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German Pages 367 [368] Year 2023
Schriften zum Europäischen Recht Band 215
Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip des Unionsrechts Von Annchristin Streuber
Duncker & Humblot · Berlin
ANNCHRISTIN STREUBER
Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip des Unionsrechts
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann
Band 215
Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip des Unionsrechts Von Annchristin Streuber
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahr 2023 als Dissertation angenommen.
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© 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-19041-6 (Print) ISBN 978-3-428-59041-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Arbeit wurde im Mai 2023 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im September 2022 fertiggestellt. Für die Drucklegung wurde es aktualisiert und auf den Stand von Mitte Mai 2023 gebracht. Dabei wurden insbesondere die zwischenzeitlich erschienene Dissertation von Kristina Müller, „Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Mehrebenensystem der Europäischen Union“ zum gegenseitigen Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Puig Gordi u. a. (C-158/21) berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jan Henrik
Klement. Seine Förderung und Ermutigung haben meiner akademischen Entwick-
lung und der Entstehung dieser Arbeit den Weg geebnet. Herzlich danken möchte ich auch Frau Prof. Dr. Paulina Starski für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die wertvollen Anregungen für die Drucklegung. Den Herausgebern der Reihe „Schriften zum Europäischen Recht“, Herrn Prof. Dr. Siegfried Magiera, M. A., Herrn Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Herrn Prof. Dr. Matthias Niedobitek und Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Karl-Peter Sommermann danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Mein herzlicher Dank gilt außerdem der Johanna und Fritz Buch GedächtnisStiftung und der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg im Breisgau, die die Veröffentlichung dieses Werks durch großzügige Druckkostenzuschüsse unterstützt haben. Ebenso bedanken möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl von Professor Klement in Mannheim, die zur Entstehung dieser Arbeit auf verschiedene Weise beigetragen haben. Für den wissenschaftlichen Austausch, die Unterstützung bei der Literaturbeschaffung und nicht zuletzt die notwendige Ablenkung bin ich sehr dankbar. Mein größter Dank gilt schließlich meinem Mann für seinen fortwährenden Zuspruch, seinen Optimismus und die vorbehaltlose Unterstützung während der Anfertigung dieser Arbeit. Stuttgart, im Juni 2022
Annchristin Streuber
Inhaltsübersicht Einleitung 29 § 1 Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 § 2 Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 A. Vertrauensbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Der Arbeit zugrundeliegender Vertrauensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 § 3 Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Kapitel
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung des EuGH 40
§ 1 Referenzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 A. Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 B. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 C. Weitere relevante Referenzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 § 2 Systematisierung: Anwendungsbereich und rechtliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . 78 A. Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Regelungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 C. Weitere normative Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 D. Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 § 3 Rechtspolitische Dimension: Der Vertrauensgrundsatz als Integrationsprinzip . . . . . 122 A. Ziel: Schaffung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen . . . . . . . . . . . . 122 B. Ermöglichung fortbestehender Pluralität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (Einheit in Vielfalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 C. (Vermeintlicher) Erhalt staatlicher Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 D. Föderale Dimension des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
8
Inhaltsübersicht 2. Kapitel
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsprinzip des Unionsrechts 131
§ 1 Hinführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 § 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 A. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 B. Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 C. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Ausfluss loyaler Zusammenarbeit auf Basis gemeinsamer europäischer Werte (Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 EUV) . . 149 § 3 Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 A. Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 B. Einordnung des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 § 4 Fazit und Folgen der Einordnung für Zweifelsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 A. Bindung des Sekundärrechtsgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 B. Erforderlicher Bezug zum Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Kapitel
Grenzen der Legalitätsvermutung 174
§ 1 Hinführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 § 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 B. Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 C. Entwicklung allgemeiner Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 § 3 Weitere Ausnahmetatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 A. Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 B. Entwicklung allgemeiner Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 4. Kapitel
Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise 259
§ 1 Hinführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 § 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 A. Die Polykrise der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 B. Auswirkungen auf die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . 267
Inhaltsübersicht
9
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 A. Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens (Verfassungsaufsicht) 277 B. Maßnahmen der positiven Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 C. Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente . . . . . . . . . . . 321 D. Abschlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Inhaltsverzeichnis Einleitung 29 § 1 Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 § 2 Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 A. Vertrauensbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I.
Gegenseitiges Vertrauen als außerrechtliches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . 32
II.
Gegenseitiges Vertrauen als Grundsatz mit normativem Gehalt . . . . . . . . . 34
III. Gegenseitiges Vertrauen als hybrides Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 B. Der Arbeit zugrundeliegender Vertrauensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 § 3 Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Kapitel Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung des EuGH 40
§ 1 Referenzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 A. Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 I.
Frühe Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
II.
Konkretisierung in neuerer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Europäisches Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
B. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Zivil- und Handelssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) Regelungen zur Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Anerkennung und Vollstreckung mitgliedstaatlicher Entscheidungen 48 c) Weitere Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung . . . . 50 a) Regelungen zur Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 b) Anerkennung und Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 c) Weitere Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Europäisches Insolvenzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
12
Inhaltsverzeichnis 4. Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 II.
Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Doppelbestrafungsverbot nach Art. 54 SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Anforderungen an die ausstellende und vollstreckende Justiz behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Erfordernis einer gesonderten nationalen justiziellen Entscheidung und gerichtlichen Rechtsschutzes im Ursprungsmitgliedstaat . . . . . 62 d) Weitere Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Weitere Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
III. Gemeinsames Europäisches Asylsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Dublin-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Asylverfahrensrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 C. Weitere relevante Referenzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 I.
Völkerrechtliche Streitbeilegungsmechanismen und Investor-Staat-Schiedsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Beitritt zur EMRK (Gutachten 2/13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Investitionsschutzverträge zwischen EU-Mitgliedstaaten (Intra-EU-BITs) 73
II.
Anforderungen an die Qualität des Rechtsschutzes in den Mitgliedstaaten 75
III. Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 § 2 Systematisierung: Anwendungsbereich und rechtliche Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . 78 A. Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I.
Keine Beschränkung auf bestimmte Sachbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
II.
Geltung im Verhältnis zu Mitgliedstaaten und privilegierten Drittstaaten . 81
III. (Keine strenge) Akzessorietät des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . 82 B. Regelungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 I.
Pflicht zur Vermutung (unions-)rechtskonformen Handelns (Legalitäts vermutung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Reichweite der Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Wahrung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtspflege und Rechtssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 aa) Gleichwertigkeit nationaler Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . 89 bb) Wahrung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Wahrung völkerrechtlicher Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Gegenstand der Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Inhaltsverzeichnis
13
3. Folge: Pflicht zum gegenseitigen Kontrollverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . 93 II.
Verbot, die horizontale Zusammenarbeit an die Einhaltung weitergehender nationaler Standards zu knüpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
C. Weitere normative Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I.
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Grundlage gegenseitiger Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Seitenblick: Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung . . . . . . . . . 96 2. Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Eigene Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
II.
Auslegungssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Auslegungsgrundsatz . 102 2. Wiederkehrende Auslegungsmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Ablehnung der gegenseitigen Anerkennung nur unter engen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Vermutung für eine bestimmte Verantwortungsteilung . . . . . . . . . . 105 c) Subsidiarität des Rechtsschutzes im Anerkennungsstaat . . . . . . . . . 106 d) Mindestanforderungen an die entscheidende Stelle im Ursprungsmitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 aa) Begriff des „Gerichts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 bb) Begriff der „Justizbehörde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 cc) Aber: Kein aus dem Vertrauensgrundsatz folgendes allgemeines Unabhängigkeitserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
III. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Grundlage ungeschriebener (Kooperations-)Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Informations- und Berücksichtigungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Pflicht zu vertrauenswürdigem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Prüf- und Begründungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Vermeidung von Ablehnungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV. Privilegierung der Beziehungen der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten 115 D. Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I.
Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Sämtliche mitgliedstaatlichen Hoheitsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Exekutive und Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Nationaler Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Bezug zum Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
II.
Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1. Bindung beim Abschluss völkerrechtlicher Abkommen . . . . . . . . . . . . 119
14
Inhaltsverzeichnis 2. Bindung des unionalen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
§ 3 Rechtspolitische Dimension: Der Vertrauensgrundsatz als Integrationsprinzip . . . . . 122 A. Ziel: Schaffung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen . . . . . . . . . . . . 122 B. Ermöglichung fortbestehender Pluralität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (Einheit in Vielfalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 C. (Vermeintlicher) Erhalt staatlicher Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 D. Föderale Dimension des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
2. Kapitel Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsprinzip des Unionsrechts 131
§ 1 Hinführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 § 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 A. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 B. Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I.
Ableitung aus Sekundärrechtsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
II.
Ableitung aus den Art. 67, 81 f. AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
III. Art. 4 Abs. 2 EUV als Grundlage des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . 138 IV. Herleitung aus Art. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 V.
Ableitung aus Art. 2 i. V. m. Art. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
VI. Gegenseitiges Vertrauen als funktionales Konstruktionsprinzip des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 VII. Verankerung im Loyalitätsgrundsatz (Art. 4 Abs. 3 EUV) . . . . . . . . . . . . . 145 VIII. Ableitung aus dem Prinzip der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 IX. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 C. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Ausfluss loyaler Zusammenarbeit auf Basis gemeinsamer europäischer Werte (Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 EUV) . . 149 I.
Ausgangspunkt: Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . 149
II.
Art. 2 EUV als Geschäftsgrundlage des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . 152
III. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Unterprinzip des Grund satzes der loyalen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 § 3 Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 A. Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 B. Einordnung des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 I.
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
II.
Grundlegung: Europäische Prinzipienordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Inhaltsverzeichnis
15
1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Funktion von Prinzipien in der Unionsrechtsordnung . . . . . . . . . . . 160 aa) Auslegungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 bb) Lückenfüllungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 cc) (Rechtmäßigkeits-)Maßstab für den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . 162 b) Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Kategorisierung der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Qualifikation des Vertrauensgrundsatzes als verbundmoderierendes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 § 4 Fazit und Folgen der Einordnung für Zweifelsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 A. Bindung des Sekundärrechtsgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 B. Erforderlicher Bezug zum Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
3. Kapitel
Grenzen der Legalitätsvermutung 174
§ 1 Hinführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 § 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 B. Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 I.
Zunächst: Restriktive Haltung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Referenzgebiet: Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (Brüssel IIa-VO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Referenzgebiet: Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl . 180
II.
Herausbildung von grundrechtlichen Ausnahmen in den einzelnen Referenzgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Gemeinsames Europäisches Asylsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 a) Auftakt: Die Entscheidung N. S. u. a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Nachfolgend: Bestätigung und Konkretisierung der Grundsätze der N. S.-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 aa) Betonung des Erfordernisses systemischer Defizite . . . . . . . . . 186 bb) Erstreckung der Prüfung auf den Zeitraum nach der Zuerkennung internationalen Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 cc) Übertragung auf die Asylverfahrens-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 c) Kein (klarer) Verzicht auf das Erfordernis systemischer Defizite . . . 189 d) Keine Ausnahme von der Legalitätsvermutung bei systematischer Verweigerung des Flüchtlingsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
16
Inhaltsverzeichnis 2. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Ausnahmen von der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung wegen unmenschlicher und erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 aa) Übertragung der N. S.-Rechtsprechung: Aranyosi und Căldăraru 195 bb) Bestätigung und Konkretisierung der Aranyosi-Rechtsprechung 197 b) Rechtsstaatsspezifische Grenzen der Legalitätsvermutung . . . . . . . . 198 aa) Leitentscheidung: LM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 bb) Nachfolgend: Festhalten am Erfordernis der Einzelfallprüfung 201 cc) Übertragung auf Fälle einer (drohenden) Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht . . 204 dd) Explizites Festhalten am Erfordernis systemischer Mängel . . . . 205 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4. Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 a) Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 b) Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen . . . . . . . . . . . 210 III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 C. Entwicklung allgemeiner Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 I. II.
Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Grundrechtliche Mindeststandards der horizontalen Kooperation . . . . . . . 219 1. Anknüpfung an die Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Anknüpfung an die Garantien der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3. Anknüpfung an die Werte des Art. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 a) Bestimmung des grundrechtlichen Mindeststandards anhand von Art. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 aa) Menschenrechtliche Garantien des Art. 2 EUV als Geschäftsgrundlage des horizontalen Solange-Vorbehalts . . . . . . . . . . . . 223 bb) Justiziabilität der europäischen Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 cc) Keine Umgehung der Kompetenzordnung der Verträge . . . . . . 227 b) Konkretisierung der grundrechtlichen Grenzen nach Art. 2 EUV . . 229 aa) Vorbemerkung: Beschränkung auf Essentialia . . . . . . . . . . . . . 229 bb) Achtung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 cc) Wahrung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 dd) Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 ee) Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
III. Schwelle für die Suspendierung des Solange-Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . 236
Inhaltsverzeichnis
17
1. Erfordernis systemischer Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Begriff der systemischen Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Erfordernis der Rechtswegerschöpfung im primär verantwortlichen Mitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 IV. Folgen bei Widerlegung der horizontalen Solange-Vermutung . . . . . . . . . . 243 1. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. Eckpunkte zur Grundrechtsprüfung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 a) Betroffenheit der Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion 244 b) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 c) Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 d) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 V.
Sonderfall: Beschlüsse nach Art. 7 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 § 3 Weitere Ausnahmetatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 A. Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 I.
Europäisches Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
II.
Bevorstehender Austritt eines Mitgliedstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 B. Entwicklung allgemeiner Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
4. Kapitel
Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise 259
§ 1 Hinführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 § 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 A. Die Polykrise der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 I. II.
Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Für die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes relevante Problemfelder . . 260 1. Migrationskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Rechtsstaatlichkeitskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3. Prekäre menschenrechtliche Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4. Brexit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
B. Auswirkungen auf die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . 267 I.
Praktische Auswirkungen in ausgewählten Referenzgebieten . . . . . . . . . . 268 1. Gemeinsames Europäisches Asylsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . 270
18
Inhaltsverzeichnis a) Ablehnung der Vollstreckung wegen systemischer menschen- und rechtsstaatlicher Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 b) Defizite bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses . . . . . . . . . . . . 271 c) Notvorbehalte nationaler Verfassungs- und Höchstgerichte . . . . . . . 272 II.
Systematisierung der Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 1. Umsetzungs- und Vollzugsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 2. Fragmentierung des europäischen Rechtsraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 § 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 A. Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens (Verfassungsaufsicht) 277 I. II.
Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Das Verfahren nach Art. 7 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 1. Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2. Bewertung der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3. Ergänzung durch den EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit 282 4. Ergänzung durch eine sog. Kopenhagen-Kommission? . . . . . . . . . . . . . 285
III. Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Einsatz des Vertragsverletzungsverfahrens zur Sicherung der gemeinsamen Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 a) Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 b) Vertragsverletzungsverfahren wegen Verletzung von Art. 2 EUV? . 288 c) Durchsetzung klagestattgebender Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Einstweilige Anordnungen (Art. 279 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 3. Bewertung der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 IV. Exkurs: Das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) . . . . . . . . . . . 295 1. Das Vorabentscheidungsverfahren als Mittel zur Sicherung der gemeinsamen Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Bewertung der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 V.
Der Konditionalitätsmechanismus (VO [EU] 2020/2092) . . . . . . . . . . . . . . 300 1. Grundzüge des Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Bestätigung des Mechanismus durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 3. Bewertung der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
VI. Monitoring-Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 1. EU-Justizbarometer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 2. Rechtsstaatsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 3. Bewertung der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 VII. Ausschluss von Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 VIII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Inhaltsverzeichnis
19
B. Maßnahmen der positiven Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 I.
Stärkere Harmonisierung nationaler Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 313 1. Grundzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2. Widerspruch zum integrationspolitischen Konzept des gegenseitigen Vertrauens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 3. Bewertung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
II.
Außerrechtliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
C. Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente . . . . . . . . . . . 321 I.
Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
II.
Legislative Stellschrauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 1. Kodifizierung von Ausnahmetatbeständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2. Aufklärungs- und Abhilfeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 3. Aussetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 D. Abschlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht ABl. Amtsblatt Abs. Absatz AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AFSJ Area of Freedom, Security and Justice allg. allgemeine Anerkennungs-RL Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), ABl. EU 2011 L 337/9. Archiv des öffentlichen Rechts AöR Art. Artikel Aufl. Auflage Aufnahme-RL Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), ABl. EU 2013 L 180/96. Asylverfahrens-RL 2013 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. EU 2013 L 180/60. Asylverfahrens-RL 2005 Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl. EU 2005 L 326/13. Bayerische Verwaltungsblätter BayVBl. Bd. Band Beschl. Beschluss BFHE Entscheidungen des Bundesfinanzhofs BGH Bundesgerichtshof Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 Brüssel I-VO über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001 L 12/1. Brüssel Ia-VO Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU 2012 L 351/1.
Abkürzungsverzeichnis Brüssel IIa-VO
21
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. EU 2003 L 338/1. Brüssel IIb-VO Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen, ABl. EU 2019 L 178/1. BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwG Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa CMLR Common Market Law Review CYELS Cambridge Yearbook of European Legal Studies DB Der Betrieb ders. derselbe dies. dieselbe(n) d. h. das heißt DÖV Die Öffentliche Verwaltung Dubliner- Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates Übereinkommen für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags, ABl. EG 1997 C 254/1. Dublin II-VO Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. EU 2003 L 50/1. Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments Dublin III-VO und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staaten losen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. EU 2013 L 180/31. Il Diritto dell’Unione Europea duE DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des E-Commerce-RL Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. EU 2000 L 178/1. ECV Vertrag über die Energiecharta EEA Europäische Ermittlungsanordnung EG Europäische Gemeinschaft
22
Abkürzungsverzeichnis
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei heiten Enzyklopädie Europarecht EnzEuR ErwG Erwägungsgrund EU Europäische Union European Criminal Law Review EuCLR European Constitutional Law Review EuConst European Criminal Law and Human Rights eucrim Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und EuErbVO des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. EU 2012 L 201/107. Gericht der Europäischen Union EuG Gerichtshof der Europäischen Union EuGH Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuGRZ Übereinkommen von Brüssel von 1968 über die gerichtliche ZuEuGVÜ ständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 1972 L 299/32. Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 EUInsVO 2000 über Insolvenzverfahren, ABl. EG 2000 L 160/1. Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und EUInsVO 2015 des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. EU 2015 L 141/19. EuR Europarecht European Law Journal Eur. Law J. European Journal of Legal Studies Eur. J. Legal Stud. Eur. Law Rev. European Law Review European Papers Eur. Papers Verordnung (EU) Nr. 606/2013 des Europäischen Parlaments und EuSchutzMVO des Rates vom 12. Juni 2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen, ABl. EU 2013 L 181/4. Vertrag über die Europäische Union EUV Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments EuVTVO und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europä ischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. EU 2004 L 143/15. Zeitschrift für Europarecht EuZ Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG folgende (auf der nächsten Seite / in der nächsten Randnummer) f. folgende (auf den nächsten Seiten / in den nächsten Randnumff. mern) Fn. Fußnote FS Festschrift GA Generalanwalt EGMR EMRK
Abkürzungsverzeichnis GATS
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Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen Gemeinsames Europäisches Asylsystem GEAS GFK Genfer Flüchtlingskonvention GG Grundgesetz ggfs. gegebenenfalls GLJ German Law Journal Goltdammer’s Archiv Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union GPR GRCh Grundrechtecharta GS Gedächtnisschrift Hague J. Rule of Law Hague Journal on the Rule of Law Hb. Handbuch Handbuch des Staatsrechts Hb. d. StR Handbuch des Verwaltungsrechts Hb. VerwR Herv. Hervorhebung Humboldt Forum Recht HFR HRLRev Human Rights Law Review HRRS Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht Hrsg. Herausgeber insb. insbesondere InsO Insolvenzordnung IPRax Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts i. S. d. im Sinne der i. S. v. im Sinne von J. Eur. Publ. Pol. Journal of European Public Policy JA Juristische Arbeitsblätter JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung lit. littera Ls. Leitsatz mit weiteren Nachweisen m. w. N Maastricht Journal of European and Comparative Law MJ Netherlands International Law Review NILR Nederlands Internationaal Privaatrecht NIPR New Journal of European Criminal Law NJECL Neue Juristische Wochenschrift NJW Nordic Journ. Hum. Rights Nordic Journal of Human Rights Nr. Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Insolvenz- und Sanierungsrecht NZI OLG Oberlandesgericht OVG Oberverwaltungsgericht Qualifikations-RL Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit
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Abkürzungsverzeichnis
Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), ABl. EU 2011 L 337/9. RB Rahmenbeschluss RbEuHb Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 3. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. EG 2002 L 109/1 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist, ABl. EU 2009 L 81/24. Rahmenbeschluss 2008/978/JI vom 18. Dezember 2008 über RB 2008/978/JI die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen, ABl. EU 2008 L 350/72. Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November RB 2008/909/JI 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen über die gegenseitige Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiAnerkennung von heitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Urteilen in Strafsachen Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union, EU ABl. 2008 L 327/27. Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur RB 2008/675/JI zur Berücksichtigung von Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäin anderen Mitgliedstaaten ischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafergangenen Verurteilungen verfahren, ABl. EU 2008 L 220/32. Rahmenbeschluss 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 RB 2006/783/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An‑ über die gegenseitige Anerkennung von erkennung auf Einziehungsentscheidungen, ABl. EU 2006 Einziehungsentscheidungen L 328/59. Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 RB 2005/214/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen An‑ über die gegenseitige Anerkennung von erkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. EU 2005 Geldstrafen und Geldbußen L 76/16. Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 RB 2003/577/JI über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherüber die Vollstreckung von Entscheidungen über stellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union, ABl. EU 2003 L 196/45. die Sicherstellung Review of European Administrative Law REALaw Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und RL (EU) 2016/1919 des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, ABl. EU 2016 L 297/1.
Abkürzungsverzeichnis RL (EU) 2016/800
RL (EU) 2016/343
RL 2014/41/EU
RL 2013/48/EU
RL 2012/13/EU
RL 2010/64/EU
RL 2010/24/EU
RL 2009/43/EG über die Verbringung von Verteidigungsgütern RL 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt RL 2002/8/EG
RL 2000/78/EG
RL 76/308/EWG
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Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ABl. EU L 132/1. Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, ABl. EU 2016 L 65/1. Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. EU 2014 L 130/1. Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. EU 2013 L 294/1. Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. EU 2012 L 142/1. Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. EU 2009 L 146/1. RL 2010/24/EU des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstigen Maßnahmen, ABl. EU 2010 L 84/1. Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern, ABl. EU L 146/1. Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EU 2006 L 376/36. Richtlinie 2002/8/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe in derartigen Streitsachen, ABl. EG 2003 L 26/41. Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. EU 2000 L 303/16. Richtlinie 76/308/EWG des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forde-
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Abkürzungsverzeichnis
rungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen (ABl. 1976, L 73, S. 18) in der durch die Richtlinie 2001/44/EG des Rates vom 15. Juni 2001) geänderten Fassung, ABl. EG 2001 L 175/17. Rn. Randnummer Rspr. Rechtsprechung Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rückführungs-RL Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. EU 2008 L 348/98. RW Rechtswissenschaft S. Seite s. siehe Zeitschrift für Schiedsverfahren SchiedsVZ Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens SDÜ von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990, ABl. EG 2000 L 239/19. sog. sogenannte ständige Rechtsprechung st. Rspr. StGB Strafgesetzbuch siehe unten s. u. StV Strafverteidiger Strafverteidiger Forum StraFo u. und unter anderem, und andere u. a. UAbs. Unterabsatz Urt. Urteil v. vom Var. Variante Verf. Verfasser VerfBlog Verfassungsblog VerwR Verwaltungsrecht VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleich VO Verordnung Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen ParVO (EU) 2020/2092 laments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, ABl. EU 2020 L 433 I/1. Verordnung (EU) 2018/1805 des Europäischen Parlaments und VO (EU) 2018/1805 des Rates vom 14. November 2018 über die gegenseitige Anerüber die gegenseitige kennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen, Anerkennung von ABl. EU 2018 L 303/1. Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen
Abkürzungsverzeichnis VO (EU) 2016/1191 zur Vereinfachung der Vorlage öffentlicher Urkunden
VO (EG) 987/2009
VO (EG) 1896/2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens VO (EG) 883/2004
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Verordnung (EU) 2016/1191 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 zur Förderung der Freizügigkeit von Bürgern durch die Vereinfachung der Anforderungen an die Vorlage bestimmter öffentlicher Urkunden innerhalb der Europäischen Union und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012, ABl. EU 2016 L 200/1. Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU L 284/1. Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. EU 2006 L 399/1.
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. EU 2004 L 166/1. VO (EWG) 574/72 Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. EG L 74/1. VO (EWG) 1408/71 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. EWG 1971 L 149/2. Vorb. Vorbemerkung VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer WVK Wiener Vertragsrechtskonvention Yearbook of European Law YEL Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und VölkerZaöRV recht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZAR zum Beispiel z. B. Zeitschrift für Europäisches Privatrecht ZEuP Zeitschrift für Europarechtliche Studien ZEuS Zeitschrift für Gesetzgebung ZG Ziff. Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ZIP ZIS Zeitschrift für Internationale Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für öffentliches Recht ZÖR ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZZP Zeitschrift für Zivilprozess
Einleitung § 1 Gegenstand der Untersuchung „[Es] ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Dieser Grundsatz verlangt aber, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten“.1
Mit diesen Ausführungen im Gutachten 2/13 zum EMRK-Beitritt aus dem Jahr 2014 hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens endgültig in das Zentrum des europäischen Verfassungsrechts gerückt. War der Diskurs zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zuvor auf einzelne Teilgebiete des Unionsrechts – insbesondere das Binnenmarktrecht und den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – konzentriert, deutet sich hier bereits an, was sich in der nachfolgenden Rechtsprechung bestätigen sollte: Der EuGH betrachtet den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als elementaren Rechtsgrundsatz des Primärrechts, den die Mitgliedstaaten „in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen“ zu beachten haben.2 In den Europäischen Verträgen findet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens keine explizite Erwähnung. Trotzdem hat der Gerichtshof dem Konzept des gegenseitigen Vertrauens in den letzten Jahren sukzessive normativen Gehalt verliehen und den Vertrauensgrundsatz als einen der zentralen Grundsätze des Unionsrechts etabliert.3 Auch in den Erwägungsgründen verschiedener Sekundärrechtsakte wird auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens Bezug genommen4 oder dessen Regelungsgehalt umschrieben.5 Dennoch sind wesentliche Fragen im Hinblick auf Anwendungsbereich, Inhalt, die theoretischen Grundlagen und die
1
EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK- Beitritt II. 2 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA. 3 So auch L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (61 ff.); F. Meyer, JZ 2016, 621. 4 ErwG 21 Brüssel IIa-VO; ErwG 3 VO (EU) 2016/1191 zur Vereinfachung der Vorlage öffentlicher Urkunden; ErwG 22 EUInsVO 2000; ErwG 65 EuInsVO 2015; ErwG 55 Brüssel IIb-VO. 5 ErwG 19 RL 2014/41/EU über die EEA; ErwG 34 VO (EU) 2018/1805 über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen.
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Einleitung
Grenzen des Vertrauensgrundsatzes bisher weitgehend ungeklärt.6 Eine wesentliche Ursache hierfür ist, dass seine Entwicklung durch den EuGH naturgemäß fallorientiert, punktuell und wenig konzeptgeleitet erfolgt. Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Diskussion über den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens überwiegend getrennt nach Rechtsbereichen erfolgt.7 Die Forschungsgespräche zur Rolle des Vertrauensgrundsatzes in den einzelnen Bereichen8 stehen ohne hinreichende Verknüpfung nebeneinander. Eine sachbereichsübergreifende Betrachtung des Grundsatzes als ein das gesamte Unionsrecht durchdringendes Prinzip steht dagegen noch am Anfang.9 Der Fokus der Diskussion liegt zudem häufig lediglich auf den Grenzen des Grundsatzes oder dem (vermeintlichen) Fehlen einer tatsächlichen Grundlage für eine vertrauensbasierte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Union.10 Die vorliegende Arbeit setzt an den aufgezeigten Forschungslücken an und unternimmt den Versuch einer grundlegenden rechtsdogmatischen Klärung des Vertrauensgrundsatzes als allgemeines, einzelne Referenzgebiete überspannendes Rechtsprinzip des Unionsrechts. Untersucht werden Anwendungsbereich, Inhalt, Funktion, normative Verankerung, Rechtsnatur und Grenzen des vom EuGH entwickelten Vertrauensgrundsatzes mit dem Ziel, hierzu allgemeine, sachbereichsübergreifende Grundzüge herauszuarbeiten. Angesichts der sich verschärfenden Rechtsstaatlichkeitskrise und anderer Krisenphänomene in der Union sieht sich die mitgliedstaatliche Zusammenarbeit auf der Grundlage des Vertrauensgrundsatzes in jüngerer Zeit mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die Etablierung des Grundsatzes durch den EuGH ist ange 6
Dies konstatierend auch Burchard, Konstitutionalisierung, S. 470 f.; Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (94); L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (61 f.); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 6, 46; Lührs, Überstellungsschutz, S. 10; Schwarz, 24 Eur. Law J. 2018, 124. 7 Dies für das eng verwandte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung feststellend Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 19. 8 Zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Binnenmarkt etwa Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93; Kohler, IPRax 2020, 405; zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen Bartolini, 56 CMLR 2019, 91; Hazelhorst, 65 NILR 2018, 103; Kohler, ZEuS 2016, 135; Lenaerts, in: FS Kohler, S. 287; Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179; Weller, 35 NIPR 2017, 1; zum Europä ischen Insolvenzrecht Zipperer, ZIP 2021, 231; zum EU-Emissionshandelssystem Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen; zum GEAS Lübbe, NVwZ 2017, 674; Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180; Lührs, Überstellungsschutz; zum Europäischen Strafrecht Burchard, Konstitutionalisierung; F. Meyer, EuR 2017, 163; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen; Sicurella, 9 NJECL 2018, 308; Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law; zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts insgesamt Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen; Kaufhold, EuR 2021, 408; Ladenburger, ZEuS 2020, 373; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem; Nettesheim, EuZ 2018, 4; Schwarz, 24 Eur. Law J. 2018, 124; Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ; zum Vertrauensgrundsatz und der Autonomie des Europäischen Rechtsschutzsystems Centeno Huerta / Kuplewatzky, 4 Eur. Papers 2019, 61; Halberstam, 16 GLJ 2015, 105. 9 Eine erste monographische, rechtsgebietsübergreifende Betrachtung bei Kullak, Vertrauen in Europa. S. im Übrigen auch L. von Danwitz, EuR 2020, 61; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48. 10 Willems, 9 Eur. J. Leg. Stud. 2016, 211 (233).
§ 1 Gegenstand der Untersuchung
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sichts dieser Entwicklungen begleitet von wachsenden Zweifeln daran, ob die empirischen Grundlagen der von ihm normierten Erwartung noch gegeben sind. Diese Realität kann bei der wissenschaftlichen Betrachtung des Vertrauensgrundsatzes nicht ausgeblendet werden. Gegenstand der Untersuchung sind deshalb ferner die Auswirkungen der andauernden Polykrise11 der Union auf die horizontale Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Es lässt sich insoweit eine Krise auch des Vertrauensgrundsatzes feststellen. In Anknüpfung an diese Diagnose werden Ansätze für eine Effektuierung der vertrauensbasierten Zusammenarbeit gesucht. Die gewählte Forschungsperspektive nimmt primär das Unionsrecht in den Blick. Ob der Vertrauensgrundsatz in der gefundenen Ausprägung mit den Anforderungen des Grundgesetzes, der EMRK und insbesondere den dort normierten grund- und menschenrechtlichen Garantien vereinbar ist, ist nicht Gegenstand der Untersuchung. Zwar ist zuzugeben, dass der Vertrauensgrundsatz im Mehrebenensystem nicht isoliert gesehen werden kann.12 Eine umfassende „Evaluation von außen“ kann aber erst dann sinnvoll erfolgen, wenn Gehalt und Grenzen des zu evaluierenden Rechtsgrundsatzes auf Unionsebene hinreichend herausgearbeitet sind. Nur letzteres ist Ziel dieser Arbeit. Daher werden das nationale Verfassungsrecht und die EMRK nur insoweit herangezogen, als sich im Abgleich des Vertrauensgrundsatzes mit grund- und menschenrechtsdogmatischen Ansätzen dieser Rechtsordnungen Rückschlüsse auf den originären Regelungsgehalt des Vertrauensgrundsatzes gewinnen lassen. Gegenstand des Vertrauensgrundsatzes ist die horizontale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU.13 Außer Betracht bleiben vorliegend daher etwaige „vertikale Vertrauensverhältnisse“ zwischen den Mitgliedstaaten und Stellen der EU14 sowie mögliche vertrauensbasierte Kooperationen mit Drittstaaten15 und außereuropäischen Institutionen.
Zum Begriff unten, → 4. Kapitel, § 2. A. I. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 3. 13 Franzius, HFR 2010, 159 (173); Lührs, Überstellungsschutz, S. 83; vgl. EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 129 – CETA; Urt. v. 29. 04. 2021 – C-665/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339 Rn. 55, 59 – X. 14 Für eine Übertragung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auf das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten GA Sharpston, Schlussanträge v. 22. 09. 2016 – C-599/14 P, ECLI:EU:C:2016:723 Rn. 62 f.– Rat / LTTE; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (329 f.); für eine „analoge“ Übertragung auf das europäische Wettbewerbsnetz und die Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den nationalen Wettbewerbsbehörden und den Gerichten der Mitgliedstaaten bei Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV EuG, Urt. v. 09. 02. 2022 – T-791/19, ECLI:EU:T:2022:67 Rn. 83 ff. – Sped-Pro / Europäische Kommission. Der EuGH griff diese Ansätze bisher nicht auf. 15 Zum gegenseitigen Vertrauen als Grundlage und Auslegungsmaßstab für die im Assoziierungsabkommen mit dem damaligen Beitrittskandidaten Ungarn enthaltenen Zollbestimmungen EuGH, Urt. v. 09. 02. 2006 – C-23/04 bis C-25/04, ECLI:EU:C:2006:92 Rn. 21, 49 – Sfakianaki; zur Bedeutung gegenseitigen Vertrauens bei der Auslieferung in Drittstaaten Mancano, 40 YEL 2021, 475. 11 12
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Einleitung
§ 2 Begriffsbestimmung Vor Beginn der Untersuchung ist es notwendig, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens begrifflich genau zu fassen und gegen andere verwandte Begriffe und abweichende Begriffsverwendungen abzugrenzen. Das Begriffspaar „gegenseitiges Vertrauen“ wird in rechtspolitischen Dokumenten, Sekundärrechtsakten, Literatur und Rechtsprechung weithin verwendet. Seiner Verwendung liegt jedoch kein einheitliches Begriffsverständnis zugrunde, wobei häufig kaum zwischen den verschiedenen Begriffsdimensionen differenziert wird. Auch die Begriffsverwendung in der Rechtsprechung des EuGH ist nicht einheitlich, sondern hat sich im Laufe der Zeit gewandelt.
A. Vertrauensbegriffe I. Gegenseitiges Vertrauen als außerrechtliches Phänomen Häufig wird der Begriff des gegenseitigen Vertrauens zur Beschreibung eines außerrechtlichen Phänomens in Form faktisch bestehenden oder fehlenden Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten verwendet.16 Das zwischen den Mitgliedstaaten (vermeintlich) bestehende gegenseitige Vertrauen wird in dieser Begriffsbedeutung oftmals als Rechtfertigung für eine besonders kooperationsfreundliche Ausgestaltung sekundärrechtlicher Rechtsakte oder eine bestimmte Auslegung primär- oder sekundärrechtlicher Regelungen herangezogen.17 Es wird als „Realisierungsbedingung“ horizontaler Kooperation verstanden und insbesondere als Grundlage der gegenseitigen Anerkennung gesehen.18 Danach rechtfertige ein gesteigertes Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten den Erlass von qualitativ und quantitativ über vergleichbare völkerrechtliche Mechanismen hinausgehenden unionsrechtlichen Kooperationsinstrumenten.19 Zahlreiche Sekundärrechtsakte verweisen in ihren Erwägungsgründen auf das gegen-
16 Brouwer, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 59 (62 ff.) spricht von „material trust“. 17 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 108 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 88, 112; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 347 ff. Zu Vertrauen als legitimationsschaffendem Faktor allgemein Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung, S. 44 ff.; ders., DVBl. 2006, 1070 (1078 f.); daran anknüpfend Buchholtz, NVwZ 2016, 1353 (1357 ff.); Sydow, Verwaltungskooperation in der EU, S. 248 ff.; Schmidt-Aßmann / Dimitropoulos, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 129 (147 f.). K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 42, 110 f. spricht von Vertrauen als „Rechtsetzungsdeterminante“. 18 Franzius, Recht und Politik, S. 273 f.; Schmidt-Aßmann, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, 263 (269 ff.); ders. / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 18 f. 19 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 286 f.
§ 2 Begriffsbestimmung
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seitige Vertrauen, auf das sich die jeweiligen Regelungen stützen sollen.20 Auch in der Rechtsprechung des EuGH und den Schlussanträgen der Generalanwälte fand sich diese Begriffsverwendung lange.21 An anderer Stelle fungiert empirisch verstandenes gegenseitiges Vertrauen als Zielbestimmung.22 So wird in zahlreichen rechtspolitischen Programmen die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Stärkung gegenseitigen Vertrauens hervorgehoben.23 Der Europäische Rat bezeichnete die Erhöhung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und deren Entscheidungsträgern im Stockholmer Programm sogar als „eine der wichtigsten Aufgaben in der Zukunft“.24 Das zu schaffende Vertrauen soll seiner Funktion nach als Grundlage einer effektiven wirksamen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten dienen25 und insbesondere dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zur Wirksamkeit verhelfen.26 Zur Erreichung dieses Ziels wird – neben Instrumenten des sog. Soft-Law27 – häufig eine sekundär 20 ErwG 22 VO EUInsVO 2000; ErwG 16, 17 Brüssel I-VO; ErwG 10 RbEuHb; ErwG 18 EuVTVO; ErwG 27 VO (EG) 1896/2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens; ErwG 5 RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen; ErwG 26 Brüssel Ia-VO; ErwG 54 Brüssel IIb-VO; ErwG 4 EuSchutzMVO. 21 S. etwa EuGH, Urt. v. 09. 03. 2003 – C-116/02, ECLI:EU:C:2003:657 Rn. 72 – Gasser; Urt. v. 03. 05. 2007 – C-303/05, ECLI:EU:C:2007:261 Rn. 57 – Advocaten voor de Wereld; Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 37 – Melloni; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 49 – Jeremy F.; GA Colomer, Schlussanträge v. 19. 09. 2002 – C-187/01 u. C-385/01, ECLI:EU:C:2002:516 Rn. 124 – Gözütok u. Brügge; GA Bot, Schlussanträge v. 24. 03. 2009 – C-123/08, ECLI:EU:C:2009:183 Rn. 134 ff. – Wolzenburg. Teilweise finden sich auch in ein und derselben Entscheidung verschiedene Begriffsbedeutungen, vgl. für das Gutachten 2/13 Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (265 ff.). 22 Kaufhold, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (115); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 112. Zum „Vertrauen durch Recht“ allgemein Schmidt-Aßmann / Dimitropoulos, Vertrauen in und durch Recht, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 129 (131, 139 ff.); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 368 f. 23 S. etwa Europäische Kommission, Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes v. 14. 06. 1985, KOM(85) 310 eng., S. 12 f.; Europäischer Rat, Mitteilung v. 03. 03. 2005, Haager Programm ABl. EU 2005 C 53/01, S. 2, 10 f.; Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 5, 13 ff.; Europäische Kommission, Grünbuch v. 14. 06. 2011, KOM(2011) 327 endg., S. 2 ff.; Europäischer Rat, Information v. 24. 07. 2014, Auszug aus den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 26.–27. Juni 2014, ABl. EU 2014 C 240/14, Nr. 7, 11. 24 Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 5. 25 Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 5. 26 Europäischer Rat, Mitteilung v. 03. 03. 2005, Haager Programm ABl. EU 2005 C 53/01, S. 2, 11; Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 12, 13; Europäische Kommission, Grünbuch v. 14. 06. 2011, KOM(2011) 327 endg., S. 2 ff.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 42, 110 f. spricht insoweit von Vertrauen als „Funktionsdeterminante“. 27 Europäischer Rat, Mitteilung v. 03. 03. 2005, Haager Programm ABl. EU 2005 C 53/01, S. 10, 11 f.; Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 13 f., 18.
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Einleitung
rechtliche Harmonisierung ausgewählter Bereiche vorgeschlagen.28 Entsprechend wird in den Sekundärrechtsakten, die in Umsetzung hierzu ergangen sind, auf den Beitrag der vorgenommenen (Mindest-)Harmonisierung zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens verwiesen.29Auch die Aufnahme von Garantien zum Schutz von Grund- und Verfahrensrechten in sekundärrechtliche Anerkennungsinstrumente wird mit der Förderungsbedürftigkeit gegenseitigen Vertrauens begründet.30 In der Literatur wird unter Heranziehung eines faktischen Vertrauensbegriffs zudem häufig die Frage aufgeworfen, ob ein solches gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich besteht oder – grundsätzlicher – ob der Begriff gegenseitigen Vertrauens als rechtliches Argument überhaupt geeignet ist.31 Insbesondere wird darauf verwiesen, dass sich Vertrauen als innere Erwartungshaltung nicht anordnen lasse, sondern stets eine freiwillige Entscheidung des Vertrauenden sei.32 II. Gegenseitiges Vertrauen als Grundsatz mit normativem Gehalt In jüngerer Zeit rückt ein normatives Verständnis des gegenseitigen Vertrauens in den Vordergrund.33 So versteht der EuGH den „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ in den letzten zehn Jahren zunehmend als Rechtsgrundsatz, aus dem er weitreichende Maßgaben für die horizontale Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten ableitet.34 Das Bestehen einer empirischen Basis in Form tatsächlicher Ver-
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Europäische Kommission, Mitteilung v. 28. 04. 2004, KOM(2004) 328 endg., Ziff. 50; Mitteilung v. 10. 05. 2005, KOM(2005) 0184 endg., Ziff. 9; Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 10, 12; Europäische Kommission, Grünbuch v. 14. 06. 2011, KOM(2011) 327 endg., S. 3; Europäisches Parlament, Entschließung v. 22. 05. 2012, ABl. EU 2013 C 264 E/02. 29 ErwG 52 E-Commerce-RL; ErwG 3, 7 RL 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt; ErwG 29, 33, 34, 38, 40 RL 2009/43/EG über die Verbringung von Verteidigungsgütern; ErwG 7, 9, 12 RL 2010/64/EU über Dolmetschleistungen in Strafverfahren; ErwG 8, 10, 14 RL 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren; ErwG 4, 6, 8 RL 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. 30 ErwG 8 RB 2008/978/JI; ErwG 3 Brüssel IIb-VO. 31 Wischmeyer, 17 GLJ 2016, (342, 360 ff.). Ein normatives Verständnis explizit ablehnend Hüttemann, European Criminal Procedure, S. 107 ff.; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 237 ff.; Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (500 ff.). 32 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (30); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 252; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 353; Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (500). 33 Brouwer, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 59 (62 ff.) spricht von „formal trust“. 34 S. nur EuGH, Urt. v. 04. 05. 2010 – C-533/08, ECLI:EU:C:2010:243 Rn. 49 f. – Turner; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 f. – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 78 – Aranyosi u. Căldăraru; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; Urt. v. 26. 10. 2021 – C-428/21 PPU u. C-429/21 PPU, ECLI:EU:C:2021:876 Rn. 37 – HM u. TZ. Nor-
§ 2 Begriffsbestimmung
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trauensbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten lässt er dabei (zunächst) außer Betracht;35 vielmehr wird die Geltung des Vertrauensgrundsatzes unionsrechtlich angeordnet.36 Ein entsprechendes Begriffsverständnis zeigt sich in den Schlussanträgen der Generalanwälte.37 Daneben findet sich ein normatives Verständnis in den Erwägungsgründen jüngerer Sekundärrechtsakte38 und auch in der Literatur steht vermehrt die normative Qualität des Vertrauensgrundsatzes im Vordergrund.39 III. Gegenseitiges Vertrauen als hybrides Konzept Teilweise wird der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch als hybrides Konzept verstanden:40 Gegenseitiges Vertrauen habe einerseits einen rechtlichen Gehalt, besitze daneben aber auch eine tatsächliche Dimension.41 Obwohl das gegenseitige Vertrauen im Unionsrecht als rechtliches Prinzip operiere, könne es nicht losgelöst von seiner Natur als sozio-empirisches Konstrukt betrachtet werden.42 Es liege eine Verschleifung von Normativem und Faktischem vor;43 die normative Vertrauensdimension sei von den tatsächlichen Vertrauensdimensionen
mative Ansätze aber auch schon bei EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser; Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 28 – Turner. Zum Regelungsgehalt und den normativen Wirkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens s. im Einzelnen → 1. Kapitel, § 2. B., C. Kritisch zu dieser Begriffsverwendung Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (30); Sicurella, 9 NJECL 2018, 308 (318); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (226). 35 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (62 f.); F. Meyer, EuR 2017, 173 (170); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 141; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 93. 36 Herrnfeld, in: Schwarze / Becker / Hatje / Schoo, EU-Kommentar, Art. 67 AEUV Rn. 23. 37 GA Kokott, Schlussanträge v. 04. 09. 2008 – C-185/08, ECLI:EU:C:2008:466 Rn. 34 f. – Allianz; GA Colomer, Schlussanträge v. 08. 04. 2008 – C-297/07, ECLI:EU:C:2008:206 Rn. 45 – Bourquain; GA Tanchev, Schlussanträge v. 08. 03. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:174 Rn. 49 – Donnellan; GA Pikamäe, Schlussanträge v. 08. 10. 2020 – C-95/19, ECLI:EU:C: 2020:817 Rn. 79 – Silcompa; GA Pikamäe, Schlussanträge v. 16. 12. 2021 – C-568/20, ECLI: EU:C:2021:1026 Rn. 25 – H. Limited. 38 ErwG 21 Brüssel IIa-VO; ErwG 22 EUInsVO 2000; ErwG 65 EUInsVO 2015; ErwG 55 Brüssel IIb-VO; wohl auch ErwG 19 RL 2014/41/EU über die EEA; ErwG 34 VO (EU) 2018/1805 über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen. 39 Vgl. nur L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (63); Klip, European Criminal Law, S. 110 ff.; Lenaerts, 54 CLMR 2017, 805 (813); F. Meyer, EuR 2017, 173 (181). 40 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 87; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 43, 700; Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211; dies., Mutual Trust in EU Law, S. 254. 41 Kaufhold, EuR 2012, 408 (410); dies., in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 87; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 43. 42 Kaufhold, EuR 2012, 408 (410); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (247 f.). 43 Wendel, EuR 2019, 111 (114).
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Einleitung
nicht vollständig zu trennen.44 Bringe man die beiden Dimensionen zusammen, entstehe ein vollständiges und hybrides Bild gegenseitigen Vertrauens.45
B. Der Arbeit zugrundeliegender Vertrauensbegriff Dieser Arbeit liegt ein normativer Begriff des gegenseitigen Vertrauens zugrunde. Betrachtet wird der rechtliche Gehalt des vom EuGH als „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ bezeichneten Rechtsgrundsatzes. Dabei handelt es sich um einen universalen Grundsatz des Unionsrechts, aus dem sich weitreichende normative Vorgaben für das horizontale Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten ergeben. Seinem Kerngehalt nach ordnet er eine widerlegliche Legalitätsvermutung in Bezug auf das Handeln anderer Mitgliedstaaten an und untersagt es den Mitgliedstaaten, bei der horizontalen Kooperation von anderen Mitgliedstaaten ein höheres nationales grundrechtliches Schutzniveau zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete.46 Ob sich bei einer empirischen Betrachtung tatsächlich ein wie auch immer geartetes „Vertrauen“ zwischen den Akteuren der Mitgliedstaaten feststellen lässt, ist eine hiervon klar zu trennende Frage, deren Beantwortung anderen Wissenschaftsdisziplinen obliegt.47 Die beiden Perspektiven auf das gegenseitige Vertrauen stehen gleichwertig nebeneinander,48 sollten aber nicht miteinander vermischt werden.49 Inwieweit faktisch verstandenes Vertrauen als Legitimationsstrategie für legislative Gestaltungen oder Auslegungsentscheidungen fruchtbar gemacht werden kann und welchen Beitrag Recht zu der Herausbildung von Vertrauen leisten kann, sind ebenfalls eigene Forschungsfragen. Gegen eine rein normative Betrachtung des vom EuGH entwickelten Vertrauensgrundsatzes wird eingewandt, dass diese den inhärent subjektiven Charakter von
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K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 42. Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (247). 46 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 f. – EMRK- Beitritt II. Nahezu wortgleich nachfolgend etwa EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 f. – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 46 f. – Dorobantu. Zum Regelungsgehalt des Grundsatzes im Einzelnen s. → 1. Kapitel, § 2. B., C. 47 Vergleichbar ist die Unterscheidung zwischen Vertrauen als empirisch nachweisbarem Tatbestand und Vertrauen als typisiertem, normativen Tatbestand im Völkerrecht, hierzu Empell, in: Weingart, Vertrauen in der Krise, S. 151 (159 f.). 48 Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 18. Ein striktes Entweder-oder wie es Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (504) suggeriert, erscheint nicht geboten. 49 Zu Recht sehr kritisch gegenüber der häufig anzutreffenden interdisziplinären Herangehensweise unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Ansätze Burchard, Konstitutionalisierung, S. 472. 45
§ 3 Gang der Darstellung
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Vertrauen völlig außer Acht lasse.50 Betrachte man den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsprinzip losgelöst von Vertrauen als sozialem Konstrukt, könne man auf den Begriff des gegenseitigen Vertrauens auch vollständig verzichten.51 Tatsächlich mag man sich fragen, ob sich ein Begriff wie der des Vertrauens sinnvoll in einem Rechtsgrundsatz fassen lässt und ob „gegenseitiges Vertrauen“ eine treffende Etikette für das vom EuGH entwickelte Rechtsprinzip ist.52 Dabei handelt es sich aber letztlich um eine rein terminologische Frage, die für den Zweck der vorliegenden Untersuchung keinen Erkenntnisgewinn bringt. Dass der EuGH unter dieser Überschrift einen echten unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz entwickelt hat und den „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ nicht lediglich zur Beschreibung eines politisch-empirischen Vertrauens heranzieht, lässt sich nicht mehr ernsthaft bestreiten.53
§ 3 Gang der Darstellung Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel. Das erste Kapitel dient der Herausarbeitung von Anwendungsbereich, Inhalt und Funktion des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und legt so den Grundstein für die weitere Untersuchung. Da der Vertrauensgrundsatz in den Europäischen Verträgen keine ausdrückliche Erwähnung findet, sondern seinen rechtlichen Gehalt vor allem durch Entscheidungen des EuGH erhalten hat, erfolgt dies primär auf Grundlage und in Auseinandersetzung mit der Judikatur des Gerichtshofs. Dazu werden zunächst die einzelnen Sachbereiche in den Blick genommen, in denen der Vertrauensgrundsatz in Erscheinung getreten ist (→ § 1). Zentrale Bedeutung hat er in der Rechtsprechung zum Binnenmarktrecht, zum Asylrecht sowie zur justiziellen Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen erlangt. Es wird sich aber zeigen, dass der Gerichtshof den Anwendungsbereich des Vertrauensgrundsatzes mittlerweile auf alle Bereiche des Unionsrechts ausgedehnt hat. Im nächsten Schritt erfolgt eine Systematisierung der Rechtsprechung zu den einzelnen Referenzgebieten: In einer sachbereichsübergreifenden Betrachtung werden Anwendungsbereich, Regelungsgehalt, normative Wirkungen und Verpflichtete des Vertrauensgrundsatzes herausgearbeitet (→ § 2). Zum Abschluss des ersten Kapitels wird die rechtspolitische Funktion des Vertrauensgrundsatzes als Integrationsinstrument aufgezeigt (→ § 3).
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Sicurella, 9 NJECL 2018, 308 (318). Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (247 f.). 52 Bieber, in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (39); Burchard, Konstitutionalisierung, S. 548; Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (112 f.); Lübbe, NVwZ 2017, 674 (676); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (28 f.). 53 Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (113); Lührs, Überstellungsschutz, S. 88 Fn. 165; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (5). Vgl. auch Lenaerts, in: FS Kohler, S. 287 (289): Das Unionsrecht versuche, die subjektive Einstellung, für die der Vertrauensbegriff herkömmlich stehe, „rechtlich zu verobjektivieren“. 51
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Einleitung
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen die normativen Grundlagen des im ersten Kapitel definierten Vertrauensgrundsatzes. Dessen Herausbildung in der Rechtsprechung des EuGH ist in der Literatur auf ein geteiltes Echo gestoßen und es herrscht Uneinigkeit, ob ein solcher Grundsatz anzuerkennen ist und falls ja, welche Rechtsnatur ihm zukommt (→ § 1). Da sich ein automatischer Schluss von der Rechtsbindung auf die Rechtsanwendungspraxis der Mitgliedstaaten verbietet, hängt die Anerkennung des vom EuGH ausgeformten Grundsatzes davon ab, ob der Vertrauensgrundsatz eine hinreichende normative Verankerung im Unionsrecht findet (→ § 2). Sodann stellt sich die Frage nach seiner Rechtsnatur (→ § 3). Abschließend wird untersucht, welche Schlussfolgerungen aus den gefundenen Ergebnissen für offene Streitfragen in Bezug auf den Anwendungs- und Wirkbereich des Vertrauensgrundsatzes zu ziehen sind. (→ § 4). Gegenstand des dritten Kapitels ist die in den letzten Jahren besonders kontrovers diskutierte Frage nach den Grenzen der aus dem Vertrauensgrundsatz folgenden Legalitätsvermutung. Diese Streitfrage hat im Hinblick auf defizitäre Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einigen Mitgliedstaaten, prekäre Haftbedingungen in Teilen der Union sowie die andauernde Rechtsstaatlichkeitskrise zunehmend praktische Relevanz erlangt. Auch wenn der EuGH in wichtigen Leitentscheidungen einige Eckpunkte hierzu geklärt hat, sind grundsätzliche Fragen offengeblieben. Auch fehlt es in der Rechtsprechung an jeder dogmatischen Fundierung der vertretenen Ansätze. Nach einer kurzen Grundlegung (→ § 1) werden zunächst die Grundlinien der Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgearbeitet und offene Fragen identifiziert. Unter Heranziehung allgemeiner Grundsätze der Unionsrechtsordnung sollen schließlich sachbereichsübergreifende, kohärente Maßstäbe bezüglich der Grenzen des gegenseitigen Vertrauens erarbeitet werden. Dabei wird zwischen den besonders relevanten grundrechtlichen Grenzen der Legalitätsvermutung (→ § 2) und weiteren Ausnahmetatbeständen differenziert (→ § 3). Das vierte Kapitel widmet sich Ansätzen zur Effektuierung der vertrauensbasierten mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit in der sog. Polykrise der Union. Dazu werden nach einer kurzen Hinführung (→ § 1) zunächst die Auswirkungen analysiert, die die multiplen Krisen der Union auf die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes zeitigen (→ § 2). Hierzu werden nach einer Definition des Begriffs der Polykrise die Problemfelder beleuchtet, die für die horizontale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten von besonderer Relevanz sind. Sodann werden die praktischen Auswirkungen der Krise in einzelnen Referenzgebieten beleuchtet. Eine Systematisierung der Beobachtungen zeigt, dass die Krise der Union Umsetzungs- und Vollzugsdefizite in der mitgliedstaatlichen Kooperation und eine Fragmentierung des europäischen Rechtsraums nach sich zieht. Im abschließenden Abschnitt (→ § 3) werden ausgehend von diesem Befund Mittel und Wege gesucht, um die vertrauensbasierte Zusammenarbeit auch in Krisenzeiten zu stabilisieren. Es soll zunächst betrachtet werden, welchen Beitrag Maßnahmen der sog. unionalen Verfassungsaufsicht zur Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens leisten können. Auch positive Integrationsmaßnahmen – insbesondere in Form sekundärrechtlicher Har-
§ 3 Gang der Darstellung
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monisierung – werden in den Blick genommen sowie eine mögliche „krisenfestere“ Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen. Abschließend werden die untersuchten Ansätze in einer Gesamtschau bewertet und eine mögliche Strategie zum Umgang mit der Problematik herausgearbeitet. Am Ende der Arbeit steht eine Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse in Thesen.
