie jedes Geheimnis, an das sie sich erinnerten, ausgeplaudert hatten. Verdammt, das würde jedes Mal funktionieren. „Ich muss Jay erreichen. Jason Beck.“ Maxine dachte laut nach. „Er muss es auch wissen.“ Lou gefiel es gar nicht, seine ansonsten so lebensfrohe Maxine so zu sehen. Sie war blass und aufgewühlt. Als hätte ihr jemand mit einer Keule zwischen die Augen geschlagen, und das war kein Wunder. Er erinnerte sich an den Jungen, von dem

sie sprach. Er war der Dritte in ihrem unzertrennlichen Team gewesen, während der Highschool und später am College. „Weißt du, wo du ihn findest?“ Sie schüttelte langsam den Kopf und schwieg eine ganze Zeit. Dann endlich sprach sie erneut. „Wahrscheinlich ist es besser so“, sagte sie. Und es dauerte etwas, bis Lou klar wurde, dass sie immer noch über Jason Beck sprach. Er fragte sich, wie man den Kontakt zu jemandem verlieren konnte, dem man früher so nahegestanden hatte. Aber die Zeit verging. Alles Mögliche konnte passieren. „Warum sagst du das?“ „Ach komm, Lou. Du weißt es genauso gut wie ich. Die haben herausgefunden, dass ich dir von der DPI erzählt habe.“ Er vermied es, sie anzuschauen. „Nur so ergibt alles einen Sinn. Die bringen Stormy um und schieben es dir in die Schuhe. Es ist eine Nachricht für mich. Eine Lektion. Damit ich es nie wieder irgendwem erzähle. Die zerstören zwei Menschen, die ich lie… – die mir

nahestehen. Genau wie dieser Stiles es mir angedroht hat. Die Frage ist nur, woher weiß er, dass ich es dir erzählt habe?“ Langsam hob Lou seinen Kopf, sein Mund war plötzlich trocken. „Ich habe gestern Nacht noch jemanden angerufen.“ Maxine wurde ganz ruhig. Sagte nichts, starrte ihn nur an und flehte mit ihren Augen, ihr nicht zu erzählen, was er ihr erzählen würde. „Den Freund von mir, der bei der CIA arbeitet. Ich habe ihn gebeten, alles in seiner Macht Stehende über die DPI herauszufinden. Ich habe ihm gesagt, dass ich sie im Verdacht habe, irgendwelche verdeckten Operationen in White Plains durchgeführt zu haben, bis vor fünf Jahren das Hauptquartier abgebrannt ist. Ich habe weder dich noch den Mann, den du gesehen hast, erwähnt.“ „Das musstest du auch nicht.“ Sie schluckte krampfhaft. „Ich habe dich gebeten, mit niemandem darüber zu sprechen, Lou. Wie konntest du mir das antun?“ „Hey, Max, komm schon. Ich hatte doch keinen

Grund anzunehmen, dass … so etwas passieren würde.“ „Keinen Grund? Doch, du hattest einen. Ich habe es dir gesagt. Ich habe dir gesagt, dass sie meine Freunde bedrohen und meine Mutter, und du hast trotzdem …“ Sie stockte. „Oh, Gott. Oh, Gott, meine Mutter.“ In Sekundenbruchteilen war sie aufgesprungen und zu einem Münztelefon gerannt, ehe Lou sie aufhalten konnte. Er lehnte sich in seinen Vinylstuhl zurück und fuhr mit der Hand durch sein Haar. Sie hatte recht; sie hatte so was von recht. Wenn ein anderer Cop ihn gebeten hätte, so eine Sache nicht weiterzuerzählen, hätte er ihn beim Wort genommen und den Mund gehalten. Maxine hatte er jedoch unterschätzt. Maxine, die Verschwörungstheoretikerin, die immer Ärger witterte, wo keiner war. Zur Hölle damit. Vielleicht hatte sie dieses eine Mal gar nicht so weit danebengelegen. Ein dumpfes Läuten ertönte, und die Türen des Fahrstuhls öffneten sich. Lydia kam mit großen Augen auf sie zugeeilt. „Was ist passiert? Lou, geht

es dir gut? Wo ist Max? Lieber Gott, ist es Max?“ „Nein, nein, es geht ihr gut. Mir geht es auch gut.“ Er war aufgestanden und Lydia entgegengegangen, und jetzt umarmte er sie fest. „Ich bin heute Morgen aufgewacht, und Max war nicht da. Also habe ich bei dir angerufen, und ein Cop hat mir gesagt, dass ich euch beide im Krankenhaus finde. Jesus, Lou, ich habe fast den Verstand verloren vor Angst.“ Ihr Äußeres sah allerdings ganz danach aus, dachte Lou, als er sie jetzt betrachtete. Ihr Haar war durcheinander, kein Make-up. Zur Abwechslung sah sie mal so alt aus, wie sie war, was ihm irgendwie gefiel. Es sah ihr nur nicht ähnlich. Doch Lou wurde völlig uninteressant, als sie Max vom Telefon zurückkommen sah. Lydia ging auf die junge Frau zu und umarmte sie, als wären sie schon lange Zeit Freundinnen, und nicht erst seit ein paar Tagen. „Liebes, du siehst zum Fürchten aus.“ „So fühle ich mich auch.“ „Wie geht es deiner Mutter, Max?“, fragte Lou. „Gut. Vielleicht ist sie da unten in Sicherheit.

Vielleicht wissen die nicht, wo sie ist. Oder vielleicht haben die nicht genug Leute, um gleichzeitig hier und da unten zu sein. Oder vielleicht ist es nur ein Mann, der, den ich gesehen habe. Vielleicht arbeitet er allein.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. „Gott, ich weiß nicht einmal, mit was wir es hier zu tun haben. Ich weiß nicht, vor wem ich mehr Angst haben soll. Den Vampiren oder den Vampirjägern.“ Lydia ließ sie los, trat einen Schritt zurück und starrte sie an. Lou sah den Korridor hinauf und hinab, um sicherzugehen, dass niemand diese Bemerkung gehört hatte. „Sprich leiser, hörst du? Wenn du so weitermachst, kommen bald Leute mit einem Einmalfahrschein ins Irrenhaus vorbei.“ Sie starrte ihn wütend an. „Sagt mir bitte irgendwer, was passiert ist?“ „Meine Freundin Stormy. Meine Geschäftspartnerin. Sie wurde in Lous Wohnung gefunden, mit einer Kugel im Kopf. Die haben geglaubt, sie sei tot, aber sie war es noch nicht ganz. Die haben Lous Wohnung durchwühlt und

seine Pistole benutzt. Haben versucht, es so aussehen zu lassen, als hätte er es getan.“ „Mein Gott.“ Ihr Blick schoss auf Lou, doch dann fiel ihr etwas ein. „Moment mal, Stormy? Auf deinem AB war eine Nachricht von jemandem, der so heißt, heute Morgen, als ich aufgestanden bin. Ich habe das Licht gesehen, dachte, es wäre vielleicht eine Nachricht von dir, um mir zu sagen, wo du bist, also habe ich sie abgespielt.“ „Ich habe mir den AB nicht angesehen, als wir gestern nach Hause gekommen sind.“ Max fasste nach Lydias Hand. „Was hat sie gesagt?“ Lydia sah sich um und senkte ihre Stimme. „Sie hat gesagt, sie hat einen merkwürdigen Anruf von Lou bekommen, der sie gebeten hat, zu ihm zu kommen. Das wollte sie dir mitteilen, falls er in Schwierigkeiten steckt. Sie hat gesagt, er klang merkwürdig.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das war alles, aber es ist immer noch auf dem Band in deinem Gerät.“ „Mein Gerät zeichnet auf, wann der Anruf eingegangen ist. Erinnerst du dich daran?“ „Ungefähr um neun Uhr abends“, sagte Lydia.

Maxine nickte. „Es war nicht Lou. Lou war bei mir, hat sich einen Film angesehen und dann vor meinem Haus im Auto gesessen und mich beobachtet. Irgendwer hat sie angerufen, sie zu Lous Wohnung gelockt und an der Tür mit einer Zweiundzwanziger empfangen.“ „Gott sei Dank nur eine Zweiundzwanziger“, mischte Lou sich ein, „jede größere hätte sie umgebracht.“ „Aber warum? Warum sollte jemand das tun wollen?“ Lydia war fassungslos. „Das hat damit zu tun, dass …“ Maxine stockte, als endlich der Arzt aus dem Zimmer kam, in dem Stormy behandelt wurde. Im gleichen Augenblick kam eine Schwester aus dem privaten Wartezimmer, in dem Stormys Eltern waren. Sie alle sammelten sich in der Mitte des Wartebereichs. „Sie lebt“, teilte der Arzt ihnen mit, „aber sie liegt im Koma.“ Stormys Vater, ein blonder Mann, dessen normalerweise gesunde Hautfarbe jetzt grau und fahl wirkte, hob seinen Kopf und sah den Arzt an.

„Ist sie hirntot, Doktor? Sagen Sie uns einfach die Wahrheit.“ „Nein. Wir konnten noch Hirnströme feststellen. Minimal, aber vorhanden.“ „Wie lange wird sie im Koma bleiben?“, fragte Maxine, trat vor und nahm Mrs. Jones an der Hand. „Ich meine, einen Tag? Eine Woche?“ „Wir können unmöglich wissen, wann oder … oder sogar ob sie aus dem Koma erwacht“, erklärte der Arzt zögernd, „aber solange wir noch Hirnströme messen können, besteht Hoffnung.“ Jeder von ihnen wartete darauf, dass er noch mehr sagte. Lou wusste, was sie alle hören wollten. Wie viel Hoffnung genau? Wie hoch genau waren ihre Chancen, und wann konnten sie Genaueres erfahren? Er konnte im müden Gesicht des Arztes ablesen, dass er ihnen nicht mehr zu sagen hatte. Mit einem Seufzen führte der Arzt sie zu den Stühlen, drängte sie dazu, sich zu setzen, und setzte sich selbst ihnen gegenüber. „Sie müssen verstehen, es hat bereits Fälle gegeben, in denen ein Koma Monate angedauert hat, sogar Jahre. Manchmal wachen die Patienten auf, manchmal

auch nicht. Je länger sie in ihrem komatösen Zustand verbleibt, desto niedriger werden ihre Chancen auf eine vollständige Genesung. Aber es hat auch Fälle gegeben, in denen Menschen nach einem langen Koma erwacht und fast vollkommen wieder genesen sind. Man kann es einfach vorher nicht wissen.“ „Und wenn sie dann aufwacht“, fragte Mrs. Jones, „bleibt ein Hirnschaden zurück?“ „Auch das können wir nicht einmal vermuten, bis sie aufwacht, Ma’am. Aber wieder gilt, je schneller sie wieder zu Bewusstsein kommt, desto besser.“ „Sie wird aufwachen.“ Maxine sagte das zu dem Arzt und dann noch einmal zu Stormys Eltern. „Sie wird aufwachen, und es wird ihr gut gehen. Man sagt, dass Menschen im Koma einen trotzdem hören können. Stimmt das, Doktor?“ Er nickte. „In einigen Fällen. Ich habe schon erlebt, dass das EEG ausschlägt, wenn Angehörige mit Komapatienten sprechen.“ „Dann sollten wir das auch tun.“ Das war die typische Maxine-Stuart-übernimmt-das-

Kommando-Art, mit der sie alle aufforderte, an die Arbeit zu gehen. „Es sollte zu jeder Tageszeit jemand bei ihr sein und mit ihr reden. Und wenn niemand kann, dann sollten wir unsere Stimmen aufnehmen oder Musik und sie in ihrem Zimmer abspielen. Ich weiß, was sie am liebsten hört. Nichts Langsames allerdings. Ich finde, es sollte etwas Lautes sein, wie Godsmack, die einfach abrocken. Wir lassen sie nicht entkommen. Wir lassen sie einfach nicht.“ „Das sind einige gute Ideen“, wendete der Arzt sich jetzt an Maxine. „Denken Sie aber auch daran, dass sie zwischendurch zur Ruhe kommen muss.“ „Wenn sie Ruhe will, soll sie verdammt noch mal aufwachen.“ In Maxines Augen standen Tränen. Mrs. Jones legte eine Hand an Maxines Gesicht. „Du bist ein gutes Mädchen, Maxine. Eine gute Freundin.“ Dann sah die Frau an ihr vorbei zu Lou und senkte ihren Blick. „Sie müssen wissen, Mrs. Jones, dass Lou gestern Nacht die ganze Zeit bei mir war. Ich habe nicht gelogen, als ich ihnen das erzählt habe. Sie wissen, wie sehr ich Stormy liebe. Ich würde Sie

deswegen nie belügen. Irgendwer will Lou reinlegen.“ Mrs. Jones nickte. „Wir kennen Officer Malone schon sehr lange“, schaltete Stormys Vater sich ein. „Es braucht schon einiges mehr als das, was wir bisher erfahren haben, um uns glauben zu machen, dass er zu so etwas in der Lage wäre.“ „Das weiß ich zu schätzen“, sagte Lou zu dem Mann, „und ich schwöre Ihnen, ich tue alles, was ich kann, um diesen Verbrecher zu finden, der ihrer Tochter das angetan hat. Und dann bringe ich ihn für eine lange, lange Zeit hinter Gitter.“ „Ja. Und ich auch.“ Während sie das sagte, warf sie Lou einen Blick zu. Und er wusste, was er zu bedeuten hatte. Sie würden ab jetzt auf ihre Art arbeiten. Ob mit seiner Hilfe oder ohne, Maxine würde diese Drehbuchautorin finden und sie über alles ausfragen, was sie zum Thema – meine Güte, er konnte kaum daran denken, ohne spöttisch das Gesicht zu verziehen – Vampire wusste. Und als er zu Lydia blickte, erkannte er sofort, dass sie Maxine nicht von der Seite weichen

würde, bis sie die Antworten gefunden hatten, die sie suchten. Das alles hatte er sich allerdings ganz anders vorgestellt, als er die zwei Frauen zusammenbrachte. Eigentlich hatte er damit sogar das Gegenteil erreicht. Maxine sollte Lydia versichern, es gäbe so etwas wie Vampire nicht, und das wäre dann schon das Ende ihrer Zusammenarbeit gewesen. Danach sollten sie Freunde werden und vielleicht ein paar Dinge herausfinden. Dieselben Dinge, die er selbst durch Zufall herausgefunden hatte. Damit war es jetzt ein für alle Mal vorbei. „Sie braucht vielleicht noch eine Bluttransfusion, Mrs. Jones“, sagte der Arzt, doch sobald sie aufstand, hob er eine Hand. „Nein, Ma’am. Sie sollten heute nichts mehr spenden. Wir haben Vorräte, keine Sorge.“ „Ich würde die Quelle lieber kennen.“ Mrs. Jones klang besorgt. „Ich weiß, ich weiß, Bluttransfusionen sind heutzutage sicherer als je zuvor, aber trotzdem …“ „Ich bin A-positiv“, sagte Maxine. „Ich auch“, fügte Lydia hinzu.

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nicht das Richtige, auch wenn Sie natürlich gerne trotzdem spenden können. Hat jemand A-negativ?“ Lou hob seine Hand wie in der Schule. „Dann sind Sie dran.“ Der Arzt schickte Lou mit einer Krankenschwester fort, und er fand es ziemlich ironisch, dass er gerade dabei war, an die Existenz von Vampiren zu glauben, während irgendein junges Ding ihm eine Portion Blut aus den Adern zapfte. „Können wir sie sehen?“, fragte Stormys Mutter. Der Arzt nickte. „Selbstverständlich.“ Er führte die beiden Eltern fort, und Max bemerkte mit einem stechenden Schmerz im Bauch, wie Mr. Jones seine Frau fest an seiner Seite, fast aufrecht hielt, als würde er ihr etwas von seiner Stärke abgeben wollen. Sie seufzte und wendete sich Lydia zu. „Wir müssen uns unterhalten.“ „Du Arme“, sagte Lydia und umarmte sie wieder. „Ich weiß, was du durchmachst. Als Kimbra gestorben ist, wollte ich einfach …“ „Sie war aber mehr als nur deine beste Freundin,

nicht?“ Lydia sah sie einen Augenblick lang an und lächelte dann milde und traurig. „Ist das so offensichtlich?“ „Ich habe das Foto gesehen, das du in deiner Brieftasche hast, als du sie neulich geöffnet hast. Ihr zwei, Arm in Arm. Und wie du sie angesehen hast.“ „Ich habe sie geliebt“, gestand Lydia leise, „sie war mein ganzes Leben. Und auch wenn es nicht das Gleiche ist, kann ich sehen, du liebst Stormy auch. Ich kann den Schmerz in deinen Augen sehen. Es ist, als würde ich in den Spiegel sehen.“ Maxine trocknete sich die Augen. „Wir haben keine Zeit für eine Mitleidsorgie. Wir müssen abgleichen, was wir wegen letzter Nacht erzählen. Und wir müssen die Kassette im Anrufbeantworter loswerden.“ Lydia runzelte die Stirn. „Abgleichen?“ „Lou saß die ganze Zeit draußen vor meinem Haus in seinem Wagen“, begann Maxine. Lydia nickte zustimmend. „Richtig. Ich weiß noch, wie du ihn draußen bemerkt hast, ich fand das so

lieb von ihm.“ „Genau. Also können schon zwei von uns beschwören, dass wir Lou nie aus den Augen gelassen haben.“ „Aber das haben wir“, sagte Lydia leise. „Weißt du nicht mehr? Nachdem er dich abgesetzt hat, ist er für eine Weile verschwunden? Er war sofort wieder da, aber …“ „Ja, und das hat dieser Trottel denen auch erzählt. Ich musste mir schnell etwas überlegen, also habe ich gesagt, dass ich Lou gefolgt bin. Hab mir irgendwas ausgedacht von wegen, dass ich ihn bei einer anderen Frau vermutete und eifersüchtig war. Ich habe bestätigt, was er ihnen erzählt hat, nämlich dass er zur Wache gefahren ist und dann direkt zurück zu mir.“ Lydia nickte langsam. „Ich wusste nicht, dass du und Lou …“ „Sind wir nicht.“ „Also hast du die Polizei angelogen.“ „Ich weiß, dass er es nicht getan hat. Du weißt es auch.“ Lydia drehte sich zur Seite, atmete tief ein und

schließlich mit einem Seufzen aus. „Natürlich weiß ich das.“ Sie drehte sich wieder zu Maxine. „Schließlich war ich dabei, als du weggefahren bist, um ihm zu folgen. Ich habe versucht, dich zu überzeugen, dass er nur eine Frau braucht, aber du musstest es einfach genau wissen.“ Maxine biss sich auf die Lippe. „Du könntest oben geschlafen haben. Du musst von der ganzen Sache nichts mitbekommen haben.“ „Zwei Zeugen sind besser als einer. Besonders, wenn sie glauben, dass eine die Freundin des Verdächtigen ist, Maxine.“ Das stimmte natürlich. „Danke.“ „Dafür nicht. Ich mag Lou. Wir sind schon lange befreundet.“ „Er weiß nicht, dass ich es mir ausgedacht habe. Er würde mich so etwas nie tun lassen.“ „Verstanden“, sagte Lydia. „Und was ist mit dem Anrufbeantworter?“ „Ach ja, wir müssen die Nachricht löschen.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Aber vielleicht ist ein Hinweis darin. Ich sollte einen Weg finden, eine Kopie zu behalten.“

„Wir könnten einfach eine neue Kassette einlegen“, schlug Lydia vor. „Es gibt keine Kassette. Die Nachrichten werden elektronisch gespeichert.“ „Kauf ein neues Gerät“, sagte Lydia. „Und dann verstau das alte irgendwo, an einem sicheren Ort.“ Maxine nickte langsam. „Das ist ein guter Plan. Ich kann später noch die Nachricht auf Kassette überspielen und das Gerät zerstören, einfach um sicherzugehen. Aber fürs Erste ist das die schnellste Lösung. Und wir müssen es schaffen, ehe die sich entschließen, mein Haus zu durchsuchen.“ „Ich kümmere mich darum. Bleib hier und geh zu deiner Freundin.“ Dann fiel Maxine noch etwas ein. „Nimm Bargeld. Und kauf es irgendwo, wo viel los ist, bei Walmart zum Beispiel, wo sie sich nicht an dich erinnern. Und mach deinen Einkauf nicht zu einprägsam.“ Mit einem strengen Blick fixierte Lydia sie. „Mit was genau haben wir es hier zu tun, Liebes?“ „Der Regierung. Eine Abteilung der CIA, glaube

ich. Eine geheime Abteilung, die es vielleicht gar nicht mehr gibt, aber der Mann, der auf Stormy geschossen hat, gehörte dazu.“ Lydia nickte langsam. „Du hast sie … Vampirjäger genannt.“ „Weil sie das waren. Vielleicht noch sind.“ Sie seufzte. „Hör zu, ich erzähle dir alles, was ich weiß. Aber du darfst es keiner Menschenseele verraten. Deswegen ist auf Stormy geschossen worden.“ „Okay. Verstanden. Aber nicht jetzt. Es ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort. Ich kümmere mich um deinen Anrufbeantworter, und später unterhalten wir uns.“ „Wir können uns genauso gut auf der Polizeiwache treffen“, überlegte Maxine. „Sie wollen von uns allen Aussagen aufnehmen.“ „Mittag?“, fragte Lydia. „Mittag ist gut.“ „Dann bis später.“ Nachdem Lydia gegangen war, wartete Maxine, bis Lou endlich vom Blutspenden zurückkam. Er betrachtete sie, als wolle er eine

Bestandsaufnahme machen, als suchte er nach Zeichen für ihren momentanen Gemütszustand, und während ihre unabhängige Seite das furchtbar altmodisch von ihm fand, liebte der Rest von ihr, wie er sich um sie sorgte. „Es geht mir gut“, antwortete sie schließlich, ehe er fragen konnte. „Nein, geht es dir nicht, aber das ist ja auch nicht verwunderlich.“ Dann sah er sich um. „Wo ist Lydia?“ „Hatte zu tun. Sie kommt gegen Mittag zur Polizeiwache, da treffen wir uns mit ihr und geben unsere Aussagen zu Protokoll.“ „Und was dann?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich fahre nach Hause, nehme meine Stimme für Stormy auf Band auf, damit ihre Mom sie ihr vorspielen kann, suche ein paar CDs zusammen und meinen programmierbaren Player, und schließe alles in ihrem Zimmer an. Dann packe ich.“ „Packen?“ „Ich hasse es, Stormy allein zu lassen, Lou. Aber nach dem, was ich online herausfinden konnte, lebt

diese Drehbuchautorin in Maine. Und wir müssen wirklich mit ihr sprechen. Sie ist bis jetzt unsere einzige Spur, bis auf Stiles, und den können wir nicht finden.“ „Wenn er von den Filmen weiß, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ihn in Maine finden, groß.“ Sie blinzelte zweimal und starrte ihn an. „Wir? Soll das heißen, du kommst mit mir?“ „Jepp.“ „Lassen die dich weg, bevor dieser Fall gelöst ist?“ „Nein. Ich muss mich einfach wegschleichen. Gut, dass ich eine Expertin kenne, die mir dabei helfen kann.“ Sein Lächeln war verschmitzt und ein bisschen traurig, aber echt. Wie gerne hätte sie ihn jetzt umarmt, aber im selben Augenblick kamen Stormys Eltern auf sie zu. Ihre Mutter weinte leise, und ihr Mann hielt sie fest. „Geh ruhig, Maxine“, sagte Mr. Jones. „Wir haben es mit dem Arzt abgesprochen, und wir glauben beide, dass deine Stimme ihr mächtig guttun wird.“ Er deutete den Gang hinunter. „Zwei-

Null-Sieben.“ „Okay. Sie beide sollten etwas essen, und sich vielleicht etwas ausruhen. Ich weiß, Sie wollen hier sein, aber auch Sie brauchen eine Auszeit. Wenn Sie krank werden, helfen Sie Stormy schließlich auch nicht.“ „Wir kommen schon zurecht. Los, geh jetzt zu ihr.“ Lou blickte sie aufmunternd an. „Geh schon, Max. Und lass dir Zeit. Ich warte hier.“ Sie nickte ihm dankbar zu, ging den Gang hinunter, bis zur Tür mit der Nummer 207. Einen Augenblick lang allerdings konnte sie fast nicht hineingehen. Sie stand mit der Hand an der Tür da, drückte sie nicht auf und fragte sich, ob ein wahnwitziger Teil ihres Verstandes glaubte, alles wurde erst wahr, wenn sie es mit eigenen Augen sah. Oder ob sie nur Angst hatte, Stormy würde sterben, während sie im Zimmer war. Auch egal. Nur Stormy zählte. Das war alles. Sie schluckte ihre Angst hinunter, drückte gegen die Tür und spähte hinein. Die Person, die da auf dem Bett lag, sah nicht wie Stormy aus, und für einen Moment glaubte Maxine,

im falschen Zimmer zu sein. Aber dann schaute sie näher hin. Ja, Stormy war blasser und stiller, als Maxine ihre Freundin je gesehen hatte, und ihr Augenbrauenpiercing war entfernt worden. Ihr kurzes, gebleichtes Haar war verschwunden. Entweder war es unter den dicken Verbänden, die sie trug, verborgen, oder man hatte es abrasiert. Maxine wusste es nicht. Aber das elfengleiche Gesicht und die feinknochigen Züge gehörten zu ihr. Von ihrem Kopf führten Schläuche zu einem Monitor, von ihrer Brust zu einem weiteren, von ihren Nasenlöchern zu einer Sauerstoffflasche, von ihrem Handgelenk zu einem Tropf, und von irgendwo unter den Laken zu einem Beutel am Fuß des Bettes, über den sie nicht nachdenken wollte. Die Krankenschwester lächelte Max an. „Tempest, du hast Besuch. Ist das nicht nett?“ „Nennen Sie sie Stormy“, sagte Max fest. „Und sagen Sie das auch den anderen Schwestern. Sie hört nicht einmal auf Tempest, wenn sie bei vollem Bewusstsein ist.“ Die Schwester nickte und stemmte ihre Hände in

die Hüften. „Und ich dachte die ganze Zeit, du hast so einen schönen Namen. Ich liebe Tempest!“ Dann zuckte sie mit den Schultern. „Aber Stormy ist ja auch ganz schön.“ Sie beugte sich vor, zog das Bettzeug zurecht und sprach mit Stormy, als wäre sie hellwach und könnte jedes Wort hören. Maxine mochte die Schwester. Sie mochte ihre Einstellung. Sie mochte den mitfühlenden Ausdruck in ihren Augen. „Ich bin Maxine“, stellte sie sich vor. „Und, haben Sie auch einen Spitznamen?“ „Mad Max, aber sagen Sie das nicht weiter.“ Die Schwester lachte und klopfte Stormy auf die Schulter. „Hast du das gehört? Mad Max. Mädchen, deine Freunde gefallen mir. Na dann, setzen Sie sich, Mad Max, und ich lasse Ihnen beiden etwas Zeit für sich.“ Während Maxine sich setzte, verließ die Schwester das Zimmer. Das ständige Piepen der Monitore war einschläfernd. Gleichmäßig und fast hypnotisch. „Mann, bei ein paar von den Apparaten sollten wir dringend den Ton abstellen, Stormy. Was meinst du?“ Sie beugte sich vor und

nahm Stormys Hand. „Ich bin es, Max. Ich bin hier, und ich weiß, was passiert ist, okay? Ich weiß, Lou war es nicht. Ich will nicht, dass du dir Sorgen deswegen machst.“ Keine Antwort. Sie lag ganz still und leise da. „Ich weiß, du bist da drinnen, Stormy. Ich weiß, du kannst mich hören.“ Sie sprach lauter und mit festerer Stimme. „Alles ist in Ordnung. Deinen Eltern geht es gut. Mir geht es gut. Und der Mann, der dir das angetan hat, wird dafür bezahlen. Verstehst du?“ Immer noch nichts. Nur das monotone Piepen. „Du musst dich konzentrieren, Schatz. Deine ganze Energie musst du darauf verwenden, aufzuwachen. Hörst du? Ich will, dass du nur daran denkst. Und du kannst genauso gut wissen, dass ich dich nicht einen Augenblick in Ruhe lasse, bis es so weit ist. Ich bringe dir deine Lieblings-CDs, und es wird immer jemand hier sein und dir deine mehrfach durchstochenen Ohren abkauen, bis du endlich aufwachst. Wir lassen dich nicht alleine. Verstanden? Das Piepen veränderte sich. Es wurde schneller.

Maxine sah sich nach den Maschinen um, als würde sie davon irgendetwas verstehen. Doch Stormy war von etwas aufgebracht. Was hatte sie gerade gesagt? Wir lassen dich nicht alleine. Sie leckte sich die Lippen. „Alleine sein macht dir Sorgen, was?“ Wieder wurden die Geräusche schneller. „Niemand lässt dich allein. Ich werde jemanden an deiner Tür abstellen, und jemand anders wird immer hier drinnen bei dir sein, rund um die Uhr. Ich verspreche, hier bist du in Sicherheit. Okay?“ Sie konnte nicht sagen, ob sie Stormy beruhigt hatte oder nicht. Aber das Piepen nahm langsam wieder seine alten Formen an. „Versuch weiter, aufzuwachen, Schatz.“ Die Schwester kam zurück und sagte Maxine, es wäre Zeit zu gehen. Sie nickte. „Ich muss kurz weg, Kleines, aber ich verspreche dir, wir lassen dich nicht allein. Ich verspreche es.“ Sie wendete sich an die Schwester. „Können Sie bei ihr bleiben, bis ihre Mom zurückkommt?“ „Natürlich bleibe ich. Es ist fast Zeit für meine Serie!“ Sie griff nach der Fernbedienung, stellte

den Fernseher ein und zog sich einen Stuhl heran. „Ich hoffe, du magst Passions, Mädchen, ich verpasse nämlich keine Folge“, erklärte sie Stormy. „Sie liebt die Serie. Bis später. Keine Angst, Kleines. Ich halte dir den Rücken frei, okay?“ Die Schwester nickte anerkennend, und Maxine verließ das Zimmer. Zurück im Wartezimmer ging sie zu Lou, lehnte sich gegen seine Brust und hoffte, er würde nichts dagegen einwenden. Tat er nicht. Er zog sie stattdessen an sich. „Wir brauchen Wachen für ihr Zimmer, Lou. Wenn er herausfindet, dass sie noch lebt, kommt er vielleicht zurück.“ „Er hätte keinen Grund dazu.“ „Was, wenn sie ihn gesehen hat?“ „Kleines, du hast ihn gesehen. Du weißt, wie er aussieht, und du kennst seinen Namen. Identifiziert zu werden bereitet ihm aus irgendeinem Grund keine großen Sorgen.“ „Trotzdem …“ Er seufzte und nickte. „Ich kümmere mich gleich darum.“ Seine Worte beruhigten sie. „Haben wir vorher

Zeit für ein Frühstück?“ „Ja, Ich habe angerufen und denen auf der Wache gesagt, wir kommen gegen Mittag vorbei, um mit der Inneren zu sprechen und unsere Aussagen zu Protokoll zu geben. Wir haben noch ein paar Stunden Zeit.“ Er nahm ihren Arm, und sie gingen gemeinsam zum Fahrstuhl.

Keith 17. KAPITEL Morgan verschlief wieder den größten Teil des Tages. Erst am Nachmittag wachte sie auf, streckte die Arme über den Kopf und bog ihren Rücken durch. Sie fühlte sich gut. Sie öffnete die Augen, und alles, was in der Nacht zuvor geschehen war, stürmte wieder auf sie ein. Sie spürte eine köstliche Empfindlichkeit an ihrem Hals, warf die Decke zurück und rannte an ihren Schminktisch, um sich im Spiegel zu betrachten. Ein violett schimmernder blauer Fleck und die Spuren seiner Zähne. Keine Einstiche. Nein. Er hatte ihr Blut nicht gekostet, aber er hatte sie von seinem trinken lassen. Sie konnte ihn immer noch auf ihrer Zunge schmecken. Was sollte das bedeuten? fragte sie sich wieder. Wie wurde man ein Vampir, falls das überhaupt möglich war? Verwandelte sie sich bereits? War die neue Lebenskraft, die in ihren Adern pochte, ein Teil davon oder nur eine zeitlich begrenzte Nebenwirkung, weil sie von ihm getrunken hatte?

Den ganzen Tag schlafen, erst am späten Nachmittag aufwachen, war das ein Zeichen, dass sie so wurde wie er? Bevor er aufgetaucht war, hatte sich ihr Zustand immer weiter verschlechtert. Jetzt fühlte sie sich stärker, so wie beim letzten Mal. Vielleicht wäre sie jetzt ohne seine Einmischung schon tot. Ohne sein … sein Blut. Er erhielt sie am Leben. Aber für wie lange? Sie musste es wissen. Und sie wusste, wo sie ihre Antworten finden konnte. Oder sie hoffte es zumindest. Dantes Tagebücher. Ein oder zwei hatte sie immer noch nicht ganz gelesen. Damit, beschloss sie, würde sie den Rest des Nachmittags verbringen. Lesen. Recherchieren. Sie hatte noch einige Stunden, ehe es dunkel wurde, und auf diese Weise würde sie die Zeit füllen. Sie zog ihr zerfetztes knopfloses Nachthemd aus, ihren weißen Satinmorgenmantel an, verknotete den Gürtel und ging die Treppe hinab in ihr Arbeitszimmer, wo sie die Tagebücher in ihrem Safe aufbewahrte. Erst als sie unten war und die Unordnung auf dem Boden sah, wurde ihr bewusst, dass sie noch

andere Dinge erledigen musste. Neben dem Loch lagen zersplitterte Dielen. Wenn es stimmte, dass Stiles auf der Jagd nach Dante war, und wenn er hierher zurückkam und das hier sah … Verdammt. Der Nachmittag verging schneller, als es ihr lieb war. Sie musste sich duschen und anziehen. Dann nahm sie eine der kaputten Bodendielen, fuhr damit zum nächsten Holzlager in der Stadt und kaufte passende Bretter in der richtigen Länge, um den Schaden, den sie angerichtet hatte, zu reparieren. Sie kaufte einen Hammer und Nägel, eine kleine Brechstange und eine Handsäge. Als sie mit ihren Einkäufen zurück nach Hause kam und sich ihrer Aufgabe stellte, verspürte sie leichte Zweifel, ob sie zu so etwas überhaupt in der Lage war. Zu schwerer körperlicher Arbeit war sie eigentlich viel zu schwach. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, jemanden anzustellen, aber dann wurde ihr klar, dass sie nicht mehr wusste, wem sie noch trauen konnte. Wie sollte sie jemandem erklären, dass er schweigen musste? Und selbst wenn es ihr gelang, würde derjenige es

dann nicht erst recht weitererzählen? Sie war, wer sie war, und er würde diese kleine Sache wahrscheinlich für ein paar Tausend Dollar an eine Klatschzeitschrift verkaufen. Außerdem fühlte sie sich stark genug, um die Arbeit anzugehen. Mit einem Schulterzucken kniete sie sich also auf den Boden und nahm die Brechstange zur Hand. Sie würde es, beschloss sie, nie erfahren, wenn sie es nicht versuchte. Innerhalb einer Stunde hatte sie die alten Nägel, von denen die zersplitterten Holzreste in den Hauptbalken unter dem Boden gehalten wurden, hochgezogen und die Holzstücke entfernt. Dann vermaß sie das Loch und markierte die neuen Bretter in der richtigen Länge. Jetzt der Test, dachte sie, als sie die Säge zur Hand nahm. Wenn sie das schaffte, wäre es ein Wunder. All ihre Zweifel unterdrückte sie geflissentlich, legte die Säge an der vorgezeichneten Linie an und zog sie zurück. Dann begann sie, das Sägeblatt möglichst gleichmäßig vor und zurück zu ziehen. Das kurze Ende fiel ab, schlug auf den Boden auf,

und sie schaute erschreckt nach unten. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und spürte die Schweißperlen, die sich dort gebildet hatten. Ihr Herz schlug schneller, und ihr Körper war warm vor Anstrengung. Gott, wann hatte sie sich zum letzten Mal so gefühlt? Sie arbeitete weiter, sägte die Bretter, passte sie an und nagelte sie fest. Als nur noch ein Brett übrig war, hielt sie kurz inne, um alle Holzreste, das Sägemehl und die verbogenen benutzten Nägel in das Loch zu kehren. Dann nagelte sie auch das letzte Brett fest. Es sah nicht perfekt aus, als sie fertig war. Die Bretter hatten eine andere Farbe, heller, sie sahen neuer aus, waren nicht versiegelt, und sie lagen nicht gerade eng aneinander. Aber es war das Beste, was sie im Augenblick tun konnte. Ihre Energie schien langsam abzuebben. Mit einem Besen fegte Morgan die letzten Reste Sägemehl und Schmutz auf. Dann legte sie den Orientteppich wieder zurück, der jetzt die neuen Bretter bedeckte. Sie bürstete sich die Hände ab, richtete sich auf

und war fertig. Nur noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Sie sah an sich hinab, merkte, dass sie vor Schweiß klebte und an ihrer Haut und in ihren Haaren Sägemehl hing. Wenn er zurückkam – Gott, wie sehr sie das hoffte –, sollte er sie nicht so sehen. „Ich muss mich bereit machen“, flüsterte sie, „für Dante.“ Noch mehr Tageszeit, die ihr aus den Händen gerissen wurde. Es würde kaum noch Zeit bleiben, alles zu lesen. Trotzdem, es war wichtig. Eine halbe Stunde später kehrte sie in ihr Arbeitszimmer zurück, frisch geduscht, und ihre Haare, frisch gewaschen und geföhnt und nach Lavendel duftend, wallten offen über ihre Schultern. Sie trug den weißen Satinmorgenmantel, den sie an der Taille zusammengebunden hatte und der ihr bis zu den nackten Füßen reichte, und hatte sich eine Kanne Kräutertee und einen Becher mitgebracht. Es war eine besondere Mischung, die neue Energie versprach. Langsam fühlte sie sich wieder matter, auch wenn sie immer noch mehr Energie hatte als in der Zeit, ehe Dante zu ihr gekommen war.

Sie drehte das Gas im Kamin an, ging dann zum Safe in der Wand und nahm eines der kostbaren Tagebücher heraus, eines, das sie immer noch nicht bis zum Ende gelesen hatte. Damit zog sie sich in den großen Sessel neben dem Feuer zurück. Sie füllte ihren Becher mit Tee und blätterte durch die Seiten, bis sie an die Stelle kam, an der sie beim letzten Mal aufgehört hatte. Und ehe sie es sich versah, war sie wieder in den Geschichten des Vampirs gefangen, hörte sie so deutlich, als würde Dantes tiefe volle Stimme sie ihr vorlesen. Sarafina hatte versucht, mich zu warnen. „Lass dich nie mit Sterblichen ein. Niemals.“ Sie hatte es mir früh in meiner Ausbildung gesagt und immer wiederholt. „Unsere Art muss alleine leben.“ „Was ist mit den Auserwählten?“ Ich kannte den Begriff. Sie war davon tatsächlich etwas überrascht, glaube ich, weil sie mir nichts von ihnen erzählt hatte. Wir saßen bei Nacht an einem Feuer in einer Lichtung zwischen Bäumen, so wie wir es in unseren sterblichen Leben getan hatten. Ich glaube, am Anfang war es das, was Sarafina sich vorgestellt hatte. Eine Zweierbande –

zwei Zigeunervampire, die so lebten wie zuvor. Es schien mir, als wollte sie alles Verlorene, ihre Familie, ihren Stamm, auf diese Weise wiedergewinnen. Aber das war natürlich unmöglich. Ich habe das lange vor ihr eingesehen. „Die Auserwählten sind Menschen mit einer Verbindung zu uns. Irgendetwas in ihrem Blut“, sagte sie mir. „Wir wissen, wer sie sind, weil wir sie spüren können. Wir fühlen uns zu ihnen hingezogen und sie sich manchmal zu uns. Aber wir geben uns ihnen nicht zu erkennen, Dante. Das musst du um jeden Preis verstehen. Wir zeigen uns nicht.“ „Sie können Vampire werden. Wie wir“, gab ich zu bedenken. „Das können sie. Und weißt du, was passiert, wenn sie es werden?“ Ich schüttelte den Kopf. „Sie verlieren den Verstand.“ Es klang wie ausgespuckt, als wäre es ein allgemeingültiger Fakt. „Alle?“, fragte ich, auch wenn ich es besser wusste. Ich hatte den Verstand nicht verloren, und Sarafina auch nicht.

Sie antwortete nicht darauf. „Einige werden so vergrämt, dass sie nicht mehr trinken, bis ihre Körper einschlafen und zu spröden Hüllen werden, die Jahrhunderte lang wie tot daliegen, ein Kerker für ihre Seelen. Andere werden durch ihre neuen vampirischen Kräfte übermütig und leisten sich die reinsten Mordorgien, bei denen so viele Leichen ihren Weg pflastern, dass die Sterblichen merken, was geschehen ist, und uns in ihrer Rachsucht wie Tiere jagen. Auch sie sterben. Wir bringen sie selber um. Uns bleibt nichts anderes übrig, wenn die Sterblichen uns nicht zuvorkommen.“ Wie gebannt hörte ich ihr zu. „Manche öffnen sich einfach eine Ader und bluten aus. Wieder andere gehen absichtlich in ein Feuer wie dieses und lassen sich zu Asche verbrennen.“ Ich betrachtete sie eine ganze Weile. Wie das Feuer auf ihrem Gesicht und in ihren Augen tanzte. „Ich war einer der Auserwählten“, sagte ich, „du hast es in mir gespürt und mich verwandelt.“ „Ich hatte keine Wahl. Du wärest gestorben.“ „Du hattest eine Wahl. Du hättest mich sterben lassen können.“

Sie senkte ihren Blick und zuckte mit den Schultern, als hätten meine Worte keine große Bedeutung. „Ich glaube, du hattest die ganze Zeit vor, mich zu verwandeln, Sarafina. Ich glaube, deshalb bist du zurück zur Familie gekommen und hast mich den anderen vorgezogen.“ Wieder ruhte ihr Blick auf mir, ihre Augen durchbohrten mich fast. „Vielleicht habe ich mir das gewünscht, Dante, aber ich hätte es niemals getan, ohne gut abzuwägen. Dieses Leben ist nicht einfach. Ich weiß, dass es dir im Augenblick so erscheinen muss, aber so ist es nicht.“ „Du meinst, dieses Leben erscheint mir einfach? Ich habe jeden verloren, den ich geliebt habe, Fina. Meine eigene Mutter, meine Familie, selbst meine Art zu leben. Alles, was ich kannte, wurde mir in jener Nacht entrissen. Es ist alles andere als einfach. Und doch habe ich nicht den Verstand verloren oder meinem Leben ein Ende bereitet.“ „Es wird noch viel schwerer werden.“ Darüber dachte ich einen Moment lang nach. Wie sicher sie klang. War sie so unglücklich? Ich

begann zu merken, wie einsam sie in all den Jahren gewesen sein musste, ehe ich übergetreten war, um ihr in der Dunkelheit Gesellschaft zu leisten. „Die meisten Sterblichen ertragen den Schock der Verwandlung nicht. Den Verlust von allem, was sie ausgemacht hat. Selbst diejenigen, die sich anpassen und es akzeptieren, bestehen nicht alle. Hundert Jahre, vielleicht zweihundert, doch dann entfaltet sich das unsterbliche Leben vor ihnen, wie es wirklich ist. Ein Fluch genauso wie ein Segen. Ebenso Schmerz wie Vergnügen. Und auch sie entschließen sich oft, nicht weiterzumachen.“ „Und was ist mit denen, die es tun?“ Sie schwieg eine lange Weile. „Diejenigen, die weitermachen, müssen wohl einen Weg finden, mit dem, was sie sind, Frieden zu schließen. Sie hören auf, dagegen anzukämpfen. Sie hoffen nicht mehr auf eine Heilung, die sie wieder sterblich macht. Sie hören auf, nach dem Sinn dahinter zu suchen, ihre Existenz erklären zu wollen oder eine Berechtigung zu verlangen. Sie nehmen es einfach hin.“ „Bist du bereits an diesem Punkt angelangt?“,

fragte ich sie. Kopfschüttelnd betrachtete sie mich. „Nein. Aber ich habe diese Akzeptanz in den Augen einiger der Ältesten gesehen. Ich habe gehört, wie sie davon gesprochen haben. Und ich habe fest vor, zu überleben, nach meinen eigenen Regeln und auf meine eigene Art, bis ich diesen Frieden auch für mich gefunden habe.“ Und das, dachte ich, würde sie sicherlich. Aber noch war sie rastlos. Suchte nach etwas, vielleicht nach dem Frieden, von dem sie sprach, vielleicht nach etwas anderem. Ich wusste es nicht. „Und was tust du, Fina?“, fragte ich sie. „Wenn du … Gesellschaft suchst?“ „Dafür haben wir einander.“ „Ich meinte eine andere Art.“ Ich musste meinen Blick abwenden, ich hatte mich noch immer nicht an die lustvolleren Aspekte meines Daseins gewöhnt, ich verstand sie noch nicht, denn mein übernatürliches Leben war noch sehr jung. Ich konnte sie, als ich sprach, nicht ansehen. „Wenn ich von den Menschen trinke – besonders von den Frauen, manchmal auch von den Männern – fühle

ich …“ „… Begehren“, beendete sie den Satz für mich. „Jetzt verstehe ich, was du wissen willst. Wie man es befriedigt.“ Die Augen auf das Feuer gerichtet, nickte ich. „Sei deshalb nicht verlegen, Dante. Wir sind sinnliche Kreaturen. Es liegt in unserer Natur. Jede körperliche Empfindung ist für uns in einem Maße verstärkt, das einfache Sterbliche nicht ertragen könnten. Wir fühlen alles tausendmal intensiver als vorher. Schmerz, ja. Bis zu dem Punkt, wo er uns lähmen kann. Aber auch Vergnügen. Die Art, auf die wir den körperlichen Höhepunkt empfinden, ist unvergleichlich.“ Meine Kehle wurde trocken, und ich fühlte schon durch ihre Beschreibung Begehren in mir aufsteigen. „Blutlust und sexuelle Lust sind für unsere Art eng miteinander verwoben“, fuhr sie fort. „Man kann nicht das eine ohne das andere empfinden. Wenn du versuchen solltest, mit einer Sterblichen zu verkehren, dann wirst du ihr, ehe du fertig bist, tief ins Fleisch beißen und sie leer trinken. Beides geht

Hand in Hand. Die Ekstase des Trinkens verstärkt den Orgasmus, und der Orgasmus verstärkt die Ekstase des Blutes. Die Kombination der beiden ist eine so starke betäubende Lust, dass man sich vollkommen dem Gefühl überlässt. Man verletzt die Sterblichen. Man tötet sie.“ Ich betrachtete sie durch zusammengekniffene Augen. „Ich denke nicht, dass ich daran glaube.“ „Nein?“ „Nein. Natürlich kann ich spüren, dass ein Teil Wahrheit in dem ist, was du sagst, aber ich glaube nicht, dass körperliche Lust mich bis in den Kontrollverlust treiben kann. Das sicherlich nicht.“ „Vielleicht“, sagte sie langsam und zog jedes Wort in die Länge, „es ist weniger wahrscheinlich, einen der Auserwählten umzubringen, auch wenn das Risiko immer noch besteht. Am besten hält man sich an andere Vampire, oder man schafft sich ein paar Sklaven.“ „Sklaven.“ Ich spie das Wort mit Verachtung aus. Sie hielt sich immer einen zur Verfügung. Sterbliche, die nicht zu den Auserwählten zählten, die sie buchstäblich zu Zombies gemacht hatte und

die ihr vollkommen ergeben waren. Sie saugte sie aus, aber nicht bis zum Tode. Dann nährte sie ihre Körper mit einem winzigen Teil ihres eigenen verfluchten Blutes. Sie tat dies wieder und wieder, hielt sie tagelang gefangen, bis sie in ihren Bann gerieten. Bereit, jedem ihrer Befehle zu gehorchen, ihre Existenz ganz darauf aufbauend, ihr zu gefallen. Ich wusste nicht, wie es ihr gelang, sich mit diesen geistlosen Drohnen zu vereinigen, ohne sie umzubringen. Ich glaube, am Ende hat sie es doch getan, aber wie sie ihre Opfer bis dahin am Leben hielt, wusste ich nicht. Ich hasste sie. Ich hasste ihren Anblick. Und ich verspürte nicht den geringsten Wunsch, zu wissen, was genau sie mit ihnen anstellte. Was mich anging, ich kannte meine eigene Seele. Und ich wusste, ich könnte nie so trunken vor Begehren werden, einen Unschuldigen umzubringen. „Ich glaube dir nicht“, wiederholte ich noch einmal, „ich denke, du willst mich nur davon abhalten, mit jemand anderem als dir selbst zusammen zu sein.“ Sie hob ihre Augenbrauen. „Tust du das?“

„Ja. Du hast vielleicht nicht die innere Stärke, gegen deine Lüste anzukämpfen, du kannst vielleicht nicht mit jemandem schlafen, ohne ihn umzubringen. Aber ich schon.“ „Na. Das ist ja gut zu wissen.“ Ich konnte es damals nicht wissen, aber meine liebe Wohltäterin hatte einen Plan, wie sie mir ein für alle Mal die Wahrheit beibringen wollte. Es war Wochen später. Wir hielten uns in einem Herrenhaus auf, als Gäste eines reichen alten Mannes, der in Sarafina vollkommen vernarrt war. Es gefiel mir nicht, mich auf diese Art mit den Sterblichen abzugeben. Unter ihnen zu leben und Ausreden für den eigenen Lebensrhythmus finden zu müssen. Sarafina machte das nichts aus. Ihr gefiel es, mit ihnen zu leben. Sie versteckte sich hinter einer Patina aus Lügen. Kein Teil von ihr, weder Körper noch Seele, ließ sich jemals von ihnen berühren. Nicht auf einer anderen Ebene als der von Jäger und Gejagtem. Sie spielte allen etwas vor, als ihre Freundin, ihr Gast. Sie empfand nichts für sie. Nichts. Und ich war mir recht sicher, dass sie im angrenzenden Dorf Jagd auf die Bauern

machte. Seit unserer Ankunft galten drei Menschen als vermisst. Der Gedanke, dass meine Tante Unschuldige umbrachte, gefiel mir ganz und gar nicht. Aber es war ihre Entscheidung. Nicht meine. Wir erlaubten uns kein Urteil über die Taten eines anderen Vampirs, wenn sie nicht die ganze Art in Gefahr brachten. Solange sie die Leichen verschwinden ließ und nicht zu viele in derselben Stadt umbrachte und so die Aufmerksamkeit auf sich zog, war es nicht an mir, ihr Vorhaltungen zu machen, und aufhalten durfte ich sie schon gar nicht. Sie würde mit ihrer eigenen Schuld oder den begangenen Sünden oder was auch immer das Ergebnis ihrer Taten war, selber umgehen müssen. Es war mir nicht gestattet. Das war die einzige Regel unserer Art, und die erste, die meine Tante mir beibrachte. Ich dachte gerade in meinem Zimmer über diese Dinge nach, als es an der Tür klopfte. Ich machte mir nicht die Mühe, meinen Geist zu öffnen und zunächst Eindrücke über den Besucher zu sammeln, ein Fehler, den ich leider in meinen

frühen Jahren oft begangen habe. Ich nahm einfach an, es wäre Fina, und rief: „Herein.“ Die Tür öffnete sich, und eine Dienstmagd trat ein, die uns bei den späten Abendessen, bei denen Fina und ich nur so taten, als würden wir mit unserem Gastgeber und den verschiedenen anderen Gästen gemeinsam essen, serviert hatte. Sie war nur spärlich bekleidet. Ein Nachthemd aus einem so dünnen Stoff, dass jeder Zentimeter ihres warmen sterblichen Fleisches zu sehen war. In der Hand trug sie eine Kerze. Ihr Haar, Massen davon, honigblond und wild gelockt, war offen und fiel ihr den Rücken hinab. Ihre Lippen waren feucht und standen offen, ihr Leib war füllig und sinnlich. Ich zwang mich, in ihr Gesicht, ihre Augen zu sehen. „Was willst du von mir?“ „Das ist die falsche Frage, M’lord. Ich bin gekommen, um Euch eben das zu fragen.“ Ihr Akzent klang nach Unterschicht, wenn auch nicht ganz nach Cockney. Sie hatte, nahm ich an, geübt, um die schärferen Kanten ihrer natürlichen Sprache zu verlieren. Stattdessen imitierte sie die wohlklingendere Betonung ihrer Arbeitgeber.