1. Kapitel
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung des EuGH § 1 Referenzgebiete Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist in der Rechtsprechung des EuGH zu verschiedenen Sachbereichen in Erscheinung getreten. Klassische Referenzgebiete und den Fokus der meisten Untersuchungen bilden die binnenmarktrechtlichen Grundfreiheiten, das Dublin-System und der Europäische Haftbefehl. Zu diesen Gebieten ist eine Vielzahl der Leitentscheidungen ergangen, mit denen der EuGH die Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes maßgeblich vorangetrieben hat. Bei näherem Hinsehen durchdringt die Vertrauensrechtsprechung aber mittlerweile eine Vielzahl weiterer Materien mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit und es lässt sich ein fortschreitender Bedeutungszuwachs des Grundsatzes beobachten. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im CETA-Gutachten, in dem der EuGH festgehalten hat, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens von den Mitgliedstaaten in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen zu beachten ist.1 Eine umfassende Betrachtung aller Referenzgebiete ist angesichts der Universalität des Grundsatzes weder sinnvoll möglich noch Ziel dieses Abschnitts. Vielmehr sollen ausgewählte Materien betrachtet werden, um die Vielfalt der erfassten Sachbereiche aufzuzeigen und eine Grundlage für die Systematisierung von Anwendungsbereich, Inhalt, Verpflichtungsadressaten und Funktion des Vertrauensgrundsatzes in den nachfolgenden Abschnitten dieses Kapitels zu schaffen.
A. Binnenmarkt I. Frühe Ansätze Die Entwicklung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ist eng verknüpft mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.2 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung wurde ab Mitte der 1970er-Jahre vom EuGH zunächst für 1
EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; angedeutet bereits in Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRKBeitritt II. 2 Kaufhold, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (107); dies., in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 4; Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (182). Grundlegend zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung s. unten, → 1. Kapitel, § 2. C. I. 1.
§ 1 Referenzgebiete
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den Binnenmarkt entwickelt und verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre binnenmarktrelevanten Regeln und die nach diesen Regeln ergangenen Entscheidungen grundsätzlich gegenseitig als wirksam und bindend anzusehen.3 Es ist den Mitgliedstaaten grundsätzlich untersagt, den freien Verkehr von Waren oder Dienstleistungen in ihr Hoheitsgebiet zu behindern, wenn diese in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht wurden.4 Seine erste explizite Erwähnung fand der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einige Jahre später in einer Entscheidung des EuGH zum freien Warenverkehr: In der Rechtssache Wurmser bezeichnete der Gerichtshof die gegenseitige Anerkennung von Produktzulassungen als „besondere Ausprägung des allgemeineren Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten“.5 Diese Formulierung legt den Schluss nahe, dass das Verbot doppelter Kontrollen und Belastungen, welches er in seiner vorhergehenden Rechtsprechung begründet hatte, in Wirklichkeit eine besondere Ausprägung des allgemeineren Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens darstellt.6 Auch Entscheidungen betreffend den innergemeinschaftlichen Handel mit lebenden Tieren deuteten bereits früh auf einen normativen Gehalt des Motivs des gegenseitigen Vertrauens hin: Der EuGH nahm an, dass die Mitgliedstaaten den von anderen Mitgliedstaaten vorgenommenen Veterinär- und Tierschutzkontrollen Vertrauen entgegenbringen müssen. Da die maßgeblichen sekundärrechtlichen Regelungen eine Kontrolle durch einen bestimmten der beteiligten Mitgliedstaaten vorsahen, folgerte der EuGH daraus, dass die anderen Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Voraussetzungen für den Import bzw. eine Verbringung der Tiere in einen anderen Mitgliedstaat aufstellen dürfen.7 Eine mehrfache Anwendung binnenmarktrelevanter Regeln mit ähnlicher Schutz- und Zielrichtung will der EuGH vermeiden, um eine möglichst ungehinderte Zirkulation von Produktionsgütern im Binnenmarkt zu ermöglichen.8 Dahinter steht die Annahme, dass die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme und der 3
S. nur EuGH, Urt. v. 20. 02. 1979 – 120/78, ECLI:EU:C:1979:42 Rn. 14 – Cassis de Dijon; Urt. v. 17. 12. 1981 – 272/80, ECLI:EU:C:1981:312 Rn. 14 f. – Biologische Producten; Urt. v. 23. 05. 1996 – C-5/94, ECLI:EU:C:1996:205 Rn. 20 – Hedley Lomas; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (64); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 46. Ausführlich zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt Armstrong, in: Barnard / Scott, Law of the Single European Market, S. 225; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 161 ff. 4 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 64; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 67 f. 5 EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser. 6 Janssens, Mutual Recognition, S. 28. 7 EuGH, Urt. v. 25. 01. 1977 – 46/76, ECLI:EU:C:1977:6 Rn. 22/25, 37/39 – Bauhuis; Urt. v. 23. 05. 1996 – C-5/94, ECLI:EU:C:1996:205 Rn. 19 ff. – Hedley Lomas; Urt. v. 19. 03. 1998 – C-1/96, ECLI:EU:C:1998:113 Rn. 47 – World Farming. Bestätigt für Ausfuhrgenehmigungen in EuGH, Urt. v. 14. 01. 1997 – C-124/95, ECLI:EU:C:1997:8 Rn. 49 – Centro-Com. 8 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (66); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 64; Zipperer, ZIP 2021, 231 (232); Lührs, Überstellungsschutz, S. 70.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
mitgliedstaatliche Normvollzug eine hinreichende Äquivalenz aufweisen, um eine solche Vertrauenspflicht zu rechtfertigen.9 Für den einzelnen Marktteilnehmer ist der Vertrauensgrundsatz im Kontext der Grundfreiheiten mit einem Freiheitsgewinn verbunden, da die Pflicht der Mitgliedstaaten, sich gegenseitig zu vertrauen, mit dem Abbau von Handelshindernissen verbunden ist.10 Von den Generalanwälten am EuGH wurde der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nachfolgend ebenfalls heranzogen, etwa im Kontext der gegenseitigen Anerkennung von Diplomen11 sowie dem Verbot, in anderen Mitgliedstaaten bereits rechtmäßig in Verkehr gebrachte Erzeugnisse12 und Dienstleistungen13 einer erneuten Kontrolle zu unterziehen. Auch die Europäische Kommission benannte den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in ihrem Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes (1985) als Grundlage und Stütze eines geplanten sekundärrechtlichen Anerkennungsregimes im Bereich der Niederlassungsfreiheit.14 Eine genauere Konturierung des rechtlichen Gehalts des Vertrauensgrundsatzes erfolgte zunächst aber nicht, sodass dessen eigenständiger rechtlicher Gehalt lange weitgehend im Dunkeln blieb.15 Auch die Abgrenzung zwischen den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens blieb unscharf.16 Während der EuGH die gegenseitige Anerkennung in der Rechtssache Wurmser als besondere Ausprägung eines allgemeineren Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens beschrieben hatte,17 hielten andere die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens für austauschbar. So nahm etwa Generalanwältin Sharpston noch im Jahr 2006 an, dass „gegenseitige Anerkennung“ und „gegenseitiges Vertrauen“ „verschiedene Bezeichnungen für denselben Grundsatz“ sind.18 9 Janssens, Mutual Recognition, S. 29; Rizcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (38); Schoch, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des VerwR Bd. 3, 2. Aufl. 2013, § 50 Rn. 378; Zipperer, ZIP 2021, 231 (232); vgl. EuGH, Urt. v. 08. 11. 1979 – 251/78, ECLI: EU:C:1979:252 Rn. 23 – Denkavit; Urt. v. 22. 09. 2016 – C-525/14, ECLI:EU:C:2016:714 Rn. 51 – Kommission / Tschechien. 10 Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (110); Kulick, JZ 2020, 223 (226). 11 GA Léger, Schlussanträge v. 30. 03. 1995 – C-40/93, ECLI:EU:C:1995:90 Rn. 24 – Kommission / Italien; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 03. 05. 2001 – C-145/99, ECLI:EU:C:2001:240 Rn. 62 – Kommission / Italien. 12 GA van Gerven, Schlussanträge v. 20. 03. 1990 – C-169/89, ECLI:EU:C:1990:124 Rn. 9 f. – van den Burg. 13 GA Lenz, Schlussanträge v. 30. 04. 1996 – C-330/03, ECLI:EU:C:1996:178 Rn. 101 – Kommission / Belgien. 14 Europäische Kommission, Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes v. 14. 06. 1985, KOM(85) 310 eng., S. 25. 15 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 46 f. 16 Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532). Näher zum Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen unten, → 1. Kapitel, § 2. C. I. 17 EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser. 18 GA Sharpston, Schlussanträge v. 15. 06. 2006 – C-467/04, ECLI:EU:C:2006:406 Fn. 87 – Gasparini; so zuvor auch GA Geelhoed, Schlussanträge v. 21. 10. 2004 – C-212/03, ECLI: EU:C:2004:652 Rn. 39 – Kommission / Frankreich.
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Insgesamt blieb die Zahl der Entscheidungen, in denen der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens heranzog, bis Ende der 2000er-Jahre zunächst vergleichsweise gering.19 II. Konkretisierung in neuerer Zeit Im Bereich des Binnenmarktrechts hat die Zahl der Entscheidungen zum Vertrauensgrundsatz auch in jüngerer Zeit nicht signifikant zugenommen. In den Jahren ab 2015 sind aber einige – vergleichsweise wenig beachtete – Entscheidungen speziell im Bereich des europäischen Steuerrechts und der Arbeitnehmerfreizügigkeit ergangen, in denen der EuGH den rechtlichen Gehalt des Vertrauensgrundsatzes für dieses Referenzgebiet näher konkretisiert hat. 1. Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen Die Entscheidungen zum europäischen Steuerrecht betrafen die RL 76/308/ EWG20 und ihre Nachfolgerichtlinie, die RL 2010/24/EU,21 über die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen. Die Richtlinien beruhen dem EuGH zufolge auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens,22 welches die Mitgliedstaaten auch im Binnenmarktrecht dazu verpflichte, davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.23 Daraus folge, dass der um Amtshilfe ersuchte Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der dem Vollstreckungstitel zugrunde liegenden Forderung sowie die Voraussetzungen für die Anwendung von Sicherungsmaßnahmen nicht erneut überprüfen darf; dies obliege allein dem um Amtshilfe ersuchenden Mitgliedstaat.24 Auch eine etwaige Rückerstattung der beigetriebenen Forderung nach erfolgreicher insolvenzrechtlicher Anfechtung sei allein Sache des ersuchen 19
Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (108). EuGH, Urt. v. 24. 02. 2021 – C-95/19, ECLI:EU:C:2021:128 – Silcompa. 21 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 – Donnellan; Urt. v. 14. 03. 2019 – C-695/17, ECLI:EU:C:2019:209 – Metirato; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 – Heavyinstall. 22 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 41 – Donnellan; Urt. v. 14. 03. 2019 – C-695/17, ECLI:EU:C:2019:209 Rn. 42 – Metirato; Urt. v. 24. 02. 2021, C-95/19, ECLI:EU:C:2021:128 Rn. 73 – Silcompa; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI: EU:C:2021:33 Rn. 40 – Heavyinstall. 23 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 f., 45 – Donnellan; vgl. auch BFH, Beschl. v. 30. 07. 2020 – VII B 73/20 (AdV), BFHE 270, 60 Rn. 59. 24 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 46 – Donnellan; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 44 – Heavyinstall; Urt. v. 24. 02. 2021 – C-95/19, ECLI:EU:C:2021:128 Rn. 73 f. – Silcompa. 20
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
den Mitgliedstaats.25 Eine Verweigerung der Amtshilfe durch den ersuchten Staat dürfe nur ausnahmsweise erfolgen, wobei Beschränkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens eng auszulegen seien.26 Mit diesen Entscheidungen hat der EuGH die von ihm zwischenzeitlich für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts27 herausgearbeiteten rechtlichen Gehalte des Vertrauensgrundsatzes explizit auf das Binnenmarktrecht übertragen. Er entnimmt dem Grundsatz auch für diesen Bereich eine Legalitätsvermutung zugunsten des ersuchenden Staates, mit der ein Nachprüfungsverbot für den ersuchten Mitgliedstaat und zugleich eine klare Aufgabenteilung zwischen den beteiligten Staaten einhergeht. Über ihren unmittelbaren Gehalt hinaus belegen diese Entscheidungen, dass die häufig anzutreffende Annahme, der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gehe im Binnenmarkt grundsätzlich mit einem Freiheitsgewinn für die Marktteilnehmer einher,28 in der häufig anzutreffenden Pauschalität zu kurz greift. 2. Europäisches Sozialversicherungsrecht Eine ähnliche Entwicklung hat der EuGH etwa zeitgleich im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit vollzogen. Die Urteile betrafen sozialversicherungsrecht liche Fragen im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerentsendung innerhalb der Union.29 Welches Recht im Fall der Arbeitnehmerentsendung anwendbar ist, regeln die VO (EWG) 1408/71 bzw. mittlerweile deren Nachfolgeregelung, die VO (EG) 883/2004. Danach unterliegen Arbeitnehmer auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit grundsätzlich dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie beschäftigt sind, und zwar auch dann, wenn der Arbeitnehmer im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sein Arbeitgeber seinen Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat (Art. 13 Abs. 2 lit. a VO [EWG] 1408/71, Art. 11 Abs. 3 lit. a VO [EG] 883/2004). Hiervon sieht das Sekundärrecht verschiedene Ausnahmen vor. Werden Arbeitnehmer etwa nur für eine begrenzte Zeit in einen anderen Mitgliedstaat entsendet, kann das entsendende Unternehmen es unter bestimmten Voraussetzungen bei der Anmeldung des Arbeitnehmers beim System des ersten Mitgliedstaats belassen (Art. 14 Abs. 1 lit. a VO [EWG] 1408/71, Art. 12 Abs. 1 VO [EG] 883/2004). Liegt ein solcher Ausnahmefall vor, stellt der 25
EuGH, Urt. v. 14. 03. 2019 – C-695/17, ECLI:EU:C:2019:209 Rn. 43 – Metirato. EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 47, 50 – Donnellan; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 37 f. – Heavyinstall. 27 Hierzu im nächsten Abschnitt, → 1. Kapitel, § 1. B. 28 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 71; Kulick, JZ 2020, 223 (226). 29 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 39 ff. – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 89 – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 – Bouygues travaux public u. a. Zu den Aussagen der Urteile bzgl. der Grenzen des gegenseitigen Vertrauens s. unten, → 3. Kapitel, § 3. A. I. 26
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zuständige Sozialversicherungsträger des ersten Mitgliedstaats eine sog. Entsendebescheinigung aus, in der er erklärt, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit anwendbar bleibt (Art. 11 Abs. 1 VO [EWG] 574/72, Art. 19 Abs. 2 VO [EG] 987/2009). Der EuGH nimmt an, dass diese Bescheinigung für den Mitgliedstaat, in den der Arbeitnehmer entsendet wird, aufgrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich Bindungswirkung entfaltet mit der Folge, dass er den fraglichen Arbeitnehmer nicht seinem eigenen Sozialversicherungssystem unterstellen darf.30 Umgekehrt verpflichte der „Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit“ den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung ausgestellt hat, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu beurteilen und die Richtigkeit der in der Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten.31
B. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Die vertrauensbasierten Anerkennungspflichten im Binnenmarktrecht dienten als Vorbild für die Konzeption des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV).32 Hier hat der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Art. 77–80 AEUV) sowie der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- (Art. 81 AEUV) und Strafsachen (Art. 82–86 AEUV) wesentliche Bedeutung erlangt. Einzig in der polizeilichen Zusammenarbeit (Art. 87–89 AEUV) hat der Vertrauensgrundsatz bislang keine erkennbare Rolle gespielt.33 Die Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist davon geprägt, dass das Recht in den einzelnen Sachbereichen wenig harmonisiert 30
EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 39 ff. – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 94 – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 62 f. – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 40 f. – Bouygues travaux public u. a. 31 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 42 – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 89 – Kommission / Belgien. 32 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes (Tampere) 15./16. 10. 1999, B.IV.; Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, ABl. EG 2001 C 12/10, S. 10 f.; Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001 C/1, S. 5 f.; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (68); Kaufhold, EuR 2012, 408 (411); Zipperer, ZIP 2021, 231 (232). Die Übertragung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist teils auf heftige Kritik gestoßen, s. nur Braum, Goltdammer’s Archiv 2005, 681 (688 ff.); Peers, 41 CMLR 2004, 5 (5, 23 ff.); Satzger, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 82 Rn. 11 ff. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532) gehen abweichend hiervon davon aus, dass es sich beim gegenseitigen Vertrauen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts um ein eigenständiges Konzept handelt. Näher hierzu unten, → 1. Kapitel, § 2. 33 Ebenso Ladenburger, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (168).
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
ist, während die einschlägigen nationalen Regelungen zugleich vergleichsweise heterogen sind.34 Dies galt in besonders hohem Maße vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon,35 aber auch heute bleibt das einschlägige Recht trotz einzelner (Mindest-)Harmonisierungsmaßnahmen noch primär national. So entscheiden über die Gewährung von Asyl weiterhin die einzelnen EU-Mitgliedstaaten nach ihrem jeweiligen nationalen Asylrecht,36 ebenso unterliegt das Strafrecht größtenteils nationalen Regelungen.37 Auch soweit punktuell eine Rechtsvereinheitlichung erfolgt ist, obliegt jedenfalls der Vollzug ganz überwiegend den Mitgliedstaaten.38 Primäres Integrationsinstrument bildet im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts daher die gegenseitige Anerkennung und Durchsetzung nationaler Entscheidungen (vgl. Art. 67 Abs. 3 u. Abs. 4, 81 Abs. 1, 82 Abs. 1 AEUV).39 Daraus folgt zugleich die grundlegende Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens für eine effektive Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.40 I. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen Die ersten Bezugnahmen auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsprinzip des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts finden sich in der Rechtsprechung zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen. In diesem Politikbereich hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens insbesondere im Zusammenhang mit sekundärrechtlich normierten Anerkennungsund Vollstreckungspflichten sowie vereinheitlichten Zuständigkeitsregimen zum Tragen gebracht41 und ihn schrittweise zu einem Leitmotiv des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts entwickelt.42 Einheitlicher Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Annahme, dass die vereinheitlichten Zuständigkeitsregelungen sowie die vereinfachte gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen.43 Von besonderer Relevanz waren dabei die im Folgenden beleuchteten Rechtsakte. Das Motiv des gegenseitigen 34
Kohler, ZEuS 2016, 135; Lührs, Überstellungsschutz, S. 72; Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (320); Nettesheim, EuR 2009, 24 (40). 35 Herlin-Karnell, in: Acosta Arcarazo / Murphy, EU Security and Justice, S. 38 (42). 36 Lührs, Überstellungsschutz, S. 1, 72. 37 Riczcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (39). 38 Einzige wesentliche Ausnahme hiervon bildet die auf Grundlage von Art. 86 AEUV geschaffene Europäische Staatsanwaltschaft, die im Wege der verstärkten Zusammenarbeit errichtet wurde und an der sich bislang 22 Mitgliedstaaten beteiligen. 39 Lührs, Überstellungsschutz, S. 72; Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (321). 40 Herlin-Karnell, in: Acosta Arcarazo / Murphy, EU Security and Justice, S. 38 (42); Kohler, ZeuS 2016, 135 (136); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (25); Wendel, JZ 2016, 332 (335 f.). 41 Vgl. Engel, Beitritt zur EMRK, S. 116 f.; Erbarth, in: MünchKomm FamFG, Art. 1 EUGewaltschutzVO Rn. 1; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (15, 17). 42 Düsterhaus, ZeuP 2018, 10 (22); Weller, 35 NIPR 2017, 1 (1 f.); Britz, JZ 2013, 105. 43 Kaufhold, EuR 2012, 408 (415).
§ 1 Referenzgebiete
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Vertrauens liegt darüber hinaus aber noch einer Vielzahl weiterer Rechtsakte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen zugrunde.44 1. Zivil- und Handelssachen Seine erste Erwähnung fand der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in Entscheidungen zum Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ).45 Das EuGVÜ und seinen Nachfolgeregelungen, die Brüssel I- und Brüssel Ia-VO, enthalten Regelungen über die gerichtliche Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, die gemäß dem EuGH in ihrer Gesamtheit auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen.46 Es fällt bei näherem Hinsehen auf, dass der EuGH im hier untersuchten Zusammenhang teilweise nur vom „gegenseitigen Vertrauen“ in die Justiz der Mitgliedstaaten spricht. Diese Begriffsverwendung wirft die Frage auf, ob er insoweit tatsächlich ein normatives Prinzip oder „nur“ einen empirischen Tatbestand im Sinne eines zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich bestehenden Vertrauens beschreibt.47 Der Gerichtshof hat das gegenseitige Vertrauen insoweit aber an verschiedenen Stellen mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gleichgestellt48 und auch die abgeleiteten Rechtsfolgen lassen erkennen, dass eine normative Begriffsverwendung beabsichtigt ist. a) Regelungen zur Zuständigkeit Der EuGH zog den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zunächst im Zusammenhang mit Zuständigkeitskonflikten zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten heran. Aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, auf dem die Vereinheitlichung der Zuständigkeitsregelungen beruhe,49 folge die Pflicht 44
Hierzu näher Knof, in: Uhlenbruck, InsO, Art. 3 EuInsVO Rn. 15; Storskrubb, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 15 (17). Zur Rolle des Vertrauensgrundsatzes im Regelungssystem der EuVTVO s. EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-484/15, ECLI:EU:C:2017:199 Rn. 40 ff. – Zulfikarpašić; Urt. v. 16. 02. 2023 – C-393/21, ECLI:EU:C:2023:104 – Lufthansa Technik AERO Alzey GmbH; Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (189 ff.). 45 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 25, 28 – Turner; anklingend, aber noch mit einem empirischen Vertrauensbegriff bereits EuGH, Urt. v. 09. 12. 2003 – C-116/02, ECLI:EU:C:2003:657 Rn. 48, 67 ff. – Gasser. 46 EuGH, Urt. v. 11. 07. 2008 – C-195/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:406 Rn. 47 – Rinau; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:197 Rn. 31 f. – Salzgitter Mannesmann Handel. 47 Zu den verschiedenen Begriffsverwendungen und dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Begriff s. bereits oben, → Einleitung, § 2. 48 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 40 – Diageo Brands; Urt. v. 09. 03. 2017 – C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193 Rn. 50 f. – Pula Parking. 49 EuGH, Urt. v. 13. 05. 2015 – C-536/13, ECLI:EU:C:2015:316 Rn. 39 – Gazprom.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
aller mitgliedstaatlichen Gerichte, anzuerkennen, dass die Zuständigkeitsregeln des EuGVÜ bzw. der Brüssel I-Verordnungen von jedem mitgliedstaatlichen Gericht mit gleicher Sachkenntnis ausgelegt und angewandt werden können.50 Er nimmt an, dass es den Gerichten folglich untersagt ist, die Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats einer (Nach-)Prüfung zu unterziehen.51 Auch sog. Anti-Suit Injunctions, mit denen ein Gericht ein Verbot an eine der Parteien ausspricht, eine Klage bei einem ausländischen Gericht zu erheben oder ein dortiges Verfahren weiterzubetreiben, stellen nach Auffassung des Gerichtshofs einen Verstoß gegen den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens dar, weil eine solche Verfügung eine Beeinträchtigung der Zuständigkeit der Gerichte anderer Mitgliedstaaten bewirken könne.52 b) Anerkennung und Vollstreckung mitgliedstaatlicher Entscheidungen Eine unmittelbare Vollstreckungswirkung mitgliedstaatlicher Entscheidungen wurde in Zivil- und Handelssachen erst vergleichsweise spät mit der Brüssel Ia-VO (2012) normiert: Seither ist eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung, die im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, ipso iure auch in den anderen Mitgliedstaaten vollstreckbar (Art. 39 Brüssel Ia-VO).53 Zuvor bedurfte es noch einer gesonderten Vollstreckbarerklärung (Art. 31 EuGVÜ, Art. 38 Brüssel I-VO). Die Nachprüfung etwaiger Vollstreckungshindernisse erfolgte aber bereits auf Grundlage der Brüssel I-VO nicht mehr von Amts wegen, sondern wurde in ein nachgelagertes Beschwerdeverfahren verschoben (vgl. Art. 41, 43 ff. Brüssel I-VO).54 Nach Auffassung des EuGH erforderte und rechtfertigte es der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, dass die Vollstreckbarerklärung nach der Brüssel I-VO quasi automatisch nach einer einfachen formalen Prüfung der vorgelegten Schriftstücke erfolgte.55 Im mittlerweile geltenden System der Brüssel Ia-Verordnung komme der 50
EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 25 – Turner; Urt. v. 04. 05. 2010 – C-533/08, ECLI:EU:C:2010:243 Rn. 55 – TNT. 51 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 26, 28 – Turner; Urt. v. 04. 05. 2010 – C-533/08, ECLI:EU:C:2010:243 Rn. 55 – TNT. 52 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 27 f. – Turner; Urt. v. 10. 02. 2009 – C-185/07, ECLI:EU:C:2009:69 Rn. 29 f. – Allianz; Urt. v. 13. 05. 2015 – C-536/13, ECLI:EU:C:2015:316 Rn. 34 – Gazprom; näher Mankowski, in: Rauscher, Europä isches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Vorb. zu Art. 4 Brüssel Ia-VO Rn. 50 ff. 53 Zur Entwicklung Lenaerts, in: FS Kohler, S. 287 (291 f.). Eine Vollstreckbarerklärung war zuvor nur ausnahmsweise bei der grenzüberschreitenden Durchsetzung unbestrittener Forderungen nach den Sonderregelungen der EuVTVO entbehrlich (Art. 5 EuVTVO). 54 S. näher Hess, Eur. ZivilprozessR, S. 115. 55 EuGH, Urt. v. 13. 10. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:653 Rn. 27 f., 31– Prism Investments; Urt. v. 06. 09. 2012 – C-619/10, ECLI:EU:C:2012:531 Rn. 40 f. – Trade Agency; Urt. v. 23. 10. 2014 – C-302/13, ECLI:EU:C:2014:2319 Rn. 45 – flyLAL; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 40 – Diageo Brands; Urt. v. 12. 12. 2019 – C-433/18, ECLI:EU:C:2019:1074 Rn. 23 – Aktiva Finants.
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Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nun darin zum Ausdruck, dass die Entscheidungen der Gerichte jedes Mitgliedstaats ebenso behandelt und vollstreckt werden, wie wenn sie in dem Mitgliedstaat ergangen wären, in dem um ihre Vollstreckung ersucht wird.56 Die in den Brüssel-Verordnungen aufgeführten Gründe für die Versagung der Anerkennung und Vollstreckung sind dem Gerichtshof zufolge abschließend und eng auszulegen.57 Eine weitergehende Prüfung insbesondere der tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte der Entscheidung, deren Vollstreckung beantragt wird, sei den Behörden des Vollstreckungsstaats aufgrund des Prinzips gegenseitigen Vertrauens verwehrt.58 Der Einzelne sei primär darauf verwiesen, seine Rechte im Entscheidungsstaat wahrzunehmen und dort alle verfügbaren Rechtsmittel auszuschöpfen.59 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens rechtfertige dabei die Vermutung, dass das Rechtssystem des Entscheidungsmitgliedstaats ausreichende Garantien gegen Entscheidungen, die auf einer falschen Anwendung des nationalen Rechts oder des Unionsrechts beruhen, bietet.60 c) Weitere Auslegungsfragen In einer jüngeren Entscheidung hat der Gerichtshof dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zudem eine maßgebliche Rolle bei der Auslegung des Begriffs des „Gerichts“ i. S. d. Brüssel Ia-VO beigemessen: Die Wahrung des der Verordnung zugrunde liegenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in die ordnungsgemäße Rechtspflege der Mitgliedstaaten setze insbesondere voraus, dass die Entscheidungen, um deren Vollstreckung ersucht wird, in einem gerichtlichen Verfahren ergangen sind, welches die Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bietet und in dem der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gewahrt wird.61 Kroatische Notare könnten daher mangels Erfüllung dieser Anforderun 56
EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193 Rn. 51 f. – Pula Parking; vgl. ErwG 26 Brüssel Ia-VO. 57 EuGH, Urt. v. 13. 10. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:653 Rn. 33 – Prism Investments; Urt. v. 06. 09. 2012 – C-619/10, ECLI:EU:C:2012:531 Rn. 31 – Trade Agency; Urt. v. 23. 10. 2014 – C-302/13, ECLI:EU:C:2014:2319 Rn. 46 – flyLAL. 58 EuGH, Urt. v. 13. 10. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:653 Rn. 43 – Prism Investments; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:197 Rn. 33, 36 – Salzgitter Mannesmann Handel; Lenaerts, in: FS Kohler, S. 287 (292 f.). 59 EuGH, Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:197 Rn. 35 – Salzgitter Mannes mann Handel; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 62 ff. – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni; Engel, Beitritt zur EMRK, S. 118. 60 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 63 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 47 – Meroni. 61 EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193 Rn. 54 – Pula Parking. Zweifel daran, ob polnische Gerichte noch als Gerichte i. S. d. Brüssel Ia-VO anzusehen sind, bei Burrer / Marusczyk, EuZW 2022, 200.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
gen nicht unter den Begriff des „Gerichts“ fallen.62 Daneben hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch zur Auslegung des Begriffs der „Entscheidung“ i. S. v. Art. 32 Brüssel I-VO bzw. Art. 2 lit. a Brüssel Ia-VO63 und zur Auslegung des Ablehnungsgrundes in Art. 34 Nr. 3 Brüssel I-VO64 herangezogen. 2. Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung Die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen umfasst auch Maßnahmen auf dem Gebiet des Familienrechts (vgl. Art. 81 Abs. 3 AEUV). In diesem Bereich hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens hauptsächlich in Entscheidungen zur Brüssel IIa-VO ausgeformt. Die Brüssel IIa-VO und ihre seit dem 1. August 2022 geltende Nachfolgeregelung, die Brüssel IIb-VO,65 enthalten Regelungen über die Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. a) Regelungen zur Zuständigkeit Das von den Brüssel II-Verordnungen geschaffene Zuständigkeitsregime beruht nach Auffassung des EuGH auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.66 Aus dem Vertrauensgrundsatz folge, dass das Gericht, bei dem ein Antrag anhängig gemacht wird, seine Zuständigkeit nach der Brüssel IIa-VO zu prüfen hat67 und dass aus der von ihm erlassenen Entscheidung klar hervorgehen muss, dass es nach diesen Zuständigkeitsvorschriften entschieden hat.68 Im Gegenzug dürften die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten die Beurteilung, aufgrund derer das erste Gericht seine Zuständigkeit bejaht hat, nicht nachprüfen69 und ebenso wenig 62
EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193 Rn. 56 – Pula Parking. Ebenso zur EuVTVO EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-484/15, ECLI:EU:C:2017:199 Rn. 40 ff. – Zulfikarpašić. 63 EuGH, Urt. v. 15. 11. 2012 – C-456/11, ECLI:EU:C:2012:719 Rn. 28 f. – Gothaer Allgemeine Versicherung u. a.; Urt. v. 07. 04. 2022 – C-568/20, ECLI:EU:C:2022:264 Rn. 29 f. – H Limited. 64 EuGH, Urt. v. 20. 05. 2022 – C-700/20, ECLI:EU:C:2022:488 Rn. 54 ff. – London SteamShip Owners’ Mutual Insurance Association. 65 Zur Neufassung s. Brosch, GPR 2020, 179. 66 EuGH, Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 72 f. – Purrucker; Urt. v. 26. 04. 2012 – C-92/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:255 Rn. 103 – Health Service Executive; Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24 Rn. 41 – Liberato. 67 EuGH, Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 73 – Purrucker; Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24 Rn. 44 – Liberato; Urt. v. 03. 10. 2019 – C-759/18, ECLI:EU:C:2019:816 Rn. 32 – OF. 68 EuGH, Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 73 – Purrucker. 69 EuGH, Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 74 – Purrucker; Urt. v. 26. 04. 2012 – C-92/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:255 Rn. 103 – Health Service Executive; Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24 Rn. 45 – Liberato.
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die Anerkennung von Entscheidungen wegen Unzuständigkeit des entscheidenden Gerichts ablehnen (vgl. Art. 24 Brüssel IIa-VO, Art. 69 Brüssel IIb-VO).70 Bei Unklarheiten nimmt der EuGH angesichts des Umstands, dass die Brüssel II-Verordnungen auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Gerichten beruhen, eine Verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte an, untereinander die zur Beurteilung ihrer Zuständigkeit erforderlichen Informationen auszutauschen.71 Anti-Suit Injunctions hält er auch im Anwendungsbereich der Brüssel II-Verordnungen für mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unvereinbar.72 In Ausnahmefällen und unter bestimmten Voraussetzungen kann das Gericht, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, den Fall gemäß Art. 15 Brüssel IIa-VO, Art. 12 Brüssel IIb-VO an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaates verweisen, das seines Erachtens den Fall besser beurteilen kann. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Verweisung an ein anderes Gericht geeignet ist, einen Mehrwert zu erbringen, darf das zuständige Gericht dem Gerichtshof zufolge nicht das materielle Recht des anderen Mitgliedstaats berücksichtigen, das von dessen Gericht anzuwenden wäre, wenn der Fall verwiesen würde.73 Dies widerspräche dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten.74 b) Anerkennung und Vollstreckung Die Regelungen der Brüssel II-Verordnungen über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung beruhen bereits ausweislich ihrer Erwägungsgründe ebenfalls auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (ErwG 21 Brüssel IIa-VO, ErwG 55 Brüssel IIb-VO). Dies betont auch der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Brüssel IIa-VO.75 Im Hinblick auf Umgangsentscheidungen und Entscheidungen über die Rückgabe entführter oder zurückgehaltener Kinder sehen die Brüssel II-Verordnungen eine noch weitergehende Automatisierung der Vollstreckung vor als die Brüssel IVerordnungen: Mit der Brüssel IIa-VO wurden insoweit sowohl das Exequaturverfahren als auch der ordre public-Vorbehalt abgeschafft.76 Auf Antrag einer 70
EuGH, Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24 Rn. 47 ff. – Liberato. EuGH, Urt. v. 09. 11. 2010 – C-296/10, ECLI:EU:C:2010:665 Rn. 81 – Purrucker II. 72 EuGH, Urt v. 19. 10. 2018 – C-325/18, ECLI:EU:C:2018:379 Rn. 90 – C. E. u. N. E. 73 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2016 – C-428/15, ECLI:EU:C:2016:819 Rn. 57 – D; Beschl. v. 10. 07. 2019 – C-530/18, ECLI:EU:C:2019:583 Rn. 39 – EP. Kritisch zu der Differenzierung zwischen verfahrensrechtlichen Regeln und materiellem Recht Mansel / Thorn / Wagner, IPRax 2020, 97 (115). 74 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2016 – C-428/15, ECLI:EU:C:2016:819 Rn. 57 – D; Beschl. v. 10. 07. 2019 – C-530/18, ECLI:EU:C:2019:583 Rn. 39 – EP. 75 EuGH, Urt. v. 09. 09. 2015 – C-4/14, ECLI:EU:C:2015:563 Rn. 43 – Bohez; Urt. v. 26. 04. 2012 – C-92/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:255 Rn. 102 – Health Service Executive; Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 Rn. 49 – ZW. 76 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 63; Wagner, IPRax 2019, 185 (194). 71
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
der Parteien stellt das in der Sache entscheidende Gericht eine Bescheinigung zur Vollstreckung aus, in der es das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bestätigt (vgl. Art. 41 Abs. 2, 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO). Bei Vorliegen dieser Bescheinigung ist die Entscheidung außerhalb des Ursprungsstaates unmittelbar vollstreckbar, ohne dass Anfechtungsmöglichkeiten bestehen (Art. 41 Abs. 1, 42 Abs. 1 Brüssel IIa-VO).77 Hierbei bleibt es im Grundsatz auch nach der Brüssel IIb-VO (Art. 45 f. Brüssel IIb-VO).78 Dahinter steht das Ziel, im Interesse des Kindeswohls eine möglichst rasche Rückgabe des Kindes zu erreichen und eine Verfestigung widerrechtlicher Zustände zu vermeiden.79 Für sonstige Entscheidungen über die elterliche Verantwortung und Entscheidungen in Ehesachen sind dagegen Gründe für eine Ablehnung der Anerkennung und Vollstreckung vorgesehen (Art. 22 f., 31 Abs. 2 Brüssel IIa-VO, Art. 38 f., 41 Brüssel IIb-VO). Nach der Brüssel IIa-VO war außerdem noch eine Vollstreckbarkeitserklärung erforderlich (Art. 28 Abs. 1 Brüssel IIa-VO). Die vorgesehenen Ablehnungsgründe sind dem EuGH zufolge mit Blick auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens jedoch abschließend und eng auszulegen.80 Es sei außerdem davon auszugehen, dass die Voraussetzungen einer Scheidung in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sind und darum die Anerkennung nicht deshalb abgelehnt werden kann, weil die Ehescheidung nach dem Recht des Mitgliedstaates, in dem die Anerkennung beantragt wird, so nicht zulässig wäre.81 Eine Nachprüfung der anzuerkennenden Entscheidung in der Sache ist den Mitgliedstaaten verwehrt (Art. 26 Brüssel IIa-VO, Art. 71 Brüssel IIb-VO). Dem EuGH zufolge beruht dieses Nachprüfungsverbot auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens,82 der die Mitgliedstaaten verpflichte, zu unterstellen, dass ihre nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der GRCh anerkannten Grund-
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Lenaerts, in: FS Kohler, S. 287 (292); Britz, JZ 2013, 105 (106); Storskrubb, in: B akardjieva Engelbrekt u. a., Trust in the EU, S. 159 (170). 78 S. im Einzelnen Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (400). Art. 56 Abs. 6 Brüssel IIb-VO sieht eine Vollstreckungsverweigerungsmöglichkeit nur für den Fall vor, dass die Vollstreckung – aufgrund nach Ergehen der Entscheidung aufgetretener Umstände – für das Kind die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens mit sich bringen würde. Die Einführung (zeitlich) darüberhinausgehender nationaler Ablehnungsgründe dürfte weiterhin unzulässig sein, vgl. ebenso K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 423. 79 Zweifel daran, ob die auf den Vertrauensgrundsatz gestützte Rspr. des EuGH geeignet ist, das Kindeswohl tatsächlich zu fördern, bei Bartolini, 56 CMLR 2019, 91 (105 f.). 80 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2012 – C-92/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:255 Rn. 104 – Health Service Executive; Urt. v. 19. 11. 2015 – C-455/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:763 Rn. 35 f. – P; Urt. v. 15. 11. 2022 – C-646/20, ECLI:EU:C:2022:879 Rn. 44 f. – Senatsverwaltung für Inneres und Sport. 81 EuGH, Urt. v. 15. 11. 2022 – C-646/20, ECLI:EU:C:2022:879 Rn. 45 – Senatsverwaltung für Inneres und Sport. 82 EuGH, Urt. v. 09. 09. 2015 – C-4/14, ECLI:EU:C:2015:563 Rn. 44, 51 f. – Bohez.
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rechte zu bieten.83 Die Verfahrensbeteiligten seien deshalb darauf verwiesen, die Rechtsschutzmöglichkeiten im Ursprungsstaat zu nutzen, um eine Überprüfung der Entscheidung zu erwirken.84 c) Weitere Auslegungsfragen Der EuGH hat den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens darüber hinaus in verschiedenen Zusammenhängen bei der Auslegung der Brüssel IIa-VO herangezogen.85 Unter anderem leitete er aus dem Vertrauensgrundsatz Vorgaben für den Prüfungsumfang des Gerichts, das nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO für die endgültige Entscheidung über die Rückgabe eines Kindes zuständig ist, her. Das letztentscheidende Gericht müsse bei seiner Entscheidung, die Rückgabe anzuordnen, auch die Gründe und Beweismittel berücksichtigen, die der vorhergehenden Entscheidung des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, die Rückgabe abzulehnen, zugrunde lagen.86 Ihre Berücksichtigung trage dazu bei, die Vollstreckbarkeit einer solchen Entscheidung im Einklang mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu rechtfertigen.87 Daneben hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und das Ziel einer erleichterten gegenseitigen Anerkennung auch fruchtbar gemacht, um eine weite Auslegung des Begriffs der „Entscheidung“ i. S. v. Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-VO zu rechtfertigen.88 3. Europäisches Insolvenzrecht Wenig Beachtung außerhalb der zivilrechtlichen Literatur hat die Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes im Europäischen Insolvenzrecht erfahren. Die EUInsVO 2000 und ihre Nachfolgeregelung, die EUInsVO 2015, schaffen ein vereinheitlichtes Zuständigkeitssystem für die Eröffnung und Durchführung von Insolvenzverfahren und sehen ein vereinfachtes Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren für im Rahmen von Insolvenzverfahren ergangene Entscheidungen vor. Laut ErwG 22 EUInsVO 2000 bzw. ErwG 65 EUInsVO 2015 soll sich die Anerkennung der Entscheidungen der Gerichte der 83
EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 70 – Aguirre Zarraga. 84 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 71 ff. – Aguirre Zarraga. 85 EuGH, Urt. v. 11. 07. 2008 – C-195/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:406 Rn. 50, 55 – Rinau; Urt. v. 23. 12. 2009 – C-403/09, ECLI:EU:C:2009:810 Rn. 45 – Detiček; Urt. v. 01. 07. 2010 – C-211/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:400 Rn. 59 – Povse. 86 EuGH, Urt. v. 01. 07. 2010 – C-211/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:400 Rn. 59 – Povse. 87 EuGH, Urt. v. 01. 07. 2010 – C-211/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:400 Rn. 59 – Povse. 88 EuGH, Urt. v. 15. 11. 2022 – C-646/20, ECLI:EU:C:2022:879 Rn. 50 – Senatsverwaltung für Inneres und Sport.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Mitgliedstaaten auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stützen. Die zulässigen Gründe für eine Nichtanerkennung sollten daher auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Auch Kompetenzkonflikte seien nach diesem Grundsatz zu lösen. Gemäß Art. 16 EUInsVO 2000 bzw. Art. 19 Abs. 1 EUInsVO 2015 wird die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt. Diese Prioritätsregel stützt sich, wie der EuGH unter Berufung auf ErwG 22 EUInsVO 2000 bzw. ErwG 65 EuInsVO 2015 hervorhebt, auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.89 Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist dabei nach Auffassung des EuGH inhärent, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens anhängig gemacht wird, seine Zuständigkeit nach der EUInsVO überprüft.90 Die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten seien im Gegenzug verpflichtet, die Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens anzuerkennen, ohne die vom ersten Gericht hinsichtlich seiner Zuständigkeit angestellte Beurteilung überprüfen zu dürfen.91 Anders als der Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 EUInsVO 2000 bzw. Art. 19 Abs. 1 EUInsVO 2015 nahelegt, setzt die Anerkennung der Eröffnungsentscheidung also nicht voraus, dass das eröffnende Gericht tatsächlich international zuständig gewesen ist.92 Will ein Beteiligter die mangelnde internationale Zuständigkeit des Eröffnungsstaates geltend machen, ist er darauf verwiesen, bei den Gerichten des Mitgliedstaates, in dem das Verfahren eröffnet worden ist, Rechtsbehelfe gegen die Eröffnungsentscheidung einzulegen.93 4. Erbrecht In zwei jüngeren Entscheidungen hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens außerdem zur Auslegung der EuErbVO herangezogen. Die EuErbVO trifft Regelungen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung 89
EuGH, Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 39 – Eurofood IFSC; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 27 – MG Probud; Urt. v. 05. 07. 2012 – C-527/10, ECLI:EU:C:2012:417 Rn. 34 – ERSTE Bank Hungary; Urt. v. 24. 03. 2022 – C-723/20, ECLI:EU:C:2022:209 Rn. 35 – Galapagos BidCo. 90 EuGH, Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 41 – Eurofood IFSC; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 29 – MG Probud. Diese Rspr. wurde in der Neufassung explizit normiert in Art. 4 Abs. 1 EUInsVO 2015, vgl. hierzu Zipperer, ZIP 2021, 231 (237). 91 EuGH, Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 42 – Eurofood IFSC; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 29 – MG Probud; Urt. v. 24. 03. 2022 – C-723/20, ECLI:EU:C:2022:209 Rn. 35 – Galapagos BidCo. 92 Fuchs, Restschuldbefreiungs-Tourismus, S. 499. Kritisch Mankowski, in: Mankowski / M. Müller / J. Schmidt, EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 166 f. 93 EuGH, Urt. v. 20. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 43 – Eurofood IFSC. Vgl. in der Neufassung Art. 5 EUInsVO 2015, hierzu Zipperer, ZIP 2021, 231 (237).
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öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses. Das von der Verordnung geschaffene System beruht nach Auffassung des EuGH auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.94 Deshalb sei ein Gericht, das aufgrund der Unzuständigkeitserklärung eines anderen Gerichts angerufen wird, nicht befugt, nachzuprüfen, ob die Voraussetzungen für die Unzuständigkeitserklärung tatsächlich erfüllt waren.95 Darüber hinaus zog der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch zur Auslegung des Begriffs des „Gerichts“ i. S. d. EuErbVO heran.96 II. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Am prominentesten ist der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wohl in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in Erscheinung getreten. Im Mittelpunkt der Forschung zur Wirkweise des Vertrauensgrundsatzes im Europäischen Strafrecht steht meist der Europäische Haftbefehl. Grund hierfür ist neben der praktischen Relevanz des Instruments, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens maßgeblich anhand von Fällen zum Europäischen Haftbefehl fortentwickelt hat.97 Bereits vor Inkrafttreten des RbEuHb hat der EuGH das Motiv des gegenseitigen Vertrauens aber schon in Entscheidungen zur Interpretation des Doppelbestrafungsverbots nach Art. 54 SDÜ herangezogen. Mit fortschreitendem Ausbau der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sind zudem zahlreiche weitere Rahmenbeschlüsse und Richtlinien ergangen, die ein umfassendes, auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestütztes Kooperationssystem im Bereich der Strafjustiz etabliert haben. Auch anhand dieser Rechtsakte hat der EuGH den Vertrauensgrundsatz weiter ausgeformt. 1. Doppelbestrafungsverbot nach Art. 54 SDÜ Gegenstand des 1990 geschlossenen Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) waren Regelungen für eine verstärkte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit im Schengenraum. Diese Regelungen sollten die Gefahren, die sich aus der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen für die innere Sicherheit ergaben, kompensieren.98 Das SDÜ erging zunächst noch außerhalb des institutionellen Rahmens der Union und wurde schließlich mit dem Vertrag von Amster 94
EuGH, Urt. v. 09. 09. 2021 – C-422/20, ECLI:EU:C:2021:718 Rn. 45 – RK. EuGH, Urt. v. 23. 05. 2019 – C-658/17, ECLI:EU:C:2019:444 Rn. 52 – WB; Urt. v. 09. 09. 2021 – C-422/20, ECLI:EU:C:2021:718 Rn. 37 ff. – RK. 96 EuGH, Urt. v. 23. 05. 2019 – C-658/17, ECLI:EU:C:2019:444 Rn. 50 ff. – WB. 97 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 59. 98 Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 154; Inhofer, in: Graf, BeckOK StPO, Art. 54 SDÜ Rn. 1. 95
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
dam in den institutionellen und rechtlichen Rahmen der EU überführt.99 Art. 54 SDÜ sieht ein transnationales Verbot der Doppelbestrafung und Doppelverfolgung vor, wonach die beteiligten Staaten auf eine eigene Strafverfolgung bzw. -vollstreckung verzichten, wenn die Tat in einem anderen Schengen-Staat rechtskräftig abgeurteilt worden ist. Es lässt sich hier von einer negativen Form gegenseitiger Anerkennung sprechen.100 Dem EuGH zufolge „impliziert“ bzw. „verlangt“ das in Art. 54 SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung zwingend, „dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationales Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde“.101 Der EuGH formuliert das gegenseitige Vertrauen hier noch nicht explizit als Verpflichtung, sodass nicht vollständig klar wird, inwieweit er ihm in seinen älteren Entscheidungen bereits einen normativen Gehalt beimisst.102 Die Begriffsverwendung des Gerichtshofs, wonach die in Art. 54 SDÜ normierte Anerkennungspflicht das „Bestehen“ gegenseitigen Vertrauens impliziere, legt vielmehr nahe, dass der EuGH das gegenseitige Vertrauen hier als eine bei der Rechtsetzung und -anwendung vorausgesetzte Tatsache versteht. Auch der Umstand, dass sich die Anerkennungspflicht ungeachtet des Fehlens einer Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen bereits aus dem Wortlaut des Art. 54 SDÜ ergibt und dem gegenseitigen Vertrauen im Kontext dieser Entscheidungen somit kein eigener Regelungsgehalt zukommt, spricht eher gegen ein normatives Begriffsverständnis.103 Spätere Entscheidungen ab dem Jahr 2016 lassen dagegen erkennen, dass der EuGH dem gegenseitigen Vertrauen (mittlerweile) auch im Kontext des Doppel bestrafungsverbots einen rechtlichen Gehalt beimisst: Nach dieser Entscheidung „erfordert“ das gegenseitige Vertrauen, dass die zuständigen Behörden des Zweitstaates eine im Gebiet des ersten Vertragsstaates erlassene rechtskräftige Ent 99
Zu den Einzelheiten s. Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 157 f. Willems, 20 GLJ 2019, 468 (471). Als „negativ“ wird diese Form der gegenseitigen Anerkennung beschrieben, weil es nicht um eine Anerkennungspflicht hinsichtlich der Entscheidung selbst geht. Die anderen Mitgliedstaaten haben vielmehr anzuerkennen, dass ein anderer Staat abschließend über die Tat entschieden hat; die von einem Mitgliedstaat erlassene Entscheidung wirkt in anderen Mitgliedstaaten als Verfolgungs- und Bestrafungshindernis. 101 EuGH, Urt. v. 11. 02. 2003 – C-187/01 u. 385/01, ECLI:EU:C:2003:87 Rn. 33 – Gözütok u. Brügge; Urt. v. 09. 03. 2006 – C-436/04, ECLI:EU:C:2006:165 Rn. 30 – Van Esbroeck; Urt. v. 28. 09. 2006 – C-467/04, ECLI:EU:C:2006:610 Rn. 30 – Gasparini; Urt. v. 28. 09. 2006 – C-150/05, ECLI:EU:C:2006:614 Rn. 43 – van Straaten; Urt. v. 11. 12. 2008 – C-297/07, ECLI:EU:C:2008:708 Rn. 37 – Bourquain. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 29. 04. 2021 – C-665/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339 Rn. 77 – X. 102 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (38). Eine normative Begriffsverwendung annehmend Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (356); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 500 ff. Eine gewisse Zirkelschlüssigkeit der Argumentation bemängeln Kullak, Vertrauen in Europa, S. 64; Burchard, Konstitutionalisierung, S. 493 f. 103 Vgl. Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (38). 100
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scheidung „so akzeptieren, wie sie ihnen mitgeteilt worden ist“.104 Die mitgliedstaatlichen Behörden sind also verpflichtet, einander zu „vertrauen“ und von einer Nachprüfung abzusehen.105 Diese Aussage schränkt der Gerichtshof aber sogleich wieder ein, indem er aus einem Erfordernis, das gegenseitige Vertrauen nicht zu gefährden, Anforderungen an die einer anerkennungsfähigen „rechtskräftigen Entscheidung“ i. S. d. Art. 54 SDÜ vorhergehenden Ermittlungsmaßnahmen ableitet.106 2. Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (2002) war das erste unionsrechtliche Anerkennungsinstrument im Bereich des Strafrechts. Ziel der Einführung des Europäischen Haftbefehls war es, die komplexen und schwerfälligen Mechanismen des traditionellen multilateralen Systems der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten zu überwinden. An dessen Stelle sollte ein System des freien Verkehrs gerichtlicher Entscheidungen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts treten, das eine vereinfachte und beschleunigte Überstellung verurteilter oder tatverdächtiger Personen auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung ermöglicht.107 Der Zugriff der mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsund Strafvollstreckungsbehörden wird damit einem binnenstaatlichen Strafverfolgungssystem angenähert.108 Bei dem sog. Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt (Art. 1 Abs. 1 RbEuHb). Die Mitgliedstaaten vollstrecken nach Art. 1 Abs. 2 RbEuHb jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses. Die Übergabe ist an eine Reihe formeller und materieller Voraussetzungen geknüpft.109 104
EuGH, Urt. v. 29. 06. 2016 – C-486/14, ECLI:EU:C:2016:483 Rn. 51 – Kossowski; Urt. v. 28. 10. 2022 – C-435/22 PPU, ECLI:EU:C:2022:852 Rn. 93 – HF. 105 Montaldo, 1 Eur. Papers 2016, 1183 (1192); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 514. 106 EuGH, Urt. v. 29. 06. 2016 – C-486/14, ECLI:EU:C:2016:483 Rn. 52 f. – Kossowski. 107 ErwG 5 RbEuHb; EuGH, Urt. v. 03. 05. 2007 – C-303/05, ECLI:EU:C:2007:261 Rn. 28 – Advocaten voor de Wereld; Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 31 – Bob-Dogi; Urt. v. 11. 03. 2020 – C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191 Rn. 37 – SF; Urt. v. 30. 06. 2022 – C-105/21, ECLI:EU:C:2022:511 Rn. 68 – IR II; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 38 – KL; Urt. v. 18. 04. 2023 – C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295 Rn. 32 – E. D.L.; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 80 – Puig Gordi u. a. 108 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 60; F. Meyer, JZ 2016, 621 (624). 109 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 61.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ausweislich des 10. ErwG ein „hohes Maß an Vertrauen“ zwischen den Mitgliedstaaten. Diese Aussage beschränkt sich noch auf eine einfache Behauptung faktischer Gegebenheiten, der keine normativen Aussage entnommen werden kann.110 Gegenseitiges Vertrauen in seiner tatsächlichen Dimension dient hier als Rechtfertigung für die legislative Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses.111 Weitere Erwähnung findet das gegenseitige Vertrauen im Rahmenbeschluss nicht. Der EuGH hat das Motiv des gegenseitigen Vertrauens jedoch aufgegriffen und ihm im Laufe seiner Rechtsprechung eine normative Dimension als tragender Grundsatz des vom RbEuHb geschaffenen Kooperationssystems verliehen. a) Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung Das gegenseitige Vertrauen hat insbesondere im Zusammenhang mit der Frage nach möglichen Gründen für eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls Relevanz erlangt. Nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, von anderen Mitgliedstaaten ausgestellte Europäische Haftbefehle anzuerkennen und innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgegebenen Fristen als Eilsache zu vollstrecken (vgl. Art. 1 Abs. 2, 17 RbEuHb).112 Eine Verweigerung der Vollstreckung sieht der Rahmenbeschluss nur in eng begrenzten Ausnahmefällen vor, sofern ein zwingender (Art. 3 RbEuHb) oder fakultativer Ablehnungsgrund (Art. 4, 4a RbEuHb) vorliegt. Der EuGH erachtet die aufgeführten Ablehnungsgründe – vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände – als abschließend.113 An Bedingungen könne die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ebenfalls nur in den in Art. 5 RbEuHb ausdrücklich
110
Vgl. Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 185; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 164. Ähnlich auch zunächst in der Rspr. des EuGH, s. etwa Urt. v. 03. 05. 2007 – C-303/05, ECLI:EU:C:2007:261 Rn. 57 – Advocaten voor de Wereld; Urt. v. 01. 12. 2008 – C-388/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:669 Rn. 50 – Leymann; Urt. v. 28. 06. 2012 – C-192/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:404 Rn. 53 – West. 111 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystems, S. 164 f. 112 EuGH, Urt. v. 01. 12. 2008 – C-388/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:669 Rn. 51 – Leymann; Urt. v. 16. 11. 2010 – C-261/09, ECLI:EU:C:2010:683 Rn. 36 – Mantello; Urt. v. 28. 06. 2012 – C-192/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:404 Rn. 53 – West; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 36 – Jeremy F.; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 39 – KL; Böhm, NStZ 2018, 197 (198). 113 St. Rspr., s. nur EuGH, Urt. v. 16. 11. 2010 – C-261/09, ECLI:EU:C:2010:683 Rn. 37 – Mantello; Urt. v. 28. 01. 2012 – C-192/12 PPU, ECLI:EU:2012:404 Rn. 55 – West; Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 Rn. 36, 38 – Radu; Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 38 – Melloni; Urt. v. 29. 06. 2017 – C-579/15, ECLI:EU:C:2017:503 Rn. 19 – Popławski; Urt. v. 10. 08. 2017 – C-270/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:628 Rn. 50 – Tupikas; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 48 f. – Piotrowski; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 40 – KL.
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normierten Fällen knüpfen.114 Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls stelle den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen sei.115 Eine inhaltliche Prüfung der im Ausstellungsmitgliedstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung, auf der der Europäische Haftbefehl beruht, sei dem Vollstreckungsstaat verwehrt.116 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung impliziert dem Gerichtshof zufolge, dass ein gegenseitiges Vertrauen darauf besteht, dass jeder der Mitgliedstaaten die Anwendung des in den übrigen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts anerkennt, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde.117 Auch eine Kontrolle von im Ausstellungsmitgliedstaat erlassenen verfahrensrechtlichen Entscheidungen und der Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde sei der vollstreckenden Justizbehörde grundsätzlich verwehrt.118 Als kontrovers hat sich erwiesen, dass der Rahmenbeschluss keinen Ablehnungsgrund vorsieht, wonach der ersuchte Mitgliedstaat die Vollstreckung mit der Begründung verweigern kann, der zu überstellenden Person drohe im ersuchenden Staat eine Grundrechtsverletzung.119 Angesichts der Eingriffsintensität des Instruments sah sich der EuGH verschiedentlich mit der Frage nach ungeschriebenen grundrechtlichen Ablehnungsgründen konfrontiert. Hierzu hielt der EuGH zunächst fest, dass eine Berufung auf nationale Grundrechte der Mitgliedstaaten zur Verweigerung der Vollstreckung von vornherein ausscheiden muss.120 Art. 53 GRCh könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er es den Mitgliedstaaten generell gestatte, einen in ihrer Verfassung garantierten höheren Schutzstandard
114
EuGH, Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 Rn. 36 – Radu; Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 38 – Melloni; Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 37 – RO; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 40, 60 – KL; Urt. v. 23. 03. 2023 – C-514/21 u. C-515/21, ECLI:EU:C:2023:235 Rn. 79 – LU u. PH; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 49 – Puig Gordi u. a. 115 EuGH, Urt. v. 29. 06. 2017 – C-579/15, ECLI:EU:C:2017:503 Rn. 19 – Popławski; Urt. v. 10. 08. 2017 – C-270/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:628 Rn. 50 – Tupikas; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 48 – Piotrowski; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-416/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1042 Rn. 34 – TR; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 40 – KL; Urt. v. 23. 03. 2023 – C-514/21 u. C-515/21, ECLI:EU:C:2023:235 Rn. 47, 55 ff. – LU u. PH; Urt. v. 18. 04. 2023 – C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295 Rn. 34 – E. D.L.; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 49 – Puig Gordi u. a. 116 EuGH, Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 52 – Piotrowski. 117 EuGH, Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 52 – Piotrowski. 118 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 87 ff. – Puig Gordi u. a.; Urt. v. 23. 03. 2023 – C-514/21 u. C-515/21, ECLI:EU:C:2023:235 Rn. 56 – LU u. PH. 119 Lübbe, NVwZ 2017, 674 (675); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (325 f.); Schwarz, EuR 2016, 21 (424 f.); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 98. 120 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 56 ff. – Melloni; Lübbe, NVwZ 2017, 674 (675).
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einer Überstellung entgegenzuhalten.121 Dies ergibt sich an sich bereits aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts.122 Der EuGH stützt seine Ablehnung aber auch darauf, dass eine andere Auslegung die Einheitlichkeit des im Rahmenbeschluss festgelegten Grundrechtsschutzstandards in Frage stellen und daher zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung führen würde.123 Auch einen Ablehnungsgrund für den Fall einer (drohenden) Verletzung von Unionsgrundrechten durch den Ausstellungsstaat in Form eines „allgemeinen Grundrechtsvorbehalts“ erkennt der EuGH nicht an.124 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf den sich das System des Europäischen Haftbefehls stützt, beruhe seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene anerkannten Grundrechte zu bieten.125 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verlange deshalb von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.126 Von Ausnahmefällen abgesehen dürfe der Vollstreckungsstaat folglich nicht prüfen, ob der andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat.127 Die zu überstellende Person habe im Hinblick auf etwaige Grundrechtsverletzungen stattdessen die in der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten zu nutzen.128 Die (Haupt-)Verantwortung für den Schutz der Grundrechte der zu überstellenden Person liegt nach der Vorstellung des EuGH also bei den Justizbehörden des Mitgliedstaates, der den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat.129
121
EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 56 ff. – Melloni; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 79 – Dorobantu. 122 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 58 f. – Melloni. 123 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 58 f. – Melloni; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 79 – Dorobantu. 124 F. Meyer, JZ 2016, 621; Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 28. 125 EuGH, Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 77 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 31 – Bob-Dogi. 126 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 78 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 – LM. 127 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 37 – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 – ML; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 54 – Puig Gordi u. a. Zu den Ausnahmen s. näher unten, → 3. Kapitel. 128 EuGH, Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 50 – Piotrowski. 129 Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (814).
§ 1 Referenzgebiete
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b) Anforderungen an die ausstellende und vollstreckende Justizbehörde Aus der Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen leitet der EuGH wiederum Anforderungen an die ausstellende Justizbehörde i. S. v. Art. 6 Abs. 1 RbEuHb ab.130 Zwar sei der Begriff der „Justizbehörde“ nicht allein auf die Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern erfasse darüber hinaus die Behörden, die in der betreffenden Rechtsordnung zur Mitwirkung an der Strafrechtspflege berufen sind.131 Es sei aber nicht möglich, ihn auch auf Exekutivorgane wie Polizeibehörden oder Ministerien eines Mitgliedstaates zu erstrecken.132 Die in Art. 1 Abs. 2 RbEuHb vorgesehene automatisierte Anerkennung beruhe nämlich auf der Prämisse, dass vor der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls eine Justizbehörde zur Ausübung einer justiziellen Kontrolle tätig geworden ist.133 Werde der Europäische Haftbefehl von einem Exekutivorgan ausgestellt, bestehe für die vollstreckende Justizbehörde nicht die Gewissheit, dass die Ausstellung dieses Haftbefehls einer solchen justiziellen Kontrolle unterlag, so dass keine ausreichende Rechtfertigung für das dem System des Rahmenbeschlusses zugrunde liegende hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten bestünde.134 Die Erfüllung dieser Anforderungen bildet zugleich die Voraussetzung für das Vorliegen einer „justiziellen Entscheidung“ i. S. v. Art. 1 Abs. 1 bzw. Art. 8 Abs. 1 lit. c RbEuHb.135 Wurde der Europäische Haftbefehl nicht von einer Justizbehörde ausgestellt, darf der ersuchte Staat die Entscheidung nicht vollstrecken.136 Diese Rechtsprechung hat der EuGH konsequenterweise auf die vollstreckende Justizbehörde i. S. d. Art. 6 Abs. 2 RbEuHb übertragen. Auch hier ist der Begriff der „Justizbehörde “ nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern so zu verstehen, dass er darüber hinaus die Behörden erfasst, die in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, im Unterschied insbesondere zu Ministerien oder Polizeibehörden, die zur Exekutive gehören.137
130
EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 43 ff. – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 40 ff. – Kovalkovas. 131 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 33 – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 34 – Kovalkovas; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 50 f. – OG u. PI; Urt. v. 12. 12. 2019 – C-566/19 PPU u. C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077 Rn. 52 – JR u. YC. 132 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 34 – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 35 – Kovalkovas. 133 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 44 – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 43 – Kovalkovas. 134 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 45 – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 44 – Kovalkovas. 135 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-453/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:860 Rn. 33 – Özçelik; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 45 – Kovalkovas. 136 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 38 – L. u. P. 137 EuGH, Urt. v. 24. 11. 2020 – C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953 Rn. 42 – AZ.
62
1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
In nachfolgenden Entscheidungen konkretisierte der EuGH diese Anforderungen dahingehend, dass die Justizbehörden, die bei der Ausstellung und Vollstreckung Europäischer Haftbefehle mitwirken, zudem die Gewähr dafür bieten müssen, dass sie bei der Ausübung ihrer mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verbundenen Aufgaben unabhängig handeln.138 Ein (expliziter) Rückgriff auf den Vertrauensgrundsatz erfolgte bezüglich dieses Erfordernisses aber nicht mehr.139 c) Erfordernis einer gesonderten nationalen justiziellen Entscheidung und gerichtlichen Rechtsschutzes im Ursprungsmitgliedstaat Der EuGH leitet aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zudem ab, dass der Erlass eines Europäischen Haftbefehls notwendigerweise auf einer diesem Haftbefehl vorhergehenden, gesonderten nationalen justiziellen Entscheidung beruhen muss.140 Dabei kann es sich um ein vollstreckbares Urteil, einen nationalen Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung handeln (Art. 8 Abs. 1 lit. c RbEuHb). Würden Europäischer Haftbefehl und die zu vollstreckende nationale Entscheidung in einer Entscheidung zusammenfallen dürfen, könne dies – so der Gerichtshof – im Widerspruch zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stehen.141 Dem vorhergehenden Erlass einer nationalen Entscheidung komme besondere Bedeutung zu, weil deren Erlass impliziere, dass die zu überstellende Person bereits in einem ersten Stadium des Verfahrens in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte gekommen ist, deren Schutz die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats nach ihrem nationalen Recht zu gewährleisten hat.142 Das System des Europäischen Haftbefehls sehe also einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte vor: Auf der ersten Stufe beim Erlass der nationalen Entscheidung sowie auf der zweiten Stufe bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls.143 Der Grundsatz des gegenseitigen 138
EuGH, Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 73 – OG u. PI; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-509/18, ECLI:EU:C:2019:457 Rn. 52 – PF; Urt. v. 12. 12. 2019 – C-566/19 PPU u. C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077 Rn. 52 – JR u. YC; Urt. v. 24. 11. 2020 – C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953 Rn. 54 – AZ. 139 Zur Einordnung dieser Rspr. s. u., → 1. Kapitel, § 2. C. II. 2. d) cc). 140 EuGH, Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 42 ff. – Bob-Dogi; Urt. v. 13. 01. 2021 – C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4 Rn. 49 – MM. 141 EuGH, Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 52 – Bob-Dogi; Urt. v. 13. 01. 2021 – C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4 Rn. 49 – MM. 142 EuGH, Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 55 – Bob-Dogi; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 66 – OG u. PI; Urt. v. 28. 01. 2021 – C-649/19, ECLI:EU:C:2021:75 Rn. 72 – IR I; Urt. v. 30. 06. 2022 – C-105/21, ECLI:EU:C:2022:511 Rn. 49 – IR II. 143 EuGH, Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 56 – Bob-Dogi; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 67 – OG u. PI; Urt. v. 12. 12. 2019 – C-625/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1078 Rn. 38 – XD; Urt. v. 10. 03. 2021 – C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187 Rn. 42 – PI.
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Vertrauens beruhe auf der Prämisse, dass der betreffende Europäische Haftbefehl im Einklang mit diesen Mindesterfordernissen ausgestellt wurde.144 Der Gerichtshof entnimmt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Hinblick auf die Prüfung dieser Voraussetzungen zugleich Kooperationspflichten der beteiligten Gerichte: Bevor ein nationales Gericht die Ungültigkeit eines Europä ischen Haftbefehls wegen Fehlens einer nationalen Entscheidung annimmt, müsse es die ausstellende Justizbehörde um die unverzügliche Übermittlung zusätzlicher Informationen bitten, insbesondere um auszuschließen, dass die nationale Entscheidung tatsächlich vorliegt, aber nicht angeführt wurde.145 Das Erfordernis des zweistufigen Schutzes der gesuchten Person hat der EuGH in der Folge weiter konkretisiert. Er hat u. a. entschieden, dass in Fällen, in denen für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Justizbehörde zuständig ist, die kein Gericht ist, die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls gerichtlich überprüfbar sein muss.146 Aufgrund dieser Anforderung könne sich die vollstreckende Justizbehörde, die nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichtet ist, den Europäischen Haftbefehl ohne eigene Grundrechtsprüfung zu vollstrecken, sicher sein, dass der Europäische Haftbefehl im Anschluss an ein nationales Verfahren ergangen ist, in dessen Rahmen die gesuchte Person ihre Grundrechte geltend machen konnte.147 d) Weitere Auslegungsfragen Der EuGH zog den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zur Beantwortung einer Reihe weiterer Auslegungsfragen im Kontext des RbEuHb heran. So seien etwa Art. 27 und Art. 28 RbEuHb, da sie Ausnahmeregelungen zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung aufstellen, nicht in einer Weise auszulegen, die dazu führte, dass das mit dem Rahmenbeschluss verfolgte Ziel vereitelt würde, welches darin besteht, die Übergaben zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten eingedenk des gegenseitigen Vertrauens, das zwischen ihnen vorhanden sein muss, zu vereinfachen und zu beschleunigen.148 In verschiedenen Entscheidungen leitet der Gerichtshof aus dem Vertrauensgrundsatz zudem ungeschriebene 144 EuGH, Urt. v. 13. 01. 2021 – C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4 Rn. 49 – MM; Urt. v. 28. 01. 2021 – C-649/19, ECLI:EU:C:2021:75 Rn. 73 – IR I; Urt. v. 30. 06. 2022 – C-105/21, ECLI:EU:C:2022:511 Rn. 50 – IR II. 145 EuGH, Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 65 – Bob-Dogi. 146 EuGH, Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 75 – OG u. PI; Urt. v. 10. 03. 2021 – C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187 Rn. 46 – PI. 147 EuGH, Urt. v. 10. 03. 2021 – C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187 Rn. 49 – PI. 148 EuGH, Urt. v. 28. 06. 2012 – C-192/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:404 Rn. 52 ff., 77 – West; Urt. v. 24. 09. 2020 – C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749 Rn. 35 – XC; Urt. v. 26. 10. 2021 – C-428/21 PPU u. C-429/21 PPU, ECLI:EU:C:2021:876 Rn. 42 – HM u. TZ; GA de la Tour, Schlussanträge v. 09. 03. 2023 – C-142/22, ECLI:EU:C:2023:191 Rn. 52 ff. – OE.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Kooperationspflichten und eine Pflicht zur umfassenden Nutzung der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Möglichkeiten zum Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 8, 15 RbEuHb) ab.149 Auf erteilte Auskünfte muss sich die vollstreckende Justizbehörde in Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich verlassen.150 Auf weitere Entscheidungen, etwa zur Auslegung von Art. 5 Nr. 3 RbEuHb151 und Art. 23 Abs. 4 RbEuHb152 sowie zu weiteren Fragen im Zusammenhang mit Art. 8 Abs. 1 lit. c RbEuHb,153 kann hier nur verwiesen werden. 3. Weitere Instrumente In den Jahrzehnten nach dem Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl hat der europäische Gesetzgeber zahlreiche weitere Rechtsakte erlassen, die sich ebenfalls auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stützen. Diese beziehen sich auf alle Phasen des Strafverfahrens vom Ermittlungsverfahren bis zur Strafvollstreckung und sehen die Anerkennung und Vollstreckung verschiedener Arten von Maßnahmen vor.154 Zu nennen sind etwa die Europäische Ermittlungsanordnung,155 die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen,156 die gegenseitige Anerkennung von freiheitsentziehenden Strafen oder Maßnahmen für die Zwecke ihrer Vollstreckung,157 die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen158 sowie die Verpflichtung zur Berücksichtigungen der in anderen Mitgliedstaaten der EU ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren.159 Trotz der Vielfalt der von den Rechtsakten erfassten Maßnahmen ist die grundlegende Funktions-
149
EuGH, Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 65 – Bob-Dogi; Urt. v. 22. 12. 2017 – C-571/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:1026 Rn. 90 f. – Ardic; Urt. v. 06. 12. 2018 – C-551/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:991 Rn. 63 – IK. 150 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 112 – ML. 151 EuGH, Urt. v. 11. 03. 2020 – C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191 Rn. 60 ff. – SF. 152 EuGH, Urt. v. 18. 04. 2023 – C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295 Rn. 30 ff. – E. D.L. 153 EuGH, Urt. v. 10. 03. 2021 – C-648/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:187 Rn. 49 – PI. 154 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (19); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 89. 155 RL 2014/41/EU. Hierzu monographisch Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen; Überblick bei Böhm, NStZ 2018, 197 (204). 156 RB 2005/214/JI über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen. 157 RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen. Ausführlich zu diesem Instrument Marguery, 25 MJ 2018, 704 (705 ff.); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (328 ff.). 158 RB 2003/577/JI über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung u. RB 2006/783/JI über die gegenseitige Anerkennung von Einziehungsentscheidungen bzw. ihre gemeinsame Nachfolgeregelung VO (EU) 2018/1805 über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen. 159 RB 2008/675/JI zur Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten ergangenen Verurteilungen. Hierzu Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (20).
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weise dieser Instrumente dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vergleichbar:160 Sie sehen eine quasi-automatische gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung justizieller Entscheidungen mit einem Minimum an Formalitäten vor, wobei die Ablehnungsgründe angesichts des gegenseitigen Vertrauens, auf dem das System beruht, stark beschränkt sind.161 Die Bedeutung, die der EuGH dem Vertrauensgrundsatz in seiner zu diesen In strumenten ergangenen Rechtsprechung zuweist, weist erkennbare Parallelen zu seiner Judikatur zum Europäischen Haftbefehl auf: Er betont auch in Bezug auf diese Instrumente, dass die gegenseitige Anerkennung auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie der Vermutung beruhe, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte wahren.162 Die Vollstreckung stelle den Grundsatz dar, während die Ablehnungsgründe als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet seien.163 Eine Nachprüfung der Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten scheidet grundsätzlich aus: Zum RB 2008/675/JI hat der EuGH etwa entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Berücksichtigung früherer strafrechtlicher Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat nicht von einem besonderen vorherigen Anerkennungsverfahren abhängig machen dürfen, in dem u. a. die Wahrung der Grundrechte im ausländischen Verfahren geprüft wird.164 Ein solches Anerkennungsverfahren sei, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, geeignet, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und damit eines der Ziele des Rahmenbeschlusses in Frage zu stellen.165 Im Zusammenhang mit der gegenseitigen Anerkennung von Einziehungsentscheidungen hat der Gerichtshof zudem hervorgehoben, „dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung impliziert, dass ein gegenseitiges Vertrauen darauf besteht, dass jeder der Mitgliedstaaten die Anwendung des in den übrigen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts
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Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (19). Mitsilegas, in: Mitsilegas / Bergström / Konstadinides, Research Handbook EU Criminal Law, S. 148 (150 f.). Vgl. zum RB 2006/783/JI über die gegenseitige Anerkennung von Einziehungsentscheidungen EuGH, Urt. v. 10. 01. 2019 – C-97/18, ECLI:EU:C:2019:7 Rn. 16 ff. – ET; zum RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen GA Bot, Schlussanträge v. 03. 05. 2016 – C-554/14, ECLI:EU:C:2016:319 Rn. 126 – Ognyanov. 162 Zur RL 2014/41/EU über die EEA EuGH, Urt. v. 08. 12. 2020 – C-584/19, ECLI:EU: C:2020:1002 Rn. 40 – A. u. a.; Urt. v. 16. 12. 2021 – C-724/19, ECLI:EU:C:2021:1020 Rn. 51 – HP; zum RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen GA Emiliou, Schlussanträge v. 04. 05. 2023 – C-819/21, ECLI:EU:C:2023:386 Rn. 46 – MD. 163 Zur RL 2014/41/EU über die EEA EuGH, Urt. v. 08. 12. 2020 – C-584/19, ECLI:EU: C:2020:1002 Rn. 64 – A. u. a.; Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 59 – Gavanozov II; zum RB 2005/214/JI über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen EuGH, Urt. v. 14. 11. 2013 – C-60/12, ECLI:EU:C:2013:733 Rn. 29 f. – Baláž; Urt. v. 06. 10. 2021 – C-136/20, ECLI:EU:C:2021:804 Rn. 38, 40 – LU; zum RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen GA Emiliou, Schlussanträge v. 04. 05. 2023 – C-819/21, ECLI:EU:C:2023:386 Rn. 46 f. – MD. 164 EuGH, Urt. v. 05. 07. 2018 – C-390/16, ECLI:EU:C:2018:532 Rn. 37 – Lada. 165 EuGH, Urt. v. 05. 07. 2018 – C-390/16, ECLI:EU:C:2018:532 Rn. 48 – Lada. 161
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
anerkennt, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde“.166 III. Gemeinsames Europäisches Asylsystem Der dritte Bereich, in dem der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eine Rolle spielt, ist das Gemeinsame Europäische Asylsystem. Über die Gewährung von Asyl bzw. subsidiärem Schutz entscheidet in der EU jeder Mitgliedstaat eigenständig auf Grundlage seines jeweiligen nationalen Rechts.167 Auch eine gegenseitige Anerkennung positiver Asylentscheidungen erfolgt bislang nicht.168 Zwar ermächtigt Art. 78 Abs. 2 lit. a AEUV den Europäischen Gesetzgeber zur Einführung eines „einheitlichen Asylstatus“, über dessen Einführung konnte aber bislang keine politische Einigung erzielt werden.169 Die der Asylentscheidung vorgelagerte Frage, welcher Staat für die Prüfung welchen Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, hat dagegen im DublinerÜbereinkommen und den nachfolgenden Dublin-Verordnungen eine europäische Regelung erfahren.170 Weitere Eckpunkte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bilden folgende Rechtsakte: – Die Aufnahme-RL zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten der EU, – die Qualifikations- oder Anerkennungs-RL, welche Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Flüchtlingen oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vorsieht, sowie – die Asylverfahrens-RL über Mindestnormen für Asylverfahren in den Mitgliedstaaten.171 Die Schaffung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems beruht dem EuGH zufolge auf der Annahme, dass alle beteiligten Staaten die Grundrechte, einschließlich der Rechte der GFK und der EMRK, beachten und dass die Mitgliedstaaten
166 EuGH, Urt. v. 10. 01. 2019 – C-97/18, ECLI:EU:C:2019:7 Rn. 33 – ET; so zum RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen auch GA Bot, Schlussanträge v. 03. 05. 2016 – C-554/14, ECLI:EU:C:2016:319 Rn. 119, 155 – Ognyanov; GA de la Tour, Schlussanträge v. 08. 10. 2020 – C-221/19, ECLI:EU:C:2020:815 Rn. 104 – AV. 167 Lührs, Überstellungsschutz, S. 1, 72. 168 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 34; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 19 (24 f.); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 63. 169 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 19 (24 f.). 170 Bergmann, in: Bergmann / Dienelt, AusländerR, Vorb. AsylG Rn. 22, 24; Lührs, Überstellungsschutz, S. 1, 18. 171 Bergmann, in: Bergmann / Dienelt, AusländerR, Vorb. AsylG Rn. 26; Lührs, Überstellungsschutz, S. 17 f.
§ 1 Referenzgebiete
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einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen.172 Die Leitentscheidungen zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in diesem Bereich betreffen das Zuständigkeitsregime der Dublin-Verordnungen.173 Daneben hat der Gerichtshof den Vertrauensgrundsatz in jüngerer Zeit in Entscheidungen zur Asylverfahrens-RL herangezogen.174 1. Dublin-System Die Dublin III-VO legt – wie ihre Vorgängerregelung, die bis Juli 2013 geltende Dublin II-VO – die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats fest, der für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist. Sie sieht vor, dass jeder Antrag nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO). Welcher Mitgliedstaat zuständig ist, bestimmt sich nach den im dritten Kapitel der Verordnung hierarchisch aufgelisteten Kriterien (Art. 3 Abs. 1, 7–15 Dublin III-VO). Im Zweifel liegt die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags danach bei dem Mitgliedstaat, in den der Antragsteller zuerst eingereist ist (Art. 13 Dublin III-VO). Ist ein Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, der Auffassung, dass nach den Dublin-Kriterien ein anderer Mitgliedstaat für die Antragsprüfung zuständig ist, kann er diesen Mitgliedstaat um (Wieder-)Aufnahme der Person ersuchen und den Asylbewerber an den zuständigen Mitgliedstaat überstellen. Anders als in der justiziellen Zusammenarbeit geht es also nicht um die positive Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung des anderen Mitgliedstaats (z. B. hinsichtlich der Schutzgewährung).175 Das Dublin-Zuständigkeitssystem wird stattdessen als ein System „negativer gegenseitiger Anerkennung“ beschrieben.176 Ist nach den Dublin-Kriterien ein anderer Mitgliedstaat für die Verfahrensdurchführung zuständig, können die 172
EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 52 – Abdullahi; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 82 – Jawo; GA Kokott, Schlussanträge v. 20. 04. 2023 – C-228/21 u. a., ECLI:EU:C:2023:316 Rn. 155 – CZA u. a. 173 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 – Abdullahi; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 – Ghezelbash; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-155/15, ECLI:EU:C:2016:410 – Karim; Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 – C. K. u. a.; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 – Jawo; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 51. 174 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 – Ibrahim u. a.; Beschl. v. 13. 11. 2019 – C-540/17 u. C-541/17, ECLI:EU:C:2019:964 – Hamed u. Omar; Urt. v. 10. 12. 2020 – C-616/19, ECLI:EU:C:2020:1010 – M. S. u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 – XXXX; Urt. v. 01. 08. 2022 – C-720/20, ECLI:EU:C:2022:603 – RO. 175 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 2. 176 Guild, 29 Eur. Law Rev. 2004, 198 (206); Bartolini, 56 CMLR 2019, 91 (95); Lenaerts, duE 2015, 525 (545); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (334). Zurecht kritisch zu dieser Umschreibung Maiani / Migliorini, 7 CMLR 2020, 7 (25).
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Mitgliedstaaten die Antragsprüfung verweigern. Der zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet, die Ablehnung der Antragsprüfung durch die anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen und den Asylbewerber aufzunehmen.177 Das durch die Dublin-Verordnungen geschaffene Zuständigkeitssystem beruht dem Gerichtshof zufolge – wie das gesamte Gemeinsame Europäische Asylsystem – auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens.178 Gegenstand der Vertrauensvermutung ist hier der zielstaatliche Umgang mit den Schutzsuchenden.179 Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GRCh sowie der GFK und der EMRK steht.180 Auch bestehe die starke Vermutung, dass Asylbewerber in den Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Aufnahme-RL eine angemessene medizinische Behandlung erhalten.181 Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein Asylbewerber bei einer Überstellung in einer Weise behandelt wird, die mit seinen Grundrechten unvereinbar ist. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtungen der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Dublin-Verordnungen berühren würde.182 Auf dem Spiel stehe nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts durch die anderen Mitgliedstaaten gründet.183 Als mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens vereinbar erachtet der EuGH dagegen eine Auslegung von Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahingehend, dass der Antragsteller im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung eine fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien geltend machen kann.184 Die etwaige Feststellung eines bei der Zuständigkeitsprüfung unterlaufe-
177
Lenaerts, duE 2015, 525 (545); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (334); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 62. 178 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 f. – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 53 – Abdullahi; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 82 – Jawo. 179 Lübbe, NVwZ 2017, 674 (675); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 35 f.; Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (490). 180 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 80 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 52 – Abdullahi; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 82 – Jawo. 181 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 70 – C. K. u. a. 182 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 82 – N. S. u. a. 183 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 83 – N. S. u. a. Zu den Grenzen der Legalitätsvermutung s. u., → 3. Kapitel. 184 EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash.
§ 1 Referenzgebiete
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nen Fehlers sei nicht geeignet, das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, sondern bedeute bloß, dass der Staat, an den der Antragsteller überstellt werden soll, nicht der zuständige Mitgliedstaat sei.185 Ein wichtiger Unterschied zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen besteht darin, dass die Dublin-Verordnungen dem Staat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, keine Verpflichtung auferlegen, den Schutzsuchenden dem Asylverfahren des an sich zuständigen Staates „anzuvertrauen“.186 Die Selbsteintrittsklausel in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO bzw. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ermächtigt jeden Mitgliedstaat, unabhängig davon, ob er der zuständige Staat ist, zur freiwilligen Prüfung eines bei ihm gestellten Antrags.187 Der Vertrauensgrundsatz ist hier vielmehr für die Frage relevant, ob der Staat, der mit dem Antrag befasst ist, berechtigt ist, den Antragsteller ohne weitere Prüfung der menschenrechtlichen Situation an den zuständigen Staat zu überstellen.188 2. Asylverfahrensrichtlinie Die Asylverfahrens-RL 2005 und ihre Nachfolgeregelung, die AsylverfahrensRL 2013, sehen eine Mindestharmonisierung der mitgliedstaatlichen Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Gewährung subsidiären Schutzes vor. Gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. a der Asylverfahrens-RL 2013 können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als von vornherein unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat. In dieser Vorschrift kommt nach Auffassung des EuGH ebenfalls der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck.189 Bei ihrer Anwendung gelte daher die Vermutung, dass die Behandlung des Antragsstellers in dem Staat, der ihm bereits internationalen Schutz gewährt hat, in Einklang mit den Erfordernissen der GRCh, der GFK und der EMRK steht.190 Unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat, hindern Verstöße gegen 185
EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash. Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (26). 187 Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts ist nach EuGH, Urt. v. 30. 05. 2013 – C-528/11, ECLI:EU:C:201:342 Rn. 36 – Halaf an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft. Ausführlich zu möglichen Grenzen des Selbsteintrittsrechts s. Wendel, JZ 2016, 332; Weiß, ZEuS 2019, 113 (122 ff.). 188 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (26). 189 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 85 – Ibrahim u. a.; Beschl. v. 13. 11. 2019 – C-540/17 u. C-541/17, ECLI:EU:C:2019:964 Rn. 41 – Hamed u. Omar; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 Rn. 29 – XXXX; Urt. v. 01. 08. 2022 – C-720/20, ECLI:EU:C:2022:603 Rn. 50 – RO. 190 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 85 – Ibrahim u. a.; Beschl. v. 13. 11. 2019 – C-540/17 u. C-541/17, ECLI:EU:C:2019:964 Rn. 41 – Hamed u. Omar; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 Rn. 29 – XXXX. 186
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Bestimmungen der Anerkennungs-RL oder schlechtere Lebensbedingungen im zuerst Schutz gewährenden Staat die Mitgliedstaaten dem EuGH zufolge nicht daran, ihre von Art. 33 Abs. 2 lit. a Asylverfahrens-RL 2013 eingeräumte Befugnis auszuüben und den Folgeantrag als unzulässig abzulehnen.191 Der Vertrauensgrundsatzes hat hier eine ähnliche Funktion wie in den DublinVerordnungen: Der Unzulässigkeitsgrund des Art. 33 Abs. 2 lit. a AsylverfahrensRL 2013 ist fakultativ, d. h. der mit einem Folgeantrag befasste Staat ist nicht gezwungen, der Behandlung des Schutzsuchenden durch den ersten schutzgewäh renden Mitgliedstaat zu vertrauen. Bedeutung hat der Vertrauensgrundsatz umgekehrt für die Frage, ob der Zweitstaat sich auf den Unzulässigkeitsgrund berufen darf und den Schutzsuchenden ohne nähere Prüfung seiner Situation im ersten Staat rücküberstellen.192
C. Weitere relevante Referenzgebiete Die bislang betrachteten Sachbereiche bilden die „klassischen“ Referenzgebiete, innerhalb derer der EuGH die Entwicklung und Ausformung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in einer Vielzahl von Leitentscheidungen maßgeblich vorangetrieben hat. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist dem EuGH zufolge jedoch über diese Bereiche hinaus in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen von den Mitgliedstaaten zu beachten.193 Um die Vielfalt der erfassten Sachbereiche und der aus dem Vertrauensgrundsatz abgeleiteten Wirkungen aufzuzeigen, sollen deshalb abschließend drei weitere ausgewählte Bereiche betrachtet werden, in denen der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in jüngerer Zeit Bedeutung gewonnen hat. Die Beispiele verdeutlichen, dass der EuGH mittlerweile auch außerhalb von Konstellationen gegenseitiger Anerkennung auf den Vertrauensgrundsatz zurückgreift. An die Stelle der instrumentenspezifischen Betrachtung tritt in den im folgenden behandelten Entscheidungen ein übergeordneter, konzeptioneller Zugriff auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.194
191
EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 92 ff., 100 – Ibrahim u. a.; Beschl. v. 13. 11. 2019 – C-540/17 u. C-541/17, ECLI:EU:C:2019:964 Rn. 36 – Hamed u. Omar. 192 Maiani / Migliorini, 7 CMLR 2020, 7 (26). 193 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; angedeutet bereits im Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191– EMRKBeitritt II. 194 Vgl. Kullak, Vertrauen in Europa, S. 29.
§ 1 Referenzgebiete
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I. Völkerrechtliche Streitbeilegungsmechanismen und Investor-Staat-Schiedsvereinbarungen Losgelöst von einem bestimmten Regelungsbereich des Unionsrechts prüft der EuGH in neuerer Zeit die Vereinbarkeit von völkerrechtlichen Streitbeilegungs mechanismen und Investor-Staat-Schiedsvereinbarungen mit dem Unionsrecht auch am Maßstab des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens. Diesen Entscheidungen lassen sich über ihren unmittelbaren Gegenstand hinaus wichtige sachbereichsübergreifende Aussagen zu Inhalt und Bedeutung des Grundsatzes entnehmen. 1. Beitritt zur EMRK (Gutachten 2/13) Ihren Ausgangspunkt hat diese Entwicklung im Gutachten 2/13195 über den Entwurf des Beitrittsvertrags der EU zur EMRK genommen. Der EuGH führt in seiner Stellungnahme insgesamt fünf grundlegende Gesichtspunkte an, die aus seiner Sicht eine Unvereinbarkeit des Beitrittsübereinkommens mit dem Primärrecht der Union begründen.196 Einen dieser Begründungskomplexe bilden die besonderen Merkmale und die Autonomie des Unionsrechts,197 worunter der EuGH auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens fasst. Der Gerichtshof stellt seinen Ausführungen voran, dass ein Beitritt der Union zu einer internationalen Übereinkunft wie der EMRK, die die Schaffung eines mit der Auslegung ihrer Bestimmungen betrauten Gericht beinhaltet, nicht grundsätzlich mit dem Unionsrecht unvereinbar sei.198 Voraussetzung sei aber, dass die Autonomie der Unionsrechtsordnung und ihre besonderen Merkmale hierdurch nicht beeinträchtigt werden.199 Das Beitrittsübereinkommen zur EMRK wird aus Sicht des EuGH diesen Anforderungen u. a. deshalb nicht gerecht, weil es mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unvereinbar sei. Der Gerichtshof betont die fundamentale Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht habe, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne 195
EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 – EMRK-Beitritt II. EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 179 ff. – EMRK-Beitritt II. Überblick über die vom EuGH vorgebrachten Gründe und Analyse bei Engel, Beitritt zur EMRK, S. 313 ff.; Halberstam, 16 GLJ 2015, 105. 197 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 178 ff. – EMRK-Beitritt II. Zum Topos der „Autonomie des Unionsrechts“ Sauer, JZ 2019, 925. 198 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 182 – EMRK-Beitritt II; zuvor bereits Gutachten v. 14. 12. 1992 – 1/91, ECLI:EU:C:1991:490 Rn. 40, 70 – Accord EEE; Gutachten v. 08. 03. 2011 – 1/09, ECLI:EU:C:2011:123 Rn. 74 – Einheitliches Patentgerichtssystem. 199 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 161, 183 – EMRKBeitritt II; zuvor bereits Gutachten v. 18. 04. 2002 – 1/00, ECLI:EU:C:2002:231 Rn. 21, 26 – GELR-Übereinkommen; Gutachten v. 08. 03. 2011 – 1/09, ECLI:EU:C:2011:123 Rn. 76 – Einheitliches Patentgerichtssystem. 196
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Binnengrenzen ermögliche. Dieser Grundsatz verlange aber, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.200 Bei der Durchführung des Unionsrechts seien die Mitgliedstaaten somit verpflichtet, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie von einem anderen Mitgliedstaat weder ein höheres nationales Grundrechtsschutzniveau als das durch das Unionsrecht gewährleistete verlangen dürften, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen dürften, ob ein anderer Mitgliedstaat diese im Einzelfall tatsächlich beachtet hat.201 Die EMRK verlange jedoch unter Verstoß gegen diese unionsrechtliche Vertrauenspflicht, dass die Mitgliedstaaten die Beachtung der Grundrechte durch andere Mitgliedstaaten nachprüfen.202 Ein Beitritt sei daher geeignet, das Gleichgewicht, auf dem die Union beruht, sowie die Autonomie des Unionsrechts zu beeinträchtigen.203 Es geht dem Gerichtshof hier ersichtlich um die Wahrung der Union als „föderativ-autonomer Einheit“,204 die er durch eine externe Kontrolle der innerunionalen mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit am Maßstab der EMRK bedroht sieht. Die Entscheidung hat im Hinblick auf die Rolle und die Bedeutung, die der EuGH dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beimisst, erhebliche Kritik erfahren.205 Unabhängig von der nachgelagerten Frage, ob der vom EuGH hier weiter ausgeformte Grundsatz in dieser Form anzuerkennen ist,206 ist die Entscheidung aber jedenfalls im Hinblick auf die vom EuGH vorgenommene Konkretisierung des Konzepts zu begrüßen.207 Der Gerichtshof macht erstmals deutlich, dass es 200
EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II. 201 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 – EMRK-Beitritt II. 202 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 194 – EMRK-Beitritt II. Breuer, EuR 2015, 330 (335) weist zu Recht darauf hin, dass die Mitgliedstaaten bereits jetzt unabhängig von einem Beitritt der EU zur EMRK den Bindungen der EMRK und der Kontrolle des EGMR unterliegen, auch soweit sie Unionsrecht durchführen. Es spreche allerdings viel dafür, dass der EGMR nach einem Beitritt der Union zur EMRK die durch die Bosphorus-Rspr. begründete Privilegierung der Unionsrechtsordnung zurücknimmt, was eine engmaschigere Kontrolle des mitgliedstaatlichen Handelns bei Durchführung des Unionsrechts zur Folge hätte; zustimmend bzgl. letzterem Daiber, EuR 2021, 596 (611); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 132 ff. 203 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 194 – EMRK-Beitritt II. 204 Wendel, JZ 2016, 332 (336); Schmahl, JZ 2016, 921 (924). 205 Breuer, EuR 2015, 330 (334 ff.); Mitsilegas, in: Mitsilegas / Bergström / Konstadinides, Research Handbook EU Criminal Law, S. 148 (159 ff.); Kohler, ZEuS 2016, 135 (146); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (226 f.). 206 Hierzu → 2. Kapitel, § 2. 207 Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (99). Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (26) spricht von einem Coming of age-Moment für den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.
§ 1 Referenzgebiete
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sich bei dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens um einen Grundsatz handelt, der primärrechtlichen Rang hat und unabhängig von einer sekundärrechtlichen Anknüpfung Rechtspflichten entfalten kann.208 Dies ergibt sich aus der vom EuGH gewählten Anknüpfung in Art. 2 EUV,209 der Qualifikation des gegenseitigen Vertrauens als „Geschäftsgrundlage der Union“ sowie vor allem daraus, dass der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Prüfungsmaßstab für den EMRK-Beitrittsvertrag heranzieht, welcher als völkerrechtlicher Vertrag im Rang zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht steht. Die Formulierung, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens „namentlich“ im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gelte,210 weist zudem bereits darauf hin, dass es sich um einen Rechtsgrundsatz handelt, der rechtsbereichsübergreifend für das gesamte Unionsrecht Geltung beansprucht.211 Genaueres zur Rechtsnatur und zur normativen Verankerung des Grundsatzes wird aber nicht ausgeführt.212 2. Investitionsschutzverträge zwischen EU-Mitgliedstaaten (Intra-EU-BITs) Ähnlich wie im EMRK-Beitrittsgutachten prüfte der EuGH in nachfolgenden Entscheidungen auch die Vereinbarkeit von bilateralen Investitionsschutzverträgen zwischen EU-Mitgliedstaaten (sog. Intra-EU-BITs) mit dem Unionsrecht am Maßstab des Vertrauensgrundsatzes.213 Intra-EU-BITs sind völkerrechtliche Verträge zwischen einzelnen Mitgliedstaaten der Union über den Schutz grenzüberschreitender Investitionen. Konkret ging es in den Entscheidungen um Schiedsklauseln, die aus einem der Mitgliedstaaten stammenden Investoren im Fall von Streitigkeiten mit dem jeweils anderen beteiligten Mitgliedstaat die Möglichkeit einräumen, gegen diesen Mitgliedstaat ein Verfahren vor einem Schiedsgericht einzuleiten. Der EuGH befand solche Schiedsklauseln u. a. deshalb für unvereinbar mit dem Unionsrecht, da sie geeignet seien, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in Frage zu stellen.214 Die Errichtung eines Streitbeilegungssystems 208
F. Meyer, EuR 2017, 163 (173); Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (379); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (806); Ostropolski, 6 NJECL 2015, 166 (177 f.). Für eine sekundärrechtliche Verankerung noch Kaufhold, EuR 2012, 409 (428 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (120 f.). 209 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 167 – EMRK-Beitritt II. 210 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II. 211 Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27); L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (72). 212 F. Meyer, EuR 2017, 163 (173). 213 EuGH, Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 – CETA; Urt. v. 26. 10. 2021 – C-109/20, ECLI:EU:C:2021:875 – PL Holdings. 214 EuGH, Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rn. 58 – Achmea; Urt. v. 26. 10. 2021 – C-109/20, ECLI:EU:C:2021:875 Rn. 46 – PL Holdings. Für den Streitbeilegungs-
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
außerhalb des von den Verträgen geschaffenen Gerichtssystems in Intra-EU-BITs widerspreche der Verpflichtung der beteiligten Mitgliedstaaten, davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht einschließlich der Grundrechte wie des in Art. 47 GRCh niedergelegten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen Gericht beachten.215 Auch der Abschluss einer ad hoc Schiedsvereinbarung mit dem Investor eines anderen Mitgliedstaats, die die Fortsetzung eines Schiedsverfahrens ermöglichen soll, das auf der Grundlage einer ungültigen Schiedsklausel eingeleitet wurde, ist dem EuGH zufolge deshalb mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unvereinbar.216 Selbst wenn es Lücken oder Funktionsstörungen im Rechtssystem einzelner Mitgliedstaaten geben sollte, seien diese innerhalb des Rechtsschutzsystems der Union, ggfs. in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof, zu schließen und rechtfertigten nicht den Rückgriff auf unionsrechtswidrige Schiedsvereinbarungen.217 Auf Freihandelsabkommen der Union mit Drittstaaten ist diese Rechtsprechung dagegen nicht übertragbar, da der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Verhältnis zwischen der Union und einem Drittstaat keine Geltung beansprucht.218 Die Entscheidungen unterstreichen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens sich nicht nur auf einzelne Regelungsbereiche des Unionsrechts auswirkt, sondern der EuGH ihm darüber hinaus Implikationen für die Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems in der Union entnimmt.219 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziert, dass Investoren auch bei den staatlichen Gerichten anderer EU-Mitgliedstaaten effektiven Rechtsschutz erlangen können und steht deshalb dem Abschluss von Investor-Staat-Schiedsvereinbarungen innerhalb der Union entgegen.220 Die Mitgliedstaaten dürfen sich ihrer Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen nicht durch völkerrechtliche Vereinbarungen entziehen.221 Im CETA-Gutachten hielt der EuGH außerdem erstmals explizit fest, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens von den Mitgliedstaaten in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen zu beachten ist.222
mechanismus in Art. 26 ECV so auch GA Szpunar, Schlussanträge v. 03. 03. 2021 – C-741/19, ECLI:EU:C:2021:164 Rn. 89 – République de Moldavie. 215 Vgl. EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 127 ff. – CETA. 216 EuGH, Urt. v. 26. 10. 2021 – C-109/20, ECLI:EU:C:2021:875 Rn. 46 ff. – PL Holdings. 217 EuGH, Urt. v. 26. 10. 2021 – C-109/20, ECLI:EU:C:2021:875 Rn. 68 – PL Holdings. 218 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 126 ff. – CETA; GA Szpunar, Schlussanträge v. 01. 07. 2021 – C-638/19 P, ECLI:EU:C:2021:529 Rn. 100 – Kommission / European Food u. a. Zuvor bereits Lang, EuR 2018, 525 (553). 219 Terhechte, EuR 2020, 569 (585 f.). 220 BGH, Beschl. v. 31. 10. 2018 – I ZB 2/15, SchiedsVZ 2019, 46 Rn. 72 im der Entscheidung Achmea zugrunde liegenden Verfahren; J.-H. Pohl, 14 EuConst 2018, 767 (788); Thörle, Konflikt zwischen Investitionsschutzabkommen und Recht der EU, S. 220; kritisch Köster, Investitionsschutz in Europa, S. 124 f. 221 J.-H. Pohl, 14 EuConst 2018, 767 (788). 222 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA.
§ 1 Referenzgebiete
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II. Anforderungen an die Qualität des Rechtsschutzes in den Mitgliedstaaten Gegenstand des vorhergehenden Abschnitts waren Entscheidungen, in denen der EuGH die Mitgliedstaaten unter Berufung auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichtet hat, sich auf die im Vergleich zu Drittstaaten besondere Qualität der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung zu verlassen. Gleichzeitig zieht der Gerichtshof die Vertrauenspflicht in neueren Entscheidungen heran, um bestimmte unionsrechtliche Anforderungen an die Qualität des mitgliedstaatlichen Rechtsschutzes zu rechtfertigen. Der EuGH leitet aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV in mittlerweile ständiger Rechtsprechung eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten her, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen Rechtsschutz durch unabhängige nationale Gerichte zu gewährleisten.223 In der Begründung der Entscheidungen beruft er sich u. a. darauf, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen deren Gerichten auf der Prämisse beruhe, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches und unabhängiges Justizsystem verfügen.224 Die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte sei für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens beruht, von grundlegender Bedeutung.225 Jeder Mitgliedstaat habe, um die volle Anwendung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zu gewährleisten, sicherzustellen, dass die Unabhängigkeit seiner Justiz gewahrt bleibt, und alle Maßnahmen zu unterlassen, die diese Unabhängigkeit untergraben könnten.226
223
EuGH, Urt. v. 27. 12. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 35 ff., 41 ff. – ASJP; Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 54 f., 57 f. – Kommission / Polen; Urt. v. 05. 11. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 98 ff. – Kommission / Polen; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 Rn. 52 ff. – Kommission / Polen; Urt. v. 16. 11. 2021 – C-748/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:931 Rn. 60 ff. – WB u. a.; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 220 f. – Euro Box Promotion u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 Rn. 40 – RS. Ausführliche Kritik bei Schorkopf, JZ 2020, 477 (481 ff.). Hierzu auch unten, → 4. Kapitel, § 3. A. III. 1. a). 224 EuGH, Beschl. v. 17. 12. 2018 – C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 Rn. 67 – Kommission / Polen; vgl. Urt. v. 27. 12. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 30 – ASJP; Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 42 f. – Kommission / Polen; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 159 – Euro Box Promotion u. a. 225 EuGH, Beschluss v. 17. 12. 2018 – C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 Rn. 67 – Kommission / Polen; vgl. Urt. v. 27. 12. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 43 – ASJP. 226 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 39 f. – L. u. P; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 46 – X. u. Y.; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 96 – Puig Gordi u. a.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
III. Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) Außerhalb sekundärrechtlicher Anerkennungsinstrumente hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens außerdem in Entscheidungen zum allgemeinen Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV fruchtbar gemacht. Die Entscheidungen ZW 227 und RV 228 betrafen die Vereinbarkeit von § 235 StGB mit Art. 21 AEUV. Gemäß § 235 Abs. 2 StGB ist es strafbar, wenn ein Elternteil sein Kind dem Vormund oder einem bestellten Pfleger entzieht, um es in das Hoheitsgebiet eines anderen (Mitglieds-)Staates zu verbringen, oder wenn ein Kind dem Berechtigten im Ausland vorenthalten wird. In einem innerstaatlichen Sachverhalt ist das Entziehen oder Vorenthalten des Kindes nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB dagegen nur dann mit Strafe bedroht, wenn es mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List geschieht. Der EuGH sieht in dieser Regelung eine Ungleichbehandlung, die die Freizügigkeit der Unionsbürger beeinträchtigen oder beschränken kann.229 Die Ungleichbehandlung könne nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Durchsetzung des Sorgerechts im Ausland in der Regel mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sei.230 Eine solche Argumentation laufe darauf hinaus, die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten gleichzusetzen und stünde damit im Widerspruch zur der Brüssel IIa-VO und den für die Schaffung eines echten Rechtsraums unabdingbaren Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens.231 Diesen Ansatz hat der EuGH in der Entscheidung Ordre des barreaux francophones und germanophone u. a.232 fortgeführt. Gegenstand des Verfahrens vor dem Gerichtshof waren u. a. belgische Regelungen über die Inhaftnahme von Unionsbürgern, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung eine Ausweisungsverfügung ergangen ist. Das belgische Recht sah die Möglichkeit vor, Unionsbürger, die der Ausweisungsverfügung nicht innerhalb der vorgegebenen Frist nachgekommen sind, für eine Höchstdauer von acht Monaten zur Sicherstellung der Vollstreckung dieser Entscheidung in Haft zu nehmen. Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückführungsverfahren nach der Rückführungs-RL anhängig ist, können nach belgischem Recht ebenfalls für höchstens acht Monaten für die Zwecke der Abschiebung in Haft genommen werden. Der EuGH hielt die Regelung über die Inhaftnahme ausreisepflichtiger Unionsbürger für eine ungerechtfertigte Beschränkung des in Art. 21 AEUV verankerten Freizügigkeitsrechts. Dies begrün 227
EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 – ZW. EuGH, Beschl. v. 16. 05. 2022 – C-724/21, ECLI:EU:C:2022:393 – RV. 229 EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 Rn. 30 ff. – ZW; Beschl. v. 16. 05. 2022 – C-724/21, ECLI:EU:C:2022:393 Rn. 24 – RV. 230 So der Gesetzgeber in BT-Drucks. 13/8587, S. 39. 231 EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 Rn. 48 f. – ZW; vgl. Beschl. v. 16. 05. 2022 – C-724/21, ECLI:EU:C:2022:393 Rn. 30 – RV. 232 EuGH, Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. 228
§ 1 Referenzgebiete
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dete er damit, dass die Abschiebung eines Unionsbürgers hinsichtlich der Verfahrensdauer nicht mit der Abschiebung von Drittstaatsangehörigen vergleichbar sei. Insbesondere verfügten die Mitgliedstaaten bei der Abschiebung eines Unionsbürgers in einen anderen Mitgliedstaat über Kooperationsmechanismen, über die sie bei der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen in ein Drittland nicht unbedingt verfügen.233 In den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die auf der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit und dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen, komme es nicht zu den gleichen Schwierigkeiten, wie sie bei der Zusammenarbeit mit einem Drittstaat auftreten können.234 Folglich sei es nicht gerechtfertigt, Unionsbürger und Personen aus Drittstaaten in Bezug auf die Höchstdauer der Inhaftnahme gleich zu behandeln.235 In beiden Konstellationen zieht der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens heran, um eine besondere Qualität der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit im Vergleich zu der Zusammenarbeit mit Drittstaaten zu begründen. Konsequenz dieser besonderen Qualität der vertrauensbasierten mitgliedstaatlichen Kooperation ist eine Begrenzung des Spielraums der Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung von Beschränkungen des in Art. 21 AEUV vorgesehenen Freizügigkeitsrechts. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens „sperrt“ solche Rechtfertigungsansätze, die zur Rechtfertigung von Beschränkungen auf Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit anderen (Mitglied-)Staaten verweisen und dabei nicht hinreichend berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten untereinander zu einer „vertrauensvollen“ Zusammenarbeit verpflichtet sind.
D. Zwischenergebnis Aus der vorstehenden Betrachtung der Referenzgebiete lassen sich zwei wichtige Zwischenergebnisse ableiten: Erstens lässt sich konstatieren, dass der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in seiner Rechtsprechung seit der ersten Erwähnung im Binnenmarktkontext schrittweise konkretisiert und ausgeformt hat. In der Anfangszeit der Vertrauensrechtsprechung, bis etwa 2010, blieben die Konturen und die Substanz des Prinzips weitgehend unklar. Auch die Terminologie des Gerichtshofs war zunächst uneinheitlich und schwankte zwischen einer empirischen und einer normativen Begriffsverwendung. Dies änderte sich in den vergangenen zehn Jahren. Der EuGH hat sich seither mit wachsender Ausführlichkeit mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beschäftigt; seine Bezugnahmen auf den Grundsatz sind häufiger 233
EuGH, Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 Rn. 66 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. 234 EuGH, Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 Rn. 66 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. 235 EuGH, Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 Rn. 72 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
geworden und die Ausführungen haben sich qualitativ deutlich weiterentwickelt.236 Es ist deutlich geworden, dass der EuGH unter dieser Überschrift einen echten unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz entwickelt hat und den „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ nicht lediglich zur Beschreibung eines politisch-empirischen Vertrauens heranzieht. Er entnimmt dem vormals relativ konturlosen Grundsatz zunehmend konkrete Rechte und Pflichten für die beteiligten mitgliedstaatlichen Stellen. Einen Meilenstein in dieser Entwicklung stellt das Gutachten 2/13 zum EMRK-Beitritt dar, in dem der EuGH erstmals losgelöst von einem bestimmten Bereich des Unionsrechts zum Status und zum rechtlichen Gehalt des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens Stellung genommen hat. Seither hat er weitere Verfeinerungen vorgenommen. Zweitens hat der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfahren. Dies zeigt sich einerseits an der fortschreitenden Tendenz zur Ausweitung seines Anwendungsbereichs. Der EuGH hat den Vertrauensgrundsatz mittlerweile aus seiner ursprünglichen Verknüpfung mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung herausgelöst und schreibt ihm nunmehr selbstständige Geltung in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen zu. Im Gutachten 2/13 attestiert der Gerichtshof dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zudem „fundamentale Bedeutung“ für das Unionsrecht und verleiht ihm primärrechtlichen Rang. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist damit über die Jahre schrittweise zu einem universellen Verfassungsprinzip des Unionsrechts geworden.