„Ich fürchte, ich weiß nicht, was du meinst.“ Ohne dass ich sie darum gebeten hätte, trat sie weiter in mein Zimmer, stellte die Kerze auf dem Schrank ab, schloss die große Tür hinter sich und betrachtete mich dann ruhig. „Ich habe gemerkt, wie Ihr mich anseht, M’lord. Meine Brüste, wenn ich mich über Euch beuge, um Tee einzuschenken. Und meinen Hintern, wenn ich mich zu den anderen beuge. Ich hatte es satt, zu warten, bis Ihr mich fragt, und dachte, ich bin so frei und mache das Angebot selbst.“ Sie hatte durchaus recht. Das Weib trug einen so tiefen Ausschnitt, man musste sich fragen, wie sie ihre herrlich prallen Brüste davon abhielt, herauszufallen. Sie schwollen über dem Stoff ihres Kleides an, und sie selbst sorgte dafür, sie so oft wie möglich unter meine Nase zu halten. Ich war versucht gewesen. Sogar verlockt. „Ihr seid doch nicht schüchtern, oder, M’lord?“ „Nein. Ich bin nicht schüchtern.“ „Ich auch nicht, wie Ihr bald merken werdet.“ Und sie bewies es sofort. Während sie durch den Raum auf mich zuging, löste sie das Band an ihrem Hals

und ließ das dünne Hemd, das sie trug, zu Boden gleiten. Es fiel in einer fließenden Bewegung hinab, und dann stand sie stolz und nackt vor mir, nicht einen Fuß entfernt von meinem Stuhl neben dem Kamin. Ich konnte jeden ihrer Düfte wahrnehmen. Sie war sauber und frisch gebadet, nur für mich, wie ich annahm. Ihr Haar roch nach Henna, ihre Haut nach Aloe. Und ich roch auch ihre Erregung, ahnte, sie musste von ihren Säften schon ganz feucht sein. Und ich hatte sie noch nicht einmal angefasst. Ich leckte mir erwartungsvoll die Lippen. Gott weiß, es war Jahre her, seit ich eine Frau auf die Art gekannt hatte, wie sie mich kennenlernen wollte. Ich hatte viele verschlungen, das schon, hatte von ihnen in kleinen verhaltenen Zügen getrunken, die mich nach mehr sehnen und sie vor Verlangen beben ließen. Ich kam in der Nacht zu ihnen und befahl ihnen, sich an mich nur als Traum zu erinnern. Sarafina hatte mir gesagt, dass ich mehr nicht tun konnte, ohne sie umzubringen. Ich glaubte ihr nicht. Sicherlich könnte ich sie … berühren …

Das Weib fiel vor mir auf die Knie, legte ihre Hand an meinen Schoß und spürte dort meine Erregung. Sie lächelte zu mir auf, riss dann meine Kniebundhosen auf und beugte sich hinab, um meine Härte mit ihrer Zunge zu umspielen. Ich bebte vor Lust; schon bei der ersten Berührung ihrer Zunge flammte Begehren in mir auf, doch dann nahm sie mein Gemächt ganz in ihren Mund, warm und feucht, und saugte tief daran. Ihre Arme schlangen sich um meine Hüften, sie drückte sich an mich und ließ ihre saugenden Lippen an meinem Schwanz auf und ab gleiten. So wie der Samen in mir aufstieg, tat es auch meine Blutlust. Ich spürte sie wie einen dunklen Hunger, der mit der Lust, die sie mir verschaffte, immer stärker wurde, bis ich das Blut unter ihrer Haut rauschen hören konnte. Ich konnte es riechen. Ich musste es haben. Ich griff in ihre vollen Haare, zog ihren Kopf von mir ab, und die Magd zu mir auf, sodass sie auf meinem Schoß landete. Ich packte ihre Hüften und drückte sie mit aller Kraft nach unten, drang tief in sie ein, so tief, dass sie aufschrie – ob vor Schmerz oder Lust oder einer Mischung aus

beidem – es war mir egal. Wieder begann sie, ihren lüsternen Körper auf und ab zu bewegen. Ich hatte an ihren Hals gedacht, ihre süße Schlagader, aber die geschwollenen Hügel ihrer vollen Brüste, die vor meinem Gesicht tanzten, weckten eine andere Begierde in mir. Ich streckte die Hand danach aus und wiegte eine dieser vorlockenden Kugeln, bevor ich sie in den Mund nahm, saugte fest an ihrer Brustwarze und biss dann zu. Sie schrie vor Wonne auf, und ich öffnete die Spitze mit einem meiner Eckzähne und saugte fest an dem kleinen Rinnsal aus Blut, das sich daraus ergoss. Sobald es meine Zunge berührte, war ich verloren. Empfindung, Lust, der mächtige Hunger, der alle Logik überwältigte, brannte durch mein Gehirn, und ich saugte fester, biss tiefer, damit mehr Blut kam, ignorierte ihre Schreie, presste sie fest an mich und nahm mir, was ich wollte, auch wenn ich bereits wusste, es reichte nicht. Ich stand auf, immer noch in ihrem Schoß vergraben, ihre Beine um mich geschlungen, ihre blutige Brustwarze fest zwischen meinen Zähnen, und ging zum Bett. Ich ließ uns beide darauffallen

und landete hart auf ihr. Endlich ließ ich ihre Brust los, als ich so fest in sie eindrang, dass das schwere Bett ächzte und bebte und sich mit jedem meiner Stöße ein Stück verschob. Sie schrie jetzt laut, zu laut, um in ihrer Leidenschaft nicht gehört zu werden. Ich brachte das Weib mit einer Hand über ihrem Mund zum Schweigen und versenkte meine Zähne in ihrer anderen Brust. Dieses Mal biss ich tiefer zu, drang mit beiden Eckzähnen bis zum Ansatz in sie ein und trank in tiefen Zügen von ihr. Ich nahm sie mit Gewalt und senkte meine Zähne immer und immer wieder in ihr köstliches Fleisch, ihre Schulter, ihre Arme, und schließlich in ihren Hals. Meine rasiermesserscharfen Zähne drangen durch ihre Haut wie durch Butter und durchbrachen die Halsschlagader mit einem Knacken, dann gab die Ader ihren Preis frei. Bis zum Ansatz stieß ich in sie hinein, und ihr Herz pumpte ihr Blut in mich wie ein williges Opfer. Ich verschlang sie, und als ich zum Höhepunkt kam, war es tausendmal stärker als alles, was ich je zuvor als Sterblicher erlebt hatte. Eine Million Mal. Mein Körper bebte fast bis zum Zerbersten.

Ich wurde für den Moment blind. Taub. Mein ganzes Sein war auf die beiden Stellen gerichtet, an denen wir verbunden waren – auf mein Glied in ihrem Schoß und meine Zähne in ihrem Hals. Zwischen beiden zuckten Blitze hin und her. Und das war alles, was ich noch war. Reine Lust, die mich in ihrer Intensität fast um den Verstand brachte, so sehr quälte sie mich. Ich schrie auf, ließ von ihrem Hals ab, warf meinen Kopf zurück und brüllte laut. Als die Empfindungen endlich abebbten, lag ich wie ausgezehrt auf ihr und genoss das Gefühl des Lebens, das in meinen Adern wirbelte, und der Befriedigung des sexuellen Höhepunkts. Ich war berauscht, schwebte auf dem Nachglühen dieser intensiven Befriedigung. Ich war warm, ihr Blut pumpte in mir und verlieh mir Kraft. Nach und nach nahm ich im Raum ein langsames, rhythmisches Klatschen wahr. Ich blinzelte, hob meine Augen, stellte sie scharf und sah Sarafina, die am anderen Ende des Raumes stand und applaudierte. „Gut gemacht, Dante. Wirklich sehr gut gemacht.“

Ich sah hinab zu der Frau unter mir. Ihre Augen standen weit offen und umwölkten sich bereits. Und ihr Hals – Gott, ich hatte nicht nur hineingebissen, ich hatte eine tiefe klaffende Wunde in ihn gerissen. Ich hatte ihr Fleisch zerfetzt, ihre Ader durchtrennt, durch die Muskeln gebissen und ihre Luftröhre freigelegt. Ich beeilte mich, von ihr herunterzukommen, aber ich sah alles. An ihren Brüsten, ihren Armen, ihren Schultern, sogar an ihrem Kiefer waren kleinere Wunden. Sie bluteten, aber nur wenig. Ich hatte mit meinem hungrigen Mund nicht viel von ihrem Nektar entkommen lassen. Ihre Mitte war aufgerissen und blutig von der Gewalt, mit der ich auf sie eingerammt hatte. Ich legte eine Hand über meinen Mund, doch als ich sie wieder wegzog, hatte sie Spuren von scharlachrotem Blut an sich. Mein Gesicht war damit verschmiert, ich wusste es. Ich hatte mein Gesicht in dieser Wunde vergraben, hatte danach gelechzt, mehr von ihr in mich aufzunehmen. Mein ganzer Körper war ein einziger Beweis für diese Bluttat.

Es war auf meinen Händen, auf meiner Brust. Erschüttert drehte ich mich zu Sarafina um. „Warum hast du mich nicht aufgehalten? Warum?“ „Dich aufhalten?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe sie zu dir geschickt, Dante. Manche Lektionen lernt man nur, indem man sie lebt. Jetzt weißt du, was passiert, wenn du deine Leidenschaft an einer Sterblichen ausleben willst. Lass es. Sklaven oder andere Vampire sind die einzigen sicheren Optionen, wenn du vorhast, nicht zu töten. Andererseits hast du jetzt vielleicht deine Meinung geändert, wo du weißt, wie gut es ist.“ „Ich töte nicht.“ „Jetzt tust du es. Wie ein Wolf, ein Hai oder jedes andere Raubtier bist du auf den Geschmack gekommen, Dante. Du wirst es wieder tun. Wir sind Raubtiere. So sind wir eben. Aber darüber können wir uns später streiten. Jetzt müssen wir diesen Ort verlassen, ehe entdeckt wird, was heute Nacht geschehen ist. Wickel die Schlampe in Decken und wasch dich. Ich packe deine Sachen.“ „Aber …“ „Kein Aber. Sie hat bereits einen Brief

geschrieben, in dem sie den Haushalt davon in Kenntnis setzt, dass sie mit dem Stallburschen davongerannt ist. Ich habe ihr tatsächlich einreden können, du nimmst sie mit uns, wenn du erst einmal von ihrem herrlichen Körper gekostet hast.“ Sie legte ihren Kopf zurück und lachte anmutig. „Ich muss schon sagen, Dante, du hast es ihr gut besorgt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so ein wilder Hengst bist.“ „Halt den Mund, Fina.“ Ich sah, wohin ihr Blick fiel, und richtete meine Hosen. „Du bist meine Tante, lieber Gott.“ „Gott hat nichts damit zu tun, mein Junge. Und ich bin nicht nur deine Tante – deine Urgroßtante –, ich bin auch deine Mutter, deine Erzeugerin, und deine Schwester. Die Blutsbande der Vergangenheit haben keine Bedeutung mehr. Wir sind jetzt eine neue Art der Familie. Und ich könnte nehmen, was du ihr gegeben hast, und noch mehr, ohne dabei Schaden zu nehmen.“ Ich starrte sie kalt an. „Die Blutsbande der Vergangenheit bedeuten mir immer noch etwas, Sarafina. Und ich verspreche dir, wir werden nie

auf diese Art zusammen sein.“ Schmerz und Wut konnte ich in ihren Augen lesen. Vielleicht war sie schon so lange untot, dass der Anstand der Sterblichen ihr nichts mehr bedeutete, vielleicht hatte sie das alles auch vergessen. Aber ich noch nicht. Meine Worte hatten sie wirklich getroffen. Aber sie waren ernst gemeint. Und auch wenn ich sie für das hasste, was sie mir in dieser Nacht angetan hatte, wusste ich doch, ich hatte eine wichtige Lektion gelernt. Ich durfte nie wieder eine körperliche Beziehung mit Sterblichen eingehen. Morgan schloss das Buch und blinzelte schockiert. Es hatte Ausnahmen gegeben. Etwas über Sklaven, was sie alles andere als anziehend fand. Etwas über „die Auserwählten“, was sie noch weniger verstand. Und andere Vampire. Nichts darüber, wie man andere Vampire erschuf. Nichts über irgendetwas Hilfreiches – nur wusste sie jetzt, warum Dante nicht mit ihr schlafen wollte. Und sie hielt das ebenfalls für das Beste. Sie wollte bestimmt nicht, dass er sie umbrachte.

Sie blickte an sich hinab und leckte sich beklommen die Lippen. Dann sprang sie schnell auf, legte das Tagebuch zurück in den Safe, schloss und verriegelte die Tür und schloss dann auch das falsche Buchregal davor. Sie rannte aus dem Arbeitszimmer, die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Sie musste sich umziehen. Sie wollte ihn nicht dazu verlocken, so etwas … so etwas mit ihr zu tun. Aber sobald sie die Schlafzimmertür geschlossen hatte, hörte sie ihn bereits. Nicht laut, sondern, auf eine seltsame faszinierende Art, in ihren Gedanken. Morgan. Sie ignorierte die Stimme in ihrem Kopf und zog eine Schublade ihrer Kommode auf. Morgan! Die Terrassentür wurde von einem heftigen Windstoß aufgeworfen. Sie wirbelte herum und keuchte erschreckt auf. Aber er stand nicht dort auf dem Balkon, wie sie es fast erwartet hatte. Zitternd ging sie zu den Türen, um sie zu schließen, und da sah sie ihn. Er stand auf dem weiter entfernten

Rasen, auf halbem Weg zwischen ihrem Haus und der See. Und sie spürte, dass er sie direkt ansah. Komm her zu mir. Jetzt. Konnte sie ihn wirklich hören, obwohl er keinen Laut von sich gab? Sie wollte ihm zurufen, dass sie in einer Minute bei ihm sein würde, doch da kam das letzte Wort erneut. Jetzt. Eine Anziehungskraft lag in seinen Worten, der sie nicht widerstehen konnte. Es war unmöglich, nicht zu gehorchen. Morgan drehte sich um, verließ das Schlafzimmer, ging die Treppe hinunter, durch das Haus und zur Hintertür. Sie trat auf die gepflasterte Terrasse und drei weitere Stufen hinab, bis ihre nackten Füße im feuchten kalten Gras standen. Ihr lief ein kalter Schauer durch den Körper, dennoch schritt sie voran. Sie ging, bis sie ihm gegenüberstand, bis nur eine Armlänge seinen Körper und ihren trennte. Seine Augen glitten über ihren Körper, verschlangen ihn. Sie fühlte ihn wie eine Berührung und zitterte vor Kälte und Nähe. „Jetzt haben wir Zeit. Die ganze Nacht sogar. Und

du, Morgan, wirst mir erzählen, woher du so viel über mich weißt.“ Sie begegnete seinem Blick und konnte nicht mehr klar denken. In ihren Gedanken gab es nichts mehr außer Unterwerfung. Gehorsam. Es brauchte einen Akt reiner Willenskraft, um den Bann seiner Augen zu brechen, die sie dazu zwingen wollten, ihm alles zu sagen, was sie wusste, aber es gelang ihr. Sie wendete sich ab und sah an ihm vorbei aufs Meer. Ihre Gedanken flüsterten ihr zu, dass er ihr die Tagebücher wegnehmen würde, wenn sie ihm davon erzählte. Und, bei Gott, sie konnte ihre einzige Verbindung zu ihm nicht verlieren. Oder war das nicht ihre einzige Verbindung? „Wie hast du das gemacht?“, flüsterte sie. Seine Augen schlossen sich einen Augenblick, in dem er um Geduld rang. „Dich hierherbeordert?“, fragte er, und als sie nickte, fügte er seufzend hinzu: „Ich bin ein Vampir. Ein alter.“ Das war keine Antwort. „Dann hast du mit den Jahren Gedankenkontrolle gelernt?“ „Bis zu einem gewissen Grad, ja.“ „Dann könntest du jeden zu dir beordern, jeden zu

dir kommen lassen, obwohl er es nicht will?“ Sie sah jetzt auf den Boden, überallhin, nur nicht in seine Augen. Ein Finger legte sich unter ihr Kinn und hob ihren Kopf langsam an. „Du wolltest es.“ Ein Schaudern durchfuhr ihren Körper. „Es ist schwieriger, jemanden zu überzeugen, etwas zu tun, was derjenige nicht tun will. Aber ich habe das Gefühl, Morgan, dass ich dich zu so ziemlich allem überreden könnte.“ „Ich …“ Sie atmete schneller, und er merkte es. Sie wusste, dass er es merkte – sah es in seinen Augen –, und fast glaubte sie, er könnte auch hören, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. „Ich habe deine Stimme in meinem Kopf gehört. So deutlich, als stündest du neben mir und würdest mit mir sprechen.“ Er nickte. „Ist das auch bei allen so?“ Dieses Mal war er es, der ihren Blickkontakt brach, aber er sah nicht fort, wie sie es getan hatte. Nein, er richtete seinen Blick einfach auf ihre Lippen. „Ich bin hergekommen, um Fragen zu

stellen, nicht, um selber Antworten zu geben.“ „Ich habe auch Fragen“, sagte sie. „Und ich brauche genauso dringend Antworten wie du.“ Er richtete sich auf. „Dann haben deine Bedingungen sich geändert?“ „Ich verstehe nicht …“ „Letzte Nacht hast du angeboten, mir alles zu erzählen, was ich wissen will, wenn ich dich nur nehme. Heute Nacht bist du bereit, Informationen zu verlangen statt Sex.“ Bei den Worten „wenn ich dich nur nehme“ fuhr ein Schauer über ihren Rücken, und Hitze begann sich zwischen ihren Beinen auszubreiten. Sie erinnerte sich an lebhafte Bilder. Nehmen. Das bedeutete Unterwürfigkeit, ob willig oder nicht. Seine Macht, wie er sie besaß, auf jede Art, die er wollte. Sie wollte das und noch mehr. Sie sehnte sich danach. Sie konnte es so deutlich in ihren Gedanken sehen. Seine Hände, die ihre Handgelenke festhielten, sein Mund, der sich über ihren ganzen Körper bewegte, küsste, schmeckte und zwickte, ihr Fleisch und ihr Blut kostete, während sie vor Schmerz und Lust wimmerte.

„Hör auf!“ Seine Stimme, heiser und streng, brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Er hatte sich abgewendet, seine Hände an die Schläfen gepresst, die Augen geschlossen. „Ich kann deine Gedanken genauso deutlich sehen wie du, Morgan. Und ich warne dich, meine Selbstbeherrschung kommt an ihre Grenzen.“ „Es tut mir leid.“ Einen Augenblick schien er sich sammeln zu müssen. Endlich atmete er ein, richtete sich auf und drehte sich wieder zu ihr um. „Ich bitte dich, sag mir, was ich wissen muss. Je mehr Zeit ich in deiner Nähe verbringe, desto größer ist das Risiko, dem du dich aussetzt.“ Sie erstickte die Angst in ihrem Bauch. „Welches Risiko, Dante? Getötet zu werden? Das ist ein kleines Risiko, kann ich dir versprechen. Ich sterbe sowieso bald. Ich bin mir nicht sicher, dass ich den Tag überstanden hätte, wenn du nicht …“ Eine lebhafte Erinnerung stieg in ihr auf, wie sie von seinem Hals getrunken hatte. Schnell schlug sie ihre gedankliche Tür vor dieser Erinnerung zu.

„Ich muss zuerst einige Dinge wissen.“ „Damit du sie in deinem nächsten Drehbuch verwenden kannst?“ Sie senkte den Kopf. „Als ich mit dem Schreiben angefangen habe, wusste ich nicht, dass es dich wirklich gibt. Ich dachte, ich würde nur die Wahnvorstellungen eines verrückten alten Mannes abschreiben, der wahrscheinlich schon lange tot war.“ Mit einem Seufzen drehte er sich um und ging auf die Klippen zu. Sie versuchte, Schritt zu halten, aber jeder seiner Schritte war lang und kräftig, und sie musste zwei für einen von seinen Schritten gehen. „Du musst mir glauben, Dante. Ich würde dich nie hintergehen. Jetzt nicht mehr.“ „Und warum nicht?“, fragte er. „Weil ich dich liebe.“ Sie hatten die Klippen erreicht, und er blieb stehen, als sie die Worte ausgesprochen hatte, und stand einfach da und blickte aufs Meer hinaus. „Du kennst mich nicht. Du weißt nicht, was ich bin. Was ich wirklich bin. Deine Autorenfantasie hat dir eine Geschichte zusammengesponnen aus

romantischen Mythen und Legenden, die du gehört und gelesen hast. Die Wahrheit kennst du nicht, und du musst sie dir fest in deinen sterblichen Verstand einprägen, Morgan. Vampire sind Raubtiere. Mörder. Und Sterbliche sind ihre Beute.“ „War es so auch mit Laura Sullivan? War sie deine Beute?“ Er warf ihr einen hitzigen Blick zu. „Ich war jung. Verliebt. Ich dachte, bei ihr könnte ich meine natürlichen Triebe überwinden. Sie hat sich gegen mich gewendet, ehe ich eine Gelegenheit hatte, es herauszufinden.“ Er senkte seinen Kopf. „Das war der zweite Teil einer wichtigen Lektion, Morgan. Sterbliche und Vampire sind Todfeinde. Glaubst du auch nur einen Augenblick lang, dass ein Lamm einen Löwen lieben könnte? Und selbst wenn, wären beide verdammt. Es muss immer einer den anderen zerstören.“ Bevor sie ihre nächste Frage stellte, musste sie ihre Angst hinunterschlucken. „Was bedeutet es, eine der Auserwählten zu sein?“ Er drehte sich um und starrte auf sie hinab. „Woher kennst du diesen Ausdruck?“

„Von dort, wo ich auch alles andere erfahren habe, was ich über dich weiß. Ich weiß, einige Menschen werden die Auserwählten genannt. Ich weiß, es hat etwas mit ihrem Blut zu tun, und Vampire können sie spüren, und sie wollen sie beschützen.“ Er wendete den Blick ab. „Dann weißt du genauso viel wie ich.“ „Nicht ganz.“ „Das ist doch Zeitverschwendung. Ich gehe.“ Er kehrte ihr den Rücken zu. „Bin ich einer von ihnen, Dante? Und bedeutet das, ich muss nicht sterben?“ Regungslos blieb er stehen. Sie bewegte sich näher auf ihn zu, fuhr mit den Händen seinen Rücken hinauf und legte sie auf seine Schultern. „Als ich von deinem Körper trinken durfte, Dante, da fühlte ich mich … lebendig. Alle meine Sinne waren geschärft, jeder Nerv wach, und ich fühlte alles. Aber es hat nicht angedauert. Ich will mich wieder so fühlen. Die ganze Zeit. Ich will werden, was du bist.“ „Also kommen wir jetzt endlich zum Kern der

Sache. Du willst Einlass in die Welt der Untoten. Deswegen diese Liebeserklärungen und das Verlangen.“ Er drehte sich zu ihr um. „Dein Geist ist nicht stark genug, um es zu ertragen, Morgan. Du würdest kaum ein Jahr überstehen.“ „Das ist ein Jahr mehr, als mir jetzt bleibt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich werde dir das nicht antun. Ich weigere mich, diesen Wahnsinn an einen anderen weiterzugeben.“ „Dann wäre es also immerhin möglich. Ich bin eine von den Auserwählten!“ Frustriert fuhr er mit der Hand durch seine Haare. „Ja. Verdammt, ja. Du trägst das BelladonnaAntigen in deinem Blut. Du bist eine der Auserwählten. Deshalb verfällst du auch so schnell. Deine Art tut das eben.“ Sie nickte, verarbeitete die Information und dachte noch einmal über die Geschichte nach, die sie in ihren Gedanken gesehen hatte. Es wäre sehr viel unwahrscheinlicher, hatte seine Tante gesagt, dass er einem der Auserwählten Schaden zufügte. „Wie geschieht es?“ Seine Augen leuchteten sanft in der Nacht. Er war

wütend auf sie, weil sie es erzwingen wollte, aber auch erregt bei dem Gedanken daran. Sein Blick wanderte flüchtig über ihren Hals. „Ich würde meine Zähne tief in deinem lilienweißen Hals versenken, Morgan, und dir das Blut des Lebens aussaugen. Ich trinke mich an dir satt, bis du an der Grenze zum Tod stehst. Wenn ich nur einen Hauch zu viel nehme, stirbst du. Du liegst da, schwebst zwischen Leben und Tod, bis ich beschließe, dich von mir trinken zu lassen. Wenn du noch genug Kraft in dir hast, um zu trinken, dann tust du es. Du trinkst aus meinen Adern. Du schluckst meinen Fluch.“ Der Wind vom Meer blies stärker. „Und das ist alles?“ „Du schläfst. Du wachst auf. Du nährst dich. Und es ist vollbracht.“ Zunächst konnte er ihre Entschlossenheit nicht deuten. „In Ordnung.“ Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, hielt sie in einer Hand zum Zopf zusammen und reckte ihm ihr Kinn entgegen. „Tu es.“ Er sah mit einem wilden Leuchten in den Augen zu

ihr hinab. Mit dem Zeigefinger fuhr er über ihren Hals und knurrte dann sehr leise, wie ein Tier in der Nacht. „Ja, du willst es. Du weißt, dass du es willst“, flüsterte sie. Sein Atem ging scharf und heiser. Aber sie spürte, wie er gegen sie ankämpfte, gegen seinen Hunger und sein Verlangen. Und dann erinnerte sie sich an etwas, was sie gelesen hatte. Wie nahe der Hunger nach Blut und sexuelles Begehren miteinander verbunden waren. Er wendete sich von ihr ab. Sie zog am Gürtel ihres Morgenmantels und ließ den Wind den Stoff von ihren Schultern ihre Arme hinunterziehen und dann davonpusten. Sie stand nackt da, streckte ihre Arme aus und ließ sich vom kalten Wind umspielen. Dante hatte sich ihr wieder zugewendet. Sein Blick wanderte zu ihren Brustwarzen, die im kalten Wind hart wurden. Sie ging näher auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und presste ihren Mund auf seinen.

Mit einem bebenden Seufzen erwiderte er den Kuss. Sein Mund kostete ihren, ihre Zungen umspielten und vereinten sich und er hielt ihren Körper fast zärtlich gegen seinen gedrückt. Seine Lippen verließen ihre, glitten hinab über ihr Kinn zu ihrem Hals, wo er sie küsste und saugte, und dann hob er seinen Kopf, als kostete es ihn große Anstrengung. „Bitte, lass nicht zu, dass ich dir wehtue. Ich könnte es nicht ertragen, verstehst du? Und ich werde dir wehtun. Das werde ich.“ „Mit mir wird es anders sein. Ich bin eine der Auserwählten. Ich liebe dich, und ich weiß es einfach. Ich lasse nicht zu, dass du mir wehtust, Dante.“ „Du könntest mich nicht davon abhalten.“ „Ich habe nichts zu verlieren, verstehst du das nicht?“ Sie legte ihren Kopf wieder in den Nacken und drückte mit den Händen so lange, bis er erschauerte und sich an sie ziehen ließ. Seine Lippen berührten ihre Haut. Er stöhnte leise. „Bitte, bitte, Dante, bitte …“ Mit einem Knurren öffnete er seinen Mund und versenkte seine Zähne in ihr. Sie spürte den

stechenden Schmerz und dann nur noch warme Wellen immer stärker werdender Wollust, als er sich an ihrem Hals labte. Er saugte an ihr, und ihr Körper schien sich aufzulösen. Alles, was blieb, war die Stelle, wo sein Mund ihre Kehle berührte und seine Zähne in ihr Fleisch drangen. Plötzlich gab es ein Geräusch. Ein Zischen in der Luft, dann ein dumpfer Aufprall. Dante stöhnte vor Schmerz auf, ließ sie los und stolperte rückwärts. Morgan fiel benommen und schwach zu Boden. „Jetzt habe ich dich, du blutrünstiger Bastard!“, rief eine Stimme. Morgan sah auf und entdeckte sofort den Pflock in Dantes Schulter. Aus der Wunde quoll Blut. Dann richtete sie ihren Blick in die andere Richtung und entdeckte Stiles oder wie auch immer er heißen mochte, der mit einer Armbrust in der Hand auf sie zugerannt kam. „Morgan …“ „Es geht mir gut. Lauf, Dante. Schnell. Jetzt!“ Und genau das tat er. Er verschwand mit einer einzigen schnellen Bewegung über den Rand der Klippe. Als er sprang, schrie Morgan aus reinem

Instinkt auf. Und im nächsten Moment kniete der Jäger neben ihr und spähte auf der Suche nach seiner Beute über den Rand. Sie suchte ebenfalls, aber Dante war nirgends mehr zu finden. Morgan erhob sich auf die Knie und holte zu einem schwachen Schlag gegen den Mann aus. „Sie Mistkerl! Was ist bloß Ihr Problem, verdammt?“ Der Mann sah sie an. In der Dunkelheit wanderte sein Blick über ihren nackten Körper. Der Mistkerl ließ sich Zeit dabei. Sie stand auf, schwach und schwindelig, aber entschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen, sah sich um und fand ihren Morgenmantel an den knorrigen Zweigen eines altersschwachen Apfelbaumes. Sie ging unsicher darauf zu, befreite den Stoff und zog ihn sich über. „Ich habe Ihnen gerade das Leben gerettet, wissen Sie!“, schrie der Mann und eilte ihr hinterher. „Sie haben auf meinen Freund geschossen und ihn wahrscheinlich umgebracht“, fuhr sie ihn an, „ich rufe die Polizei.“ „Sie rufen niemanden an.“ Er packte ihre Schultern und drehte sie zu sich um. Sie hielt ihren Morgenmantel eng um sich geschlossen, besonders

den Teil an ihrem Hals. „Nicht, ehe ich mir nicht Ihren Hals angesehen habe jedenfalls.“ „Sie haben sich gerade eben alles ausführlich angesehen“, entgegnete sie ihm. „Sie hätten Ihre Chance ergreifen sollen, denn eine weitere bekommen Sie bestimmt nicht.“ „Er hat von dir getrunken. Du hast es zugelassen. Verdammte Bluthure!“ „Sie sind ja verrückt.“ Sie ging wieder auf ihr Haus zu, doch ihre Knie gaben nach, und sie musste anhalten, sich gegen einen Baum lehnen und tief durchatmen. „Er hat zu viel genommen.“ Selbstsicher sah er Morgan an. „Er hätte dich umgebracht, wenn ich nicht gekommen wäre.“ „Das ist der Schock, zu sehen, wie mein Freund von einer Armbrust erschossen wird und von einer Klippe fällt, Sie Wahnsinniger!“ Sie nahm verschwommen wahr, wie ein Auto ihre Auffahrt hinauffuhr. Sie hörte es deutlich, und sah die Scheinwerfer. Hörte eine Tür zuschlagen. Er packte sie wieder am Arm. „Sagen Sie die Wahrheit, verdammt!“

„Lassen Sie los! Hilfe! Jemand muss mir helfen!“ „Hey! Was ist da draußen los?“, rief die Stimme eines anderen Mannes. Sie hörte schnelle Schritte und sah dann Gestalten in der Dunkelheit, die um das Haus herumkamen. Drei von ihnen. Es war zu dunkel, um in der Ferne die Gesichter zu erkennen. Einer der drei Besucher ergriff das Wort. „Ich bin ein Cop, Mister, und Sie lassen diese Lady lieber los, ehe ich mich entschließe, Ihnen eine Kugel in den Hintern zu jagen.“ Der Entstellte ließ sie los, drehte sich um und rannte in die Nacht davon. Der Cop murmelte einen Fluch und nahm die Verfolgung auf, während die anderen zwei, beides Frauen, an Morgans Seite eilten und sich nach ihrem Zustand erkundigten. Sie hielt ihren Kopf geneigt und ihren Mantel fest um sich geschlossen. Sie wollte die verräterischen Wunden an ihrem Hals niemandem zeigen. „Ich weiß nicht, wer Sie alle sind, aber ich bin froh, dass Sie genau im richtigen Augenblick hier waren“, murmelte sie. „Zeig uns einfach die nächste Tür, Kleines“, sagte

eine von ihnen. „Wir bringen dich rein.“ Sie nickte, deutete auf die Hintertür und es gelang ihr, ihre Knie zu beruhigen. Die beiden halfen ihr ins Haus, durch die Hintertür in die Küche, und sie hielt den Kopf nach unten gebeugt und ihr Gesicht abgewendet, während sie ihnen vorausging. „Warten Sie bitte einfach hier, ja? Ich brauche nur einen Augenblick …“ Sie spürte ihre Blicke auf sich – neugierig, ohne Zweifel –, als sie durch das Haus eilte, aber sie respektierten ihre Bitte. Niemand folgte ihr. Sie blieb an ihrem Arbeitszimmer stehen, um die Türen abzuschließen, und schleppte sich dann die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Lieber Gott, sie war so schwach. Dieser Bastard. Seine Einmischung könnte gut ihr Ende bedeuten. Sie zog den Mantel aus, stemmte die Schranktür auf und fand einen Seidenpyjama. Sie zog die Hose an, warf das Oberteil auf ihr Bett und ging an eine Kommodenschublade, in der sie wühlte, bis sie einen schwarzen Rollkragenpullover fand. Sie zog ihn sich schnell über den Kopf, darüber das Pyjamaoberteil und noch ein Paar Slipper. Der

Blick in ihren großen Spiegel zeigte ihr das Bild einer blassen, zerbrechlichen Frau. Sie legte die Finger an den Kragen ihres Oberteils, zog ihn hinab und beugte sich näher zu ihrem Spiegelbild. Die zwei Einstiche waren noch da. Winzig und violett. Sie schluckte nervös, strich den Kragen zurück an seinen Platz an ihrer Haut, griff nach einer Haarbürste und fragte sich, wer diese Leute waren. In ein paar Minuten würde sie nach unten gehen und sich ihnen stellen müssen. Was sollte sie bloß machen, wenn sie kaum aufrecht stehen konnte? Sie würde es schon schaffen. Hilfe, wo war Dante? Er war über den Rand der Klippe verschwunden, aber das Wasser hatte er nie berührt. Sie war sich sicher, sie hätte sonst das Klatschen des Aufpralls gehört. Was war also geschehen? Ging es ihm gut? Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie ging auf Zehenspitzen zum Balkon und blickte in den Nachthimmel hinauf. „Dante, geht es dir gut? Sag mir, dass du noch lebst. Sag mir irgendwas, irgendwie. Wenn du wegen mir gestorben bist …“

Morgan. Seine Stimme klang deutlich in ihrem Kopf. Und mit ihr kam ein Schmerz, der sie fast blendete. Sie drückte ihre Hände gegen ihren Kopf und ging in die Knie. Ich komme wieder zu dir. Es war ein Versprechen, begleitet von einer weiteren Welle blinden Schmerzes. „Dante, wo bist du?“, fragte sie laut. „Lass mich dir helfen. Lass mich irgendwas tun.“ Aber es kam keine Antwort. Nichts. Und sie wusste, er würde nicht mehr sagen. Denn als er ihr seine Gedanken schickte, war auch sein Leid dabei gewesen. Dass sie so verbunden sein konnten – ah, aber er hatte heute Nacht tief von ihr getrunken. Vielleicht hatte das etwas damit zu tun. „Ich liebe dich, Dante“, flüsterte sie. „Ich schwöre dir, ich wusste nichts von diesem Mann. Ich schwöre es. Und ich werde ihn eigenhändig umbringen, um dich zu beschützen. Das werde ich.“ Sie musste es ihm allerdings auch beweisen. Das wusste sie. Lieber Gott, was musste er denken? Dass sie alles geplant hatte, ihn angelockt,

damit dieser Unmensch ihn erschießen konnte? Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Sie ging rückwärts zurück ins Haus, ließ die Türen aber offen, damit er zu ihr zurückkehren konnte, falls er dazu in der Lage war. Und dann drehte sie sich um, drückte ihre Schultern durch und ging hinab, um sich den Fremden unten im Haus zu stellen.

Keith 18. KAPITEL Maxine ging in Morgan De Silvas großer Küche auf und ab und nahm dabei jedes Detail in sich auf, von den winzigen Marmorfliesen an den Wänden bis zur Oberfläche der Kochinsel in der Mitte, einem großen Marmorstein in der gleichen rosagrauen Farbe. Auf der rechteckigen Kochinsel gab es vier flache Gasbrenner und an einer Seite eine Spüle. Die übrige Fläche war leer, und dort standen ein paar Hocker. Lydia saß auf einem, doch Maxine war zu nervös, um sich hinzusetzen. Nicht, solange Lou noch draußen in der Nacht war und hinter Gott weiß wem – oder was – herjagte. „Hast du gesehen, was ich gesehen habe?“, fragte sie. Eigentlich nur, um die Stille zu füllen. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass es Lydia ebenfalls aufgefallen war. „Was?“, fragte die ältere Frau. „Auf dem weißen Mantel, den sie anhatte? Am Kragen?“ Lydia sah sie an und schüttelte dann den Kopf.

„Blut, Lydia. Nur ein wenig, ein Tropfen oder zwei. Aber es war da. Und wie sie den Kragen um ihren Hals festgehalten hat, das habe ich mir auch nicht eingebildet.“ „Ich dachte, ihr wäre nur kalt, oder es war der Schock. Oder beides.“ Maxine schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie hat etwas zu verbergen versucht. Hast du gesehen, wie schnell sie von uns wegwollte?“ „Sie war aufgewühlt, Maxine.“ „Ich wette zehn zu eins, dass sie etwas trägt, was ihren Hals bedeckt, wenn sie zurückkommt.“ Sie ging auf die Tür zu, drehte sich wieder um, öffnete einen Fenstervorhang und starrte hinaus. „Gott, ich wünschte, er würde zurückkommen.“ Entschlossen packte Maxine den Türknauf. „Zum Teufel mit allem, ich gehe hinterher.“ Gerade als sie die Tür aufgerissen hatte, kam Lou außer Atem die Treppe hinauf. Es fiel ihr schwer, ihm nicht um den Hals zu fallen, dafür sah sie ihn lange an. Sie konnte keine Schäden entdecken. „Hast du ihn erwischt?“ „Er war schon lange weg. Ich habe ihn nicht

einmal mehr gesehen.“ „Verdammt.“ Lou ließ sich auf einen Hocker sinken, nur um sofort wieder aufzustehen, als Morgan De Silva in der Küche auftauchte. Maxines Blick wanderte direkt zu ihrem Hals, und als sie den schwarzen Rollkragen entdeckte, warf sie Lydia einen triumphierenden Blick zu, den Lydia aber nicht registrierte. Ebenso wie Lou starrte sie Morgan De Silva an, als würde sie gerade einen Geist anschauen. Mit einem Stirnrunzeln wandte sich jetzt auch Max der Frau zu. Dann blinzelte sie und starrte. „Mein Gott …“ „Wer sind Sie? Was hat das zu bedeuten?“ Morgan konnte ihre Augen nicht von Maxine lassen. „Ihr zwei seht fast genau gleich aus!“, bemerkte Lou, als glaubte er, niemand sonst hätte es bemerkt. Nein, sehen wir nicht, dachte Maxine. Morgan De Silva war blass wie ein Gespenst, so dünn, dass sie schon knochig war, und ihre Haare waren lang, endlos lang, und vollkommen glatt und seidig.