§ 2 Systematisierung: Anwendungsbereich und rechtliche Wirkungen Auf der Grundlage der im vorhergehenden Abschnitt gewonnen Ergebnisse sollen Anwendungsbereich und rechtliche Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes nun einer systematisierenden, sachbereichsübergreifenden Betrachtung unterzogen werden. Diesem Vorhaben liegt die These zugrunde, dass sich die Ausprägungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in den verschiedenen Referenzgebieten auf einen übergreifenden Rechtsgrundsatz zurückführen lassen. Vereinzelt wird dies mit der Begründung angezweifelt, dass sich die Wirkung des Vertrauensgrundsatzes im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts strukturell von anderen Bereichen unterscheide, in denen der Grundsatz Anwendung gefunden hat.237 Während der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Binnenmarkt für die Marktteilnehmer freiheitserweiternd gewirkt habe, wirke er sich im Raum der
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Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (29). Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532).
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§ 2 Systematisierung
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Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zulasten der Grundrechte Einzelner aus.238 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sei daher von dem in anderen Bereichen geltend gemachten Grundsatz zu unterscheiden und hinsichtlich seiner rechtlichen Wirkungen sowie seiner Grundlage zwischen den verschiedenen Rechtsgebieten zu differenzieren.239 „Den“ Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gebe es nicht, sondern der genaue Inhalt des Grundsatzes sei für die jeweilige Kooperationskonstellation und abhängig von deren Grundrechtsinvasivität zu bestimmen.240 Andere nehmen sogar an, dass es jenseits von „Abstraktionen“ und „Allgemeinplätzen“ selbst innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts kein kohärentes Konzept des gegenseitigen Vertrauens gebe.241 Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass die These, der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wirke im Binnenmarkt stets freiheitserweiternd und im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts stets zulasten des Einzelnen, sich bei näherem Hinsehen als zu pauschal erweist.242 Dies wird schon daran sichtbar, dass der Vertrauensgrundsatz im Binnenmarkt im Hinblick auf die Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuern und Abgaben auch freiheitsbeschränkende Wirkung entfaltet,243 während er im Kontext des Doppelbestrafungsverbots nach Art. 54 SDÜ im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts den Einzelnen vor doppelter Verfolgung und Bestrafung schützt.244 Häufig liegen den Fallgestaltungen zudem multipolare Grundrechtskonstellationen zugrunde, in denen die supranationale Stärkung der Freiheit eines Beteiligten Freiheitseinbußen bei einem anderen Grundrechtsträger bewirkt.245 Dies wird besonders in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen deutlich, in der der Vertrauensgrundsatz in Fallgestaltungen wirkt, in denen sich konkurrierende private Interessen gegenüberstehen.246 Auch bei der Entscheidung über die Übergabe einer Person auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist 238 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380). Ohne die Schlussfolgerung Ladenburgers zu teilen so auch Kulick, JZ 2020, 223 (226). 239 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380). 240 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 664. 241 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (28 f.); Moraru, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 37 (39 f.); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 38. 242 Classen, in: FS Schwarze, S. 556 (558 f.); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 250 f. 243 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 – Donnellan; Urt. v. 14. 03. 2019 – C-695/17, ECLI:EU:C:2019:209 – Metirato; Urt. v. 24. 02. 2021 – C-95/19, ECLI:EU:C:2021:128 – Silcompa; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 – Heavyinstall. S. hierzu bereits → 1. Kapitel, § 1. A. II. 1. Dies zugestehend auch Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380 Fn. 21). 244 Classen, in: FS Schwarze, S. 556 (558); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (538); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 251; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56 (63 Fn. 63). Zum Doppelbestrafungsverbot bereits → 1. Kapitel, § 1. B. II. 1. Dies zugestehend auch Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380 Fn. 22). 245 Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 251. 246 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (28); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 251.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
nicht nur den Grundrechten der Person, deren Übergabe beantragt wird, sondern zugleich den Grundrechten der Opfer der betreffenden Straftat Rechnung zu tragen.247 Unabhängig davon kann es für die Frage, ob es sich um einen einheitlichen Rechtsgrundsatz handelt, nicht darauf ankommen, welche Lastenverteilung mit der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes in den jeweiligen Sachbereichen einhergeht. Entscheidend ist vielmehr, ob sich die unterschiedlichen Auswirkungen auf einen einheitlichen rechtlichen Regelungsgehalt zurückführen lassen. Dies ist beim Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – wie in diesem Abschnitt zu zeigen sein wird – der Fall. Für einen rechtsgebietsübergreifenden Grundsatz spricht zuletzt auch die enge Verbindung zwischen gegenseitigem Vertrauen und dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der wiederum ebenfalls in verschiedenen Regelungsgebieten des Unionsrechts Anwendung gefunden hat.248 Den verschiedenen Referenzgebieten liegt somit ein übergreifendes, wenn auch vielschichtiges Prinzip zugrunde.249 Auch der EuGH geht von einem universalen Grundsatz aus. In einer Entscheidung zur RL 2010/24/EU hielt er explizit fest, „dass diese Richtlinie zwar zum Bereich des Binnenmarktes und nicht zum Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gehört, gleichwohl aber auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht“.250 Dass es sich nach Ansicht des Gerichtshofes um einen einheitlichen Rechtsgrundsatz handelt, wird zudem daran deutlich, dass dieser in seinen Entscheidungen rechtsgebietsübergreifend vorhergehende Entscheidungen als Referenzen zitiert. So zog er etwa in seinen neueren Entscheidungen zum Binnenmarktrecht hinsichtlich der Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes die zur Dublin-Verordnung ergangene Entscheidung N. S. u. a. sowie die zur justiziellen Zusammenarbeit im Strafrecht ergangene Entscheidung Baláž heran.251 Auf die im Gutachten 2/13 getroffenen Aussagen nimmt er ebenso rechtsgebietsübergreifend Bezug.252 247
EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 60 – X. u. Y.; Urt. v. 31.01.2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 118 – Puig Gordi u. a.; EGMR, Urt. v. 09. 07. 2019 – 8351/17 – Romeo Castaño / Belgium. 248 Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 22a. 249 Centeno Huerta / Kuplewatzky, 4 Eur. Papers 2019, 61 (65); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 140 f.; Groussot / Pétursson / Wenander, 1 Eur. Papers 2016, 865; Knof, in: Uhlenbruck, InsO, Art. 3 EuInsVO Rn. 15; vgl. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 71; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 87. 250 EuGH, Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 40 – Heavyinstall. 251 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 45 – Donnellan; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 37 – Heavyinstall. 252 Vgl. für das Binnenmarktrecht EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 – Donnellan; für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen EuGH, Urt. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 f. – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI: EU:C:2019:857 Rn. 46 f. – Dorobantu; zu Art. 21 AEUV EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 Rn. 49 – ZW; zu Investitionsschutzgerichten EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA.
§ 2 Systematisierung
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A. Sachlicher Anwendungsbereich I. Keine Beschränkung auf bestimmte Sachbereiche In sachlicher Hinsicht ist der Anwendungsbereich des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens nicht auf bestimmte Sach- oder Politikbereiche beschränkt. Der Vertrauensgrundsatz beansprucht grundsätzlich allgemeine Geltung in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen.253 II. Geltung im Verhältnis zu Mitgliedstaaten und privilegierten Drittstaaten Eine gewisse Einschränkung seines Anwendungsbereichs folgt jedoch daraus, dass der Vertrauensgrundsatz grundsätzlich nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der Union, nicht aber im Verhältnis zu Drittstaaten gilt.254 Wirkungen entfaltet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens daher praktisch primär in Konstellationen horizontaler mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit.255 Den Mitgliedstaaten hinsichtlich bestimmter Instrumente partiell gleichgestellt sind Drittstaaten, die in einem bestimmten Sachbereich privilegierte Beziehungen zur Union unterhalten. Dies gilt bezüglich des Doppelbestrafungsverbots aus Art. 54 SDÜ für die Vertragsstaaten des SDÜ256 und im Hinblick auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem für die am Dublin-System teilnehmenden Nicht-EU-Mitgliedstaaten.257 Gerechtfertigt wird diese Privilegierung damit, dass sich diese Nicht-EU-Staaten den jeweiligen Abkommen und deren Implikationen unterworfen haben und zudem Mitglied der EMRK und der GFK sind.258 Eine punktuelle Erstreckung vertrauensbasierter Kooperationsmechanismen auf Drittstaaten ist danach ausnahmsweise 253
EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 71; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (78 f.). 254 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 129 – CETA; Urt. v. 29. 04. 2021 – C-665/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339 Rn. 55, 59 – X; GA Bot, Schlussanträge v. 23. 01. 2021 – C-603/20 PPU; ECLI:EU:C:2021:126 Rn. 63 – SS; GA Szpunar, Schlussanträge v. 03. 03. 2021 – C-741/19, ECLI:EU:C:2021:164 Rn. 87 – Republik Moldau; GA Szpunar, Schlussanträge v. 01. 07. 2021 – C-638/19 P, ECLI:EU:C:2021:529 Rn. 100 – Kommission / European Food u. a. 255 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (73). 256 EuGH, Urt. v. 29. 06. 2016 – C-486/14, ECLI:EU:C:2016:483 Rn. 50 – Kossowski; Urt. v. 29. 04. 2021 – C-655/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339 Rn. 54 – X. 257 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10. u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 – N. S. u. a.; Urt. v. 23. 01. 2019 – C-661/17, ECLI:EU:C:2019:53 Rn. 83 – M. A. u. a.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 111 ff.; Vicini, 8 Eur. J. Legal Stud. 2015, 50 (51); Wendel, DVBl. 2015, 731 (733 f.); a. A. Marx, in: Barwig u. a., Solidarität, S. 323 (328); kritisch auch Brouwer, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (65). 258 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 – N. S. u. a.; Urt. v. 23. 01. 2019 – C-661/17, ECLI:EU:C:2019:53 Rn. 83 – M. A. u. a.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 111 f.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
zulässig, soweit diesen in dem betroffenen Sachbereich wegen ihrer Bindungen an internationales Recht Vertrauen entgegen gebracht werden kann.259 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens findet in der Beziehung zu jedem einzelnen Mitgliedstaat Anwendung, der im Zeitpunkt der Zusammenarbeit Mitglied der EU ist. Das gilt auch für Mitgliedstaaten, die bereits gemäß Art. 50 Abs. 2 Satz 1 EUV ihre Absicht mitgeteilt haben, aus der Union auszutreten.260 Die Mitteilung der Austrittsabsicht bewirkt nicht die Aussetzung der Anwendung des Unionsrechts in und im Verhältnis zu dem austrittswilligen Mitgliedstaat. Dies folgt aus der gesetzlichen Regelung in Art. 50 Abs. 2, Abs. 3 EUV, die ein zweistufiges Austrittsverfahren vorsieht: Erstens die Mitteilung der Austrittsabsicht, auf die das Aushandeln der Austrittsbedingungen folgt, und im zweiten Schritt den eigent lichen Austritt aus der Union, der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der Mitteilung an den Europäischen Rat wirksam wird. Folglich bleibt das Unionsrecht einschließlich des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens im Verhältnis zu diesem Mitgliedstaat bis zu seinem tatsächlichen Austritt vollumfänglich anwendbar.261 III. (Keine strenge) Akzessorietät des Vertrauensgrundsatzes In der Literatur wird verbreitet angenommen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens streng akzessorisch sei und nur dort greife, wo das primäre oder sekundäre Unionsrecht die Mitgliedstaaten zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit verpflichtet.262 Zwar gelte der Vertrauensgrundsatz als allgemeines Rechtsprinzip des Unionsrechts nicht erst und nicht nur insoweit, wie der Gesetzgeber eine Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen geregelt hat.263 Seine Anwendung sei aber davon abhängig, dass das Unionsrecht Anerkennungs- oder Kooperationspflichten vorsieht, deren Auslegung und Umsetzung das Vertrauensprinzip dann steuert.264 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wirke nur durch sekundär- oder primärrechtlich normierte Anerkennungs- und Kooperationspflichten und komme
259
K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 665 f. EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 43 ff. – RO; Urt. v. 23. 01. 2019 – C-661/17, ECLI:EU:C:2019:53 Rn. 80 – M. A. u. a.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 93. 261 EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 45 – RO; Urt. v. 23. 01. 2019 – C-661/17, ECLI:EU:C:2019:53 Rn. 80 – M. A. u. a. 262 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (66); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 72; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (30 f.); Nettesheim, EuZ 2018, 4 (12 f.); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (79); für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381). 263 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 91. 264 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 72, 91; dies., EuR 2012, 408 (428 f.). 260
§ 2 Systematisierung
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daher erst im Zusammenspiel („im Tandem“) mit diesen Normen zum Tragen.265 Er sei kein eigenständiger Rechtsgrundsatz, den die Mitgliedstaaten über den Anwendungsbereich unionsrechtlich normierter Kooperationspflichten hinaus bei ihrer Zusammenarbeit untereinander zu beachten hätten.266 Insbesondere könne der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nicht allein Anerkennungspflichten der Mitgliedstaaten begründen.267 Dem kann in dieser Absolutheit nicht zugestimmt werden. Richtig ist, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – wie auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – nicht aus sich heraus Anerkennungspflichten der Mitgliedstaaten begründen kann.268 Anerkennungspflichten setzen stets eine gesetzliche Normierung voraus; eine generelle Verpflichtung zur wechselseitigen Anerkennung der Hoheitsakte anderer Mitgliedstaaten kennt das Unionsrecht nicht.269 Vor diesem Hintergrund irritiert es, wenn der Gerichtshof in einer älteren Entscheidung formuliert hat, dass das gegenseitige Vertrauen es „rechtfertigt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich von Rechts wegen anerkannt und vollstreckt werden“.270 Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass der EuGH hier von einem gegenseitigen Vertrauen im tatsächlichen Sinne spricht, das er als politische Rechtfertigung für die Ausgestaltung des Sekundärrechts heranzieht. Seine auslegungssteuernde und anerkennungserleichternde Funktion im Hinblick auf die gegenseitige Anerkennung kann der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens also tatsächlich nur entfalten, wenn das Primär- oder Sekundärrecht entsprechende Anerkennungspflichten normiert. Wie bereits gezeigt, hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens aber mittlerweile aus seiner ursprünglichen Verknüpfung mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung herausgelöst und schreibt ihm Geltung in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen zu.271 Der Anwendungsbereich und die rechtlichen Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes reichen über Konstellationen gegenseitiger Anerkennung und unionsrechtlich be-
265
L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (66); Nettesheim, EuZ 2018, 4 (12 f.); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (79) spricht von einer Wirkung im „Tandem“. 266 Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (79); für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381). 267 Nettesheim, EuZ 2018, 4 (12 f.). 268 Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (70); Nettesheim, EuZ 2018, 4 (12). 269 Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 135; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 36; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (811); zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Burchard, Konstitutionalisierung, S. 69. Fragwürdig deshalb BVerwG, Urt. v. 19. 04. 2018 – 2 C 59/16, BVerwGE 162, 1 Rn. 27. S. auch → 1. Kapitel, § 2. C. I. 1. 270 EuGH, Urt. v. 28. 04. 2009 – C-420/07, ECLI:EU:C:2009:271 Rn. 73 – Apostolides. 271 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128. Ausführlich oben, → 1. Kapitel, § 1. C.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
gründeter Kooperationspflichten hinaus.272 Außerhalb des Kontextes der gegenseitigen Anerkennung können dem Vertrauensgrundsatz auch unabhängig von einer Anknüpfung an bestimmte primär- oder sekundärrechtliche Kooperationspflichten Rechtswirkungen zukommen. So prüft der EuGH in neuerer Zeit etwa die Vereinbarkeit von Investor-Staat-Schiedsvereinbarungen der Mitgliedstaaten mit dem Unionsrecht am Maßstab des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens273 und berücksichtigt den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bei der Prüfung der Zulässigkeit mitgliedstaatlicher Einschränkungen des allgemeinen Freizügigkeitsrechts (Art. 21 AEUV).274 Voraussetzung für eine Geltung des Vertrauensgrundsatzes ist zwar auch hier ein Anknüpfungspunkt im Unionsrecht. Ausreichend soll aber bereits sein, dass ein von den Mitgliedstaaten außerhalb des Unionsrechts geschlossener völkerrechtlicher Vertrag die Anwendung von Bestimmungen der Verträge beeinträchtigen könnte oder eine mitgliedstaatliche Maßnahme in das allgemeine Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV eingreift. Das Akzessorietätserfordernis wird von der Rechtsprechung also weit verstanden. Unberührt von den vorstehenden Überlegungen bleibt der Vorbehalt eines hinreichend bestimmten Gesetzes, der greift, wenn mitgliedstaatliches Kooperationshandeln mit Eingriffen in die Grundrechte des Einzelnen einhergeht.275
B. Regelungsgehalt Im Gutachten 2/13 zum EMRK-Beitritt hat der Gerichtshof den Regelungsgehalt des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in einer Art Grundformel zusammengefasst, die er seitdem seiner Rechtsprechung zugrunde legt: Danach verlangt dieser Grundsatz „von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Bei der Durchführung des Unionsrechts können die Mitgliedstaaten somit unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen
272 Klip, European Criminal Law, S. 110 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 101 f.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 669; Terhechte, EuR 2020, 569 (583); vgl. auch Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (99): „[M]utual trust plays a role at a more fundamental level than mutual recognition.“; a. A. Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 93 f. 273 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 – CETA; Urt. v. 26. 10. 2021 – C-109/20, ECLI:EU:C:2021:875 – PL Holdings. S. bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. C. I. 2. 274 EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 – ZW; Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. 275 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381); Lenaerts, duE 2015, 525 (528); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 669.
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Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat.“276 Dieser Formel lassen sich zwei Grundpflichten der Mitgliedstaaten entnehmen: – Die Mitgliedstaaten haben, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Unionsgrundrechte beachten. Damit einher geht die Pflicht, auf eine Nachprüfung im Einzelfall grundsätzlich zu verzichten. – Den Mitgliedstaaten ist es verwehrt, bei der Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten ein höheres nationales grundrechtliches Schutzniveau einzufordern als das durch das Unionsrecht gewährleistete. Es handelt sich dabei im Schwerpunkt um Unterlassenspflichten oder negative Pflichten,277 deren erkennbares Ziel es ist, nationalen Kooperationsverweigerungen unter Berufung auf (vermeintliche) Verletzungen des Unionsrechts und nationale Grundrechtsvorbehalte entgegenzutreten.278 I. Pflicht zur Vermutung (unions-)rechtskonformen Handelns (Legalitätsvermutung) Das erste Gebot, das der EuGH aus dem Vertrauensgrundsatz ableitet, verpflichtet die Mitgliedstaaten zu einer Art „Legalitätsvertrauen“ gegenüber den anderen Mitgliedstaaten, das sie zugleich hindert, die Rechtmäßigkeit des Handelns der anderen Mitgliedstaaten infrage zu stellen.279 Das Unsicherheitsmoment, zu dessen Überbrückung der Gerichtshof den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens heranzieht, ist das der tatsächlichen Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben in der Rechtsanwendungspraxis der Mitgliedstaaten.280 Die vom EuGH gewählte Formulierung lässt jedoch bereits erkennen, dass diese Verpflichtung nicht ab-
276
EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 f. – EMRK-Beitritt II. Nahezu wortgleich nachfolgend etwa EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 f. – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 46 f. – Dorobantu; Urt. v. 18. 04. 2023 – C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295 Rn. 30 – E. D.L. 277 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (71); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 114; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (813); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (81 f.); Rosas / Armati, EU Constitutional Law, S. 181 f. 278 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (71); Terhechte, EuR 2020, 569 (583). 279 Nettesheim, EuZ 2018, 4 (7); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 157. 280 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 139 f.; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 368 f.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
solut und bedingungslos gilt, sondern nur vorbehaltlich „außergewöhnlicher Umstände“.281 Der Vertrauensgrundsatz verpflichtet die Mitgliedstaaten somit (nur) zu einer widerleglichen Legalitätsvermutung.282 Implizit erkennt der Gerichtshof damit an, dass vom bloßen Bestehen einer Norm nicht in allen Fällen auf deren tatsächliche Beachtung geschlossen werden kann.283 Um eine normative Fiktion handelt es sich beim Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – entgegen manchen Stimmen in der Literatur284 – nicht.285 Fiktionen nehmen im Gegensatz zu Vermutungen Umstände als gegeben an, die in Wirklichkeit nicht bestehen und sind, anders als Vermutungen, nicht widerlegbar.286 Im Folgenden sollen Reichweite und Gegenstand der Vermutung sowie die daraus folgende Pflicht zum gegenseitigen Kontrollverzicht einer näheren Betrachtung unterzogen werden. 1. Reichweite der Vermutung a) Wahrung des Unionsrechts Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Wahrung des gesamten Unionsrechts durch die übrigen Mitgliedstaaten zu vermuten.287 Das betrifft einerseits die ordnungsgemäße Anwendung des Primärrechts. Besonders relevant für die mitgliedstaatliche Kooperation sind insoweit die 281
St. Rspr., vgl. nur EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 f. – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 f. – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 f. – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 46 f. – Dorobantu. Zu den Grenzen des Vertrauensgrundsatzes s. → 3. Kapitel. 282 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (71); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (28); Bovend’Eerdt, 32 Utrecht Journal of International and European Law 2016, 112 (113). Teilweise ist auch von einer „Legalitätspräsumtion“ die Rede, s. L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (75, 81); Zipperer, ZIP 2021, 321 (233). Auch der EuGH spricht teilweise von einer Vermutung, s. etwa Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 80, 83 f., 99 ff., 103 ff. – N. S. u. a.; Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 95 – C. K. u. a. Von einer „Konformitätsvermutung“ spricht GA Wathelet, Schlussanträge v. 25. 07. 2018 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2018:617 Rn. 73 f., 88 f. – Ibrahim. 283 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 81, 102 f. – N. S. u. a.; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 115; vgl. auch EuGH, Urt. v. 19. 05. 2011 – C-184/10, ECLI:EU:C:2011:324 Rn. 22 ff. – Grasser. 284 Klip, European Criminal Law, S. 113; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 485; Schmahl, JZ 2016, 921 (924); Schorkopf, JZ 2015, 781 (782); Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (51); Willems, 20 GLJ 2019, 468 (494). 285 Lührs, Überstellungsschutz, S. 91. 286 Groh, in: K. Weber, Rechtswörterbuch, Fiktion; Lührs, Überstellungsschutz, S. 91; Wank, Methodenlehre, § 5 Rn. 287 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 29 f. 287 S. nur EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRKBeitritt II; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 – Donnellan; Urt.
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Unionsgrundrechte,288 die sowohl die Chartagrundrechte (Art. 6 Abs. 1 EUV) als auch die Grundrechte, die nach Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind, umfassen.289 Zu unterstellen ist aber etwa auch, dass die letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten ihrer Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV nachkommen.290 Darüber hinaus erstreckt sich die Vermutung auf die Einhaltung sekundärrechtlicher Vorgaben.291 Dies wird etwa in der Rechtsprechung zu den Zuständigkeitsregimen der Brüssel I-Verordnungen, der Brüssel II-Verordnungen, der Insolvenzverordnungen sowie der EuErbVO deutlich: Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet zu unterstellen, dass die übrigen Mitgliedstaaten die Zuständigkeitsvorschriften ordnungsgemäß anwenden;292 eine Nachprüfung der Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats ist ihnen deshalb verwehrt.293 In einer anderen Entscheidung hat der EuGH betont, dass im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem eine „starke Vermutung“ dafür bestehe, dass die Mitgliedstaaten die Vorgaben der Aufnahme-RL über eine angemessene medizinische Behandlung einhalten.294 Die Mitgliedstaaten müssen zudem unterstellen, dass ihre jeweiligen Rechtssysteme in der Lage sind, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen gleichv. 29. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 84 – Ibrahim u. a.; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (82 ff.); Regan, duE 2018, 231 (233); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27). 288 S. nur EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 80 – N. S. u. a.; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 29. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 84 – Ibrahim u. a.; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 78 – Puig Gordi u. a.; Eßlinger, Vertrauen in Europa, S. 118 f.; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 73; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 73 f. 289 Lührs, Überstellungsschutz, S. 92. 290 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 63 – Diageo Brands; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (82 f.). 291 EuGH, Urt. v. 25. 01. 1977 – 46/76, ECLI:EU:C:1977:6 Rn. 22/25 – Bauhuis; Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 52 f. – Bob-Dogi; Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 70 – C. K. u. a.; Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (354); Hess, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 81 AEUV Rn. 34; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (82). Kritisch Stadler, IPRax 2004, 2 (7). 292 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 25 – Turner; Urt. v. 04. 05. 2010 – C-533/08, ECLI:EU:C:2010:243 Rn. 55 – TNT; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 82. 293 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 26, 28 – Turner; Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 42 – Eurofood IFSC; Urt. v. 04. 05. 2010 – C-533/08, ECLI:EU:C:2010:243 Rn. 55 – TNT; Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI.EU:C:2010:437 Rn. 74 – Purrucker; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 29 – MG Probud; Urt. v. 26. 04. 2012 – C-92/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:255 Rn. 103 – Health Service Executive; Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24 Rn. 45 – Liberato; Urt. v. 23. 05. 2019 – C-658/17, ECLI:EU:C:2019:444 Rn. 50 ff. – WB. 294 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 70 – C. K. u. a.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
wertigen und wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten.295 Selbst wenn es im Einzelfall zu einer fehlerhaften Anwendung des Unionsrechts kommt, ist davon auszugehen, dass die mitgliedstaatlichen Rechtsbehelfssysteme in Verbindung mit dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV dem Einzelnen ausreichende Garantien für die Durchsetzung seiner Rechte bieten.296 Diese Vermutung gilt unabhängig davon, ob das Sekundärrecht bestimmte Rechtsbehelfe zwingend vorsieht oder nicht.297 Dass der EuGH die Pflicht, die Wahrung des Unionsrechts zu vermuten, auch auf die Leistungsfähigkeit des nationalen Rechtsschutzsystems bei der Durchsetzung des Unionsrechts erstreckt, ist insofern konsequent, als er aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV eine unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten herleitet, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen Rechtsschutz durch unabhängige nationale Gerichte zu gewährleisten.298 b) Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtspflege und Rechtssysteme Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre jeweiligen Rechtsordnungen und deren Ergebnisse auch über die Vermutung der ordnungsgemäßen Anwendung einzelner unionsrechtlicher Normen hinaus zu respektieren und gegenseitig in die Rechtspflege und Rechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten zu vertrauen.299 Damit einher geht eine Gleichwertigkeits- oder 295
EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 70 f. – Aguirre Zarraga; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 63 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 47 – Meroni; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 128 ff.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 92 f. Kritisch im Hinblick auf schwächere Mitgliedstaaten Ioannidis, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 476 (483). 296 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 63 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 47 – Meroni; Rosas / Amarti, EU Constitutional Law, S. 181. 297 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 129, 131 ff. 298 EuGH, Urt. v. 27. 12. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 35 ff., 41 ff. – ASJP; Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 54 f., 57 f. – Kommission / Polen; Urt. v. 05. 11. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 98 ff. – Kommission / Polen; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 Rn. 52 ff. – Kommission / Polen; Urt. v. 16. 11. 2021 – C-748/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:931 Rn. 60 ff. – WB u. a.; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 220 f. – Euro Box Promotion u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 Rn. 40 – RS. 299 EuGH, Urt. v. 11. 02. 2003 – C-187/01 u. C-385/01, ECLI:EU:C:2003:87 Rn. 33 – Gözütok u. Brügge; Urt. v. 09. 03. 2006 – C-463/04, ECLI:EU:C:2006:165 Rn. 30 – Van Esbroeck; Urt. v. 28. 09. 2006 – C-467/04, ECLI:EU:C:2006:610 Rn. 30 – Gasparini; Urt. v. 28. 09. 2006 – C-150/05, ECLI:EU:C:2006:614 Rn. 43 – Van Straaten; Urt. v. 11. 12. 2008 – C-297/07, ECLI:EU:C:2008:708 Rn. 37 – Bourquain; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 52 – Piotrowski; Urt. v. 15. 11. 2022 – C-646/20, ECLI:EU:C:2022:897 Rn. 45 – Senatsverwaltung für Inneres und Sport; Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (77); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 222; ErwG 4 RL 2010/64/EU über Dolmetschleistungen in Strafverfahren; a. A. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 152 f.
§ 2 Systematisierung
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Äquivalenzvermutung.300 Das nationale Recht sowie dessen Anwendung werden als Gegenstand des gegenseitigen Vertrauens relevant, wenn und soweit die Rechtsbereiche, in denen eine horizontale Kooperation erfolgt, keine Harmonisierung erfahren haben.301 Der Gerichtshof bezieht die Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen sowohl auf die Qualität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als auch auf die Anwendung des nationalen Rechts durch die Mitgliedstaaten. aa) Gleichwertigkeit nationaler Rechtsordnungen Der EuGH entnimmt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zunächst eine Pflicht der Mitgliedstaaten, zu unterstellen, dass die nationalen Rechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten angemessen und der eigenen Rechtsordnung gleichwertig sind.302 Diese Vermutung nimmt eine über die bloße Vermutung ordnungsgemäßer Rechtsanwendung hinausgehende Dimension an;303 die Mitgliedstaaten sollen vielmehr eine bestimmte Qualität ihrer Gesetzgebung voraussetzen. Auf welche Grundlage er die Annahme stützt, dass die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auch in Abwesenheit unionsrechtlicher (Mindest-)Harmonisierung eine hinreichende Äquivalenz aufweisen, lässt der Gerichtshof offen.304 Die GRCh kommt als Vertrauensgrundlage nicht in Betracht, weil sie für den nationalen Gesetzgeber außerhalb der Durchführung des Unionsrechts keine Geltung beansprucht (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh). Gemeinsame inhaltliche Standards für die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten lassen sich aber aus ihrer gemeinsamen völkerrechtlichen Bindung an die EMRK und ihren gemeinsamen, in Art. 2 EUV niedergelegten Werten, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte, herleiten.305 Art. 2 EUV enthält ein föderales unionsrechtliches 300 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 51; Kohler, ZEuS 2016, 135 (141); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 667. 301 Kaufhold, EuR 2012, 408 (425 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (117). 302 EuGH, Urt. v. 11. 02. 2003 – C-187/01 u. C-385/01, ECLI:EU:C:2003:87 Rn. 33 – Gözütok u. Brügge; Urt. v. 09. 03. 2006 – C-463/04, ECLI:EU:C:2006:165 Rn. 30 – Van Esbroeck; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-376/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 52 – Piotrowski; Urt. v. 10. 01. 2019 – C-97/18, ECLI:EU:C:2019:7 Rn. 33 – ET; GA Colomer, Schlussanträge v. 19. 09. 2002 – C-187/01, ECLI:EU:C:2002:516 Rn. 124 – Gözütok u. Brügge; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (69); Kaufhold, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (117 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 73, 103; Terhechte, EuR 2020, 569 (583); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (245 f.). 303 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 118; Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (74 f.). 304 Zweifel an der Plausibilität dieser Annahme bei Kullak, Vertrauen in Europa, S. 106 f.; Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (229); Britz, JZ 2013, 105 (105 f.). 305 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 153 ff.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 673; bzgl. Art. 2 EUV auch Kullak, Vertrauen in Europa, S. 107; vgl. bzgl. der EMRK auch EuGH, Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13, PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 48 – Jeremy F.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Homogenitätsgebot,306 das sich auch auf das Handeln der Mitgliedstaaten erstreckt, das außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Union liegt.307 Dieser gemeinsame Nenner garantiert eine gewisse Gleichwertigkeit der unterschiedlichen nationalen Regelungsregime. Angesichts dieser Anknüpfungspunkte ist die Gleichwertigkeitsvermutung als Unterfall der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung einzuordnen.308 bb) Wahrung nationalen Rechts Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichtet die Mitgliedstaaten außerdem zu vermuten, dass alle Mitgliedstaaten ihr nationales Recht ordnungsgemäß anwenden.309 Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass es im Einzelfall zur Verletzung nationalen Rechts kommt. Im Hinblick hierauf ist aber zu unterstellen, dass ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen, mit denen der Einzelne Abhilfe erreichen kann.310 Einen unionsrechtlichen Anhaltspunkt für eine solche Vermutung bildet wiederum Art. 2 EUV, konkret der dort normierte Wert der Rechtsstaatlichkeit, der auch das Prinzip der Rechtmäßigkeit und einer wirksamen richterlichen Kontrolle umfasst.311
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Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 3; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 115; Blanke / Sander, EuR 2023, 54 (58). Eingehend Hanschmann, Homogenität in der Verfassungslehre und der Europarechtswissenschaft, S. 252 ff. Kritisch Nettesheim, ZRP 2021, 222. 307 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 18; Franzius, ZaöRV 2015, 383 (405); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 58; vgl. EuGH, Urt. v. 18. 05. 2021 – C-83/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:393 Rn. 162 – Asociația „Forumul Judecătorilor din România“; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 162 – Euro Box Promotion. 308 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 667. 309 EuGH, Urt. v. 16. 05. 2017 – C-682/15, ECLI:EU:C:2017:373 Rn. 77 – Berlioz Investment; GA Colomer, Schlussanträge v. 19. 09. 2002 – C-187/01, ECLI:EU:C:2002:516 Rn. 124 – Gözütok u. Brügge; GA Bot, Schlussanträge v. 02. 03. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:131 Rn. 58 ff. – Bob-Dogi; Europäische Kommission, Mitteilung v. 26. 07. 2000, KOM(2000) 495 endg., S. 4; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (69); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 133 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 74; Lührs, Überstellungsschutz, S. 87. 310 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 49, 63 – Diageo Brands; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 116 – Puig Gordi u. a. 311 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 134; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 35.
§ 2 Systematisierung
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c) Wahrung völkerrechtlicher Verpflichtungen Teilweise hat der EuGH die Vertrauensvermutung auf die Wahrung bestimmter völkerrechtlicher Verpflichtungen der Mitgliedstaaten erstreckt.312 So nahm er in Entscheidungen zum Dublin-System eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten an, zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten die Vorgaben der EMRK und der GFK respektieren.313 Im Hinblick auf die EMRK klingt dies auch in einer Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl an.314 Um die Einhaltung von Völkervertragsrecht ging es zudem in der frühen Rechtsprechung des EuGH zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, in der der EuGH eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten angenommen hat, davon auszugehen, dass die übrigen Mitgliedstaaten die Zuständigkeitsvorschriften des Vorläufers der Brüssel I-Verordnungen, des EuGVÜ, beachten.315 Außerhalb von Entscheidungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem finden sich in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH allerdings keinerlei Verweise auf die EMRK oder sonstiges Völkerrecht als Bezugspunkt des gegenseitigen Vertrauens mehr.316 Im Bereich des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems begründet der Gerichtshof die Vermutung zudem mit der – nicht auf andere Rechtsgebiete übertragbaren – Erwägung, dass die Schaffung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in der Annahme erfolgt sei, dass alle beteiligten Staaten die Grundrechte, einschließlich der Rechte der GFK und der EMRK, beachten.317 Auch das EuGVÜ bildet einen Sonderfall, da es sich um ein völkerrechtliches Abkommen nur zwischen Mitgliedstaaten der Union handelte. Es spricht deshalb einiges dafür, dass sich die genannten Entscheidungen nicht verallgemeinern lassen und der EuGH dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (bislang) keine allgemeine
312 Von den hier betrachteten völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu unterscheiden sind von der Union abgeschlossene völkerrechtliche Übereinkünfte, für die Art. 216 Abs. 2 AEUV eine unionsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, diese zu beachten und im mitgliedstaatlichen Raum durchzuführen (hierzu Vönekey / Beylage-Haarmann, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 48 ff.). 313 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 52 – Abdullahi; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 82 – Jawo. 314 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 57 – LM; zuvor schon Rohlff, Europäischer Haftbefehl, S. 34. 315 EuGH, Urt. v. 09. 12. 2003 – C-116/02, ECLI:EU:C:2003:657 Rn. 72 – Gasser; Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 24 f. – Turner; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 135. 316 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 125, die deshalb davon ausgeht, dass der EuGH von diesem Bezugspunkt wieder Abstand genommen hat. 317 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 52 – Abdullahi; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 82 – Jawo.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Vermutung entnimmt, dass alle Mitgliedstaaten ihre völkerrechtlichen Bindungen respektieren.318 Soweit Rechtssätze des Völkerrechts in den jeweiligen Mitgliedstaaten Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung sind,319 folgt eine Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen bereits daraus, dass sich die aus dem Vertrauensgrundsatz folgende Legalitätsvermutung – wie oben gezeigt320 – auch auf die ordnungsgemäße Anwendung des mitgliedstaatlichen Rechts erstreckt. Völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, trägt der Gerichtshof außerdem durch ihre Berücksichtigung als Rechtserkenntnisquelle bei der Auslegung der Unionsgrundrechte – deren Einhaltung nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wiederum zu unterstellen ist – Rechnung.321 Für eine darüber hinausgehende, originäre Vermutung, dass die Mitgliedstaaten das Völkerrecht wahren, ist im Unionsrecht aber keine Grundlage ersichtlich. Das Unionsrecht enthält nämlich weder eine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das für sie geltende (sonstige) Völkerrecht zu beachten,322 noch verfügt es über Mechanismen, um die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu kontrollieren oder durchzusetzen. 2. Gegenstand der Vermutung Die Legalitätsvermutung bezieht sich in institutioneller Hinsicht auf das mitgliedstaatliche Handeln in seiner Gesamtheit.323 Sie erstreckt sich insbesondere auf das Handeln der mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte, nicht aber auf die Entscheidungen privater Schiedsgerichte.324 318 Im Ergebnis auch Kullak, Vertrauen in Europa, S. 125; a. A. für den Europäischen Haftbefehl Rohlff, Europäischer Haftbefehl, S. 34. 319 Die konkrete Wirkung der einzelnen Völkerrechtsquellen im nationalen Recht der Mitgliedstaaten bestimmt sich nach den jeweiligen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten. In Deutschland sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts gemäß Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts, während die Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge eines Zustimmungsgesetzes bedarf (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Grundlegend zum Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht Will, Jura 2015, 1164. 320 S. oben, → 1. Kapitel, § 2. B. I. 1. b) bb). 321 Zur EMRK s. Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 GRCh; Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 19 ff.; zum Internationalen Pakt über bürgerliche und poli tische Rechte EuGH, Urt. v. 27. 06. 2006 – C-540/03, ECLI:EU:C:2006:429 Rn. 35 ff. – Parlament / Rat; Urt. v. 14. 02. 2008 – C-244/06, ECLI:EU:C:2008:85 Rn. 39 ff. – Dynamic Medien Vertriebs GmbH / Avides Media AG. 322 Ob die Unionsrechtsordnung (nach wie vor) als Teil des Völkerrechts zu begreifen ist oder eine in sich geschlossene, neuartige Rechtsordnung bildet, wird unterschiedlich beurteilt, vgl. hierzu → 4. Kapitel, § 3. A. VII. 323 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 93; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, S. 44. 324 EuGH, Urt. v. 20. 06. 2022 – C-700/20, ECLI:EU:C:2022:488 Rn. 57 – London Steam Ship Owners’ Mutual Insurance Association.
§ 2 Systematisierung
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In zeitlicher Hinsicht erfasst die Legalitätsvermutung nicht nur bereits erlassene Hoheitsakte, sondern gilt auch mit Blick auf zukünftiges Handeln der Mitgliedstaaten.325 Die Pflicht, auch auf die Rechtskonformität künftigen Handelns zu vertrauen, wird insbesondere in Fällen relevant, in denen Einzelne innerhalb des Dublin-Systems oder auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden sollen und auf längere Zeit in dessen Sphäre verbleiben.326 3. Folge: Pflicht zum gegenseitigen Kontrollverzicht Aus der Pflicht, sich wechselseitig ein umfassendes Legalitätsvertrauen entgegenzubringen, ergibt sich zugleich, dass die Mitgliedstaaten auf eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Handelns der übrigen Mitgliedstaaten grundsätzlich verzichten müssen.327 Das vom EuGH formulierte Kontrollverbot gilt umfassend für alle rechtlichen Anforderungen, gleich ob sie im Unionsrecht328 oder im mitgliedstaatlichen Recht329 normiert sind. Dahinter steht die Erwägung, dass im Hinblick auf die Vermutung, dass in allen Mitgliedstaaten die Einhaltung des Unionsrechts und rechtstaatlicher Qualitätsstandards garantiert ist, eine Zweitkontrolle durch einen anderen Mitgliedstaat nicht erforderlich und im Interesse einer effektiveren Zusammenarbeit entbehrlich erscheint.330 Selbst wenn wider Erwarten Mängel in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats oder bei der mitgliedstaatlichen Rechtsanwendung erkennbar sind, dürfen die anderen Mitgliedstaaten grundsätzlich keine einseitigen Abhilfemaßnahmen ergreifen und die Kooperation verweigern.331 Die ordnungsgemäße Rechtsanwendung durch die Mitgliedstaaten soll stattdessen mit den in den Verträgen vorgesehenen Instrumenten sichergestellt werden, etwa dem Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 f. AEUV) oder dem Verfahren nach
325
Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 69. S. hierzu bereits oben → 1. Kapitel, § 1. B. II. 2., III. 1. 327 Zu den Grenzen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens s. unten, → 3. Kapitel. 328 EuGH, Urt. v. 10. 09. 1996 – C-11/95, ECLI:EU:C:1996:316 Rn. 34, 88 – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 42 – Eurofood IFSC; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 29 – MG Probud; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 41 f. – Bouygues travaux public u. a.; Frąckowiak-Adamska, 52 CMLR 2015, 191 (198); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 73. 329 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 49 – Diageo Brands; Urt. v. 09. 09. 2015 – C-4/14, ECLI:EU:C:2015:563 Rn. 44 – Bohez; Urt. v. 09. 09. 2021 – C-422/20, ECLI:EU:C:2021:718 Rn. 44 ff. – RK; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 73. 330 Hess, Eur. ZivilprozessR, S. 118; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauens, S. 147 ff. 331 EuGH, Urt. v. 23. 05. 1996 – C-5/94, ECLI:EU:C:1996:205 Rn. 20 – Hedley Lomas; Urt. v. 06. 09. 2018 – C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669 Rn. 46 – Alpenrind u. a.; Urt. v. 06. 10. 2021 – C-136/20, ECLI:EU:C:2021:804 Rn. 45 – LU; Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (354). 326
94
1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Art. 7 EUV.332 Der Einzelne ist zur Durchsetzung seiner Rechte vorrangig darauf verwiesen, Rechtsschutz im Ausgangsmitgliedstaat zu suchen.333 Folglich sind die Überprüfungsbefugnisse des um Kooperation ersuchten Mitgliedstaats grundsätzlich auf zwei Aspekte beschränkt: Er hat einerseits zu prüfen, ob etwaige unionsrechtlich normierte Voraussetzungen für die Kooperation erfüllt sind.334 Dies betrifft bei der gegenseitigen Anerkennung von justiziellen Entscheidungen primär formale Anforderungen, die gewährleisten sollen, dass bestimmte wichtige Verfahrensgarantien im Herkunftsmitgliedstaat eingehalten wurden.335 Zum anderen kann das Unionsrecht bestimmte Prüfungsvorbehalte und Ablehnungsgründe vorsehen,336 wobei zu beachten ist, dass diese aufgrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens eng auszulegen sind.337 II. Verbot, die horizontale Zusammenarbeit an die Einhaltung weitergehender nationaler Standards zu knüpfen Weniger Beachtung findet die zweite Pflichtendimension, die der EuGH dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens entnimmt: Den Mitgliedstaaten ist es verwehrt, bei der Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten von diesen ein höheres nationales grundrechtliches Schutzniveau einzufordern als das durch das Unionsrecht gewährleistete.338 Davon unberührt bleibt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, an ihr eigenes Handeln strengere Anforderungen zu definieren.339 Sie dürften ihre Kooperationsleistungen gegenüber anderen Mitgliedstaaten aber nicht von der Einhaltung etwaiger weitergehender nationaler Standards abhängig machen.
332
EuGH, Urt. v. 10. 09. 1996 – C-11/95, ECLI:EU:C:1996:316 Rn. 36, 89 – Kommission / Belgien; Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 45 – Altun u. a.; Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (354). 333 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 51, 71 – Aguirre Zarraga; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 62 ff. – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 6. 334 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (35); Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 20. 335 EuGH, Urt. v. 13. 10. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:653 Rn. 28 – Prism Investments; Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 67 – Bob-Dogi; Urt. v. 13. 01. 2021 – C-414/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:4 Rn. 49 – MM; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (35). 336 Kaufhof, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 91; Kohler, ZEuS 2016, 135 (146 f.); Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (35). 337 Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (360). 338 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 – EMRKBeitritt II; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 37 – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 47, 79 – Dorobantu; Urt. v. 18. 04. 2023 – C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295 Rn. 31 – E. D.L. 339 EuGH, Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 79 – Dorobantu.
§ 2 Systematisierung
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Dass diese Aussage auf weniger Aufmerksamkeit stößt, mag darin begründet sein, dass sie auf den ersten Blick schon aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 53 GRCh zu folgen scheint.340 In der Rechtssache Melloni hatte der EuGH eine enge Auslegung von Art. 53 GRCh vorgenommen und entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Vollstreckung eines zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils ausgestellten Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung, dass ihre nationalen Verfassungen ein höheres Grundrechtsniveau als das im RbEuHb gewährleistete vorsehen, an zusätzliche Bedingungen knüpfen dürfen.341 Hierbei verwies der Gerichtshof auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts sowie darauf, dass Art. 4a RbEuHb eine abschließende Regelung zur Wahrung der Verteidigungsrechte im Fall von Abwesenheitsurteilen enthalte.342 Allerdings bestand die Besonderheit im Fall Melloni darin, dass die Tragweite der fraglichen Verteidigungsgrundrechte in Art. 4a RbEuHb sekundärrechtlich präzisiert worden war. Es bestand also ein einheitlicher, im Rahmenbeschluss festgelegter Grundrechtsstandard, der nicht durch die Anwendung nationalen Rechts in Frage gestellt werden durfte. An einer solchen sekundärrechtlichen Harmonisierung fehlt es in anderen Bereichen, die im Rahmen der Zusammenarbeit immer wieder Probleme aufwerfen, etwa hinsichtlich der Haftbedingungen in den Mitgliedstaaten. Trotz Fehlens einer (Mindest-)Harmonisierung verwehrt der EuGH es den Mitgliedstaaten unter Berufung auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, die Übergabe der von einem Europäischen Haftbefehl betroffenen Person von der Erfüllung von Mindestanforderungen an die Haftbedingungen abhängig zu machen, die strenger sind als die Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht (hier: Art. 4 GRCh) ergeben.343 Insoweit reicht die Verpflichtung auf das unionsrechtliche Schutzniveau, die der EuGH dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens entnimmt, über die MelloniRechtsprechung hinaus.344 Eine nähere Präzisierung des gemeinsamen unionsrechtlichen Grundrechtsniveaus nimmt der EuGH nicht vor. Offen bleibt insbesondere, ob insoweit – ungeachtet der Voraussetzungen des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh – auch in nicht harmonisierten Sachbereichen der volle Grundrechtstatbestand der Unionsgrundrechte maßgeblich sein soll.
340
So Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 73; Mitsilegas, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 23 (31): „[E]choing Melloni“; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 487. 341 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 56 ff. – Melloni. 342 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 39 ff., 56 ff. – Melloni. 343 EuGH, Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 79 – Dorobantu. 344 Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (28).
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
C. Weitere normative Wirkungen Über seinen unmittelbaren Regelungsgehalt hinaus kommen dem Vertrauensgrundsatz weitere normative Wirkungen zu. I. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Grundlage gegenseitiger Anerkennung Es hat sich bereits im vorangegangenen Abschnitt (→ § 1. A., B.) gezeigt, dass die Prinzipien der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens in Entstehung, Entwicklung und Funktion eng miteinander verknüpft sind.345 Das Verhältnis der beiden Grundsätze blieb aber lange offen und ist nach wie vor nicht vollständig geklärt. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, wirkt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens richtigerweise als eine Art „Metaprinzip“ hinter den einzelnen unionsrechtlichen Anerkennungspflichten. 1. Seitenblick: Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Von Anerkennung spricht man, wenn Hoheitsakten eines Staates rechtliche Wirkung auf dem Gebiet eines anderen Staates verliehen wird und die Rechtsanwendungsorgane des Letzteren damit an die Rechtsakte des fremden Staates gebunden werden.346 Eine allgemeine Pflicht, ausländischen Hoheitsakten im Inland Rechtserheblichkeit zu verleihen, gibt es nicht; ob und unter welchen Voraussetzungen sowie in welchem Umfang Staaten fremde Hoheitsakte anerkennen, steht – vorbehaltlich völker- oder unionsrechtlich begründeter Anerkennungspflichten – somit grundsätzlich in ihrem Ermessen.347 Innerhalb der EU kommen insbesondere zwei Anerkennungstechniken zur Anwendung: Teils wird die grenzüberschreitende Wirkung von mitgliedstaatlichen Entscheidungen durch einen nach dem Erlass der Entscheidung ausgesprochenen, nationalen Anwendungsbefehl des Empfängerstaats bewirkt, zu dessen Erteilung die Mitgliedstaaten unionsrechtlich verpflichtet sind.348 Die Anerkennungspflicht kann sich dabei aus dem
345
Glaser, in: Weller / Althammer, Mindeststandards, S. 149 (163 f.); A. Kahl, in: VVDStRL 76 (2017), S. 343 (362); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 4; F. Meyer, EuR 2017, 163 (164); Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (182). 346 Happe, Grenzüberschreitende Wirkung von nationalen Verwaltungsakten, S. 63; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 7; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 36. 347 Bast, Der Staat 2007, 1 (12); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 59; Michaels, Anerkennungspflichten im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 81 ff. 348 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 8 f.; Neßler, NVwZ 1995, 863 (864 f.).
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Primär- oder Sekundärrecht ergeben.349 Daneben kennt das Unionsrecht nationale Akte mit transnationaler Wirkung, die – ohne einen besonderen mitgliedstaat lichen Anerkennungsakt – kraft unionsrechtlicher Anordnung vom Moment ihres Erlasses an in allen Mitgliedstaaten Verbindlichkeit beanspruchen.350 Der „Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung“ bezeichnet eine Regulierungsstrategie, die sich ab Mitte der 1970er-Jahre zunächst zu einem zentralen Baustein des europäischen Binnenmarktrechts entwickelt hat.351 Kern dieser Regulierungsstrategie bildet die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre jeweiligen Hoheitsakte grundsätzlich gegenseitig als wirksam anzuerkennen, auch ohne dass zuvor eine (vollständige) Harmonisierung der einschlägigen nationalen Regelungen erfolgt ist.352 Das Konzept der gegenseitigen Anerkennung wurde nachfolgend auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts übertragen, wo es in Art. 67 Abs. 4, 81 Abs. 1, 82 Abs. 1 AEUV eine primärrechtliche Verankerung erfahren hat.353 Die Anerkennungspflichten ergeben sich jedoch nicht aus dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als solchem, sondern – je nach Sachbereich – aus den Grundfreiheiten oder der sekundärrechtlichen Umsetzung des Prinzips durch den europäischen Gesetzgeber.354 2. Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen Das Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung und dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens war lange ungeklärt und wird unterschiedlich beurteilt. Auch wenn sich in neuerer Zeit ein gewisser Konsens herauszubilden scheint, bleiben offene Fragen.355 349
Möstl, 47 CMLR 2010, 405 (410 ff.); ders., FS Spellenberg, S. 717 (722); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 95 ff. 350 Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, 924 (935 f.); ders., in: FS Lerche, S. 513 (520); Neßler, NVwZ 1995, 863 (865); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 8 f. 351 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 10; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 64 f.; Möstl, in: FS Spellenberg, S. 717. Ausführlich zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt Armstrong, Mutual Recognition, in: Barnard / Scott, Law of the Single European Market, S. 225; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 161 ff. 352 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 10; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 18; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 64. 353 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (64); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 65; Möstl, in: FS Spellenberg, S. 717 (717 f.). 354 Ganz h. M., s. nur Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 135; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 10; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (811); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 201; Schmidt-Aßmann, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, 263 (272); für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Burchard, Konstitutionalisierung, S. 69.; a. A. für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Röben, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 70 AEUV Rn. 9. Fragwürdig deshalb BVerwG, Urt. v. 19. 04. 2018 – 2 C 59/16, BVerwGE 162, 1 Rn. 27. 355 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (50); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (44); Janssens, Mutual Recognition, S. 142; Willems, 20 GLJ 2019, 468 (469).
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
a) Diskussionsstand Teilweise wurden der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für austauschbar gehalten. So gingen verschiedene Generalanwälte – in mittlerweile etwas länger zurückliegenden Rechtssachen – davon aus, dass gegenseitige Anerkennung und gegenseitiges Vertrauen verschiedene Bezeichnungen für denselben Grundsatz sind.356 In eine ähnliche Richtung geht die Annahme, dass die Regelungsgehalte beider Prinzipien zwar nicht identisch, aber eng verbunden sind und einen Überschneidungsbereich aufweisen:357 Gemeinsam sei den Prinzipien, dass sie auf einen Abbau von Kontrollen bei der Anerkennung von Rechtsakten anderer Mitgliedstaaten drängen.358 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gehe hierüber aber hinaus, indem er die Integration ausländischer Rechtsakte nicht nur von Kontrollen, sondern zugleich von einer vorherigen Harmonisierung der Rechtsordnungen unabhängig machen wolle.359 Vereinzelt wurde der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Folge gegenseitiger Anerkennung verstanden. Gegenseitiges Vertrauen gehe der gegenseitigen Anerkennung nicht voraus, sondern die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung verpflichte die Mitgliedstaaten, sich gegenseitig Vertrauen entgegenzubringen, gleich welche Unterschiede zwischen ihren jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften bestehen.360 Andere wiederum lehnen jeden Zusammenhang ab.361 Dass die gegenseitige Anerkennung vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unabhängig sei, folge schon daraus, dass zwischen den Mitgliedstaaten bereits Anerkennungspflichten normiert wurden, bevor vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erstmals die Rede war.362 Die Vorschriften des Primär- und Sekundärrechts, die eine Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung normieren, enthielten bereits Regelungen über die Voraussetzungen und Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, die den Inhalt der
356
Explizit GA Geelhoed, Schlussanträge v. 21. 10. 2004 – C-212/03, ECLI:EU:C:2004:652 Rn. 39 – Kommission / Frankreich; GA Sharpston, Schlussanträge v. 15. 06. 2006 – C-467/04, ECLI:EU:C:2006:406 Fn. 87 – Gasparini; implizit auch GA Jääskinen, Schlussanträge v. 04. 10. 2010 – C-296/10, ECLI:EU:C:2010:578 Rn. 127 – Purrucker. Ablehnend Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, Rn. 147; Janssens, Mutual Recognition, S. 142; Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (99). 357 Kaufhold, EuR 2012, 408 (429). 358 Kaufhold, EuR 2012, 408 (430). 359 Kaufhold, EuR 2012, 408 (430). 360 GA Bot, Schlussanträge v. 15. 12. 2015 – C-486/14, ECLI:EU:C:2015:812 Rn. 43 – Kossowski. 361 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (51, 55 f.); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (45); Willer, ZZP 2014, 99 (103 f.). 362 Willer, ZZP 2014, 99 (104); vgl. auch Kohler, ZEuS 2016, 135 (140 f.); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (216).
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mitgliedstaatlichen Pflichten abschließend bestimmen. Ein Rückgriff auf eine allgemeine „Vertrauenspflicht“ sei daher weder erforderlich noch gerechtfertigt.363 Mittlerweile wird der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens fast einhellig als Grundlage des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung verstanden.364 Der EuGH unterscheidet in seiner neueren Rechtsprechung begrifflich klar zwischen dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und nimmt an, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sowie die zu seiner Umsetzung ergangenen Anerkennungspflichten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen.365 In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass die mit der gegenseitigen Anerkennung einhergehende Extraterritorialität mitgliedstaatlicher Entscheidungen und die Rücknahme der Verantwortlichkeit des anerkennenden Mitgliedstaats einer gewissen gemeinsamen Grundlage bedürfe.366 Diese gemeinsame Grundlage bilde das Vertrauen, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht wahren und ihre jeweiligen nationalen Rechtsvorschrif 363 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (51); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (45). 364 S. nur EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser; Urt. v. 11. 07. 2008 – C-195/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:406 Rn. 50 – Rinau; Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 70 – Aguirre Zarraga; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 40 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 – LM; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 43 – OG u. PI; BVerfG, Beschl. v. 01. 12. 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18, BVerfGE 156, 182 Rn. 43 – Europäischer Haftbefehl III; GA Sánchez-Bordona, Schlussanträge v. 04. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:547 Rn. 31 – ML; GA Bot, Schlussanträge v. 06. 09. 2018 – C-386/17, ECLI:EU:C:2018:670 Rn. 52 – Liberato; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (65); Janssens, Principle of Mutual Recognition, S. 142 f.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 662 f.; Regan, duE 2018, 231 (236); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (25); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (212 f.); Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (360): „super-principle to enforce mutual recognition“. Teils wird aus den dahingehenden Äußerungen aber nicht ganz klar, ob sie sich auf das gegenseitige Vertrauen in einem normativen oder einem empirischen Sinne beziehen (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 10. 08. 2017 – C-270/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:628 Rn. 49 – Tupikas; Urt. v. 09. 03. 2017 – C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193 Rn. 50 f. – Pula Parking) oder diese sind (noch) klar auf gegenseitiges Vertrauen in einem tatsächlichen Sinne bezogen (EuGH, Urt. v. 19. 01. 2003 – C-110/01, ECLI:EU:C:2003:357 Rn. 30 – Tennah-Durez; Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 37 – Melloni; Schmidt-Aßmann, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, 263 [269 f.]). 365 EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser; Urt. v. 11. 07. 2008 – C-195/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:406 Rn. 50 – Rinau; Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 70 – Aguirre Zarraga; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 40 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 – LM; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 43 – OG u. PI; Urt. v. 15. 11. 2022 – C-646/20, ECLI:EU:C:2022:879 Rn. 43 – Senatsverwaltung für Inneres und Sport. 366 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (65); Mitsilegas, 6 NJECL 2015, 457 (466); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (212 f.); dies., 20 GLJ 2019, 468 (469).
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
ten angemessen und gleichwertig sind.367 Die Pflicht der Mitgliedstaaten, dies in jedem Einzelfall zu unterstellen, gewährleiste ein reibungsloses Funktionieren der Anerkennungsinstrumente.368 Der letztgenannten Betrachtung ist im Ausgangspunkt zuzustimmen. Es verbleiben aber Unklarheiten. So fällt auf, dass Instrumente der gegenseitigen Anerkennung auch auf völkerrechtlicher Ebene zur Anwendung kommen, ohne dass notwendigerweise entsprechende Vertrauenspflichten zwischen den beteiligten Staaten bestehen. Die Verbindung zwischen gegenseitiger Anerkennung und dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erscheint also nicht zwingend. Nicht vollständig klar wird auch die Abgrenzung der beiden Grundsätze. Offen erscheint insbesondere, wie sich die Anwendungsbereiche der Grundsätze zueinander verhalten und welcher eigenständige rechtliche Gehalt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zukommt. Die Frage nach dem originären rechtlichen Gehalt des Vertrauensgrundsatzes stellt sich besonders vor dem Hintergrund, dass manche Autoren bereits dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung selbst eine inhärente Pflicht zum Verzicht auf gegenseitige Kontrollen entnehmen.369 b) Eigene Betrachtung Beim Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung handelt es sich um eine Regulierungsstrategie, die keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfaltet, sondern einer näheren Ausgestaltung im Primär- oder Sekundärrecht bedarf.370 Starre Vorgaben, wie etwa eine Pflicht, auf eine Nachprüfung der anzuerkennenden Entscheidung zu verzichten, lassen sich dem Grundsatz daher richtigerweise nicht entnehmen.371 Entsprechend weisen die in Umsetzung des Grundsatzes geschaffenen sekundärrechtlichen Instrumente zur gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen hinsichtlich der Prüfungsbefugnisse des zur Anerkennung verpflichteten Mitgliedstaats und der vorgesehenen Ablehnungsgründe eine erhebliche Heterogenität auf.372 Die Verpflichtung der Mit 367
Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (101); Mitsilegas, 6 NJECL 2015, 457 (466); L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (65 f.); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 265. 368 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (65); Lenaerts, duE 2015, 525 (528); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (24); Xanthopoulou, Mutual Trust and Fundamental Rights, S. 20. 369 Harms / Knauss, in: FS Roxin, S. 1479 (1481 f.); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 286; Rohlff, Europäischer Haftbefehl, S. 35; Vogel / Eisele, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 82 AEUV Rn. 23. 370 Hierzu bereits → 1. Kapitel, § 2. C. I. 1. 371 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 467 f. 372 Vgl. zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen tabellarische Übersicht bei Burchard, Konstitutionalisierung, S. 462 f., 467; zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen FrąckowiakAdamska, 52 CMLR 2015, 191; tabellarische Übersicht bei Linton, in: Hess / Bergström / Storskrubb, EU Civil Justice, S. 257 (273 ff.).
§ 2 Systematisierung
101
gliedstaaten, zu vermuten, dass die Gerichte und Behörden der anderen Mitgliedstaaten sich rechtmäßig verhalten haben bzw. verhalten werden, und von einer Nachprüfung der anzuerkennenden Entscheidung jenseits der gesetzlich normierten Anerkennungsvoraussetzungen und Ablehnungsgründe abzusehen, folgt nicht aus dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, sondern aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Auch der EuGH stützt die Vertrauenspflicht sowie das daraus folgende Nachprüfungsverbot in seiner neueren Rechtsprechung nicht (mehr) auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, sondern auf den Vertrauensgrundsatz.373 Die vom EuGH aufgestellten Auslegungsmaximen, die zu einem reibungslosen Funktionieren der jeweiligen Anerkennungsinstrumente beitragen sollen, folgen ebenfalls aus dem Vertrauensgrundsatz.374 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens komplementiert also auf Unionsebene das bereits aus dem Völkerrecht bekannte Instrument der gegenseitigen Anerkennung.375 Seine rechtlichen Wirkungen fördern die praktische Wirksamkeit der primär- und sekundärrechtlichen Anerkennungspflichten und ermöglichen so die Entstehung eines europäischen Rechtsraums ohne Binnengrenzen, in dem mitgliedstaatliche Entscheidungen unter vergleichsweise niedrigschwelligen Voraussetzungen und ohne umfassende Nachprüfung im Anerkennungsstaat frei verkehren. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens lässt sich deshalb auch als eine Art „Metaprinzip“ hinter den einzelnen Anerkennungspflichten beschreiben.376 Was den Anwendungsbereich der beiden Grundsätze betrifft, reicht der sachliche Geltungsbereich des Vertrauensgrundsatzes über die vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erfassten Bereiche hinaus.377 Zwar waren die beiden Grundsätze in ihrer Entstehung eng verbunden; wie bereits gezeigt, hat der EuGH den Vertrauensgrundsatz aber mittlerweile aus seiner ursprünglichen Verknüpfung mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung herausgelöst und schreibt ihm nunmehr Geltung in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen zu.378
373
S. nur EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 – Donnellan; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 42. 374 Hierzu sogleich, → 1. Kapitel, § 2. C. II. 2. 375 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 468; vgl. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 4, die von „komplementäre[n] Grundsätze[n]“ spricht. 376 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 102. 377 Klip, European Criminal Law, S. 110 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 101 f.; Mancano, 40 YEL 2021, 475 (477); Terhechte, EuR 2020, 569 (583); vgl. auch Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (99): „[M]utual trust plays a role at a more fundamental level than mutual recognition.“; a. A. Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 93 f. 378 S. oben → 1. Kapitel, § 1. C., D.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
II. Auslegungssteuerung Schon bei der Betrachtung der verschiedenen Referenzgebiete379 ist deutlich geworden, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens über seinen unmittelbaren Regelungsgehalt hinaus auch als Auslegungsgrundsatz wirkt (→ 1.). Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sich aus den bislang vorliegenden Entscheidungen einige sachbereichsübergreifende Auslegungsmaximen ableiten lassen, die über die entschiedenen Konstellationen hinaus Geltung beanspruchen dürften (→ 2.). 1. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Auslegungsgrundsatz Der Gerichtshof und seine Generalanwälte haben den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in einer Vielzahl von Rechtssachen als Leitlinie bei der Auslegung des Unionsrechts berücksichtigt.380 Bislang ist die auslegungssteuernde Funktion des Vertrauensgrundsatzes primär im Zusammenhang mit der Verwirklichung unionsrechtlicher Anerkennungspflichten im Binnenmarktrecht und im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts relevant geworden.381 Eine entsprechende Wirkung des Grundsatzes auch in anderen Bereichen ist aber keinesfalls ausgeschlossen. Erste Ansätze in diese Richtung lassen sich in den Entscheidungen erkennen, in denen der EuGH aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, Art. 47 Abs. 2 GRCh unter Berufung u. a. auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten herleitet, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen Rechtsschutz durch unabhängige nationale Gerichte zu gewährleisten.382
S. oben → 1. Kapitel, § 1. S. nur EuGH, Urt. v. 15. 11. 2012 – C-456/11, ECLI:EU:C:2012:719 Rn. 28, 35 – Gothaer Allgemeine Versicherung; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 31 ff. – Salzgitter Mannesmann Handel; Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 52 ff. – Bob-Dogi; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 43 ff. – Poltorak; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 82 ff., 100 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 24. 09. 2020 – C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749 Rn. 30 ff. – XC; Urt. v. 09. 09. 2021 – C-422/20, ECLI:EU:C:2021:718 Rn. 35, 45 – RK; Urt. v. 16. 12. 2021 – C-724/19, ECLI:EU:C:2021:1020 Rn. 36 ff., 51 ff. – HP; GA Kokott, Schlussanträge v. 16. 06. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:401 Rn. 40 ff. – Prism Investments; GA Bobek, Schlussanträge v. 02. 09. 2021 – C-338/20, ECLI:EU:C:2021:683 Rn. 43 ff. – Prokuratura Rejonowa Łódź-Bałuty; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 236 f.; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (31). Explizit GA Bobek, Schlussanträge v. 02. 03. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:131 Rn. 63: „Dazu sei darauf hingewiesen, dass sich der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (…) auch als ergänzende Regelung zur Auslegung (…) erweist.“ 381 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (64, 66); Kaufhold, EuR 2012, 408 (410, 429). 382 EuGH, Beschluss v. 17. 12. 2018 – C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 Rn. 67 – Kommission / Polen; vgl. Urt. v. 27. 12. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 43 – ASJP. Hierzu schon oben, → 1. Kapitel, § 1. C. II. 379 380
§ 2 Systematisierung
103
Bei der Interpretation der Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung findet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens regelmäßig im Rahmen der teleologischen Auslegung Berücksichtigung.383 Sinn und Zweck der jeweiligen Anerkennungsinstrumente ist es, die justizielle bzw. behördliche Zusammenarbeit innerhalb der Union zu erleichtern und zu beschleunigen.384 Für die Erreichung dieses Ziels haben die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Legalitätsvermutung und der darauf beruhende Verzicht auf wechselseitige Kontrollen fundamentale Bedeutung. Sie bilden die Grundlage dafür, dass die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet sein können, die Hoheitsakte anderer Mitgliedstaaten in einem vereinfachten Verfahren anzuerkennen und zu vollstrecken.385 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ermöglicht so die Schaffung und Aufrechterhaltung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen, in dem Entscheidungen und Waren frei verkehren.386 In diesem Lichte sind die Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung auszulegen und anzuwenden.387 Daneben zieht der EuGH den Vertrauensgrundsatz auch im Rahmen der systematischen Auslegung heran.388 Der EuGH unterscheidet dabei – anders als im deutschen Rechtskreis üblich – nicht zwischen Auslegung i. e. S. und Rechtsfortbildung, sondern geht von einem weiten Auslegungsbegriff aus.389 Diesem Abschnitt liegt dementsprechend ein weiter europarechtlicher Auslegungsbegriff zugrunde, der nach den Methodenkategorien des deutschen Rechts sowohl die Auslegung als auch die Rechtsfortbildung umfasst. 383
EuGH, Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 40 – Heavyinstall; Urt. v. 16. 12. 2021 – C-724/19, ECLI:EU:C:2021:1020 Rn. 36 ff., 51 ff. – HP; Urt. v. 22. 06. 2022 – C-700/20, ECLI:EU:C:2022:488 Rn. 55 ff. – London Steam-Ship Owners’ Mutual Insurance Association; GA Kokott, Schlussanträge v. 16. 06. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:401 Rn. 40 ff. – Prism Investments; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 236 f. Zum Gewicht der teleologischen Auslegung im Unionsrecht Hess, Eur. ZivilprozessR, S. 201. 384 EuGH, Urt. v. 28. 06. 2012 – C-192/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:404 Rn. 53 – West; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 32 – Salzgitter Mannesmann Handel; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 76 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 32 – Bob-Dogi; Urt. v. 16. 12. 2021 – C-724/19, ECLI:EU:C:2021:1020 Rn. 36 – HP; ErwG 17 Brüssel I-VO. 385 GA Kokott, Schlussanträge v. 16. 06. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:401 Rn. 40 ff. – Prism Investments; Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27). 386 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI: EU:C:2016:198 Rn. 78 – Aran yosi u. Căldăraru; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 – Donnellan; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 84 – Ibrahim u. a. 387 Kaufhold, EuR 2012, 408 (428). 388 EuGH, Urt. v. 15. 11. 2012 – C-456/11, ECLI:EU:C:2012:719 Rn. 28 ff., 35 ff. – Gothaer Allgemeine Versicherung u. a.; Urt. v. 16. 02. 2023 – C-393/21, ECLI:EU:C:2023:104 Rn. 38 ff. – Lufthansa Technik AERO Alzey; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 236 f. 389 BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427 Rn. 21; Herresthal, EuZW 2007, 396 (397); Tonikidis, JA 2013, 598 (603); vgl. auch Calliess, NJW 2005, 929 (931); Gänswein, Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung, S. 68 f.
104
1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
2. Wiederkehrende Auslegungsmaximen Der EuGH hat den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Auslegungsfragen herangezogen. Eine erschöpfende Betrachtung der den Entscheidungen zugrunde liegenden Einzelkonstellationen ist weder möglich noch zielführend. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs lassen sich jedoch einige wiederkehrende Auslegungsmaximen identifizieren, die über die verschiedenen Anerkennungsinstrumente hinweg sachbereichsübergreifende Bedeutung erlangt haben. Es wird deutlich, dass sich hinter dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ein „Bündel von Auslegungsgrundsätzen“ zur Unterstützung einer möglichst reibungslosen horizontalen Zusammenarbeit verbirgt.390 a) Ablehnung der gegenseitigen Anerkennung nur unter engen Voraussetzungen Aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgert der EuGH zunächst, dass die Gründe, die eine Verweigerung der gegenseitigen Anerkennung durch den ersuchten Staat rechtfertigen, auf das „notwendige Minimum“ zu beschränken sind.391 Anerkennung und Vollstreckung sollen der Regelfall sein, während die Ablehnung die klare Ausnahme darstellt. Sofern die jeweils einschlägigen Kooperationsakte Ablehnungsgründe enthalten, erachtet der EuGH diese deshalb unter Berufung auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als grundsätzlich abschließend.392 Einer analogen Anwendung sind die Ablehnungsgründe nicht zugänglich.393 Die vorgesehenen Verweigerungsgründe sind dem Gerichtshof zufolge zudem eng auszulegen, da sie ein Hindernis für die Verwirklichung des Ziels, einen möglichst freien Verkehr behördlicher und justizieller Entscheidungen zu ermöglichen, darstellen.394 Ein Beispiel hierfür bildet die Auslegung des ordre public-Vorbehalts, 390
Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (42). EuGH, Urt. v. 11. 07. 2008 – C-195/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:406 Rn. 50 – Rinau; Kaufhold, EuR 2012, 408 (428); vgl. auch ErwG 22 EUInsVO 2000; ErwG 21 Brüssel IIa-VO. Kritisch Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (375). 392 S. nur EuGH, Urt. v. 13. 10. 2011 – C-139/10, ECLI:EU:C:2011:653 Rn. 33 – Prism Investments zur Brüssel I-VO; Urt. v. 26. 04. 2012 – C-92/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:255 Rn. 104 – Health Service Executive zur Brüssel IIa-VO; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 48 f. – Piotrowski zum RbEuHb; Urt. v. 06. 10. 2021 – C-136/20, ECLI:EU:C:2021:804 Rn. 40 – LU zum RB 2005/214/JI über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen. 393 EuGH, Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 39 – Salzgitter Mannesmann Handel. 394 S. nur EuGH, Urt. v. 23. 10. 2014 – C-302/13, ECLI:EU:C:2014:2319 Rn. 46 – flyLAL für die Brüssel I-VO; Urt. v. 19. 11. 2015 – C-455/15 PPU, ECLI:EU:C:2015:763 Rn. 35 f. – P. zur Brüssel IIa-VO; Urt. v. 08. 12. 2020 – C-584/19, ECLI:EU:C:2020:1002 Rn. 64 – A. u. a. zur RL 2014/41/EU über die EEA; Urt. v. 14. 11. 2013 – C-60/12, ECLI:EU:C:2013:733 Rn. 29 f. – Baláž zum RB 2005/214/JI über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 37 ff. – 391
§ 2 Systematisierung
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den einige Anerkennungsinstrumente im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen (noch) vorsehen.395 Diesen hat der EuGH auf Fälle beschränkt, in denen die Anerkennung der Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stünde.396 Damit das Verbot, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in der Sache nachzuprüfen, gewahrt bleibt, muss es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln.397 b) Vermutung für eine bestimmte Verantwortungsteilung Der EuGH entnimmt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zudem ein bestimmtes „Idealbild“ im Hinblick auf die Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten bei der behördlichen und justiziellen Zusammenarbeit.398 Dieses zieht er zur Auslegung der Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung sowie zum Füllen von Regelungslücken heran. Das ordnungsgemäße Funktionieren der Anerkennungssysteme, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen, setzt nach Auffassung des Gerichtshofs voraus, dass es im Grundsatz allein den Gerichten bzw. Behörden des Ursprungsmitgliedstaates obliegt, ihre Zuständigkeit zu beurteilen399 sowie eine Entscheidung in der Sache zu treffen.400 Auch für die Gewährleistung der GrundHeavyinstall für die RL 2010/24/EU; Urt. v. 10. 08. 2017 – C-270/17, ECLI:EU:C:2017:628 Rn. 50 – Tupikas; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 43 f. – KL zum RbEuHb. 395 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (33). Ordre public-Vorbehalte finden sich z. B. in Art. 45 Abs. 1 lit. a Brüssel Ia-VO, Art. 26 EUInsVO 2000 und Art. 33 EuInsVO 2015. 396 EuGH, Urt. v. 28. 03. 2000 – C-7/98, ECLI:EU:C:2000:164 Rn. 37 – Krombach; Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 63 – Eurofood IFSC; Urt. v. 23. 10. 2014 – C-302/13, ECLI:EU:C:2014:2319 Rn. 49 – flyLAL. 397 EuGH, Urt. v. 28. 03. 2000 – C-7/98, ECLI:EU:C:2000:164 Rn. 37 – Krombach; Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 63 – Eurofood IFSC; Urt. v. 23. 10. 2014 – C-302/13, ECLI:EU:C:2014:2319 Rn. 49 – flyLAL; im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH BGH, Urteil vom 10. 09. 2015 – IX ZR 304/13, NZI 2016, 93 Rn. 10; zustimmend Deppenkemper, in: Uhlenbruck, InsO, Art. 33 EuInsVO Rn. 5. 398 Klip, European Criminal Law, S. 111. 399 EuGH, Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 41 – Eurofood IFSC; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 29 – MG Probud; Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24 Rn. 45 – Liberato; Urt. v. 03. 10. 2019 – C-759/18, ECLI:EU:C:2019:816 Rn. 32 – OF; Urt. v. 21. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 85 ff. – Puig Gordi u. a. 400 EuGH, Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 33 – Salzgitter Mannesmann Handel; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 52 – Piotrowski; Urt. v. 16. 12. 2021 – C-724/19, ECLI:EU:C:2021:1020 Rn. 53 – HP; Urt. v. 16. 02. 2023 – C-393/21, ECLI:EU:C:2023:104 Rn. 41 – Lufthansa Technik AERO Alzey.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
rechte ist in erster Linie der Ursprungsstaat verantwortlich.401 Die Behörden und Gerichte des Mitgliedstaates, der zur Anerkennung der Entscheidung verpflichtet ist, dürfen die Zuständigkeit und die Entscheidung in der Sache grundsätzlich nicht nachprüfen.402 Teils sehen die sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente entsprechende Regelungen (mittlerweile) ausdrücklich vor,403 im Übrigen entnimmt der EuGH ihnen diese Aufgabenteilung im Wege der teleologischen oder systema tischen Auslegung. Die klare Verantwortungsteilung dient dazu, doppelte Prüfungen und Kontrollen zu vermeiden und so eine schnelle und effiziente Zusammenarbeit zu ermöglichen. Unter Berufung auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nimmt der EuGH auch eine ergänzende Auslegung der Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung vor, um diese Struktur gegen Beeinträchtigungen und Umgehungen abzusichern.404 So zieht er etwa den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens heran, um zu begründen, dass sog. Anti-Suit Injunctions mit den sekundärrechtlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit unvereinbar sind. Mit diesen Verfügungen gehe ein mit dem gegenseitigen Vertrauen unvereinbarer Eingriff in die sekundärrechtlich normierte Zuständigkeit der Gerichte anderer Mitgliedstaaten einher.405 c) Subsidiarität des Rechtsschutzes im Anerkennungsstaat Aus dem soeben beschriebenen Idealbild einer föderalen Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten406 leitet der EuGH auch Implikationen für den Einzelnen ab: Dieser habe vor einer etwaigen Berufung auf einen Ausnahmetatbestand oder eine Nachprüfung im Anerkennungsstaat vorrangig Rechtsschutz in dem Mitgliedstaat zu suchen, der die anzuerkennende Entschei-
401
EuGH, Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 50 – Piotrowski; Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 55 – Gavanozov II; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 65 – KL; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU: C:2023:57 Rn. 54 – Puig Gordi u. a.; Urt. v. 23. 03. 2023 – C-514/21 u. C-515/21, E CLI: EU:C:2023:235 Rn. 57 – LU u. PH. 402 S. nur EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 26, 28 – Turner; Urt. v. 15. 11. 2012 – C-456/11, ECLI:EU:C:2012:719 Rn. 35 – Gothaer Allgemeine Versicherung; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 33 – Salzgitter Mannesmann Handel; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 46 – Donnellan; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 44 – Heavyinstall; Urt. v. 16. 02. 2023 – C-393/21, ECLI:EU:C:2023:104 Rn. 41 – Lufthansa Technik AERO Alzey. 403 S. etwa Art. 45 Abs. 2 Brüssel I-VO; Art. 26 Brüssel IIa-VO; Art. 52 Brüssel Ia-VO. 404 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (33). 405 EuGH, Urt. v. 27. 04. 2004 – C-159/02, ECLI:EU:C:2004:228 Rn. 27 f. – Turner; Urt. v. 10. 02. 2009 – C-185/07, ECLI:EU:C:2009:69 Rn. 29 f. – Allianz; Urt. v. 13. 05. 2015 – C-536/13, ECLI:EU:C:2015:316 Rn. 34 – Gazprom; Urt. v. 19. 10. 2018 – C-325/18, ECLI: EU:C:2018:379 Rn. 90 – C. E. u. N. E. 406 Zur föderalen Dimension des Vertrauensgrundsatz s. näher unten, → 1. Kapitel, § 3. D.
§ 2 Systematisierung
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dung erlassen hat.407 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erlaube es nämlich, davon auszugehen, dass das Rechtssystem des Erststaats dem Einzelnen im Fall einer falschen Anwendung des nationalen Rechts oder des Unionsrechts ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten bietet.408 Die Ablehnung der gegenseitigen Anerkennung durch den Anerkennungsstaat ist also gewissermaßen „subsidiär“ gegenüber der Erschöpfung des Rechtswegs im Ursprungsstaat.409 Etwas anderes kann nur ausnahmsweise bei Vorliegen besonderer Umstände gelten, die das Einlegen von Rechtsbehelfen im Ursprungsmitgliedstaat zu sehr erschweren oder unmöglich machen.410 d) Mindestanforderungen an die entscheidende Stelle im Ursprungsmitgliedstaat Die bisher herausgearbeiteten Auslegungsmaximen lassen erkennen, dass der EuGH die auslegungssteuernde Wirkung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens primär im Hinblick auf die Absicherung der praktischen Wirksamkeit der Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung entfaltet hat. Dieser Fokus des Gerichtshofs auf dem effet utile der Anerkennungsinstrumente wird häufig dafür kritisiert, dass er sich einseitig zulasten der Rechtsposition des Einzelnen auswirke.411 Tatsächlich zieht der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens aber auch heran, um im Wege der Auslegung Mindestanforderungen an die entscheidende Stelle im Ursprungsmitgliedstaat herzuleiten, die auch zum Schutz des Einzelnen beitragen. Der Gerichtshof erkennt damit implizit an, dass die Verpflichtung zum gegenseitigen Vertrauen der Absicherung durch bestimmte Mindeststandards bedarf.
407
EuGH, Urt. v. 20. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 43 – Eurofood IFSC; Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 70 ff. – Aguirre Zarraga; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 35 – Salzgitter Mannesmann Handel; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 62 ff. – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni; zustimmend Britz, JZ 2013, 105 (110). 408 EuGH, Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 49, 63 f. – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 47 – Meroni. 409 Düsterhaus, ZEuP 2018, 10 (23) sieht das Gebot der Rechtswegerschöpfung „auf dem Weg zum Verfassungsprinzip“. 410 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 68 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni. 411 S. nur Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (54 f.); Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (375).
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
aa) Begriff des „Gerichts“ Ein Beispiel bildet die Auslegung des Begriffs des „Gerichts“ i. S. d. Brüssel Ia-VO,412 der EuVTVO413 und der EuErbVO.414 Der EuGH nimmt an, dass die Wahrung des den Verordnungen zugrunde liegenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in die ordnungsgemäße Rechtspflege der Mitgliedstaaten voraussetzt, dass die zu vollstreckenden Entscheidungen in einem gerichtlichen Verfahren ergangen sind, das die Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bietet und in dem der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gewahrt wird.415 Diese Auslegung soll sicherstellen, dass der Einzelne zumindest im Ursprungsstaat die Möglichkeit hatte, sich vor einem unabhängigen Gericht gegen die anzuerkennende Entscheidung zu verteidigen. Entscheidungen, die diesen Anforderungen nicht genügen, sind nicht vollstreckbar. Der Begriff des „Gerichts“ dürfte in anderen Rechtsakten zur gegenseitigen Anerkennung, die ebenfalls auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen, entsprechend zu verstehen sein. Dafür spricht – neben der Förderung der Kohärenz im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts –, dass auch diese Instrumente eine erleichterte Vollstreckung ohne erneute gerichtliche Nachprüfung der Entscheidung vorsehen, weshalb es einer Sicherung der Rechte des Einzelnen durch ein unabhängiges und unparteiliches Gericht im Ursprungsmitgliedstaat bedarf. bb) Begriff der „Justizbehörde“ Daneben hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch zur Auslegung des Begriffs der „Justizbehörde“ herangezogen. Dieser sei nicht allein auf die Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern erfasse darüber hinaus auch die Behörden, die in der betreffenden Rechtsordnung zur Mitwirkung an der Strafrechtspflege berufen sind.416 Auf Exekutivorgane wie Polizeibehörden oder Ministerien eines Landes könne er aber nicht erstreckt werden.417
412
EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193 Rn. 54 – Pula Parking. EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-484/15, ECLI:EU:C:2017:199 Rn. 43 – Zulfikarpašić. 414 EuGH, Urt. v. 23. 05. 2019 – C-658/17, ECLI:EU:C:2019:444 Rn. 50 ff. – WB. 415 EuGH, Urt. v. 09. 03. 2017 – C-551/15, ECLI:EU:C:2017:193 Rn. 54 – Pula Parking; Urt. v. 09. 03. 2017 – C-484/15, ECLI:EU:C:2017:199 Rn. 43 – Zulfikarpašić. 416 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 33 – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 34 – Kovalkovas; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 50 f. – OG u. PI; Urt. v. 12. 12. 2019 – C-566/19 PPU u. C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077 Rn. 52 – JR u. YC; Urt. v. 24. 11. 2020 – C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953 Rn. 42 – AZ. 417 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 34 – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 35 – Kovalkovas; Urt. v. 24. 11. 2020 – C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953 Rn. 42 – AZ. 413
§ 2 Systematisierung
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Diese Auslegung hat der Gerichtshof in Bezug auf Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 RbEuHb entwickelt und damit begründet, dass, wenn ein Europäischer Haftbefehl von einer Exekutivbehörde ausgestellt würde, für den vollstreckenden Mitgliedstaat nicht die Gewissheit bestünde, dass vor dessen Ausstellung eine justizielle Kontrolle erfolgt ist.418 Es bestehe dann keine Rechtfertigung für das dem Rahmenbeschluss zugrunde liegende hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.419 Es spricht viel dafür, dass die vom EuGH zum Europäischen Haftbefehl gefundene Definition der „Justizbehörde“ für alle Instrumente der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, denen der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zugrunde liegt, Geltung beansprucht.420 Der EuGH stützt diese Definition nämlich nicht auf bestimmte Charakteristika des Europäischen Haftbefehls, sondern darauf, dass der mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehende Prüfungsverzicht im Vollstreckungsmitgliedstaat eine vorhergehende justizielle Kontrolle im Ursprungsmitgliedstaat erfordert. Diese Argumentation lässt sich auch auf die vertrauensbasierte Anerkennung anderer justizieller Entscheidungen in Strafsachen übertragen. Gleichzeitig dient eine einheitliche Auslegung des Begriffs über die verschiedenen Instrumente der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen hinweg der Kohärenz innerhalb dieses Sachbereichs. cc) Aber: Kein aus dem Vertrauensgrundsatz folgendes allgemeines Unabhängigkeitserfordernis Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens voraussetzt, dass die an der vertrauensbasierten Zusammenarbeit beteiligten mitgliedstaatlichen Behörden unabhängig sind. In diesem Sinne könnte man die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Europäischen Haftbefehl verstehen. Der EuGH nimmt an, dass sowohl die Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls als auch die Entscheidung über seine Vollstreckung von einer Justizbehörde zu treffen ist, die den Anforderungen, die mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einhergehen – u. a. der Unabhängigkeitsgarantie –, genügt.421 Folglich müssen sowohl die ausstellenden als auch die vollstreckenden Justizbehörden i. S. v. Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 RbEuHb die Gewähr dafür bieten, dass sie bei der Ausübung ihrer mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls
Hierzu ausführlich bereits oben, s. → 1. Kapitel, § 1. B. II. 2. b). EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-452/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:858 Rn. 45 – Poltorak; Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16 PPU, ECLI:EU:C:2016:761 Rn. 44 – Kovalkovas; Mitsilegas, 57 CMLR 2020, 45 (64). 420 Mitsilegas, 57 CMLR 2020, 45 (64). In der Entscheidung zum Begriff der Justizbehörde in der RL 2014/41/EU über die EEA nahm der EuGH auf die vorliegend diskutierten Anforderungen zwar keinen Bezug, dies war angesichts der Umstände des Falles und der Vorlagefrage aber auch nicht veranlasst. 421 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 56 – LM. 418 419
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
verbundenen Aufgaben unabhängig handeln.422 Die Frage ist, ob sich diesen Entscheidungen entnehmen lässt, dass sich mitgliedstaatliche Behörden nur – im rechtlichen Sinne – „vertrauen“ dürfen, wenn sie unabhängig sind. Das ist richtigerweise zu verneinen. Die Unabhängigkeit der handelnden Behörde ist keine allgemeine, unabdingbare Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens.423 Auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs kann nicht so verstanden werden. Dass die ausstellende und die vollstreckende Justizbehörde i. S. v. Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 RbEuHb unabhängig sein müssen, begründet der EuGH bei näherem Hinsehen nicht mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, sondern mit der Funktion, die den Justizbehörden speziell im System des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zukommt. Das Unabhängigkeitserfordernis folgt daraus, dass die ausstellenden und vollstreckenden Justizbehörden hier besonders intensive Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen in Form des Freiheitsentzugs zu verantworten haben.424 Auf andere Instrumente der Zusammenarbeit kann diese Anforderung nicht automatisch übertragen werden.425 In Bezug auf die RL 2014/41/EU hat der EuGH deshalb entschieden, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung auch von einer Justizbehörde ausgestellt werden kann, die Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen ist.426 Die Abweichung von den Entscheidungen über den Europäischen Haftbefehl begründete der EuGH u. a. damit, dass die Europäische Ermittlungsanordnung – abgesehen von dem Sonderfall der zeitweiligen Überstellung von inhaftierten Personen zum Zwecke der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme – anders als ein Europäischer Haftbefehl nicht geeignet ist, das in Art. 6 GRCh verankerte Recht der betroffenen Person auf Freiheit zu beeinträchtigen.427 Gegen ein sachbereichsübergreifendes Unabhängigkeitserfordernis spricht auch, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nicht nur im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit, sondern auch in Politikbereichen Anwendung findet, in denen klassischerweise weisungsabhängige Verwaltungsbehörden handeln. Dies betrifft etwa die Vollziehung der Dublin-Verordnung und der Aufnahme-RL428 und die Anwendungsbereiche des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens im Binnen 422
EuGH, Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 73 – OG u. PI; Urt. v. 27. 05. 2019 – C-509/18, ECLI:EU:C:2019:457 Rn. 52 – PF; Urt. v. 12. 12. 2019 – C-566/19 PPU u. C-626/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:1077 Rn. 52 – JR u. YC; Urt. v. 24. 11. 2020 – C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953 Rn. 54 – AZ. 423 Ladenburger, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (167); ders., ZEuS 2020, 373 (385 f.). 424 Vgl. EuGH, Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 71 ff. – OG u. PI; Urt. v. 24. 11. 2020 – C-510/19, ECLI:EU:C:2020:953 Rn. 47 ff. – AZ; missverständlich EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI: EU:C:2020:1033 Rn. 38 – L. u. P. 425 A. A. Mitsilegas, 57 CMLR 2020, 56 (69 f.). 426 EuGH, Urt. v. 08. 12. 2020 – C-584/19, ECLI:EU:C:2020:1002 Rn. 74 f. – A. u. a. 427 EuGH, Urt. v. 08. 12. 2020 – C-584/19, ECLI:EU:C:2020:1002 Rn. 73 – A. u. a. 428 Zur Rolle des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens im GEAS s. bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. B. III.
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marktrecht,429 etwa im Hinblick auf die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen.430 Es ist somit keine Vorbedingung für ein auf gegenseitigem Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten basierendes System, dass die kooperierenden mitgliedstaat lichen Stellen einen bestimmten Grad an Unabhängigkeit aufweisen.431 Dem europäischen Gesetzgeber steht es aber selbstverständlich frei, in einzelnen Sachbereichen strengere Anforderungen an die Unabhängigkeit der kooperierenden Stellen zu normieren.432 III. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Grundlage ungeschriebener (Kooperations-)Pflichten Der EuGH leitet aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zunehmend ungeschriebene (Kooperations-)Pflichten der beteiligten Mitgliedstaaten ab.433 Er gibt den Mitgliedstaaten positive Integrationsleistungen auf, die die verschiedenen Kooperationsinstrumente im Interesse der praktischen Wirksamkeit der horizontalen Zusammenarbeit ergänzen.434 Ihrem Inhalt nach lassen sich diese Pflichten in zwei Kategorien einteilen. 1. Informations- und Berücksichtigungspflichten Treten im Rahmen der mitgliedstaatlichen Kooperation Unklarheiten oder Probleme auf, nimmt der Gerichtshof eine Verpflichtung der nationalen Stellen an, untereinander in einen Dialog zu treten, um die erforderlichen Informationen auszutauschen und etwaige Bedenken möglichst auszuräumen.435 Benötigt beispielsweise ein Gericht zur Beurteilung seiner Zuständigkeit Informationen über ein in einem anderen Mitgliedstaat anhängiges Verfahren, ist es angesichts des Umstands, dass die sekundärrechtlichen Zuständigkeitsregime auf dem Grundsatz Hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. A. Ladenburger, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (167); ders., ZEuS 2020, 373 (385). 431 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (385 f.). 432 Ladenburger, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (168); ders., ZEuS 2020, 373 (386). 433 Anders als in den soeben (→ 1. Kapitel, § 2. C. II.) diskutierten Beispielen wirkt der Vertrauensgrundsatz hier nicht nur als Leitlinie bei der Auslegung der sekundärrechtlichen Anerkennungs instrumente, sondern als eigenständiges Rechtsprinzip, aus dem der EuGH unmittelbare Rechtsfolgen ableitet, auch wenn es an entsprechenden Kooperationspflichten im Sekundärrecht fehlt. 434 F. Meyer, EuR 2017, 163 (172). 435 EuGH, Urt. v. 09. 11. 2010 – C-296/10, ECLI:EU:C:2010:665 Rn. 81 – Purrucker II; GA Pikamäe, Schlussanträge v. 23. 03. 2023 – C-87/22, ECLI:EU:C:2023:248 Rn. 84 – TT; Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (692); Mitsilegas, 57 CMLR 2020, 45 (68); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 178 ff. 429 430
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
des gegenseitigen Vertrauens zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten beruhen, verpflichtet, sich mit dem Gericht des anderen Mitgliedstaats in Verbindung zu setzen und es darum zu ersuchen, ihm die benötigten Informationen zu übermitteln.436 Fehlen der vollstreckenden Behörde Angaben zum Vorliegen bestimmter Vollstreckungsvoraussetzungen, muss sie vor einer Ablehnung der Vollstreckung zunächst bei der ausstellenden Stelle um zusätzliche Informationen nachsuchen um aufzuklären, ob die erforderlichen Voraussetzungen ggfs. tatsächlich vorliegen, aber nicht aufgeführt wurden.437 Spiegelbildlich hierzu sind die entscheidenden mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet, die von anderen Mitgliedstaaten erteilten Informationen in ihrer Prüfung und Entscheidung zu berücksichtigen. Zum Beispiel muss das Gericht, das nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO für die endgültige Entscheidung über die Rückgabe eines Kindes zuständig ist, auch die Gründe und Beweismittel berücksichtigen, die der vorhergehenden Entscheidung des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats zugrunde lagen.438 Die Berücksichtigung aller in den beteiligten Mitgliedstaaten vorliegenden Informationen trägt dazu bei, die Anerkennung und Vollstreckung der finalen Entscheidung im Einklang mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu rechtfertigen.439 Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bildet insoweit einen Sonderfall, als er in Art. 15 Abs. 2 RbEuHb einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt für eine Pflicht zum Informationsaustausch zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde vorsieht. Danach muss die vollstreckende Justizbehörde, sofern sie der Ansicht ist, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen bitten (Art. 15 Abs. 2 RbEuHb). Der EuGH betont in Anknüpfung hieran die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, im Hinblick auf eine wirksame Zusammenarbeit umfassend von diesem Instrument Gebrauch zu machen, um das gegenseitige Vertrauen zu fördern, das der horizontalen Zusammenarbeit zugrunde liegt.440 Über die gesetzliche Regelung in Art. 15 Abs. 2 RbEuHb hinaus verpflichtet der Gerichtshof die ausstellende Justizbehörde, die angefragten Informationen tatsächlich zu erteilen.441 Die vollstreckende Justizbehörde muss sich wiederum auf die von der ausstellenden Justizbehörde erteilten Informationen und etwaige von 436
EuGH, Urt. v. 09. 11. 2010 – C-296/10, ECLI:EU:C:2010:665 Rn. 81 – Purrucker II. EuGH, Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 64 ff. – Bob-Dogi. 438 EuGH, Urt. v. 01. 07. 2010 – C-211/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:400 Rn. 59 – Povse. 439 EuGH, Urt. v. 01. 07. 2010 – C-211/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:400 Rn. 59 – Povse. 440 EuGH, Urt. v. 22. 10. 2017 – C-571/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:1026 Rn. 91 – Ardic; Urt. v. 06. 12. 2018 – C-551/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:991 Rn. 63 – IK; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 46 – X. u. Y.; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 132 – Puig Gordi. 441 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 97 – Aranyosi u. Căldăraru; Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (338); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 563. 437
§ 2 Systematisierung
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dieser abgegebene Zusicherungen angesichts der Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen grundsätzlich verlassen.442 Teils erfahren die in der Rechtsprechung zunächst im Wege der Rechtsfortbildung entwickelten Informationspflichten nachfolgend eine Kodifizierung durch den Sekundärrechtsgesetzgeber. So enthält die Nachfolgeregelung der Brüssel IIaVO, die seit 1. August 2022 geltende Brüssel IIb-VO, auch in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs in ihrem Kapitel V (Art. 76 ff. Brüssel IIb-VO) Regelungen zur Zusammenarbeit mitgliedstaatlicher Stellen bei Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung.443 2. Pflicht zu vertrauenswürdigem Verhalten Der EuGH entnimmt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zudem verschiedene ungeschriebene Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die sich unter die Überschrift einer „Pflicht zu vertrauenswürdigem Verhalten“ fassen lassen.444 a) Prüf- und Begründungspflichten Wohl um Irritationen bei der mitgliedstaatlichen Kooperation bereits präventiv entgegenzuwirken und eine gewisse Basis für die Vertrauenspflicht zu schaffen, entnimmt der Gerichtshof dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bestimmte Prüf- und Begründungspflichten für die Behörden bzw. Gerichte, deren Entscheidungen von einem anderen Mitgliedstaat anzuerkennen sind. So nimmt der EuGH in Bezug auf die vereinheitlichten Zuständigkeitsregime an, dass es dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens inhärent sei, dass die angerufenen mitgliedstaatlichen Gerichte ihre Zuständigkeit sorgfältig prüfen.445 442
EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 112 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 68 f. – Dorobantu. 443 Vgl. Brosch, GPR 2020, 179 (188 f.). 444 Vgl. GA Bobek, Schlussanträge v. 29. 04. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:346 Rn. 91 – Gavazonov II: „[W]er das System der Rechtshilfe und der gegenseitigen Anerkennung gemäß der Richtlinie 2014/41 oder auch gemäß irgendeinem anderen Instrument der justiziellen Zusammenarbeit und gegenseitigen Anerkennung in Anspruch nehmen will, muss, um eine Metapher zu gebrauchen, eine reine Weste haben, oder vielmehr, darf nicht wissentlich ‚mit schmutziger Weste‘ kommen.“ Ähnlich zuvor bereits Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (78): „That obligation of trust includes a commitment to ‚refrain‘ from cheating in the blind spots of our commonly agreed standards“, unter Bezugnahme auf Nicolaïdis, 14 J. Eur. Publ. Pol. 2007, 682 (683). 445 EuGH, Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 41 – Eurofood IFSC; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 29; Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 73 – Purrucker I; Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C: 2019:24 Rn. 44 – Liberato; Urt. v. 03. 10. 2019 – C-759/18, ECLI:EU:C:2019:816 Rn. 32 – OF. Zustimmend Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (371, 373).
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Dass diese Prüfung erfolgt ist und welche Vorschriften hierbei angewendet wurden, muss aus der im Ursprungsstaat erlassenen Entscheidung klar hervorgehen.446 Im Gegenzug verlange der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, dass die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die Zuständigkeit dieses Gerichts ohne eigene Prüfung anerkennen.447 Sorgfaltspflicht und Vertrauensgewährung stehen hier also im Verhältnis der Reziprozität.448 Ähnlich argumentiert der EuGH im Zusammenhang mit Entsendebescheinigungen für Arbeitnehmer nach der VO (EWG) 1408/71 bzw. deren Nachfolgeregelung, der VO (EG) 883/2004.449Auch hier entnimmt er dem Grundsatz der „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ eine Verpflichtung des zuständigen Sozialversicherungsträgers, den entscheidungserheblichen Sachverhalt ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten.450 Außerdem müsse der Sozialversicherungsträger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung ausgestellt hat, diese ggfs. zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in den der Arbeitnehmer entsandt ist, berechtigte Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und der darin gemachten Angaben geltend macht.451 b) Vermeidung von Ablehnungsfällen Der EuGH entnimmt dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zudem eine Pflicht der Mitgliedstaaten, vor dem Erlass von Entscheidungen, die in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden sollen, im Interesse einer vertrauensvollen Zusammenarbeit sicherzustellen, dass die einschlägigen unionsrechtlichen Anforderungen gewahrt sind und sich aus seiner Sphäre keine Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung durch die anderen Mitgliedstaaten ergeben.452
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EuGH, Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 73 – Purrucker I. EuGH, Urt. v. 02. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 42 – Eurofood IFSC; Urt. v. 21. 01. 2010 – C-444/07, ECLI:EU:C:2010:24 Rn. 29 – MG Probud; Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 74 – Purrucker I. 448 Zipperer, ZIP 2021, 231 (234). 449 Hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. A. II. 2. 450 EuGH, Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 89 – Kommission / Belgien; Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 42 – Altun u. a. 451 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 43 – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 90 – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 64 – CRPNPAC. Der EuGH stützt diese Verpflichtung teilweise auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV, dem er aber auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens entnimmt. Zum Verhältnis der beiden Grundsätze s. unten, → 2. Kapitel, § 2. 452 EuGH, Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 51 ff. – Gavanozov II; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 55 – Puig Gordi u. a. 447
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Verdeutlichen lässt sich das an einem Fall, den der EuGH zur Europäischen Ermittlungsanordnung entschieden hat: Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 14 RL 2014/41/EU i. V. m. Art. 47 GRCh unionsrechtlich verpflichtet, einen Rechtsbehelf gegen die Anordnung einer Europäischen Ermittlungsanordnung zum Zweck der Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen und zum Zweck der Zeugenvernehmung vorzusehen.453 Sehen die einschlägigen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unionsrechtswidrig keinen entsprechenden Rechtsbehelf vor, müssten die anderen Mitgliedstaaten die Vollstreckung der von diesem Staat ausgestellten Ermittlungsanordnungen systematisch ablehnen (Art. 11 Abs. 1 lit. f RL 2014/41/EU).454 Eine solche Folge liefe nach Auffassung des EuGH dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zuwider.455 Dem Mitgliedstaat sei es in dieser Situation verwehrt, Europäische Ermittlungsanordnungen auszustellen. Der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung, bei der berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung mangels Rechtsbehelfen im Ausstellungsstaat zu einem Verstoß gegen Art. 47 GRCh führen würde und deren Vollstreckung daher vom Vollstreckungsmitgliedstaat versagt werden müsste, wäre – so der Gerichtshof – nicht mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens vereinbar.456 In Anknüpfung an diese Entscheidung hat der EuGH in einer Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl entschieden, dass die ausstellende Justizbehörde nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens keine Europäischen Haftbefehle ausstellen oder aufrechterhalten dürfe, deren Vollstreckung wegen Grundrechtsverletzungen abgelehnt werden müsste.457 Ein weiteres Beispiel bilden die Anforderungen an die Qualität des mitgliedstaatlichen Rechtsschutzes, die der EuGH u. a. mit der Pflicht der Mitgliedstaaten begründet, die volle Anwendung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zu gewährleisten.458 IV. Privilegierung der Beziehungen der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beansprucht nur im Verhältnis der Mitgliedstaaten der Union Anwendung, nicht aber in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten.459 Er bedingt damit zugleich eine Privilegierung der Beziehungen 453
EuGH, Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 24 ff. – Gavanozov II. EuGH, Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 59 – Gavanozov II. 455 EuGH, Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 59 – Gavanozov II. 456 EuGH, Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 60 – Gavanozov II. 457 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 55, 142 – Puig Gordi u. a. 458 S. oben, → 1. Kapitel, § 1. C. II. 459 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 129 – CETA; Urt. v. 29. 04. 2021 – C-665/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339 Rn. 55, 59 – X; GA Bot, Schlussanträge v. 23. 01. 2021 – C-603/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:126 Rn. 63 – SS. Ausnahme sind sog. privilegierte Drittstaaten, s. hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. A. II. 454
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
zwischen den Mitgliedstaaten gegenüber ihren Beziehungen mit Drittstaaten.460 Die Pflicht zum wechselseitigen Vertrauen in die mitgliedstaatliche Rechtsanwendung und die innerstaatlichen Rechtsordnungen ist Ausdruck einer qualitativen Hervorhebung der anderen Mitgliedstaaten im Vergleich zu sonstigen Staaten.461 Diese Privilegierung ist einerseits ein Reflex des Regelungsgehalts und der bereits beschriebenen normativen Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes. Wie in den zuvor besprochenen Entscheidungen zum Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV)462 gezeigt, leitet der EuGH aus der besonderen Qualität der vertrauensbasierten mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit aber wiederum Rechtsfolgen ab, konkret etwa eine Begrenzung des Spielraums der Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung von Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts. Rechtfertigungsansätze, die die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Zusammenarbeit mit Drittstaaten gleichstellen, ohne zu berücksichtigen, dass in der auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhenden mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit ungleich weniger Schwierigkeiten zu erwarten sind als in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten, sind durch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens „gesperrt“. Es ist den Mitgliedstaaten also verwehrt, die durch den Vertrauensgrundsatz bewirkte, besondere Privilegierung ihrer Beziehungen auf diesem Wege in Frage zu stellen.
D. Verpflichtete Zuletzt sollen die durch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichteten Akteure in den Blick genommen werden. Die primären Verpflichtungsadressaten des Vertrauensgrundsatzes sind klar die Mitgliedstaaten. Fraglich ist, ob er darüber hinaus auch für die Union, insbesondere den Europäischen Gesetzgeber, Bindungswirkung entfaltet. I. Mitgliedstaaten 1. Sämtliche mitgliedstaatlichen Hoheitsträger Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bindet sämtliche Hoheitsträger der Mitgliedstaaten.463 460
Röben, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 67 AEUV Rn. 96. Kullak, Vertrauen in Europa, S. 222 f.; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (92); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 691 f. 462 EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 – ZW; Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a.; Beschl. v. 16. 05. 2022 – C-724/21, ECLI:EU:C:2022:393 – RV. Hierzu ausführlich bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. C. III. 463 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 70; Rizcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (39). 461
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a) Exekutive und Judikative In erster Linie richtet sich der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens an die nationalen Verwaltungsbehörden und Rechtspflegeorgane, die ihn bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit den Stellen anderer Mitgliedstaaten und bei der Auslegung des einschlägigen Unionsrechts zu beachten haben.464 Er enthält seinem Regelungsgehalt nach hauptsächlich Vorgaben für die zuständigen Stellen im ersuchten Staat, die den anderen Mitgliedstaaten Vertrauen entgegenzubringen und deren Rechtstreue zu vermuten haben.465 Für die mitgliedstaatlichen Stellen im Ursprungsstaat können sich im Einzelfall aber ebenfalls Prüf-, Begründungsund Auskunftspflichten ergeben.466 Teilweise enthalten die zur Kooperation verpflichtenden primär- und sekundärrechtlichen Vorschriften nähere Vorgaben hinsichtlich der Verpflichtungsadressaten.467 So richten sich die Vorschriften zur justiziellen Zusammenarbeit etwa teils explizit an die Justizbehörden468 oder die mitgliedstaatlichen Gerichte.469 Soweit das Unionsrecht keine (abschließenden) Vorgaben hinsichtlich der handelnden Stellen trifft, obliegt die Bestimmung der zuständigen Stellen den Mitgliedstaaten.470 Darüber hinaus sind die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, den rechtlichen Wirkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens Rechnung zu tragen, soweit sie gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleisten.471 Die Gerichte dürfen in Rechtsbehelfsverfahren gegen mitgliedstaatliches Kooperationshandeln ebenfalls keine über die Kontrollbefugnisse der zuständigen mitgliedstaatlichen Stelle hinaus gehenden Nachprüfungen anstellen. b) Nationaler Gesetzgeber Daneben entfaltet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch Wirkungen für den nationalen Gesetzgeber.472 Soweit primär- oder sekundärrechtlich begrün 464
Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 117 f.; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 70; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 98; vgl. Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 18. 465 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 98. 466 S. nur EuGH, Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 73 – Purrucker I; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 97 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 89 – Kommission / Belgien. Ausführlich hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. C. III. 467 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 98. 468 Vgl. etwa Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 RbEuHb. 469 Vgl. etwa Art. 28 ff. Brüssel IIa-VO. 470 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 98. 471 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 99. 472 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 70.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
dete Anerkennungspflichten bestehen, untersagt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Zusammenwirken mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts die Einführung oder Aufrechterhaltung von im Unionsrecht nicht vorgesehenen Kontroll- oder Nachprüfungspflichten.473 Der nationale Gesetzgeber hat das mitgliedstaatliche Recht, das zur Umsetzung von Anerkennungsinstrumenten ergeht, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen, so auszugestalten, dass dem Vertrauensgrundsatz Rechnung getragen wird. Auch über die gegenseitige Anerkennung hinaus muss der Gesetzgeber die Implikationen des Vertrauensgrundsatzes beachten, etwa bei der Normierung von Einschränkungen des in Art. 21 AEUV normierten Freizügigkeitsrechts.474 Etwaige dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens widersprechende, unionsrechtswidrige mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften sind – soweit eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht kommt – aufzuheben.475 2. Bezug zum Unionsrecht Weitgehend ungeklärt ist, in welchen Situationen die Mitgliedstaaten an den Vertrauensgrundsatz gebunden sind. Klar erscheint im Ausgangspunkt, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nur in Konstellationen Geltung beanspruchen kann, die einen gewissen Bezug zum Handeln eines anderen Mitgliedstaats und zum Unionsrecht aufweisen. In rein innerstaatlichen Sachverhalten besteht schon deshalb kein sinnvoller Anwendungsbereich für den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, weil sein Regelungsgehalt nur die horizontale Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten erfasst. Welche Anforderungen an den unionsrechtlichen Bezug im Einzelnen zu stellen sind, ist dagegen offen. Im Gutachten 2/13 führte der EuGH aus, dass die Mitgliedstaaten „[b]ei der Durchführung des Unionsrechts“ verpflichtet seien, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen.476 Daraus wurde vereinzelt geschlossen, dass der Geltungsbereich der Vertrauensvermutung entsprechend Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh zu bestimmen sei.477 Im CETA-Gutachten ging der EuGH dagegen davon aus, dass die Mitgliedstaaten in „allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen“ verpflichtet seien, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu beachten.478 Dies wirft die Frage auf, ob der EuGH den Anwendungs 473
Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 70. EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 – ZW; Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. 475 Für Art. 4 Abs. 3 EUV EuGH, Urt. v. 11. 06. 1991 – C-307/89, ECLI:EU:C:1991:245 Rn. 13 – Kommission / Frankreich; Urt. v. 18. 01. 2001 – C-162/99, ECLI:EU:C:2001:35 Rn. 22 f. – Kommission / Italien; Schill / Krenn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 86. 476 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 – EMRK-Beitritt II. 477 Lührs, Überstellungsschutz, S. 91. 478 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA. 474
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bereich des Vertrauensgrundsatzes in Anlehnung an den Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV definieren will, der in „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ gilt.479 Damit würde der erforderliche unionsrechtliche Bezugspunkt gegenüber Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh gelockert.480 Ein nur ansatzweise klares Bild kann nicht ausgemacht werden. Da die Beantwortung der aufgeworfenen Frage maßgeblich von der – im nächsten Kapitel zu klärenden – normativen Anknüpfung des Vertrauensgrundsatzes abhängt, wird darauf im Laufe der weiteren Analyse zurückzukommen sein.481 II. Europäische Union Die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs wirft die Frage auf, ob und inwieweit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch Stellen der Union bindet. 1. Bindung beim Abschluss völkerrechtlicher Abkommen Bereits aufgezeigt wurde, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens dem Gerichtshof zufolge einen Kontrollmaßstab für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge durch die Union bildet.482 Völkerrechtliche Abkommen dürfen keine Pflichten zum Inhalt haben, bei deren Beachtung die Mitgliedstaaten gegen ihre aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Verpflichtungen verstoßen würden.483 Dies ist insoweit schlüssig, als völkerrechtliche Abkommen der Union, die im Rang zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht einzuordnen sind,484 mit dem Primärrecht vereinbar sein müssen.485 Die Vereinbarkeit geplanter völkerrechtlicher Abkommen mit dem Unionsprimärrecht ist Gegenstand des Gutachtenverfahrens 479
L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (73). EuGH, Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 29 – ASJP; Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 50 – Kommission / Polen; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (73). 481 S. unten, → 2. Kapitel, § 4. B. 482 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 ff. – EMRK- Beitritt II. S. bereits → 1. Kapitel, § 1. C. I. 1. 483 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 194 – EMRK-Beitritt II. 484 EuGH, Urt. v. 08. 09. 2020 – C-265/19, ECLI:EU:C:2020:677 Rn. 62 – Recorded Artists Actors Performers Ltd; Urt. v. 04. 02. 2016 – C-659/13 u. C-34/14, ECLI:EU:C:2016:74 Rn. 82 – C & J Clark International Ltd; Schmalenbach, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 216 AEUV Rn. 50; Vöneky / Beylage-Haarmann, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 39 f. 485 EuGH, Gutachten v. 28. 03. 1996 – 2/94, ECLI:EU:C:1996:140 Rn. 4 – EMRK-Beitritt I; Gutachten v. 13. 12. 1995 – 3/94, ECLI:EU:C:1995:436 Rn. 17 – GATT / WTO / Rahmenabkommen über Bananen; Schmalenbach, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 216 AEUV Rn. 50; Vöneky / Beylage-Haarmann, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 40. 480
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
vor dem Gerichtshof nach Art. 218 Abs. 11 AEUV.486 Da der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einen Rechtsgrundsatz von primärrechtlichem Rang bildet,487 sind völkerrechtliche Abkommen der Union konsequenterweise auf ihre Vereinbarkeit mit diesem Grundsatz zu prüfen. 2. Bindung des unionalen Gesetzgebers Der Gerichtshof hat sich noch nicht explizit dazu geäußert, ob der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch den europäischen Gesetzgeber bindet. In der Literatur wird wohl überwiegend angenommen, dass der Vertrauensgrundsatz keinen Kontrollmaßstab für das Handeln des europäischen Gesetzgebers bildet.488 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens betreffe nur die Anwendung des Unionsrechts, nicht aber die rechtsetzenden Organe der Union.489 Er begründe gerade angesichts seiner akzessorischen Natur keine eigenständige Rechtspflicht für den unionalen Gesetzgeber, auf eine vertiefte Integration hinzuwirken.490 Deshalb sei etwa die Zulässigkeit sekundärrechtlicher Kontrollbefugnisse nicht am Maßstab des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zu messen.491 Andere weisen darauf hin, dass es an handhabbaren rechtlichen Parametern mangele, anhand derer beurteilt werden könnte, ob der europäische Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines bestimmten Rechtsakts dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in hinreichendem Maße Rechnung getragen habe.492 Dem Europäischen Gesetzgeber komme bei der Ausgestaltung von Kooperationsinstrumenten zudem eine besondere Autorität zu, die nicht ohne Weiteres in Frage gestellt werden könne.493 Würde der EuGH eine Vorschrift mit der Begründung für ungültig erklären, dass sie zu weitgehende gegenseitige Kontrollbefugnisse der Mitgliedstaaten vorsehe, würde der Gerichtshof dem EU-Gesetzgeber der Sache nach vorhalten, dass er einen zu starken Grundrechtsschutz normiert habe, was nicht gewollt sein könne.494 Andere 486 Bungenberg, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 218 AEUV Rn. 102; Schmalenbach, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 218 AEUV Rn. 39. 487 F. Meyer, EuR 2017, 163 (173); Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (379); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (806). Für eine sekundärrechtliche Verankerung noch Kaufhold, EuR 2012, 409 (428 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (120 f.). 488 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 75; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 99 f.; Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381 f.); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / MorenoLax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (533); Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR, § 27 Rn. 22b. 489 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 100; Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532). 490 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 239. 491 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 75; Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR, § 27 Rn. 22b. 492 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381 f.); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (533). 493 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381 f.). 494 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381 f.).