Maxine war kein Klappergestell. Ihr Haar war kürzer und lockte sich, wenn sie es wachsen ließ. Und sie hatte Farbe. Wenigstens genug, um sie von einer Leiche zu unterscheiden. Aber von diesen Unterschieden einmal abgesehen … diese Frau könnte ihr Zwilling sein. Maxine ließ sich auf einen Hocker sinken, und das Wort „Zwilling“ spulte sich immer wieder in ihren Gedanken ab. Lieber Gott, war das möglich? „Sie sind Morgan De Silva“, sagte Lou. Es war keine Frage, vielmehr eine Feststellung. „Ja. Aber ich verstehe nicht, was das alles soll. Warum … was …?“ „Ms. De Silva, bitte, das ist für uns genauso ein Schock wie für Sie“, erklärte Lou langsam. Noch immer hatte er sich nicht gesetzt. Morgan De Silva stand ebenfalls, auch wenn sie aussah, als würde es sie nicht mehr lange auf den Beinen halten. Verdammt, Maxine fragte sich, wie diese dürren Beinchen überhaupt irgendetwas tragen konnten, schon gar keinen ganzen Menschen. Selbst einen derart klapprigen wie sie. Wie aufs Stichwort gaben ihre Knie nach. Lou

fasste sie beherzt an den Armen, wie es seine Art war. Nicht bedrohlich, vorsichtig. „Kommen Sie, setzen Sie sich“, sprach er beruhigend auf sie ein. Seinen Blick, der jetzt auf sie gerichtet war, konnte Maxine nicht deuten. Wollte er, dass sie etwas sagte, oder wollte er nur sehen, ob es ihr gut ging. Vielleicht ein bisschen von beidem. Doch ihr fehlten die Worte. Es kam nur selten vor, dass sie sprachlos war. Mit einem fast unmerklichen Nicken übernahm Lou die Führung. „Ich bin Lou Malone“, wendete er sich an Morgan De Silva. „Ich bin ein Cop aus White Plains, New York. Das hier ist Maxine Stuart, und da drüben ist Lydia Jordan. Freunde von mir.“ Mit einem klaren Blick fixierte sie Maxine. „Bist du auch ein Cop?“ „Privatdetektiv“, sagte Maxine. Morgan überlegte. „Bist du adoptiert?“ „Ja. Und du?“ Sie nickte. „Geburtstag?“ „Vierter Mai neunzehnhundert…“ „…siebenundsiebzig.“ Morgan hob langsam den

Kopf. Lydia stand auf. Max bemerkte es mit dem Teil ihres Gehirns, der noch in der Lage war, etwas anderes wahrzunehmen als die Frau, die vor ihr saß. „Lydia?“, fragte Lou. „Das ist Privatsache, Lou. Sie sollten allein sein.“ Lou nickte und legte Maxine eine Hand auf die Schulter. „Wir gehen am Wasser spazieren. Schrei, wenn du uns brauchst.“ Sie nickte, ohne wirklich aufzunehmen, was er gesagt hatte. Als die Tür sich geschlossen hatte, war sie allein mit dieser seltsam blassen zerbrechlichen Frau, die ihr Zwilling sein könnte. Die vielleicht ihr Zwilling war. „Ich habe echt Schwierigkeiten, das in meinen Kopf zu bekommen. Ich meine, ich wusste immer, ich bin adoptiert. Aber niemand hat sich je die Mühe gemacht, mir zu verraten, dass irgendwo auch noch eine Zwillingsschwester rumläuft.“ Völlig verwirrt starrte Morgan sie an. „Du meinst, dieser Überraschungsbesuch ist nicht der Höhepunkt einer lang angelegten Suche?“

Verdammt, sie klang ein wenig feindselig. „Nein, der ist überhaupt kein Höhepunkt von irgendwas. Bis ich dein Gesicht gesehen habe, hatte ich keine Ahnung.“ „Du hast mein Gesicht noch nie gesehen?“ „Ich war noch nie in Maine.“ „Ich meinte in der Zeitung. Oder im Fernsehen.“ Ihr ging ein Licht auf. „Oh, richtig. Du musst ja irgendwie berühmt sein, mit der Nominierung und so.“ „Irgendwie schon“, sagte sie. Sie schien sich um eine Art überlegene Haltung zu bemühen, den Kopf erhoben, die Wirbelsäule gerade, den Blick geschärft. Aber Maxine konnte sehen, wie viel Mühe es ihr bereitete, und das ruinierte den ganzen Effekt. „Wenn du nichts von mir wusstest, was willst du dann hier?“ „Ist das jetzt nicht egal?“ Maxine stand auf und kam nur ein wenig näher. Sie hob eine Hand und berührte Morgans Gesicht mit den Fingerspitzen. „Wir sind Schwestern. Ich kann es nicht einmal glauben, das ist …“ Morgan senkte ihren Blick. „Wir haben uns neun

Monate lang eine Gebärmutter geteilt. Das ist keine so große Sache.“ War ihr das wirklich so gleichgültig? „Mehr bedeutet dir das nicht?“ „Unsere Mutter hielt es offensichtlich nicht für sehr wichtig. Warum verdammt noch mal sollte sie uns aufgegeben haben – und schon gar nicht getrennt –, wenn es ihr etwas bedeutet hätte? Alles biologischer Zufall.“ „Du bist eine ganz schön kaltherzige Zicke, was?“ Morgan blickte in Maxines Augen. „Warum sagst du mir nicht einfach, was du willst, damit wir zum Ende kommen können.“ „Was ich von dir will?“ Die blasse Frau hob ihre Augenbrauen und wartete. Endlich fing sie an, die Reaktion ihrer Schwester zu begreifen. „Ich verstehe. Du hast Geld. Erfolg. Du meinst, deshalb bin ich hier, ich will einen Anteil.“ „Ich bin gerade für eine der wichtigsten Auszeichnungen der Industrie nominiert worden. Ich war oft in der Presse. Und du willst mir

erzählen, das hat nichts mit deinem plötzlichen Interesse an mir zu tun?“ „Ich habe dir doch schon gesagt, ich wusste nicht, dass es dich gibt, bis ich dein Gesicht gesehen habe.“ Maxine sagte die Worte mit so viel Bestimmtheit, wie sie konnte, ohne sie zu schreien. „Der Grund, aus dem ich hier bin, hat nichts mit deinem Geld oder deiner blöden Nominierung zu tun. Gott, wer hat dich überhaupt erzogen?“ „Ein Paar kokainabhängiger Hollywoodstars, nicht, dass dich das etwas angeht.“ Sie schloss die Augen, und ihr Kopf kippte nach vorn. Dieses Mal versuchte sie nicht, dagegen anzukämpfen. Sie ließ ihre langen Haare einfach über ihre Augen fallen. „Noch einmal, warum bist du hier?“ „Ich bin hier, weil meine beste Freundin mit einer Kugel in ihrem Hirn im Krankenhaus liegt, in einem Koma, aus dem sie wahrscheinlich nicht wieder aufwacht. Und ich will den Hurensohn finden, der ihr das angetan hat.“ Morgan blinzelte. Es schien Max fast so, als hätte sie die Mauer um die Seele der Frau endlich durchbrochen. „Das tut mir leid. Aber ich verstehe

immer noch nicht, was das mit mir zu tun haben soll.“ „Es hat mit Vampiren zu tun, Morgan.“ Jetzt zuckte sie zusammen. Maxine sah es deutlich. Doch sie versuchte, es zu überspielen, aber zu spät. „Das ist lächerlich. Vampire gibt es nicht.“ „Oh, ich rede nicht von den ausgedachten. Ich rede von den echten. Weißt du. Wie in deinem Film.“ „Ich hatte einen sehr anstrengenden Tag“, sagte Morgan leise, „und ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss dich bitten, jetzt zu gehen.“ Tatsächlich wirkte Morgan noch angeschlagener als vor einigen Minuten. „Ich gehe gleich, nachdem ich dir eine sehr kurze Geschichte erzählt habe. In Ordnung?“ Morgan sah Maxine nur kurz an und nickte dann. „Solange sie wirklich kurz ist.“ „Sie hat nicht einmal ein Ende. Noch nicht jedenfalls. In meiner Heimatstadt gab es ein Gebäude. Es hieß, die Regierung würde dort Forschungen beauftragen. Es stand dort, solange ich denken kann, aber vor fünf Jahren ist es dann

abgebrannt. Ich habe mich an den Feuerwehrleuten vorbeigeschlichen, weil ich hoffte, endlich herauszufinden, was die da wirklich all die Jahre lang getan haben.“ Morgan unterbrach sie mit einem kurzen Aufschrei. „Warum hast du gedacht, dass irgendetwas anderes vor sich geht als Forschungen?“ „Bewaffnete Wachen. Überwachungskameras. Fahrzeuge mit Regierungsnummernschildern, die immer wieder ein und aus fahren. Elektrischer Zaun. Wachhunde. Alles, was du dir denken kannst. Ich habe zwei Dinge gefunden, nachdem ich drinnen war: einen Ausweis und eine CD mit Informationen über Vampire. Über Jahre gesammelte Informationen. Einer der Vampire hieß Dante, und die Informationen, die über ihn auf der CD zu finden sind, haben sehr viel Ähnlichkeit mit dem Dante in deinen Filmen.“ Mit einem Mal konnte Morgan ihre Augen nicht mehr von Maxine abwenden. Sie sah nicht mehr so aus, als würde sie die Geschichte nur ertragen, um ihren Erzähler loszuwerden. Sie war wie gebannt.

„Und der Ausweis?“ „Gehörte einem Frank W. Stiles, ein Agent der Division of Paranormal Investigations, von denen ich annehme, dass sie zur CIA gehören.“ „Frank W. Stiles“, flüsterte Morgan seinen Namen. „Ich habe diese Dinge gefunden, weil ein furchtbar verbrannter Mann sie fallen gelassen hat, während er sich aus den Trümmern befreite. Und kurz danach war dann alles von Militär umstellt. Ich konnte entkommen, aber ich ahnte ja nicht, dass der Mann mich gesehen hatte. Und am nächsten Tag ließ er mich wissen, er bringt meine besten Freunde und meine Mutter um, wenn ich auch nur ein Wort darüber verrate, ihn gesehen zu haben. Meine Adoptivmutter, meine ich.“ „Ist das die gleiche beste Freundin, auf die jetzt geschossen wurde?“ „Ja.“ „Und du glaubst, das hängt zusammen? Du hast selbst gesagt, der Vorfall ist fünf Jahre her.“ „Da ist noch mehr. Erst vor Kurzem wurde in unserer Stadt eine Frau ermordet. Eine Frau, die

Lydia Jordan sehr nahestand. Es sah wie das Werk eines Vampirs aus, und da wurde mir klar, dass ich die Informationen nicht länger für mich behalten konnte. Nicht, wenn Leute sterben. Also habe ich Lou gesagt, was ich weiß, und ihm die CD gezeigt. Und kurz danach liegt meine Freundin in Lous Apartment. Man hatte ihr mit Lous Waffe in den Kopf geschossen. Ich weiß, Lou hat es nicht getan, aber es war ziemlich deutlich, dass jemand ihn belasten wollte. Ich weiß, es war Frank Stiles. Ich weiß es einfach.“ „Wann ist das passiert?“ Maxine fragte sich, warum das wichtig sein sollte. „Letzte Nacht zwischen neun und zehn Uhr abends. Warum?“ „Und wie lange habt ihr gebraucht, um herzufahren? Ihr seid doch gefahren, oder nicht?“ „Ja, wir sind gefahren. Ungefähr sechs Stunden.“ Es schien, als hätte Morgan es nicht mehr so eilig, ihre neu gefundene Schwester wieder loszuwerden. Sie nickte langsam. „Und hinter wem seid ihr her? Dem Vampir, der Lydias Freundin umgebracht hat, oder dem entstellten Mann, der

deine Freundin erschossen hat?“ Maxine überlegte. „Von entstellt habe ich nichts gesagt.“ Irritiert schüttelte Morgan im selben Moment den Kopf. „Du hast gesagt, er hatte schlimme Verbrennungen, das ist doch das Gleiche.“ „Nein, ist es nicht. Nicht wirklich.“ „Ich dachte einfach …“ „Du hast ihn gesehen. Verdammt, natürlich hast du. Er hat wahrscheinlich die gleichen Schlüsse gezogen, nachdem er den Film gesehen hat.“ „Du legst mir Worte in den Mund. Ich habe nie gesagt …“ „Ich will bloß die Wahrheit“, beschwor Maxine sie. „Ich kenne die Wahrheit nicht.“ Morgan war wieder aufgestanden, doch ihre Knie schienen erneut nachzugeben, und sie hielt sich an der Anrichte fest, um stehen zu bleiben. „Du siehst wirklich nicht gut aus, Morgan. Bist du krank gewesen?“ „Es ist eine … Erbkrankheit. Ein Antigen im Blut. Belladonna. Obwohl, wenn wir Zwillinge sind,

würde ich davon ausgehen, dass du es auch hast.“ „Einfach nur A-positiv.“ „Kann das überhaupt sein?“ „Ich weiß es nicht“, gab Maxine zu. „Ich nehme an, wir müssten einen Arzt fragen, oder … so.“ Sie senkte den Kopf und hob ihn dann wieder. „Wer hat dich heute Nacht angegriffen? War das Dante?“ Morgan schüttelte langsam den Kopf und entfernte sich von Maxine, ihr Gang unsicher, ihre Füße fast schleppend. „Es war der entstellte Mann – Stiles. So wie du glaubt auch er, Dante ist echt und dass ich ihn zu ihm führen kann. Aber ihr irrt euch beide. Es gibt keinen Dante. Und selbst wenn –“ Ihre Beine gaben endgültig nach, doch bevor sie fallen konnte, hielt Maxine sie fest. Langsam ließ sie die Schwester dann zu Boden gleiten. „Du wusstest es, nicht wahr, Lou?“ Er sah Lydia an, während sie auf den Klippen spazieren gingen. Früher war ihr Haar golden wie Honig gewesen, aber jetzt waren in seinen Wellen einige graue Strähnen aufgetaucht. Ihr Gesicht war kantiger, härter, hatte die runden Wangen der Jugend verloren. Und doch war sie immer noch

schön. Das Gras wurde lichter, gerade dort, wo sie gingen, und wich steilen felsigen Klippen, die bis in den Ozean hinabreichten. Er mochte das Meer hier oben. Es roch gut. Salzig und frisch, und die Meeresbrise war auch nicht so kalt, wie er es erwartet hatte. Sie schien mit den Wellen an Land zu rollen. „Ich hatte einen Verdacht“, gab er schließlich zu. „Wegen Maxine wenigstens. Deshalb habe ich euch einander vorgestellt. Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass sie sich so in diese Vampirtheorie verbeißt. Das sollte nur ein Vorwand sein, um euch zwei zusammenzubringen, damit ihr sehen könnt, was für mich so offensichtlich war.“ „Und Morgan?“, fragte sie. „Ich hatte keine Ahnung, Lydia, das schwöre ich.“ Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. „Du hättest es mir sagen sollen. Das mit Maxine, meine ich.“ „Ich dachte, das ist etwas, was ihr zwei zusammen ausmachen solltet.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Es tut mir leid, wenn ich falschlag,

Kleines. Du weißt, ich will nur dein Bestes.“ „Das weiß ich.“ „Wirst du es ihnen sagen?“ Sie seufzte. „Ich weiß nicht. Ich muss nachdenken.“ Sie waren gerade umgekehrt, als Maxine nach Lou rief. Lydia packte Lous Arm. „Kann er zurückgekommen sein?“ „Komm“, beschwichtigte Lou sie, nahm ihren Arm und rannte gemeinsam mit ihr über den breiten Rasen zurück zum Haus. „Wir haben das Haus nicht aus den Augen gelassen“, murmelte er. „Er könnte durch eine andere Tür gekommen sein, nehme ich an, aber …“ Sie erreichten das Haus und stürzten hinein. Dort fanden sie Morgan ohnmächtig auf dem Boden und Maxine neben ihr kniend, die ihren Kopf festhielt und zu Tode erschreckt aussah. „Jesus, was ist passiert?“ „Sie ist einfach zusammengebrochen!“ Lydia rannte zu ihr, kniete sich neben Maxine und berührte Morgans Gesicht. „Sie ist so kalt.“ „Ich glaube, sie ist krank. Lou, kannst du sie in ihr

Bett tragen? Ich versuche, die Telefonnummer von einem Arzt zu finden oder so.“ Lou nickte und bückte sich, um Morgan hochzuheben. Sie wog kaum mehr als ein Lufthauch. Dann trug er sie die Treppe hinauf und machte sich auf die Suche nach dem richtigen Schlafzimmer. Maxine saß neben dem Bett und starrte Morgan an. Es war zwei Uhr morgens. Lou schlief schon lange in einem der Gästezimmer, Lydia in einem anderen. In diesem Haus gab es ein halbes Dutzend Gästezimmer, alle vollständig eingerichtet, die aber anscheinend nur wenig benutzt wurden. Eine dünne Lage Staub in allen Schlafzimmern verriet Maxine, dass ihre merkwürdige Zwillingsschwester nicht viel Besuch bekam. Sie hatte selbst nicht schlafen können. Also war sie hierhergekommen, und jetzt saß sie da und betrachtete diese Frau, die wie eine Tote schlief. In ihr riesiges Himmelbett mit weißen Spitzenbezügen über Bergen von Decken und dicken Kissen hätten gut und gerne vier Menschen gepasst und es wäre noch Platz übrig.

Das Haus war wunderschön. Riesig und wunderschön. Allein das angrenzende Badezimmer war größer als Maxines gesamtes Wohnzimmer. Verdammt, sogar der begehbare Kleiderschrank war größer. Und diese Kleider! Vor lauter Kälte musste sie sich die Arme reiben. Als sie in das Zimmer gekommen war, hatten die Terrassentüren mit den cremeweißen, durchsichtigen Vorhängen offen gestanden und die kühle Herbstbrise hereingelassen. Maxine hatte sie geschlossen. Aber es war immer noch zu kalt im Zimmer. Aber natürlich versuchte sie sich mit all diesen Gedanken nur von dem eigentlichen Grund ihres Hierseins abzulenken. Oh, sie erzählte sich selbst tausend Lügen. Sie wollte sich nur daran gewöhnen, ein Gesicht zu sehen, das dem ihren so ähnlich war. Sie wollte in der Nähe sein, falls Morgan aufwachte, um ihr zu erklären, warum sie immer noch da waren, Eindringlinge in ihrem Haus. Sie machte sich Sorgen, dass der Zustand der offensichtlich kranken Frau sich bis zum Morgen verschlechterte.

Nichts davon war der wahre Grund. Sie wollte unter den Rollkragen sehen. Maxine leckte sich nervös die Lippen und beugte sich vor. Morgan lag auf dem Rücken, still wie ein Stein, ihr Gesicht erschreckend weiß in der Dunkelheit, ihr Haar über die Kissen um sie herum ausgebreitet. Die schlafende Schönheit. Maxine streckte die Hand aus und hielt kurz vor Morgans Hals inne. Dann näherte sie sich langsam, bis ihre Fingerspitzen den schwarzen Stoff berührten. Vorsichtig, sagte sie sich selbst, berühr ihre Haut nicht, sonst wacht sie auf. Vorsichtig … Sie nahm den Rand des Kragens fest zwischen ihren Daumen und ihren Zeigefinger und zog ihn sehr vorsichtig nach außen und nach unten. Sie beugte sich näher über Morgan und versuchte, etwas zu erkennen. Sie waren da. Genau, wie sie es vermutet hatte. Zwei kleine Wunden, von dunkler rotbrauner Farbe. „Dante, neeeiiin“, stöhnte Morgan im Schlaf auf. Maxine schreckte so plötzlich zurück, dass sie den Kragen gegen den Hals der Frau schnappen ließ.

„Bleib weg!“, krächzte Morgan. Ihr Kopf begann sich auf den Kissen hin und her zu werfen. „Nein, Dante, komm nicht her.“ Tränen quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor. Maxine spürte einen stechenden Schmerz in ihren Eingeweiden. Das war ihre Schwester. Und sie war von einem Vampir angegriffen worden. Es war ihr unerklärlich, warum Morgan darauf bestand, es zu leugnen, aber die Beweise waren eindeutig, von den Wunden an ihrem Hals bis zu den Worten in ihren Albträumen, mit denen sie das Monster anflehte, nicht zurückzukommen. „Nein, nein!“ Fürsorglich beugte Maxine sich wieder vor und nahm Morgan dieses Mal bei den Schultern. „Ruhig. Es ist in Ordnung. Du bist in Sicherheit.“ Die junge Frau hörte auf, sich zu wehren. Sie wurde ruhig, auch wenn ihr Atem etwas schneller ging als zuvor. „Es ist alles gut“, flüsterte Maxine. Morgan schlug die Augen auf. Es schien einen Augenblick zu dauern, ehe sie sich erinnerte, wen sie vor sich hatte. Der kurze Schreckensmoment

war gefolgt von langsamer Klarheit. „Du bist noch hier?“, stellte sie leise fest. „Du bist unten ohnmächtig geworden. Lou hat dich raufgetragen.“ Ihre Augen fielen schon wieder zu. „Es geht mir gut. Du kannst gehen.“ „Dein Freund David hat etwas anderes gesagt.“ Sie riss ihre Augen wieder weit auf. „D-David? Du hast mit ihm gesprochen? Aber wie?“ „Ich habe versucht, eine Telefonnummer von deinem Arzt oder Familienangehörigen zu finden, und hatte nicht viel Glück, aber dann hat das Telefon geklingelt. Es war ein Mann namens David Sumner, der sehr besorgt um dich schien. Ich habe ihm erklärt, was passiert ist …“ „Dazu gab es keinen Grund“, flüsterte Morgan. „Er ist morgen früh hier. Er hat mich gebeten, zu bleiben, bis er hier ist. Und das habe ich getan.“ „Ich muss nicht bewacht werden.“ „Ich weiß von Dante“, sagte Maxine jetzt knapp. Ihre Blicke trafen sich. „Ich auch. Er ist ein ausgedachter Charakter in einigen Filmen, die ich geschrieben habe.“

„Ich meine den echten Dante. Den, der die Wunden an deinem Hals hinterlassen hat.“ Sofort legte Morgan ihre Hand an den Hals, aber als sie den Rollkragen spürte, runzelte sie die Stirn. „Da sind keine …“ „Spar es dir, Schwester. Ich habe nachgesehen.“ „Du verstehst das nicht“, sagte Morgan mit einem Seufzen, das aus vollster Seele kam. „Warum erklärst du es mir nicht einfach?“ Langsam setzte Morgan sich auf. Ganz automatisch beugte sich Maxine vor, um die Kissen hinter ihr aufzuschütteln, und als ihre Blicke sich begegneten, fühlte sie sich zum ersten Mal mit ihrer neuen Schwester verbunden. „Du musst nicht mehr allein mit allem fertigwerden“, sagte sie zu Morgan, „du hast jetzt eine Familie. Mir bedeutet das etwas, auch wenn du das anders siehst. Du bist meine Schwester. Ich lasse nicht zu, dass irgendwer dir wehtut.“ Morgan lehnte sich in die Kissen zurück, die Maxine für sie gerichtet hatte, und senkte ihren Blick. „Mir bedeutet es auch etwas.“ Sie sagte es sehr zögerlich. „Ich war nur … es war ein Schock.

Ich wollte nicht so … kalt sein.“ „Du hattest einen schwierigen Abend.“ „Aber es war nicht Dante. Er würde mir nicht wehtun.“ „Nein.“ Sie versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr es sie freute, dass Morgan endlich zugegeben – oder so gut wie zugegeben – hatte, dass es Dante wirklich gab. „Nein. Es ist dieser entstellte Mann. Er ist der Feind. Er ist es, der mich angegriffen hat. Er hatte …“ Sie musste eine Pause machen, um gegen ein Schluchzen anzukämpfen. „Er hatte eine Armbrust.“ „Das muss schrecklich gewesen sein.“ „War es. Lieber Gott, ich hatte solche Angst. Und ich weiß immer noch nicht, ob er …“ Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippe. „Du weißt nicht, ob er was? Ob er zurückkommt? Darüber musst du dir keine Sorgen machen, Morgan. Du hast hier einen Cop, einen Privatdetektiv und eine Sozialarbeiterin für ausgerissene Teenager im Haus. Wir drei zusammen schaffen so ziemlich alles, was anfällt.

Er kommt dir nicht noch einmal zu nahe.“ Morgan sah Maxine lange an, fast, als wolle sie ihr widersprechen, aber dann nickte sie einfach. „Du willst wirklich nichts von mir, oder?“ „Nein. Wirklich nicht.“ Maxine legte eine Hand auf Morgans dünne, kalte Hände. Morgan erwiderte den Druck. „Ruh dich jetzt aus. Morgen fühlst du dich schon besser.“ Mit einem Nicken schloss Morgan die Augen und sank in tiefen Schlaf.

Keith 19. KAPITEL Es war spät am Morgen, und Maxine lag eingeschlummert in ihrem Sessel, als das Krächzen der Schlafzimmertür sie aufschreckte. Sie wendete sich zur Tür und erwartete schon fast einen Kampf. Aber es war kein düsterer Vampir, und auch nicht der entstellte Frank Stiles betrat leise das Schlafzimmer. Es war Lou, und neben ihm ging ein großer blonder Mann, der Max anstarrte, als könne er seinen Augen nicht trauen. „Max, das ist David Sumner“, sagte Lou. Es gelang ihm nicht ganz, zu flüstern, aber seine Stimme war dennoch leise. Mit einem Nicken erhob sich Maxine und merkte erst jetzt, dass sie Morgans Hand noch immer hielt. Vorsichtig entzog sie ihre Hand und schenkte ihrer neu gefundenen Schwester einen langen Blick, ehe sie sich zu den Männern umdrehte. „Können wir uns nicht unten unterhalten? Sie schläft so fest, ich möchte sie nicht wecken.“ Lou nickte und wollte das Zimmer schon

verlassen, doch Sumner folgte ihm nicht. Er kam näher, beugte sich über Morgan und sah sie besorgt an. Er berührte sie sehr sanft, legte seine Hand nur leicht an ihr Gesicht. Sie seufzte tief, reagierte sonst aber überhaupt nicht. Der Mann neigte den Kopf zu einem Nicken, drehte sich um und verließ das Schlafzimmer. Maxine folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Im selben Augenblick bombardierte Sumner sie mit Fragen. „Was ist mit ihr passiert? Warum sieht sie so blass aus? Mein Gott, ihre Haut ist so kalt, als hätte man sie über Nacht auf Eis gelegt. Und …“ „Einen Moment, Mr. Sumner“, unterbrach Maxine ihn und hielt ihre Handfläche hoch und nach außen wie ein Stoppzeichen. Mit der anderen Hand rieb sie sich die Stirn. „Ich hatte noch nicht einmal meine morgendliche Koffeindosis, und ich habe nicht gerade viel Schlaf bekommen diese Nacht.“ Sumner nickte ihr entschuldigend zu. „Gott, ich komme einfach nicht über diese Ähnlichkeit hinweg. Officer Malone …“ „Lou, einfach Lou.“

„… hat mir von Ihnen erzählt, sobald ich angekommen war, aber ich kann einfach – ich komme einfach nicht darüber hinweg.“ Maxine verstand seine Reaktion nur zu gut. „Ich habe Morgan selber die ganze Nacht angestarrt, und ich komme auch nicht drüber weg. Ich wusste nicht, dass ich eine Schwester habe, schon gar keinen Zwilling.“ „Ich wusste es auch nicht“, gab Sumner zu. Sie erreichten die Küche, wo der Kaffeeduft Maxine sofort in die Nase stieg. Nirgends war Lydia zu entdecken. Die zwei Männer setzten sich an den Tisch, und als sie sich einen Kaffee eingeschenkt hatte, gesellte sie sich zu ihnen. „Es tut mir leid, aber ich glaube, ich weiß immer noch nicht, wie Sie zu Morgan stehen, ähm, David, nicht wahr?“ „Ja, David. Ich bin … na ja, so etwas wie ein Onkel ehrenhalber. Ich kenne Morgan, seit sie ein Jahr alt war. Wenn sie religiös gewesen wären, hätten sie mich wohl zu Morgans Paten gemacht, aber das ist nie formell eingetragen worden. Als sie gestorben sind … na ja, da war ich alles, was

sie noch hatte.“ „Sie haben auch ihre Vampirfilme produziert“, merkte Lou an, nahm einen abgekühlten, halb leeren Kaffeebecher und trank einen Schluck. „Ja, na ja, ich kann Ihnen sagen, ich habe nie erwartet, dass sie so gut werden. Als ich das erste Skript gesehen habe, das schwöre ich Ihnen, habe ich ihr gesagt, sie soll es den großen Studios anbieten. Damit die großen Tiere sich gegenseitig überbieten, verstehen Sie? Aber das wollte Morgan nicht. Sie wollte, dass ich ihren ersten Film mache. Also habe ich ihr die Hälfte der Gewinne zugeschrieben und mein Bestes getan. Sie hätte mehr verdient. Aber wie sich herausstellte, sammelte der Film sofort eine Anhängerschaft, und diese Bewegung hat zum Erfolg dieses dritten Teils beigetragen.“ Lou nickte langsam. „Und wie ging es ihr, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben?“ „Nicht so wie jetzt.“ David sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Ich kann ihren Arzt nicht vor zehn Uhr erreichen. Dann rufe ich ihn sofort an.“ „Sie ist aber schon krank gewesen?“, hakte Lou

nach. David atmete tief durch. „Hören Sie, Morgans Karriere geht gerade erst los. Ich will nicht, dass etwas davon an die Öffentlichkeit gerät.“ „Wir wollen keine Geschichte für die Regenbogenpresse, David“, beruhigte Maxine den Mann. „Wenn wir das wollten, würde das mit dem verschollenen Zwilling schon ausreichen. Irgendetwas stimmt hier nicht, und ich – wir wollen ihr nur helfen.“ David senkte seinen Kopf. „Ich fürchte, man kann nicht viel für sie tun. Sie, ähm … sie hat eine seltene Krankheit. Ein Antigen in ihrer Blutbahn, das die Wissenschaft verblüfft. Niemand scheint zu wissen, warum, aber Individuen, die dieses Antigen in sich tragen, fangen normalerweise mit Mitte zwanzig an, schwächer zu werden, und leben kaum länger als bis Anfang dreißig.“ „Was … was soll das heißen?“, flüsterte Maxine und sah ihm in die Augen. „Wird sie …“ „Es tut mir leid. Ich weiß, das muss ein Schock für Sie sein.“ David seufzte, senkte den Kopf und kniff sich in die Nasenwurzel. „Sie weiß es, seit

sie ein Teenager war“, fuhr er fort, ohne aufzusehen, „verdammt, genau deshalb war sie so ambitioniert, und deshalb wollte sie das Skript auch sofort produziert wissen, obwohl sie noch so jung war. Sie wusste, ihr bleibt dazu nicht viel Zeit.“ Maxine saß regungslos da und starrte ihn an. Ihre Augen brannten, ihre Gedanken wirbelten durcheinander. „Das … das stimmt nicht, das … das kann nicht wahr sein“, „Max“, fing Lou an. „Das ist es nicht, Lou!“ Sie warf einen Blick zu David Sumner. „Sie sagen also, sie muss sterben?“ „Wir hatten nicht erwartet, dass es sich so schnell verschlechtert, aber …“ „Oh, Gott“, murmelte Lou. Ihre Wut stieg ins Unermessliche. Schließlich schlug sie mit der Faust auf den Tisch. „Das ergibt doch vorn und hinten keinen Sinn. Ich weiß nicht, was noch mit ihr nicht stimmt, aber der Zustand, in dem sie jetzt ist, kommt daher, dass sie gestern Nacht von einem Vampir angegriffen wurde.“ David Sumner schwieg, betrachtete sie, dann Lou,

dann wieder sie. „Das ist nicht sehr lustig.“ „Ich habe die Wunden an ihrem Hals gesehen. Ich habe nachgesehen, während ich oben bei ihr war und sie geschlafen hat, und als sie aufgewacht ist, habe ich sie darauf angesprochen, und sie hat es zugegeben.“ Sie sprach zu schnell, und sie konnte sehen, dass sie Sumner einen verdammten Schrecken einjagte. „Dante ist echt. Sie hat es zugegeben! Auch wenn sie darauf besteht, dass er keine Bedrohung für sie darstellt.“ Sumner erhob sich. Er sah nervös aus. „Jetzt wo ich hier bin, sollten Sie zwei vielleicht wieder gehen. Ich bin wirklich dankbar für Ihre Hilfe, aber …“ „Jetzt hält er uns für geisteskrank, Max. Mensch, kannst du es nicht ein einziges Mal subtil versuchen?“ Sie warf Lou einen erbosten Blick zu. „Du hast die CD doch mitgebracht?“ „Habe ich.“ „Dann zeig sie ihm. Zeig sie ihm verdammt noch mal einfach.“ Als Lou aufstand, sah es aus, als täten ihm alle

Knochen weh. Wahrscheinlich taten sie das tatsächlich, von der Verfolgungsjagd gestern Nacht. Er blickte zu David Sumner. „Geben Sie mir eine halbe Stunde Zeit, Sumner. Wenn Sie dann immer noch glauben, wir seien ein paar dahergelaufene Wahnsinnige, verschwinden wir. Ohne Aufstand. Okay?“ Sumners Blick wanderte von einem zum anderen. „Ich … glaube schon.“ „Gut. Gibt es hier einen Computer?“ „Im Arbeitszimmer, aber das schließt Morgan immer ab. Sie hasst es, wenn jemand es betritt.“ Die Worte brachten Maxines Fühler zum Zittern. „Ich habe einen Laptop im Auto“, fügte der große Mann hinzu. „Dann holen wir den.“ Lou blickte zurück zu Maxine. „Du solltest wohl lieber etwas schlafen. Letzte Nacht hast du kein Auge zugemacht. Das Bett in deinem Zimmer war heute Morgen noch frisch bezogen.“ Die Augenlider fielen ihr fast zu, als sie Lou zunickte. „Vielleicht mache ich das. Wo ist eigentlich Lydia?“

„Ist heute Morgen als Erstes losgegangen. In die Stadt, um Vorräte zu kaufen, hat sie gesagt. Sie kommt wieder.“ Maxine runzelte die Stirn und überlegte sich, selber einen Spaziergang auf dem Grundstück zu unternehmen – vielleicht würde die frische Luft sie aufwecken. Aber ihre Augenlider und ihre Muskeln erhoben Einwände gegen diesen Plan; also stürzte sie ihren Kaffee hinunter, als wäre er ihr Lebenselixier, und füllte ihren Becher noch einmal auf. Sie hatte nicht vor, zu schlafen. Morgan war schwach und fühlte sich wie gerädert, als sie aufwachte. Und in ihr war ein leeres hohles Gefühl, das von etwas tief in ihrer Mitte ausstrahlte und widerhallte. Ein Sehnen … nach Dante. Es war mehr als einfaches Begehren. Es war mehr als menschliche Liebe. Es war ein Schmerz, ein verzweifeltes, endloses Brauchen. Das seelentiefe Verzehren einer Frau am Rande des Hungertods. Sie biss die Zähne zusammen, stand auf, bemerkte, dass immer noch Tageslicht durch die dünnen Vorhänge vor den Terrassentüren fiel, und

verfluchte es stumm. Selbst wenn Dante überlebt hatte – Lieber Gott, bitte! –, würde er nicht zu ihr kommen können. Nicht jetzt. Nicht bei Tageslicht. Sie schleppte sich müde ins Badezimmer, wollte eine schnelle Dusche und wusste doch, dass ihr die Energie dazu fehlte. Auf keinen Fall würde sie es schaffen, in die Dusche zu steigen, sich abzuschrubben, abzuwaschen und fertig zu machen. Nein, aber es gelang ihr, die Hähne aufzudrehen und ihre Kleider auszuziehen. Sie stellte sich mit den Händen an die Duschwand gestützt hin und ließ ihren Kopf hängen. Sie konnte den Tag so nicht überstehen. Sie brauchte … Sie wusste, was sie brauchte. Sie brauchte Dante. Sie brauchte ihn in sich, sein Feuer, das Leben in ihre Adern brannte. Er hatte ihr zu viel genommen. Nicht um ihr wehzutun, das wusste sie. Er hatte nur tun wollen, um was sie ihn gebeten hatte. Sie zu dem machen, was er war. Sie aussaugen und mit seinem eigenen Leben füllen. Stiles Unterbrechung kam sie teuer zu stehen. Etwas, ein geschärfter Sinn womöglich, ließ sie den Kopf heben und lauschen. War noch jemand im

Haus? Diese Fremden von letzter Nacht? Waren die noch da? Sie musste zugeben, dass sie für die Frau, die anscheinend tatsächlich ihre Schwester war, eine gewisse Wärme empfand. Aber jeder, der Dante Leid zufügen wollte, war ihr Feind. Sie würde ihn beschützen, egal mit welchen Mitteln. Egal, mit wem sie kämpfen musste. Sie griff nach einem Handtuch und verließ die Dusche, sauberer, aber nicht kräftiger, und nur ein wenig wacher. Vor ihrem Spiegel blieb sie stehen, ließ das Handtuch zu Boden fallen und betrachtete sich. Wie konnte Dante sie in diesem Zustand wollen? Sie war dünn. Schwach. Blass. Sie hob ihr Kinn und betrachtete die Stelle an ihrem Hals, wo er sie gebissen hatte. Ihr Körper kribbelte bei der Erinnerung an das Gefühl, das sein Biss in ihr ausgelöst hatte. Die vollkommene Hingabe. Sie war ganz sein gewesen – und es hatte ihr gefallen. Dann kniff sie die Augen zusammen und legte ihre Finger behutsam an die Haut ihres Halses. Da waren keine Wunden. Keine Einstiche, obwohl sie

wusste, letzte Nacht waren sie noch da gewesen. Sie trat näher an den Spiegel und sah mit gerunzelter Stirn noch einmal hin. Ganz schwache Stellen, kaum rosa gegen das Weiß ihrer Haut, deuteten noch an, wo seine Zähne sich in ihr Fleisch gegraben hatten. Die Löcher und die Blutergüsse darum herum waren verschwunden. Die Male, die blieben – selbst sie schienen vor ihren Augen zu verschwinden. „Es war wirklich“, flüsterte sie, „ich weiß, das war es.“ Sie zog sich einen Morgenmantel an, einen anderen, aus scharlachroter Seide, und hoffte, die Farbe würde ihr Kraft geben. Sie bürstete sich die Haare, auch wenn es sie furchtbar ermüdete, und schleppte sich schließlich die Treppen hinunter, um sich den Eindringlingen zu stellen. Sie musste diese Leute davon überzeugen, dass es ihr gut ging, und sie loswerden. Sonst konnte Dante nie wieder zu ihr kommen. Am Fuß der breiten, geschwungenen Treppe blieb Morgan stehen und starrte über den Flur die offenen Türen ihres Zufluchtortes an. Ihr

Arbeitszimmer. Niemand durfte es betreten. Sie dachte an die Dielen unter dem Teppich und den verborgenen Raum darunter, in dem Dante vielleicht gestern Nacht Zuflucht gefunden hatte. Ihr Herz flatterte, und Wut stieg schneller als zuvor in ihr hoch. Trotz ihrer Schwäche raste sie durch den Flur und in ihr Arbeitszimmer. Maxine stand dort, sah wunderschön aus, lebendig und gesund. Sie starrte die Zeichnungen von Dante an, von denen die Wände bedeckt waren, fasste nichts an, durchsuchte nichts, starrte einfach. „Diese Türen sind aus einem bestimmten Grund abgeschlossen“, flüsterte Morgan, um Beherrschung bemüht. Erschrocken zuckte Maxine zusammen und sah Morgan mit großen Augen an. „Du hast recht, es tut mir leid, ich konnte einfach … ich konnte nicht anders.“ Sie trat vor und legte eine Hand auf Morgans Arm. „Du solltest nicht aufstehen. Du bist noch so schwach.“ „Es geht mir gut.“ Sie zog ihren Arm zurück und zwang sich, wütend zu bleiben. Sie wollte diese Frau nicht lieb gewinnen. „Das ist mein privates

Arbeitszimmer“, sagte sie. „Ich lasse niemanden hinein.“ „Das hat man mir schon gesagt. Deshalb … musste ich es betreten.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß ja, dass ich damit deine Privatsphäre verletzt habe. Aber ich dachte, vielleicht finde ich hier drinnen etwas, was mir dabei hilft, dir das Leben zu retten.“ Die Ehrlichkeit in den Augen ihrer Schwester ließen Morgan den Blick senken, so berührt wurde sie davon, obwohl sie es nicht wollte. „Nichts kann das. Es gibt nichts.“ „Du musst noch mehr Zeit haben“, flehte Maxine. „Du musst, Morgan. Ich habe dich gerade erst gefunden.“ Morgan wendete ihr den Rücken zu und verleugnete den Schmerz, der sie bei ihren Worten durchfuhr. „Ich habe viel Zeit damit verbracht, so etwas ebenfalls zu wollen. Das führt nur zu Enttäuschung, Maxine. Ich will das nicht noch einmal durchmachen. Ich habe die Tatsachen akzeptiert.“ Und das hatte sie auch, glaubte sie jedenfalls. Allerdings betrachtete ihre Schwester

die Situation aus einer anderen Perspektive. Morgan wusste, ein normales Leben war nicht länger möglich. Sie hatte geglaubt, den Tod zu akzeptieren wäre ihre einzige Wahl, aber jetzt blieb ihr noch eine andere. Ein neues Leben in endloser Nacht. Es könnte geschehen. Wenn sie nur lange genug überlebte, damit es wahr wurde. Maxine schwieg lange. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme belegt. „Diese Zeichnungen – sie sind atemberaubend.“ Bei diesem Thema fiel es Morgan leichter, Maxine anzuschauen, und sie drehte sich wieder zu ihr hin. „Danke. Ich zeichne nur, wie mein Charakter in meiner Fantasie aussieht.“ Maxines Blick war durchdringend. „Komm schon, Morgan, damit sind wir doch durch. Du hast gestern Nacht zugegeben, er ist echt. Erinnerst du dich nicht, wie ich die Wunden gesehen habe?“ Morgan legte einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf, hob ihr Kinn, ließ ihre Haare zurückfallen und öffnete den Kragen ihres Morgenmantels. „Welche Wunden?“ Maxine runzelte die Stirn und trat näher, um ihren

Hals zu betrachten. „Aber … aber sie waren da. Du hast sie abgedeckt.“ Sie streckte ihre Hand aus und berührte mit ihrem Zeigefinger die Stelle, wo die Wunden gewesen waren, aber als sie nachsah, wusste Morgan, sie würde keine Spuren von Make-up finden. „Ich verstehe das nicht.“ „Musst du auch nicht.“ „Morgan, wenn dieser Vampir sich … von dir ernährt, dann hast du noch weniger Zeit als sowieso schon, begreifst du das nicht? David hat gesagt, als er dich das letzte Mal gesehen hat, warst du …“ „David?“ Morgan zuckte zusammen. „David?“ „Weißt du nicht mehr? Ich habe dir letzte Nacht erzählt, er kommt.“ Das alles wurde immer komplizierter. Morgan musste versuchen, sich in dem konfusen Gewirr ihrer Gedanken zurechtzufinden. „Er ist hier“, sagte Maxine, „in dem kleinen Zimmer neben dem Wohnzimmer, mit Lou.“ Morgan starrte auf den Flur, drehte sich dann um, um Maxine an der Hand zu nehmen, und zerrte sie mit sich. „Wie bist du ins Arbeitszimmer

gekommen?“, fragte sie. Verlegen zog Maxine einen Schlüssel aus ihrer Jeanstasche. „Der lag auf deinem Nachttisch. Ich habe es einfach mal versucht.“ Nachdem sie das Arbeitszimmer verlassen hatten, nahm Morgan den Schlüssel und verriegelte die Tür zu ihrem Arbeitszimmer. Den Schlüssel fest in der Hand, bewegte sie sich langsam über den Parkettboden zur Tür des kleinen Zimmers und fragte sich, was zwischen Lou, dem Cop, und ihrem lieben David vor sich ging. Als sie eintrat, standen beide Männer über Davids vertrauten Laptop gebeugt, und beide sahen gleichzeitig auf. „David.“ Morgan zwang sich zu einem warmen Lächeln. „Oh, Baby.“ Er sprang auf und schloss sie in eine feste Umarmung. „Kleines, wie geht es dir? Du hast so schlecht ausgesehen, als ich angekommen bin, da …“ „David. Ich muss mit dir sprechen, allein.“ Sie wendete sich an Maxine. „Bitte.“ „Klar. Wir sind nicht die Gestapo, Morgan. Wir wollen nur dein Bestes.“

Lou stand auf, und die beiden verließen das Zimmer. Morgan schloss die Tür und drehte sich zu David um, einem Mann, von dem sie wusste, dass er alles für sie tun würde. Alles. Sie sah ihm in die Augen. „Ich will, dass die verschwinden.“ Sprachlos nahm Maxine die Bitte des zerknirscht wirkenden und etwas schuldbewusst dreinblickenden David Sumner auf, zu gehen. Morgan war in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und dann war David in dem großen Wohnzimmer aufgetaucht und hatte ihnen gesagt, dass sie verschwinden müssten. Lou nickte nur schwach. „Ich verstehe.“ „Ich nicht!“ Maxine starrte den Mann wütend an. „Und Sie sollten es auch nicht, David. Nicht, wenn sie Ihnen etwas bedeutet. Mein Gott, ich bin ihre Schwester. Die Schwester, von der sie nicht einmal etwas wusste. Ihre Zwillingsschwester, du meine Güte!“ „Ich weiß. Es tut mir leid, Maxine, aber es ist – das ist, was sie will.“ „Glauben Sie wirklich, dass sie selbst da drinnen mit Ihnen gesprochen hat? Sie war es nicht“, sagte

Maxine mit Bestimmtheit, „er war es. Der Vampir. Er hat sie unter einer Art …“ „Max, komm schon“, unterbrach Lou sie sanft. „Ich bin auf deiner Seite, und selbst für mich klingt das überdreht.“ „Glaubst du?“ David berührte ihre Schulter, deshalb richtete sie ihren wütenden Blick von Lou auf ihn. „Ich muss zugeben“, sagte David, „die Beweise, die Sie beide haben, sind … na ja, sie sind überzeugend. Ich sage nicht, dass ich es glaube, aber ich verstehe, warum Sie es tun. Nur ist Morgan vollkommen aufgewühlt und nicht sie selbst.“ „Ich frage mich echt, warum“, murmelte Maxine. „Ich glaube ja nur, wegen ihres jetzigen Zustands wäre es besser, zu tun, was sie will. Wenigstens, bis wir herausgefunden haben, was hier vor sich geht.“ Der finstere Blick ging in einen fragenden über, wobei Maxine langsam ihre Augenbrauen hob. „Klingt so, als wollten Sie gar nicht, dass wir gehen.“ „Ehrlich gesagt, nein.“ Er fuhr sich mit der Hand

durch sein Haar und ging ein paar Schritte, ehe er sich wieder zu ihnen umdrehte. „Ich erkenne Heuchler, wenn ich welche vor mir sehe, und Sie zwei meinen es ernst. Das weiß ich. Es ist nur, sie ist so verdammt krank, und sie steht gerade so neben sich. Ich weiß nicht, ob ich alleine mit dem fertig werde, was mit ihr geschieht.“ „Und trotzdem werfen Sie uns raus.“ „Aus dem Haus, ja. Aber ich hätte gerne, dass Sie ein paar Tage in der Stadt bleiben. Ist das möglich?“ Er hob eine Hand, ehe Max antworten konnte. „Ich bezahle für Ihre Zeit, was immer Sie verlangen. Und ich bringe Sie in der Stadt unter. Es gibt einige sehr nette Hotels.“ Max spürte einen Anflug von Erleichterung. „Das Zimmer nehme ich gerne an. Aber nicht das …“ „Sie nimmt alles“, mischte Lou sich ein. „Sie ist meine Schwester“, sagte Maxine aufgebracht. „Sie ist reich. Du kommst gerade so klar, ich gehe bald in Rente, und Lydia muss ihre letzten Ersparnisse zusammenkratzen.“ Er runzelte die Stirn. „Wo zum Henker ist Lydia eigentlich?“

„Sie ist noch nicht wieder zurück. Wir müssen sie wohl suchen, ehe wir hier verschwinden.“ Irgendwie entwickelte sich da ein besorgtes Gefühl in ihrer Magengegend. Dann wendete sie sich wieder an David. „Sie müssen Morgan genau beobachten. Besonders nachts. Wir könnten vorbeikommen, wissen Sie. Wache halten, aus der Ferne.“ David atmete tief durch und warf einen nervösen Blick in Richtung der Treppe. „Es scheint so falsch, sie auszuspionieren. Und doch … ich mache mir Sorgen.“ Er seufzte. „Ich will sie nicht hintergehen. Ich werde sie beobachten. Vielleicht kann der Arzt ihr sogar etwas verschreiben, wenn er heute Nachmittag kommt. Ein Beruhigungsmittel, etwas, das ihr hilft, die Nacht durchzuschlafen.“ Maxine wollte widersprechen, doch Lou hielt sie davon ab. „Wir gehen. Rufen Sie uns nur auf jeden Fall an, wenn Sie uns brauchen. Und ewig können wir auch nicht hierbleiben.“ Kopfschüttelnd wandte sich Maxine an die beiden Männer. „Mir gefällt das nicht.“ „Mir auch nicht, um ehrlich zu sein“, sagte David.