§ 2 Systematisierung
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halten die Frage nach einer Bindung des Sekundärrechtsgebers für offen.495 Vereinzelt wird dagegen angenommen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Optimierungsgebot den Sekundärrechtsgesetzgeber ebenso binde wie den Rechtsanwender496 oder dass eine solche Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH jedenfalls angelegt sei.497 Wenn gegenseitiges Vertrauen konstitutionelle Qualität habe, sei es nur konsequent, die politischen Entscheidungen des Sekundärrechtsgesetzgebers daraufhin zu überprüfen, ob sie hinreichend auf die Idee gegenseitigen Vertrauens setzen.498 Was den Primärrechtsgesetzgeber betrifft, ist eine Bindung an den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – auch wenn dieser Primärrechtsrang aufweist – richtigerweise abzulehnen. Die Mitgliedstaaten sind als „Herren der Verträge“ grundsätzlich frei darin, das Primärrecht zu ändern, ohne dass das Unionsrecht ihnen dabei inhaltliche Schranken auferlegt.499 Eine Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbare Ewigkeitsklausel, nach der bestimmte Norminhalte des Primärrechts änderungsfest wären, kennt das Unionsrecht nicht.500 Die Mitgliedstaaten sind deshalb bei Vertragsänderungen nicht an den vom EuGH richterrechtlich ausgeformten Vertrauensgrundsatz gebunden. Ob der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens den Sekundärrechtsgesetzgeber bindet mit der Folge, dass der Gerichtshof Sekundärrecht wegen der Nichtbeachtung des Grundsatzes verwerfen könnte, ist schwieriger zu beurteilen. Das Gutachten 2/13 lässt dies zumindest möglich erscheinen. Steht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als primärrechtlicher Grundsatz normhierarchisch über völkerrechtlichen Abkommen der Union, so steht er auch über dem Sekundärrecht. Aus der Normhierarchie allein kann aber noch nicht geschlossen werden, ob dem Grundsatz auch Vorgaben für die Ausgestaltung des Sekundärrechts zu entnehmen sind. Das könnte trotz seines primärrechtlichen Ranges etwa dann nicht der Fall sein, wenn es sich seinem Inhalt nach um ein verbundmoderierendes Prinzip oder ein bloßes Vollzugsprinzip handelte.501 Auch auf diese Frage wird auf Grundlage der Ergebnisse der Analyse zur Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes in Kapitel 2 zurückzukommen sein.502 495
Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (31 f.); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (90). Burchard, Konstitutionalisierung, S. 469; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 825. 497 Nettesheim, EuZ 2018, 4 (7). 498 Nettesheim, EuZ 2018, 4 (7). 499 Blanke, DÖV 1993, 412 (419); Haratsch / Koenig / Pechstein, EuropaR, Rn. 76; H.-J. Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 48 EUV Rn. 19; Ohler, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 48 EUV Rn. 24 f.; Pechstein, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 48 EUV Rn. 6. Inhaltliche Anforderungen und Grenzen für Vertragsänderungen können sich aber aus dem nationalen Verfassungsrecht ergeben, in Deutschland aus Art. 23 GG. 500 Haratsch / Koenig / Pechstein, EuropaR, Rn. 76; Pechstein, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 48 EUV Rn. 6; a. A. Gialdino, 32 CMLR 1995, 1089 (1110 f.) unter Berufung auf EuGH, Gutachten v. 14. 12. 1991 – 1/91, ECLI:EU:C:1991:490 Rn. 72 – EWR I. 501 So F. Meyer, EuR 2017, 163 (183). 502 S. unten, → 2. Kapitel, § 4. A. 496
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
§ 3 Rechtspolitische Dimension: Der Vertrauensgrundsatz als Integrationsprinzip Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens weist über seinen unmittelbaren rechtlichen Gehalt hinaus eine rechtspolitische Dimension auf. Er bildet ein Integrationsprinzip und Integrationsinstrument, dem bestimmte Ziele und Regelungskonzepte mit Blick auf die europäische Integration zugrunde liegen.503
A. Ziel: Schaffung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wird fundamentale Bedeutung im Hinblick auf die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen beigemessen.504 Dahinter steht erkennbar das rechtspolitische Ziel, einen europäischen Rechts- und Wirtschaftsraum zu errichten, in dem Produktionsgüter ebenso wie behördliche und justizielle Entscheidungen frei über die Binnengrenzen hinweg verkehren. Dieses Ziel findet seine primärrechtliche Grundlage für den Binnenmarkt in Art. 3 Abs. 3 EUV und für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV.505 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bildet ein wichtiges Instrument zur Erreichung dieses Integrationsziels.506 Indem er die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet, auf gegenseitige Kontrollen zu verzichten, die den angestrebten freien Verkehr behindern würden, trägt er maßgeblich zur Entstehung eines Raums ohne Binnengrenzen und zur Ermöglichung einer effizienten horizontalen Zusammenarbeit bei.507 Er sichert insbesondere die Funktionsfähigkeit bestehender Kooperationssysteme zwischen den Mitgliedstaaten ab und verhilft der horizontalen
503
Hess, Eur. ZivilprozessR, S. 207; F. Meyer, EuR 2017, 163 (180); Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (180); Hartmann, Europäisierung und Verbundvertrauen, S. 334 spricht von Vertrauen als „politische[m] Integrationsmodus“. 504 S. nur EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 10. 12. 2020 – C-616/19, ECLI:EU:C:2020:1010 Rn. 48 – M. S. u. a.; Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 41 – Heavyinstall; Urt. v. 28. 10. 2022 – C-435/22 PPU, ECLI:EU:C:2022:852 Rn. 92 – HF; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 93 – Puig Gordi u. a.; Urt. v. 18. 04. 2023 – C-699/21, ECLI:EU:C:2023:295 Rn. 30 – E. D.L.; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 78 – Puig Gordi u. a.; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (64); Schwarz, 24 Eur. Law J. 2018, 124 (129). 505 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 55 f. 506 Rizcallah, Eur. Law J. 2019, 37 (39). 507 Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (267); Lührs, Überstellungsschutz, S. 86.
§ 3 Rechtspolitische Dimension
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Zusammenarbeit zur praktischen Wirksamkeit.508 Dies gilt unabhängig davon, ob der der Zusammenarbeit zugrundeliegende Rechtsbereich eine Harmonisierung erfahren hat oder nicht. Der Vertrauensgrundsatz beansprucht sowohl in harmonisierten als auch in nicht harmonisierten Bereichen Geltung.509 Sofern eine Harmonisierung erfolgt ist, ist Gegenstand der Vertrauensvermutung die Einhaltung der harmonisierten unionsrechtlichen Vorgaben durch die übrigen Mitgliedstaaten;510 bei Fehlen vereinheitlichter Regelungen müssen die Mitgliedstaaten wechselseitig auf die Gleichwertigkeit ihrer nationalen Rechtsordnungen511 und die ordnungsgemäße Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts vertrauen.512
B. Ermöglichung fortbestehender Pluralität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (Einheit in Vielfalt) Die Begründung eines Raums ohne Binnengrenzen ging weder im Bereich des Binnenmarktes noch im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mit der Schaffung eines vereinheitlichten europäischen Rechtsraums einher.513 Eine vollständige oder weitgehende Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in den betroffenen Sachgebieten war und ist seitens der Mitgliedstaaten politisch unerwünscht.514 Soweit partiell eine Harmonisierung erfolgt ist, beschränkt
508
Kullak, Vertrauen in Europa, S. 211. Groussot / Pétursson / Wenander, 1 Eur. Papers 2016, 865 (868). 510 S. nur EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRKBeitritt II; Urt. v. 01. 06. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:385 Rn. 52 f. – Bob-Dogi; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 – Donnellan; Urt. v. 29. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 84 – Ibrahim u. a.; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (82 ff.); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27). 511 EuGH, Urt. v. 11. 02. 2003 – C-187/01 u. 385/01, ECLI:EU:C:2003:87 Rn. 33 – Gözütok u. Brügge; Urt. v. 09. 03. 2006 – C-463/04, ECLI:EU:C:2006:165 Rn. 30 – Van Esbroeck; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-376/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 52 – Piotrowski; Urt. v. 10. 01. 2019 – C-97/18, ECLI:EU:C:2019:7 Rn. 33 – ET; GA Colomer, Schlussanträge v. 19. 09. 2002 – C-187/01, ECLI:EU:C:2002:516 Rn. 124 – Gözütok u. Brügge; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (69); Kaufhold, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (117 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 73, 103; Terhechte, EuR 2020, 569 (583); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (245 f.). 512 EuGH, Urt. v. 16. 05. 2017 – C-682/15, ECLI:EU:C:2017:373 Rn. 77 – Berlioz Investment; GA Colomer, Schlussanträge v. 19. 09. 2002 – C-187/01, ECLI:EU:C:2002:516 Rn. 124 – Gözütok u. Brügge; GA Bot, Schlussanträge v. 02. 03. 2016 – C-241/15, ECLI:EU:C:2016:131 Rn. 58 ff. – Bob-Dogi; Europäische Kommission, Mitteilung v. 26. 07. 2000, KOM(2000) 495 endg., S. 4; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (69); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 133 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 74; Lührs, Überstellungsschutz, S. 87. 513 Mitsilegas, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 23; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 9. 514 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (64); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (321); Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (213). 509
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
sie sich im Wesentlichen auf die Annahme von gemeinsamen Mindeststandards und konzentriert sich punktuell auf spezifische Problematiken in einzelnen Bereichen anstatt eine umfassende (Mindest-)Harmonisierung der nationalen Verfahren oder Systeme als solcher vorzunehmen.515 An die Stelle einer Rechtsvereinheitlichung ist ein System der horizontalen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten getreten, das auf der gegenseitigen Anerkennung und unionsweiten Durchsetzbarkeit nationaler Entscheidungen und Standards beruht.516 Dieses System wird wiederum vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens getragen.517 Der Vertrauensgrundsatz ermöglicht so – im Zusammenwirken mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – die Schaffung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen unter gleichzeitiger Bewahrung der Pluralität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.518 Er wird als Mittel zur Gewährleistung einer wirksamen Zusammenarbeit angesehen, das rechtliche Vielfalt handhabbar macht und eine Harmonisierung vermeidet.519 Entsprechend nimmt der EuGH an, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziere, dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Rechts als gleichwertig akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde.520 Häufig werden die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung vor dem Hintergrund dieser Beobachtung in den Dienst eines idealisierten politischen Narratives von einer europäischen „Einheit in Viel-
515 Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (321). Zur bislang erfolgten (Mindest-)Harmonisierung s. auch unten, → 4. Kapitel, § 3. B. I. 1. 516 Lührs, Überstellungsschutz, S. 72; Mitsilegas, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 23; ders., 31 YEL 2012, 319 (321); ders., 57 CMLR 2020, 45 (48 f.). Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (77): „[T]endency to pursue integration by means of a greater reliance on cooperative strategies.“ 517 S. hierzu bereits → 1. Kapitel, § 2. C. I. 518 Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (73); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 231; Riczallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (38); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (534); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 2; Willems, 20 GLJ 2019, 468 (480); vgl. auch T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 414 f. 519 Mitsilegas, 57 CMLR 2020, 45 (49). Vgl. Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 11: „Die Justizsysteme der Mitgliedstaaten sollten unter Wahrung ihrer nationalen Rechtstraditionen kohärent und effizient interagieren können.“ 520 EuGH, Urt. v. 11. 02. 2003 – C-187/01 u. C-385/01, ECLI:EU:C:2003:87 Rn. 33 – Gözütok u. Brügge; Urt. v. 09. 03. 2006 – C-436/04, ECLI:EU:C:2006:165 Rn. 30 – Van Esbroeck; Urt. v. 28. 09. 2006 – C-467/04, ECLI:EU:C:2006:610 Rn. 30 – Gasparini; Urt. v. 28. 09. 2006 – C-150/05, ECLI:EU:C:2006:614 Rn. 43 – van Straaten; Urt. v. 11. 12. 2008 – C-297/07, ECLI:EU:C:2008:708 Rn. 37 – Bourquain; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 52 – Piotrowski; Urt. v. 10. 01. 2019 – C-97/18, ECLI:EU:C:2019:7 Rn. 33 – ET; ebenso Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (534).
§ 3 Rechtspolitische Dimension
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falt“ gestellt, die von gegenseitiger Toleranz gegenüber der Identität und Diversität der nationalen Rechtssysteme getragen sei.521 Auch das BVerfG sieht in der gegenseitigen Anerkennung einen „unter Subsidiaritätsgesichtspunkten (Art. 23 Abs. 1 GG) schonende[n] Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren“.522 Tatsächlich stehen die beiden Grundsätze für ein Kooperationsmodell, das auf eine Vermeidung von Harmonisierung, Zentralisierung und inhaltlicher Koordinierung zielt.523 Paradoxerweise setzt aber gerade das Ziel einer möglichst unbeschränkten gegenseitigen Anerkennung auf Basis gegenseitigen Vertrauens der Vielfalt der mitgliedstaat lichen Rechtsordnungen wiederum Grenzen.524 Die angestrebte enge Kooperation unter Verzicht auf gegenseitige Kontrollen erfordert notwendigerweise eine gewisse Äquivalenz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und Praktiken, insbesondere im Hinblick auf den Schutz von Verfahrens- und Grundrechten.525 Bei realistischer Betrachtung werden sich im Laufe der Zusammenarbeit immer wieder Ungleichwertigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten zeigen, die es im Interesse einer reibungslosen Zusammenarbeit durch Positivintegration auszugleichen gilt.526 Die Verankerung vertrauensbasierter Kooperationsmechanismen im Sekundärrecht zieht daher regelmäßig Harmonisierungsmaßnahmen nach sich.527 Teils wird angesichts dieses Befunds sogar angenommen, dass das Konzept des gegenseitigen Vertrauens ein Mittel des EuGH sei, die Mitgliedstaaten, denen der politische Wille zur Einigung über harmonisierte Standards fehlt, zu „ermutigen“, einen Kompromiss zu finden.528
521 So etwa Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (73); Konstadinides, 56 CMLR 2019, 743 (757); Storskrubb, 20 CYELS 2018, 170 (181); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (508). 522 BVerfG, Urt. v. 18. 07. 2005 – 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 Ls. 2 – Europäischer Haftbefehl I. 523 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 454; Röben, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 70 AEUV Rn. 9. 524 Vgl. Burchard, Konstitutionalisierung, S. 453 f. 525 Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (75); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (84 f.); Pernice, in: FS Meyer, S. 359 (376); vgl. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 22. 526 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 454. Anders als Penkuhn, Der ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungshindernis, S. 160 f. meint, ist eine Harmonisierung aber gerade nicht Voraussetzung des gegenseitigen Vertrauens. 527 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 185; Hecker, DÖV 2006, 273 (276) spricht von einer „integrationsstimulierende[n] Wirkung“; Burchard, Konstitutionalisierung, S. 452 von einem „Motor für eine nachholende Positivintegration“. 528 Canor, ZaöRV 2013, 249 (273); Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (262 f.). Vgl. für die gegenseitige Anerkennung Burchard, Konstitutionalisierung, S. 452: „positiv integrationstheoretisches Spiel auf Zeit“. Kritisch dazu, gegenseitige Anerkennung und gegenseitiges Vertrauen „zum Trojanischen Pferd“ für Harmonisierungsmaßnahmen zu erklären K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 334 ff.
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1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Zuzugeben ist der These aber, dass gleichwertig nicht identisch oder einheitlich bedeutet.529 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziert, dass ein gewisses Maß an Unterschieden zu respektieren ist, solange eine hinreichende Äquivalenz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gewährleistet ist.530 Auch soweit für eine effektive vertrauensbasierte Zusammenarbeit eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen notwendig wird, kann die Angleichung also auf Maßnahmen zur Herstellung einer hinreichenden Äquivalenz beschränkt werden. Insoweit hebt sich das vom Vertrauensgrundsatz getragene System der horizontalen Kooperation durchaus von einem auf Vollharmonisierung gerichteten Integrationsansatz ab. Zudem verdeutlicht die nur dienende Funktion der (Mindest-) Harmonisierung die Grundentscheidung für den Respekt gegenüber der Vielfalt der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.531 Entsprechend kommt den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens eine ausgleichende Funktion im Spannungsverhältnis aus Einheit und Diversität zu.532
C. (Vermeintlicher) Erhalt staatlicher Souveränität Verbreitet werden die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens auch als Mittel zur Erhaltung weitgehender staatlicher Souveränität der Mitgliedstaaten verstanden.533 Der Verzicht auf eine über das erforderliche Mindestmaß hinausgehende Harmonisierung schone die mitgliedstaatliche Autonomie; dies gelte besonders in grundrechts- und identitätssensiblen Bereichen wie dem Straf- und Asylrecht.534 Diese Betrachtung greift bei näherem Hinsehen jedoch zu kurz. Zwar wird die mitgliedstaatliche Souveränität bei Wahl dieser Integrationsstrategie in vertikaler Hinsicht gegenüber der supranationalen Ebene geschützt und strukturelle Veränderungen im nationalen Recht auf ein Mindestmaß reduziert.535 Mit der Entscheidung für ein System vertrauensbasierter gegenseitiger Anerkennung geht aber ein Souveränitätsverzicht in der horizontalen Dimension im Verhältnis zu den anderen 529
Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (84); Sicurella, 9 NJECL 2018, 308 (316); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 283; vgl. Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, S. 191. 530 Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (84); Sicurella, 9 NJECL 2018, 308 (316). 531 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 59; Vermeulen, in: GS Vogel, S. 181 (186). 532 van den Brink, 1 Eur. Papers 2016, 921 (923); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 26; Lenaerts, in: FS Kohler, S. 287 (291). 533 Lührs, Überstellungsschutz, S. 72; van den Brink, 1 Eur. Papers 2016, 921 (923); Schwarz, EuR 2016, 421 (422); Velluti, in: Morano-Foadi / Vickers, Fundamental Rights in the EU, S. 139 (143); Willems, 20 GLJ 2019, 468 (480). 534 Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 251 f. 535 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 10; T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 414 f.; Riczallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (39); Storskrubb, in: Bakardjieva Engelbrekt u. a., Trust in the EU, S. 129 (164).
§ 3 Rechtspolitische Dimension
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Mitgliedstaaten einher.536 An die Stelle einer Abgabe von Rechtsetzungskompetenzen „nach oben“ tritt also eine supranational vermittelte Öffnung „zur Seite“.537 Die Souveränität des zur Anerkennung verpflichteten Staates erfährt eine Beschränkung durch die Pflicht, Rechtsakte anderer Mitgliedstaaten quasi automatisch zu vollziehen, ohne diese einer Nachprüfung unterziehen zu dürfen.538 Welche Form des Souveränitätsverzichts schwerer wiegt, ist weniger eine rechtliche als eine politische Frage und dürfte pauschal kaum zu beantworten sein, sondern von der Ausgestaltung im Einzelfall abhängen.539 Der These, dass der zur Anerkennung verpflichtete Staat durch die Vertrauensvermutung „zum bloßen Erfüllungsgehilfen auf eigenem Staatsgebiet degradiert“ werde,540 ist in dieser Schärfe aber zu widersprechen. Zum einen darf nicht unbeachtet bleiben, dass mit dem intraterritorialen Herrschaftsverlust zugleich ein extraterritorialer Herrschafts gewinn für den einzelnen Mitgliedstaat einhergeht.541 Im Gegenzug für die Öffnung gegenüber den anderen Mitgliedstaaten erlangen auch die eigene Rechtsordnung und die eigenen nationalen Entscheidungen eine den innerstaatlichen Bereich übersteigende, unionsweite Bedeutung.542 Zudem gilt die Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen nicht absolut und bedingungslos, sondern nur vorbehaltlich „außergewöhnlicher Umstände“.543 Die jeweiligen Anerkennungsinstrumente sehen zudem bestimmte Ablehnungsgründe vor. So entsteht eine gewisse Balance zwischen der Autonomie der Mitgliedstaaten und dem Ziel einer möglichst effizienten mitgliedstaatlichen Kooperation.544
536
T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 414 f.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 77; Storskrubb, in: Bakardjieva Engelbrekt u. a., Trust in the EU, S. 129 (164); dies., in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 15 (20); dies., in: Hess u. a., EU Civil Justice, S. 299 (309); Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 15. 537 Franzius, HFR 2010, 159 (173); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 221. 538 Engel, Beitritt zur EMRK, S. 122 f.; Riczcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (39, 48); Storskrubb, in: Bakardjieva Engelbrekt u. a., Trust in the EU, S. 159 (164). 539 A. A. Rizcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (48), die die Souveränität der Mitgliedstaaten durch eine vertrauensbasierte Integration stärker gefährdet sieht als durch eine vertikale Inte gration. 540 Engel, Beitritt zur EMRK, S. 122 f. unter Bezugnahme auf Nettesheim, EuR 2009, 24 (41). 541 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 10. 542 T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 415; Groussot / Pétursson / Wenander, 1 Eur. Papers 2016, 865 (866); Riczcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (39). 543 St. Rspr., s. nur EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 f. – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 f. – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 f. – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 46 f. – Dorobantu. Zu den Grenzen des Vertrauensgrundsatzes s. → 3. Kapitel. 544 Groussot / Pétursson / Wenander, 1 Eur. Papers 2016, 865 (866, 891); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 238.
128
1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
D. Föderale Dimension des Vertrauensgrundsatzes Die mitgliedstaatliche Kooperation auf Grundlage der vom EuGH ausgeformten Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens führt zu einer horizontalen Öffnung und Verschränkung der mitgliedstaatlichen Rechtsebenen.545 Damit einher geht die Entstehung einer kooperativen546 horizontalen547 föderalen Ordnung.548 Konkret folgt aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine horizontale Zuständigkeits- und Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten.549 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Zuordnung der Verantwortlichkeiten im europä ischen Grundrechtsverbund.550 Dem der Rechtsprechung des Gerichtshofs zugrunde liegenden Idealbild zufolge wird die Verantwortung für die Wahrung grundrechtlicher Garantien im jeweils sachnäheren Staat konzentriert.551 Bei Produktionsgütern und justiziellen Entscheidungen ist dies der Ursprungsmitgliedstaat,552 bei Dublin-Überstellungen und Überstellungen auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls der Zielstaat.553 Die Institutionen des überstellenden bzw. um Anerkennung ersuchten Staates sollen im Prozess der transnationalen Kooperation grundsätzlich von der Verantwortung für die grundrechtlichen Verhältnisse im jeweils anderen Mitgliedstaat befreit sein.554 Ihnen ist eine Kontrolle, abgesehen
545
Burchard, Konstitutionalisierung, S. 580; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 221 f., 231; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 55; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 97. 546 Zum kooperativen Föderalismus vgl. – wenn auch im Kontext der deutschen staatsrechtlichen Diskussion – Bauer, DÖV 2002, 837 (839 f.) m. w. N.; siehe dort auch zur Abgrenzung zu einem separativen Föderalismus, der die Hoheitsräume der Mitgliedstaaten streng voneinander trennt. 547 Zum horizontalen Verhältnis in föderalistischen Ordnungen aus politikwissenschaftlicher Sicht Zimmermann, Horizontal Federalism: Interstate Relations. 548 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 581; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (7); für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Röben, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 67 AEUV Rn. 96; Wendel, 15 EuConst. 2019, 17 (35 ff.). Zu föderalen Strukturen der EU allgemein Bast, VVDStRL 76 (2017), 277 (305 f.). 549 Klip, European Criminal Law, S. 111; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 199, 223 ff.; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (35); Rizcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (48); Wendel, 15 EuConst. 2019, 17 (36). Vgl. auch bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. C. II. 2. b). 550 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 132; Wendel, EuR 2019, 111 (123 ff.). 551 EuGH, Urt. v. 23. 01. 2018 – C-357/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 49 f. – Piotrowski; Urt. v. 13. 01. 2021 – C-414/20 PPU; ECLI:EU:C:2021:4 Rn. 61 – MM; Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 55 – Gavanozov II; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 85, 116 – Puig Gordi; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (8 f.). 552 EuGH, Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 55 – Gavanozov II; Linton, in: Hess / Bergström / Storskrubb, EU Civil Justice, S. 257 (276). 553 EuGH, Urt. v. 23. 01. 2018 – C-357/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 50 – Piotrowski; Wendel, EuR 2019, 111 (123, 125 f.). 554 Nettesheim, EuZ 2018, 4 (8 f.); Wendel, EuR 2019, 111 (123).
§ 3 Rechtspolitische Dimension
129
von außergewöhnlichen Umständen, sogar untersagt.555 Wichtig ist aber zu sehen, dass das mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehende Verbot, die Grundrechtswahrung durch andere Mitgliedstaaten zu prüfen, keineswegs den Grundrechtsschutz an sich aushebeln soll.556 Es geht nicht um das „Ob“, sondern um das „Wo“ des Grundrechtsschutzes innerhalb einer föderativ strukturierten Union.557 Die primäre Grundrechtsverantwortlichkeit soll grundsätzlich bei dem sachnäheren Mitgliedstaat verbleiben und eine präventive Vorverlagerung der Grundrechtsverantwortlichkeit auf den überstellenden Staat bzw. eine Nachprüfung von Entscheidungen des Ursprungsmitgliedstaats durch den vollstreckenden Staat unterbleiben.558 Den übrigen Mitgliedstaaten soll nur unter außergewöhnlichen Umständen eine Art Auffang- oder Gewährleistungsverantwortung zukommen.559 Entsprechendes gilt für die Beachtung sonstiger unionsrechtlicher Vorgaben. Deren Wahrung obliegt nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ebenfalls grundsätzlich allein dem Mitgliedstaat, der nach der unionsrechtlichen Zuständigkeitsordnung für ihre Einhaltung verantwortlich ist.560 Die Zuständigkeitsbereiche der beteiligten Mitgliedstaaten werden in den der Kooperation zugrunde liegenden Rechtsakten abgegrenzt;561 teils entnimmt der EuGH den verschiedenen Kooperationsinstrumenten im Wege der teleologischen Auslegung unter Heranziehung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auch eine bestimmte Zuständigkeitsverteilung.562 Die übrigen Mitgliedstaaten achten die Entscheidungen des zuständigen Mitgliedstaats in der Annahme, dass diese unter Wahrung des Unionsrechts ergangen sind.563
555
EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 – EMRKBeitritt II; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 37 – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 47 – Dorobantu; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (9). 556 Hess, Eur. ZivilprozessR, S. 118; Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (337); Wendel, EuR 2019, 111 (125 f.); ders., 15 EuConst 2019, 17 (40); vgl. auch Kullak, Vertrauen in Europa, S. 224. So aber Gärditz, VerfBlog 2021/01/04, DOI: 10.17176/20210104-182853-0; Kulick, JZ 2020, 223 (226); Mitsilegas, 3 eucrim 2015, 91 (92). 557 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 80; Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (35); Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (337); Wendel, EuR 2019, 111 (125 f.); ders., 15 EuConst 2019, 17; vgl. GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 85 – Puig Gordi. 558 Wendel, EuR 2019, 111 (125 f.); ders., 15 EuConst 2019, 17 (36 f.). 559 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 225 f. Hierzu näher unten, → 3. Kapitel. 560 EuGH, Urt. v. 24. 02. 2021 – C-95/19, ECLI:EU:C:2021:128 Rn. 70 ff. – Silcompa; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 138; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 224; für den Europäischen Vollstreckungstitel s. ErwG 18 EuVTVO. 561 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 59 – Aguirre Zarraga. 562 S. hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. C. II. 2. b). 563 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 138.
130
1. Kap.: Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung
Für die Gewährung von Individualrechtsschutz sind schließlich ebenfalls primär die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, bei dem die Verantwortung für die Wahrung der Unionsgrundrechte und des sonstigen Unionsrechts liegt.564 Aus dem von Art. 47 GRCh garantierten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf folgt nicht, dass die Handlungen eines Mitgliedstaats sowohl vor dessen Gerichten als auch vor den Gerichten des kooperierenden Mitgliedstaats anfechtbar sein müssen.565 Auch diese Zuständigkeitskonzentration gilt nur vorbehaltlich besonderer Umstände, die das Einlegen von Rechtsbehelfen im primär zuständigen Staat zu sehr erschweren oder unmöglich machen.566
564
EuGH, Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 33 ff. – Salzgitter Mannesmann Handel; vgl. auch EuGH, Urt. v. 20. 05. 2006 – C-341/04, ECLI:EU:C:2006:281 Rn. 43 – Eurofood IFSC; Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 70 – Aguirre Zarraga; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 62 ff. – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni. 565 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 45 – Donellan. 566 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 68 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni.
2. Kapitel
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsprinzip des Unionsrechts § 1 Hinführung und Fragestellung Im vorhergehenden Kapitel wurden Anwendungsbereich, Verpflichtete, Inhalt und Funktion des vom EuGH ausgeformten Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens herausgearbeitet. Die Untersuchung hat gezeigt, dass es sich beim Vertrauensgrundsatz nicht (mehr) bloß um eine rhetorische Figur oder politische Leitlinie handelt. Vielmehr hat der Gerichtshof diesen sukzessive zu einem echten Rechtsgrundsatz entwickelt, dem er primärrechtlichen Rang beimisst. In der Literatur wurde die Entwicklung des Grundsatzes durch den EuGH kon trovers aufgenommen. Teile der Literatur stehen dem Vertrauensgrundsatz kritisch bis ablehnend gegenüber. Diesen Stimmen nach soll es an einer Rechtsgrundlage für den Grundsatz fehlen; eine allgemeine Verpflichtung zum Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten lasse sich aus den europäischen Verträgen nicht herleiten.1 Bei dem gegenseitigen Vertrauen handele es sich – so der Vorwurf – um eine bloße „Leerformel“ oder eine „normative Fiktion“, die ohne hinreichende Legitimation zu einer Verkürzung des Individualrechtsschutzes führe.2 Der Rückgriff auf das Narrativ des gegenseitigen Vertrauens sei beliebig und diene dem Gerichtshof in der Regel allein dazu, ein politisch gewolltes Ziel zu erreichen.3 Die Vertrauenspflicht gehe dabei mit einem einseitigen Fokus auf der Effizienz von Anerkennungsinstrumenten zulasten des Grundrechtsschutzes einher.4 Eine Pflicht zum Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und einen wirksamen Grundrechtsschutz in allen Mitgliedstaaten lasse sich solange nicht rechtfertigen, wie die Union nicht selbst für die Achtung der Grundrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien durch alle Mitglied-
1 Bieber, in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (54); Burchard, Konstitutionalisierung, S. 470, 507, 527 ff.; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 252 ff. 2 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (56); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (54); Kohler, ZEuS 2016, 135 (146); Schorkopf, JZ 2015, 781 (782); Swoboda, ZIS 2018, 276 (295). 3 Kohler, ZEuS 2016, 135 (150); von „europäischer Ideologie“ spricht Mankowski, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Vorb. zu Art. 4 Brüssel Ia-VO Rn. 50 Fn. 270. 4 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (54); Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (266); Riczallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (50 ff.).
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
staaten sorgen könne.5 Zuletzt wird auch das methodische Vorgehen des EuGH kritisiert. Dieser habe über 25 Jahre hinweg durch kleine sprachliche Veränderungen eine sozial-psychologische Kategorie zu einer Rechtspflicht umgewandelt, ohne dafür jemals eine Anknüpfung im Wortlaut der Verträge oder eine genaue Definition des Inhalts, der Voraussetzungen und Grenzen dieser Pflicht bereitzustellen.6 Andere Stimmen in der Literatur erkennen den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs als Rechtsgrundsatz des Unionsrechts an.7 Innerhalb dieser Auffassung besteht aber wiederum Uneinigkeit über die normative Grundlage8 und die Rechtsnatur des Grundsatzes.9 Entscheidend dafür, ob der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsprinzip des europäischen (Primär-)Rechts anzuerkennen ist, ist, ob sich im Unionsrecht eine normative Grundlage für den vom EuGH ausgeformten Grundsatz findet (→ § 2).10 Die als Rechtsgrundlage identifizierte Regelung müsste die in der Rechtsprechung entfalteten, im ersten Kapitel herausgearbeiteten Strukturen und rechtlichen Gehalte des Grundsatzes tragen, erklären und begründen können.11 Ist die Frage nach der Zugehörigkeit des Vertrauensgrundsatzes zum Primärrecht der Union positiv zu beantworten, stellt sich im Anschluss die Frage nach seiner Rechtsnatur (→ § 3). Der EuGH lässt auch diese Frage unbeantwortet.12 Der Gerichtshof spricht in den deutschen Sprachfassungen seiner Urteile zwar überwiegend von einem „Grundsatz“,13 teils aber auch vom „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“.14 In den englischen Fassungen der Entscheidungen ist überwiegend von einem „principle of mutual trust“ die Rede.15 Hinzu kommt, dass die vom 5
Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (55). Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (56). 7 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 136 ff.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 199 ff.; Mancano, 58 CMLR 2018, 683 (686 f.); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (76); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27). 8 Zum Meinungsstand s. unten, → 2. Kapitel, § 2. B. 9 Zum Meinungsstand s. unten, → 2. Kapitel, § 3. A. 10 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 156 f., 200 f.; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 105. 11 Vgl. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 84. 12 Lührs, Überstellungsschutz, S. 87 f.; F. Meyer, EuR 2017, 163 (173). 13 S. nur EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 36 – Salzgitter Mannesmann Handel; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA. 14 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 79 – N. S. u. a.; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 53 – Abdullahi. 15 S. nur EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40, 45 – Donellan; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 – LM. 6
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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Gerichtshof gewählte Bezeichnung als Grundsatz oder Prinzip für sich genommen allgemein wenig aussagekräftig ist und keinen automatischen Rückschluss auf die Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes ermöglicht.16 Anhand der in diesem Kapitel gefundenen Ergebnisse sind zudem die im ersten Kapitel offen gebliebenen Fragen hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Vertrauensgrundsatzes und der Bindung des Sekundärrechtsgebers an den Grundsatz zu beantworten (→ § 4).17
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes A. Ausgangspunkt In den Europäischen Verträgen und im Sekundärrecht findet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens keine explizite Erwähnung. Das Motiv des gegenseitigen Vertrauens fand zwar in Art. I-42 Abs. 1 lit. b des gescheiterten Verfassungsvertrags Niederschlag, der davon sprach, dass der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts „durch Förderung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, insbesondere auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung der gerichtlichen und außergerichtlichen Entscheidungen“ gebildet werde. Diese Passage wurde aber nicht in den Vertrag von Lissabon übernommen; zudem dürfte ihr ein empirisches Verständnis gegenseitigen Vertrauens zugrunde gelegen haben.18 Offenbar sahen die Vertragsgeber in – faktisch verstandenem – gegenseitigem Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten eine wesentlich Funktionsbedingung für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und formulierten daher das Ziel, dieses zu fördern. Ein Rechtsgrundsatz mit dem Inhalt des vom EuGH ausgeformten Vertrauensgrundsatzes lässt der Formulierung jedenfalls nicht entnehmen.19 Hinweise auf den Vertrauensgrundsatz als Grundsatz mit normativem Gehalt finden sich nur in den Erwägungsgründen einzelner Sekundärrechtsakte.20 Erwägungsgründe haben aber keinen normativen Charakter, der Rechte und Pflichten
16 Kaufhold, EuR 2012, 408 (427); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 199; allgemein Beyerlich, in: FS Steinberger, S. 31 (56); von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (25 f.); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 294 f.; für völkerrechtliche Prinzipien ebenso Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, S. 227 f. 17 Vgl. → 1. Kapitel, § 2. D. I. 2., II. 2. 18 So auch K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 728; anders wohl Lührs, Überstellungsschutz, S. 76 f., die dieser Passage den Willen des Primärrechtsgebers entnimmt, den Vertrauensgrundsatz im Primärrecht zu verankern. 19 Vgl. Burchard, Konstitutionalisierung, S. 527 ff. 20 S. etwa ErwG 21 Brüssel IIa-VO; ErwG 19 RL 2014/41/EU über die EEA; ErwG 65 EUInsVO 2015.
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
mit sich bringen könnte,21 sondern es handelt sich bloß um den jeweiligen Legislativakten vorangestellte politische Zielsetzungen.22 Eine Erwähnung des Vertrauensgrundsatz in den Erwägungsgründen kann also nicht ohne Weiteres zu dessen Anerkennung als Rechtsgrundsatz führen.23 Der EuGH nimmt in seiner Rechtsprechung ebenfalls keine eindeutige normative Verankerung des Grundsatzes und seiner Rechtswirkungen vor.24 Die Anerkennung des Vertrauensgrundsatzes setzt aber das Auffinden einer normativen Grundlage im Unionsrecht voraus, die den in der Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsatz trägt.25 Dem EuGH obliegt die Auslegung und Anwendung der Verträge und des abgeleiteten Unionsrechts (Art. 19 Abs. 1 EUV), er darf aber kein (Primär-)Recht „aus dem Nichts“ oder aus eigener Kraft schaffen.26 Entscheidungen mit „Verfassungscharakter“ sind dem Vertragsänderungsverfahren überlassen.27 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens hat Verfassungscharakter, da er geeignet ist, die Verfassungsstruktur der Union maßgeblich zu prägen und mit ihm eine souveränitätsbeschränkende Wirkung zulasten der Mitgliedstaaten einhergeht.28 Indem er den Mitgliedstaaten einen wechselseitigen Kontrollverzicht im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten abverlangt, greift der Vertrauensgrundsatz in deren Autonomie ein.29 Folglich setzt die Anerkennung des Grundsatzes eine Fundierung im geltenden Unionsrecht voraus. Teils wird zur Begründung des Vertrauensgrundsatzes auf die Rechtsbindung der Mitgliedstaaten an das Unionsrecht und die Unionsgrundrechte verwiesen. Der Grundsatz werde in den Europäischen Verträgen zwar nicht erwähnt, wie bei jedem Vertrag könne aber jede Partei von der anderen erwarten, dass sie sich an die getroffenen Vereinbarungen hält.30 Die vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens umfasste Legalitätsvermutung werde von den Verträgen daher implizit vorausge 21
EuGH, Urt. v. 19. 11. 1998 – C-162/97, ECLI:EU:C:1998:554 Rn. 54 – Nilsson; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 25. 11. 2003 – C-222/02, ECLI:EU:C:2003:637 Rn. 132 – Paul / Deutschland; Köndgen / Mörsdorf, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 6 Rn. 76; Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 371. 22 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 371. 23 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 371. 24 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (43); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 110; F. Meyer, EuR 2017, 163 (184); Ostropolski, NJECL 2015, 166 (177). Zu den in der Rspr. anklingenden Ansätzen sogleich. 25 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 156 f.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 77; vgl. F. Meyer, EuR 2017, 163 (177). 26 Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 350 ff.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 77; Neuner, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 12 Rn. 9. Zu den Grenzen zwischen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und unzulässiger Rechtssetzung s. Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 6 ff.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, S. 50 ff. 27 EuGH, Gutachten v. 28. 03. 1996 – 2/94, ECLI:EU:C:1996:140 Rn. 35 – EMRK-Beitritt I; Urt. v. 26. 07. 2002 – C-50/00 P, ECLI:EU:C:2002:462 Rn. 44 – UPA / Rat; Urt. v. 01. 04. 2004 – C-263/02 P, ECLI:EU:C:2004:210 Rn. 36 – Kommission / Jégo-Quéré. 28 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 156 f., 210. 29 Bieber, in: FS Vedder 2017, S. 27 (28). 30 Regan, duE 2018, 231.
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setzt.31 Dieser formaljuristische Verweis auf die Bindung der Mitgliedstaaten an das Unionsrecht kann den Vertrauensgrundsatz richtigerweise nicht tragen.32 Zum einen gehen die Rechtswirkungen des Grundsatzes über eine bloße Legalitätsvermutung hinaus. So folgen aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – wie gezeigt – auch ungeschriebene Kooperationspflichten und eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei der Zusammenarbeit von anderen Mitgliedstaaten kein höheres nationales grundrechtliches Schutzniveau zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete.33 Zum anderen verbietet sich ein automatischer Schluss von der Rechtsbindung auf die Rechtsanwendungspraxis der Mitgliedstaaten.34 Rechtsbrüche einzelner Mitgliedstaaten sind trotz einer formellen Bindung an das Unionsrecht, die EMRK oder die GFK nicht auszuschließen, was auch regelmäßige Verurteilungen der EU-Mitgliedstaaten vor dem EGMR oder in Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH belegen.35 Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Legitimation, Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Union in besonderem Maße auf die freiwillige Beachtung der selbst gesetzten Regeln durch die Mitgliedstaaten angewiesen sind, da die Europäischen Verträge nur ein unvollkommenes System der Rechtsdurchsetzung vorsehen.36 Die Mitgliedstaaten mögen bei Vertragsschluss und späteren Beitritten davon ausgegangen sein, dass sich alle Beteiligten grundsätzlich rechtstreu verhalten. Daraus allein kann aber nicht geschlossen werden, dass die Mitgliedstaaten auch die Verpflichtung eingegangen sind, von einer Nachprüfung der gegenseitigen Rechtswahrung abzusehen. Eine Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen in das Verhalten der übrigen Mitgliedstaaten bedarf folglich einer gesonderten normativen Grundlage.37
B. Ansätze Ob der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine normative Anknüpfung im Unionsrecht findet, ist umstritten. Wie bereits einführend erwähnt, lehnen Teile der Literatur seine Geltung mit der Begründung ab, dass es in den Europäischen Verträgen an einer tauglichen Rechtsgrundlage fehle.38 Innerhalb derer, die den 31
Regan, duE 2018, 231. Kullak, Vertrauen in Europa, S. 157; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 301. 33 S. ausführlich oben, → 1. Kapitel, § 2. B. II., C. 34 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 91; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 301. Konstadinides, in: Eckes / Konstadinides, Crime within the AFSJ, S. 192 (219) bezeichnet diese Annahme als „naiv“. 35 Alegre / Leaf, 10 Eur. Law J. 2004, 200 (216); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 91. 36 Bieber, in: FS Vedder 2017, S. 27 (46); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (41). 37 Bieber, in: FS Vedder 2017, S. 27 (46); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (41). 38 Bieber, in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (54); Burchard, Konstitutionalisierung, S. 470, 507, 527 ff.; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 252 ff. 32
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
Vertrauensgrundsatz als geltendes Recht anerkennen, werden im Hinblick auf die normative Grundlage des Grundsatzes verschiedene Ansätze vertreten, die im Folgenden dargestellt und einer kritischen Würdigung unterzogen werden sollen. I. Ableitung aus Sekundärrechtsakten Teils wird angenommen, dass die Basis des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens im Sekundärrecht zu finden sei, konkret in den zur Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ergangenen sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumenten.39 Der Vertrauensgrundsatz überwölbe nicht die gesamte mitgliedstaatliche Kooperation, sondern gelte nur dann und soweit, wie er vom europä ischen Gesetzgeber im Sekundärrecht verankert worden sei.40 Gegen diesen Ansatz spricht bereits, dass es sich beim Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nach mittlerweile nahezu einhelligem Verständnis um ein primärrechtliches Rechtsprinzip handelt.41 Anders als mit einem primärrechtlichen Rang des Vertrauensgrundsatzes lässt sich nicht erklären, dass der Vertrauensgrundsatz als Kontrollmaßstab für völkerrechtliche Verträge der Union wirkt,42 die im Rang zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht stehen.43 Die Entscheidungen, in denen der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens losgelöst von sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumenten zur Entscheidung herangezogen hat, belegen ebenfalls, dass es sich bei dem hier untersuchten Rechtsgrundsatz nicht um einen nur bestimmten sekundärrechtlichen Instrumenten zugrunde liegenden Grundsatz handelt, sondern um einen Grundsatz, der in seinem Geltungsgrund losgelöst von einzelnen Instrumenten besteht.44 Der Vertrauensgrundsatz bedarf
39 Kaufhold, EuR 2012, 408 (428 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (120); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 371 ff. 40 Kaufhold, EuR 2012, 408 (429); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (120 f.); Zipperer, ZIP 2021, 231 (234). 41 S. nur von Bogdandy, 14 EuConst 2018, 675 (687); Kohler, ZEuS 2016, 135 (146); Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (379); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (806); Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (8); Mancano, 40 YEL 2021, 475 (476); F. Meyer, EuR 2017, 163 (173); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 670, 703 f.; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (5); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 76; Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 22a. 42 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 ff. – EMRK-Beitritt II; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 f. – CETA. 43 EuGH, Urt. v. 08. 09. 2020 – C-295/19, ECLI:EU:C:2020:677 Rn. 62 – Recorded Artists Actors Performers Ltd; Urt. v. 04. 02. 2016 – C-659/13 u. C-34/14, ECLI:EU:C:2016:74 Rn. 82 – C & J Clark International Ltd; Schmalenbach, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 216 AEUV Rn. 50; Vöneky / Beylage-Haarmann, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 216 AEUV Rn. 39 f. 44 Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (73); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 91; Willems, 20 GLJ 2019, 468 (480).
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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deshalb, sofern seine Geltung anzuerkennen sein soll, einer Rechtsgrundlage im Primärrecht.45 II. Ableitung aus den Art. 67, 81 f. AEUV Vereinzelt wird die normative Verankerung des Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in den primärrechtlichen Regelungen zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (Art. 67, 81 f. AEUV) gesehen.46 Für eine Anknüpfung in Art. 67, 81 f. AEUV spreche, dass die gegenseitige Anerkennung auf Vertrauen basiere und das gegenseitige Vertrauen für die effektive Verwirklichung der gegenseitigen Anerkennung entscheidend sei.47 Entsprechend teile der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch die rechtlichen Wirkungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung.48 Tatsächlich sind die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens in Entstehung, Entwicklung und Funktion eng miteinander verknüpft.49 Ungeachtet dessen handelt es sich aber um zwei eigenständige Rechtsgrundsätze, die nicht miteinander gleichgesetzt werden dürfen.50 Auch der in Art. 67 Abs. 1 AEUV angesprochenen „Achtung“ der verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kann keine Verpflichtung zum gegenseitigen Vertrauen entnommen werden.51 Die Vorschrift konkretisiert die Achtungspflicht der Union gegenüber den nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und bildet eine Schranke für Maßnahmen der Union nach Titel V des AEUV.52 Vorgaben für das horizontale Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten lassen sich hieraus nicht ableiten. Hinzu kommt, dass eine Anknüpfung an Art. 67, 81 f. AEUV nicht die Geltung des Vertrauensgrundsatzes über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hinaus und losgelöst von Konstellationen der gegenseitigen Anerkennung erklären kann.53 Die Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes in den verschiedenen Referenzgebieten lassen sich aber auf einen übergreifenden Rechtsgrundsatz zurückführen,54 zu dessen Begründung 45
Lührs, Überstellungsschutz, S. 77 f. Hess, in: Weller / Althammer, Mindeststandards, S. 221 (228); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 93 f. 47 Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 93 f. 48 Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 93 f. 49 Siehe bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. A. I., § 2. C. I. 50 Ausführlich zum Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen s. bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. C. I. 51 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (51 f.); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (45); Burchard, Konstitutionalisierung, S. 530 ff. 52 Röben, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Union, Art. 67 AEUV Rn. 90, 92; MüllerGraff, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 67 AEUV Rn. 40. 53 So jetzt auch K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 729. 54 S. hierzu, → 1. Kapitel, § 2. 46
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
es einer normativen Grundlage bedarf, deren Regelungsgehalt sich nicht auf einen bestimmten Sachbereich wie den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beschränkt.55 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens lässt sich nach all dem nicht auf die Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung in Art. 67, 81 f. AEUV stützen. III. Art. 4 Abs. 2 EUV als Grundlage des Vertrauensgrundsatzes Teile der Literatur sehen die verfassungsrechtliche Grundlage des Vertrauensgrundsatzes im Prinzip der Gleichheit der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV).56 Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV verpflichtet die Union, die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen zu achten. Gemeint ist dabei keine völkerrechtliche Gleichheit im Sinne souveräner Gleichheit, sondern es handelt sich um ein eigenständiges unionsrechtliches Gleichheitsgebot, das den völkerrechtlichen Grundsatz souveräner Staatengleichheit im Anwendungsbereich der Verträge verdrängt.57 Diejenigen, die den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auf Art. 4 Abs. 2 EUV stützen, sind der Auffassung, dass die Gleichheit der Mitgliedstaaten es der EU untersage, anzunehmen, dass die nationalen Rechtsordnungen und Entscheidungen einzelner Mitgliedstaaten „besser“ oder „rechtsstaatlicher“ seien als die der anderen Mitgliedstaaten.58 Alle Mitgliedstaaten hätten sich gleichermaßen dazu bekannt, die in Art. 2 EUV genannten Werte zu achten, wozu insbesondere die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Schutz der Menschenrechte gehören.59 Auf Grundlage dieser gemeinsamen Verpflichtung könnten und sollten die Mitgliedstaaten einander hinsichtlich der Wahrung des Unionsrechts und der Werte des Art. 2 EUV vertrauen.60 Dies gelte insbesondere in Situationen mitgliedstaatlicher Kooperation zur Erreichung gemeinsamer europäischer Ziele.61 Würde ein Mitgliedstaat entgegen der mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Legalitäts-
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Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 86. Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (807 ff.); ders., in: FS Kohler, S. 287 (289); Mancano, 40 YEL 2021, 475 (477); Marguery, MJ 2018, 704 (707); Sharma, ZEuS 2019, 197 (204); vgl. auch Lührs, Überstellungsschutz, S. 78 ff., die den Vertrauensgrundsatz als Konkretisierung des in Art. 2 EUV normierten Wertes der Gleichheit ansieht. Gegenseitiges Vertrauen als Synonym für die Gleichheit der Mitgliedstaaten verstehend auch Kohler, ZEuS 2016, 135 (141). 57 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 15; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (809); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 47. Dies verkennend Nettesheim, EuZ 2018, 4 (17 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 203 f.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 81. 58 Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (808); Sharma, ZEuS 2019, 197 (204). 59 Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (808); ders., in: FS Kohler, S. 287 (289). 60 Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (808 f.); ders., in: FS Kohler, S. 287 (289); Lührs, Überstellungsschutz, S. 80 f. 61 Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (808 f.). 56
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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vermutung die Rechtsanwendung durch einen anderen Mitgliedstaat kontrollieren, würde sich Ersterer über Letzteren erheben, was mit der Gleichheit der Mitgliedstaaten nicht vereinbar sei.62 Zwar ist den Vertretern dieses Ansatzes darin zuzustimmen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einen Bezugspunkt in Form gemeinsamer rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Standards der Mitgliedstaaten voraussetzt.63 Die normative Verankerung des Grundsatzes in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV kann aber nicht überzeugen.64 Schon nach dem Wortlaut der Norm ist Verpflichtungsadressatin des Gleichheitsgebots die Union einschließlich ihrer Organe und Einrichtungen („Die Union achtet …“).65 Der Fokus der Norm liegt auf der vertikalen Beziehung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, während der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens das horizontale Verhältnis unter den Mitgliedstaaten betrifft.66 Für die horizontale Beziehungsebene zwischen den Mitgliedstaaten lassen sich Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV keine unmittelbaren Vorgaben entnehmen.67 Selbst wenn man dem Gebot der Gleichheit der Mitgliedstaaten Geltung im horizontalen Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten zumessen würde, erscheint der Schluss von der Gleichheit der Mitgliedstaaten auf eine Rechtspflicht zum wechselseitigen Prüfungsverzicht nicht tragfähig.68 Die Nachprüfung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats stellt nicht per se eine Erhebung des Zweitstaates über den erstentscheidenden Staat unter Verletzung des Gebots der Gleichheit der Mitgliedstaaten dar.69 Dies gilt in besonderem Maße, wenn Verstöße gegen das Unionsrecht im Raum stehen. Es ist nicht erkennbar, inwiefern sich in Konstellationen, in denen Unionsrechtsverletzungen eines Mitgliedstaats erkennbar sind, unter Gleichheitsaspekten ein unionsrechtlicher „Anspruch“ auf blindes Vertrauen seitens der anderen Mitgliedstaaten ergeben sollte. Vielmehr dürfte in einem mangelhaften Vollzug des Unionsrechts oder der Verletzung der gemeinsamen Werte in einem Mitgliedstaat ein hinreichender Grund für ein selektives Vorgehen der anderen 62
Dorociak / Lewandowski, 3 Eur. Papers 2018, 857 (861 f.); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (807 f.) unter Bezugnahme auf den Ausspruch „some (…) are more equal than others“ aus Animal Farm von Orwell. 63 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (77). 64 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (76 f.); Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382); Lührs, Überstellungsschutz, S. 83 f.; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (17 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 203 f.; Schill / Krenn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 9; Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27). Unentschlossen Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 93 Fn. 469. 65 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 14; Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 18; Lührs, Überstellungsschutz, S. 83 f.; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 25. 66 Franzius, HFR 2010, 159 (173); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 733; Lührs, Überstellungsschutz, S. 83 f.; Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (35 ff.). 67 Lührs, Überstellungsschutz, S. 83 f. 68 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 203; Lührs, Überstellungsschutz, S. 83. 69 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (77).
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Mitgliedstaaten zu sehen sein. Art. 4 Abs. 2 EUV verbietet nicht jede Differenzierung, sondern nur willkürliche oder zumindest sachgrundlose Diskriminierungen einzelner Mitgliedstaaten.70 Der Vorschlag, an die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen anzuknüpfen, steht zwar im Einklang mit der hinter dem Vertrauensgrundsatz stehenden rechtspolitischen Idee eines Verfassungspluralismus, der die einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in ihrer Eigenart annimmt und von einer Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und Rechtsanwendung ausgeht. Als Rechtsgrundlage für den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens taugt Art. 4 Abs. 2 EUV aber nicht. IV. Herleitung aus Art. 2 EUV Verbreitet wird die normative Grundlage des vom EuGH entwickelten Vertrauensgrundsatzes in Art. 2 EUV – teils in Zusammenschau mit Art. 7, 49 EUV – gesehen.71 Art. 2 EUV benennt in Satz 1 die grundlegenden Werte, auf die sich die EU gründet. Dazu gehören die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.72 Diese Werte binden nicht nur die Union, sondern sind auch für die innere Ordnung der Mitgliedstaaten verpflichtend.73 Art. 2 Satz 2 EUV formuliert ein Homogenitätsgebot zwischen den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Union und den mitgliedstaatlichen Verfassungen.74 Die Achtung dieser gemeinsamen Werte ist konsequenterweise materiellrechtliche Voraussetzung für einen Antrag auf Beitritt zur Union (Art. 49 EUV).75 70
Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 23; Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382); Schill / Krenn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 9. 71 von Bogdandy, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 23 (33); ders., EuR 2017, 487 (505); Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 15; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 156 ff.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 78 ff.; Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (688); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530; Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (43). 72 Ausführlich zu den einzelnen Werten Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 22 ff.; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 12 ff. 73 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 40; Hoffmeister, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 21 (25); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482). 74 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 7; Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 3. Eingehend Hanschmann, Homogenität in der Verfassungslehre und der Europarechtswissenschaft, S. 252 ff. Kritisch Nettesheim, ZRP 2021, 222. 75 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 33; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar, EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 7.
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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Nach den vom Europäischen Rat formulierten Beitrittsvoraussetzungen (sog. Kopenhagener Kriterien) muss jeder Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität hinsichtlich dieser Grundwerte gewährleisten.76 Auch nach dem Beitritt ist die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat Voraussetzung für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben.77 Im Fall schwerwiegender und anhaltender Verletzungen der in Art. 2 EUV normierten Werte sehen die Verträge ein Sanktionsverfahren (Art. 7 EUV) vor, das zu einer Aussetzung von Mitgliedschaftsrechten führen kann.78 Art. 49 EUV und Art. 7 EUV unterstreichen die zentrale Bedeutung der in Art. 2 EUV genannten Werte sowohl für den EU-Beitritt als auch während der Mitgliedschaft in der Union.79 Die europäischen Werte lassen sich als rechtliche Basis und „Geschäftsgrundlage“ der Mitgliedschaft in der EU bezeichnen.80 Die in Art. 2 EUV genannten Grundwerte werden auch als Fundament des Vertrauensgrundsatzes angesehen.81 Aus Art. 2 Satz 2 EUV folge, dass die Mitgliedstaaten sich bei der Zusammenarbeit darauf verlassen können und müssen, dass die übrigen Mitgliedstaaten die gemeinsamen Werte und insbesondere die Grundrechte achten und einhalten.82 Für eine Anknüpfung des Vertrauensgrundsatzes in Art. 2 EUV spreche schließlich auch der Umstand, dass Art. 2 EUV im Gegensatz zu anderen Normen des Primärrechts nicht ausschließlich das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten betreffe, sondern in Satz 2 auch auf das Verhältnis der EUMitgliedstaten untereinander eingehe.83 Auch der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass das Unionsrecht auf der „grundlegenden Prämisse“ beruhe, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich nach Art. 2 EUV die Union gründet. Diese Prämisse impliziere und rechtfertige die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte
76 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Kopenhagen, 21./22. 06. 1993, SN 180/1/93, S. 13; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 33; ders., JZ 2004, 1033 (1036). 77 EuGH, Urt. v. 18. 05. 2021 – C-83/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:393 Rn. 162 – Asociația „Forumul Judecătorilor din România“; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 Rn. 51 – Kommission / Polen; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 – Euro Box Promotion u. a.; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 126 – Ungarn / Parlament u. Rat. 78 Näher zum Verfahren nach Art. 7 EUV s. unten, → 4. Kapitel, § 3. A. II. 79 Lührs, Überstellungsschutz, S. 82; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 5 ff. 80 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 33; ders., JZ 2004, 1033 (1040); Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 27; F. Weber, JZ 2022, 292 (293). 81 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 15; Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (43). 82 Lührs, Überstellungsschutz, S. 78. 83 Lührs, Überstellungsschutz, S. 79.
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden.84 Diese Ausführungen könnte man so verstehen, dass der Gerichtshof die normative Grundlage des Vertrauensgrundsatzes ebenfalls in Art. 2 EUV sieht.85 Ganz klar ist das aber nicht, zumal der EuGH in anderen Entscheidungen abweichende Anknüpfungspunkte wählt.86 Gegen die Verortung des Vertrauensgrundsatzes in Art. 2 EUV wird vorgebracht, dass die gemeinsamen Werte unbestimmt, kontextbezogen und in hohem Maße konkretisierungsbedürftig seien.87 Teils wird deshalb angenommen, dass sie erst dann konkrete Rechte und Pflichten begründen, wenn sie anhand einzelner Primärund Sekundärrechtsnormen näher ausgeformt werden.88 Derart ausdifferenzierte Rechtswirkungen wie der EuGH sie dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens entnimmt, lassen sich unmittelbar aus Art. 2 EUV jedenfalls kaum ableiten.89 Hinzu kommt, dass Art. 2 EUV die Mitgliedstaaten zwar zur Achtung der dort genannten Werte verpflichtet. Eine Verpflichtung zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten die dort genannten Werte ebenfalls beachten, lässt sich Art. 2 EUV aber nicht entnehmen.90 Diese Legalitätsvermutung macht aber gerade den Kern des Vertrauensgrundsatzes aus.91 Art. 2 EUV mag die Basis oder das Fundament für eine Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen bereiten. Die aus dem Vertrauensgrundsatz folgenden Pflichten der Mitgliedstaaten lassen sich ihm aber nicht entnehmen.
84
EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 168 f. – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 30 – ASJP; Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rn. 34 – Achmea; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI: EU:C:2019:218 Rn. 80 – Jawo; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., E CLI:EU:C:2019:219 Rn. 83 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 45 – Dorobantu; Urt. v. 11. 03. 2020 – C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191 Rn. 35 – SF; Urt. v. 24. 09. 2020 – C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749 Rn. 30 – XC; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI: EU:C:2021:591 Rn. 50 – Kommission / Polen; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI: EU:C:2021:1034 Rn. 160 – Euro Box Promotion u. a. 85 So Lührs, Überstellungsschutz, S. 80; Montaldo, 1 Eur. Papers 2016, 965 (969 f.). Gegen eine entsprechende Interpretation der Rechtsprechung Kullak, Vertrauen in Europa, S. 204; Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27). 86 EuGH, Urt. v. 23. 05. 1996 – C-5/94, ECLI:EU:C:1996:205 Rn. 19 – Hedley Lomas; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-270/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 62 – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 40 – Bouygues travaux public. 87 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 12 f.; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 20; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 204. 88 Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (437 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 204. 89 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (47); ders., in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (42). 90 Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27); a. A. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 85: „[W]er sich einmal an gemeinsame Werte gebunden hat, ist verpflichtet, sich zu vertrauen“. 91 Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27).
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
143
V. Ableitung aus Art. 2 i. V. m. Art. 3 EUV Andere leiten den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens aus Art. 2 EUV in Verknüpfung mit der Zielbestimmung des Art. 3 EUV ab.92 Diese Auffassung sieht in den Werten aus Art. 2 EUV die Basis, auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten ihre Kooperation im Rahmen einer Wertegemeinschaft entfalten, und die den Mitgliedstaaten trotz aller Unterschiede im Detail eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ermöglicht.93 Weil die Mitgliedstaaten die in Art. 2 EUV genannten Werte teilen, gebe es grundsätzlich keinen Anlass, den anderen Mitgliedstaaten mit Misstrauen zu begegnen, sodass Grundlage und Möglichkeit für eine vertrauensbasierte Kooperation geschaffen seien.94 Zur rechtlichen Verpflichtung werde diese Möglichkeit angesichts der in Art. 3 EUV normierten Ziele der Union.95 Da die Mitgliedstaaten die in Art. 3 EUV aufgelisteten Ziele mit der Union verfolgen, müssten sie sich vertrauen.96 Nicht die Werte selbst konkretisierten sich zur Vertrauenspflicht, sondern die Ziele der Union verdichteten sich auf Grundlage der in Art. 2 EUV normierten Werte zum Vertrauensgrundsatz.97 Problematisch an dieser Herleitung ist, dass Adressat der in Art. 3 EUV genannten Ziele nach dem Wortlaut der Norm primär die Organe der Union sind.98 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wirkt aber in erster Linie im horizontalen Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten.99 Zwar sind auch die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Vertragsziele zu fördern und alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden können. Diese Pflicht der Mitgliedstaaten ergibt sich aber nicht unmittelbar aus Art. 3 EUV, sondern in der Zusammenschau mit Art. 4 Abs. 3 EUV.100 Hinzu kommt, dass Art. 3 EUV den Staatszielbestimmungen vergleichbare offene Zielbestimmungen enthält, die dem Normadressaten – in erster Linie dem unionalen Gesetzgeber – bei der Umsetzung der normierten Ziele erhebliche Entscheidungsspielräume belassen.101 Justiziabel sind allenfalls besonders schwere und evidente Zielverfehlungen.102 Dies steht im 92
L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). 94 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). 95 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). 96 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). 97 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). 98 Lührs, Überstellungsschutz, S. 83; Terhechte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 27. 99 Franzius, HFR 2010, 159 (173); Lührs, Überstellungsschutz, S. 83; Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (35 ff.). 100 Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 3 EUV Rn. 4; Terhechte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 27. 101 Becker, in: Schwarze / Becker / Hatje / Schoo, EU-Kommentar, Art. 3 EUV Rn. 5; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 3 EUV Rn. 2; Terhechte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 27. 102 Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 3 EUV Rn. 5; Terhechte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 28; Ukrow, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 148. 93
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
Widerspruch zum Konkretisierungsgrad des Vertrauensgrundsatzes und zur engmaschigen Nachprüfung des mitgliedstaatlichen Kooperationsverhaltens durch den EuGH. Art. 3 EUV ist somit nicht geeignet, die Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen zu begründen.103 VI. Gegenseitiges Vertrauen als funktionales Konstruktionsprinzip des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Ladenburger nimmt an, dass es sich beim Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens um ein dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts immanentes, funktionales Konstruktionsprinzip handele.104 Dieses Konstruktionsprinzip soll seine Grundlage wohl in dem in Art. 3 Abs. 2 EUV normierten Ziel der Union, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen zu errichten, finden.105 Das effiziente Funktionieren dieses Raums ohne Binnengrenzen setze voraus, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Zusammenarbeit nicht in jedem Einzelfall ausführlich prüfen dürfen, ob in einem anderen Staat eine Grundrechtsverletzung erfolgt ist oder in Zukunft erfolgen könnte.106 Eine gewisse horizontale Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Grundrechtsschutz sei in dieser Situation schlicht notwendig.107 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, verstanden als funktionales Kon struktionsprinzip für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, legitimiere einerseits die gesetzgeberischen Entscheidungen beim Aufbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und steuere zugleich die Auslegung der entsprechenden Normen.108 Diese Herleitung ist insoweit konsequent, als Ladenburger davon ausgeht, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts von dem in anderen Bereichen geltend gemachten Grundsatz zu unterscheiden sei und hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen sowie der Grundlage des Vertrauensgrundsatzes zwischen den verschiedenen Rechtsgebieten zu differenzieren sei.109 Wie bereits gezeigt, ist dieser Annahme aber nicht zu folgen, sondern von einem einheitlichen Rechtsgrundsatz auszugehen, der rechtsgebietsübergreifend Geltung beansprucht.110 Eine Verankerung nur im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist daher nicht tragfähig.111 Hinzu kommt, dass der Schluss von einem – wenn auch in Art. 3 Abs. 2 EUV rechtlich verankerten – Ziel und den 103
Lührs, Überstellungsschutz, S. 83. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (383 f.). 105 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (383 Fn. 29). 106 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (383). 107 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (383). 108 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (383 f.). 109 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (380). 110 Hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. 111 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 86. 104
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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damit einhergehenden praktischen Bedürfnissen auf die Geltung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens methodisch zweifelhaft erscheint. Wie gerade gezeigt, ist Art. 3 Abs. 2 EUV nicht geeignet, eine Pflicht der Mitgliedstaaten zum gegenseitigen Vertrauen zu begründen, weil die Zielbestimmungen des Art. 3 EUV sich primär an die Organe der Union richten und zudem in hohem Maße ausfüllungsbedürftig sind.112 Praktische Erwägungen können an diesem Ergebnis nichts ändern. VII. Verankerung im Loyalitätsgrundsatz (Art. 4 Abs. 3 EUV) Der wohl überwiegende Teil der Literatur nimmt an, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit folgt.113 Bei dem Vertrauensgrundsatz soll es sich danach um eine horizontale, effet utile-orientierte Ausprägung des Loyalitätsgrundsatzes handeln.114 Die Anknüpfung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens an den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit liege bereits in Anbetracht der vergleichbaren Normstruktur der Grundsätze nahe: Beide Grundsätze seien primär an die Mitgliedstaaten gerichtet und begründeten aus sich heraus keine eigenständigen Pflichten, sondern knüpften akzessorisch an bestehende primär- oder sekundärrechtliche Pflichten der Mitgliedstaaten an.115 Wie das Loyalitätsgebot steuere auch der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens das Verhalten der Mitgliedstaaten in Abwesenheit zentraler Durchsetzungsmechanismen.116 Der Beitrag des Vertrauensgrundsatzes zur einheitlichen und effektiven Anwendung des Unionsrechts reihe sich zwanglos in die bekannten Funktionen des Loyalitätsgrundsatzes ein.117 Das Loyalitätsprinzip sei dabei instrumentell hinreichend weit und flexibel, um das gesamte Wirkungsspektrum des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens abzudecken.118
Siehe oben, → 2. Kapitel, § 2. B. V. Blanchet, in: Czuzczai / Naert, The EU as a Global Actor, S. 174 (184); von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (330); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 108 ff.; Franzius, HFR 2010, 159 (169); ders., in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 133; Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (75 ff.); Groussot / Pétursson / Wenander, 1 Eur. Papers 2016, 865 (890); Hatje, in: Schwarze / Becker / Hatje / Schoo, EU-Kommentar, Art. 4 EUV Rn. 82; Herlin-Karnell, 38 Eur. Law Rev. 2013, 79 (80); Janssens, Mutual Re cognition, S. 151; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 205 ff.; Labayle, in: FS K. Hailbronner, S. 153 (161); Majone, EUI Working Papers 1995, S. 1; Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (717); ders., 40 YEL 2021, 475 (477); F. Meyer, EuR 2017, 163 (179 f.); K. Müller, Vertrauen im Mehr ebenensystem, S. 293, 733 ff.; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (91 f.). 114 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 148; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 205. 115 De Schutter, in: De Schutter / Moreno Lax, Human Rights in the Web of Governance, S. 295 (302 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 205, 207 f. 116 F. Meyer, EuR 2017, 163 (179). 117 F. Meyer, EuR 2017, 163 (179 f.); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 740 ff.; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 85 (92). 118 F. Meyer, EuR 2017, 163 (179). 112 113
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
In der Rechtsprechung des EuGH finden sich Äußerungen, die darauf hindeuten, dass der Gerichtshof die normative Grundlage des Vertrauensgrundsatzes ebenfalls in Art. 4 Abs. 3 EUV sehen könnte.119 Im Kontext des Binnenmarktrechts nahm er an, dass aus der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV) auch folge, dass sich die Mitgliedstaaten hinsichtlich der in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet durchgeführten Kontrollen gegenseitig Vertrauen entgegenbringen müssten.120 In Entscheidungen zur Arbeitnehmer entsendung führte der Gerichtshof aus, dass der in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit den Grundsatz des gegenseitigen Ver trauens „umfasse“ bzw. „impliziere“.121 Auch verschiedene Generalanwälte haben eine Anknüpfung des Vertrauensgrundsatzes im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit vorgeschlagen.122 In einer Gesamtschau mit anderen Entscheidungen lässt sich der Rechtsprechung des EuGH aber keine klare Verankerung des Vertrauensgrundsatzes in Art. 4 Abs. 3 EUV entnehmen, da der Gerichtshof an anderer Stelle wiederum annimmt, dass die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaat durch die Prämisse, dass die Mitgliedstaaten die in Art. 2 EUV normierten Werte teilen, impliziert und gerechtfertigt werde.123 In der überwiegenden Anzahl seiner Entscheidungen trifft der EuGH keine Aussage zu den normativen Grundlagen des Grundsatzes. Gegen eine Verankerung des Vertrauensgrundsatzes im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit wird eingewandt, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens qualitativ etwas anderes von den Mitgliedstaaten verlange als das Loyalitätsgebot. Der entscheidende Unterschied sei, dass der Vertrauensgrundsatz eine generelle, allgemein anwendbare Pflicht zur Legalitätsvermutung aufstelle, wo 119
EuGH, Urt. v. 23. 05. 1996 – C-5/94, ECLI:EU:C:1996:205 Rn. 19 – Hedley Lomas; Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 40, 42 – Altun u. a.; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 62 – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI: EU:C:2020:379 Rn. 40 – Bouygues travaux publics. 120 EuGH, Urt. v. 23. 05. 1996 – C-5/94, ECLI:EU:C:1996:205 Rn. 19 – Hedley Lomas. 121 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 40 – Altun u. a.; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 62 – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 40 – Bouygues travaux publics. 122 GA Colomer, Schlussanträge v. 08. 04. 2008 – C-297/07, ECLI:EU:C:2008:206 Rn. 45 – Bourquain; GA Mengozzi, Schlussanträge v. 04. 03. 2010 – C-316/07 u. a., ECLI:EU:C:2010:109 Rn. 104 – Stoß; GA Bot, Schlussanträge v. 03. 03. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI: EU:C:2016:140 Rn. 177 – Aranyosi u. Căldăraru; GA Pikamäe, Schlussanträge v. 09. 09. 2020 – C-225/19 u. C-226/19, ECLI:EU:C:2020:679 Rn. 130 – R. N.N. S. u. a. 123 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 168 f. – EMRKBeitritt II; Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 30 – ASJP; Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rn. 34 – Achmea; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 80 – Jawo; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI: EU:C:2019:219 Rn. 83 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 45 – Dorobantu; Urt. v. 11. 03. 2020 – C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191 Rn. 35 – SF; Urt. v. 24. 09. 2020 – C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749 Rn. 30 – XC. S. hierzu schon oben, → 2. Kapitel, § 2. B. IV.
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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hingegen das Loyalitätsgebot verschiedene Pflichten je nach der konkreten Situation auslöse.124 Aus dem Loyalitätsgebot könnten allenfalls in Ausnahmefällen im Verhältnis zum positiven Recht autonome Pflichten der Mitgliedstaaten entstehen; es wirke grundsätzlich nur in Verbindung mit anderen unionsrechtlichen Bestimmungen.125 Es sei daher nicht möglich, dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit eine Pflicht zum wechselseitigen Vertrauen zu entnehmen, die weiter reicht als die redliche Erfüllung der den Mitgliedstaaten im Primär- und Sekundärrecht ausdrücklich auferlegten Pflichten.126 Andere weisen darauf hin, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zumindest allein keine ausreichende normative Grundlage für die mit dem Vertrauensgrundsatz verbundenen Wirkungen sein könne.127 Als an sich neutrales, auf den effet utile des Unionsrecht gerichtetes Vollzugsprinzip könne er nicht die erforderliche Rechtfertigung dafür liefern, warum ein Mitgliedstaat verpflichtet sein sollte, auf eine eigene Grundrechtsprüfung zu verzichten und auf die Grundrechtswahrung durch einen anderen Mitgliedstaat zu vertrauen.128 Der Kritik ist zumindest insoweit zuzustimmen, als die Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in der Tat ein gemeinsames Wertefundament der beteiligten Mitgliedstaaten und die Wahrung gewisser rechtsstaat licher und grundrechtlicher Mindeststandards voraussetzt.129 Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit allein kann die mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehende Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den Mitglied staaten daher nicht rechtfertigen. VIII. Ableitung aus dem Prinzip der Solidarität Teils wird der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch als eine Facette eines übergeordneten Prinzips der Solidarität verstanden.130 Das Solidaritätsprinzip ist ein allgemeines Verfassungsprinzip des Unionsrechts,131 das aus einer Gesamtschau verschiedener in den Verträgen normierter, spezieller Solidaritätspflichten abgeleitet wird, u. a. aus dem 6. ErwG der Präambel des EUV, Art. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3, Art. 24 Abs. 2 EUV, Art. 80, Art. 222 Abs. 1, Art. 325 Abs. 2, 124
L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (78). Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (49); L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (78). 126 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (49). 127 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382 f.). 128 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382 f.). 129 Ebenso Lührs, Überstellungsschutz, S. 85. 130 Goldner Lang, in: Biondi / Dagilyt / Kucuk, Solidarity in EU Law, S. 133 (133 f., 150 ff.); in diesem Kontext wird auch auf ErwG 22 Dublin III-VO verwiesen. 131 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 222 AEUV Rn. 12 ff.; Jacqué, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 2 EUV Rn. 10 ff.; W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 104. Monographisch zum Solidaritätsprinzip Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, S. 189 ff.; Gussone, Solidaritätsprinzip in der EU; Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip in der EU; Lais, Solidaritätsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. 125
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
Art. 351 Abs. 2 Satz 2 AEUV.132 Über seinen Inhalt besteht keine abschließende Klarheit. Allgemein gesprochen verpflichtet es die Mitgliedstaaten zur Mitwirkung an der Förderung und am Schutz des gemeinsamen Interesses in Gestalt des europäischen Gemeinwohls und daraus folgend auf die Bereitschaft zur Hinnahme von Nachteilen, wenn dies erforderlich ist, um diesen Interessen gerecht zu werden.133 Für eine Herleitung des Vertrauensgrundsatzes aus dem Solidaritätsprinzip soll sprechen, dass eine (teilweise) Funktionsgleichheit der Grundsätze bestehe, da auch der Solidaritätsgrundsatz das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander ordne und, insbesondere als Auslegungsprinzip, die effektive und einheitliche Anwendung des Unionsrecht gegen die „zentrifugalen Kräfte in einem föderalen Gebilde“ sichere.134 Es spricht bereits im Ausgangspunkt wenig dafür, den Vertrauensgrundsatz auf einen Grundsatz zu stützen, der ebenfalls in hohem Maße klärungs- und herleitungsbedürftig ist.135 Solidarität als rechtliche Verpflichtung zielt der Sache nach zudem auf gegenseitige ideelle oder materielle Unterstützung sowie Beistand unter den Mitgliedstaaten im Sinne eines Füreinandereinstehens, etwa in Krisen- und Notsituationen.136 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist aber nicht auf Beistandsleistungen zugunsten einzelner Staaten gerichtet, sondern soll im Inte resse aller Mitgliedstaaten eine effektive horizontale Zusammenarbeit im europä ischen Binnenraum ermöglichen. Auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfte keine Verortung des Vertrauensgrundsatzes im Prinzip der Solidarität zu entnehmen sein. Zwar führte der EuGH in der Entscheidung Advocaaten vor de Wereld im Kontext des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung sowohl das Vertrauen als auch die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten an.137 Beide Begriffe wurden in der Entscheidung aber ersichtlich als tatsächliche Voraussetzungen für die Schaffung des RbEuHb herangezogen und nicht in einem normativen Sinne verwendet.138
132
W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 104; Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip, S. 75. 133 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (53); Calliess, in: Calliess / Ruffert, Art. 222 AEUV Rn. 10. 134 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 746. 135 Lührs, Überstellungsschutz, S. 86. Kritik an dieser Argumentation bei K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 747 f. 136 Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 16; W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 104; Franzius, in: Frankfurter Kommentar, EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 102. 137 EuGH, Urt. v. 03. 05. 2007 – C-303/05, ECLI:EU:C:2007:261 Rn. 57 – Advocaten voor de Wereld. 138 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (53).
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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IX. Zwischenfazit Über die normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes besteht erkennbar Unklarheit. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind unterschiedliche Anknüpfungspunkte erkennbar; diese Ansätze werden jedoch weder argumentativ hergeleitet, noch erfolgt eine Auseinandersetzung mit in anderen Entscheidungen getätigten, scheinbar in eine andere Richtung weisenden Äußerungen. Innerhalb des Teils der Literatur, der den Vertrauensgrundsatz als Rechtsgrundsatz grundsätzlich anerkennt, werden im Wesentlichen die zuvor dargestellten Ansätze vertreten. Wie gezeigt, kann jedoch keiner der untersuchten Ansätze vollständig überzeugen. Über die bereits dargestellten Aspekte hinaus ist allen Ansätzen das Defizit gemeinsam, dass sie sich allein auf die Herleitung und Begründung der – praktisch zugegebenermaßen im Fokus stehenden – Legalitätsvermutung konzentrieren. Das aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ebenfalls folgende Verbot, die horizontale Kooperation von der Wahrung über das unionsrechtliche Schutzniveau hinausgehender nationaler Standards abhängig zu machen, wird vollständig außer Acht gelassen.
C. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Ausfluss loyaler Zusammenarbeit auf Basis gemeinsamer europäischer Werte (Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 EUV) Der vom EuGH entwickelte Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens findet seine Rechtsgrundlage richtigerweise in Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 EUV.139 Diese beiden Normen in Verbindung können die von der Rechtsprechung entfalteten, im ersten Kapitel herausgearbeiteten Strukturen und rechtlichen Gehalte des Vertrauensgrundsatzes in ihrer Gesamtheit tragen, erklären und begründen. I. Ausgangspunkt: Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet die Union und die Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Achtung und Unterstützung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Europäischen Verträgen ergeben (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV). Die Mitgliedstaten sind verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Unionsorgane ergeben, zu ergreifen (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV). Sie müssen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe unterstützen und alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV). Aus dem Loyalitätsprinzip folgen somit sowohl positive 139
Ebenso mittlerweile Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 86.
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
Kooperationspflichten in Form von Handlungs-, und Unterstützungspflichten als auch ein Rücksichtnahmegebot, das mit Unterlassungspflichten einhergeht.140 Der Loyalitätsgrundsatz ist ein akzessorisches Prinzip; er knüpft in der Regel an bereits bestehende, aus dem Unionsrecht folgende Pflichten oder Rechtsverhältnisse an und konkretisiert, wie diese zu erfüllen sind.141 Zwar können auf Grundlage des Loyalitätsprinzips auch neue Rechte und Pflichten begründet werden, wie etwa ungeschriebene Informations- und Auskunftspflichten;142 es handelt sich aber stets um Pflichten, die eine ergänzende Funktion im Hinblick auf ein bestimmtes primär- oder sekundärrechtliches geschaffenes Rechtsverhältnis oder eine bestimmte Rechtspflicht entfalten.143 Primäres Ziel hinter den aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgenden Loyalitätspflichten ist die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit und Einheitlichkeit des Unionsrechts und die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems der EU.144 Die aus dem Loyalitätsgebot resultierenden Kooperations- und Rücksichtnahmepflichten gelten – trotz des insofern auf den ersten Blick undeutlichen Wortlauts – nach herrschender Auffassung nicht nur im vertikalen Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, sondern auch im Horizontalverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten.145 Auch der Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV lässt sich bei näherem Hinsehen so verstehen, dass nicht nur die Union und die Mitgliedstaaten, sondern auch die Mitgliedstaaten untereinander zu gegenseitiger Unterstützung verpflichtet sein sollen. Welche Rechtsfolgen sich im horizontalen Verhältnis aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergeben, ist noch nicht im Einzelnen
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Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 97 f.; Streinz, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 29; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 46. 141 Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 92; Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 17, 60 f.; W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 110; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 207. 142 EuGH, Urt. v. 24. 03. 1988 – 240/86, ECLI:EU:C:1988:173 Rn. 27 f. – Kommission / Griechenland; Urt. v. 22. 09. 1988 – 272/86, ECLI:EU:C:1988:433 Rn. 30 ff. – Kommission / Griechenland; Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 108; Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 60; ders., in: Schwarze / Becker / Hatje / Schoo, EU-Kommentar, Art. 4 EUV Rn. 74. 143 Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 60 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 208. 144 Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 66; Schill / Krenn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 80. 145 S. nur EuGH, Urt. v. 22. 03. 1983 – 42/82, ECLI:EU:C:1983:88 Rn. 36 – Kommission / Frankreich; Urt. v. 11. 06. 1991 – C-251/89, ECLI:EU:C:1991:242 Rn. 57 – Athanasopoulos u. a.; Urt. v. 22. 11. 2012 – C-116/11, ECLI:EU:C:2012:739 Rn. 62 f. – Bank Handlowy; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-398/19, ECLI:EU:C:2020:1032 Rn. 48 – BY; Benrath, Konkretisierung von Loyalitätspflichten, S. 68; Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 36, 59, 68; W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 179; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 150 ff.; Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / MorenoLax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (534); Streinz, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 6.
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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konkretisiert und in Details umstritten.146 Anerkannt ist jedenfalls eine allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten, im Anwendungsbereich des Unionsrechts im Geiste der Loyalität zusammen zu arbeiten und Rücksicht auf ihre wechselseitigen Interessen zu nehmen.147 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens betrifft das Horizontalverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten. Es erscheint prinzipiell möglich, seine Geltung auf die Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit zu stützen. Die Grundsätze weisen sowohl mit Blick auf ihren Sinn und Zweck als auch hinsichtlich ihrer Funktionsweise Parallelen auf, die eine Verortung des Vertrauensgrundsatzes als Unterprinzip des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV nahelegen. Wie der Loyalitätsgrundsatz soll der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der Effektivität und praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts dienen.148 Konkret soll er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen, in dem Entscheidungen und Waren frei verkehren, und damit zur Verwirklichung der in Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 EUV normierten Ziele der Union beitragen.149 Diesem Ziel dient sowohl die Pflicht zur wechselseitigen Vermutung (unions-)rechtskonformen Handelns als auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei der Zusammenarbeit kein höheres Schutzniveau einzufordern als das durch das Unionsrecht gewährleistete. Auch die Funktionsweise der Grundsätze ist vergleichbar: Beide Grundsätze begründen aus sich heraus keine eigenständigen Pflichten, sondern knüpften akzessorisch an bestehende primär- oder sekundärrechtliche Pflichten der Mitgliedstaaten an.150 Der Vertrauensgrundsatz formt – wie der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – die Pflichten der Mitgliedstaaten im Rahmen der horizontalen Kooperation näher aus.151 Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wohnt zudem ebenso wie dem Loyalitätsgebot eine Reziprozität inne.152
146 W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 179; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 206. 147 EuGH, Urt. v. 22. 03. 1983 – 42/82, ECLI:EU:C:1983:88 Rn. 36 – Kommission / Frankreich; Urt. v. 11. 06. 1991 – C-251/89, ECLI:EU:C:1991:242 Rn. 57 – Athanasopoulos u. a.; W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 179; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 151 f. 148 Lührs, Überstellungsschutz, S. 84; F. Meyer, EuR 2017, 163 (179 f.); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 85 (92). 149 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI: EU:C:2016:198 Rn. 78 – Aran yosi u. Căldăraru; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 – Donnellan; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 84 – Ibrahim u. a. 150 De Schutter, in: De Schutter / Moreno Lax, Human Rights in the Web of Governance, S. 295 (302 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 205. 151 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 205. 152 Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 71 (77); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 207.
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist somit dem Loyalitätsprinzip funktionell und strukturell vergleichbar.153 Wie schon gezeigt,154 ist der Kritik an einer normativen Verankerung des Vertrauensgrundsatzes in Art. 4 Abs. 3 EUV aber beizugeben, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit allein keine ausreichende normative Grundlage für die mit dem Vertrauensgrundsatz verbundenen Wirkungen sein kann.155 Er kann aus sich heraus nicht die erforderliche Rechtfertigung dafür liefern, warum die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet sein sollen, unter Verzicht auf eine eigene Prüfung auf die Rechtswahrung durch die übrigen Mitgliedstaaten zu vertrauen,156 sowie die eigenen Schutzstandards hinter das unionsrechtliche Schutzniveau zurückzustellen. Hierfür bedarf es einer weitergehenden, materiellen Legitimationsgrundlage. II. Art. 2 EUV als Geschäftsgrundlage des Vertrauensgrundsatzes Das materielle Fundament des Vertrauensgrundsatzes bilden die in Art. 2 EUV normierten Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten.157 Die Prämisse, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten gemein sind, schafft die notwendige Legitimation für eine horizontale, vertrauensbasierte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.158 Die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten auf die in Art. 2 EUV genannten Prinzipien rechtfertigt prima facie die Annahme, dass alle mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gewissen Mindeststandards genügen und eine ord-
153 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 87; vgl. K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 739. 154 S. oben, → 2. Kapitel, § 2. B. VII. 155 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382 f.). 156 Vgl. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (382 f.). 157 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 15; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 12a; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 156 ff.; Pernice, in: FS Meyer, S. 359 (375); Sicurella, 9 NJECL 2018, 308 (309); Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (43); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 40; a.A. Düsterhaus, 8 REALaw 2015, 151 (151 f.), der die gemeinsame Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK als Basis des gegenseitigen Vertrauens ausmacht. 158 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 168 – EMRKBeitritt II; Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 30 – ASJP; Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rn. 34 – Achmea; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 80 – Jawo; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI: EU:C:2019:219 Rn. 83 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 45 – Dorobantu; Urt. v. 11. 03. 2020 – C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191 Rn. 35 – SF; Urt. v. 29. 04. 2021 – C-665/20 PPU, ECLI:EU:C:2021:339 – X; Urt. v. 24. 09. 2020 – C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749 Rn. 30 – XC; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 754; Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (43); vgl. auch BVerfG, Urt. v. 18. 07. 2005 – 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 (299) – Europäischer Haftbefehl I. Anders Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 94, 448, der die Legitimationsgrundlage in einer Gesamtschau der Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK, die GRCh, Art. 2 EUV und der vorgenommenen Mindestharmonisierung sieht.
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
153
nungsgemäße Rechtsanwendung durch alle Mitgliedstaaten gewährleistet ist.159 Der in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommende Wertekonsens160 zwischen den Mitgliedstaaten bietet auch einen Anknüpfungspunkt für die zweite mit dem Vertrauensgrundsatz einhergehende Grundpflicht, nach der die Mitgliedstaaten in der horizontalen Zusammenarbeit voneinander kein höheres nationales Schutzniveau einfordern dürfen als das unionsrechtlich gewährleistete Schutzniveau. Art. 2 EUV lässt sich nämlich implizit die Bereitschaft der Mitgliedstaaten entnehmen, im unionalen Binnenverhältnis auf Basis der dort normierten gemeinsamen Standards zu interagieren. Elementar ist dabei, dass dem in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Konsens auch ein gelebter Wertekonsens gegenübersteht.161 Entsprechend setzt der Beitritt eines Staates zur EU voraus, dass der künftige Mitgliedstaat die Grundwerte des Art. 2 EUV achtet und fördert.162 Auch nach dem Beitritt darf ein Mitgliedstaat seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern, dass der Schutz der gemeinsamen Werte nicht mehr gewährleistet ist.163 Die Europäischen Verträge sehen daher verschiedene Instrumente der unionalen Verfassungsaufsicht164 vor, die sicherstellen sollen, dass die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auch nach dem Beitritt weiterhin den gemeinsamen Werten genügen, und die die Union in die Lage versetzen, diese Werte zu verteidigen.165 Die Existenz dieser Sicherungsinstrumente rechtfertigt es, dass die Mitgliedstaaten selbst dann, wenn sich wider Erwarten Mängel in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats oder bei der mitgliedstaat lichen Rechtsanwendung zeigen, grundsätzlich weiter an die Vertrauensvermutung gebunden sind. Abgesehen von außergewöhnlichen Umständen dürfen sie keine einseitigen Abhilfemaßnahmen ergreifen und die vertrauensbasierte Kooperation nicht verweigern.166 Die ordnungsgemäße Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten und die Wahrung der in Art. 2 EUV normierten Werte ist stattdes 159
Vgl. L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 51. 161 Vgl. F. Weber, JZ 2022, 292 (293); Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (435); Mancano, 40 YEL 2022, 475 (478). 162 EuGH, Urt. v. 18. 05. 2021 – C-83/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:393 Rn. 161 – Asociația „Forumul Judecătorilor din România“; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 161 – Euro Box Promotion; Ohler, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 49 EUV Rn. 15; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 7. 163 Vgl. EuGH, Urt. v. 20. 04. 2021 – C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311 Rn. 63 – Republikka; Urt. v. 18. 05. 2021 – C-83/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:393 Rn. 161 f. – Asociația „Forumul Judecătorilor din România“; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 Rn. 51 – Kommission / Polen; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19, ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 162 – Euro Box Promotion. 164 Eingehend zum Begriff M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 239 ff. Begriff auch bei Franzius, DÖV 2018, 381 (383). 165 Hierzu im Einzelnen unten, → 4. Kapitel, § 3. A. 166 EuGH, Urt. v. 23. 05. 1996 – C-5/94, ECLI:EU:C:1996:205 Rn. 20 – Hedley Lomas; Urt. v. 06. 09. 2018 – C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669 Rn. 46 – Alpenrind u. a.; Urt. v. 06. 10. 2021 – C-136/20, ECLI:EU:C:2021:804 Rn. 45 – LU; Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (354). 160
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
sen mit dem in den Europäischen Verträgen dafür vorgesehenen Instrumentarium sicherzustellen.167 Einzelne Mitgliedstaaten können etwa im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 259 AEUV gegen Unionsrechtsverstöße in anderen Mitgliedstaaten vorgehen.168 Die in Art. 2 EUV normierten Werte und das Instrumentarium, das die Wahrung dieser Werte sicherstellen soll, verleihen den mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Wirkungen somit die erforderliche Legitimationsgrundlage.169 Sie bilden gleichsam die „Geschäftsgrundlage“170 der auf dem Vertrauensgrundsatz basierenden horizontalen Zusammenarbeit.171 Gleichwohl lassen sich die mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einhergehenden Pflichten der Mitgliedstaaten nicht aus Art. 2 EUV selbst ableiten. Art. 2 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten nämlich unmittelbar nur zur Achtung der dort genannten Werte. Die Verpflichtung, wechselseitig zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten die dort genannten Werte ebenfalls beachten, die gerade den Kern des Vertrauensgrundsatzes ausmacht, lässt sich nicht auf Art. 2 EUV stützen.172 Ebenso wenig ergibt sich aus dieser Norm, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Zusammenarbeit von den anderen Mitgliedstaaten kein höheres nationales Schutzniveau als das unionsrechtlich gewährleistete einfordern dürfen. Im Ergebnis schafft Art. 2 EUV also (nur) die Möglichkeit, auf Grundlage der gemeinsamen Werte eine Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen zu normieren, begründet eine entsprechende Rechtspflicht aber selbst noch nicht.173
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Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (354). Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (354); vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 20. 04. 2023 – C-228/21 u. a., ECLI:EU:C:2023:316 Rn. 167 f. – CZA u. a. Zum Vertragsverletzungsverfahren s. unten, → 4. Kapitel, § 3. A. III. Ausführlich zu Art. 259 AEUV als Instrument zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Union Íñiguez, GLJ 2022, 1104. 169 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 156; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 753 f. Zur Funktion des Art. 2 EUV als Legitimationsgrundlage der EU vgl. Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 10. 170 „Geschäftsgrundlage“ ist hier nicht in einem vertragsrechtlichen Sinne (vgl. § 313 BGB, Art. 62 WVK) zu verstehen. Der Arbeit liegt ein an die vertragsrechtliche Rechtsfigur lediglich angelehntes, freieres Begriffsverständnis zugrunde. Der Begriff umschreibt die der vertrauensbasierten Zusammenarbeit zugrundeliegende gemeinsame Erwartung, dass alle Mitgliedstaaten die in Art. 2 EUV niedergelegten Grundwerte achten. Zu den Rechtsfolgen einer „Störung“ dieser Geschäftsgrundlage s. u., → 3. Kapitel, § 2. C., § 3. B. 171 Mit Blick auf die Mitgliedschaft in der EU insgesamt Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 33; ders., JZ 2004, 1033 (1040); Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 58; Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 27. 172 Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (27); a. A. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 85: „[W]er sich einmal an gemeinsame Werte gebunden hat, ist verpflichtet, sich zu vertrauen“. 173 Vgl. L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79). 168
§ 2 Normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes
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III. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Unterprinzip des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit Zur Begründung der mit dem Vertrauensgrundsatz einhergehenden Rechtspflichten für die Mitgliedstaaten bedarf es der Verknüpfung des Art. 2 EUV mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) in seiner horizontalen Dimension. Die auf Grundlage des gemeinsamen Fundaments in Art. 2 EUV bestehende Möglichkeit einer vertrauensbasierten Kooperation wird angesichts der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zur rechtlichen Verpflichtung. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bildet ein Unterprinzip des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit.174 Die aus dem Vertrauensgrundsatz folgenden Pflichten der Mitgliedstaaten sind als Ausfluss des Prinzips zur loyalen Zusammenarbeit erklärbar: Im Interesse der Wirksamkeit und Effektivität des Unionsrechts haben die Mitgliedstaaten, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Unionsgrundrechte beachten.175 Von einer Nachprüfung im Einzelfall müssen sie daher grundsätzlich absehen. Auch die Verpflichtung auf den in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommenden Wertekonsens als gemeinsames Schutzniveau dient der einheitlichen und effektiven Anwendung des Unionsrechts, da sie verhindert, dass die Mitgliedstaaten unter Berufung auf etwaige höhere nationale Standards die Geltung und den Anwendungsvorrang des Unionsrechts in Frage stellen. Entsprechend den bekannten Wirkungen des Art. 4 Abs. 3 EUV folgen aus dem Vertrauensgrundsatz zudem ergänzende Informations-, Berücksichtigungs-, Prüf- und Begründungspflichten sowie die Pflicht, von Maßnahmen abzusehen, die die vertrauensbasierte Zusammenarbeit gefährden könnten. Auch hierdurch wird der vertrauensbasierten Kooperation zur praktischen Wirksamkeit verholfen.176 Soweit gegen eine normative Verankerung des Vertrauensgrundsatzes in Art. 4 Abs. 3 EUV eingewandt wird, dass der Vertrauensgrundsatz qualitativ etwas anderes von den Mitgliedstaaten verlange als der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, weil der Vertrauensgrundsatz eine generelle, autonome Pflicht aufstelle, wohingegen das Loyalitätsgebot nur in Verbindung mit anderen unionsrechtlichen Bestimmungen wirke,177 kann dem nicht gefolgt werden. Der Vertrauensgrundsatz und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit wirken gleichermaßen akzesso 174
Barczak, JuS 2021, 1 (6) bezeichnet Art. 4 Abs. 3 EUV angesichts seiner Rolle bei der Gewinnung neuer unionsrechtlicher Rechtsgrundsätze als eine Art „Mutterprinzip“ oder „Obergrundsatz“ des Unionsrechts, dem beträchtliches Dynamisierungspotenzial innewohne. 175 Vgl. Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 158: „Kann von einer Vermutung rechtskonformen Verhaltens ausgegangen werden, dürfte dies zur effet utile-orientierten loyalen Zusammenarbeit auch geboten sein. Es ist letztlich diese Ausprägung des Loyalitätsgrundsatzes, die der EuGH als Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bezeichnet.“ 176 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 208. 177 Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (49); L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (78).
156
2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
risch.178 Zwar legt der Gerichtshof das Akzessorietätserfordernis in Bezug auf den Vertrauensgrundsatz weit aus und erachtet es bereits als ausreichend, dass eine mitgliedstaatliche Maßnahme die Anwendung von Bestimmungen der Verträge beeinträchtigen könnte oder in Gewährleistungen der Europäischen Verträge eingreift.179 Im Hinblick auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV versteht der Gerichtshof das Akzessorietätserfordernis aber ähnlich weit. Auch dem Loyalitätsgebot misst er eine Absicherungsfunktion gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden oder in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigen würden.180 So kann der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Maßnahmen entgegenstehen, die die Mitgliedstaaten zur Durchführung eines außerhalb des Anwendungsbereichs der Verträge geschlossenen Übereinkommens erlassen, wenn diese Maßnahmen die Anwendung einer Bestimmung der Verträge oder des darauf gestützten Sekundärrechts oder das Funktionieren der Unionsorgane behindern würden.181 Das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit beansprucht nur subsidiär Geltung. Soweit das Primär- oder Sekundärrecht spezielle Regelungen trifft, die Fragen der loyalen Zusammenarbeit regeln, scheidet ein Rückgriff auf das allgemeine Rechtsprinzip aus.182 Dies gilt entsprechend für den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Enthalten etwa sekundärrechtliche Vorschriften über die gegenseitige Anerkennung spezielle Vorgaben für die Prüfungsbefugnisse der beteiligten Mitgliedstaaten oder den Informationsaustausch zwischen den beteiligten mitgliedstaatlichen Stellen, gehen diese Regelungen den allgemeinen Wirkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens vor. Soweit aber spezielle Regelungen nicht bestehen oder Lücken aufweisen, greift der allgemeine Vertrauensgrundsatz ein.183
Zur Akzessorietät des Vertrauensgrundsatzes s. bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. A. III. Vgl. EuGH, Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 – CETA; Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 – ZW; Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a.; Urt. v. 26. 10. 2021 – C-109/20, ECLI: EU:C:2021:875 – PL Holdings. 180 Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 70. 181 EuGH, Urt. v. 15. 01. 1986 – 44/84, ECLI:EU:C:1986:2 Rn. 38 ff. – Hurd; Urt. v. 27. 09. 1988 – 235/87, ECLI:EU:C:1988:460 Rn. 19 – Matteucci; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 70; Franzius, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 93. 182 Geiger / Kirchmair, in: Geiger / Khan / Kotzur / Kirchmair, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 6; Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 62 f.; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 84. 183 Vgl. für Art. 4 Abs. 3 EUV allgemein Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip, S. 63; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 84. 178 179
§ 3 Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes
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§ 3 Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes Nachdem die Primärrechtsgeltung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zu bejahen ist, stellt sich die Frage nach dessen rechtstheoretischer Einordnung. Diese ist bislang weitgehend offen. Lührs bezeichnet die Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes sogar als eines der „großen Mysterien“ des Europarechts.184 Für die nähere Untersuchung der Wirkweise des Vertrauensgrundsatzes und insbesondere für die Beantwortung der bislang ungeklärten Streitfrage, ob der Vertrauensgrundsatz einen Kontrollmaßstab für das europäische Sekundärrecht bildet,185 ist diese Einordnung aber von entscheidender Bedeutung.186 Im Folgenden soll daher nach einem Überblick über den Stand der Diskussion eine eigene Einordnung vorgenommen werden.
A. Diskussionsstand Der EuGH nimmt keine explizite rechtstheoretische Einordnung des Vertrauensgrundsatzes vor. Seine Begriffsverwendung ist zudem uneinheitlich: Er spricht in den deutschen Fassungen seiner Urteile wechselnd von einem „Grundsatz“187 und einem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“;188 im Englischen überwiegt die Bezeichnung als „principle of mutual trust“.189 Ungeachtet des konkreten Einzelfalles ist zu beachten, dass der Bezeichnung einer Rechtsfigur als „Grundsatz“ bzw. „Prinzip“ im Europarecht grundsätzlich wenig Aussagekraft zukommt und kein automatischer Rückschluss von der durch den Gerichtshof oder in den Verträgen gewählten Bezeichnung auf die Rechtsnatur eines Rechtssatzes möglich ist.190 Der Vertragsgeber und der Gerichtshof nutzen die Bezeichnungen als „Grundsatz“ oder „Prinzip“ vielmehr mit sehr unterschiedlichen Gehalten und Rechtsfolgen, 184
Lührs, Überstellungsschutz, S. 87 unter Berufung auf F. Meyer, EuR 2017, 163. Hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. D. II. 2. 186 Zu den Implikationen der im Folgenden getroffenen Einordnung auf diese Streitfrage s. unten, → 2. Kapitel, § 4. A. 187 S. nur EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 36 – Salzgitter Mannesmann Handel; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA. 188 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 79 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 53 – Abdullahi; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash. 189 S. nur EuGH, Urt. v. 11. 05. 1989 – 25/88, ECLI:EU:C:1989:187 Rn. 18 – Wurmser; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40, 45 – Donellan; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 – LM. 190 Beyerlich, in: FS Steinberger, S. 31 (56); von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europä isches VerfassungsR, S. 13 (25 f.); Kaufhold, EuR 2012, 408 (427); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 294 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 199; für völkerrechtliche Prinzipien ebenso Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, S. 227 f. 185
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
etwa um bestimmten Tatbestandsmerkmalen oder Normen eine hervorgehobene Bedeutung zuzuweisen oder auf Aussagen von allgemeiner Gültigkeit hinzuweisen.191 Erforderlich ist daher ungeachtet der Bezeichnung einer Rechtsfigur als Grundsatz oder Prinzip stets eine Untersuchung der spezifischen Struktur eines Rechtssatzes.192 Die Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes ist auf Grundlage der Rechtsprechung des EuGH somit als ungeklärt anzusehen. In der Literatur ergibt sich ebenfalls kein klares Bild. Wohl überwiegend wird vorgeschlagen, den Vertrauensgrundsatz als Rechtsprinzip im Sinne Alexys zu verstehen.193 Alexy definiert Prinzipien als „Optimierungsgebote“ oder Normen, „die gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maß realisiert wird“.194 Den Gegenbegriff sieht er in Regeln, die ein bestimmtes Handeln anordnen oder verbieten und stets nur erfüllt oder nicht erfüllt werden können.195 Der EuGH – so die Argumentation – entnehme dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens etwa, dass die Gründe für eine Versagung der gegenseitigen Anerkennung auf das erforderliche Minimum zu beschränken seien, was klar auf eine Wirkung als Optimierungsgebot hindeute.196 Für eine Einordnung als Prinzip im Sinne Alexys spreche zudem, dass der Vertrauensgrundsatz als Auslegungsprinzip wirke und einer Konkretisierung durch den Sekundärrechtsgeber bedürfe.197 Andere gehen dagegen davon aus, dass es sich bei dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens um ein „weiteres Exponat“ der europäischen Prinzipienlehre handele, vergleichbar dem Anwendungsvorrang und der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts.198 Konkret soll es sich um ein 191 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (26); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 294; Kaufhold, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (120); Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 104. 192 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (25 f.); K aufhold, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (120); Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, S. 227 f. 193 Kaufhold, EuR 2012, 408 (426 ff.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (120 f.); Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (265 f.); Kulick, JZ 2020, 223 (226); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 709 ff.; Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (368); Zipperer, ZIP 2021, 231 (235). 194 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75; ders., in: Schilcher / Koller / Funk, Regeln, Prinzipien und Elemente, S. 31 (32); bereits zuvor Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 26. S. aus der Reihe der Prinzipientheoretiker darüber hinaus Borowski, Grundrechte als Prinzipien; Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle; Sieckmann, Recht als normatives System; Park, Rechtsfindung im Verwaltungsrecht; Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta. Kritik bei Klement, JZ 2008, 756; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 75 ff.; Poscher, RW 2010, 349. 195 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75; ders., in: Schilcher / Koller / Funk, Regeln, Prinzipien und Elemente, S. 31 (32); ders., in: Alexy / Koch / Kuhlen / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 217 (224); bereits zuvor Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 24. 196 Kaufhold, EuR 2012, 408 (427); Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (368); Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (266). 197 Kaufhold, EuR 2012, 408 (428 ff.). 198 F. Meyer, EuR 2017, 163 (170, 174 ff.); Ostropolski, 6 NJECL 2015, 166 (177 f.).
§ 3 Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes
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verfassungsrechtliches Interpretations- und Vollzugsprinzip handeln.199 Vereinzelt wird der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch als „quasi-verfassungsrechtliches Axiom“ beschrieben.200
B. Einordnung des Vertrauensgrundsatzes I. Vorbemerkung Der Einordnung des Vertrauensgrundsatzes als Rechtsprinzip im Sinne Alexys kann nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, dass die kategorische Unterscheidung von Regeln und Prinzipien ohnehin zweifelhaft erscheint und nur einen begrenzten Erkenntnisgewinn verspricht,201 lässt sich der Vertrauensgrundsatz auch nicht als Optimierungsgebot in diesem Sinne verstehen. Bei der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung handelt es sich – vorbehaltlich der Ausnahmen – um ein definitives Gebot. Entsprechendes gilt für die Festlegung des europäischen Schutzniveaus als gemeinsamer Mindeststandard, dessen Erfüllung die Mitgliedstaaten bei der horizontalen Zusammenarbeit ausreichen lassen müssen. Gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten ist zudem nichts Selbstzweckhaftes, das in einem möglichst hohen Maße realisiert werden soll, sondern hat vor primär instrumentellen Charakter im Hinblick auf die Schaffung und Aufrechterhaltung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen.202 Zielführender erscheint eine Anknüpfung an den europäischen Prinzipienbegriff. Rechtsprinzipien bilden eine eigenständige normative Kategorie des Unionsrechts203 mit der Folge, dass für den vorliegenden Zweck diese europäische Begriffsbedeutung maßgeblich ist. Die Frage, ob es sich bei dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens um ein „Prinzip“ oder einen „Grundsatz“ handelt und was hierunter jeweils zu verstehen ist, ist deshalb in Auseinandersetzung mit der europäischen Prinzipienlehre zu beantworten.
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Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 86; F. Meyer, EuR 2017, 163 (177 ff.); Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 22. 200 Herlin-Karnell, in: Acosta Arcarazo / Murphy, EU Security and Justice, S. 38 (43). 201 Barczak, JuS 2021, 1 (4); von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (26). 202 S. hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 3. A. 203 Lais, Solidaritätsprinzip, S. 153; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 104.