„Warum gehen Sie nicht nach oben und verabschieden sich, Max?“ „Wenn sie sich verabschieden wollte, hätte sie es hier unten getan.“ Sie sah von einem Mann zum anderen und seufzte dann entnervt. „Ich versuche es.“ Während David begann, Lou von dem Hotel zu erzählen, in dem er manchmal übernachtete, wenn er in der Stadt war, zum Beispiel, wenn er Morgan nicht beim Arbeiten stören wollte, ging Maxine die geschwungene Treppe hinauf. Ihre Schwester hatte wirklich alles, überlegte sie. Sie war atemberaubend schön. Komisch, wie das gleiche Gesicht an zwei Menschen so unterschiedlich aussehen konnte. Maxine wirkte eigentlich ganz gewöhnlich. Ganz hübsch, mehr nicht. Morgan hatte den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht. Maxine dagegen war sich noch nicht sicher, welche Karriere sie einschlagen wollte, auch wenn sie als Privatdetektiv ihre Berufung gefunden hatte. Natürlich hatte sie das Gleiche auch von Webdesign und ihrer Internetdetektei gedacht. Beides hatte sie allerdings schon wieder abgehakt.

Morgan war unglaublich reich und besaß ein Traumhaus, und sie konnte es sich offensichtlich leisten, es so einzurichten, wie es ihr gefiel. Maxine lebte im Haus ihrer Mutter und zahlte für dieses Privileg keinen Pfennig. Morgan hatte einen Mercedes in der Auffahrt stehen, auch wenn er aussah, als ob er kaum je unter seiner handgefertigten Autoabdeckung hervorblickte. Maxine fuhr einen VW-Käfer. Einen originalen VW-Käfer. Waldgrün. Schluckte Benzin wie ein ganz Großer. Falls er überhaupt ansprang. Und doch war Morgan krank. Und deshalb schien der Rest ihrer Reichtümer vollkommen unbedeutend. Maxine klopfte nur ein einziges Mal an der Schlafzimmertür. „Morgan, ich bin es. Ich komme rein.“ Sie ließ ihr einen Herzschlag lang Zeit, dann öffnete sie die Tür. Morgan saß in einem Sessel vor ihren Terrassentüren und starrte hinaus. Sie durchquerte das Zimmer und stellte sich neben Morgan. „Es ist ein wunderschöner Ausblick von hier.“ Und das war es tatsächlich, ein breiter Streifen saftig grünes Gras, dann das tiefe

mitternachtsblaue Samtband des Meeres, hier und da befleckt mit weißen Schaumkronen, und schließlich der strahlend blaue Himmel mit vereinzelten Wölkchen, die vorbeischwebten. Morgan sagte kein Wort. „Ich verschwinde von hier, Morgan. David hat gesagt, du willst uns loswerden, also gehen wir. Ich bin nur raufgekommen, um mich zu verabschieden.“ Nichts. Sie sah nicht einmal zu ihr auf. „Wahrscheinlich interessiert dich das einen feuchten Dreck, oder?“, seufzte Maxine, drehte sich auf dem Absatz um und ging auf die Tür zu. „Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt versuche.“ „Es tut mir leid, Maxine.“ Sie blieb auf halbem Weg zur Tür stehen. „Tut es das?“ Als Morgan nichts mehr sagte, drehte Maxine sich langsam um. „Warum wirfst du uns raus, Morgan?“ Nur flüchtig trafen sich ihre Blicke, Morgans Augen tanzten davon, wanderten unruhig hin und her. Sie konnte ihren Blick nicht ruhig halten. „Wer

hat dich aufgezogen?“, fragte sie endlich. Maxine blinzelte. „John und Ellen Stuart. Die besten Mittelstands-Vorstädter der Welt.“ Morgan nickte sehr langsam. „Und wie war es, bei ihnen aufzuwachsen?“ „Es war toll. Ich meine, es war eine Familie. Sie haben mich geliebt. Die einzige schlechte Zeit, an die ich mich erinnere, war, als mein Dad gestorben ist. Das war in dem Jahr, in dem ich am College angefangen habe. Sein Herz.“ „Und waren sie … interessiert? An deinem Leben?“ „Mom hat bei jedem Schulkomitee mitgemacht, bei Ausflügen die Aufsicht geführt, manchmal auch bei Tänzen. Dad hat kein Spiel und keine Aufführung verpasst.“ Sie lächelte fast. „Ja, sie waren interessiert. Ich wusste immer, dass ich adoptiert bin. Das war nie ein Thema. Aber wir haben einander geliebt.“ „Ich habe meine Eltern auch geliebt“, erklärte Morgan und wählte ihre Worte mit Bedacht, als kostete es sie Mühe. „Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, warum sie mich adoptiert haben. Sie

hatten nie Zeit für mich. Ich war fast wie ein Accessoire, das sie gekauft haben, um ihr Image zu polieren. Ich hatte Kindermädchen und Privatlehrer und Ausbilder und Fahrer. Und ich hatte David. Aber meine Eltern hat das alles nicht interessiert. Sie haben ohne mich Urlaub gemacht. Versucht, es gutzumachen, indem sie mich mit Geld überschütteten, mit teuren Geschenken, Autos, Kleidung. Ich hatte meine eigene Kreditkarte, ehe ich vierzehn Jahre alt war.“ „Tut mir leid, dass du es so schwer hattest“, sagte Maxine ehrlich. „Meinst du das sarkastisch?“ „Vielleicht irritiert dich das, aber ich meine es ernst. Du tust mir leid.“ „Ich will dein Mitleid nicht. Ich versuche nur zu erklären, warum das Wort ‚Familie‘ für mich nicht die gleiche Bedeutung hat wie für dich.“ „Vielleicht hat es das nicht. Aber ich möchte doch annehmen, jemand, der nie eine echte Familie gehabt hat, braucht umso mehr eine. Wahrscheinlich irre ich mich.“ „Das Timing ist schlecht“, sagte Morgan. „Ich

muss sterben. Es hat einfach keinen Sinn, wenn wir … jetzt noch irgendwas anfangen.“ „Jetzt ist die einzige Zeit, die uns bleibt.“ Morgan schloss die Augen und senkte ihren Kopf. „Vielleicht … Ich muss noch mit einigen Dingen fertigwerden. Und das muss ich alleine tun.“ „Na, dann mach es lieber schnell, Morgan, denn wenn du meinst, ich halte mich fern, liegst du falsch. Ich werde gehen. Fürs Erste. Aber ich gehe nicht weit weg, und ich werde zurückkommen. Und ich werde immer wieder zurückkommen, egal, wie oft du versuchst, mich rauszuwerfen. Verstanden?“ Zwischen Morgans Augenbrauen bildete sich eine Falte, als sie jetzt den Kopf hob. „Nein.“ „Nein? Dir ist noch nie jemand so zur Seite gestanden, oder?“ „Nur David. Und er macht es nur, weil ich ihm leidtue. Ich habe sonst niemanden.“ „Vielleicht steht er dir bei, weil er sich tatsächlich kümmert.“ Maxine wollte es ihr erklären. „So wie ich auch.“ Sie sah ihre Schwester einen Augenblick lang an. Dann drehte sie sich mit einem Seufzen um und verließ das

Zimmer. Lydia beobachtete, wie ihre zwei Begleiter davonfuhren. Morgan saß immer noch aufgewühlt vor ihrem Schlafzimmerfenster und starrte gedankenverloren hinaus aufs Meer. David Sumner trat aus dem Haus auf die hintere Terrasse hinaus, setzte sich auf einen Gartenstuhl und steckte sich eine Zigarette an. Lydia drückte ihre Schultern durch, verließ ihren Aussichtspunkt am Ufer und ging schnurstracks den langen Weg über den hinteren Rasen auf Sumner zu. Er sah auf, sah sie kommen, und winkte, während er aufstand. „Sie müssen Lydia sein“, rief er. Sie nickte und ging weiter auf ihn zu. „Ich bin David.“ „Ich weiß.“ „Maxine und Lou sind in ein Hotel in der Stadt umgezogen“, erklärte er, etwas weniger laut, weil sie jetzt näher war. „Ich habe versprochen, ich bringe Sie ebenfalls dorthin, wenn Sie zurückkommen.“

Sie nickte und näherte sich ihm. „Die beiden dachten, Sie sind in die Stadt gegangen. Ich glaube, sie hatten gehofft, dort auf Sie zu treffen und …“ Er verstummte, als sie noch näher kam, bis sie endlich stehen blieb, mit nur noch ein paar Fuß Abstand zwischen ihnen. Ungläubig kniff er die Augen zusammen. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine Falte. „Hallo, David. Es ist lange her.“ „Mein Gott. Oh mein Gott.“

Keith 20. KAPITEL Morgan lag in einer Art papierenem Nachthemd auf dem Tisch. Auf ihren Armen und Beinen breitete sich eine Gänsehaut aus. Warum zum Henker mussten Arztpraxen immer so kalt sein? Von einem Beutel an einer Stange lief eine Röhre bis zu ihrem Arm. Im Beutel befand sich eine klare Flüssigkeit. Der Arzt hatte ihr außerdem noch eine Art Supervitaminspritze in den Schlauch verpasst. Nicht, dass irgendetwas davon helfen würde. Sie wusste, was sie brauchte, und das befand sich nicht in diesem Tropf. Dr. Hilman kam wieder ins Zimmer und sah ernst aus. David saß nur wenige Schritte von ihr entfernt auf einem Stuhl. Er hatte während der Untersuchung das Zimmer verlassen, war aber sofort danach wieder hereingekommen, und Morgan brachte es nicht über sich, ihn hinauszuwerfen. Sie liebte David, und sie wusste, dass er sie auch liebte. Allerdings spürte sie deutlich, dass er etwas vorhatte. Sie wusste, es

war falsch. Noch nie hatte sie einen Grund gehabt, David nicht zu vertrauen. Er war sogar die einzige Person in ihrem Leben, der sie vertraute. Bis auf Dante. Und doch hatte sie David heute allein mit dieser Lydia gesehen. Sie waren zusammen gewesen, hatten sich unterhalten, und die Atmosphäre zwischen ihnen, um sie herum, schien mit einer Art intensiver Energie aufgeladen. Morgan wusste nicht, warum. Nach Maxines emotionaler Verabschiedung hatte sie ein Auto wegfahren hören. Sie hatte erwartet, David unten allein anzutreffen. Stattdessen entdeckte sie die beiden in ein Gespräch vertieft, und als die beiden Morgan bemerkten, verstummten sie. Es beschäftigte Morgan immer noch. Worüber konnte er mit der Fremden geredet haben? David stand auf, als der Arzt wiederkam. „Und?“ Dr. Hilman war über fünfzig, sah aber aus wie neununddreißig. Volles, etwas langweiliges braunes Haar mit einigen grauen Strähnen, aber keinen Anzeichen von einer Glatze. Er war in ausgezeichneter Form. Wahrscheinlich fühlten sich

die meisten seiner Patienten ein wenig unsportlich in seiner Gegenwart. Er atmete tief ein, seufzte, und sein Lächeln entblößte seine gleichmäßigen Zähne. „Ehrlich gesagt, Morgan, ich würde Sie gerne stationär aufnehmen.“ Es dauerte einen Augenblick, bis ihr Gehirn ihr übersetzt hatte. Dann blinzelte sie. „Ins Krankenhaus?“ „Nur damit wir Sie beobachten können. Ihre Werte sind niedrig, Sie sind blutarm und Sie sehen einfach nicht gut aus.“ „Können Sie mir nicht eine Bluttransfusion geben und mich nach Hause schicken?“ Er wechselte einen Blick mit David. „Wenn wir einen Spender finden könnten. Sie wissen, Sie haben eine seltene Blutgruppe.“ „Ja, weiß ich.“ Sie hob ihren Kopf. „Ich habe eine Schwester, wissen Sie. Einen Zwilling. Aber sie hat das Belladonna-Antigen nicht. Wie kann das sein?“ Ungläubig blickte er sie an. „Eineiig oder Zweieiig?“

„Ich weiß nicht. Wir sehen eigentlich genau gleich aus.“ „Viele zweieiige Zwillinge tun das. Ist es sicher, dass sie das Antigen nicht hat?“ „Sie ist gesund. Fast sogar robust.“ Er blickte zu Boden und drehte seinen Kopf langsam hin und her. „Wir verstehen Belladonna noch nicht, Morgan. Es verhält sich ganz anders als alle anderen Antigene.“ Ja, das hatte sie bereits kapiert. „Hören Sie, Doktor, in einem Krankenhausbett werden Sie nicht mehr für mich tun können, als mich noch kränker zu machen, als ich es ohnehin schon bin. Ich will nach Hause. Ich will in meinem Haus sein. Ich muss dort sein.“ Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, beugte sich über sie, entfernte ihr den Tropf und klebte ein Pflaster auf die Stelle. „Warum?“ „Ich bin gerne dort. Wenn ich sterben muss, will ich dort sein, und wenn nicht, will ich die Zeit, die mir noch bleibt, dort verbringen.“ „Also wirklich, Morgan“, versuchte David sie zu überreden. „Wenn es doch nur für eine Nacht …“

„Es ist mein Leben. Ich will nach Hause.“ Sie stand auf. „Du kannst mich nicht zwingen, in einem Krankenhaus zu bleiben. Ich bin erwachsen. Ich gehe.“ Sie streckte ihre Hand nach ihren Kleidern aus, die auf einer Anrichte lagen, und nahm sie sich. „Ihr zwei könnt verschwinden oder mir beim Anziehen zusehen.“ „Schon gut, schon gut.“ Der Arzt drehte sich zur Tür, als Morgan bereits ihre Jeans überstreifte. Er trat hinaus, David dicht hinter ihm. Es gelang ihr, abzuwarten, bis die Tür zugefallen war, dann musste sie sich an der Anrichte festhalten. Schwindel, Schwäche. Verdammt, sie war zu schnell aufgestanden. Bis sie das dumpfe Brummen der Männerstimmen auf dem Flur wieder hören konnte, verging einige Zeit. Sie knöpfte ihre Jeans zu und beugte sich vor, um zu lauschen. „… etwas, damit sie schlafen kann?“, fragte David gerade. „Ich gebe Ihnen was mit nach Hause.“ „Ich gebe es ihr vor dem Schlafengehen.“ Den Teufel würde er tun. Sie konnte nicht

schlafen. Nicht heute Nacht. Auf diese Nacht hatte sie schließlich lange Zeit gewartet. Sie musste Dante sehen. Sie musste. Sie musste ihm zeigen, ihm beweisen, dass nichts, was geschehen war, mit ihr zu tun hatte, dass sie ihn nicht hintergangen hatte. Sie schlich sich näher zur Tür und lehnte sich dagegen, um besser zu lauschen. „Sagen Sie mir die Wahrheit. Doktor. Wie viel Zeit bleibt ihr noch?“ „Sie wissen, dazu kann ich keine genaue Aussage treffen.“ „Aber Sie haben eine Vorstellung. Ich kann es in ihren Augen sehen. Was ist es, Doktor? Kommen Sie schon. Monate?“ Eine Pause. „Wochen?“ Der Arzt schwieg weiterhin. „Mein Gott, Tage?“, sagte David leise. „Vielleicht. Es tut mir leid, David. Ich weiß, wie viel sie Ihnen bedeutet.“ „Wir müssen doch irgendetwas tun können.“ „Wir könnten einen geeigneten Blutspender finden“, sagte der Arzt, „das würde ihr etwas mehr Zeit verschaffen.“ „Dann müssen wir das tun.“

„Ihnen ist klar … damit kaufen wir nur Zeit. Letztendlich …“ „Das ist mir klar. Ich akzeptiere es nur nicht. Ich kann nicht.“ Der Schmerz in Davids Stimme versetzte Morgan einen Stich ins Herz. Der Arzt seufzte. „Ich werde tun, was ich kann, um ihr so viel Zeit zu verschaffen wie möglich, David. Ich verspreche es.“ Maxine versuchte, mit der gleichen Stimme zu sprechen wie immer, als sie ihre neusten Abenteuer in den Hörer des Telefons berichtete. „Es war echt so merkwürdig, Stormy. Als wollte sie mich dahaben, aber gleichzeitig konnte sie es auch nicht abwarten, mich loszuwerden. Ich kann dir sagen, du bist viel mehr eine Schwester als die.“ Sie hielt kurz inne. „Egal. Lou und ich sind in das Hotel gezogen, das Sumner empfohlen hat. Es stellte sich heraus, dass er schon vorher angerufen hatte. Sieht aus, als wäre er auch ziemlich reich, du solltest das Teil mal sehen. Wir haben eine Suite mit zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer und einer Küchenzeile. Und der Ausblick – Mann, du

hast echt noch nie so einen Ausblick gesehen, Stormy. Riesengroße Fenster, die auf das Meer hinausführen. Wellen und Schaum und die felsige Küste. Boote und Möwen. Warte, du kannst sie hören.“ Sie sperrte ein Fenster ihrer Suite auf und hielt den Telefonhörer hinaus und den kreischenden Seemöwen entgegen. Seeluft brauste hinein, dieser Duft nach Salzwasser und Fisch und Tang, und eine Herbstbrise. „Hast du sie gehört?“, erkundigte sie sich, auch wenn sie wusste, dass keine Antwort kommen konnte. „Du und ich müssen unbedingt noch mal zusammen her, wenn es dir besser geht. Wir können auch hier übernachten, meinst du nicht? Natürlich ist das hier nichts verglichen mit dem Haus meiner Schwester, aber es ist nett. Hey, und wenn wir herkommen, kannst du Morgan kennenlernen. Du wirst kaum glauben, wie sehr wir uns ähnlich sehen. Sie ist bloß dünner und viel hübscher. Reicher auch, aber sie ist einsam. Sie ist nicht glücklich. Ich weiß nicht, ob sie das je gewesen ist.“ Und sie ist krank, fügte Maxine im Stillen hinzu.

Krank, vielleicht muss sie sterben. Genau wie Stormy. Einen Moment lang spürte sie, wie sich ein Gewicht auf ihre Schultern legte, ein erdrückendes, schweres, belastendes Gewicht. Es fiel ihr nicht leicht, zu atmen. „Wie dem auch sei“, sagte sie mit belegter Stimme, und das Sprechen bereitete ihr mehr Mühe, „Lydia ist endlich hier aufgetaucht, eine Stunde nach uns. Ist wahrscheinlich spazieren gegangen und hat darüber die Zeit vergessen. Sie hat gesagt, David Sumner hat sie gefahren. Er wollte sowieso raus, weil er Morgan zu, ähm, irgendeinem Termin gebracht hat.“ Sie gab sich sehr viel Mühe, nichts Negatives oder Beängstigendes zu sagen. Nicht nur wegen Stormy, sondern weil sie wusste, dass Stormys Mutter wahrscheinlich einen Großteil des Gesprächs mithören konnte, weil sie den Telefonhörer ans Ohr ihrer Tochter hielt. Sie wollte die Frau nicht beunruhigen. Und sie konnte bestimmt nicht erzählen, warum sie wirklich hier in Maine war. „Ich hab dich lieb, Stormy. Ich will, dass du

aufwachst. Weißt du? Damit du antworten kannst, mir Ratschläge geben und mich wegen Lou aufziehen. Es ist nicht fair, dass ich ganz allein reden muss. Wenn ich nach Hause komme, hast du gefälligst wieder wach zu sein. Okay? Wach einfach auf. Wach auf, Stormy …“ Sie musste aufhören. Tränen liefen über ihr Gesicht, und ihre Kehle zog sich zu fest zusammen. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, und atmete ein paarmal tief durch. „Ruhig, Max. Ruhig.“ Große, schwielige Hände auf ihren Schultern, schwer, aber sanft. Sie blickte über ihre Schulter zu Lou. Sie hatte nicht einmal gehört, wie er das Zimmer betreten hatte. So viel zu den verdammten kreischenden Möwen. Er verpasste ihr eine kurze Boxermassage. Das tat er oft. Es war der engste Körperkontakt, zu dem sie ihn je gebracht hatte, und das nutzte sie aus, weil es half. Sie lehnte sich ein Stück zurück. Seine Brust hinter ihr war fest und warm. Sie konnte fast spüren, wie sie ein wenig dieser Festigkeit und Wärme in ihren eigenen Körper sog, um die Schwäche und die

Kälte in sich zu bekämpfen. Wie konnte sie ertragen, gleichzeitig eine Schwester und ihre beste Freundin zu verlieren? „Maxine?“ Sie zuckte zusammen, überrascht, in der Leitung eine Stimme zu hören. Nur einen kurzen Augenblick dachte sie – aber nein, es war Stormys Mutter. „Hi, Jane. Wie geht es ihr? Irgendeine Veränderung?“ Langes Schweigen. Dann: „Es geht ihr nicht schlechter.“ Aber auch nicht besser, ergänzte Maxine. „Glauben Sie, sie kann mich hören?“ „Ich weiß es, Maxine.“ „Wirklich? Gab es irgendwelche Anzeichen, während ich mit ihr gesprochen habe?“ „Ich brauche keine Zeichen. Ich bin ihre Mutter. Ich weiß es. Du bedeutest ihr alles, und ich weiß, sie kann alles hören, was du sagst.“ Maxine nickte, schniefte, und rieb sich mit dem Handrücken über die Wange. „Ich bleibe nicht viel länger hier. Nur noch einen Tag, höchstens zwei.“ „Du tust, was du tun musst. Ich … ich habe gehört,

was du Tempest erzählt hast, über – über deine Schwester. Das ist Gottes Hand, junge Dame, die dich dorthin geführt hat. Keinen Zweifel. Und nimm das nicht als gegeben hin.“ „Tue ich nicht.“ Jane seufzte. „Wir spielen ihr die Kassetten vor, die du für sie aufgenommen hast, deine Stimme, die ihr vorliest. Und die Musik, die du geschickt hast, die spielen wir auch.“ „Es ist Dienstag, wissen Sie.“ Maxine fiel gerade noch etwas ein. „Ihre Lieblingsserie läuft heute.“ „Ich weiß. Es gibt einen Fernseher im Zimmer. Ich werde es nicht vergessen. Auf Wiedersehen, Liebes. Ruf an, wenn du kannst.“ „Mach ich.“ Gedankenverloren legte Maxine den Hörer langsam auf die Gabel, nein daneben. Lou nahm ihn ihr aus der Hand und legte ihn richtig hin. „Wie geht es ihr?“, wollte er wissen. „Keine Veränderung.“ Sie drehte sich langsam zu ihm um, schlang ihre Arme um seine Taille und legte ihren Kopf gegen seine Brust. Er umarmte sie und wiegte sie langsam vor und zurück. „Es ist erst ein Tag.“

„Es wird mit jedem Tag ein wenig unwahrscheinlicher, dass sie aufwacht.“ Sie sprach in den Stoff seines Hemds hinein, vertraute aber darauf, dass er sie trotzdem hörte und verstand. „Ich verliere zwei Schwestern auf einmal, Lou. Ich weiß nicht, ob ich das ertragen kann.“ „Du bist stark, Max. Das stärkste Mädchen, das ich kenne. Und ich bin für dich da, das weißt du doch, oder?“ Sie nickte. „Lydia hat dir ein schönes heißes Bad eingelassen und dir einen Becher von dem Kräutertee gemacht, den sie aus der Stadt mitgebracht hat. Ich möchte, dass du in Ruhe badest und deinen Tee trinkst, und dann musst du eine Runde schlafen.“ Sie hob ihren Kopf, spürte, wie ihre Augen brannten, und fragte sich, wie furchtbar sie gerade aussehen musste. „Wenn es dunkel wird …“ „Dann fahren wir zurück zu Morgan und überwachen das Haus“, sagte er. „Auch wenn sie und David beide gesagt haben, wir sollen das lassen.“ Maxine nickte. „Du kennst mich schon ziemlich

gut, oder?“ „Habe ich recht?“ „Ja.“ „Und deshalb musst du dich jetzt eine Weile ausruhen. Du siehst vollkommen geschafft aus.“ Er fuhr mit der Handfläche über ihr Haar und ihr Gesicht hinab bis zu ihrer Wange. „Es gefällt mir nicht, dich so zu sehen, Max. Es gefällt mir überhaupt nicht.“ Ihr Lächeln wirkte müde. „Das ist, weil du verrückt nach mir bist und zu schwer von Begriff, um es zu merken.“ Sie streckte sich und küsste ihn kurz und zärtlich auf die Lippen. Dann drehte sie sich um und verschwand im Badezimmer. Lou seufzte und ging zurück in den Wohnbereich der Suite. Dort ließ er sich in einen der weichen Sessel fallen. Lydia nippte an einem Tee und wippte nervös mit dem Fuß. „Sie braucht dich jetzt, weißt du“, setzte er an. Lydia blickte ihn besorgt an. „Ich bin doch hier.“ „Sie leidet fürchterlich. Das hat sie nicht verdient. Sie ist ein gutes Mädchen.“ „Das weiß ich.“

Er starrte ihr fest in die Augen. „Du musst es ihr sagen.“ „Und was hat sie deiner Meinung nach davon, zu erfahren, dass ihre Mutter eine Hure war? Hmmm?“ „Ach komm, Lydia, das ist weit entfernt von dem, was du wirklich bist.“ „Ich war es aber.“ „Du warst noch ein Kind. Allein und ahnungslos. Jetzt bist du eine verdammte Heldin.“ Sie verdrehte die Augen. „Glaubst du nicht? Du bist lebendig aus dem Dreck gekrochen. Fast hättest du es nicht geschafft. Und was tust du dann? Läufst du so weit wie möglich weg, wie die meisten Menschen es getan hätten? Nein. Nein, du legst dich flach auf den Boden und langst mit beiden Händen in den Sumpf, um die anderen herauszuziehen. Einen nach dem anderen zerrst du aus dem Matsch, spritzt sie mit dem Gartenschlauch ab und verstaust sie an einem sicheren Ort. Einem Ort, den du für sie sicher gemacht hast. Dann drehst du dich um und holst noch mehr. Du machst dich schmutzig, du lässt dich

immer wieder mit Abfällen bewerfen. Ist dir aber egal. Du machst einfach weiter.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „So hat Kimbra immer über unsere Arbeit gesprochen. Als sei es etwas Edles. Eine Art Berufung.“ „Ist es doch.“ Sie senkte ihren Blick. „Du tust all das für diese Kinder. Diese Kinder, die du gar nicht kennst. Jetzt hast du die Chance, etwas für dein eigenes zu tun. Deine eigenen Kinder, Lydia.“ „Sie sind wohl kaum noch Kinder, Lou.“ Sie stellte ihren Becher Tee zurück auf den Couchtisch. Er zuckte mit den Schultern. „Sie brauchen ihre Mutter. Max fühlt sich gerade, als würde sie jeden verlieren, der ihr etwas bedeutet. Und Morgan – Gott, das Mädchen hat niemanden, außer diesem Sumner. Wenn du jetzt keine Verbindung zu ihr aufbaust, dann bekommst du vielleicht nie mehr die Gelegenheit dazu.“ Sie wendete sich ab, vielleicht, dachte er, um ihre Tränen zu verbergen. „Sie wollte nicht einmal ihre Zwillingsschwester umarmen. Warum glaubst du,

schert sie sich dann um mich?“ „Das weißt du nicht, wenn du es nicht versuchst, Lydia.“ „Sie haben es so lange ohne mich geschafft …“ „Und sie stehen beide kurz vor dem Zusammenbruch.“ Sie biss sich auf die Lippe. Es tat ihm leid, sie so sehr zu bedrängen, und er beschloss, den Rückzug anzutreten. „Wenigstens habe ich dich zum Nachdenken gebracht.“ „Das hast du.“ „Okay. Dann lassen wir das jetzt. Du solltest dich auch ausruhen. Max wird die ganze Nacht wach bleiben wollen, um das Haus ihrer Schwester zu beobachten, und ich weiß ganz genau, du wirst sie nicht allein lassen.“ „Du doch auch nicht.“ Lydia lächelte ihn an. „Natürlich nicht.“ Er stand auf und ging auf die Kaffeemaschine in der kleinen Nische am anderen Ende des Zimmers zu. „Sie liebt dich, weißt du das eigentlich?“ Lydias Worte ließen ihn auf der Stelle erstarren. Für einen kurzen Moment befürchtete er, auch sein

Herz würde stehen bleiben, aber nein, das stimmte nicht. Es schlug heftig genug, um heißes Blut in sein Gesicht zu pumpen. „Das glaubt sie jetzt. Aber das dauert nur, bis ein junger Kerl in ihrem Alter daherkommt und sie von den Socken reißt. Bis dahin tue ich so, als merke ich nichts.“ „Zu ihrem eigenen Besten?“ „Und zu meinem.“ „Weil ihr am Ende bloß beide leiden müsst?“, fragte sie. Er antwortete nicht, aber er konnte gerade noch die Kraft aufbringen, wieder auf die Kaffeemaschine zuzugehen. Er fand einen Becher und füllte ihn. „Weißt du, manchmal glaube ich, wenn ich in die Zukunft hätte sehen können, wenn ich nur gewusst hätte, dass meine Liebe zu Kimbra mir am Ende diesen fürchterlichen, herzzerreißenden Schmerz einbringt, sie zu verlieren, vielleicht hätte ich mich dann am Tag, als wir uns begegnet sind, umgedreht und nie zurückgeblickt. Vielleicht wäre ich das Risiko nicht eingegangen.“ Er nickte langsam, als verstünde er vollkommen.

„Und dann wird mir klar“, fuhr sie fort, „dass das der größte Fehler meines Lebens gewesen wäre. Lieber Gott, wenn ich an die schönen Momente denke, die mir entgangen wären. Die Tage, die wir hatten … die Nächte.“ Sie schniefte. „Nein. Ich würde jedes Leid ertragen für die Liebe, die wir hatten. Jedes. Ich würde niemals tauschen. Nicht einmal, wenn mein Schmerz dann spurlos verschwindet.“ Lou nippte an seinem Kaffee und verwendete seine ganze Energie darauf, so zu tun, als ob ihre Moral ihm vollkommen entgangen wäre. War sie natürlich nicht. Aber wenigstens konnte er so tun.

Keith 21. KAPITEL „Aber es ist noch nicht einmal dunkel draußen.“ „Ich weiß“, sagte David sanft. „Aber, Morgan, du bist vollkommen ausgelaugt.“ Sein Tonfall, seine Augen, alles so besorgt. Voll von Liebe und Sorge. Und doch verbarg er etwas vor ihr. Das wusste sie einfach. Und es war nicht nur die Tatsache, dass er versuchen wollte, sie unter Drogen zu setzen, damit sie die Nacht durchschlief. Sie sollte verdammt sein, ehe sie ihn das tun ließ. „Komm schon, Liebes. Trink den Tee, und dann geh rauf in dein Bett. Du brauchst die Ruhe.“ Morgan beäugte die Teetasse. Zweifellos versetzt mit den Beruhigungsmitteln, die Dr. Hilman ihm heute zugesteckt hatte. Wenn er nur wüsste, dass ihr Leben davon abhing, Dante wiederzusehen, davon, ihn zu überzeugen, zu tun, was er tun musste, um sie unsterblich werden zu lassen … Sie setzte den Tee an ihre Lippen und tat so, als würde sie trinken. Senkte den Becher wieder und tupfte sich dann mit einer Serviette, die sie vom

Couchtisch nahm, die vergiftete Flüssigkeit von den Lippen. „Ich tue, was du sagst, David, wenn du mir verrätst, was du und diese blonde Frau zu besprechen hattet, als ich euch heute Morgen zusammen gesehen habe.“ Mit durchdringendem Blick sah er sie an. „Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich habe ihr nur mitgeteilt, wo sie ihre Freunde findet. Ihr angeboten, sie in die Stadt mitzunehmen.“ „Es sah nach mehr aus.“ Nachlässig hob er die Schultern, aber er sah ihr nicht in die forschenden Augen. „Es war nicht leicht, ihr zu erklären, warum du deine eigene Schwester aus dem Haus wirfst, Morgan. Wenn das Gespräch dir eindringlich schien, dann nur, weil ich einen Weg finden musste, dein Verhalten zu rechtfertigen.“ Es war als Spitze gemeint und traf ins Herz. Es tat weh, von der einzigen Person, die ihr nie geschadet hatte, auf einmal gemaßregelt zu werden. Er streckte seine Hand nach ihrer aus und hielt sie sanft fest. „Ich will dir nicht wehtun, Liebes. Es ist dir nur gar nicht ähnlich, so unfreundlich zu sein.“

„Und dir sieht es nicht ähnlich, dich gegen mich zu stellen“, flüsterte sie. „Oh, Morgan, nein. Nicht gegen dich. Nie, niemals gegen dich.“ „Und was hast du dann mit dieser Frau ausgeheckt? Ihr habt geschwiegen wie Gräber, als ich den Raum betreten habe. Ihr habt etwas besprochen, was ich nicht hören sollte.“ Er fuhr mit der Hand durch ihr Haar. „Nur, weil ich nicht will, dass du dich aufregst, so krank wie du gerade bist. Ich wollte nicht, dass sie dich nach Erklärungen ausfragt, und ich wollte nicht, dass du versuchen musst, ihr welche zu liefern. Das ist alles.“ In ihren Augen brannten Tränen, die sie jedoch tapfer fortblinzelte. Es war ihr egal, sagte sie sich selbst, wenn ihr bester Freund, dem sie am meisten von allen vertraute, sie betrog. Sie brauchte ihn nicht. Sie brauchte nur Dante. „Trink deinen Tee, Schatz. Komm schon.“ Er hob die Tasse und hielt sie ihr hin. Sie nahm die zerbrechliche Porzellantasse aus seiner Hand und nickte langsam. „Ich glaube, ich

befolge deinen Rat und gehe rauf in mein Zimmer. Ich nehme den Tee mit und trinke ihn im Bett.“ „Das ist eine gute Idee.“ Hilfsbereit trat er auf sie zu, um ihr aufzuhelfen und sie zur Treppe zu führen. „Ich scheine in letzter Zeit einen furchtbar leichten Schlaf zu haben“, erwähnte sie beiläufig, während er neben ihr ging und eine Hand um ihren Ellenbogen gelegt hatte. „Muss daran liegen, dass ich so lange alleine gelebt habe. Wahrscheinlich habe ich mich an die Stille gewöhnt.“ „Ich werde leise wie eine Maus sein, Liebes. Du brauchst deinen Schlaf.“ Er blieb stehen und öffnete ihre Schlafzimmertür für sie. Sie entbot ihm ein dünnes, gehorsames Lächeln, küsste ihn auf die Wange und trat ein. „Gute Nacht, Morgan“, sagte David und schloss die Schlafzimmertür. Sie durchquerte ihr Schlafzimmer bis zu den Terrassentüren, öffnete sie und trat hinaus. Dann drehte sie die kleine Tasse um und goss ihren Inhalt aus. Die steife Meeresbrise verstreute den Tee bereits zu tausend Tropfen, ehe er auf den Boden

kommen konnte. Mit einem Seufzen ging Morgan zurück, blickte auf ihr ordentlich gemachtes Bett, auf den weißen Satinmorgenmantel, der von einem der Bettpfosten hing, und die leere Tasse in ihrer Hand. Sie musste es überzeugend aussehen lassen. David war kein Idiot. Sie stellte die Tasse auf ihren Nachttisch. Dann zog sie die Decke zurück und brachte sie in Unordnung, um sie danach wieder herzurichten, legte Kissen darunter, die sie immer wieder umschichtete und aufschüttelte, ehe sie die Decke darum feststeckte. Dann trat sie zurück an die Schlafzimmertür, um aus demselben Blickwinkel daraufzublicken, wie David, wenn er nach ihr sah. Sie wusste, er würde nach ihr sehen. Gut. Es sah gut aus. Genau, als würde sie im Bett liegen, in den Decken vergraben, mit dem Rücken zur Tür. Sie zog ihre Jeans aus, dann ihren Pullover und ließ sie gut sichtbar auf dem Boden liegen. Sogar ihre Tennisschuhe und die weißen Socken. Dann zog sie den Morgenmantel an. Und endlich, als

letztes Detail, schloss sie die Terrassentüren wieder und ließ die Jalousien hinter den durchsichtigen Gardinen hinab. Sie schloss auch alle anderen Jalousien in ihrem Schlafzimmer und ließ den Raum in Dunkelheit versinken. Jetzt würde es noch schwieriger werden, auszumachen, dass sie nicht wirklich im Bett lag, jedenfalls ohne das Licht anzumachen, und sie glaubte nicht, dass David sie wecken würde, um das zu tun. Endlich ging sie auf Zehenspitzen zu ihrem Kleiderschrank, nahm sich einen warmen, großen Schal aus weichem schwarzem Filz von einem Bügel, und legte ihn sich um die Schultern. Sie schlüpfte mit den Füßen in winzige Slipper, wie Ballerinas, nur waren sie aus Samt. Dann ging sie leise zur Schlafzimmertür. Dort musste sie stehen bleiben, weil ihre Atmung außer Kontrolle geraten war. Zu schnell und zu laut, um nicht bemerkt zu werden. Durch die wenigen Handgriffe der letzten fünf Minuten war sie vollkommen außer Atem. Es wurde schlimmer. Mit jeder Stunde wurde es schlimmer. Sie wartete, bis ihr Atem sich beruhigte und ihr

Pulsschlag langsamer geworden war. Dann endlich öffnete sie die Schlafzimmertür, nur einen Spalt, und spähte hinaus auf den Flur. Er war leer. Sie schlich so leise wie möglich hinaus und schloss die Tür langsam hinter sich. Dann, Schritt für vorsichtig gesetzten Schritt, bewegte sie sich auf die Treppe und begann, hinabzusteigen. Eine Hand umklammerte das Geländer, falls sie stolperte. So viele Stufen. Gott. Wo zum Teufel war er? Wo war David? Sie horchte, konnte ihn aber nicht hören. Spähte, erblickte ihn aber nirgends. Endlich kam sie am Fuß der Treppe an, und genau in diesem Moment hörte sie über sich Schritte. Ihr Kopf fuhr hoch, und sie sah David, der den langen Flur entlang auf die Treppe zuging. Sie beeilte sich, die letzten Stufen zu nehmen, duckte sich um die Treppe herum und ging schnell aus dem Wohnzimmer auf ihr Arbeitszimmer zu. Rasch nahm sie den Schlüssel aus der Tasche ihres Mantels und ließ sich ein, dann schloss sie die Türen gleich wieder ab. Sie musste innehalten und lehnte sich an die Tür, um durchzuatmen.

Es dauerte eine Weile, bis ihr Herzschlag sich beruhigte. Bis ihr Atem langsamer und fast wieder normal ging. Als es so weit war, öffnete sie ihren Safe und nahm drei von Dantes Tagebüchern und die CD heraus, auf der sich die einzige Kopie ihres neuen Drehbuchs befand. Das, an dem sie seit Monaten arbeitete. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie tat das Richtige. Sie hatte die Geschichte von der Liebe einer Frau und einem Betrug, der ihn und einen guten Freund fast das Leben gekostet hatte, in Dantes eigenen Worten gelesen. Sie musste ihm beweisen, dass sie nicht das Gleiche tun würde. Diese Geste … sie würde es ihm zeigen. Morgan verschloss den Safe wieder und lauschte dann an den Türen. Als sie nichts hörte, schlüpfte sie hinaus, schloss sie leise hinter sich ab und ging ins Esszimmer und dann in die Küche. An der Hintertür wartete die Alarmanlage auf sie. Das rote Licht blinkte. David hatte das verdammte Ding aktiviert! Fieberhaft versuchte sie, sich an den Code zu

erinnern, aber in ihrem Kopf wirbelten zu viele andere Dinge herum. David kam gerade durch das Haus. Kam hierher! Verdammt, wann hatte sie ihm die Alarmcodes verraten? Mist, wie schwer konnte es schon sein, sie zu erraten, auch wenn sie es ihm nie gesagt hatte? Es war schließlich ihr Geburtstag. Richtig. Ihr Geburtstag. Sie gab schnell die Zahlen ein. Das grüne Licht leuchtete auf. David kam gerade durchs Esszimmer, auf die Küche zu. Seine Schritte klangen näher und näher. Sie riss die Küchentür auf, stürzte hindurch, die Bücher mit einem Arm gegen die Brust gedrückt. Dann zog sie die Tür schnell, aber so leise wie möglich hinter sich zu. Sie rannte auf die große Weide zu und zählte dabei in Gedanken. Der Alarm würde sich in dreißig Sekunden selbstständig wieder aktivieren. Morgan hoffte bei Gott, dass David das grüne Licht nicht auffiel, ehe es wieder auf Rot umschaltete. Sie erreichte den Baum, duckte sich dahinter und zählte weiter. Als sie dreißig erreicht hatte, wartete sie und starrte auf die Tür. Sicher würde sie jeden Augenblick aufspringen und David herauskommen,

um zu sehen, was los war. Aber nichts dergleichen geschah. Er hatte es nicht einmal bemerkt. Mit einem erleichterten Seufzen wendete sie sich vom Haus ab und ging hinab auf die Küste zu, an die Stelle, wo sie Dante zum letzten Mal gesehen hatte. Dort setzte sie sich hin, zitterte und zog ihren Schal fester um sich. Wartete. Wartete auf ihn. Was, wenn er nicht kam? Die Szene der vorigen Nacht spielte sich immer wieder in ihren Gedanken ab. Wie er vor Schmerz zusammengezuckt war, das Blut, das neben dem Pflock aus seinem Arm quoll, und dann sein Fall. Wie eine Strohpuppe. Wie konnte er das überlebt haben? Aber er war nicht menschlich. Er lebte nicht wirklich. Sie biss sich auf die Lippe und blickte über den Klippenrand. Und dort erblickte sie, was sie vorher, in der Dunkelheit, nicht gesehen hatte. Einen Vorsprung. Er musste auf dem Vorsprung gelandet sein. Sie sah sich stirnrunzelnd um, wählte eine Stelle und kletterte über den Rand auf den breiten

Felsvorsprung hinab, der wie ein natürlicher Balkon aufs Meer hinausragte. Es war nicht leicht, die Tagebücher festzuhalten und auf die CD zu achten, die sie zwischen die Seiten geklemmt hatte, während sie sich an den Abstieg machte. Gott sei Dank hatte sie nicht noch mehr mitgenommen. Endlich kam sie auf dem Vorsprung an. Hier, dachte sie. Hier muss er gelandet sein. Sie fuhr mit den Händen über den Felsen, als könne sie ihn noch dort spüren, doch da war nichts. Waren die kleinen Flecken, die sie dort sah, Blut? Es konnte genauso gut Salzwasser sein, oder Regen, oder Tau. „Wo bist du hin, Dante?“ Sie blickte nach rechts und nach links und fand dennoch nichts. Unter sich nur Meer und Felsen. Er konnte nicht ins Meer gegangen sein, oder doch? Beim Blick nach oben wurde Morgan mulmig zumute. Ob es mir wohl gelingt, wieder hochzuklettern? dachte sie besorgt. Doch dann blieb sie stehen und starrte das Gestrüpp aus Ranken an und die Öffnung, die vor ihr lag. „Eine Höhle“, flüsterte sie.

Mit einem Arm teilte sie die Ranken auseinander und kroch vorwärts, in die vollkommene Dunkelheit und die ewige Kälte des tiefen Felsens hinein. Sie zog ihren Schal enger um sich und bemühte sich, den Weg vor sich zu erkennen. Sie streckte ihren freien Arm aus und bewegte ihn vor sich nach beiden Seiten, während sie in kurzen abgehackten Schritten vorwärts ging. Sie erwartete Spinnweben. Da waren keine. Nur glatter, kalter Stein unter ihren dünn besohlten Schuhen. Sie erwartete ständig, an ein Ende zu stoßen. Vielleicht einen Abgrund. Sie setzte die Füße noch vorsichtiger. Aber der Boden fiel nicht ab. Ihr Verstand schlug Alarm. Sie musste umkehren. Doch alles andere, ihr Instinkt, ihr Herz und diese unsinnige Sehnsucht nach Dante ließen eine Umkehr unmöglich werden. Es war wie ein Zwang, vorwärts zu gehen. Es gab nichts, wovor sie Angst haben musste, sagte sie sich selbst immer wieder, während die Dunkelheit sie verschluckte. Was war schon das Schlimmste, das ihr passieren konnte? Sterben? Das musste sie sowieso. Mittlerweile streckte sie ihre Hand nicht mehr von

sich, sondern fuhr stattdessen damit an der Wand entlang. Als Morgan bemerkte, dass der Weg eine Kurve machte, blieb sie erschreckt stehen. Okay, okay. Sie nahm sich Zeit, sich zu orientieren und ihren Weg zu ertasten. Die Wände waren nicht verschwunden, der Gang war nur breiter geworden. Sie tastete die Wand ab und folgte ihr, bis sie an einen Bereich kam, der sich anders anfühlte als der Rest. Stahl statt Stein. Ihre Finger tasteten sich an den Rand vor, und sie merkte, sie hatte eine Tür gefunden. Sie fand den Griff, einen eisernen Ring, und zog, dann drückte sie, zog wieder und drückte und zog, bis das Ding sich bewegte, wenn auch nur ein wenig. Lieber Gott, das würde nicht leicht werden. Besonders, weil sie sich heute so schwach fühlte. Dennoch, sie legte ihre wertvollen Bücher beiseite, sammelte jedes kleinste bisschen Kraft, das noch in ihr steckte, und bearbeitete weiter die schwere Tür, bis es ihr endlich gelang, sie weit genug zu öffnen. Sie musste eine Pause machen und sich gegen den unebenen Fels zurücklehnen. Sie war vollkommen außer Atem und rang nach Luft. Und während sie

ihren Herzschlag beschwor, sich zu beruhigen, nahm sie etwas wahr. Etwas … was sich in ihrem Bewusstsein regte. Eine Wahrnehmung außerhalb ihrer normalen Sinne sagte ihr, dass sie ihm nah war. Dante. Er war hier, irgendwo. Sie hob ihren Kopf, suchte mit der Kraft ihrer Gedanken, tastete die Luft förmlich nach ihm ab, fand ihn, jetzt stärker, als eine Art Vibration genau in der Mitte ihrer Stirn. „Dante …“, flüsterte sie, und ihr Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Wieder spürte sie dieses hohle Verlangen in ihrem Bauch. Sie drückte sich von der Wand ab, bückte sich, um den Boden abzutasten, fand ihre Bücher, presste sie an sich und drückte sich dann durch den Spalt in der jetzt etwas offen stehenden Tür in den Raum dahinter. „Dante, bist du hier?“ Keine Antwort. Pechschwarze Dunkelheit, und doch hallte ihre Stimme nicht so wider, wie sie sollte. Sie bewegte sich, benutzte wieder ihre Hand, um die Form und Größe des Raumes abzuschätzen. Flache Wände, nicht gerundet. Und er roch anders. Ihr Schenkel stieß gegen etwas, das

schaukelte, und ihre Hand schnellte vor, um es aufzufangen. Ein kleiner Tisch. Und darauf … eine Laterne. Dann sollten … Ja, sie tastete sich über den Tisch und fand Streichhölzer. Sie musste in dem Raum unter ihrem Arbeitszimmer sein, schoss es ihr durch den Kopf, und wieder klopfte ihr Herz im Galopp. War er dorthin geflohen? Sie legte ihre Bücher auf den Tisch und versuchte dann im Dunkeln, das Streichholz anzuzünden und seine Flamme gegen den Docht der Laterne zu halten. Als das Licht aus dem Glas leuchtete, hob sie die Lampe an und drehte sich um. Der Sarg war noch da. Geschlossen. Leer? Sie schluckte, sah hinab und wurde dann ganz ruhig. Etwas Dunkelrotes war auf dem Boden vergossen worden. Viel davon, eine Lache bei der Tür, und dann eine Spur, die sich wie ein Teppich ausbreitete, und noch eine Lache neben dem Sarg. Oh Gott, er hatte so viel Blut verloren! Sie hielt die Lampe in einer zitternden Hand und trat näher, vermied die trocknenden Pfützen, und

einen Augenblick lang schaffte sie es, ihren Blick von der stumpfen, staubigen Kiste und dem Blut auf dem Boden zu reißen, um sich nach einem Haken umzusehen, oder … Aus einem der Balken über ihrem Kopf ragte ein uralter Nagel. Man hatte ihn in einem Winkel hochgeschlagen, als wäre er genau zu diesem Zweck angebracht worden. Sie schob den Drahtgriff der Laterne über den Nagel und ließ sie dort hängen. Dann leckte sie sich nervös die Lippen und drehte sich wieder zu dem Sarg um. War es draußen bereits dunkel? Als sie die Höhle gefunden hatte, war es hell gewesen. Aber das war schon eine Weile her. Vielleicht eine Stunde, in der sie sich langsam in der Höhle vorwärtsgearbeitet hatte. Das müssen etwa sechzig Meter gewesen sein, so lang wie der Rasen hinter dem Haus, und der ganze Weg war wahrscheinlich von Dantes Blut bemalt gewesen. Sie hatte eine ganze Weile gebraucht, bis sie in der völligen Dunkelheit hierhergelangt war, dann hatte sie Zeit damit verbracht, die Tür aufzubekommen. Die eigentlich verschlossen gewesen sein sollte. Wenn Dante

gesund wäre, hätte er die verdammte Tür abgeschlossen. Ihre Hände legten sich um das Holz des Sargdeckels. Sie schloss langsam ihre Augen, atmete tief durch, um sich Mut zu machen, betete, sie würde innen keine leblose Hülle vorfinden, und dann hob sie den Deckel an. Seine Scharniere quietschten und ächzten vor Rost. Dante lag darin, vollkommen regungslos, vollkommen weiß. Sein Gesicht, so leblos und doch so real. Blass. „Dante …“ Sie berührte sein Gesicht und zog die Fingerspitzen hastig wieder zurück, als sie spürte, wie kalt seine Haut war. War er tot? War er durch den Pfeil des Jägers in seinem Arm verblutet? Tränen vernebelten ihren Blick, und sie riss sich von seinem anbetungswürdigen Gesicht los und besah den Rest seines Körpers. Er trug schwarze Seide, die er für Hemden zu bevorzugen schien, und sie bemerkte, dass der linke Ärmel abgerissen war. Sein Arm war nackt bis auf ein Band aus schwarzer Seide, das hoch um den Bizeps

gebunden war, fast an der Schulter. Hatte er die Blutung mit seinem improvisierten Verband stillen können? Würde sie auf dem verblichenen Polster des Sarges Blutflecken finden, wenn sie es näher untersuchte? Ihr Blick wanderte zurück zu seinem Gesicht. „Oh, Dante, bitte, es muss dir gut gehen. Du musst in Ordnung sein. Ich brauche dich.“ Sie flüsterte die Worte, während sie sein Gesicht in beide Hände nahm und ihren Mund auf seine kalten, starren Lippen presste. Ihre eigenen Tränen würzten den Kuss. Doch er reagierte überhaupt nicht. Die Worte, die sie in einem seiner Tagebücher gelesen und in ihrem ersten Film verwendet hatte, kamen ihr in den Sinn. Es gab nur wenige Wege, auf die ein Vampir sterben konnte, aber Verbluten war einer davon. Seine Wunde – sie musste während des Tagesschlafs verheilt sein. Es sei denn, er war vorher gestorben. Sie wendete sich seinem Arm zu und zerrte an der verknoteten Seide, bis sie sich löste, dann wickelte sie den Verband von seinem Arm. Keine Wunde.

Getrocknetes Blut, ja, aber kein klaffendes Loch in seinem Fleisch. Sie war verheilt. Die Bücher hatten die Wahrheit darüber gesagt. Dann mussten sie auch recht haben, wenn sie sagten, dass das verlorene Blut nur auf eine Art ersetzt werden konnte. Er musste es von jemand anderem nehmen. „Von mir“, flüsterte sie. „Ja, von mir.“ Sie beugte sich wieder dicht an sein Gesicht und strich ihm über sein Haar. „Ich weiß, du wirst mir helfen, Dante. Ich weiß, du wirst das Richtige tun – und mich zu dem machen, was du bist – ehe du mich vergehen und sterben lässt. Ich weiß es einfach. Ich vertraue dir.“ Sie küsste seine Stirn. Dann richtete sie sich auf und tastete mit den Händen seine Jeans ab, suchte in den Taschen, weil sie wusste, er hatte ein Messer bei sich. Er hatte es schon vor ihren Augen benutzt. Sie fand das Messer, schob ihre Hand in die vordere Tasche seiner Jeans, um es herauszuziehen, und als ihre Hand ihm so vertraut nah war, bemerkte sie seine Erektion. Das überraschte sie. Dass es sich bei Vampiren nicht

um den natürlichen Schlafzustand handelte, wusste sie instinktiv. Nein. Sie war es. Sie war ihm nah, berührte ihn, küsste ihn und auf irgendeine unerklärliche Weise spürte er das sogar in seinem schlafenden Zustand. Und er wollte sie. Morgan streichelte die Härte zwischen seinen Beinen, während sie die Klinge an sich nahm. Sie öffnete ihre Handfläche und fand dort etwas, was wie ein kleines Schnappmesser mit einem Onyxgriff aussah. Aber als sie die Klinge öffnete, sah sie nicht wie ein Messer aus. Sie war lang und schmal, geformt wie ein Schraubenzieher, nur das Kreuz am oberen Ende war rasiermesserscharf. Sie starrte auf das Werkzeug, und es durchfuhr sie ein leichter Schauer. Wenn sie sich an der falschen Stelle eine Wunde zufügte, und er nicht erwachte, wie sie es hoffte, dann riskierte sie, zu Tode zu bluten. Sie musste aufpassen. Nicht ins Handgelenk. Nicht in den Hals. Sie atmete tief durch, schloss die Augen und legte ihre Hand fest um die seltsame kleine Klinge. Dann stieß sie die Spitze mit einer entschlossenen Bewegung in die Handfläche der anderen Hand.

Schmerz durchzuckte sie, und sie schrie auf. Das Werkzeug schepperte auf den Boden, während Morgan die Zähne zusammenbiss, ihre Augen und dann langsam ihre Hand öffnete. In ihrer Handfläche sammelte sich Blut. Dante. Seine Nasenlöcher bebten, und seine Hände begannen, sich zuckend zu bewegen. „Es ist in Ordnung, mein Schatz. Jetzt wird alles gut.“ Sie schloss ihre Hand zur Faust, damit kein Blut vergossen wurde, und legte sie an seinen Mund. Ein Tropfen, dann zwei, entkamen ihrer Faust und berührten seine Lippen. Seine Zunge fuhr heraus, um sie aufzufangen. Und dann schlossen sich seine Hände wie Schraubstöcke, eine an ihrem Unterarm, die andere drückte ihre Handfläche an seinen offenen, suchenden Mund. Im selben Moment hatte er sich an ihr festgesaugt und trank an dem kleinen Loch, das sie gemacht hatte, in tiefen Schlucken. Empfindungen, die sie schon einmal verspürt hatte, durchfuhren ihre Sinne. Jeder Teil von ihr wurde lebendig, und eine neue Art Lust brannte in ihren Adern. Sie spürte seine Zähne, seine Zunge,

die über ihre Handfläche leckte und jeden Tropfen Blut aufnahm. Und dann öffneten sich plötzlich seine Augen. Weit offen, ohne jedoch etwas zu sehen. Sie glühten mit einem wilden Hunger, diesem räuberischen Glanz, den sie schon zuvor bemerkt hatte, als er ihre Hand von seinem Mund nahm, sie von sich drückte. Er setzte sich plötzlich auf, sprang aus dem Sarg, landete auf den Füßen und hielt dabei die ganze Zeit ihre Hand am Gelenk fest. Sein Atem ging schnell, und jedes Mal, wenn er ausatmete, knurrte er aus den Tiefen seiner Kehle. Er riss ihren Körper an sich und presste seine Hüften gegen sie, sein Mund wanderte über ihren Hals, saugte die Haut zwischen seine Zähne, biss zu, trank Blut, wanderte weiter. Der Schmerz war süße Folter, und sie bog sich ihm entgegen. Mit einer Hand gelang es ihr, den Gürtel ihres weißen Satinmorgenmantels zu lösen, und er schob ihn von ihren Schultern und bedeckte sie mit fordernden Küssen. „Nimm dir, was du von mir brauchst, Dante.“ Ein weiteres leises, tiefes Knurren, und dann

schob er sie vorwärts, bis sie gegen die Zementwand prallte. Er packte ihre Schenkel mit seinen Händen, hob sie um seine Hüften und hatte sich gerade von seinen Jeans befreit, als er schon in sie eindrang. Er war kalt, hart wie der Stein in ihrem Rücken, und er füllte sie aus, rammte sich tiefer in sie hinein und versenkte immer wieder seine Zähne in ihrem Fleisch. Die Stöße aus Schmerz und Verlangen durchfuhren sie abwechselnd, bis sie eines nicht mehr vom anderen unterscheiden konnte, und sie schrie auf, als endlich der Höhepunkt kam. Ihr ganzer Körper bebte mit der unerträglichen Kraft ihres Orgasmus, doch er hörte nicht auf, in sie zu stoßen und ihr das Leben aus den Adern zu saugen. Sie klammerte sich an ihn, sie flüsterte, dass sie ihn liebte, und dass sie für ihn sterben würde, und fürchtete dann kraftlos, genau das vielleicht erleiden zu müssen. Lou und Maxine saßen im Auto, einige Meter die Straße hinunter von Morgans Anwesen entfernt. Es war eine gute Stelle. Sie hatten freie Sicht auf den hinteren Rasen bis hinab zu den Klippen und auch

auf die Vorderseite und eine Seite des Hauses. Maxine glaubte nicht, dass jemand kommen konnte, ohne von ihr und Lou gesehen zu werden. Sie hatte einen Dr. Pepper Light und er einen Becher Kaffee. Der Himmel über dem Wasser war violett und wurde dunkler, je weiter man nach oben blickte. Das Wasser spiegelte diesen Verlauf. „Wie spät ist es?“, fragte sie. „Viertel nach Sonnenuntergang.“ „Sehr witzig.“ Sie blickte auf die Eingangstür des Hauses, sah, wie sie sich öffnete und dieser Sumner den Türrahmen ausfüllte. Er sprach eine Sekunde mit Lydia, trat dann zur Seite und ließ sie eintreten. „Sie ist drinnen.“ „Dachtest du, es gibt Schwierigkeiten?“ Maxine zuckte mit den Schultern. „Sumner hat gesagt, wir sollen wegbleiben und Morgan ihren Freiraum lassen. Ich hatte nicht erwartet, dass er Lydia mit offenen Armen empfängt.“ „Sie ist eine attraktive Frau.“ „Ja, aber sie steht nicht auf Männer.“ „Pech für uns“, murmelte Lou. Sie boxte ihn, vielleicht ein wenig fester als nur

im Spaß. „Ich meinte für Sumner, Max. Also ehrlich.“ Er rieb sich die Schulter. Sie zweifelte nicht daran, dass es wirklich wehtat. „Zehn zu eins ist sie in fünf Minuten wieder draußen“, sagte sie und wechselte geschickt das Thema. „Die Wette gilt.“ Sie verzog das Gesicht und sah ihn an. „Also, was läuft da überhaupt zwischen euch?“ „Wem? Lydia und mir?“ Sie nickte. „Haben du und sie jemals …?“ „Sie steht doch nicht auf Männer.“ „Mindestens einmal doch“, bohrte Maxine weiter. „Woher weißt du das?“ „Sie hat mir gesagt, sie hat ein Kind mit irgendeinem Typen.“ Lou sah verdammt überrascht aus. „Was, wusstest du das nicht?“ „Klar wusste ich es. Nur nicht, dass sie es dir erzählt hat.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was hat sie dir noch erzählt?“ „Nichts.“ Ein Blick in seine Augen signalisierte

ihr, dass da noch etwas war. „Lieber Gott, Lou, sag mir, dass es nicht von dir ist.“ „Was?“ Er blinzelte zweimal und schüttelte dann energisch mit dem Kopf. „Nein. Ich hatte mit diesen Babys nichts zu tun.“ Was sagte Lou da gerade? Maxine legte ihren Kopf schräg. „Babys? Da war mehr als eines?“ Lou schien in Erklärungsnot zu kommen. „Das geht uns nichts an, Max. Wenn du etwas über Lydias Vergangenheit wissen willst, frag sie selbst.“ „Schon gut. Du musst ja nicht gleich so abblocken. Ich wollte nur wissen, ob ihr zwei in der Kiste gewesen seid oder nicht.“ Er sah sie mit kaum verhohlener Ungeduld an. „Nicht.“ „Nicht, dass mich das etwas angeht.“ „Stimmt auffallend.“ „Ist ja nicht so, als würden wir regelmäßig in die Kiste steigen.“ „Oder überhaupt.“ „Na, die Nacht ist noch jung, Lou. Sag niemals nie.“ Lou legte seinen Kopf in den Nacken, schlug ihn

mehrmals gegen die Kopfstütze und starrte an die Decke des Wagens. Maxine drehte ihr Gesicht ein Stück weg, damit er ihr Grinsen nicht sehen konnte. Meine Güte, sie liebte es, diesen Mann zu ärgern. Sie wusste, er reagierte darauf mit einer gewissen Erregung. Es würde ihm nicht so viel ausmachen, wenn nicht. Und heute Nacht würde sie ihn bis zum Äußersten reizen. Die Gelegenheit war zu gut, um sie verstreichen zu lassen. So mit ihm bei einer Observierung zusammengepfercht zu sein. Allein, die ganze Nacht, im Auto. Nur sie beide. Was würde er tun, fragte sie sich, wenn sie einfach die Hand ausstreckte und sie in seinen Schoß legte? Wahrscheinlich aus dem Wagen springen und die Beine in die Hand nehmen. Sie blickte hinab auf ihre Hand, die zwischen ihnen auf dem Sitz lag. Saubere, kurze, unlackierte Nägel. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, sie wären lang und scharf und lackiert wie die ihrer Schwester. Das gefiel Männern doch wohl? Sie bewegte die Hand vorsichtig ein Stück weiter auf sein Bein zu. „Wer zum Teufel ist das?“ Lou starrte in die

Finsternis. Am liebsten hätte sie laut geflucht, verkniff es sich aber und folgte seinem Blick. Dann fuhr ihr ein warnender Schauer kribbelnd die Wirbelsäule hinauf, als sie die dunkle Gestalt sah, die sich auf das Haus zu bewegte. Er ging an einer der Laternen am Gehweg vorbei, die sein Gesicht einen Moment lang beleuchtete. „Es ist Scarface!“, rief Maxine, kniff die Augen zusammen und versuchte, ihn genau zu erkennen. „Ist das derselbe Mann, den du in der Brandnacht gesehen hast?“ „Ich weiß es nicht. Das ist fünf Jahre her, wie du dich vielleicht erinnerst“, fuhr sie ihn an. „Er klingelt. Komm, wir machen uns besser auf den Weg.“ Sie riss ihre Tür auf und sprang hinaus. Lou stieg ebenfalls aus und eilte zu Maxine. „Bleib hinter mir, Max.“ Sie widersprach ihm nicht, aber sie sollte verflucht sein, ehe sie ihn als menschliches Schutzschild missbrauchte. Sie erreichten den Gehweg gerade, als die Tür geöffnet wurde.

Sumners Stimme ertönte. „Wer zum Teufel sind Sie?“ „Der Mann, der Morgan angegriffen hat, in der Nacht, als wir hier angekommen sind“, beantworte Maxine die Frage. Beide Männer wirbelten zu ihr und Lou herum. Lou hatte seine Waffe in der Hand. Er zielte nicht damit, er ging nur sicher, dass die Männer sie sahen. „Ich glaube, es wird Zeit für eine Unterhaltung, Mister … Stiles, richtig?“ Er nickte und streckte seine Hände in etwa Hüfthöhe mit den Handflächen nach außen vor. „Frank Stiles“, erklärte er jetzt. „Und eben deshalb bin ich hier. Ich will reden.“ Er sah Sumner an. „Mit Ihnen allen. Ich glaube, Sie haben keine Ahnung, mit was Sie es zu tun haben.“ Sumner blickte zu Lou. „Was meinen Sie?“ Lou ging auf den Mann zu. „Hände nach oben, Freundchen.“ Der Mann hob seine Hände ein Stück höher. Lou gab Maxine seine Waffe, tastete Stiles schnell ab und nahm die Waffe dann wieder in die Hand. „Sumner, wollen Sie hören, was dieser Kerl zu sagen hat?“

„Sollten wir wahrscheinlich, meinen Sie nicht?“ Zögerlich stimmte Lou ihm zu. „Wenn Sie irgendwas im Schilde führen, ich zögere nicht. Sie verstehen schon.“ „Ich bin nicht hier, um jemanden zu verletzen“, sagte Stiles leise. „Ich will nur helfen.“ Sumner trat zur Seite. Stiles ging ins Haus, Lou und Maxine direkt hinter ihm. „Helfen?“, fragte Maxine. „Haben Sie das mit meiner Schwester gemacht, als wir angekommen sind? Ihr geholfen?“ „Ich musste wissen, ob sie gebissen wurde.“ Maxine senkte ihren Blick, als sie alle durch das Haus in ein kleineres Zimmer marschierten. Sie konnte sich denken, dass Morgan sie weder sehen noch hören sollte, falls sie die Treppe herunterkam. „Wo ist Lydia?“, fragte Maxine, als sie alle sich gesetzt hatten. „Oben, sie sieht nach Morgan.“ Sumner wendete sich an Stiles. „Wenn Sie eine Erklärung für den Angriff auf das Mädchen haben, Sir, dann sollten Sie die jetzt loswerden.“ „Ich muss am Anfang anfangen. Wenn Sie mir nur fünf Minuten geben, werden Sie verstehen …“

„Ach ja?“, fragte Maxine. „Ich soll wohl auch gleich verstehen, warum Sie meiner besten Freundin eine Kugel in den Kopf gejagt haben, wo wir schon dabei sind?“ Stiles erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich war dort. Das stimmt. Ich war in dieser Wohnung. Aber ich habe Ihrer Freundin keinen Schaden zugefügt. Er hat das getan.“ „Er, wer?“ „Dante. Der Killer, dem ich auf der Spur bin.“ „Vampire erschießen niemanden, Stiles.“ „Sie tun es, wenn sie jemanden hereinlegen wollen. So wie mich.“ „Dante wollte also die Schuld auf Sie lenken? Komisch, die Cops scheinen zu denken, Lou hat es getan. Er war es, der am Ende hereingelegt wurde.“ „Lou ist ein Cop. Es war gleich klar, dass sie nicht an seine Schuld glauben würden. Ich war die nächste offensichtliche Wahl.“ Maxine verdrehte die Augen. „Hören Sie mir zu. Bitte.“ Seufzend streckte Maxine die Hände in die Luft und ging ein Stück weg. „In Ordnung. In Ordnung,

die Bühne gehört Ihnen.“ Sie ließ sich in einen Sessel fallen. Sumner und Lou saßen bereits, Stiles allerdings blieb stehen. „Zwanzig Jahre lang war ich ein Agent der Division of Paranormal Investigations, einer streng geheimen Unterorganisation der CIA. Unser Hauptquartier lag in White Plains. Unsere Aufgabe war die Erforschung und Eliminierung von Vampiren.“ Maxine nickte. Das wusste sie bereits alles. Sumner schien wie erschlagen, als er Lou einen Blick zuwarf und sich dann gleich wieder zu Stiles wendete. „Mein Gott, Sie meinen, es ist alles wahr?“ „Was ich Ihnen sage, ist wahr. Die Vampire haben revoltiert, das Hauptquartier angegriffen, es niedergebrannt und die meisten Agenten umgebracht. Das war vor fünf Jahren. Es war eine Katastrophe. Man hat uns die Mittel gestrichen und die Abteilung komplett dichtgemacht. Alle überlebenden Agenten haben sich in alle Winde verstreut und sind undercover gegangen, so wie ich.“

„Warum?“, wollte Maxine wissen. „Damit wir nicht aufgelöst werden. Wir wissen eine Menge Dinge, die die Regierung lieber nicht an die Öffentlichkeit tragen möchte.“ Er betrachtete Maxine. „Deshalb habe ich Sie in jener Nacht bedroht. Ich konnte nicht riskieren, dass irgendwer von meinem Überleben erfährt.“ „Und als ich es jemandem erzählt habe, obwohl inzwischen fünf Jahre vergangen waren, wussten Sie zufällig sofort Bescheid.“ Er nickte. „Ich habe immer noch ein paar Verbindungen zur CIA. Einer von denen hat mir von Officer Malones Anruf berichtet.“ „Also sind Sie zu Lou gegangen, haben meine beste Freundin dorthin gelockt und sie erschossen, um mir eine Lektion zu erteilen?“ „Nein! Ich bin zu seiner Wohnung gefahren, um herauszufinden, was er weiß. Der Vampir lag dort auf der Lauer. Das Mädchen war bereits bewusstlos. Ehe ich etwas tun konnte, hat er auf sie geschossen. Dann hat er mir nur sein böses Lächeln zugeworfen und ist verschwunden.“ Er schüttelte langsam den Kopf und sprach weiter. „Ich wusste,

Morgan würde sein nächstes Opfer sein, und deshalb bin ich die ganze Nacht gefahren, um hierherzukommen. Um sie zu warnen.“ „Und warum hat Dante das alles getan?“, fragte sie. „Er weiß, was ich getan habe“, erklärte Stiles. „Ich war auf der Suche nach den überlebenden Mitgliedern der DPI, um sie wieder zusammenzubringen und unsere Gruppe als unabhängige Einheit wiederzubeleben. Eine Eliteeinheit aus perfekt ausgebildeten Vampirjägern.“ Er seufzte und senkte seinen Kopf. „Dante will mich aus dem Weg schaffen. Er denkt, wenn er es aussehen lässt, als hätte ich Ihre Freundin umgebracht, finden Sie und Lou einen Weg, mich hinter Gitter zu bringen.“ Maxine lehnte sich in ihrem Sessel zurück und versuchte alles, was er gesagt hatte, zu verarbeiten. „Das erklärt noch nicht, wieso Dante überhaupt in Lous Wohnung war.“ Er schüttelte den Kopf. „Verstehen Sie denn nicht? Sie und Lou haben versucht, herauszufinden, wer diese Frau umgebracht hat – Lydia Jordans

Freundin. Es muss Dante gewesen sein. Er muss befürchtet haben, Sie kämen ihm zu nahe, und wollte herausfinden, was Sie gegen ihn in der Hand hatten.“ „Etwas weit hergeholt, das Ganze“, meinte Maxine, seufzte und grübelte weiter. „Was ich nicht verstehe, ist, warum Sie all diese Vampire umbringen wollen?“ Alle sahen Lou etwas erstaunt an, aber er zuckte nur mit den Schultern und redete weiter. „Hey, wenn sie Ähnlichkeit mit dem haben, was Morgan in ihren Filmen erzählt, dann sind sie so schlecht nicht.“ „Morgan steht unter dem Einfluss eines mächtigen Vampirs, Officer Malone“, versuchte Stiles die beiden zu überzeugen. „Vertrauen Sie mir, ich weiß, wozu die in der Lage sind. Er hat sie vollkommen in seinem Bann. Sie tut alles, was er sagt, wendet sich sogar gegen Menschen, die sie lieben, um ihn zu beschützen.“ „Ich verstehe das nicht“, fragte Maxine, „wie ist so was möglich?“ „Ihre Schwester hat ein besonderes Antigen im Blut. Es wird Belladonna genannt“, sagte Stiles,

„und es bringt sie langsam um.“ „Woher wissen Sie davon?“, schaltete sich nun Sumner ein und sprang auf. „Immer, wenn dieses Antigen im Blut eines Sterblichen festgestellt wurde, ist diese Information an die DPI weitergeleitet worden. Es gibt nicht viele, die es haben. Aber diese Menschen ziehen Vampire an wie Honig Bienen. Die Vampire trinken von ihnen, saugen ihnen das Leben aus. Deshalb sterben sie alle jung. Es liegt nicht an dem Antigen selbst. Es sind die Vampire, die es anzieht. Und wenn wir diesen hier nicht umbringen, wird er immer wieder kommen, immer wieder von Ihrer lieben Morgan trinken, bis sie stirbt. Aber wenn wir ihn aufhalten, kann sie leben.“ Sumner wendete sich ab, doch Maxine hatte seine Tränen bemerkt. „Der Arzt sagt, die Blutkrankheit bringt sie um.“ „Aber er weiß nicht wie oder warum. Jeder mit ihrer Blutgruppe stirbt jung. Ich sage Ihnen, was die Ärzte nicht wissen, Sumner. Sie sterben, weil sie zu Opfern werden. Belladonnablut ist die

Lieblingssorte der Vampire.“ Hatte Maxine das richtig gehört? „Sie wollen mir sagen, dass Morgan gesund werden kann? Sie kann leben?“ Er nickte. „Sie kann leben. Aber wir müssen sie vor dem Vampir beschützen.“ Maxine und Lou wechselten unmerklich einen Blick. Sie wollte unbedingt wissen, ob er diesem Mann glaubte. Gott, wie sehr wünschte sie sich, er spräche die Wahrheit. Aber Lou schüttelte kaum merklich den Kopf. Ehe er allerdings sprechen konnte, kam Lydia in den Raum gerannt, außer Atem und die Augen weit aufgerissen. „Sie ist weg!“, rief sie, „Morgan ist weg!“

Keith 22. KAPITEL In Dantes Körper tobte die Lust, nicht aber die Lebenskraft. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Er war befriedigt, aber doch immer noch erschöpft und schwach. Vielleicht hatte er seinen Höhepunkt nur geträumt, sein Besitzen … Er hob seinen Kopf und blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte. Und runzelte die Stirn, noch desorientierter als vorher. Er lag auf dem Boden. Den Rücken gegen die kalte Steinwand gestützt. Und die Laterne brannte. Er erinnerte sich nicht daran, sie angesteckt zu haben. Er erinnerte sich nicht ans Aufwachen. Er trug kein Hemd. Seine Jeans waren offen und heruntergezogen. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen. Und dann sah er sie, nackt auf einem Tuch aus weißem Satin liegend. „Morgan!“ Dante sprang auf, nur um sofort wieder unter einem Schwindelanfall auf die Knie zu sinken. Eine Hand gegen die Stirn gedrückt, zwang

er sich, sich aufzurichten und auf Knien zu ihr zu rutschen. Sie lag auf der Seite, wie ein Ball zusammengerollt, und ihr Haar bedeckte ihr Gesicht. „Jesus, Morgan …“ Er fasste sie an den Schultern und drehte sie auf den Rücken. Ihre Haare fielen ihr aus dem Gesicht, und er starrte regungslos vor Schreck hinab auf ihre weiße Haut, ihre geschlossenen Augen, ihre geöffneten, blassen Lippen. Er musste sich zwingen, ihren Hals und ihren Köper anzusehen. Und als er es tat, traten ihm Tränen in die Augen. Tränen. Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal um jemanden geweint hatte, schon gar keinen Sterblichen. An ihrer Kehle waren die Spuren seines Eindringens zu erkennen. Und da waren noch mehr. Kleine Einstiche auf ihren Brüsten und ihren Schultern. Ihrem Bauch und ihren Schenkeln. Es war kein Traum gewesen. Er hatte sich aufs Schändlichste an ihr vergangen. Sie auf jede Art genommen. Ihren Körper. Ihr Blut. „Lieber Gott, Morgan, was zum Teufel habe ich getan?“ Er blickte zurück in ihr Gesicht, hob ihren Oberkörper in seine Arme, beugte sich über sie. „Bitte, wach auf. Bitte, Morgan, lebe. Ich kann das

nicht getan haben. Nicht dir.“ Er horchte nach ihrem Atem. Er fühlte nach ihrem Herzschlag. Er suchte nach ihrer Lebenskraft … und spürte sie, immer noch in ihr. Schwach, aber vorhanden. Ihre Augen öffneten sich zu schmalsten Schlitzen, und ihre Lippen bogen sich irgendwie zu dem Schatten eines Lächelns. „Oh, mein Liebster …“ „Sch. Versuch, nicht zu sprechen. Lieber Gott, Morgan, es tut mir leid. Ich …“ „Ich … habe dir etwas mitgebracht.“ Er schüttelte den Kopf, verstand nicht, was sie meinte, aber sie verdrehte ihre Augen, und er folgte ihrem Blick. Er sah die Bücher auf dem wackligen Tisch. „Deine Tagebücher.“ „Meine Tagebücher …“ Er versuchte, sich zu erinnern, was mit ihnen geschehen war. „Ich habe Anweisungen bei einem Anwalt hinterlassen. Sie sollten in ein Lagerhaus gebracht werden, um sie dort sicher – ach, verdammt, was macht das jetzt?“ „Es ist wichtig“, flüsterte sie. Ihr Kiefer krampfte sich zusammen, sie schluckte und begann erneut. „Das Drehbuch auch. Auf einer CD, in einem der

Bücher. Das ich geschrieben habe. Zerstöre es, Dante.“ Er starrte sie an und schüttelte den Kopf. „Du musst wissen, dass du mir vertrauen kannst. Ich habe sie alle zu dir gebracht – um mich zu beweisen.“ „Du machst dir Sorgen, ob ich dir vertraue? Mein Gott, Morgan, sieh, was ich dir angetan habe.“ „Du hast getan, um was ich dich gebeten habe“, flüsterte sie. Sie hob schwach eine Hand und berührte sein Gesicht. „Tränen? Warum weinst du?“ Seine Hände zitterten, als er sich über sie beugte, ihren Kopf gegen seinen Bauch gepresst hielt und vor Qualen bebte, die ihn zu zerreißen drohten. „Wie kannst du das fragen? Morgan, es tut mir so leid.“ Seine Stimme klang rau, Schuldgefühle und Scham brachen über ihm zusammen, während er sie weiter festhielt. „Mach es gut“, hauchte sie. Und sie sprach jetzt, als würde jedes Wort sie Mühe kosten. „Füttere mich. Mach mich unsterblich, wie du es bist.“ Dante legte den Kopf zurück, schloss seine Augen

und malmte mit seinem Kiefer. „Dante … bitte. Du wirst mich nicht sterben lassen. Ich weiß es.“ Eine Träne rollte von seiner Wange und fiel auf ihr Gesicht, als er seinen Kopf neigte, um sie anzusehen. „Ich kann dich nicht verwandeln, Morgan. Nicht jetzt. Ich bin zu schwach. Du würdest die Tortur nicht überleben, und wenn du es wie durch ein Wunder doch tätest, bliebe von dir nicht mehr als ein geistloser Zombie übrig.“ Mit letzter Kraft nahm sie einen tiefen Atemzug. „Ich verstehe nicht … ich dachte …“ „Um die Gabe zu teilen, muss ein Vampir so stark sein wie nur möglich. Und selbst dann laugt es ihn aus und schwächt ihn. Letzte Nacht bin ich fast zu Tode verblutet, ehe der Tagesschlaf meine Wunden heilen konnte.“ „Aber du hast von mir getrunken.“ Er neigte seinen Kopf. „Es ist, weil ich so krank bin, nicht? In meinem Blut steckt kaum noch Lebenskraft. Daran liegt es doch?“ Er nickte, ohne ihr in die Augen zu sehen. „Ich

habe schon früher gesehen, wie die Gabe sich ins Schlechte gewendet hat, Morgan. Ein Vampir, der mit schwachem oder zu wenig Blut zum Leben erweckt worden ist. Seelenlose Hüllen, ohne Verstand, ohne Gedanken, ohne Persönlichkeit, die nur existieren, um sich zu nähren. Monster, wahre Monster. Ich kann dich nicht zu dieser Art von Dasein verfluchen. Das werde ich nicht tun.“ Endlich sah er ihr wieder in die Augen. „Es tut mir leid, liebste Morgan. Es tut mir so leid.“ „Du hast es wieder mal geschafft, nicht wahr, mein Schatz?“ Es war Sarafinas Stimme, die sie hörten, und sie kam aus der Richtung des Eingangs. Dante drehte sich zu ihr um. Sie war ganz in Rot gekleidet, lange, volle Röcke umwallten ihren Körper, mit einem durchsichtigen schwarzen Überkleid bedeckt. Die Menge an Schmuck wurde einer Königin gerecht. „Fina. Gott sei Dank.“ „Danke nicht Gott für mich, Dante. Er hat nichts mit meiner Existenz zu tun.“ Sie sah ihn mit schmalen Augen an. „Sehe ich dort Tränen? Du liebe Zeit, sieh dich nur an. Heruntergekommen zu

einem, der wegen Sterblichen heult.“ Als sie ihren Kopf zurückwarf, klimperten ihre Ohrringe. „Du musst ihr helfen“, flehte Dante sie an. Er sah Sarafinas Wut, spürte sie wie eine rote, heiße Wolke um sie herum, doch er musste es versuchen. „Sie stirbt, wenn du sie nicht verwandelst.“ Sie atmete scharf aus, winkte mit einer mit Ringen beladenen Hand ab und ließ ihre Armreifen dabei klirren. „Wenn du sie so sehr willst, verwandele sie selbst.“ „Ich kann nicht. Ich bin zu schwach.“ „Ach, komm schon, Dante, sie würde dir als Schwachsinnige gut gefallen. Sie wird jeder deiner Launen gehorchen. Für immer deine Sklavin sein, besser als eine Sterbliche. Die sind immer so zerbrechlich, weißt du. Sie könnte für dich jagen, dir dienen. Würde dir das nicht gefallen?“ Er hob seinen Kopf. „Du hast die Vorliebe für geistlose Sklaven, nicht ich.“ „Nein, aber du scheinst das größere Talent zu besitzen, Sterbliche zu Tode zu ficken. Das ist jetzt wohl die, was? Die zweite?“ „Sie ist nicht tot.“

„Lass ihr eine Stunde Zeit.“ „Warum hilfst du mir nicht?“ Sarafina hob ihre Augenbrauen. „Weil du dich von mir abgewendet hast, Dante. Du hast dich offensichtlich entschlossen, dass ich dir als Gesellschaft nicht mehr genüge. Du brauchst jemand neuen. Um mich zu ersetzen.“ „So ist das nicht.“ „Nein? So sehe ich es aber. Ich sage dir etwas, Dante. Wenn du wirklich meine Hilfe willst, lass mich dir helfen, die kleine Schlampe endgültig um die Ecke zu bringen. Es würde mir ein Vergnügen bereiten, das wenige Blut, das du in ihrem blassen, schwachen kleinen Körper gelassen hast, zu verschlingen.“ Langsam ließ Dante Morgans Kopf auf den Boden gleiten und stand dann auf. Er richtete sich auf und wandte sich wutentbrannt Sarafina zu. „Zuerst bringe ich dich um.“ Ihr Schreck entging ihm nicht. Er sah es, einen kurzen Blitz in ihren Augen. Ein Zusammenpressen ihrer Lippen. „Und das beweist, was ich gesagt habe, nicht wahr? Du würdest mich, deine

Lebenspartnerin, für die da umbringen?“ „Du bist nicht meine Partnerin. Auch nicht meine Frau, meine Freundin oder meine Geliebte, Fina.“ „Ich habe dich erschaffen“, flüsterte sie. „Und deshalb gehöre ich dir?“ Sie stand so regungslos und so angespannt da, dass ihr ganzer Körper zitterte. Dann sprach sie. „Zur Hölle mit dir, Dante. Du hast mich betrogen. Verdammt sollst du sein, zusammen mit dem Rest meiner Art! Ich brauche keinen von euch!“ Dann wirbelte sie herum, dass ihre Röcke um sie herum aufstoben und ihr Schmuck schepperte, und floh aus der Tür hinaus, so schnell, dass von ihr nur noch ein verwischter Farbfleck zu sehen war. Morgans leises, aber verzweifeltes Seufzen lenkte ihn von Sarafinas Leid ab – das er selbst deutlich spürte. Ob gerechtfertigt oder nicht, Sarafina litt. Jetzt allerdings hatte er keine Zeit, sich um den Schmerz seiner „Erschafferin“ zu sorgen. Nur um Morgan. „Es ist … alles meine Schuld“, flüsterte sie. „Warum hast du das getan, Morgan? Warum?“ Sie schüttelte den Kopf. „Du warst so schwach.

Ich dachte, du stirbst.“ „Und ist dir nie in den Sinn gekommen, dass du viel leichter sterben kannst als ich?“ Er kniete sich neben sie, hob sie in seine Arme und stand wieder auf. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Nein, du hast darauf vertraut, dass ich es nicht zulasse, nicht wahr?“ „Es ist meine Schuld, nicht deine“, wiederholte sie und legte ihren Kopf an seine Brust. „Ich lasse dich nicht sterben, Morgan.“ Sie schloss die Augen, doch er sah ihre Tränen, die hervorquollen und ihre Wimpern benetzten. Er trug sie in den Gang und hindurch, bis das Licht weit hinter ihnen lag. „Die Tagebücher“, sagte sie plötzlich, „du musst sie mitnehmen, Dante. Und die anderen aus dem Haus holen.“ „Das können wir gemeinsam tun, wenn es dir wieder gut geht.“ „Sie sind im Safe, in meinem Arbeitszimmer. Das Jahr, in dem ich dich gefunden habe – es ist der Code. Neunzehn siebenundneunzig.“ „Ich lasse dich nicht sterben, Morgan.“ Er war

schwach und wurde mit jeder Sekunde schwächer. Aber verdammt, er konnte sie retten, sie beide retten. Er würde sie retten. „Es ist nicht deine Schuld, Dante“, flüsterte sie. Endlich erreichten sie den Ausgang der Höhle, und es gelang ihm tatsächlich, Morgan festzuhalten, während er den Rand der Klippe hinaufkletterte. Normalerweise hätte er sich mit Leichtigkeit einfach abstoßen und springen können. Aber nicht heute Nacht. Heute Nacht gelang es ihm kaum, den steilen, steinigen Pfad zu erklimmen, ohne sie fallen zu lassen, und als er endlich ebenen Boden erreicht hatte, war er außer Atem, und seine Muskeln zitterten vor Anstrengung. Er hielt auf das Haus zu. „Dante?“, flüsterte sie. „Nein! Bring mich nicht zurück zu ihnen – ich will bei dir bleiben.“ „Ohne Hilfe musst du sterben, Morgan.“ „Dann sterbe ich in deinen Armen. Ich werde meinen letzten Atem gegen deine Lippen hauchen. Dante, bring mich nicht dorthin …“ Er blieb stehen und blickte auf diese Frau hinab, die ihr eigenes Leben riskiert hatte, um seines zu

retten. Die ihm so vollkommen vertraut und sich ihm so selbstlos hingegeben hatte. Vor nicht allzu langer Zeit war schon der Gedanke für ihn unvorstellbar, jemand könnte ihn so lieben, wie diese zerbrechliche Kreatur es scheinbar tat. Seine eigene Familie hatte sich gegen ihn gewendet. Er hatte sein ganzes Leben lang niemandem vertraut. Aber ihr vertraute er. Und er merkte es, zu spät – verdammt sollte er sein, dass er schon gewusst hatte, er konnte ihr vertrauen, ehe sie ihm die Tagebücher und ihre Arbeit überlassen hatte. Ehe sie sich selbst bis an die Grenze ausgeblutet hatte, um sein wertloses Leben zu retten. Er liebte sie. Liebevoll beugte er sich näher zu ihr, nahm ihren Kopf in seine Hand, um ihr Gesicht anzuheben, und küsste sie. Er küsste sie vorsichtig und zärtlich. „Bleib für mich am Leben, Morgan. Nur eine Nacht, damit ich trinken und stark werden kann. Einen Tag, damit ich schlafen und meine Kraft zurückerlangen kann. Dann komme ich zu dir. Ich schwöre es. Keine Armee aus Sterblichen kann mich je wieder von dir trennen.“ Er küsste sie wieder, aber dieses Mal erschlafften

ihre Lippen an seinen, ihr Kopf neigte sich zur Seite, und ihre Augen waren geschlossen. Er hörte Stimmen, sah, wie ihre Familie und ihre Freunde mit Taschenlampen über den Rasen rannten und Morgans Namen schrien. Laut genug, damit sie ihn hören konnten, rief er nach ihnen. „Hier. Sie ist hier.“ „Dahinten ist er!“, ertönte eine Stimme. „Er hat Morgan!“ Die Sterblichen kamen auf ihn zugerannt. Er legte Morgan sanft in das kühle Gras, küsste sie auf die Stirn und drehte sich dann um, damit er fliehen konnte. Er musste überleben, musste stärker werden, nur so konnte er sie retten. Nach drei Schritten drang der Pflock in seinen Schenkel. Unerträglicher Schmerz durchfuhr ihn, als er versuchte, trotzdem weiterzurennen. Gewicht auf das Bein zu legen, verstärkte die Qual nur noch mehr, und er spürte, wie das Blut aus seinem Körper pumpte. Noch drei Schritte. Er fiel hart auf die Knie, versuchte zu kriechen, und schaffte es schließlich, auf dem Bauch robbend, bis zu den Klippen. Bis an den Rand. Wenn er sich nur

herüberretten konnte, gab es vielleicht noch eine Chance … „Endlich. Du Hurensohn. Endlich habe ich dich.“ Eine Hand krallte sich in seine Schulter und rollte ihn unsanft auf den Rücken. Stiles starrte auf Dante hinab. Und dann lächelte er. „Oh Gott, oh Gott, oh Gott …“ Maxine kniete neben ihrer Schwester. Morgan lag regungslos auf der Erde, einen weißen Morgenmantel um ihren Körper gehüllt, frische Bissspuren an ihrem Hals. Jetzt war es keine Frage mehr. „Du siehst sie doch auch? Du kannst sie dieses Mal auch sehen oder nicht?“ Neben ihr, einen Arm um ihre Schultern gelegt, nickte Lydia. „Ich s-sehe sie. Ich kann es nicht glauben, aber ich – ich sehe sie.“ David sagte nichts; er war sprachlos, zu Tode geängstigt. Lou hatte seine Finger um Morgans Handgelenk gelegt. Er sah auf und nickte einmal kurz. „Sie lebt.“ Maxine war dem Zusammenbruch nahe, ihr Gesicht verzog sich, und ein Schluchzen erstickte

sie fast, so heftig war ihre Erleichterung. „Wir sollten sie ins Haus bringen.“ Lou blickte über den Rasen, runzelte die Stirn und stand auf. „Machen Sie das, David. Ich brauche nur eine Sekunde.“ Maxine folgte seinem Blick zu der Stelle, an der Frank Stiles sich über die gefallene Gestalt beugte, den Mann, der Morgan das angetan hatte. Lou schritt hinüber zu ihnen, und auch Max stand auf. „Bleib bei ihr“, sagte sie zu Lydia, noch als David Morgan in seine Arme nahm und auf das Haus zuging. Dann rannte sie los, um Lou einzuholen. „Endlich habe ich dich“, triumphierte Stiles, „dieses Mal wirst du mir nicht entwischen.“ Als Maxine an Stiles’ heimtückischem Grinsen vorbei zu dem Mann auf dem Boden sah, stockte ihr der Atem. Er sah genauso aus wie die Bilder, die Morgan gezeichnet hatte – die Bilder, von denen die Wände ihres Arbeitszimmers bedeckt waren. „Dante, nehme ich an?“ Er nickte, hatte aber offensichtlich starke Schmerzen. Sie musterte ihn von oben bis unten, bemerkte dann das Blut, das um den metallenen

Pflock in seinem Schenkel hervorquoll, und handelte instinktiv. Sie fiel auf die Knie und zerriss den Jeansstoff. „Er muss eine Arterie oder so getroffen haben. Mein Gott, wie das blutet …“ „Seine Art blutet immer so stark“, spuckte Stiles aus. „Lassen Sie ihn ausbluten. In ein paar Minuten ist er tot.“ „Wenn ich sterbe“, murmelte der Vampir durch zusammengebissene Zähne, „stirbt auch Morgan.“ „Wage es nicht, meine Schwester zu bedrohen“, fauchte Maxine ihn an. „Ich glaube, das war keine Drohung, Maxine“, sagte Lou. Er fiel auf ein Knie, packte den Pflock und sah Dante an. Dante nickte einmal knapp, und Lou zog den Pflock, der eine Pfeilspitze hatte, in einer glatten Bewegung aus seinem Bein. Als er es tat, legte Dante seinen Kopf zurück und heulte vor Schmerz auf. Lou wusste, was er zu tun hatte: Er fädelte seinen Gürtel aus den Schlaufen, wickelte ihn um den Schenkel über der Wunde, zog ihn fest zusammen und beobachtete, wie die Blutung langsam abebbte. Er suchte in seinen Taschen, brachte ein Klappmesser zutage und stach ein Loch

in das Leder, damit er den Gürtel festschnallen konnte. Er zog ihn so fest, dass Dantes Schenkel einer Sanduhr glich. „Ich verstehe nicht, warum du ihm hilfst“, fragte Maxine endlich.“ Warum helfen wir ihm nach allem, was er Morgan angetan hat?“ „Nein, nein, Lou hat recht“, erwiderte Stiles leise, „er hat für meine Leute viel mehr Wert, wenn er am Leben ist.“ Dantes Blick schnellte zu Lou. Und es war für Maxine verdammt überraschend, einen Anflug von Angst in den Augen des Vampirs zu entdecken. Mit seinen nächsten Worten lenkte Lou ihre Aufmerksamkeit allerdings von dieser Einsicht ab. „Er hat Morgan zu uns gebracht. Er hat uns gerufen, damit wir ihn bemerken, und sich für seine Mühen von Ihrer verdammten Armbrust erschießen lassen. Wo hatten Sie das Teil denn überhaupt versteckt, Stiles? Ich habe Sie doch durchsucht, ehe ich Sie ins Haus gelassen habe.“ „Die war in meinem Wagen. Ich habe sie sofort geholt, als klar war, dass Morgan vermisst wird.“ „Er hat sie zurückgebracht“, wiederholte Lou.

„Das musste er nicht tun. Wenn er versucht hätte, sie umzubringen, würde er sich die Mühe dann machen?“ Stiles fluchte nachdrücklich und verdrehte die Augen. „Ist doch egal. Jetzt ist er mein Gefangener. Bringen Sie ihn zu meinem Wagen, und ab da übernehme ich. Sie alle werden von ihm nicht weiter belästigt werden.“ Lou hob die Augenbrauen. „Sie bringen niemanden irgendwohin, Stiles. Bewegen Sie Ihren Hintern mit den anderen zum Haus, oder verschwinden Sie von hier.“ „Das hier ist mein Projekt, Malone. Ich bin verdammt noch mal ein Agent der Regierung.“ „Sie waren früher ein Agent der Regierung, Kumpel. Meine Marke andererseits ist noch aktuell, und wenn Sie nicht als mein Gefangener enden wollen, dann sollten Sie die Sache ab jetzt mir überlassen.“ Obwohl sie das alles überhaupt nicht einordnen konnte, verstand Maxine doch Lous fragenden Blick. Sie sah zu dem Mann am Boden, dann wieder zu Lou. Angewidert schüttelte sie den

Kopf. Sie stand auf, packte Stiles am Arm und zog ihn hinter sich her zurück zum Haus. Er wehrte sich kaum gegen sie. Das war ja mehr als besorgniserregend. „Wenn Sie diesem Tier nur die kleinste Gelegenheit bieten, macht er Ihre Schwester kalt. Genau wie Ihre Freundin.“ „Warum verschwinden Sie nicht einfach und überlassen uns die Sache?“ „Oh, nein. Ich gehe nirgendwo hin.“ „Wenn Sie bleiben, spielen Sie nach unseren Regeln. Sonst muss Lou Sie nicht mehr verhaften, weil ich Ihnen etwas Schlimmeres antue. Verstanden?“ Er verzog genervt das Gesicht, nickte aber. „Danke“, sagte der Vampir. „Dank mir nicht. Ich kann dich nicht einfach gehen lassen, das weißt du.“ „Du musst mich gehen lassen.“ Lou schüttelte den Kopf. „Was hast du vorhin gemeint? Du hast gesagt, wenn du stirbst, muss auch sie sterben.“ Der Vampir sah ihn an, suchte nach etwas in

seiner Miene. „Glaubst du mir etwa, wenn ich versuche, es zu erklären?“ „Ich glaube überhaupt nichts. Aber ich will es hören.“ Dante schwieg eine ganze Weile. „Ich kann sie retten. Als Einziger.“ „Wie?“, fragte Lou. Dante betrachtete den Mann forschend und seufzte. „Ich kann es dir nicht sagen. Nur, dass ich gesund werden muss. Ich muss wieder stark werden, ehe ich Morgan helfen kann.“ „Aha.“ Lou schien nicht sehr beeindruckt. „Und wie soll das gehen?“ Es fiel Dante schwer, die Wahrheit zu sagen. „Ich muss trinken.“ „Ich soll dich also laufen lassen, damit du irgendeinen Unschuldigen beißen kannst und den genauso übel zugerichtet wie Morgan zurücklässt, oder noch schlimmer?“ Er half dem Verdächtigen hoch, legte sich einen Arm des Mannes um die Schulter und schleppte ihn langsam zum Haus. Der Kerl hatte ziemlich starke Schmerzen, so viel wusste Lou jedenfalls. „Das

kann ich nicht machen.“ „Ich töte nicht.“ „Und wenn du es tätest, würdest du es zugeben?“ Dante zuckte jedes Mal zusammen, wenn er sein Bein belastete. „Nein. Wohl nicht.“ „Es liegt in meiner Verantwortung, dich sicher zu verwahren“, erklärte Lou, der sich auf dem Weg alles genau zu überlegen versuchte. „Dich wie jeden anderen Fall zu behandeln ist das Beste, was ich tun kann. Du bist mein Hauptverdächtiger. Allem Anschein nach hast du Morgan angefallen. Ich kann dich nicht verhaften und eine Kaution veranschlagen lassen – aber ich kann dich festhalten, wo du keinen Schaden mehr anrichtest, bis ich mir auf alles einen Reim gemacht habe.“ Der Vampir seufzte, und Lou war sich nicht sicher, ob es ergeben oder verzweifelt klang. „Sorg dafür, dass sie am Leben bleibt“, bat er. „Du weißt doch, wie krank sie ist. Selbst wenn sie überlebt, was auch immer heute Nacht passiert ist, hat sie nicht mehr lange.“ Der Vampir schloss seine Augen. „Sorg einfach dafür, dass sie lebt. Versprich mir …“

Lou nickte. „Ich tue alles.“ Das schien den Vampir zu trösten. „Du scheinst ein anständiger Mann zu sein für einen Sterblichen“, sagte er dann, „deshalb tut es mir um so mehr leid …“ Lou runzelte die Stirn. „Was tut dir lei…“ Er kam nicht zum Ende. Etwas – eine Faust wahrscheinlich, auch wenn es sich eher wie eine Kanonenkugel anfühlte – schmetterte in seinen Schädel, und er brach zusammen. Morgan drehte ihren Kopf von einer Seite zur anderen, und ihr Körper bebte. Sie war so schwach, so unglaublich schwach. Maxine saß an ihrer Seite auf dem Sofa und gab ihr Bestes, um ihre Schwester ruhig zu halten, während Lydia auf und ab ging. David Sumner saß in einem kleinen Stuhl in der Ecke. Ihm standen Tränen in den Augen. Morgan wimmerte und murmelte vor sich hin. Ab und zu waren die unverständlichen Laute, die sie von sich gab, unterbrochen von einem deutlichen Wort. Dante. Es brach Maxine das Herz. Sie leckte sich die Lippen und sah auf, als Lou das Zimmer

betrat. Er war allein. „Lou?“ „Es tut mir leid.“ Lou rieb sich den Kopf. „Er ist mir entwischt.“ Eine ganze Reihe Flüche verpestete den Raum, und Maxine starrte Frank Stiles wütend an, der im Hintergrund saß und alles beobachtete. Jetzt schnappte er sich seine Armbrust vom Boden und hastete zur Tür. Lou trat ihm in den Weg. „Das ist nicht Ihre Sache“, sagte er. „Er wird wieder töten, wenn Sie ihn gehen lassen. Er muss, sonst stirbt er selber. Sie haben selbst gesehen, wie schwach er war.“ „Ich glaube nicht, dass er jemanden umbringen wird“, erwiderte Lou. Er sah zu Maxine, ehe er fortfuhr. „Er hätte Morgan umbringen können. Verdammt, er hätte gerade eben mich umbringen können, wenn er das gewollt hätte.“ „Lou, was, wenn du dich irrst?“, flüsterte Maxine. „Was, wenn nicht?“, fragte Lou. „Maxine, er sagt, er kann sie retten. Was, wenn er die Wahrheit sagt?“

„Oh, bei allen … – glauben Sie das wirklich? Dem Wort eines Tieres, verdammt noch mal? Eher als meinem, der zu Ihrer Art gehört?“ „Mr. Stiles, ich glaube, niemand hier im Raum gehört zu Ihrer Art“, murmelte Lydia. David Sumner schaute sie an, dann blickte er zu Stiles. „Lydia, du kannst doch nicht auf der Seite eines Vampirs sein. Mein Gott, sieh dir Morgan an.“ „Ich sehe sie, David. Und ich höre sie auch. Und du? Sie liebt ihn. Sie liegt im Sterben und kann nur an ihn denken. Sagt dir das nicht irgendetwas?“ „Es sagt mir, dass sie sich in einer Trance befindet, wie Stiles gesagt hat.“ „Oder Stiles lügt, und Morgan kennt die Wahrheit“, entgegnete Lydia fest. David sprang auf. „Er hat deiner Tochter Löcher in den verdammten Hals gebissen, Lydia!“ Ihr Kopf fuhr hoch, ihre Augen weiteten sich. Maxine hatte das Gefühl, ihr eigenes Herz hörte auf zu schlagen, als sie von David Sumner zu Lydia und wieder zurück blickte. „Wa-was hast du gerade gesagt?“ Und an Lou gerichtet, wiederholte

sie ihre Frage: „Was hat er gerade gesagt?“ David vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Es tut mir leid. Es ist einfach – es tut mir leid.“ Seine Stimme klang gedämpft. Langsam ging Maxine auf Lydia zu. Einen Moment lang erforschte sie ihr Gesicht, ihre Züge. Voller als ihre eigenen und verhärmter. Aber plötzlich erkannte sie die Ähnlichkeiten. „Du … du bist … unsere Mutter?“ „Ich wollte nicht, dass ihr es je erfahrt.“ Lydia fiel es so unendlich schwer, diese Worte zu sagen. „Warum?“ Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Oh, komm schon. Ist das etwa deine Traumvorstellung, Maxine? Dass deine echte Mutter eine Ausreißerin war, die ihren Körper auf der Straße verkauft hat, um über die Runden zu kommen?“ Maxine stiegen Tränen in die Augen. „Das ist zu viel auf einmal. Ich kann damit jetzt nicht umgehen.“ Sie blinzelte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Jesus, wo bleibt der verdammte Krankenwagen?“ Sie eilte davon und

sah aus dem Fenster, ließ den Vorhang wieder zurückfallen und drehte sich um. „Hast du es die ganze Zeit gewusst? Hat Lou uns deshalb bekannt gemacht?“ Plötzlich begann Lou zu sprechen, ehe Lydia antworten konnte. „Sie wusste es nicht, Max. Ich … ich hatte einen Verdacht. Ich wusste, dass du am gleichen Tag Geburtstag hast, an dem Lydia immer eine Kerze anzündet und den ganzen Tag um die Babys weint, die sie aufgeben musste. Und deshalb habe ich euch zusammengebracht. Damit ihr es selber herausfinden könnt.“ Voller Unverständnis starrte Maxine ihn an. Ihr Gesicht war jetzt feucht. „Du hättest es mir sagen müssen. Wie konntest du es mir nicht sagen?“ „Ich war mir ja selber nicht einmal sicher. Da konnte ich dir doch nichts sagen.“ „Na, das ist ja alles sehr berührend“, schaltete Stiles sich endlich ein und trat näher an die Tür, „aber je länger ich hier herumstehe und mir diese Seifenoper anhöre, desto weiter entkommt dieses Tier mir.“ Er hielt auf die Tür zu. Wieder stellte Lou sich ihm in den Weg.

„Aus dem Weg, Malone.“ „Geben Sie mir die Armbrust, Stiles.“ Stiles lächelte finster und schüttelte den Kopf. „Greifen Sie zu, wenn Sie können.“ „Hört sich an, als glauben Sie, ich könne es nicht.“ Das Lächeln des Mannes wurde breiter, und er verzog das vernarbte Gesicht zur Karikatur eines spöttischen Grinsens. „Sie sind alt, fett, aus der Form und müde.“ „Ja, vielleicht …“ Lou zuckte mit den Schultern, zog seinen Revolver und drückte den Lauf in Stiles’ Bauch, alles in einer glatten Bewegung. „Aber ich habe das hier.“ Stiles hob seine Hände über den Kopf, und sofort hatte Lou ihm die Armbrust entwendet. „Jetzt setzen Sie sich.“ Stiles starrte ihn wütend an, ging aber zurück in seine Ecke und setzte sich. Eine Sekunde später ertönte draußen Sirenengeheul, das immer lauter wurde, bis rotes und weißes Licht durch die Fenster hineinleuchtete. Lou steckte seine Waffe weg und drehte sich um,

kurz bevor die Sanitäter mit ihren roten Ausrüstungskästen hineinkamen. Maxine stand daneben, sah allem, was geschah, zu und sah doch nichts davon. Sie war desorientiert, verwirrt und stinkwütend. Und dann stand Lou neben ihr und zog sie an sich. „Du siehst furchtbar aus.“ „Du hättest es mir sagen müssen, Lou.“ „Du hattest so viel anderes um die Ohren.“ „Tatsache.“ Sie dachte noch einmal über die letzten Tage nach. Sie hatte herausgefunden, dass sie eine Zwillingsschwester hatte, diese Schwester kennengelernt und erfahren, dass sie bald sterben würde. Ihre beste Freundin lag im Koma, aus dem sie vielleicht nie wieder aufwachte. Sie hatte herausgefunden, dass die ehemalige Hure mit einem Herz aus Gold, auf die sie eifersüchtig gewesen war, in Wirklichkeit ihre Mutter war. Und heute Nacht hatte sie ihren ersten Vampir getroffen. Von Angesicht zu Angesicht. Das war weiß Gott ziemlich viel auf einmal. „Fahr mit deiner Schwester ins Krankenhaus. Pass auf sie auf. Halt ihn von ihr fern.“

„Dante oder Stiles?“ „Beide. Um Stiles solltest du dir allerdings keine Sorgen machen müssen. Den nehme ich mit.“ „Und wohin?“ „Ich muss Dante finden.“ Die Sanitäter murmelten etwas, über Morgan gebeugt, und waren dabei, sie auf einer Trage zu sichern. Maxine sah ihnen einen Augenblick lang zu, ehe sie weitersprach. „Lou, du hast Stiles gerade davon abgehalten, Dante nachzulaufen – und ich könnte dich dafür treten. Jetzt willst du selber hinter ihm her und Stiles mitnehmen?“ „Ich habe Stiles davon abgehalten, ihn wie ein Tier zur Strecke zu bringen. Ihn umzubringen – oder noch Schlimmeres. Das habe ich nicht mit ihm vor.“ „Nein, du willst ihn wie einen Menschen zur Strecke bringen, was? Ihm seine Rechte vorlesen, wenn du ihn hast, und so weiter?“ Lou senkte seinen Kopf. „Irgend so etwas, ja.“ „Er hat versucht, meine Schwester umzubringen. Er ist kein Mensch.“ „Das weiß ich.“

„Dann solltest du noch etwas wissen.“ Sie nahm ihm die Armbrust aus den Händen, als sie ihre Schwester aus der Tür schoben. „Du kannst ihn so viel beschützen, wie du willst. Aber wenn er versucht, noch einmal in Morgans Nähe zu kommen, bringe ich ihn eigenhändig um. Und ich lasse mich von niemandem aufhalten. Nicht einmal von dir.“ Dann drehte sie sich um, nur um gegen Stiles zu rennen. Er nickte fast wohlwollend und drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. „Meine Handynummer. Sie sehen hier als Einzige die Dinge, wie sie sind. Vielleicht brauchen Sie mich noch.“ Sie schob ihn zur Seite und eilte durch die Tür, den Sanitätern hinterher. Auf dem Weg riss sie eine Jacke von einem Haken und legte sie sich über den Arm, um die Waffe zu verbergen. Sie stopfte Stiles’ Karte in ihre Jeanstasche. Im letzten Augenblick drehte sie sich noch einmal zu Lydia um. „Du und David, ihr könnt im Auto hinterherkommen, okay? Ich will bei ihr sein, im Krankenwagen.“ Lydia sah erst erstaunt aus, dann erleichtert, sie

lächelte zittrig und nickte ihrer Tochter zu. „Wir sind direkt hinter euch.“ Maxine drehte sich wieder um und folgte den Sanitätern. Auf halbem Weg zum Krankenwagen blieb sie noch einmal stehen. „Lou?“ Er war da, nur ein paar Schritte hinter ihr. Sie hatte gespürt, wie er ihr gefolgt war. „Sei vorsichtig, okay? Kehr dieser Schlange Stiles nicht ein einziges Mal den Rücken zu. Dante auch nicht.“ „Hatte ich nicht vor.“ Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Sie hasste ihn, weil er diese Bestie hatte laufen lassen. Nein, das tat sie nicht. Nicht richtig. „Ma’am?“ Maxine drehte sich zu dem Sanitäter um, der sie gerufen hatte. Er hielt die Krankenwagentür für sie auf. „Wir müssen los, Ma’am.“ Sie nickte, ging schnell zu dem Fahrzeug und kletterte hinein. Lou blickte ihr nach und fühlte sich erbärmlich. Er hatte sie enttäuscht. In ihren Augen hatte er gesehen, dass sie sich betrogen fühlte. Er sollte auf

ihrer Seite sein und ihre Schwester rächen. Verdammt, ein Teil von ihm wollte das auch, aber man lebte nicht zwanzig Jahre als Cop und nahm dabei nichts von der Ausbildung und Erfahrung mit. So war er eben, es war Teil von ihm. Etwas an Stiles stimmte nicht. Etwas an dem Profil, das Stiles ihnen über Dante vorgelegt hatte, passte nicht zusammen. Etwas stimmte nicht, er spürte es bis in die Zehenspitzen, und verdammt noch mal, sein Bauchgefühl sagte ihm, das Monster war bei der ganzen Geschichte der Gute. Es ergab keinen Sinn, aber so war es eben. Der Krankenwagen fuhr davon, und David und Lydia folgten dicht dahinter in Sumners Mercedes. Lou drehte sich um und ging wieder ins Haus. Aber als er es betrat, war Stiles natürlich schon lange verschwunden.

Keith 23. KAPITEL Unter normalen Umständen wäre Dante zu Fuß schneller gewesen. Aber heute Nacht brauchte er einen Wagen. Anstatt sich also an einen abgeschiedenen Ort zurückzuziehen, um sich auszuruhen, humpelte er mühselig in die Stadt, auf den Gehwegen entlang, und suchte die geparkten Wagen nach steckenden Schlüsseln ab. Lous Gürtel war fest um seinen Schenkel geschlungen, dennoch sickerte mit jedem Schritt mehr Blut aus der Wunde. Seine Jeans waren durchtränkt, und er hinterließ als sichtbare Spur ein dunkelrotes Band. Der Schmerz machte ihn völlig teilnahmslos. Und das Schicksal schien sich gegen ihn verschworen zu haben, denn jedes Auto in seiner Umgebung war verschlossen. Kein Schlüssel in Sicht. In all den Jahren hatte er nie die Kunst des Autodiebstahls erlernt, und das bedauerte er jetzt. Wenn er überlebte, würde er sich diese Fähigkeit aneignen. Scheinwerfer leuchteten ihm in die Augen, und

Dante zog sich instinktiv in den schattigen Schutz eines Eingangs zurück. Das Auto, ein weißer Ford Mustang, rollte in einen leeren Parkplatz. Das Radio plärrte laut. Dann wurde es still, und die Lichter gingen aus. Dante schloss die Augen und konzentrierte sich. Er warf sein Netz weit aus, suchte, siebte in seinen Gedanken durch tausend Stimmen, die in der Nähe waren, näher, noch näher, bis er sich auf den Fahrer eingestellt hatte. Der junge Mann war fröhlich betrunken und summte. Er dachte an das Mädchen auf dem Beifahrersitz, und wie willig sie war. Dachte daran, wie oft er es ihr besorgen konnte, ehe der Alkohol, den er getrunken hatte, ihn in den Schlaf lullte, und nahm sich vor, nichts mehr zu trinken, damit er das meiste aus ihr herausholen konnte. Dante schlich sich leise wie ein Einbrecher in seine Gedanken, und jedes Mal, wenn sie sich den Schlüsseln in der Zündung zuwendeten, lenkte Dante ihn ab, indem er ihn sanft zurück zu Alkohol und Sex und der Frau neben ihm zurückführte. Es war überhaupt nicht schwer, wenn sie betrunken

waren. Innerhalb eines kurzen Augenblicks hatte der junge Mann das Auto verlassen, es lachend umrundet, einen Arm um das Mädchen geschlungen und war auf unsicheren Beinen zu einem der Gebäude an der Straße getorkelt. Dante spürte, wie sie die Treppe hinauf zu der Wohnung über einem Laden gingen. Er ließ sie hineingehen, ehe er sich aus den Gedanken des Mannes zurückzog. Allein diese einfache Anstrengung hatte ihn fast seine ganze Energie gekostet. Er richtete sich mühsam auf und marschierte los, wobei er sein Bein hinter sich herzog. Er schaffte es bis zum Wagen und sah erleichtert, dass die Schlüssel wirklich in der Zündung steckten. Er riss die Tür auf, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr los. Er brauchte Blut, und seine Wunde musste genäht werden, damit er nicht verblutete, ehe der Tagesschlaf ihn heilen konnte. Fina hatte ihn verlassen. Auch wenn es sich aus ihrer Sicht sicherlich anders darstellte. Er musste es zu Belinda schaffen, der Frau, die er sich in Bangor

hielt. Eine Stunde Autofahrt benötigte er bis zu ihr. Zu ihrer Wohnung. Er hatte eine Schlüsselkarte, die ihn einließ, und schaffte es wirklich bis zum Fahrstuhl, ohne von jemandem gesehen zu werden. Zu dieser nachtschlafenden Stunde war das Haus dunkel und fast vollkommen still. Gott sei Dank. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Er fiel gegen ihre Tür und klopfte schwach mit der Faust dagegen. Als sie nicht antwortete, öffnete er selbst und stolperte hinein. Belinda lag auf dem Sofa. Sie trug Rot und hieß ihn mit leeren Augen willkommen. Nein. Jetzt erst bemerkte er es. Sie trug überhaupt nichts. Ihre Pulsadern waren aufgeschnitten. Blut war über die Wände gespritzt, teilweise bis an die Decke, war in den Teppich eingedrungen und ins Sofa. Ihr ganzer Körper war beschmiert. Und es war altes Blut. Totes Blut. Verschwendet. „Dachtest du, ich weiß nichts von ihr, Dante?“ Dante fuhr herum und geriet fast aus dem Gleichgewicht durch die plötzliche Bewegung. Hinter ihm stand Stiles und grinste ihn mit seiner

verzerrten Karikatur eines Grinsens an. „Ich konnte deine kleine lebende Blutbank nicht am Leben lassen. Du brauchtest sie zu sehr. Ich wusste, du würdest heute Nacht herkommen.“ „Sie war unschuldig. Du herzloser Bastard.“ Dante versuchte, sich auf ihn zu stürzen, brach stattdessen aber zusammen und fing sich gerade noch an einem Tisch. Er stand gebeugt da und wurde immer schwächer. „Der Zweck heiligt in diesem Fall die Mittel. Was du nicht weißt, ist, dass ich einige der Männer, die für die DPI tätig waren, wieder zusammengebracht habe. Oh, wir sind nicht viele. Nur eine Handvoll. Überlebende des berühmten Vampiraufstands von White Plains.“ Dante schüttelte den Kopf. „Die Regierung …“ „… hat nichts mit uns zu tun. Wir werden privat unterstützt. Eure Art sollte sich in Acht nehmen, von wem sie trinken, Dante. Reiche Männer üben gern Rache, und sie können es sich leisten, dafür zu bezahlen.“ Keuchend gelang es Dante, seinen Kopf aufrecht zu halten, obwohl er ihm auf die Brust fallen

wollte. „Bessere Auftragskiller“, murmelte er. „Vampirjäger. Wenn man uns nicht bezahlt, tun wir es … einfach zum Spaß.“ Hinter Stiles traten drei weitere Männer ein, alle bewaffnet. Einer hatte eine Pistole, einer eine Armbrust, der dritte einen Pflock. Dante musste kurz die Augen schließen, so sehr bediente die dritte Waffe das Klischee, und schüttelte den Kopf. „Wie ich sehe, habt ihr einen Anfänger dabei.“ Stiles lachte. Es war ein tiefes, ehrlich belustigtes Geräusch – und doch gleichzeitig gefährlich. „Schön, dass du in so einer Situation noch Witze machen kannst“, sagte er schließlich. „Nein, Dante, das ist kein Anfänger. Der Pflock ist mit einer neuen Chemikalie ausgerüstet, von der wir glauben, dass sie das Ende deiner Art sein wird. Natürlich können wir das nicht wissen, ehe wir es nicht ausprobiert haben.“ Er trat näher und hob Dantes Kinn an. „Rate, wer unser Versuchskaninchen sein darf?“ All seine Kraft, die ihm noch blieb, legte Dante in die Faust, die er jetzt in Stiles’ Magen rammte. Stiles krümmte sich zusammen, stolperte

rückwärts, doch die anderen drei traten vor. „Bleibt genau da stehen.“ Lou Malone, der freundliche Cop, stand plötzlich mit gezogener Waffe im Türrahmen, und die Männer im Raum erstarrten. „Fallen lassen!“, rief Lou. Waffen fielen zu Boden. „Gegen die Wand da hinten. Macht schon, bewegt euch. Gesicht zur Wand. Genau so“, sagte er, während er sie antrieb. „Hände hinter den Kopf. Füße auseinander, Stirn an die Wand. So ist es besser.“ Er zuckte mit dem Kopf in Dantes Richtung. Dante nickte und machte sich auf zur Tür, bückte sich aber auf dem Weg, ging auf ein Knie und hob den hölzernen Pflock auf. Sobald er seine Hand um das Holz geschlossen hatte, begann seine Haut zu brennen. Er ließ ihn schnell wieder fallen, umklammerte sein Handgelenk und starrte schockiert auf seine Handfläche, von deren verbrannter Haut Qualm aufstieg. Er kämpfte sich aufrecht und stolperte in den Flur. „Ich habe einen Wagen draußen“, meinte Lou,

„lass ihn an und warte auf mich. Ich brauche nur eine Sekunde.“ Lou schnappte sich das Telefon und wählte den Notruf. Dante schleppte sich nach unten, um im Auto zu warten. Lou schlug den Männern mit dem Griff seines Revolvers auf den Kopf. Dann legte er seine Handschellen um ein altes Heizungsrohr und fesselte zwei von ihnen daran. Er schloss die Tür und ließ sie liegen. Sie würden hoffentlich so bleiben, bis die Polizei ankam. Wenigstens eine kurze Weile sollte sie das aufhalten. Lange genug, um seinen übernatürlichen Gefangenen in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich war die Verfolgungsjagd damit noch lange nicht zu Ende, aber wenigstens konnte Stiles sich erst einmal nicht mehr einmischen. Es überraschte ihn, als er zurück zu seinem Wagen kam und Dante zusammengesackt darin vorfand. Er konnte nicht glauben, dass der Vampir nicht wieder geflüchtet war. Er stieg ein, fuhr den Wagen zurück zu seinem Hotel in Easton, wo er den Hintereingang benutzte,

um den Vampir hinauf in seine Suite zu bringen. Dante kam kurz wieder zu Bewusstsein, als Lou ihn mit vollem Körpereinsatz ins Hotel schleifte, in den Fahrstuhl und hoch zu seinem Stockwerk. Drinnen nahm er den ausgelaugten Vampir gleich mit ins Badezimmer und setzte ihn mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Dante bewegte sich nicht. Mist. Vielleicht war er schon tot. Lou hatte keine Ahnung, wie er das feststellen sollte. Konnte man einen Puls fühlen? Hatten Vampire einen Puls? Er fand eine Schere, eine Nadel und ein Stück Faden in Lydias Kulturbeutel. Okay. Also konnte er den Kerl wenigstens zusammennähen. Er blutete noch immer, sodass sich mittlerweile eine Lache auf dem Badfußboden gebildet hatte. Lou benutzte die Schere, um die Jeans direkt unter der improvisierten Aderpresse abzuschneiden. Er zog das durchnässte Stück Denim ab und warf es in die Badewanne. Dann blickte er von Dantes glänzend rotem Bein zu Nadel und Faden, beides noch auf der Anrichte. „Mist.“ Er stand auf und ging in den Teil der Suite, der als

Wohnzimmer diente. Dort öffnete er die Minibar und nahm zwei kleine Flaschen heraus. Whiskey und Wodka. Er drehte den Verschluss von der Whiskeyflasche ab, legte sie an seine Lippen und trank sie in einem Zug leer. Dann schraubte er den Verschluss der Wodkaflasche ab und nahm sie mit zurück ins Badezimmer. Er schüttete etwas über die Wunde und spülte das Blut auf diese Weise aus, als Dante vor Schmerz zu stöhnen begann. Als Lou ihn ansah, waren seine Augen offen. „Ich dachte schon, du bist tot.“ „Was zum Teufel machst du da mit mir?“ „Unterbrich mich, wenn ich falschliege, aber ich glaube, du bist dabei, bis auf den letzten Tropfen auszubluten. Wahrscheinlich ist das sogar für einen Vampir ziemlich schlecht.“ Dante schloss die Augen und nickte. „Besonders für einen Vampir.“ „Dachte ich mir.“ Lou nahm die Nadel. In ihr steckte bereits ein Stück schwarzer Faden. Er goss Wodka darüber. „Das ist nicht nötig“, sagte Dante, „ich kann mir

keine Entzündung holen.“ „Was du nicht sagst.“ Lou zuckte mit den Schultern und beugte sich über die Wunde. „Mach dich auf was gefasst.“ Er stach die Nadel ein und zuckte dann vor Schreck über den Schmerzensschrei zusammen. „Nicht mal ich würde so schreien. Ich dachte, du kannst was vertragen.“ Mit zusammengebissenen Zähnen presste Dante eine Erklärung aus. „Bei meiner Art … sind alle Empfindungen … verstärkt.“ „Oh. Wusste ich nicht.“ Lou schaute zu ihm hinab. Sein Gesicht war vor Schmerz zu einer Grimasse verzerrt. „Soll ich aufhören?“ „Nein.“ Als er dem Mann das nächste Mal die Nadel ins Fleisch stach, zuckte Lou selber zusammen. Vier Stiche, schön eng gezogen. Mehr brauchte es nicht, um die Wunde vollkommen zu schließen. Er nickte zufrieden. „Da ist noch eine … genau wie diese“, sagte Dante, „auf der anderen Seite.“ „Jesus.“ Lou griff nach dem Wodka, trank aus,

was noch in der Flasche war, und half Dante, sich auf die andere Seite zu rollen. Es war furchtbar, jemandem solche Schmerzen zuzufügen, egal ob Vampir oder nicht. Lou war kurz davor, sich seines Mittagessens zu entledigen, als er endlich fertig war und sein Patient kaum mehr als ein zitterndes Häuflein Elend. Dennoch, die Stiche hielten. Dante blutete nicht mehr. Nicht einmal, als Lou ihn vom Boden aufhob, ihn an den Rand der Wanne lehnte und so gut es ging das Blut von ihm abwusch. Dann trocknete er den Vampir ab und half ihm zum nächstgelegenen Bett. Wenn Dante die Nacht überstand, würde er wahrscheinlich überleben. Lou hatte genug mitbekommen, um sich denken zu können, dass Vampire am Tag heilten, während sie schliefen. Er beseitigte die Sauerei im Badezimmer und machte es sich dann in einem Sessel neben dem Bett bequem. Er hatte vor, bis Sonnenaufgang Wache zu halten. Es würde eine lange Nacht werden. Er seufzte, nahm das Telefon ab, rief das Krankenhaus an und bat, zu Maxine durchgestellt zu werden.

Als ihre Stimme am anderen Ende der Leitung ertönte, klang sie angespannt und müde. Alt. Viel zu alt, um von einem Mädchen wie ihr zu kommen. Er wollte etwas sagen, das alles besser machte. Sie trösten. Irgendwas. Aber er wusste verdammt noch mal nicht, was. „Wie geht es Morgan?“ Dumme Frage. Was glaubte er denn, wie es ihr ging? „Die geben ihr Flüssigkeit. Kein Blut. Es gibt keine Spender. Sie braucht es, sonst stirbt sie.“ Ihre Stimme brach, auch wenn sie sich alle Mühe gab, ihre Tränen zu verbergen. „Es tut mir leid, Max.“ „Hast du ihn gefunden?“ „Dante? Ja. Er ist auch nicht gerade gut in Form. Ich habe getan, was ich konnte. Jetzt ruht er sich aus.“ „Und Stiles?“ „Er und ein paar Freunde werden heute Nacht der örtlichen Polizei einen Besuch abstatten, wenn alles so läuft, wie ich hoffe. Ich glaube nicht, dass sie uns vor morgen früh wieder in die Quere kommen. Vielleicht noch später.“

„Dann ist meine Schwester für heute Nacht sicher.“ „Soweit wir wissen, ja.“ Stille am anderen Ende der Leitung. „Max … es tut mir so leid, dass ich dich enttäuscht habe.“ Es kam keine Antwort. Er senkte den Kopf und dachte verzweifelt darüber nach, wie er das Schweigen brechen konnte. „Ich bin in der Suite. Die Nummer hast du?“, entschloss er sich schließlich, ihr zu sagen. „Ja.“ „Ich werde bis Sonnenaufgang ein Auge auf ihn haben. Bei Tageslicht kann er ja, wenn ich die Sache richtig verstanden habe, keinen Schaden anrichten.“ „Das stand auch so in den Akten, ja.“ „Dann verstaue ich ihn gegen Morgen irgendwo, wo es dunkel ist, und wir überlegen uns die nächsten Schritte. Okay?“ „Okay.“ „Und du rufst an, wenn du mich brauchst.“ „Ich komme schon klar.“

Das tat weh. Es fühlte sich an, als hätte sie gesagt, sie brauchte ihn nicht. Würde ihn nicht mehr brauchen. Hielt ihn nicht mehr für den Mann, dem sie immer vertrauen konnte. Er hatte sie enttäuscht. War von seinem verdammten Podest gefallen. „Okay, na dann.“ Ein tiefer Atemzug und ein Seufzen folgten. „Gute Nacht, Lou“, sagte sie und legte auf. Die Stille der unterbrochenen Leitung schien ihn zu erdrücken. Er seufzte nochmals und legte den Hörer wieder auf. Noch einmal inspizierte er die Suite, überprüfte, ob auch wirklich alle Türen fest geschlossen und verriegelt waren. Hinterher fiel ihm noch ein, die leeren Fläschchen aus dem Mülleimer zu nehmen und vor die Tür zu stellen. Wenn die sich öffnete, würden sie umfallen und gegeneinander schlagen, und ihn hoffentlich wecken, falls er eingenickt war. Endlich ging er zurück ins Schlafzimmer, setzte sich in den Sessel neben dem Bett, in dem der verwundete Vampir schlief, und erlaubte wenigstens seinen Augen etwas Ruhe, indem er sie schloss.

„Du bist schrecklich streng mit ihm, weißt du.“ Maxine drehte sich vom Telefon zum Empfangstresen, wo Lydia stand und sie beobachtete. „Ist das ein mütterlicher Rat oder nur eine Meinung?“ Lydia zuckte zusammen. Aber dann schien sie sich zu fangen. „Das habe ich wahrscheinlich verdient. Wenigstens deiner Meinung nach.“ Da war anscheinend doch so etwas wie Schuldgefühle, die ihr jetzt einen Stich gaben, doch sie ignorierte sie einfach. „Wie geht es Morgan?“ „Unverändert. Die Ärzte haben sie jetzt allerdings verkabelt. Tropfe, Monitore und so weiter.“ Sie senkte ihren Blick nicht schnell genug, sodass Maxine noch die Tränen in ihren Augen bemerkte. Sie waren tatsächlich so rot, als hätte sie die ganze Nacht geweint. „Gott, hoffentlich bekomme ich noch eine Gelegenheit, es ihr … ihr zu sagen.“ „Dass du ihre Mutter bist?“, fragte Maxine. „Die Chance hattest du bereits, Lydia. Aber du hast kein Wort gesagt. Nicht zu Morgan und zu mir auch nicht.“ Langsam hob Lydia den Kopf und sah Maxine an.

„Ich hoffe, ich kann ihr noch sagen, dass ich sie liebe. Mehr nicht. Ich hatte nie vor, ihr – euch beiden – den Rest zu erzählen.“ Maxine schluckte den Knoten der Schuldgefühle, der in ihre Kehle aufstieg, hinunter. „Warum?“ „Ich dachte, das hätte ich dir erklärt. Wie gefällt es dir, zu wissen, dass deine Mutter eine Hure war?“ Dieses Mal zuckte Maxine zusammen. Die Worte saßen wie eine Ohrfeige. „Du schämst dich für deine Vergangenheit.“ „Nein. Nein, ich schäme mich nicht. Aber ich wusste, du würdest es und deine Schwester da drinnen auch, wenn sie die Wahrheit erfährt.“ „So gut kennst du uns also? Nach all den … was? Tagen?“ Eine Krankenschwester kam an den Tresen, und die Unterhaltung verstummte, während sie die Papiere durchsah und Krankenblätter zusammensammelte. Maxine wendete sich ihr zu. „Könnten Sie das Telefon im Zimmer meiner Schwester anstellen lassen, falls ich es noch einmal brauche?“

„Es tut mir leid, keine Telefone auf der Intensivstation. Aber im Warteraum gibt es ein öffentliches Telefon. Auch einen Fernseher. Der liegt dem Zimmer ihrer Schwester direkt gegenüber.“ Sie nickte. „Wenn ich noch einen Anruf bekomme, können Sie ihn dahin durchstellen?“ „Sicher.“ Maxine blickte zu Lydia, neigte den Kopf und machte sich auf den Weg den Flur hinab bis zum Wartezimmer. Als sie an der Intensivstation vorbeikamen, konnten sie durch eine große Sicherheitsglasscheibe in Morgans Zimmer sehen. David war bei ihr, hielt ihre Hand und sprach mit ihr. „Gleiche Szene, anderes Krankenhaus“, murmelte Maxine. „Hier ist es.“ Auf der anderen Seite des Korridors war eine Tür, die Lydia für sie offen hielt. Sie ging hinein und sah sich um. Es gab drei Automaten – Snacks, kalte Getränke und Kaffee. Einen Fernseher, ein Radio, ein Telefon – kein Münzfernsprecher, ein echtes Telefon. Einige Stühle und ein paar Futons

machten das Bild komplett. Maxine ließ die Tür offen und setzte sich dann so hin, dass sie ihre Schwester gegenüber genau im Blick hatte. Lydia ließ einige Münzen in den Kaffeeautomaten fallen und wartete darauf, dass ihr Becher sich füllte. „Du sagst, du schämst dich nicht dafür, vor all den Jahren dein Geld auf diese Art verdient zu haben“, nahm Maxine das Gespräch wieder auf. „Das interessiert mich.“ Lydia nippte an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. „Ich hatte keine andere Wahl.“ Geduldig wartete Maxine noch eine Weile, aber Lydia schien nicht weitersprechen zu wollen. „Komm schon, Lydia. Meinst du nicht, ich habe ein Anrecht auf die ganze Geschichte?“ Ihre Mutter ging zu einem der Stühle, setzte sich langsam, nahm noch einen Schluck Kaffee und stellte den Becher dann auf den kleinen Tisch neben dem Stuhl. „Wahrscheinlich. Es ist aber keine schöne Geschichte.“ „Das ist die Wahrheit selten.“ Lydia nickte und schien sich zusammenzunehmen.

„Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater. Als ich elf war, heiratete meine Mutter noch einmal. Dieser Mann, mein Stiefvater, hat mich missbraucht.“ Wie kalt und klinisch sie klang, wunderte sich Maxine. „Hat er dich geschlagen?“ „Geschlagen, vergewaltigt. Er hat mir auf jede Art wehgetan, die er sich vorstellen konnte. Meiner Mutter auch. Aber sie brachte es nicht über sich, ihn zu verlassen; ich schon.“ „Dann bist du von zu Hause weggelaufen? Wann? Wie alt bist du gewesen?“ „Vierzehn. So lange brauchte ich, um zu merken, dass meine Mutter mich nicht beschützen würde. Sie konnte sich nicht einmal selbst schützen. Und es wurde immer schlimmer. Ich wusste, wenn ich nicht bald da rauskomme, bringt er mich letzten Endes um.“ „Wohin bist du gegangen?“ Maxine betrachtete sie. Lydias Augen waren kalt. Leer. „Nirgends. Ich konnte nirgendwo hin. Ich blieb in der Stadt, lebte auf der Straße und fand dort Freunde. Die Drogen haben geholfen, den Schmerz

zu vergessen. Die Leute dort haben mir beigebracht, wie man überlebt. Am Anfang war die Vorstellung, meinen Körper gegen Geld zu verkaufen, schrecklich. Aber wenn man erst genug Hunger hat, ist es gar nicht mehr so schlimm. Es war jedenfalls viel besser als alles, was zu Hause mit mir passiert ist. Hier hatte ich die Kontrolle. Ich konnte sagen, wann und wie und wer – wenigstens machte ich mir das vor –, und ich wurde dafür bezahlt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Für eine Weile ging alles gut – dann wurde ich schwanger.“ Maxines Magen zog sich zu einem Knoten zusammen. „Hast du sie nicht … mussten sie sich nicht schützen?“ „Ich konnte die zu nichts zwingen, Max. Es ist gefährlich da draußen. Wenn man dem falschen Freier in die Quere kommt, endet das mit Narben – oder noch schlimmer.“ „Du hast Glück, dass du nur schwanger geworden bist.“ „Das stimmt.“ „Und was ist dann passiert?“

Lydia neigte ihren Kopf. „Da war diese alte Frau. Mary Agnes Brightman, aber alle nannten sie nur Nanna. Sie hatte ein großes Haus in White Plains. Es hieß, sie nimmt schwangere Teenager bei sich auf. Also bin ich hin.“ „Und sie hat dich aufgenommen?“ „Ja. Sie war nicht amtlich registriert. Sie hatte einfach ein großes Haus und ein großes Herz. Sechs von uns wohnten die ganze Zeit bei ihr, während ich dort war, und unzählige andere kamen und gingen. Nanna hat uns Essen gegeben, eingekleidet und mit uns wie mit intelligenten Menschen geredet, verstehst du?“ Sie seufzte. „Einige haben sich für eine Abtreibung entschieden, und dann hat Nanna dafür gezahlt, sie zu einem guten Arzt gebracht und dafür gesorgt, dass sie vorher und nachher zur Beratung gingen. Andere wollten ihre Babys behalten und versuchen, sie aufzuziehen. Denen hat sie geholfen, eine Wohnung zu finden, Arbeit, einen Betreuungsplatz, und sie hat für sie Unterstützung beantragt, bis sie auf eigenen Füßen stehen konnten. Einige haben sich dafür entschieden, ihre

Kinder zur Adoption freizugeben. Nannas Sohn war Anwalt, und er hat die Vermittlung übernommen, ohne eine Gebühr zu verlangen.“ Für Maxine setzte sich das unvollständige Puzzle ihres Lebens langsam zusammen. „Dafür hast du dich entschieden.“ „Nanna und ihr Sohn Brian haben mich zu dem Paar mitgenommen, das dich adoptieren wollte. Oh, ich habe sie nicht getroffen. Ich kannte auch ihre Namen nicht. Aber ich habe sie beobachtet. Sie waren einkaufen. Sie waren an die Spitze von Brians Warteliste gerückt, deshalb wussten sie, dass sie in weniger als einem Jahr ein Kind bekommen würden. Sie haben Möbel gekauft. Ein Bett, ein Laufgitter. Und ich habe ihnen dabei zugesehen. Sie hat jedes Mal, wenn sie ein kleines Kleidungsstück oder einen Teddybären hochgehalten hat, feuchte Augen bekommen. Echte Tränen in den Augen. Er sagte dann etwas Lustiges, machte Scherze über Kindernamen oder so etwas, bis sie wieder lächelte. Sie sahen … so gut aus. Verstehst du? Nett. Normal. Und die Frau, lieber Gott, sie hat dich so sehr gewollt.“ Mit einem

Zittern in der Stimme fuhr Lydia fort. „In der Nacht hat mir Brian Fotos von ihrem Haus gezeigt, auch wenn er mir nicht sagen konnte, wo es stand. Ich hatte keine Ahnung, dass es so nahe war – mitten in White Plains.“ Endlich konnte sie Maxine wieder in die Augen blicken. „Ich wusste, dort würdest du glücklich sein.“ Maxine fühlte sich selbst etwas gerührt. „Aber sie wollten uns nicht beide?“ „Sie hatten nicht die Gelegenheit, die Entscheidung selbst zu treffen. Als wir erfahren haben, dass ich Zwillinge erwarte, hat Brian mich einfach glauben lassen, beide gingen in die gleiche Familie. Aber das war nicht der Fall. Er hat deine Schwester einer anderen Familie vermittelt.“ „Warum?“ Lydias Stimme war mittlerweile rau geworden. „Oh, er dachte, er täte etwas Gutes. Half einem guten Freund an der Westküste, der so verzweifelt ein Kind wollte. Ich glaube nicht, dass er irgendwem schaden wollte. Aber das hat er natürlich. Ich erfuhr die Wahrheit erst, als Nanna

zehn Jahre später starb. Sie hatte es irgendwie herausgefunden und war deshalb stinkwütend auf ihren Sohn. Sie hinterließ mir ihr Haus, als Wiedergutmachung sozusagen.“ „Und du hast ihre Arbeit weitergeführt“, ergänzte Maxine. „Ich bin oft dorthin zurückgegangen und habe Nanna mit den neuen Mädchen geholfen, wenn ich gerade keine Arbeit hatte. Echte Arbeit. Alle Mädchen, die zu ihr kamen, mussten versprechen, nicht zurück in ihr altes Leben zu fallen. Ich war eine der wenigen, die dieses Versprechen hielt. Kimbra war auch eine. Ich habe sie in Nannas Haus kennengelernt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Als sie also gestorben war und mir ihr Haus hinterlassen hatte, wusste ich darüber, wie man es führen musste, bereits ebenso viel wie Nanna selber. Und Kimbra entpuppte sich als großartige Geschäftsführerin. Sie hat dabei geholfen, uns zu einer gemeinnützigen Organisation zu machen. Haven House.“ Maxine atmete tief durch und sah Lydia an. „Und du dachtest, Morgan und ich würden uns für diese

Geschichte schämen?“ Ihre Mutter wendete sich ab. „Nur für den Anfang.“ „Nur gar nicht.“ In einer ganz spontanen Geste griff Maxine nach Lydias Hand. „Du hattest recht mit dem Ehepaar. Ich hatte genau die harmonische Kindheit, die du mir gewünscht hast. Und wenn dieser Anwalt Morgan nicht woanders hingebracht hätte, wäre es ihr genauso gegangen. Meine Adoptiveltern waren wunderbar, Lydia. Mir hat es nie an etwas gefehlt. Schon gar nicht an Liebe.“ Lydia schloss ihre Augen. „Du ahnst ja nicht, was es mir bedeutet, das zu hören. Dich loszulassen – es war so schwer.“ „Das kann ich mir vorstellen. Aber du hast das Richtige getan. Und ich bin dir dankbar.“ „Das Richtige … für dich, vielleicht. Aber Morgan …“ „Gib Morgan noch nicht auf, Lydia. Sie hat doch einen guten Stammbaum.“ Beide drehten sich um und sahen über den Flur, durch die Scheibe, hinter der Morgan lag. Lydia nickte. „Ich, ähm, ich werde mich eine Weile zu ihr

setzen.“ „David sieht aus, als könnte er eine Pause vertragen.“ Als Lydia aufstand, trat Maxine auf sie zu, zögerte kurz und umarmte Lydia dann ein wenig ungelenk. Lydia drückte sie fest an sich und ließ sie dann wieder los. „Ich glaube, ich rufe Lou mal zurück.“ „Gute Idee“, stimmte Lydia ihr zu. Sie nickte aufmunternd und verließ das Zimmer. Lou schlief in seinem Sessel, den Kopf auf eine Seite geneigt, ein Ohr in seine eigene Schulter gedrückt. Etwas weckte ihn auf. Eigentlich waren es zwei Dinge. Da war Dantes Stimme. Und sie kam aus der Nähe. Sehr nahe. Er war genau vor seinem Gesicht. „Es tut mir sehr leid, Malone. Aber mir bleibt keine andere Wahl.“ Dann klingelte das Telefon, und Lou riss die Augen auf. Dante stand über ihn gebeugt, und Lou versuchte, den Vampir von sich zu stoßen, aber der Sessel kippte stattdessen nach hinten über, und Dante fiel mit ihm zu Boden. Er versenkte seine

Zähne in Lous Hals, während Lou noch versuchte, ihn abzuschütteln. Lou schwang einen Arm und warf den Nachttisch um. Das Telefon fiel auf den Boden. Er hörte wie aus weiter Ferne eine blecherne Stimme, die seinen Namen rief. „Jesus!“ Das Gefühl, ausgesaugt zu werden, war nicht gerade angenehm. „Ich habe dein verdammtes Leben gerettet!“ Seine Worte sollten eigentlich lautstark aus seiner Kehle erschallen, aber der Klang war eher schwach. „Ich habe dir geholfen!“ Sein Herz schlug schneller, als er es für gesund hielt, und er wehrte sich immer weiter gegen diese Kreatur; allerdings erfolglos. Endlich hob Dante seinen Kopf und legte Lou vorsichtig auf den Boden nieder. „Du hilfst mir immer noch“, versuchte der Vampir ihn zu beruhigen, und er sah … anders aus. Stärker. Seine Augen glühten, und seine Haut schien prall mit Leben gefüllt zu sein. Ja, dachte Lou. Mit meinem Leben. Dante wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, hob Lou dann vom Boden hoch,

um ihn aufs Bett zu legen. Dann drehte er sich um, hob das Telefon vom Boden auf und stellte es zurück auf den Nachttisch. Den Hörer hatte er noch nicht aufgelegt. Er hielt ihn sich jetzt ans Ohr. „Dein Freund braucht dich, Maxine. Er wartet im Hotel auf dich. Du solltest dich beeilen. Ich habe ihn nicht ausgesaugt, aber ich hatte verdammten Durst.“ Dante legte auf. Stöhnend versuchte Lou, nach dem Hörer zu greifen. Er wusste genau, was der Vampir vorhatte. Er versuchte, Max von ihrer Schwester fortzulocken, damit er zu ihr gelangen konnte. Verdammt. Allerdings schien er wirklich ein schlechtes Gewissen zu haben. „Es tut mir wirklich leid. Es gab keine andere Möglichkeit.“ Lou versuchte, sich aufzusetzen, als Dante sich umdrehte und das Zimmer verließ, aber es gelang ihm nur, seinen Oberkörper ein kurzes Stück zu heben, ehe er zurückfiel und in der Dunkelheit versank.

Keith 24. KAPITEL „Warte!“ Die Leitung wurde unterbrochen, und einen Augenblick lang spürte Maxine die Panik, die sich jeder Faser ihres Körpers bemächtigte und sich wie eine kalte Klaue um ihr Gehirn legte. Aber nur einen Augenblick. Dann schaffte sie es, sich zu beruhigen, richtete sich auf, beendete die Verbindung und wählte dann Stern-Sechs-Neun. Die mechanische Ansage trug die Ziffern der letzten Telefonnummer, von der die Leitung, an der sie hing, angerufen worden war, vor. Es war die Nummer des Hotels. Der Vampir hatte nicht gelogen. Dann hatte er vielleicht, auch was Lou anging, die Wahrheit gesagt. Sie knallte den Hörer hin und rannte zur Tür. Sie musste zu ihm, musste ihm helfen. Doch plötzlich blieb sie wie angewurzelt vor dem Zimmer ihrer Schwester stehen. Morgan lag im Bett, vollkommen hilflos. Warum hatte Dante ihr

das alles erzählt? Aus der Güte seines Herzens? Wohl kaum. Er wollte, dass sie ihre Schwester unbewacht zurückließ. Verdammt noch mal! Wie sollte sie sich zwischen dem Leben ihrer Schwester und Lous entscheiden? Dann ging ihr auf, dass sie sich gar nicht entscheiden musste. Sie ging zurück ins Wartezimmer, hob das Telefon ab, wählte Neun-Eins-Eins und teilte mit, wo sie Lou finden konnten und dass er kurz vor dem Tod durch Blutverlust stand. Anschließend suchte sie in ihren Jeanstaschen nach der anderen Nummer. Die, die ihr dieser Widerling Stiles gegeben hatte. Während sie wählte, hoffte sie, dass Lous Plan, ihn die ganze Nacht von der örtlichen Polizei festhalten zu lassen, fehlgeschlagen war. Es war sehr dunkel, wie im Freien in einer ruhigen Nacht, in einem dichten Nebel. Um sie herum wirbelten Dünste, und Morgan schwebte im Nichts, ohne den Willen oder die Stärke, sich zu bewegen. Eine junge Frau mit strubbeligen blonden Haaren kam aus dem Nebel geschwebt und sah

Morgan an. „Hey. Ich kenne dich.“ Morgan schüttelte langsam den Kopf. „Nein.“ „Doch. Du bist es. Ich habe gehört, wie Maxine von dir erzählt hat.“ Morgan hob langsam den Kopf. „Du kennst Maxine?“ „Du bist die lange vermisste Schwester, richtig?“ Die blonde Frau lächelte. Aber dann erstarb ihr Lächeln. „Maxine sagt immer, ich soll zurückkommen. Und ich will auch zurück. Aber ich kann den Weg nicht finden.“ Morgan seufzte. Sie war zu müde, selbst um zu nicken. „Ich kenne den Weg“, erwiderte sie. Ihre Worte kamen langsam, mehr ein Seufzen als ein Satz, und auch das nur mit viel Mühe. „Aber ich habe keine Kraft.“ Die Blonde legte den Kopf zur Seite. „Sag mal, meinst du, wir könnten einander helfen? Zusammenarbeiten, meine ich?“ „Ich glaube nicht, dass es so funktioniert. Ich muss sterben. Das habe ich immer gewusst.“ „Ich glaube nicht. Ich meine, hast du gesehen, wie schnell einige hier durchgehen?“

Lieber Gott, ihr Kopf war so schwer. So müde. „Ich habe niemanden gesehen.“ „Was soll das heißen? Natürlich hast du. Schau! Da kommt gerade jemand!“ Morgan sah nur einen Lichtstrahl, der durch den tiefen blauen Hintergrund der wirbelnden silbrigen Nebel raste. „Ich dachte, das wären Sternschnuppen.“ „Eben nicht. Ich habe die beobachtet. Ich glaube, sie sind wie wir. Nur wissen die, wohin sie gehen müssen. Und wir stecken irgendwie fest. Weil wir nicht vorankommen. Das muss etwas bedeuten. Oder nicht?“ Ihr Schulterzucken war nur eine winzige Andeutung. Sie war zu müde, um sich Gedanken zu machen. „Hör zu, ich kann dir helfen. Ich bin stark, ich habe mich nur verlaufen. Ich helfe dir, und du zeigst mir den Weg. In Ordnung?“ „Ich … kann nicht.“ „Klar kannst du.“ Die blonde Frau beugte sich hinab und fasste Morgans Hand. Merkwürdigerweise schien durch

diese Berührung Energie in Morgan zu fließen, eine Quelle des Lebens. Die Frau zog sanft an ihr, und Morgan erhob sich, schwerelos. „Und jetzt“, fragte sie, „wo geht es lang?“ Morgan kam nur langsam zu sich, unsicher, was vor sich ging, sie wusste nur, sie sehnte sich nach Dante. Wo war er? Warum war er nicht zu ihr gekommen? Sie konnte ihren Kopf nicht heben, um sich im Krankenhauszimmer umzusehen, und sie hörte Geräusche nur entfernt, als wäre alles gedämpft. Sie sah durch vernebelte Augen, wie ihre Schwester Maxine mit Lydia und David sprach. „Sie bringen Lou gleich in die Notaufnahme. Bitte geht runter und wartet auf ihn. Und wenn … wenn es richtig schlimm ist, kommt mich holen. Wenn nicht …“ „Wir verstehen schon“, sagte David ernst. „Pass auf dich auf, Maxine.“ Maxine nickte, und Morgan fragte sich, was los war. Was war mit Lou Malone passiert? Und warum hatte David das Bedürfnis, Maxine zu warnen?

Wahrscheinlich hatte er Angst, dass Dante zu ihr kommen würde. Oh Gott, dachte Morgan verzweifelt, bitte lass ihn zu mir kommen! Nachdem David und Lydia den Raum verlassen hatten, öffnete Maxine die Schranktür, stieg hinein und schloss sie hinter sich. Was in aller Welt …? Morgan wartete scheinbar ruhig, doch ihr Herz klopfte wild. Die Lichter waren alle aus. Das Leuchten der vielen Monitore, die um ihr Bett standen, gab der Haut an ihren Händen einen leichten Grünstich. Es schien Morgan, als könne sie jedes Ticken der Uhr hören, während sie wartete, wartete und sich fragte, was ihre Schwester vorhatte. Plötzlich öffnete sich das Fenster. Eine sanfte Brise bewegte die Vorhänge, die wie Gespenster tanzten. Dann kletterte eine dunkle Gestalt ins Zimmer. Morgans Herz machte einen Sprung, als Dante leichtfüßig auf dem Boden landete. Ein Blick von ihm, und alles in ihr schien zu singen. Sie wollte lachen, weinen, aufspringen und sich in seine Arme werfen, aber sie konnte sich nicht

bewegen, sie konnte nicht einmal sprechen. Eine Träne trat ihr in die Augen und rollte ihre Wange hinab. Dante bemerkte sie, und es schien Morgan, als wäre da Liebe in seinen Augen, als er an ihre Seite eilte, ohne sich umzusehen. Seine lange, schlanke Hand strich Morgan das Haar aus der Stirn. Und Morgan sah das Leuchten einer Träne auf seiner Wange, die das grüne Licht widerspiegelte. „Ich bin hier“, flüsterte er. „Es ist jetzt alles gut, mein Herz. Ich bin hier.“ Er beugte sich hinab, um seine Lippen auf ihre zu pressen, doch sie schmeckte seinen Kuss nur kurz, denn im selben Moment sprang die Tür auf, und Dante zuckte zurück. Frank Stiles kam aus dem Flur hereingeplatzt, und mit ihm erschienen drei andere Männer – seine Kumpane, wie es schien –, zwei aus dem angrenzenden Badezimmer, einer hinter den Vorhängen. Waffen wurden gezogen, auf Dante gerichtet, und Maxine trat aus dem Schrank. „Hände weg von ihr, Dante“, befahl sie. Morgans Herz schlug rasend. Mit aller Kraft

versuchte sie, Worte zu bilden, hob ihre Hand zum schwachen Protest, aber sie wurde ignoriert. „Ihr wisst nicht, was ihr tut“, sagte Dante leise und starrte Morgan an. Seine Augen verrieten tiefen Schmerz. „Bitte, sie stirbt, Maxine. Deine Schwester stirbt, wenn du mich nicht helfen lässt.“ „Es tut mir leid. Ich glaube dir kein Wort, Dante. Nicht nach dem, was du Lou angetan hast.“ Lou? fragte Morgan sich. Was hatte Dante Lou angetan? Bleib ruhig, mein Herz. Malone geht es gut, ich verspreche es dir. Dantes Worte hallten in ihren Gedanken wider und beruhigten sie. Bleib am Leben. Ich komme wieder, das schwöre ich. Langsam drehte er sich zum Fenster. Stiles feuerte eine Waffe ab, und Morgan hielt den Atem an. Es gab keine Explosion, nur ein leises Knallen, als seine Waffe einen Pfeil in Dantes Schulter jagte. Was auch immer es war, es funktionierte sofort. Dante krümmte sich und fiel auf die Knie. „Es klappt!“, brüllte einer der Männer. Dante sah mit schmerzerfüllten Augen zu Maxine

auf. „Bei allem, was dir heilig ist, lass das nicht zu.“ Maxine näherte sich ihm. „Du hast dir jede Chance auf mein Mitgefühl verspielt, als du Lou Malone angegriffen hast. Er war der Einzige, der dir noch eine Chance geben wollte, weißt du. Der Einzige, der dir helfen wollte. Und du hast dich gegen ihn gewendet.“ „Du weißt ja nicht, was du getan hast.“ Er richtete seinen Blick auf Morgan, und seine Augen füllten sich nicht mit Traurigkeit, sondern mit Verheißung. Er würde zurückkommen, er würde einen Weg finden. Er schwor es ihr, ohne ein Wort zu sagen. „Treten Sie zurück, Ms. Stuart. Wir übernehmen ab hier“, sagte Stiles. Er nickte einem seiner Männer zu, der einen Rucksack öffnete und ein Seil herausnahm, an dem mehrere Schlaufen und Riemen befestigt waren. Er band ein Ende fest und ließ das andere aus dem Fenster fallen. Maxine trat zurück. „Sie haben nur Glück, dass die Polizei uns doch nicht festhalten konnte“, fuhr Stiles fort. „Glücklicherweise hatte ihr Freund, der Cop, nur

ein Paar Handschellen bei sich. Einer meiner Männer blieb ungefesselt, und ihm ist es gelungen, uns zu befreien, ehe die Polizei auftauchen konnte.“ Einer der Männer beugte sich über Dante, der jetzt vollkommen das Bewusstsein verloren hatte. Während Morgan starr vor Schreck zusah, ohne etwas anderes tun zu können, als einen Finger immer wieder auf den Rufknopf neben ihrem Kissen zu drücken, schlang der Mann einen Gürtel um Dante und warf ihn sich dann leichthändig über die Schulter. „Fertig, Sir.“ Eine Krankenschwester trat vom Flur in den Raum, blieb auf der Stelle stehen und riss die Augen auf. „Was zur Hölle geht hier drinnen vor?“ „Wir sind Ms. De Silvas privater Sicherheitsdienst, Ma’am. Dieser Mann ist hier eingebrochen. Wir bringen ihn gleich wieder raus.“ Stiles wackelte mit seiner Waffe wie mit einem Finger, und der Krankenschwester wich alle Farbe aus dem Gesicht, als sie in sein vernarbtes Gesicht sah. „Sie bleiben einfach ganz ruhig, bis wir wieder weg sind, hmmm?“ Die Krankenschwester stolperte rückwärts auf

den Flur, drehte sich um und rannte. Dabei rief sie nach dem Sicherheitsdienst. Der große Kerl, der Dante über der Schulter trug, saß bereits auf dem Fenstersims, den Rücken zum offenen Fenster, das Seil in seinen behandschuhten Händen. Er stellte seine Füße auf das Fensterbrett, drückte sich ab und ließ sich dann, Dante fest im Griff, an der Wand des Gebäudes hinab. Die anderen steckten ihre Waffen ein und folgten ihm. Sie waren innerhalb von Sekunden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Fast. Maxine trat ans Fenster, entfernte das Seil und warf es ihnen hinterher. Dann schloss sie das Fenster, drehte sich zu einem Sessel und ließ sich müde hineinsinken. Zwei Sicherheitsleute des Krankenhauses, die wie Cops angezogen waren, kamen durch die Tür geprescht, zum offenen Krieg bereit. Maxine sah zu ihnen auf, als wäre sie leicht genervt. „Was soll das?“ „Man hat uns gesagt, in diesem Zimmer befänden sich bewaffnete Männer, Ma’am.“ Der Anführer zuckte mit dem Kopf, und der andere Mann

durchsuchte das Zimmer, den Schrank, das Badezimmer, suchte überall und fand nichts und niemanden. Er sah sogar aus dem Fenster, aber Stiles und seine Kumpane hatten sich bereits in Luft aufgelöst. In ihrer schwarzen Kleidung, in einer so dunklen Nacht wie dieser, waren sie nicht auszumachen. „Bewaffnete Männer?“, fragte Maxine erstaunt. Sie täuschte ein ungläubiges Lächeln vor. „Ich schlage vor, sie lassen die Person, die Ihnen dieses Märchen aufgetischt hat, auf Drogen testen. Hier ist seit Stunden niemand gewesen.“ Die Männer runzelten die Stirn, besprachen sich murmelnd, und ließen sie endlich allein, aber Morgan bemerkte, dass einer von ihnen im Flur vor der Tür blieb, um ein Auge auf alles zu haben. Maxine seufzte. Sie schloss ihre Hand um Morgans, und als sie hinabsah, bemerkte sie endlich die offenen Augen ihrer Schwester. Morgan strengte sich unendlich an, um sich Worte abzuringen. Es wurde zwar nur ein leises Flüstern, doch die Botschaft kam an. „Bring ihn zurück, oder ich hasse dich dafür, wenn ich sterbe, Maxine. Ich

schwöre es dir.“ Dantes Kidnapper saßen um einen Tisch, rauchten und unterhielten sich leise. Dante war durch die Droge, was auch immer das gewesen sein mochte, kurzzeitig bewusstlos geworden, aber die Wirkung ließ bereits nach. Er war immer noch schwach. Kaum in der Lage, zu kämpfen, aber wenigstens bei Bewusstsein. Er konnte hören, riechen, versuchen, seine Umgebung auszumachen. Er lag auf einem Tisch, nahm er an. Flach und hart. Seine Arme und Beine waren gefesselt. Er konnte nur Tabakrauch riechen, und den schimmligen modrigen Geruch von altem Bauwerk und Leerstand. Er öffnete die Augen nur einen Spalt und sah nacktes Mauerwerk, abplatzenden Putz, Spinnweben und zersplitterte Bretter. Kaputte Fenster, in deren Rahmen noch rasiermesserscharfe Scherben steckten. Ein verlassenes Haus? „Die Droge funktioniert. Du hast es geschafft, Frank. Du hast die alte Rogers-Formel perfekt nachgestellt!“ „Ja, und gerade rechtzeitig. Mann, ist der schnell zusammengeklappt“, sagte ein anderer Mann

bewundernd. Stiles sprach als Nächstes. Seine Stimme wurde Dante langsam vertraut. Vertraut – und verhasst. „Sie funktioniert, aber wir wissen nicht, wie gut und wie lange. Ich hatte nur einen Teil der Notizen für ihre Herstellung. Der Rest wurde in den Flammen vernichtet.“ „Na, jedenfalls ist er weggetreten“, sagte einer der anderen, „mehr muss ich nicht wissen.“ „Dann bist du ein Idiot.“ Der Mann schwieg einen Augenblick. „Was machen wir mit ihm, Boss? Du hast gesagt, wir sind noch nicht bereit, Gefangene zu nehmen.“ „Sind wir auch nicht. Die Zellen in unserem neuen Hauptquartier sind noch nicht einmal fertig. Und selbst wenn sie es sind, wird Gefangenschaft nie unser Ziel sein. Daran solltet ihr immer denken, Männer. Das unterscheidet uns von der alten DPI. Unsere Mission ist, sie auszurotten. Vernichten. Die ganze Rasse. Allerdings wird es uns helfen, ein paar Gefangene für Experimente zu gebrauchen, damit wir unsere Waffen so effektiv wie möglich gestalten können.“

Ein Schaudern durchfuhr Dante. Dieser Mann baute eigenhändig die DPI wieder auf – und das noch blutrünstiger als je zuvor. „Diesen hier werden wir umbringen. Allerdings können wir ihn wenigstens lange genug am Leben lassen, um zu sehen, wie das Betäubungsmittel wirkt. Er kann genauso gut unserem Zweck dienen, ehe wir ihn aufschlitzen und ihm beim Ausbluten zusehen.“ Dante zerrte vorsichtig an seinen Fesseln. Sie fühlten sich fest an, und er spürte, dass er noch nicht die Kraft hatte, sie zu sprengen. Und dann fragte er sich, warum er es überhaupt versuchen sollte. Wenn er Morgan nicht retten konnte, welchen Sinn hatte es dann noch? Warum hatte er nur so lange gezögert, die Verbindung zwischen ihnen anzuerkennen? Morgan war so sicher gewesen. Sie hatte von Anfang an erkannt, was zwischen ihnen war. Sie gehörte ihm. Sie war dazu bestimmt, mit ihm zusammen zu sein. Es hatte Jahrhunderte gebraucht, bis er sie gefunden hatte. Und jetzt sollte sie ihm genommen werden. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

„Sieh nach, ob er immer noch schläft“, befahl Stiles. Schritte näherten sich. Dante entspannte seine Miene und lag vollkommen still und entspannt da. „Immer noch k. o.“, rief der Mann. „Geh ganz sicher“, sagte Stiles. Einen Augenblick lang passierte nichts. Dante hörte, wie der Mann an einer Zigarette zog. Dann hörte das Ziehen auf, und Dante spürte Hitze an seinem Hals. Es wurde immer heißer, und dann drückte sich die Glut der Zigarette in seine Haut. Er biss seine Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien, als seine Haut verbrannte. Schmerz fuhr durch seinen ganzen Körper. Er reagierte nicht. Er konnte nicht, sie würden ihn sonst umbringen. Und verdammt, dann wäre es wirklich vorbei. Aber solange er noch einen einzigen Atemzug tat und solange sie immer noch lebte, gab es eine Chance. Eine kleine, aber echte. Sehr echt. Er musste überleben, entkommen und Morgan finden. Das heiße Brandeisen entfernte sich, aber das Brennen blieb und verkohlte seine Hautzellen.

Dante roch sein eigenes verbranntes Fleisch. „Ich bin mir sicher“, bestätigte der Mann. „Der ist vollkommen weggetreten.“ Morgan lag ganz still in ihrem Bett und beobachtete ihre Umgebung. Sie war zu schwach, um mehr zu tun. Selbst sprechen erschöpfte sie. Sie würde nicht mehr lange leben, das wusste sie mit bitterer Sicherheit. Und es war ihr egal. Dante. Nur er war noch wichtig. Wenn sie nicht bei ihm sein konnte, dann war der Tod eine viel wünschenswertere Perspektive als ein Leben ohne ihn. Doch es war unerträglich, ihn in den Händen dieser bösen Männer zu wissen. Sie konnte es nicht ertragen. Tränen rannen ihr Gesicht hinunter, während sie einfach dalag, unfähig, ihren Schmerz hinauszuschreien. Ihre Sehnsucht nach ihm war so tief und so schmerzlich, dass sie ihre Seele zu durchschneiden drohte. Es war unerträglich. Maxine hörte sie kaum, die immer noch neben ihr saß und ihr all die Gründe aufzählte, warum sie den Mann hatte hintergehen müssen, den Morgan liebte. Er hatte ihre beste Freundin erschossen. Er

hatte Lou angegriffen. Er war ein Killer. Das waren ihre Worte. Viel weniger überzeugend, weniger bewegend als die Worte eines Wahnsinnigen auf den Seiten eines Tagebuchs. Dann öffnete sich die Tür, und Lou Malone kam herein. Sein Hals war verbunden. Er sah gut aus. Gesund. Rosig. „Lou!“ Maxine sprang von ihrem Sessel auf und warf sich ihm in die Arme. „Oh mein Gott, geht es dir gut? Ich kann nicht glauben, dass er dir das angetan hat – nachdem du versucht hast, ihm zu helfen! Ich kann nicht glauben …“ Sie ließ ihre Worte ins Leere laufen. „Wo sind David und Lydia?“, fragte sie. „Ich habe sie zurück ins Haus geschickt, damit sie sich ausruhen.“ Lou sah sie nicht an. Er schaute zu Morgan, die seinem Blick standhielt und betete, dass er das Flehen in ihren Augen lesen konnte. Sie öffnete die Lippen, versuchte zu sprechen. „Dante“, war das Flüstern, das ihnen entkam. „Ich dachte, er wäre mittlerweile hier.“ Lou nahm Maxine an den Schultern, hielt sie von sich entfernt und sah ihr ins Gesicht. „Hast du ihn gesehen?“

„Wen gesehen? Dante?“ Lou nickte. „Ich war mir so sicher, er würde zu Morgan gehen.“ Er schloss die Augen. „Ich hatte so eine Angst, dass du dich ihm in den Weg stellst. Er ist verdammt gefährlich, wenn es um sie geht. Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, was er nicht tun …“ Maxine senkte ihren Kopf. „Er ist gekommen“, gab sie zu. „Ich wusste, er würde kommen. Stiles und seine Männer haben hier auf ihn gewartet.“ Lou blinzelte ungläubig. Sein Blick schnellte zu Morgan, zu ihren Wangen, wo Tränen langsam hinabrannen, und dann zurück zu Maxine. „Haben die ihn umgebracht?“ „Sie haben ihn mit einer Art Pfeil abgeschossen. Ich glaube nicht, dass ihn das umgebracht hat, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Dann haben sie ihn mitgenommen.“ „Wohin?“ „Woher soll ich das wissen? Mensch, Lou, sei nicht so besorgt wegen dem Kerl. Er hat versucht, dich umzubringen.“ „Nein.“ Lous Worte waren scharf wie ein Messer.

„Hat er nicht.“ „Was soll das heißen, hat er nicht? Er … er hat dich gebissen. Dir das Blut ausgesaugt.“ „Und er hat dir gesagt, wo du mich findest. Sie haben mir einen Liter Blut gegeben. Einen Liter, Max. Der Arzt in der Notaufnahme hat gesagt, ich hätte es auch geschafft, wenn sie mich nicht aufgenommen hätten. Müde, schwindlig, ein paar Tage schwach, aber ich hätte es überstanden.“ „Er hat dich angegriffen. Und er hat auf Stormy geschossen.“ „Er hat dafür gesorgt, dass ich gefunden werde. Er hat nur so viel genommen, wie er konnte, ohne mir zu schaden. Und ich sage dir eins, er hätte bestimmt noch viel mehr benötigt, so schwach, wie er war.“ Kopfschüttelnd blickte sie noch immer auf den Boden. „Er ist hergekommen. Er ist zu meiner Schwester gekommen.“ „Auch wenn er gewusst haben muss, dass er hier in einen Hinterhalt gerät. Er weiß, dass du nicht dumm bist, Max. Klar, er dachte, ich locke dich vielleicht fort, aber die Wahrscheinlichkeit war

gering. Und er ist trotzdem gekommen. Er hat alles riskiert, um zu ihr zu kommen.“ „Um sie umzubringen“, entgegnete Maxine scharf. „Oder vielleicht um sie zu retten.“ „Nein. Du irrst dich. Du musst dich irren.“ Morgans Herzschlag beschleunigte sich, und auch ihr Atem ging schneller. Sie waren so nahe dran. So nahe daran, zu verstehen. Sie mussten Dante retten. Sie mussten ihn vor diesen Männern retten. Es klopfte an der Tür. Eine Krankenschwester steckte ihren Kopf hinein. „Ms. Stuart? Sie haben eine Nachricht an der Rezeption, von, äh, Lydia. Sie hat gesagt, jemand hat versucht, Sie auf Ihrem Handy zu erreichen, hat es nicht geschafft und schließlich eine Nachricht im Haus hinterlassen. Sie sollen diese Nummer anrufen.“ Sie gab Maxine ein Stück Papier. „Ich habe das Handy ausgeschaltet. Da war ein Schild.“ Die Schwester nickte. „Handys wirken sich manchmal störend auf die Technik im Krankenhaus aus. Aber wenn das unter uns bleibt, Sie können es hier drinnen ruhig benutzen. Stellen Sie sich

einfach ans Fenster.“ „Danke.“ Maxine öffnete das gefaltete Blatt Papier und las die Nummer darauf, während die Krankenschwester das Zimmer verließ. Dann fiel ihr Blick auf Lou. „Es ist das Krankenhaus in White Plains.“ Sie schloss unwillkürlich die Augen. „Oh Gott, es muss Stormy sein. Sie ist gestorben, Lou. Oh Gott, es ist aus mit ihr.“ Lou nahm Maxine in seine Arme. Ein Teil von Morgan empfand kein Mitleid, nach dem, was ihre Schwester Dante angetan hatte. Aber der größere Teil weinte darum, ihre Schwester so leiden zu sehen. „Du rufst besser an“, meinte Lou, „ihre Mutter wird mit dir sprechen wollen.“ Maxine nickte, löste sich von ihm und wühlte in ihrer Handtasche nach dem Handy, während Lou ein paar Papiertücher aus einer Box auf dem Nachttisch nahm, ihr Kinn fasste und ihr die Tränen wegtupfte. Maxine schniefte, gab die Nummer in ihr Handy ein, hielt es sich ans Ohr und wartete. „Hallo? Mrs. Jones, hier spricht Maxine.“

Es gab eine Pause. Dann legte sie eine Hand über den Sprechteil und erklärte Lou: „Sie kann es mir nicht selber sagen, sie muss jemand anderem den Hörer geben.“ Und dann wurden ihre Augen plötzlich riesig, ihre Hand bewegte sich, und sie sprach wieder in den Hörer. „Oh mein Gott. Ohmeingott, Stormy? Bist du es?“ Ihr Gesicht veränderte sich, und ihre Stimme wurde zu einer Abfolge von Lachern, unterbrochen von Schluchzen, mit einigen Worten dazwischen, als sie mit ihrer Freundin sprach, die sie schon für tot gehalten hatte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich endlich unter Kontrolle hatte. „Du musst noch wissen, wir haben den Mann, der dir das angetan hat. Er wird niemandem mehr wehtun, nie mehr.“ Kurze Pause. „Ja, ja, wir sind uns sicher.“ Dann blickte sie zu Lou. „Nur zur Sicherheit, kannst du ihn uns beschreiben?“ Während ihre Freundin versuchte, den Täter zu beschreiben, wich ganz langsam alle Farbe aus Maxines Gesicht. Ihr Mund blieb offen stehen, und sie drehte sich langsam zu Morgan um. „Oh mein Gott. Nein. Nein, Stormy, alles ist gut. Hör zu, du ruhst

dich aus und wirst wieder gesund. Ich muss aufhören, aber wir sprechen uns bald wieder, okay?“ Endlich drückte sie auf den Hörer. „Der Mann, der in jener Nacht in deinem Apartment auf Stormy gewartet hat, um sie zu erschießen, hatte ein furchtbar entstelltes Gesicht.“ „Stiles“, knurrte Lou. „Und wenn diese Geschichte eine Lüge war, dann hat er wahrscheinlich auch bei allem anderen gelogen.“ Mit einem Mal begriff Maxine die Situation. Mit feuchten Augen wendete sie sich Morgan zu. „Oh Gott, was habe ich getan? Morgan, es tut mir leid. Es tut mir so, so leid.“ Morgan hielt ihrem Blick stand und flehte sie an. „Bitte …“, gelang es ihr zu sagen. „Ich weiß. Ich weiß.“ Maxine drehte sich zu Lou um. „Wir müssen Dante retten.“ „Was du nicht sagst. Aber wie zum Henker sollen wir ihn finden? Stiles könnte ihn überallhin gebracht haben.“ Zum zweiten Mal in jener Nacht öffnete sich Morgans Fenster langsam. Wieder kletterte eine

Gestalt hinein. Aber dieses Mal war es nicht Dante. Es war die Frau, die Morgan als Sarafina erkannte. Sie war atemberaubend schön, mit wallendem schwarzem Haar und ebenholzfarbenen Augen, blutroten Lippen und einer Haut so blass wie Schnee. Ein einziger Blick von ihr ließ Morgan einen Schauer über den Rücken fahren. Sie trug roten Samt. „Ich hätte da vielleicht einen Vorschlag“, meinte sie trocken. „Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte Maxine und trat zwischen Morgans Bett und die Frau am Fenster. „Mutig, für eine Sterbliche. Mein Name ist Sarafina. Ich bin Dantes Schwester. Und seine Tante und seine Mutter.“ „Du bist ein Vampir.“ Maxines Worte waren anklagend. „Deine Beobachtungsgabe ist erstaunlich“, erwiderte die Frau sarkastisch. „Ja. Ich bin ein Vampir. Nicht die Zahnfee, nicht das Sandmännchen, ein Vampir. Und du hilfst mir entweder, Dante zurückzuholen, oder du bezahlst für sein Leben mit deinem eigenen. Sind wir uns

darüber im Klaren?“ Maxine ließ sich nicht einschüchtern. „Woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann?“ Sie hob ihre Augenbrauen. „Na, die Tatsache, dass ich mich als Köder für den Vampirjäger anbiete, sollte dazu wohl ausreichen, meinst du nicht?“ Maxine und Lou starrten sie sprachlos an. „Kommt schon, das ist die einzige Möglichkeit. Dante schickt mir keine mentalen Signale, die stark genug sind, um ihn zu orten. Allein kann ich ihn nicht finden. Aber ich weiß, dass er lebt. Ich kann es spüren.“ „Er lebt“, flüsterte Morgan, der schon wieder Tränen in den Augen standen. „Ja. Was mehr ist, als ich von dir sagen kann, Sterbliche.“ Morgan lächelte sie schwach und unsicher an. Es war ihr egal, dass sie an der Schwelle zum Tod schwebte. Es war ihr egal – solange es nur Dante gut ging. „Komm, uns bleibt wenig Zeit“, wandte sich Sarafina jetzt an Maxine. „Ruf diesen Vampirjäger

an, sag ihm, du hast noch einen Vampir aufgetrieben. Dass ich verletzt bin, kaum funktioniere und du mich gefesselt hast und für ihn festhältst. Sag ihm, er soll dich beim Haus treffen, in der Nähe der Klippen, wenn er mich will. Dann nimm deine Schwester und bring sie so schnell wie möglich dorthin.“ Sie wendete sich an Lou. „Während sie das alles tut …“ Sie streckte ihre Arme mit aneinandergepressten Handgelenken vor. „Fessele mich und bringt mich zu den Klippen, wo wir auf den Vampirjäger warten.“ „Lou, ich glaube nicht, dass du mit ihr gehen solltest. Nicht allein.“ „Du hast Angst, ich bringe ihn um, was?“, fragte Sarafina. Sie verdrehte die Augen. „Sterbliche. Gut, wenn du mich schwach genug willst, dass ich keine Bedrohung darstelle, können wir auch das veranlassen.“ Sie zog einen Dolch aus ihrer Tasche. „Sorg nur dafür, dass ich nicht ohnmächtig werde und ganz ausblute.“ Sie hob einen Arm und legte die Klinge an ihr Handgelenk. Lou fasste nach ihrer Hand und hielt sie davon ab,

sich selbst zu schneiden. „Nein.“ Er sah Maxine an. „Wir müssen ihr vertrauen, Max. Wir brauchen sie mit ihrer ganzen Kraft, sonst riskieren wir, den Kampf zu verlieren. Stiles arbeitet mit wenigstens drei anderen Männern zusammen, vielleicht mehr, und alle sind bewaffnet.“ „Und im Kampf ausgebildet.“ Maxine hatte sie ja bereits erlebt. Zögernd wandte sie sich an Sarafina. „Kannst du meiner Schwester helfen? Dante sagt, er kann sie retten. Heißt das, du kannst es auch?“ Die Frau betrachtete Morgan und leckte sich die Lippen. „Ehrlich gesagt, ich fürchte, sie ist schon zu weit verkommen, um die Verwandlung noch zu überleben. Dazu kommt, dass ich mehrere Stunden lang zu schwach zum Kämpfen wäre, sollte ich es versuchen, und bis dahin ist Dante wahrscheinlich tot.“ Sie wendete sich ab. „Aber es könnte gelingen.“ „Es könnte. Aber ich werde es nicht tun.“ „Und ich soll dir vertrauen?“, fragte Maxine. Lou nahm ihren Arm. „Sei vernünftig, Max. Wenn sie es versucht und versagt, verlieren wir sie

beide. Und wenn sie es versucht, und es funktioniert, retten wir Morgan und verlieren Dante. Meinst du, das will Morgan?“ Es gelang Morgan nicht, Nein zu sagen, stattdessen entwich ihr ein Stöhnen. „Auf ihre Art haben wir eine Chance, sie beide zu retten.“ Sie schloss die Augen und senkte den Kopf, und dann endlich nickte Maxine. Dann fasste sie nach Lous Arm. „Sei vorsichtig, verdammt.“ „Bin ich.“ Noch einmal richtete Maxine ihre Worte an Sarafina, bevor sie sie gehen ließ. „Es ist mir scheißegal, was du bist. Wenn du ihm wehtust, dann finde ich dich, und ich bringe dich um.“ Überrascht, vielleicht etwas amüsiert, sah Sarafina sie an. „Ich glaube, du würdest es wirklich versuchen.“ Dann drehte sie sich zu Lou. „Komm.“ Wie eine Strohpuppe warf sie sich Lou über die Schulter, drehte sich um und sprang aus dem Fenster. Maxine schrie auf und stürzte ans Fenster, die Hände auf das Sims gestützt, und sah hinab. Dann

seufzte sie erleichtert auf. „Ruf an“, brachte Morgan heraus. „Ruf an.“ „Ja. Bin schon dabei.“ Maxine nahm ihr Handy wieder aus der Tasche.

Keith 25. KAPITEL „Stiles. Gott sei Dank sind Sie noch da. Hören Sie. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wir … wir haben noch einen.“ „Was?“ „Noch einen. Von denen.“ Maxine schluckte, und ihre Augen fanden den immer schwächeren Blick ihrer Schwester, während sie ins Telefon sprach. „Ich glaube, er hat sie geschickt. Sie hat versucht, an Morgan heranzukommen. Lou war hier, sie haben gekämpft, und dann ist sie einfach aus dem Fenster – er wollte sie nicht stoßen, es ist einfach passiert. Fast hätte sie Lou mitgenommen.“ „Ist sie verletzt?“ „Ja. Ziemlich schlimm, wie es aussieht. Ich weiß auch nicht, sie war jedenfalls bewusstlos. Wir haben sie gefesselt, aber ich weiß nicht, wie lange wir sie festhalten können. Wenn sie aufwacht …“ „Wo ist sie jetzt?“ „Lou hat sie zum Haus gebracht. Er hat sich gedacht, er kann sie schlecht hier festhalten, wo

jemand sie sehen könnte. Er wird sie da einschließen oder so etwas. Hat mir gesagt, ich soll Ihnen sagen, er wartet bei den Klippen auf Sie.“ „Ich bin in zwanzig Minuten da.“ Stiles legte auf. Maxine nickte langsam, steckte ihr Handy zurück in die Tasche und setzte sich neben ihre Schwester. Sie streichelte ihr Haar. Morgans Augen wurden immer schmaler. „Es dauert nicht mehr lange, Babe. Halt durch, okay?“ Ein Nicken, so schwach, dass ihr Kopf sich kaum bewegte. Dann öffnete sich die Tür, und Dr. Hilman trat ein. „Maxine, Sie wollten mich sprechen?“ „Ja.“ Maxine stand auf und sah ihn mit festem Blick an, hob ihr Kinn und drückte ihre Schultern durch. „Ich will Morgan nach Hause bringen.“ „Unmöglich.“ Er sagte es rasch, ohne überhaupt nachzudenken. „Lassen Sie uns von Anfang an Klartext reden. Wir wissen beide, dass es geht. Vielleicht ist es nicht ratsam, aber es geht.“ „Sie überlebt die Fahrt vielleicht nicht, Maxine.“

„Ach, Doc, glauben Sie denn, sie überlebt die Nacht?“ Den Kopf gesenkt, musste er Maxine recht geben. „Ehrlich gesagt … nein.“ „Was macht das dann für einen Unterschied? Sie will zu Hause sterben. In ihrem eigenen Bett, in dem Haus, das sie liebt. Sie können hier nichts mehr für sie tun, außer ihr Leben vielleicht ein paar Stunden zu verlängern. Nur diese eine Sache könnten Sie noch für sie tun. Ihren letzten Wunsch erfüllen. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Er neigte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. „Wenn Sie Nein sagen, nehme ich sie trotzdem mit“, fügte Maxine hinzu. Mit einem Seufzen ging der Arzt an ihr vorbei, beugte sich über Morgan und berührte ihr Gesicht. „Ist es das, was Sie wollen, Morgan? Sie wollen nach Hause, auch wenn Sie hier vielleicht noch ein wenig mehr Zeit hätten?“ Es gelang ihr, zu nicken, und sogar, ihre Lippen zu dem Anflug eines Lächelns zu verziehen. Der Arzt richtete sich auf und atmete tief durch.

„In Ordnung. Ich hole die Papiere.“ „Die Zeit drängt ein wenig.“ „Ich beeile mich.“ Das tat er – erstaunlicherweise. Zehn Minuten später unterschrieb Maxine die Einwilligung und schob dann ihre in Decken gewickelte Schwester hinaus zu einem wartenden Taxi. Kurz danach bogen sie in die Auffahrt ein, und Morgan seufzte hörbar erleichtert, als sie ihr altes Haus wiedersah. Lieber Gott, es bedeutete ihr wirklich alles. Maxine betrachtete Morgans Gesicht einen Augenblick lang. Sie hatte sich in den letzten Tagen verändert. Ihr Gesicht war eingefallen, unter ihren Augen waren tiefe violette Tränensäcke erschienen, und ihre Wangen waren ausgehöhlt. Ihre Lippen waren schmal und aufgesprungen. Sie sah wie eine alte Frau aus. Maxine bezahlte den Fahrer, stieg aus dem Taxi, ging um den Wagen herum, um die Tür ihrer Schwester zu öffnen, und nahm sie behutsam in den Arm. Im selben Moment kam schon David aus dem Haus, und als Maxine zur Seite trat, hob er Morgan

hoch und trug sie leichthändig ins Haus, die Treppe hinauf, und schon Augenblicke später steckte sie in ihrem eigenen Bett. Maxine machte einen Zwischenstopp im Arbeitszimmer, um eine der kleineren Holzkohlezeichnungen von Dante von der Wand zu nehmen. Sie nahm das Bild mit nach oben. Als sie ins Schlafzimmer kam, legte sie es in die Hände ihrer Schwester und bemerkte, wie eine Andeutung des früheren Lebenslichts in den Augen der sterbenden Frau aufleuchtete. „Halt durch, Morgan. Wenn du spürst, dass du entgleitest, sieh dir Dantes Gesicht an und sag dir, dass er bald kommt. Ich bringe ihn selbst zu dir. Versprochen.“ Ein leichtes Nicken. Ein erleichtertes Seufzen. Ein einziges, geflüstertes Wort. „Schnell.“ Maxine blickte zuerst zu Lydia, die schon im Schlafzimmer von Morgan gewesen war, dann zu David. „Bleibt bei ihr.“ „Natürlich werden wir das. Pass auf dich auf, Max.“ Ihre Mutter umarmte Maxine kurz. Die Tochter erwiderte die Umarmung. „Sag es ihr. Es ist vielleicht deine letzte Chance“, flüsterte sie

ihr ins Ohr. Sarafina lag auf dem kühlen, feuchten Boden über den Klippen auf der Seite. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt, ihre Knöchel mit Isolierband zusammengebunden. Sie lag ruhig da, bewegungslos, mit geschlossenen Augen und wirren Haaren. Sie hatte sich Dreck über ihr Kleid und ihre Arme gerieben und auch ein wenig in ihr Gesicht in der Hoffnung, in der Dunkelheit überzeugender zu wirken. Lou konnte nicht anders, als die Frau ein wenig zu bewundern. Mutig. Andererseits hatte sie auch allen Grund dazu. Sie war stärker als zehn ausgewachsene Männer. Dennoch war es ein Risiko. Sie musste sich wirklich viel aus Dante machen. „Mir ist immer noch nicht klar, in welcher Beziehung Sie zu Dante stehen“, sagte Lou leise. Er stand neben ihrer regungslosen Gestalt auf den Klippen, beobachtete die Umgebung und horchte nach Stiles. „Sie haben gesagt, Sie sind seine Mutter, Schwester und Tante. Wie zum Henker soll das funktionieren?“

Sie öffnete ihre Augen und sah zu ihm auf, ohne ihren Kopf zu bewegen. „Schwester, weil alle Vampire Geschwister sind. Wir kommen von einer gemeinsamen Quelle, wir teilen das gleiche Blut. Das gleiche Antigen, das uns einzigartig macht. Mutter, weil ich diejenige war, die ihn von einem dem Tode nahen Sterblichen zu einer mächtigen, unsterblichen Kreatur gemacht habe. Ich habe ihm das Leben geschenkt.“ Lou nickte langsam. „Und Tante?“ „Auf dem üblichen Weg. Urgroßtante, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich war die Schwester seiner Urgroßmutter.“ Wieder nickte er. „Dann haben Sie ihn verwandelt, weil –“ „Sch! Sie kommen.“ Sie schloss die Augen wieder. „Er weiß, dass die Handschellen allein mich nicht halten können, Sterblicher. Er wird versuchen, mich zu betäuben, wie er es bei Dante getan hat. Das dürfen wir nicht zulassen.“ Lou strengte Augen und Ohren an, aber er konnte nicht das Geringste sehen oder hören. Andererseits funktionierten ihre Sinne wohl auf einer Art

höheren Ebene. Auf jeden Fall stand ihre Genauigkeit außer Frage. Nachdem sie mit ihm aus dem zweiten Stock des Krankenhauses gesprungen war, nahm er sowieso an, dass es kaum etwas gab, was sie nicht konnte. Endlich erreichte das Geräusch von Schritten im Gras auch seine menschlichen Ohren, und er konzentrierte sich auf die Richtung, aus der sie kamen. Stiles’ Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. Er war wachsam, sah sich genau um, bewegte sich langsam. Er näherte sich der gefallenen Sarafina, wie, so nahm Lou an, er sich einem schlafenden Tiger nähern würde. „Sie ist bewusstlos“, versicherte Lou ihm. „Der Sturz hat sie ziemlich stark verletzt.“ „Das hat die Rothaarige am Telefon schon gesagt“, meinte Stiles. Er zog eine Spritze aus der Tasche, hielt sie vor sein Gesicht und prüfte den Inhalt, dann trat er einen weiteren zögernden Schritt vor. Und noch einen. Langsam streckte er die Hand nach ihr aus, zuckte dann aber wieder zurück. „Oh, Himmel noch mal, machen Sie schon“,

forderte Lou ihn ungeduldig auf. Stiles trat endlich näher, ließ sich auf ein Knie hinab, und legte die Spritze an Sarafinas Arm. Ruckartig hob sie ihren Kopf, schlug damit gegen seine Brust, warf ihn so von sich ab, und die Spritze flog auf den Boden. Lou warf sich darauf, und sie rangen für einen Augenblick miteinander. Unbemerkt von Stiles stach Lou währenddessen die Spritze in den Boden und leerte ihren Inhalt aus. „Nimm das, verdammt“, knurrte Lou. Sarafina sackte zusammen, ließ ihren Kopf auf den Boden fallen, schloss die Augen. Lou stand auf, befreite sich aus ihrem Griff und bürstete sich den Dreck von der Kleidung. Er gab Stiles die leere Spritze, der erst sie, dann ihn betrachtete. „Danke“, sagte er. „Die Schlampe hat versucht, mich umzubringen. Zweimal in einer Nacht. Sie hatten recht, was die angeht, Stiles.“ Stiles nickte. „Sie wird es nicht noch einmal versuchen.“ Er ließ die Spritze fallen, bückte sich und hob Sarafina hoch. „Denken Sie dran“,

ermahnte Stiles ihn, als er sich umdrehte, um zum Haus zurückzugehen, „sagen Sie es niemandem. Die Sache ist vorbei. Sie und alle anderen, die damit zu tun hatten, müssen einfach vergessen, was passiert ist. Verstanden?“ „Ich werde es nicht vergessen“, sagte Lou, „aber ich kann es für mich behalten.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Verdammt, wer würde mir das schon glauben?“ „Genau.“ Gemeinsam gingen sie um das Haus herum bis zu der Stelle, an der Stiles’ Wagen wartete. Er zuckte zusammen, als der Bastard Sarafina einfach in den Kofferraum warf. Sie landete unsanft, und dann knallte er noch den Deckel zu. „Sie werden mich nie wiedersehen“, versprach Stiles zum Abschied. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Stiles, aber ich hoffe, Sie haben recht.“ Lou winkte ihm nach, während Stiles sich hinter sein Lenkrad setzte und davonfuhr. Sobald seine Rücklichter hinter der Kurve verschwunden waren, fuhr Maxine Lous Wagen vor, öffnete die Beifahrertür von innen und Lou

sprang hinein. „Es dauert so lange“, sagte Lydia, die eine Stunde später unruhig im Schlafzimmer auf und ab ging. „Warum sind sie noch nicht zurück? Die Sonne geht bald auf.“ David legte eine Hand auf ihre Schulter. „Versuch, Vertrauen zu haben, Lydia. Es wird alles gut. Es muss einfach.“ Das Lächeln der beiden verriet Morgan, dass etwas zwischen ihnen war. Etwas, das sie ihr vorenthielten. „Max hat recht“, flüsterte David ihr zu, „du solltest es ihr sagen.“ Lydia sah ihn lange an, ehe sie sich zu Morgan umdrehte. Sie schniefte, als sie sich auf die Bettkante setzte und Morgans Hand in ihre nahm. Lydias Hand fühlte sich stark und warm an. Liebevoll betrachtete sie Morgan. „Morgan, ich bin die Frau, die dich und Max zur Welt gebracht hat. Ich … ich bin deine Mutter.“ „Mutter …“ Morgan flüsterte das Wort. Ganz überrascht war sie von diesen Neuigkeiten nicht. Sie hatte sich schon gefragt, warum Lydia sich so

verbunden mit Maxine fühlte, warum sie sich so viel aus ihr zu machen schien, obwohl sie sich gerade erst begegnet waren. Sie hatte gesehen, wie die Frau neben ihr im Krankenhaus geweint hatte, und weil sie von der Adoption wusste, hatte die Schlussfolgerung nahegelegen. „Ich habe euch beide zur Adoption freigegeben, weil ich dachte, es würde euch dann besser ergehen. Ich wollte, dass ihr ein gutes Leben habt. Aber man hat mir gesagt, ihr kommt beide in die gleiche Familie. Erst ein Jahrzehnt später habe ich herausgefunden, dass man euch getrennt hat.“ Morgan seufzte und nickte mit ihren Augen. Sie war zu schwach, um ihren Kopf zu bewegen. Dann blickte sie hinüber zu David. „Vater?“, fragte sie, trotz der Anstrengung, die es sie kostete. „Nein“, antwortete David, „auch wenn wir eine Zeit lang dachten, ich könnte es sein.“ Er kam ebenfalls näher und setzte sich auf das Bett. „Ich war einer von Lydias … Kunden. Jung, reich. Aber ich habe sie immer gemocht. Als sie mir gesagt hat, dass sie schwanger ist, war ich einverstanden, mich testen zu lassen. Doch als feststand, dass ihr

nicht meine Kinder seid, bin ich … verschwunden. Das war ein Fehler, Morgan. Ich hatte keine Ruhe mehr. Ich habe Lydia ein Jahr später ausfindig gemacht, und sie hat mir erzählt, ihr seid adoptiert worden, auch wenn sie keine Details kannte, nur, dass ihr es gut habt. Also habe ich einen Privatdetektiv beauftragt, euch zu finden. Maxine ging es gut in einer liebevollen, gesunden Familie. Aber dir …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich mochte deine Adoptiveltern nicht. Und ich wusste nicht, wie ich wiedergutmachen konnte, was schon geschehen war. Also bin ich an die Westküste gezogen und der beste Freund deines Adoptivvaters geworden. Es war die einzige Möglichkeit, dir nahe zu sein, um auf dich aufzupassen. Und dazu sah ich mich gezwungen. Ich habe mit Lydia nicht wieder Kontakt aufgenommen, um es ihr zu sagen, weil – na ja, weil ich wusste, dass es sie umbringen würde, zu merken, an was für Leute sie dich weggegeben hat.“ Er beugte sich hinab und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir leid, Kleines. Es tut mir

leid, dass ich dir nie die Wahrheit gesagt habe.“ Sie schloss die Augen. „Lieb dich.“ Als er sich aufsetzte, hatte er Tränen in den Augen. Morgan wollte ihnen beiden sagen, dass alles in Ordnung war. Sie machte niemandem irgendwelche Vorwürfe. Aber sie konnte es nicht. Diese verdammte Schwäche sorgte dafür, dass sie einfach nichts tun konnte. Sie existierte nur von einem Atemzug zum nächsten, und mit jedem war sie sich weniger sicher, ob ihr noch die Kraft für einen weiteren blieb. Aber sie versuchte, es ihnen mit den Augen zu sagen. Mehr konnte sie einfach nicht tun. „Was dauert da bloß so lange?“ Langsam wurde auch David nervös. Maxine drosselte das Tempo, als sie merkte, dass Stiles langsamer wurde. Sie war ohne Scheinwerfer durch die Dunkelheit gefahren, nur geleitet von dem fernen Leuchten seiner Rücklichter. Es war mehr als riskant. Eigentlich sogar dämlich, aber sie tat es für ihre Schwester. Sie hatte alles vermasselt, und allein durch ihre

Ignoranz kämpfte Morgan noch immer mit dem Tod. Sie musste es wiedergutmachen. Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit nicht mehr als dem Warnlicht, das ihr den Weg zeigte, zurück. Als sie außer Sichtweite von Stiles’ Wagen war, schaltete sie den Scheinwerfer ein und fand einen Platz zum Parken. Dann stellte sie den Motor aus und sah Lou an. „Das ist es also.“ „Nicht für dich. Du kannst das Auto nehmen und von hier verschwinden. Hol Verstärkung. Es ist mir egal, was du zu sagen hast, du verständigst die Polizei. Ich gehe alleine.“ „Den Teufel wirst du tun.“ Sie nahm ihr Handy und wählte den Notruf. Dann runzelte sie die Stirn, als nichts passierte. „Verdammt, wir sind in einem Funkloch.“ „Wie ich schon sagte, geh und hol Hilfe.“ „Selbst wenn ich das täte und sofort Hilfe käme, würden wir nicht rechtzeitig kommen. Wir müssen es jetzt machen, Lou. Du und ich. Vielleicht mit ein wenig Hilfe von dem fast toten Duo da drinnen, wenn wir Glück und die beiden gute Laune haben.“ Sie ließ die Schlüssel in der Zündung stecken,

stieg aus dem Wagen und wartete nicht einmal auf Lous Antwort, sondern preschte einfach vorwärts. Kurz darauf holte er sie ein. „Wenn dir etwas zustößt, Max. Damit könnte ich nicht leben.“ „Meine Schwester liegt im Sterben, Lou. Es ist meine Schuld. Ich muss das hier tun. Wenn ich es nicht mache und sie es nicht schafft, wie soll ich dann damit leben?“ Er musste schlucken und starrte sie durch die Dunkelheit an. „Verdammt, du bist so verflucht stur.“ „Ja, und du liebst mich dafür.“ „Hier.“ Er drückte ihr eine Waffe in die Hand. Klein. Seine eigene. „Was ist mit dir?“ Er hob seinen anderen Arm, und sie sah zum ersten Mal den dunklen Umriss der Flinte, die er bei sich trug. „Ich hielt es für angebracht, die großen Geschosse aufzufahren.“ „Gut mitgedacht.“ Sie gingen nebeneinander die Straße hinauf, bis sie den Umriss von Stiles’ Wagen in der überwachsenen Auffahrt eines verfallenen Hauses

ausmachten. Es sah verlassen aus. Aber drinnen brannte Licht. „Glaubst du, Sarafina ist noch im Kofferraum?“, flüsterte Max. „Er wäre ein Volltrottel, wenn er sie drinnen ließe.“ Sie schlichen näher ans Haus und ließen den Wagen fürs Erste stehen. Wenn Sarafina noch im Kofferraum lag, konnte sie sich wahrscheinlich selbst befreien, dachte Maxine, also sollten sie darauf keine Zeit verschwenden und schon gar nicht den Feind auf sich aufmerksam machen, indem sie beim Versuch, einen verschlossenen Kofferraum zu öffnen, herumschepperten. Sie nahm an, dass Lou ihrer Meinung war, denn er ging ohne stehen zu bleiben am Wagen vorbei. Gerade als sie auf die verrottet aussehende Vordertreppe zuhielten, spürte Maxine einen Gewehrlauf im Rücken. „Eine Bewegung, und sie ist tot“, hörte sie eine männliche Stimme hinter sich. Aus den Augenwinkeln sah Maxine, wie Lou sie mit einem entsetzen Ausdruck auf dem Gesicht

anschaute. „Okay, okay, ganz ruhig“, sagte er, „wir sind Freunde.“ „Lass die Waffe fallen.“ Lou ging in die Knie, legte das Gewehr auf den Boden und richtete sich dann wieder auf. „Du auch, Schätzchen“, forderte der Mann Maxine auf. „Ich habe keine Waffe, die ich fallen lassen kann“, sagte sie, „leihen Sie mir Ihre?“ „Gut, suche ich sie eben selbst.“ Er begann, sie abzutasten. Anscheinend war er sich sicher, dass sie sich eine Waffe in den Schritt geklebt hatte, so lange, wie er sich in diesem Bereich aufhielt. Endlich fand er die Waffe, die Lou ihr gegeben hatte, nahm sie an sich und schubste sie vorwärts. „Rein mit euch. Alle beide.“ Lou und Maxine gingen voran in das verfallene Haus. Die Eingangstür hing schief von einer Angel. Als sie in den Raum gestoßen wurden, konnte Maxine zuerst nur das weiße Licht einer Gaslaterne erkennen, dann sah sie Stiles und zwei andere Männer an einem Tisch sitzen. „Na, was haben wir denn da?“, sagte Stiles und

stand auf. Durch einen Türrahmen links von ihr konnte Max Dante sehen, der an einen Tisch gefesselt war, und daneben Sarafina auf einem anderen. Sie tat so, als bemerke sie die beiden nicht. „Beeindruckend“, wendete sie sich stattdessen an Stiles, „das ist also das neue Hauptquartier der DPI? Ganz schön Hightech.“ „Das hier ist nur eine Zwischenstation“, klärte er sie auf. „Also, wollt ihr sofort sterben oder mir erst sagen, was zum Henker ihr hier macht?“ Lou unterbrach Maxine, ehe sie Stiles mit einer sarkastischen Bemerkung abspeisen konnte. „Ich bin Ihnen gefolgt.“ „Ich wusste es.“ „Hey, wenn Sie es wussten, warum sind Sie dann weggefahren?“ „Wovon redest du?“ Lou leckte sich die Lippen. „Nachdem Sie weggefahren sind, habe ich mir die Spritze angesehen, und es war noch etwas von der Droge darin. Ich habe mir Sorgen gemacht, dass sie vielleicht nicht betäubt genug ist, bin ins Auto

gesprungen und Ihnen gefolgt, um Sie zu warnen.“ Stiles hob seine Augenbraue und nickte, während Lou seine Lügen spann. Er pfiff tief und langsam, als Lou fertig war. „Und ich dachte, das wäre alles ein Trick, damit ihr Dante befreien könnt. Also, sag mir, Lou, wo hast du dein Auto gelassen? Ich habe es nicht in die Auffahrt kommen hören.“ „Mir ist das Benzin ausgegangen“, Lou hatte wirklich Fantasie, „nur ein kurzes Stück entfernt.“ „Klar.“ Stiles blickte den Mann hinter Maxine an. „Bring die beiden nach hinten und erschieß sie.“ Verzweifelt blickte Maxine zu Lou. In seinen Augen konnte sie Angst erkennen – um sie, nicht um sich selbst. Dann packte ihn der andere Mann und schubste ihn aus dem Haus. Sie selbst wurde direkt hinter ihm hinausgeschoben. Die Männer führten sie beide an die Rückseite des Hauses und stießen sie, bis sie und Lou nebeneinanderstanden, mit dem Rücken zu den Männern. „Auf die Knie.“ „Ich sterbe lieber im Stehen, danke.“ Maxine wusste selbst nicht, woher sie ihren Mut nahm. „Wie du willst.“ Der Lauf der Waffe bewegte sich

von ihrem Kreuz in ihren Nacken. Lous Bewegung kam ganz plötzlich, er duckte sich tief hinab und rammte den Mann hinter ihm mit seinem Ellenbogen. Im selben Moment drehte er sich um und warf sich auf den Kerl, der die Waffe an Maxines Kopf hielt. Die Waffe ging los, betäubte sie, aber sie spürte keinen Schmerz. Sie fand sich auf dem Boden wieder, der laute Knall hatte ihr wahrscheinlich einen Schock versetzt. Während sie sich aufrichtete, sah sie, wie einer der Schläger nach der Waffe greifen wollte, die er fallen gelassen hatte. Sie versuchte ihm zuvorzukommen, doch er war schneller und richtete sie auf Maxine. Lou rang mit dem anderen, und sie rollten sich beide auf dem Boden. Maxine hielt instinktiv die Hand nach oben, als die Waffe, die direkt auf ihre Brust zeigte, losging. Wie ein schwarzer Blitz stürzte sich gleichzeitig eine finstere Gestalt zwischen sie und den Schützen. Noch ein Schuss, dieses Mal hinter ihr. Lou hatte den Kampf um die andere Waffe gewonnen und den Angreifer in die Brust geschossen. Der Mann brach zusammen. Hinter

Lou lag sein Partner bewusstlos und blutend auf der Erde. Maxine hörte, wie Autoreifen quietschten. Stiles und der andere Schläger flüchteten, daran bestand kein Zweifel. Aber sie war zu schockiert, um sie zu verfolgen. Dante, die einzige Hoffnung ihrer Schwester, der Mann, der gerade eine Kugel für sie abgefangen hatte, lag auf dem Boden, blutete, keuchte und packte sich an die Brust. „Oh Gott“, flüsterte sie benommen. „Einfach … abbinden.“ Er presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Halt es auf, ehe ich zu viel verliere.“ Sie nickte, riss einen Streifen von ihrer Bluse ab, knüllte ihn zu einem Ball, und drückte ihn in die Wunde. Dort hielt sie ihn fest. Dante atmete durch. „Jetzt … bring mich zu Morgan.“ „Lou, hol den Wagen.“ Ohne weitere Fragen zu stellen, rannte Lou in die Dunkelheit. Sarafina kam aus dem Haus, sah Maxine, dann Dante in ihren Armen. Die Handschellen hingen noch an ihren Handgelenken,

wie Armbänder. Die Kette hatte sie entzweigerissen. „Wenn du heute Nacht versuchst, sie zu verwandeln, wird es nicht funktionieren.“ Sarafinas Stimme klang kalt. „Das kannst du nicht wissen.“ „Sie ist schon zu schwach. Und jetzt bist du verwundet. Nicht bei voller Kraft.“ „Ich sorge dafür, dass es funktioniert.“ „Es könnte dich umbringen.“ „Dann sterbe ich eben.“ Bei seinen Worten senkte Sarafina ihren Kopf und schloss die Augen. Das Auto kam mit quietschenden Reifen zurück. Sarafina ging um das Haus, Lou entgegen, und Maxine fragte sich, was sie vorhatte. Als sie zurückkam, war Lou bei ihr, und sie hielt das Isolierband in der Hand, mit dem sie ihre Füße gefesselt hatte. Sie warf es Maxine zu. „Stopf noch mehr Stoff in die Wunde. Alles, was reingeht. Dann wickele ihn fest in dieses Band ein, ganz um die Brust. So fest es geht.“ Maxine stellte keine Fragen. Sie nickte gehorsam,

riss mehr Stoff von ihrer Bluse ab und tat genau, was Sarafina ihr aufgetragen hatte. „Jetzt tritt zurück“, befahl Sarafina. Maxine legte Dantes Kopf vorsichtig auf den Boden nieder, und Sarafina kniete sich neben ihn. „Du hast deine Wahl getroffen, Dante. Zwischen mir und dieser sterblichen Frau, die du begehrst. Du hast dich für sie entschieden.“ „Warum muss ich mich überhaupt entscheiden?“ „Wirst du mit mir kommen? Sie zurücklassen?“ Er verzog das Gesicht vor Schmerz. „Das kann ich nicht.“ „Dann hast du sie gewählt.“ Sie legte ihren Arm an ihre Lippen, biss sich eine Wunde in ihr Handgelenk und presste es an seinen Mund. Dante packte ihre Hand und trank, während Sarafina weitersprach. „Das ist das letzte Mal, dass ich dir jemals helfen werde, Dante. Du wirst nie wieder die Gelegenheit bekommen, mich zu hintergehen.“ Sie entriss ihm ihr Handgelenk, nahm sich einen Stoffstreifen, den Maxine auf dem Boden hatte liegen lassen, und benutzte ihre Zähne und eine Hand, um ihn fest zu verknoten.

„Ich habe dich nicht hintergangen. Sarafina, warte …“ Ohne ein weiteres Wort und ohne zurückzublicken, verschwand sie, ihre Röcke tanzten im Wind, und ihre Armbänder und Reifen klirrten wie Glocken. Dante schloss die Augen. Vor Schmerz, glaubte Maxine. „Komm, Lou. Bringen wir ihn zum Wagen. Wir müssen ihn zu Morgan schaffen.“ Lou blickte in den Himmel, während sie Dante zwischen sich stützten. „Bald geht die Sonne auf.“ „Einen weiteren Tag übersteht sie nicht. Es muss jetzt sein. Wenn wir nicht schon zu spät kommen.“ Sie blickte suchend in Dantes Gesicht. „Hat sie die Wahrheit gesagt? Funktioniert es vielleicht nicht einmal?“ „Wenn sie zu nah an der Schwelle des Todes steht, wenn ich zu schwach bin …“ Dante seufzte und schüttelte ihre stützenden Arme ab. Den Rest des Weges ging er unsicher, aber aus eigener Kraft. Er setzte sich auf den Rücksitz. Lou und Maxine stiegen vorne ein. „Es wird funktionieren“, sagte Dante, als Lou den Wagen anließ und aus der

Auffahrt fuhr. „Es muss einfach.“ Lou legte den Gang ein, und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Keith 26. KAPITEL Dante stieg aus dem Wagen und ging auf das Haus zu. Die schlimmsten Vorahnungen schwollen in seiner Brust an und überwältigten selbst den Schmerz der Schusswunde. Er konnte sie drinnen spüren. Ihre Lebenskraft war schwach, zögerlich, und verging mit jedem Atemzug mehr. Sein eigener Körper schwankte vor Schwäche und erinnerte ihn noch einmal daran, wie eng sie wirklich miteinander verbunden waren. Maxine griff nach seinem Oberarm, um ihn zu stützen. „Alles in Ordnung?“ „Es liegt an ihr. Meine Güte, sie ist so schwach.“ „Ich weiß. Komm.“ Er ließ sich von ihr führen und bemerkte, dass Lou sie nicht begleitete. Immer wieder machte er sich Vorwürfe, dass es seine Schuld wäre, wenn Morgan stirbt. Er hätte von Anfang an auf sie hören sollen. Er hätte sie sofort verwandeln sollen, als sie noch kräftig war. Selbst wenn es ihm jetzt noch gelang, sie zu retten, würde sie nie die

übernatürliche Stärke erlangen, die ihr zu eigen geworden wäre, hätte er nur früher gehandelt. Seine Selbstsucht war verachtenswert. Seine Angst. Ja, er hatte Angst vor ihr gehabt. Angst vor der Macht, die sie über ihn hatte. Sie konnte ihn verletzen, ihn zerstören. Das würde sie auch – wenn sie starb. Sie erreichten das obere Stockwerk, und Maxine führte ihn den Korridor entlang ins Schlafzimmer. Sie klopfte einmal und öffnete dann die Tür. Lydia und David standen neben dem Bett, doch Dantes Blick erfasste sie kaum, sondern richtete sich gleich auf Morgan. Oh Gott, Morgan. Er schloss die Augen und neigte den Kopf. Sie sah bereits wie ein Gespenst aus. Maxine ging zu Lydia, zu David. Sprach leise mit ihnen. Dante sah zu, wie sie sich alle hinabbeugten, um Morgans Stirn zu küssen, und dann an ihm vorbei aus dem Zimmer gingen. Dann beugte Maxine sich über sie. „Ich habe ihn hergebracht, wie versprochen.“ Mit aller Kraft nahm Dante sich zusammen, legte eine ruhige Miene auf und trat endlich in Morgans

Blickfeld. Als sie ihn sah, zerriss ihm ihr schwaches Willkommenlächeln das Herz. Dann schaute sie wieder zu ihrer Schwester. „Danke.“ Maxine nickte. „Ich werde dich nie wiedersehen, oder?“ Morgan antwortete nicht, und Maxine beugte sich hinab, um sie vorsichtig zu umarmen. Schließlich richtete sie sich auf und trat zurück. „Werde glücklich.“ Dante blickte zum Fenster. Es war fast Morgen. Er wusste, dass sie beide nach der Verwandlung schwach sein würden, selbst wenn es ihm gelang. Sie würden verletzbar sein. Hier konnte er es nicht tun. Er brauchte sie an einem sicheren Zufluchtsort, geschützt vor der Sonne. Behutsam beugte er sich über Morgan, schob einen Arm unter sie und hob sie aus dem Bett. Sie war leicht wie ein verdorrter Zweig, als sie hinauf in seine Augen sah. Gott, wie er sie liebte. Noch einmal blickte er zu Maxine. „Danke, dass du uns geholfen hast.“ „Ich wünschte nur, ich hätte früher gemerkt, wer

die wahren Monster sind.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und trug Morgan zum Balkon. Ihr weißes Nachthemd umflatterte ihn. Mit letzter Kraft sprang er über das Geländer. Die Landung war unsanft, aber es gelang ihm, stehen zu bleiben. Dann trug er sie fort vom Haus und zu den Klippen. Er konnte Maxines Augen in seinem Rücken spüren, als er in der Nacht verschwand. Auch ihre Tränen fühlte er. Das Versteck unter dem Haus war genau der richtige Platz. Soweit er wusste, hatte sie nie jemandem, nicht einmal ihrer Schwester, von diesem geheimen Ort erzählt. Dort sollten sie sicher sein. Er würde sie nicht in den Sarg legen, noch nicht. Nicht, wo sie so nahe am Tod stand und sie so viel Angst litt. Stattdessen riss er die Verkleidung und das Satinpolster heraus und machte daraus ein gemütliches Nest auf dem Boden. Dann setzte er sich, den Rücken zur Wand, und lehnte sie gegen seinen Körper. Endlich spürten seine Lippen die ihren, presste sein Mund sich auf ihren. Sie erwiderte den Kuss. Es war Antwort genug,

auch wenn sie sich körperlich kaum bewegen konnte. Er berührte ihr Kinn. „Jetzt wirst du bei mir sein. Für immer bei mir, Morgan. Ich werde nie mehr an dir zweifeln.“ „Ja“, flüsterte sie. Dante hob ihr Kinn, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals, biss zu und durchtrennte die Schlagader. In ihm begannen Feuer zu lodern. Ihr Puls, der gegen seine Zunge flatterte. Der warme Fluss ihres Blutes. Die Erregung, die in ihrem Körper erwachte, selbst in diesem geschwächten Zustand. Das alles verband sich und schuf ein ebenso großes Begehren in ihm. Und sein Hunger tobte, wie der Hunger eines Vampirs es immer tat. Er durfte nicht zu viel nehmen, mahnte er sich. Nur ein wenig. Er fühlte, wie sie ihm entglitt, und trank in tiefen Schlucken, bis er sie in das schattige Reich zwischen Leben und Tod gedrängt hatte. Ihr Herz stotterte, stolperte. Er hob seinen Kopf und starrte auf ihre halb geschlossenen Augen hinab. Ein Atemzug entkam ihr. Ein rasselnder, gebrochener Atemzug. So schnell er konnte riss er sich eine Wunde ins

Handgelenk, und als das tiefrote Blut hervorquoll, drückte er es an ihre Lippen. Die Berührung dieser Flüssigkeit belebte sie. Sie schluckte, und nachdem ihr Mund sich erneut gefüllt hatte, schluckte sie wieder. Und dann begann sie zu saugen, um ihm den Lebenssaft zu entziehen. Sie brauchte viel, und er wusste nur allzu genau, wie sie sich fühlte. Nicht nur, weil er sich selbst schon so gefühlt hatte, sondern weil er alle ihre Empfindungen mit ihr gemeinsam erlebte. Sie waren eins, während sie von seinem Handgelenk trank. Alles, was sie spürte, spielte sich auch in seinem Gehirn ab. Alles, von ihrer tiefen Liebe zu ihm bis zu ihrem unstillbaren Verlangen. Er wurde schwächer, und sie saugte stärker. Schwindel überkam ihn, und sie trank weiter. Sein Kopf fiel zur Seite, und sein Blick vernebelte sich zusehends. Er zog leicht an seinem Handgelenk, doch sie hielt ihn fest und trank weiter. Endlich entriss er sich ihr mit einem festen Ruck. Er verband sich das Handgelenk mit einem Stück Stoff. Sie fiel zurück, ihr Rücken bog sich über seinen

Arm, ihre Augen fielen zu. Dante richtete ihren Oberkörper auf und nahm sie in seine Arme. „Bitte, stirb nicht. Nicht jetzt. Alle Mächte dieser Welt, lasst es funktionieren. Lasst es genug sein. Es muss!“ Ihre Lippen bewegten sich, kaum merklich, an seinem Ohr. Ihr Atem, ein Flüstern, schwach, aber eindringlich. „Liebe … mich … ein … letztes … Mal.“ Verzweifelt schloss er seine Augen. „Es kann nicht das letzte Mal gewesen sein, mein Herz. Das kann es nicht.“ Er zog sie auf sich, zog das weiße Nachthemd hinauf, bis sich der Stoff an ihrer Taille in Falten legte. Darunter war sie nackt. Sie schmiegte sich jetzt gegen seine Brust, ihre Beine lagen um seine Hüften und hatten sich hinter ihm verschlungen. Er befreite sich von seinen Jeans und drang sofort in sie ein. Sie war feucht, sehnsüchtig und bereit für ihn. Durch die Blutlust. Selbst in ihrem Zustand galt ihr Hunger seinem Körper genauso sehr wie seinem Blut, und so würde es immer ein. Er packte ihre Hüften und drang wieder tief in sie ein. Er wusste, sie war zu

schwach, um sich zu bewegen, deshalb übernahm er auch ihren Part. Sanft, langsam, so behutsam wie er nur konnte. Er küsste sie und hielt sie fest und bewegte sich ganz vorsichtig in ihr. Er hatte noch nie so geliebt – in keinem seiner beiden Leben. Sie waren immer noch miteinander verbunden, als die Sonne aufging. Und als sie in Schlaf fiel, konnte er nicht sagen, ob sie tot war … oder untot. Und dann schlief auch er ein.

Keith EPILOG Einen Monat später Maxine hatte sich ordentlich in Schale geschmissen und bewunderte Lou, der in seinem Smoking wirklich toll aussah. Mit einer Hand hielt sie ihn fest, mit der anderen Lydia. Auch sie sah glamourös aus. Pailletten, ein gewagter Ausschnitt, und prachtvoll herabfallende blonde Locken. Sie hatte den ganzen Abend begierige Blicke auf sich gezogen, von Männern wie von Frauen. Alles war wunderschön, aber auch bittersüß. „Das ist unglaublich“, sagte Stormy und beugte sich über Lou, um Maxine anzugrinsen. „Ich kann nicht glauben, dass ihr ein Extraticket für mich organisiert habt.“ „Für das beste Drehbuch sind nominiert …“, sagte jetzt die atemberaubend schöne Moderatorin auf der Bühne. Stormy lehnte sich zurück, während sie sich alle auf die Bühne konzentrierten und Maxine den Atem anhielt. David saß auf der anderen Seite neben

Lydia, und seinem Gesichtsausdruck nach war er genauso nervös wie sie, als das Starlet auf der Bühne den Umschlag aufriss. „Und die Auszeichnung geht an …“ Als die Schauspielerin aufblickte, hatte sie Tränen der Rührung in ihren Augen. „Morgan De Silva für Twilight Hunger.“ Applaus toste durch den Saal. Die Favoritin der Herzen hatte gewonnen. Als die Menge sich erhob, schlossen die fünf sich an. Sie umarmten sich. Maxine und Lydia weinten beide hemmungslos, und David ging den Gang hinauf zur Bühne, während eine Stimme verkündete: „Im Namen der kürzlich verstorbenen Morgan De Silva, David Sumner, ihr Produzent, Regisseur und enger Freund.“ Er betrat die Bühne, nickte traurig, als er der hübschen Moderatorin die Hand schüttelte, und nahm ihren Kuss auf die Wange entgegen. Er hielt die goldene Statue in Händen, kämpfte mit den Tränen und wartete, bis der Applaus sich gelegt hatte. Auf der großen Leinwand hinter ihm erschien plötzlich ein überlebensgroßes Foto von Morgan,

bevor die Krankheit ihre Spuren hinterlassen hatte. „Gott, sie war so schön“, hörte Maxine jemanden sagen. „Und so jung.“ Die Menge setzte sich langsam wieder hin, und der Applaus verhallte. David sprach. „Danke. Morgan wäre so aufgeregt und geehrt gewesen. Ich wünschte nur, sie könnte heute selber auf dieser Bühne stehen und den Preis in Empfang nehmen. Dieser Film – nicht nur dieser, sondern alle drei Filme – bedeutete ihr alles. Und ich hoffe, durch sie lebt Morgan weiter. Danke. Vielen Dank.“ Wieder donnerte der Applaus, als zwei Models ihn von der Bühne begleiteten. Lou ging mit Maxine in den frühen Morgenstunden auf den Friedhof. Dort angekommen, hielt er sich jedoch zurück. Ließ ihr Freiraum. Sie stand allein und hielt die goldene Statue in beiden Händen. Maxine starrte den eleganten Grabstein aus rosa Granit an, auf den Morgans Name, zusammen mit ihrem Geburts-und Todesdatum, eingraviert war. Maxine schniefte und hielt die Trophäe dem

Grabstein hin. „Du hast es geschafft, meine schöne Schwester. Du hast gewonnen.“ Hinter dem Grabstein trat Morgan hervor. Sie konnte das Lächeln in ihrem Gesicht nicht unterdrücken, als sie die Statue nahm und sie an ihre Brust presste. „Habe ich das wirklich? Oh Gott, das ist einfach unglaublich. Gewonnen! Ich habe gewonnen!“ Sie drehte sich im Kreis, legte den Kopf zurück und lachte. Sie liebte, wie der volle, klare, kräftige Klang ihrer Stimme durch die Nacht schallte. Dante kam ebenfalls aus den Schatten und nahm sie in die Arme. Starke Arme, die sie gerne um sich spürte. „Lass uns nicht vergessen, wessen Geschichte es eigentlich war.“ „Oh, bitte“, bestätigte sie und lächelte ihn an. „Bis ich ein Drehbuch daraus gemacht habe, war überhaupt kein Leben darin.“ „Dein Drehbuch hatte kein Leben, bis du es mit meiner Geschichte gefüttert hast“, neckte er sie. „Na gut. Teilen wir uns den Preis eben.“ Dante küsste sie, und ihr Lachen verstummte. „So,

wie wir alles teilen“, flüsterte er, und seine tiefe Stimme, so nahe an ihrem Ohr, ließ köstliche Schauer über ihren Rücken fahren. Erst als Maxine sich überdeutlich räusperte, ließ Dante sie endlich los. „Du siehst sie schließlich viel öfter als ich“, entschuldigte sie sich und hielt ihre Arme auf, „es macht dir doch nichts aus?“ Dante hob ergeben seine Arme. Morgan drückte Maxine mit einem Grinsen fest an sich. Ihre Schwester. Ihre ganz eigene Schwester. Morgan konnte kaum glauben, wie sehr sie Maxine in nur zwei Monaten lieben gelernt hatte. Aber wie es schien, hatte sie jetzt, da Überleben nicht mehr das Wichtigste für sie war, endlich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was Maxine für ihr Leben wirklich bedeutete. „Du siehst wunderbar aus“, schwärmte Maxine, hielt sie auf Armlänge und ließ ihre grünen Augen über Morgans Gesicht gleiten. „Gesund. Strahlend. Okay, ein bisschen blass, aber das ist wohl ganz normal.“ „Es geht mir auch wunderbar, weißt du“, erklärte Morgan. „Besser als je zuvor, Max. Stärker.

Kräftiger. Ich fühle mich lebendiger, als – als ich es lebendig je gewesen bin. Alles dank dir.“ „Ich hätte dich fast umgebracht“, flüsterte sie. „Nein, Liebes. Du hast mich gerettet. Du bist aufgetaucht, als ich dich am meisten gebraucht habe. Du bist geblieben, obwohl ich versucht habe, dich zu vertreiben. Du hast mich am Leben gehalten, du hast meine Liebe gerettet und ihn zu mir gebracht.“ Immer noch blieb Maxines Blick gesenkt. Morgan fasste ihr Kinn, hob es und sah ihr fest in die Augen. „Schatz, wenn du nicht gekommen wärest, hätte Stiles uns beide umgebracht. Auch wenn es etwas gedauert hat, bis du die Wahrheit erkannt hast, war es doch deine Gegenwart, durch die wir es geschafft haben. Davon bin ich überzeugt.“ Maxine schniefte und drückte sie wieder an sich. „Es tut mir leid, dass es so knapp war. Ich hätte von Anfang an auf dich hören sollen.“ „Das war ein Fehler, den ich auch gemacht habe, Maxine“, sagte Dante leise. „Ich glaube, Malone war der Einzige, der die Dinge von Anfang an deutlich überblickt hat.“

„Deutlich, ist klar“, sagte Lou, der sich ihnen endlich anschloss, „ich dachte, ich wäre durchgedreht.“ „Gott sei Dank bist du das nicht.“ Dante streckte seine Hand aus und schüttelte Lous. Morgan nahm Maxine an der Hand und führte sie ein Stück fort. Die beiden Männer begannen zwischen den Grabsteinen ein Gespräch. „Wir müssen reden“, sagte sie. „In Ordnung.“ Die zwei Schwestern machten einen Spaziergang, wandelten auf den verschlungenen Pfaden zwischen Grabsteinen, die tiefe Schatten auf das noch saftige Gras, die frischen Blumen und die Toten warfen. Laublose Bäume wiegten sich im scharfen Nachtwind. Der Duft von Blumen auf einem frischen Grab und der drohende Winter belebten die Luft. „Ich wollte mit dir über das Haus sprechen“, begann Morgan. „Du hast es kaum benutzt, seit ich – na, seit meiner Beerdigung.“ Eine kalte Brise streichelte über ihren Nacken, und sie zitterte. „Gott, wie komisch, das zu sagen.“

„Es ist dein Haus, Morgan. Du musst immer noch irgendwo wohnen. Ich will es dir nicht wegnehmen. Ich meine, das Testament war nur eine Formalität. Es gehört mir nur auf dem Papier.“ „Nein, ich meinte es ernst. Es soll dir gehören“, sagte Morgan. „Außerdem kann ich es nicht bewohnen und dadurch riskieren, entdeckt zu werden. Ich will, dass dir das Haus gehört. Benutz es. Führe dein Geschäft von dort aus, wenn du willst. Das wäre für uns beide am besten.“ „Für uns beide, hm?“, fragte Maxine. Sie blieb neben einer Bank stehen, die man für Besucher am Wegrand aufgestellt hatte, und setzte sich. Morgan setzte sich neben sie. „Und was genau haben du und Dante davon? Die ganze Zeit Verwandte um sich zu haben klingt nicht gerade wie der Traum eines frischgebackenen Paares. Ihr zwei seid so ausgelassen.“ „Du hast ja keine Ahnung“, flüsterte Morgan und wandte sich ab. „Er ist unglaublich. Ich hätte nie gedacht, ich könnte mich so … vollkommen fühlen. Ich hatte so lange niemanden. Nur David. Und jetzt, plötzlich, habe ich dich, und ich habe diesen Mann,

der – er würde für mich sterben. So sehr liebt er mich. Das kann ich noch gar nicht richtig fassen.“ „Umso mehr ein Grund, euch eure Privatsphäre zu lassen“, sagte Max. „Wenn ich einziehen würde, brächte euch beiden das gar nichts.“ Morgan blinzelte wieder, als ihr die Tränen in die Augen stiegen, und ihre Stimme brach genauso, wie sie es tat, wenn sie über Dantes Liebe nachdachte. „Doch, doch“, sagte sie zu ihrer Schwester. „Wenn du da bist, hätte ich eine Tarnung.“ „Tarnung?“ Morgan nickte und begann, vor der Bank auf und ab zu gehen. „Im Moment muss ich unglaublich aufpassen, damit mich keiner bemerkt. Wenn du hier wärest, und jemand mich sieht, würde jeder annehmen, du bist es. Ich könnte wieder rausgehen, ab und zu. Einen Film anschauen oder einkaufen.“ Sie blieb stehen, hockte sich vor Maxine hin und nahm ihre Hände. „Und außerdem, wenn meine Nachkommen das Haus bewohnen, hören vielleicht die Fremden auf, hier rumzuschnüffeln.“ „Es kommen Leute her?“, fragte Maxine besorgt.

Morgan nickte. „Ja, ab und zu. Neugierige Fans oder Kinder aus dem Dorf. Hey, ich bin berühmt. Ich habe eine Auszeichnung gewonnen, weißt du.“ Maxine lächelte. „Ja, das habe ich irgendwo gehört.“ „Und?“ Einen Augenblick dachte Maxine darüber nach. „Es wäre wirklich ein tolles Haus für mein Geschäft. Aber, ähm, na ja, Stormy ist meine Partnerin. Sie würde auch kommen müssen.“ Nachdenklich nickte Morgan. Sie hatte die blonde junge Frau nur aus der Ferne beobachtet, aber etwas an ihr war ihr seltsam vertraut. „Weiß sie von mir?“ „Ich habe es ihr nicht gesagt“, erklärte Maxine, „aber merkwürdigerweise scheint sie eine Ahnung zu haben. Und ich vertraue ihr. Übrigens ist sie davon überzeugt, dass sie dich getroffen hat, als sie im Koma lag. Sie redet ununterbrochen davon, wie du sie zurück ins Land der Lebenden geführt hast. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass das alles kein Traum war. Stormy hat das Gefühl, dir etwas schuldig zu sein. Du kannst dich darauf

verlassen, sie behält dein Geheimnis für sich.“ Da war sie endlich, die Erinnerung, die sie nicht hatte einordnen können, jetzt löste sich ein weiteres Rätsel. Sie war der besten Freundin ihrer Schwester schon einmal begegnet – im Traum, als sie im Krankenhaus lag und zwischen Leben und Tod schwebte. Oder … vielleicht war es wirklich kein Traum gewesen. „Und natürlich ist da auch Lou. Ich muss auch an ihn denken“, fuhr Maxine laut grübelnd fort. „Meinst du, er würde hierherziehen? Um mit dir zu arbeiten?“ Maxine zuckte mit den Schultern. „Meine Aufgabe wäre dann wohl, ihn zu überzeugen, es wenigstens zu versuchen. Er redet neuerdings von einer kleinen Hütte am See und einem Fischerboot. Er geht bald in den Ruhestand, weißt du.“ „Und was hält dich dann noch, Maxine? Komm her. Mach es.“ Sie nahm die Hand ihrer Schwester. „Ich vermisse dich. Wenn du hier wärest, hätten wir mehr Zeit, um all die Jahre aufzuholen, die wir verpasst haben.“ „Wenn du dir sicher bist, dass du uns hier haben

willst.“ „Du bist meine Schwester“, sagte Morgan, jetzt mit einem Lächeln, weil sie bereits wusste, Maxine war einverstanden, „und du weißt, ich will dich hier haben.“ „Okay. Dann komme ich. Der Supernatural Investigations Service bekommt sein Hauptquartier in Easton, Maine.“ „SIS“, sagte Morgan mit einem kurzen Nicken, „gefällt mir.“ „Das dachte ich mir bereits.“ Sie standen Arm in Arm von der Bank auf und gingen zurück zu den Männern am Grab. Morgan schmiegte sich in Dantes Arme, und er hielt sie sanft und liebevoll fest. „Bald geht die Sonne auf, mein Herz“, sagte er zu ihr. „Ich weiß.“ Sie lächelte ihre Schwester an, genauso wie den Mann, der neben Maxine stand und ein wenig unbehaglich aussah. „Sehen wir uns bald?“ „Ganz bald“, versprach Maxine. Morgan und Dante drehten sich um und verschwanden in den Schatten.

„Weißt du, sie ist jetzt glücklicher, als sie es ihr ganzes Leben gewesen ist“, erklärte Maxine, die ihnen nachsah, bis sie verschwunden waren. „Sie hat so viel Glück.“ „Wie das?“, fragte Lou. Er ging zum Auto, neben ihm Maxine. „Ist das nicht offensichtlich? Sie sind Seelenverwandte. Wahnsinnig, wild, für immer verliebt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie erfüllend es sein muss, von einem Mann so geliebt zu werden, wie Dante Morgan liebt. Die beiden haben etwas ganz Besonderes.“ „Wahrscheinlich hast du recht“, gab Lou zu und legte wie beiläufig einen Arm um Maxine, als sie den Pfad zum Parkplatz hinaufgingen. „Manch einer findet das sein ganzes Leben lang nicht.“ „Ja. Und einige haben es direkt unter ihrer Nase und weigern sich, hinzusehen.“ „Meinst du?“, fragte er und sah sie an. Maxine verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Ja, meine ich.“ Scheinbar teilnahmslos ging Lou weiter. Aus den dunkelsten Schatten heraus beobachtete

Sarafina, wie Dante mit den Sterblichen redete und lachte und sie endlich, seine Geliebte fest im Arm, wieder verließ. „Ich werde dich ewig lieben“, flüsterte er Morgan zu, „ich glaube, auf meine Art habe ich das bereits getan.“ „Wir sind füreinander bestimmt. Dante. Das weißt du doch, oder nicht?“ „Ich habe es immer gewusst. Aber als du es zum ersten Mal gesagt hast, hat es mich erschreckt.“ Er küsste sie sanft. „Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.“ Sie lächelte und erwiderte seinen Kuss. „Wenn es nicht noch mal passiert.“ Dann tanzte sie ein Stück von ihm fort. Ihre Augen funkelten vor Liebe und Leben. „Wer als Erster zurück am Haus ist!“ Sie wirbelte auf der Stelle herum, rannte davon und lachte, rannte fast so schnell, wie Sarafina selbst sich bewegen konnte. Dante folgte ihr, ohne zurückzublicken. Das also war es, was er wollte. Er hatte jetzt eine neue Familie. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Dante – die letzte Verbindung zu ihrer eigenen

Familie, ihr Erbe, ihr Blut. Zur Hölle mit ihm. Er hatte sie betrogen. Genauso wie jedes andere Mitglied ihrer Familie sie betrogen hatte. Es war egal, dachte sie, als sie aus den Schatten trat und sich ins Mondlicht auf den Boden setzte. Sie war ein Vampir. Sie brauchte keine Familie. Sie brauchte überhaupt niemanden. Nein. Nie mehr. – ENDE –

Keith

Table of Contents IMPRESSUM 1. KAPITEL 2. KAPITEL 3. KAPITEL 4. KAPITEL 5. KAPITEL 6. KAPITEL 7. KAPITEL 8. KAPITEL 9. KAPITEL 10. KAPITEL 11. KAPITEL 12. KAPITEL 13. KAPITEL 14. KAPITEL 15. KAPITEL 16. KAPITEL 17. KAPITEL 18. KAPITEL 19. KAPITEL 20. KAPITEL

21. KAPITEL 22. KAPITEL 23. KAPITEL 24. KAPITEL 25. KAPITEL 26. KAPITEL EPILOG