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
II. Grundlegung: Europäische Prinzipienordnung Die Rechtsordnung der Union wird durch verschiedene Prinzipien geprägt, denen maßgebliche Bedeutung für den Charakter der Union als supranationale Rechtsordnung suis generis zukommt.204 Auch wenn die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Europäischen Prinzipienordnung noch eher am Anfang steht,205 haben Prinzipien mittlerweile einen festen Platz im europarechtlichen Diskurs.206 Im Folgenden sollen der europäische Prinzipienbegriff und denkbare Kategorisierungen überblicksartig betrachtet werden, um eine Grundlage für die Einordnung des Vertrauensgrundsatzes zu schaffen. 1. Begriff Die europäischen Verträge verwenden den Begriff „Prinzip“ zwar an verschiedenen Stellen (z. B. in Art. 5 EUV, Art. 7, Art. 191 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV), enthalten aber keine Begriffsdefinition.207 Die Konturierung des Begriffs durch die Literatur erfolgt überwiegend anhand der Funktionen, die den Prinzipien in der Unionsrechtsordnung zukommen,208 sowie durch Abgrenzung gegenüber anderen Rechtsbegriffen.209 a) Funktion von Prinzipien in der Unionsrechtsordnung Prinzipien erfüllen in der Unionsrechtsordnung im Wesentlichen drei Funktionen: Sie dienen als Auslegungshilfe,210 als Instrument zum Ausfüllen von 204
Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 1, 3. Dies konstatierend W. Kahl, Umweltprinzip, S. 71; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 462 f.; Lais, Solidaritätsprinzip, S. 153; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 104. 206 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. Vgl. nur von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13; ders., EuR 2009, 749; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629; Schütze / Tridimas, Oxford Principles of European Union Law. Volume I; Tridimas, General Principles of EU Law; Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles of EU Law. 207 Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 483; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. 208 Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629 ff.); Terhechte, in: Hatje / MüllerGraff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. 209 Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 483; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 6 ff. 210 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 68 – Audiolux; von Bogdandy, EuR 2009, 749 (756); Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1636 ff.); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 389 ff.; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 105; Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. 205
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Lücken211 und mitunter auch als (Rechtmäßigkeits-)Maßstab für den Unionsgesetzgeber.212 aa) Auslegungsfunktion Sowohl das Unionsrecht selbst als auch nationales Recht, das in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist im Lichte der hinter den jeweiligen Regelungen stehenden Prinzipien auszulegen.213 Den allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts ist dabei besonders im Rahmen der teleologischen und der systematischen Auslegung Rechnung zu tragen.214 Durch ihre auslegungslenkende Wirkung entfalten Prinzipien in der Unionsrechtsordnung eine wichtige Stabilisierungs- und Steuerungsfunktion.215 Sie tragen zur Einheitlichkeit und Kohärenz der Rechtsanwendung in der Union und den Mitgliedstaaten bei und erfüllen damit eine Ordnungsfunktion auf Rechtsanwendungsebene.216 Führt man sich die spezifischen Charakteristika der Unionsrechtsordnung (Mehrsprachigkeit, dezentraler Vollzug, teils Umsetzungsbedürftigkeit in nationales Recht) vor Augen, wird deutlich, dass die auslegungsleitende Wirkung von Prinzipien einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Funktionieren der europäischen Rechtsgemeinschaft leistet.217 bb) Lückenfüllungsfunktion Prinzipien kommt darüber hinaus erhebliche Bedeutung bei der Ergänzung des Unionsrechts zu.218 Die hervorgehobene Bedeutung dieser Funktion im Unions 211
GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 68 – Audiolux; Grussone, Solidaritätsprinzip in der EU, S. 173; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1631 ff.); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 395 ff.; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 105; Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / MorenoLax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532). 212 von Bogdandy, EuR 2009, 749 (756); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 519, 526 f.; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1649 ff.); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532); Tridimas, General Principles of EU Law, S. 29, 31 ff. 213 Lecheler, ZEuS 2003, 337 (348); Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1636); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 389; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. 214 Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S. 61; Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 389 f. 215 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. 216 Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S. 61; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. 217 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5. 218 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 68 – Audiolux; Lecheler, ZEuS 2003, 337; Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 395; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1631).
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kontext folgt daraus, dass das europäische Recht vergleichsweise viele Regelungslücken aufweist.219 Zwar bestehen in allen Rechtsordnungen notwendigerweise Regelungslücken, schon weil es praktisch schlicht unmöglich ist, jeden künftigen Sachverhalt von vornherein zu erfassen.220 Im Unionsrecht kommt zur Unzulänglichkeit aller Versuche, künftige Realitäten vollständig abzubilden, aber eine zweite Ursache hinzu, nämlich, dass es sich um keine gewachsene, sondern um eine relativ neue, einer fortwährenden Entwicklung unterliegende Rechtsordnung handelt, die zudem nur eine Teilintegration vornimmt.221 In neuen, entstehenden Rechtsordnungen kommt Prinzipien naturgemäß eine größere Bedeutung zu als in entwickelten, im Einzelnen ausformulierten Rechtsordnungen.222 Der Rückgriff auf allgemeine Prinzipien ermöglicht es dem Rechtsanwender, normative Lücken zu schließen, die entweder von den Verfassern der Verträge oder vom Sekundärrechtsgeber gelassen wurden.223 Der EuGH zieht diese regelmäßig zur Beantwortung von Fragen heran, auf die das geschriebene Recht keine Antwort enthält.224 Auf diese Weise stellte der Gerichtshof besonders in der Frühphase der Integration sicher, dass die Lückenhaftigkeit der Unionsrechtsordnung dem Funktionieren der Union und der Verwirklichung ihrer Ziele nicht im Weg steht.225 cc) (Rechtmäßigkeits-)Maßstab für den Gesetzgeber Mitunter bilden Prinzipien auch einen Rechtmäßigkeitsmaßstab für den unio nalen Gesetzgeber.226 Die allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts sind Teil des Primärrechts, sodass sie normenhierarchisch über dem Sekundärrecht stehen.227 219 Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1631); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 395; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5; Zweigert, in: Zehn Jahre Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 580 (581). 220 Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S. 61 f.; Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie und Methodenlehre, § 23 Rn. 822. 221 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 68 – Audiolux; Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 395; Zweigert, in: Zehn Jahre Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 580 (581). 222 Lecheler, ZEuS 2003, 337 (345 f.). 223 Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1931). 224 S. etwa EuGH, Urt. v. 23. 10. 1974 – 17/74, ECLI:EU:C:1974:106 Rn. 11 ff. – Transocean Marine Paint Association; Urt. v. 19. 11. 1991 – C-6/90 u. C-9/90, ECLI:EU:C:1991:428 – Francovich; Urt. v. 05. 03. 1996 – C-46/93, ECLI:EU:C:1996:79 – Brasserie du pêcheur; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1931); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 395. 225 Lecheler, ZEuS 2003, 337 (338 f.); Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1631). 226 von Bogdandy, EuR 2009, 749 (756); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 519, 526 f.; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1649 ff.); Tridimas, General Principles of EU Law, S. 29, 31 ff. 227 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 70 – Audiolux; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 519, 526; Lenaerts / GutiérrezFons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629 Fn. 2).
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Als höherrangiges Recht können sie grundsätzlich einen Geltungsmaßstab für das im Rang unter ihnen stehende Recht bilden.228 Ob ein bestimmtes Rechtsprinzip tatsächlich Wirkungen als Kontrollmaßstab für das Sekundärrecht entfaltet, hängt aber von seinem konkreten Inhalt ab. Zu bejahen ist das etwa im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV). Bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip kann der EuGH einen Rechtsakt auf eine Subsidiaritätsklage (Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll) oder eine Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) hin für unwirksam erklären.229 Andere Prinzipien wirken dagegen als sog. Vollzugsprinzipien auf einen effektiven und einheitlichen Vollzug des Unionsrechts in der supranationalen Rechtsordnung hin.230 Beispiele hierfür bilden etwa das Äquivalenzprinzip und das Effektivitätsprinzip.231 Diese Art Prinzipien entfalten schon ihrem Inhalt nach keine unmittelbare Bindungswirkung gegenüber dem Sekundärrechtsgesetzgeber. Darüber hinaus können Prinzipien als „Richtungsweiser“ für den Gesetzgeber wirken und eine rechtssetzungsanleitende Rolle einnehmen.232 In dieser Funktion leisten sie durch Vorgabe gewisser Grundstrukturen einen Beitrag zur Kohärenz der europäischen Rechtsordnung.233 b) Abgrenzungen Eine nähere Konkretisierung der Kategorie des Prinzips erfolgt zudem durch Abgrenzung gegenüber anderen Begriffen.234 Zunächst fällt auf, dass der europäische Gesetzgeber und der Gerichtshof in der deutschen Sprachfassung häufig von „Grundsatz“ sprechen, während im Englischen von „principle“ und im Französischen von „principe“ die Rede ist.235 Dem abweichenden Sprachgebrauch kommt in diesem Kontext aber keine Bedeutung zu, sondern die Begriffe „Prinzip“ und „Grundsatz“ sind insoweit als Synonyme für dasselbe rechtliche Phänomen zu verstehen.236 228
Jakab, Rechtstheorie 2006, 49 (64); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 519. Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 5 EUV Rn. 69 ff.; Pache, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 5 EUV Rn. 119 f. 230 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 12, 51 ff. 231 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 53 f. 232 Lecheler, ZEuS 2003, 337 (348); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 2; vgl. allgemein Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S. 63, 67; Voßkuhle, Kompensationsprinzip, S. 388. 233 Vgl. Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S. 63, 67. 234 Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 483; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 6 ff. 235 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (25); ders., EuR 2009, 749 (759); Terhechte, in: EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 5 f. Zur Begriffsverwendung des EuGH mit Blick auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens s. bereits oben, → 2. Kapitel, § 3. A. 236 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (25 f.); ders., EuR 2009, 749 (759 f.); Gussone, Solidaritätsprinzip, S. 173; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 416 f. 229
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
Auch die vom EuGH entwickelten „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ sind der Sache nach Prinzipien im vorliegend diskutierten Sinne.237 Entsprechendes gilt, soweit der EuGH teils auch von „elementaren Rechtsgrundsätzen“238, „fundamentalen Rechtsgrundsätzen“239 oder „Grundprinzipien“240 spricht.241 Ebenfalls zu den Prinzipien bzw. Grundsätzen des Unionsrecht zu rechnen sind die in Art. 2 EUV genannten „Werte“ des Unionsrechts, darunter etwa Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und Demokratie.242 Das gilt ungeachtet der prima facie eine andere Zuordnung nahelegenden Wertesemantik243 des Art. 2 EUV. Der Sache nach handelt es sich bei den in Art. 2 EUV niedergelegten „Werten“ nämlich um echte europäische Rechtsgrundsätze, die verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten enthalten.244 Abzugrenzen sind Prinzipien dagegen von den in Art. 3 EUV definierten „Zielen“ der Union.245 Als Zielbestimmung legt Art. 3 EUV ein Finalprogramm für den weiteren europäischen Integrationsprozess fest, das von den Unionsorganen und, in den einschlägigen Feldern, durch koordinierte mitgliedstaatliche Politiken auszufüllen ist.246 Gegenstand der Zielbestimmungen sind die angestrebten Effekte des Handelns der EU und ihrer Mitgliedstaaten in der sozialen Wirklichkeit.247 Prinzipien bilden im Unterschied hierzu „das Marschgepäck und den Rahmen für die Reise“.248
237
Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 463, 464 f.; Terhechte, in Hatje / MüllerGraff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 9 f. Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 1, 6 beobachtet eine Verschiebung der Begriffsverwendung in der Literatur weg von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ hin zu „Prinzipien“ bzw. „Grundprinzipien“. 238 EuGH, Urt. v. 22. 03. 1961 – 42/59 u. 49/59, ECLI:EU:C:1961:5 – S. N.U. P.A. T. 239 EuGH, Urt. v. 13. 02. 1979 – 85/76, ECLI:EU:C:1979:36 Rn. 9 – Hoffmann-La Roche. 240 EuGH, Urt. v. 19. 10. 1977 – 117/76 u. 16/77, ECLI:EU:C:1977:160 Rn. 7 – Ruckdeschel u. a. 241 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 67 – Audiolux; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 464 f. 242 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 67 – Audiolux; von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (28 f.); ders., EuR 2009, 749 (762); Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 21; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 7. 243 Vgl. zum Begriff des Wertes Podlech, AöR 95 (1970), 185 (195 f.); Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, S. 8 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 120 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 310 f. 244 S. näher unten, → 3. Kapitel, § 2. C. II. 3. a) bb). 245 von Bogdandy, EuR 2009, 749 (763); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 8. 246 Müller-Graff, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 3 EUV Rn. 1; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 3 EUV Rn. 7. 247 von Bogdandy, EuR 2009, 749 (763). 248 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 8.
§ 3 Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes
165
2. Kategorisierung der Prinzipien Innerhalb der Prinzipien des Unionsrechts lassen sich verschiedene Kategorisierungen vornehmen: Verbreitet wird zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Prinzipien unterschieden.249 Diese Abgrenzung ist allerdings insoweit fließend, als viele allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts eine Entwicklung vom ungeschriebenen zum geschriebenen Recht durchlaufen haben.250 Dies gilt etwa für den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, der heute in Art. 5 Abs. 2 EUV normiert ist.251 Ein weiteres prominentes Beispiel bilden die Unionsgrundrechte, die vom EuGH – beginnend mit der Rechtssache Stauder252 – zunächst als ungeschriebene Garantien in Gestalt allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts entwickelt wurden.253 Mittlerweile sind die in der Grundrechtecharta kodifizierten Grundrechte kraft Verweisung in Art. 6 Abs. 1 EUV Bestandteil der Verträge. Die vom EuGH entwickelten ungeschriebenen Grundrechte gelten daneben nach Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts weiter fort, haben neben den Chartagrundrechten aber kaum noch eigenständige Bedeutung.254 Andere grundlegende Prinzipien, wie etwa die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts255 oder dessen Anwendungsvorrang vor nationalem Recht,256 haben dagegen bis heute keine explizite Kodifizierung in den Verträgen erfahren.257 Eine weitere Kategorisierung wird anhand der Ermittlungsquelle der Prinzipien vorgenommen: Unterschieden werden Prinzipien, die sich aus dem „Geist und System“ der Europäischen Verträge ergeben und sich spezifisch auf die Unionsrechtsordnung beziehen, und solche Prinzipien, die den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten gemein sind und aus diesen „externen“ Rechtssystemen im Wege der Rechtsvergleichung hergeleitet werden.258 Die Terminologie 249 Lecheler, ZEuS 2003, 337 (345); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 12 ff.; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 104. 250 Lecheler, ZEuS 2003, 337 (338, 345); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 8. 251 EuGH, Gutachten v. 28. 03. 1996 – 2/94, ECLI:EU:C:1996:140 Rn. 23 ff. – EMRK- Beitritt I; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 28, 30. 252 EuGH, Urt. v. 12. 11. 1969 – 29/69, ECLI:EU:C:1969:57 – Stauder. 253 Lecheler, ZEuS 2003, 337 (345). 254 Als Anwendungsfall diskutiert wird insb. die in der GRCh nicht garantierte allg. Handlungsfreiheit, s. Haratsch / Koenig / Pechstein, EuropaR, Rn. 635. 255 Grundlegend EuGH, Urt. v. 05. 02. 1963 – 26/62, ECLI:EU:C:1963:1 – van Gend en Loos. 256 Grundlegend EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964 – 6/64, ECLI:EU:C:1964:66 – Costa / E. N.E. L.; Urt. v. 17. 12. 1970 – 11/70, ECLI:EU:C:1970:114 – Internationale Handelsgesellschaft. 257 S. zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts aber die Erklärung Nr. 17 zum Vorrang, ABl. EU 2008 C 115, S. 344. 258 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 69 – Audiolux; Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 145 ff.; Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 37; Metzger, Rechtstheorie 2009, 313 (327 ff.); Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 104 f.; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 9 f.
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
ist auch insoweit uneinheitlich. Teils werden die spezifisch unionsrechtlichen Prinzipien als „allgemeine Grundsätze“ des Unionsrechts bezeichnet, während die Prinzipien, die in ihrer Entwicklung und ihrem Bestand von den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen geprägt wurden, unter dem Begriff der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ zusammengefasst werden.259 Andere sprechen bezüglich der Prinzipien, die den Unionsverträgen entspringen, von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen im engeren Sinne“260, „spezifisch gemeinschaftsrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsätzen“261 oder „induktiv aus dem acquis communautaire abgeleiteten Prinzipien“ bzw. „acquis-Prinzipien“262. Materielle Folgen ergeben sich aus dieser Unterscheidung nicht.263 Zuletzt lässt sich auch eine Kategorisierung nach den rechtlichen Wirkungen vornehmen, die unterschiedlichen Prinzipien in der Unionsrechtsordnung zukommt. Dabei kann – ohne Anspruch auf eine umfassende Zuordnung aller Prinzipien des Unionsrechts oder eine trennscharfe Abgrenzbarkeit zwischen den einzelnen Kategorien zu erheben – zwischen grundlegenden Verfassungsprinzipien der Union, Anwendungsprinzipien, verbundmoderierenden Prinzipien und Vollzugsprinzipien unterschieden werden. Zu den grundlegenden Verfassungsprinzipien der Union sind etwa das supranationale Prinzip, rechtsstaatliche Prinzipien, das Demokratieprinzip und die Unionsgrundrechte zu rechnen.264 Bei diesen Prinzipien handelt es sich um „vorrangige Leitentscheidungen“, in denen die Grundüberzeugungen und Werte der Union zum Ausdruck kommen und von denen eine besondere Steuerungsfunktion für die Rechtsordnung der Union ausgeht.265 Unterformen des Supranationalitätsprinzips bilden die Anwendungsprinzipien der vorrangigen und unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts.266 Verbundmoderierende Prinzipien sind solche, die primär die Rechtsposition der Mitgliedstaaten im europäischen Verbund definieren und ausgestalten.267 Hierzu gehören das Loyalitäts- und das Solidaritätsprinzip, die positive Verpflichtungen der Mitgliedstaaten begründen, sowie die Prinzipien der Lastengleichheit, der Achtung der nationalen Identität und das Subsidiaritäts 259 von Arnauld, EuR 2003, 191 Fn. 72; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, S. 104 f.; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 9 f.; vgl. auch Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 37. 260 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 06. 2009 – C-101/08, ECLI:EU:C:2009:410 Rn. 69 – Audiolux. 261 Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 145 ff. 262 Metzger, Rechtstheorie 2009, 313 (327 ff.). 263 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 10. 264 Vgl. H. Ipsen, in: H. Ipsen, Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, S. 31 (35); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 12. 265 H. Ipsen, in: H. Ipsen, Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, S. 31 (35); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 2, 12. 266 H. Ipsen, in: H. Ipsen, Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, S. 31 (39); Nicolaysen, EuropaR I, S. 71; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 35; vgl. F. Meyer, EuR 2017, 163 (177). 267 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (50 ff.); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 45.
§ 3 Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes
167
prinzip, die für eine Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten sowie eine Bewahrung ihrer Identitätskerne und Entscheidungskompetenzen sorgen sollen.268 Vollzugsprinzipien zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf einen effektiven und einheit lichen Vollzug des Unionsrechts hinwirken; hierzu sind das Äquivalenzprinzip und das Effektivitätsprinzip zu rechnen.269 III. Qualifikation des Vertrauensgrundsatzes als verbundmoderierendes Prinzip Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist anhand der im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeiteten Grundsätze als Rechtsprinzip des Unionsrechts einzuordnen. Er erfüllt die für ein Rechtsprinzip typischen Funktionen: Bereits bei der Betrachtung der Referenzgebiete270 und der Untersuchung der rechtlichen Wirkungen271 des Vertrauensgrundsatzes im ersten Kapitel ist deutlich geworden, dass der Vertrauensgrundsatz über seinen unmittelbaren Regelungsgehalt hinaus insbesondere als Auslegungshilfe Bedeutung erlangt hat.272 Aus ihm folgen verschiedene Auslegungsmaximen, die rechtsgebietsübergreifende Geltung beanspruchen.273 Darüber hinaus kommt dem Vertrauensprinzip auch eine Lückenfüllungsfunktion zu.274 Der EuGH leitet aus dem Grundsatz verschiedene ungeschriebene (Kooperations-)Pflichten der Mitgliedstaaten ab, die die im Unionsrecht vorgesehenen horizontalen Kooperationsmechanismen im Interesse der praktischen Wirksamkeit der Zusammenarbeit ergänzen.275 Dazu gehören etwa Informationsund Berücksichtigungspflichten sowie eine allgemeine Pflicht zu vertrauenswürdigem Verhalten. Zuletzt wirkt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch als Maßstab für den Gesetzgeber. Unabhängig von der bislang offenen Frage, ob der Vertrauensgrundsatz einen Kontrollmaßstab für das Sekundärrecht bildet,276 stellt der Grundsatz jedenfalls ein rechtspolitisches Leitprinzip dar, an dem sich der Sekundärrechtsgeber etwa bei der Ausgestaltung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und des Binnenmarktrechts orientiert. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wirkt hier als strukturgebendes Prinzip, das neben der Rechtsanwendung auch die Rechtsetzung prägt. Dies lässt etwa die Erwähnung des Grundsatzes in den Erwägungsgründen verschiedener Sekundärrechts 268 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (50 ff.); Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 45. 269 Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 51 ff. 270 S. oben, → 1. Kapitel, § 1. 271 S. oben, → 1. Kapitel, § 2. B., C. 272 Zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Auslegungsgrundsatz s. oben, → 1. Kapitel, § 2. C. II. 273 Näher oben, → 1. Kapitel, § 2. C. II. 2. 274 Nettesheim, EuZ 2020, 4 (7); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (532). 275 F. Meyer, EuR 2017, 163 (172). Ausführlich hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. C. III. 276 Hierzu sogleich, → 2. Kapitel, § 4. A.
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
akte über die gegenseitige Anerkennung erkennen.277 Auch der Gerichtshof nimmt mit Blick auf zahlreiche Instrumente des Sekundärrechts an, dass diese auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen.278 Als Leitprinzip für den europäischen Gesetzgeber trägt der Vertrauensgrundsatz zur Kohärenz und Effizienz des sekundärrechtlichen Regelungsregimes zur horizontalen Zusammenarbeit bei. Bei dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens handelt es sich um ein spezifisch unionsrechtliches Prinzip. Nimmt man eine Kategorisierung anhand seiner rechtlichen Wirkungen vor, ist er zu den verbundmoderierenden Prinzipien zu rechnen. Der Vertrauensgrundsatz normiert nämlich grundlegende wechselseitige Pflichten in der Beziehung zwischen den Mitgliedstaaten und formt so die horizontale Ebene der europäischen Verbundstruktur näher aus.279 Angesichts ihrer rechtsgebietsübergreifenden Geltung kommt der das Vertrauensprinzip kennzeichnenden Legalitätsvermutung eine umfassende Stabilisierungs- und Strukturierungswirkung für die horizontalen Kooperationsbeziehungen in der Union zu. Zugleich weist der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch Merkmale eines Vollzugsprinzips auf, da der wechselseitige Kontrollverzicht eine effektive Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und die Wirksamkeit des (sekundären) Unionsrechts gewährleisten soll.280 Diese Wirkung bezieht sich aber ebenfalls spezifisch auf das horizontale Verhältnis und geht daher in der Eigenschaft des Vertrauensgrundsatzes als verbundmoderierendes Prinzip auf. Die hier gefundene Einordnung steht in Einklang mit dem oben gefundenen Ergebnis, dass es sich beim Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens um ein Unterprinzip des Loyalitätsprinzips (Art. 4 Abs. 3 EUV) handelt.281 Der Grundsatz der 277 ErwG 21 Brüssel IIa-VO; ErwG 19 RL 2014/41/EU über die EEA; ErwG 22 EUInsVO 2000; ErwG 65 EUInsVO 2015; ErwG 55 Brüssel IIb-VO. 278 S. etwa für die RL 76/308/EWG und die RL 2010/24/EU über die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 41 – Donnellan; Urt. v. 14. 03. 2019 – C-695/17, ECLI:EU:C:2019:209 Rn. 42 – Metirato; Urt. v. 24. 02. 2021, C-95/19, ECLI:EU:C:2021:128 Rn. 73 – Silcompa; für die Brüssel I-VO EuGH, Urt. v. 13. 05. 2015 – C-536/13, ECLI:EU:C:2015:316 Rn. 39 – Gazprom; für die Brüssel IIaVO EuGH, Urt. v. 15. 07. 2010 – C-256/09, ECLI:EU:C:2010:437 Rn. 72 f. – Purrucker; Urt. v. 26. 04. 2012 – C-92/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:255 Rn. 103 – Health Service Executive; Urt. v. 16. 01. 2019 – C-386/17, ECLI:EU:C:2019:24 Rn. 41 – Liberato; für die EuErbVO EuGH, Urt. v. 09. 09. 2021 – C-422/20, ECLI:EU:C:2021:718 Rn. 45 – RK; für die EEA EuGH, Urt. v. 08. 12. 2020 – C-584/19, ECLI:EU:C:2020:1002 – A u. a.; für die Dublin-Verordnungen EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 52 – Abdullahi; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI: EU:C:2019:218 Rn. 82 – Jawo. 279 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 213; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 692. 280 Für eine Einordnung als Vollzugsprinzip daher Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 86; F. Meyer, EuR 2017, 163 (177 f.); Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 22b. 281 S. oben, → 2. Kapitel, § 2. C.
§ 4 Fazit und Folgen der Einordnung für Zweifelsfragen
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loyalen Zusammenarbeit wird ebenfalls zu den verbundmoderierenden Prinzipien des Unionsrechts gerechnet.282
§ 4 Fazit und Folgen der Einordnung für Zweifelsfragen Beim Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens handelt es sich mithin um ein verbundmoderierendes Prinzip des Unionsrechts, dessen Rechtsgrundlage in Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 EUV zu finden ist. Abschließend soll untersucht werden, welche Folgen sich aus dieser Einordnung für bislang offene Streitfragen bezüglich des Anwendungs- und Wirkbereichs des Vertrauensgrundsatzes ergeben.
A. Bindung des Sekundärrechtsgebers Dies betrifft zunächst die Frage, ob dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bindende Vorgaben für den europäischen Sekundärrechtsgeber zu entnehmen sind, mit der Folge, dass der EuGH Sekundärrecht wegen der Nichtbeachtung des Vertrauensgrundsatzes verwerfen könnte. Wie im vorhergehenden Kapitel aufgezeigt, werden hierzu in der Literatur unterschiedliche Auffassungen vertreten, während eine Positionierung des Gerichtshofs noch aussteht.283 Die allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts können als Teil des Primärrechts anerkanntermaßen einen Geltungsmaßstab für das unter ihnen stehende Recht bilden.284 Aus normhierarchischer Perspektive erscheint es daher zunächst naheliegend, Sekundärrecht, das den Vertrauensgrundsatz durch Prüf- und Kontrollvorbehalte „einschränkt“, auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu prüfen.285 Ein automatischer Schluss von dem normhierarchischen Rang des Vertrauensgrundsatzes auf eine Bindung des Sekundärrechtsgebers verbietet sich bei genauerem Hinsehen aber. Ob das Vertrauensprinzip tatsächlich einen Kontrollmaßstab für das Handeln des Sekundärrechtsgebers bildet, hängt neben seinem Rang in der Unionsrechtsordnung davon ab, welche konkreten rechtlichen Wirkungen dem Prinzip entnommen werden können. Gegen eine Bindung des Sekundärrechtsgebers durch das Prinzip gegenseitigen Vertrauens sprechen 282
von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (54 f.); F. Meyer, EuR 2017, 163 (179); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 734; Terhechte, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR Bd. 1, § 14 Rn. 45; vgl. auch Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 68: „unionales Verfassungsprinzip (…), das den zwischen der Union und den Mitgliedstaaten bestehenden Verbund determiniert“. 283 S. oben, → 1. Kapitel, § 2. D. II. 2. 284 von Bogdandy, EuR 2009, 749 (756); Jakab, Rechtstheorie 2006, 49 (64); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 519, 526 f.; Lenaerts / Gutiérrez-Fons, 47 CMLR 2010, 1629 (1629, 1649 ff.); Tridimas, General Principles of EU Law, S. 29, 31 ff. 285 Vgl. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 86; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (7).
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2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
sowohl dessen normative Verankerung im Loyalitätsprinzip (Art. 4 Abs. 3 EUV) als auch seine Rechtsnatur als verbundmoderierendes Prinzip.286 Primäres Ziel des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit ist der Schutz der Integrität der bestehenden Resultate europäischer Rechtsetzung gegen eine nachträgliche Infragestellung durch einzelne Mitgliedstaaten.287 Eine Pflicht des Unionsgesetzgebers, durch den Erlass entsprechender Rechtsakte auf eine vertiefte Integration hinzuwirken, begründet das Loyalitätsprinzip dagegen nicht.288 Auch der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Unterprinzip des Loyalitätsgebots verpflichtet folglich in erster Linie die rechtsanwendenden Organe der Mitgliedstaaten, enthält aber keine Vorgaben für die rechtsetzenden Organe der Union. Als akzessorisches Prinzip wirkt er stets in Verbindung mit bestehenden unionsrechtlichen Bestimmungen. Der Unionsgesetzgeber unterliegt somit keiner Pflicht, dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bei der Ausgestaltung sekundärrechtlicher Instrumente in größtmöglichem Umfang Wirkung zu verleihen und deshalb beispielsweise auf die Normierung von Nachprüfungs- und Kontrollvorbehalten zu verzichten. Entsprechend konnte der Sekundärrechtsgeber in Art. 11 Abs. 1 lit. f RL 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung und in Art. 8 Abs. 1 lit. f VO (EU) 2018/1805 über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen – anders als in vielen anderen Anerkennungsinstrumenten – einen allgemeinen Grundrechtsvorbehalt vorsehen. Den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens lässt dies unberührt. Wie auch das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit beansprucht er nur subsidiär Geltung.289 Normiert der Sekundärrechtsgeber spezielle Vorgaben für die wechselseitige Kontrolle der beteiligten Mitgliedstaaten, gehen diese Regelungen den allgemeinen Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes vor. Unberührt von den vorstehenden Ausführungen bleibt die rechtsetzungsanleitende Funktion des Vertrauensgrundsatzes.290 Diese Wirkung des Grundsatzes ist aber vornehmlich rechtspolitischer Natur und nicht justiziabel. Es liegt im gerichtlich nicht nachprüfbaren Ermessen des europäischen Gesetzgebers, ob er sekundärrechtliche Kooperationsinstrumente schafft, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und wie er diese konkret ausgestaltet.291
286
Vgl. auch Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR, § 27 Rn. 22b. 287 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (55). 288 von Bogdandy, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 13 (55). 289 S. bereits oben, → 2. Kapitel, § 2. C. III. 290 Auch hierzu bereits oben, → 2. Kapitel, § 3. B. III. 291 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (381).
§ 4 Fazit und Folgen der Einordnung für Zweifelsfragen
171
B. Erforderlicher Bezug zum Unionsrecht Zuletzt ist auf die Frage zurückzukommen, in welchen Konstellationen die Mitgliedstaaten an den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gebunden sind.292 Einigkeit besteht insoweit nur darüber, dass die Anwendbarkeit des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens eine horizontale Kooperationssituation zwischen zwei Mitgliedstaaten voraussetzt, die einen gewissen Bezug zum Unionsrecht aufweisen muss. Offen ist, welche Anforderungen an den unionsrechtlichen Bezug im Einzelnen zu stellen sind. Teils wird eine Anknüpfung an Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh vorgeschlagen,293 während andere annehmen, dass der EuGH den Anwendungsbereich des Vertrauensgrundsatzes im CETA-Gutachten294 in Anlehnung an den Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV definiert habe, der in „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Geltung beansprucht.295 Würde man der ersten Auffassung folgen, wären in Anlehnung an die zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh entwickelten Grundsätze vergleichsweise strenge Anforderungen an den für eine Anwendung des Vertrauensgrundsatzes erforderlichen unionsrechtlichen Bezug zu stellen. Voraussetzung wäre ein spezifischer Zusammenhang von einem gewissen Grad, der darüber hinausgehen muss, dass die fraglichen Regelungsbereiche benachbart sind, oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann.296 Nicht ausreichend wäre jedenfalls, dass lediglich ein sachlicher Bezug zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses vorliegen.297 Dass der EuGH den Vertrauensgrundsatz auch zur Begründung von Anforderungen an die Qualität des Rechtsschutzes in den Mitgliedstaaten heranzieht,298 ließe sich auf dieser Grundlage kaum rechtfertigen. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen Rechtsschutz durch unabhängige nationale Gerichte zu gewährleisten, leitet der EuGH mangels Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh nämlich in ständiger Rechtsprechung aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und nicht etwa (direkt) aus Art. 47
S. bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. D. I. 2. Lührs, Überstellungsschutz, S. 91 in Anknüpfung an EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 – EMRK-Beitritt II. 294 EuGH, Gutachten v. 30. 04. 2019 – 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 Rn. 128 – CETA. 295 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (73). 296 EuGH, Urt. v. 06. 03. 2014 – C-206/13, ECLI:EU:C:2014:125 Rn. 24 f. – Siragusa; Urt. v. 10. 07. 2014 – C-198/13, ECLI:EU:C:2014:2055 Rn. 37 – Hernández. 297 BVerfG, Urt. v. 24. 02. 2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 Rn. 91 – Antiterrordatei. 298 EuGH, Beschl. v. 17. 12. 2018 – C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 Rn. 67 – Kommission / Polen, vgl. Urt. v. 27. 12. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 30 – ASJP; Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 42 f. – Kommission / Polen; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 159 – Euro Box Promotion u. a. S. näher bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. C. II. 292 293
172
2. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen als Rechtsprinzip
Abs. 1, Abs. 2 GRCh her.299 Ob die Mitgliedstaaten – wie der EuGH annimmt – bei Eingriffen in das Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) an den Grundsatz des Vertrauens gebunden wären,300 wäre zumindest fraglich.301 Da es sich bei dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens um ein Unterprinzip des Loyalitätsprinzips handelt, ist bei der Bestimmung des situativen Anwendungsbereichs des Vertrauensgrundsatzes richtigerweise auf die für den Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 3 EUV geltenden Grundsätze zurückzugreifen. Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit bezieht sich auf die Erfüllung der Aufgaben und Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1, UAbs. 2 EUV). Die Mitgliedstaaten sind zudem verpflichtet, die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen und alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV). Der Anwendungsbereich des Loyalitätsprinzips ist demnach umfassend: Die Behörden der Mitgliedstaaten sind in allen vom Unionsrecht erfassten Bereichen an den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gebunden.302 Selbst in Bereichen, die gemäß Art. 4 Abs. 1 EUV in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben, sind diese verpflichtet, alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Anwendung einer Bestimmung der Verträge oder des darauf gestützten Sekundärrechts gefährden oder das Unionsrecht in seiner Wirksamkeit beeinträchtigen könnten (sog. Absicherungsfunktion des Loyalitätsprinzips).303 Art. 4 Abs. 3 EUV gilt nur dann nicht, wenn es an jeder direkten oder indirekten
299
EuGH, Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 29 – ASJP; Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 59 – Kommission / Polen. 300 So EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 – ZW; Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. S. näher bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. C. III. 301 Strukturell vergleichbar ist die Streitfrage, ob die Mitgliedstaaten bei der Einschränkung der Grundfreiheiten an die Unionsgrundrechte gebunden sind. Der EuGH zieht die Unionsgrundrechte in st. Rspr. als Schranken-Schranken der Grundrechte heran (sog. ERT-Rechtsprechung, s. nur EuGH, Urt. v. 18. 06. 1991 – C-260/89, ECLI:EU:C:1991:254 Rn. 43 ff. – ERT; Urt. v. 26. 06. 1997 – C-368/95, ECLI:EU:C:1997:425 Rn. 24 ff. – Familiapress; Urt. v. 30. 04. 2014 – C-390/12, ECLI:EU:C:2014:281 Rn. 35 f. – Pfleger). Hiergegen wird jedoch eingewandt, dass Maßnahmen zur Einschränkung der Grundfreiheiten keine „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. v. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh seien, weil das Unionsrecht den Mitgliedstaaten mit den Einschränkungstatbeständen gerade nationale Gestaltungsmöglichkeiten einräume, s. Huber, EuR 2008, 190 (194). 302 EuGH, Urt. v. 07. 11. 2013 – C-518/11, ECLI:EU:C:2013:709 Rn. 59 – UPC Nederland; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 70. 303 EuGH, Urt. v. 02. 06. 2005 – C-266/03, ECLI:EU:C:2005:341 Rn. 57 ff. – Kommission / Niederlande; Urt. v. 14. 07. 2005 – C-433/03, ECLI:EU:C:2005:462 Rn. 64 – Kommission / Deutschland; Urt. v. 28. 04. 2011 – C-61/11, ECLI:EU:C:2011:268 Rn. 53 ff. – Hassen El Dridi; Urt. v. 29. 03. 2012 – C-417/10, ECLI:EU:C:2012:184 Rn. 5 ff. – 3M Italia SpA; Obwexer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 70; Schill / Krenn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 69; Streinz, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 25.
§ 4 Fazit und Folgen der Einordnung für Zweifelsfragen
173
Anknüpfung an Verpflichtungen bzw. Ziele des Unionsrechts fehlt, eine Angelegenheit sich also rein in der innerstaatlichen Sphäre bewegt.304 Auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der seine normative Grundlage in Art. 4 Abs. 3 EUV i. V. m. Art. 2 EUV findet und den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit für die horizontale Dimension näher ausformt, sind diese Grundsätze konsequenterweise entsprechend zu übertragen. Auf dieser Grundlage erschließt sich auch die Rechtsprechung des EuGH. Soweit der Gerichtshof im CETA-Gutachten annimmt, dass die Mitgliedstaaten „in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen“ verpflichtet sind, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu beachten, knüpft er damit fast wörtlich an seine Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 3 EUV305 an. Vor diesem Hintergrund wird außerdem erklärbar, warum der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch unabhängig von sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumenten heranzieht, etwa im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nationaler Maßnahmen, die in das Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV eingreifen.306 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wirkt hier in seiner Absicherungsfunktion und steht Maßnahmen entgegen, die die Wirksamkeit des Freizügigkeitsrechts ohne hinreichende Rechtfertigung einschränken. Auch soweit der Gerichtshof aus dem Vertrauensgrundsatz Anforderungen an die Qualität mitgliedstaatlicher Justizsysteme ableitet,307 geht es ihm vornehmlich um das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen und damit um die Sicherung der Wirksamkeit des Unionsrechts.
304 Franzius, in: Frankfurter Kommentar, EUV / GRC / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 93; W. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 110; Schill / Krenn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 69; Temple Lang, 27 CMLR 1990, 645 (655). 305 EuGH, Urt. v. 07. 11. 2013 – C-518/11, ECLI:EU:C:2013:709 Rn. 59 – UPC Nederland. 306 EuGH, Urt. v. 19. 11. 2020 – C-454/19, ECLI:EU:C:2020:947 – ZW; Urt. v. 22. 06. 2021 – C-718/19, ECLI:EU:C:2021:505 – Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. 307 EuGH, Beschluss v. 17. 12. 2018 – C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 Rn. 67 – Kommission / Polen; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 39 f.– L. u. P.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 46 – X. u. Y.
3. Kapitel
Grenzen der Legalitätsvermutung § 1 Hinführung und Fragestellung Besonders kontrovers diskutiert wird die Frage nach den Grenzen des Vertrauensgrundsatzes. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen dabei – etwa mit Blick auf die defizitären Aufnahmebedingungen für Asylbewerber sowie die prekären Haftbedingungen in Teilen der Union – die grundrechtlichen Grenzen der Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen. Dahinter steht die verbreitete Besorgnis, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens sich als probates Mittel zur Umgehung grundrechtlicher Schutzmechanismen erweisen könnte.1 Angesichts der Untergrabung rechtsstaatlicher Garantien und der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz in einigen Mitgliedstaaten bestehen zudem Zweifel, inwieweit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der justiziellen Zusammenarbeit mit diesen Staaten noch Anwendung finden kann. Aber auch außerhalb der besonders sensiblen Materien des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hat sich die Frage nach den Grenzen der vertrauensbasierten Kooperation gestellt, beispielsweise im europäischen Sozialversicherungsrecht mit Blick auf betrügerisch erlangte Arbeitnehmer-Entsendebescheinigungen. Die Pflicht zur Vermutung rechtskonformen Handelns und das daraus folgende Nachprüfungsverbot können vor diesem Hintergrund erkennbar nicht schrankenlos gelten.2 Entsprechend nimmt auch der EuGH an, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nicht absolut und bedingungslos gilt, sondern nur vorbehaltlich „außergewöhnlicher Umstände“.3 Der Vertrauensgrundsatz verpflichtet die Mitgliedstaaten nur zu einer widerleglichen Legalitätsvermutung.4 Wann außergewöhnliche Umstände in diesem Sinne und eine Widerlegung der Vertrauens-
1 Frąckowiak-Adamska, 52 CMLR 2015, 191 (203); Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (36); Mitsilegas, EU Criminal Law After Lisbon, S. 131 ff.; Gaede, NJW 2013, 1279 (1281 f.). 2 Allg. Meinung, s. nur Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 74; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (85). 3 S. nur EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 192 f. – EMRKBeitritt II; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 36 f. – LM; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 50 f. – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 46 f. – Dorobantu; Bieber, in: FS Vedder, S. 27 (54). 4 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (71); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (28). Teilweise ist auch von einer „Legalitätspräsumtion“ die Rede, s. L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (75, 81); Zipperer, ZIP 2021, 321 (233). Auch der EuGH
§ 1 Hinführung und Fragestellung
175
vermutung anzunehmen sind, ist allerdings noch nicht vollumfänglich entfaltet.5 Auch wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofs nach einigen Leitentscheidungen mittlerweile gewisse Grundlinien erkennen lässt, sind wichtige Fragen nach wie vor offen. Große Teile der Literatur stehen der Rechtsprechung des EuGH zudem kritisch gegenüber. Erschwerend hinzu kommt, dass die Diskussion überwiegend kasuistisch und sachbereichsspezifisch geführt wird, was der Herausbildung übergeordneter Grundsätze wenig zuträglich ist. Im vorliegenden Kapitel werden zunächst die Grundlinien der Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgearbeitet und offene Fragen identifiziert. Unter Heranziehung allgemeiner Grundsätze der Unionsrechtsordnung sollen schließlich sachbereichsübergreifende, kohärente Maßstäbe bezüglich der Grenzen des gegenseitigen Vertrauens erarbeitet werden. Dabei wird zwischen den besonders relevanten grundrechtlichen Grenzen des Vertrauensgrundsatzes (→ § 2) und weiteren Ausnahmetatbeständen (→ § 3) unterschieden. Gegenstand des vorliegenden Kapitels sind die Grenzen, die das Unionsverfassungsrecht der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes setzt. Dem Sekundärrechtsgeber bleibt es unbenommen, im einfachen Recht nach seinem Ermessen weitergehende Nachprüfungs- und Kontrollvorbehalte oder Anerkennungshindernisse vorzusehen.6 Die einfachrechtlichen Grenzen der Vertrauensvermutung können über die unionsverfassungsrechtlichen Grenzen hinausgehen, dürfen diese aber nicht unterschreiten. Somit obliegt die genaue Grenzziehung in den einzelnen Sachbereichen in erster Linie dem Sekundärrechtsgeber, der hierbei aber die primärrechtlichen Mindestanforderungen zu beachten hat. Zu beachten ist zuletzt, dass es bei genauerem Hinsehen nicht um die Grenzen des Vertrauensgrundsatzes in seiner Gesamtheit geht, sondern allein um Ausnahmen von der aus dem Vertrauensgrundsatz folgenden Legalitätsvermutung und der mit dieser Vermutung einhergehenden Pflicht zu einem wechselseitigen Kontrollverzicht.7 Die sonstigen Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes, insbesondere das
spricht teilweise von einer Vermutung, s. etwa Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 80, 83 f., 99 ff., 103 ff. – N. S. u. a.; Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 95 – C. K. u. a. Von einer „Konformitätsvermutung“ spricht GA Wathelet, Schlussanträge v. 25. 07. 2018 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2018:617 Rn. 73 f., 88 f. – Ibrahim. 5 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 165; Lührs, Überstellungsschutz, S. 97. 6 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 75; Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (395). Ausführlich bereits oben, → 2. Kapitel, § 4. A. Zur Uneinheitlichkeit der in den verschiedenen sekundärrechtlichen Instrumenten vorgesehenen Ausnahmetatbestände Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (395 ff.). In neueren Instrumenten eine Tendenz zur Aufnahme grundrechtlicher Ausnahmetatbestände erkennend Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (20 f.); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 153 f. 7 Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (824); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (85); vgl. Marin, 2 Eur. Papers 2017, 141 (146).
176
3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Verbot, die horizontale Zusammenarbeit an die Einhaltung weitergehender nationaler Standards zu knüpfen, und die wechselseitigen Kooperationspflichten, bleiben von der Widerlegung der Legalitätsvermutung unberührt.8
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung A. Problemstellung Hinter der Frage nach den grundrechtlichen Grenzen der aus dem Vertrauens grundsatz folgenden Legalitätsvermutung steht letztlich die Frage nach der adäqua ten Zuordnung der Grundrechtsverantwortlichkeiten zwischen den an der horizontalen Kooperation beteiligten Mitgliedstaaten.9 Besonders deutlich wird dies mit Blick auf Sachverhaltskonstellationen, in denen die Mitgliedstaaten Personen – z. B. Asylbewerber, verurteilte Straftäter, Beschuldigte oder entführte Minderjährige – auf der Grundlage sekundärrechtlicher Kooperationsinstrumente in einen anderen Mitgliedstaat überstellen. Im Rahmen des Überstellungsvorgangs kann es an verschiedenen Punkten zu Grundrechtsverletzungen kommen, wobei sich jeweils die Frage stellt, welchem der kooperierenden Staaten die Verantwortung für den Grundrechtsschutz obliegt. Klar ist, dass der überstellende Mitgliedstaat die Verantwortung für Grundrechtseingriffe trägt, die noch in seiner Einflusssphäre erfolgen, z. B. für die Verletzung von Verfahrensrechten im Dublin-Verfahren, das zu der Überstellungsentscheidung führt.10 Spiegelbildlich ist in erster Linie Zielstaat der Überstellung für Grundrechtsverletzungen verantwortlich, die durch ihn verursacht werden, etwa aufgrund menschenunwürdiger Aufnahme- oder Haftbedingungen in seinem Hoheitsbereich. Die Organe des überstellenden Mitgliedstaats sind aufgrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens dagegen grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, die Grundrechtswahrung durch den Zielstaat ohne nähere Prüfung zu unterstellen. Sie sind weder befugt noch verpflichtet, die Grundrechtswahrung durch andere Mitgliedstaaten aufzuklären. Mit der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes geht also
8
EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 87 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 66, 79 – Dorobantu; Anagnostaras, 53 CMLR 2016, 1675 (1687); Marin, 2 Eur. Papers 2017, 141 (146). 9 Wendel, EuR 2019, 111 (113, 115); ders., 15 EuConst 2019, 17 (22); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 132; Stotz, ZEuS 2017, 259 (273); vgl. EuGH, Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI: EU:C:2018:27 Rn. 49 f. – Piotrowski; Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 55 – Gavanozov II; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 54 – Puig Gordi u. a.; Urt. v. 23. 03. 2023 – C-514/21 u. C-515/21, ECLI:EU:C:2023:235 Rn. 57 – LU u. PH; GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 85 – Puig Gordi. 10 Lührs, Überstellungsschutz, S. 57.
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
177
eine Rücknahme der Prüfung durch den überstellenden Staat einher.11 Drohende oder bereits eingetretene Grundrechtsverletzungen im Zielstaat können die Pflicht zum gegenseitigen Vertrauen jedoch unter „außergewöhnlichen Umständen“ begrenzen.12 In diesen Fällen trifft den überstellenden Staat eine Auffangverantwortung für Grundrechtsverletzungen durch den Zielstaat; es kommt zu einer Verlagerung der Grundrechtsverantwortung vom primär verantwortlichen Zielstaat auf den überstellenden Staat.13 Umstritten ist, wo genau die grundrechtlichen Grenzen der Legalitätsvermutung verlaufen, d. h. unter welchen Umständen eine im Zielstaat zu erwartende oder bereits eingetretene Grundrechtsverletzung eine Abweichung vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens rechtfertigt, mit der Folge, dass die übrigen Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet sind, die Grundrechtswahrung durch den primär verantwortlichen Mitgliedstaat zu überprüfen. Die Bestimmung dieser Grenzen erweist sich unter verschiedenen Gesichtspunkten als komplexes und rechtspolitisch heikles Unterfangen. Steht eine Widerlegung der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung im Raum, rücken die Behörden und Gerichte des einen Mitgliedstaats faktisch in eine Art Wächterrolle gegenüber einem anderen, gleichermaßen an das Unionsrecht und die EMRK gebundenen Mitgliedstaat.14 Diese Wächterrolle birgt erkennbar Konfliktpotential in einer Union, die auf der Idee von der Gleichheit ihrer Mitgliedstaaten beruht (vgl. Art. 4 Abs. 2 EUV).15 Gegen ausufernde gegenseitige Nachprüfungsbefugnisse spricht auch, dass dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine wesentliche Rolle bei der Erreichung der in Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 EUV normierten Ziele der Union zukommt. Der Vertrauensgrundsatz und der aus ihm folgende wechselseitige Kontrollverzicht ermöglichen die Schaffung und Aufrechterhaltung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen, in dem Entscheidungen und Waren frei verkehren.16 Unter praktischen Gesichtspunkten kommt erschwerend hinzu, dass die Entscheidung über das Vorliegen einer Ausnahme von der Legalitätsvermutung im Fall drohender Grundrechtsverletzungen eine mit Unsicherheiten behaftete Prognose über die zukünftige Grundrechtswahrung durch einen anderen Mitgliedstaat
11
Kullak, Vertrauen in Europa, S. 132; Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1192). Mittlerweile allg. Meinung, s. nur EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 82 ff. – Aranyosi u. Căldăraru; Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 76 ff.; F. Meyer, EuR 2017, 163 (169); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (824). 13 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 132 f. 14 Wendel, EuR 2019, 111 (115); ders., 15 EuConst 2019, 17 (21 f.); ders., JZ 2019, 983 (986); Canor, ZaöRV 2013, 249 (286). 15 Vgl. Canor, ZaöRV 2013, 249 (287); Dorociak / Lewandowski, 3 Eur. Papers 2018, 857 (861 f.); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (807 f.). 16 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. 659/15 PPU, ECLI: EU:C:2016:198 Rn. 78 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 – Donnellan; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 84 – Ibrahim u. a. S. ausführlich bereits oben, → 1. Kapitel, § 3. A. 12
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
voraussetzt.17 Ungeachtet dessen bilden der effektive Schutz der Grundrechte und die Wahrung rechtsstaatlicher Garantien die Legitimationsgrundlage für die vertrauensbasierte horizontale Zusammenarbeit innerhalb der Union.18 Mit den gemeinsamen Werten (Art. 2 EUV) und der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten ist es unvereinbar, sehenden Auges die Hand zu möglicherweise eklatanten Menschenrechtsverletzungen durch einen anderen Mitgliedstaat zu reichen.19
B. Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH Treibende Kraft bei der Bestimmung der Grenzen des gegenseitigen Vertrauens waren in den vergangenen zehn Jahren die europäischen Gerichte.20 Der EuGH wurde durch Vorlagen nationaler Gerichte regelmäßig mit der Frage nach den grundrechtlichen Grenzen der Legalitätsvermutung befasst. Dabei ging es primär um Fälle grenzüberschreitender Überstellungen im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, auf Grundlage des RbEuHb oder der Brüssel IIa-VO. Nachdem der Gerichtshof sich bei der Anerkennung von Ausnahmen zunächst sehr zurückhaltend gezeigt hatte, hat er die grundrechtlichen Grenzen der Legalitätsvermutung mittlerweile in bereichsspezifischer Judikatur konkretisiert. Die Entwicklung seiner Rechtsprechung lässt sich demnach in zwei Phasen einteilen: eine erste Phase, in der der Fokus des EuGH primär auf der Sicherung der praktischen Wirksamkeit der sekundärrechtlichen Kooperationsinstrumente lag (→ I.), und eine zweite Phase, in der er, beginnend mit den Leitentscheidungen N. S. u. a. und Aranyosi und Căldăraru,21 zunehmend Ausnahmen von der Pflicht zum Vertrauen in die gegenseitige Grundrechtswahrung anerkannt hat (→ II.).22
17
K. Hailbronner / Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.); Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (22). GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 06. 07. 2010 – C-306/09, ECLI:EU:C:2010:404 Rn. 43 – I. B.; Brouwer, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 59 (62). 19 BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317 Rn. 92 – Europä ischer Haftbefehl II; Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (22). 20 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (389). Bay Larsen, in: Cardonnel / Rosas / Wahl, Constitutionalising the EU Judicial System, S. 139 (141) erklärt die tragende Rolle der Gerichte damit, dass der europäische Gesetzgeber in den einschlägigen Sekundärrechtsakten, insb. dem RbEuHb, entscheidende Fragen offengelassen hat. 21 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 – N. S. u. a.; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi u. Căldăraru. 22 Vgl. Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (492 ff.); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 30, die aber – anders als hier – hinsichtlich der zweiten Phase nochmals zwei separate Entwicklungsphasen identifiziert; im Anschluss hieran auch Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (389 f.); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (537 ff.). Vgl. für den RbEuHb auch Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (692). 18
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
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I. Zunächst: Restriktive Haltung des EuGH Der EuGH ließ zunächst wenig Bereitschaft erkennen, die Legalitätsvermutung aufgrund möglicher Grundrechtsverletzungen zu begrenzen. Stattdessen unterstellte er pauschal die Vertrauenswürdigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme und betonte die Bedeutung des wechselseitigen Kontrollverzichts für die praktische Wirksamkeit der jeweiligen Sekundärrechtsakte.23 Dies soll anhand von Fallbeispielen aus zwei Referenzgebieten veranschaulicht werden. 1. Referenzgebiet: Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (Brüssel IIa-VO) Beispielhaft für diese erste Phase steht etwa die Entscheidung Aguirre Zarraga24 zur Brüssel IIa-VO.25 Der Fall betraf die Rückführung eines von seiner Mutter widerrechtlich in Deutschland zurückgehaltenen Kindes zum in Spanien lebenden Vater, wo das Kind zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Auf Antrag des Vaters ordnete das zuständige spanische Gericht die Rückgabe des Kindes nach Spanien an, ohne das Kind jedoch zuvor anzuhören. Die Rückgabeentscheidung war mit einer Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO versehen und aufgrund dieser Bescheinigung in Deutschland unmittelbar vollstreckbar (Art. 42 Abs. 1 Brüssel IIa-VO). Nach Art. 42 Abs. 2 lit. a Brüssel IIa-VO hätte das spanische Gericht die Bescheinigung jedoch nur ausstellen dürfen, wenn das Kind vorher die Möglichkeit gehabt hätte, gehört zu werden. Das OLG Celle legte dem EuGH daraufhin die Frage vor, ob es die Vollstreckung der Entscheidung ausnahmsweise mit der Begründung ablehnen könne, dass die ausgestellte Bescheinigung offensichtlich falsch sei und zudem ein gravierender Grundrechtsverstoß vorliege, weil die Anhörung des betroffenen Kindes unter Verstoß gegen Art. 24 GRCh nicht erfolgt sei. Der EuGH betonte in seiner Entscheidung, dass die Brüssel IIa-VO von dem Postulat ausgehe, dass durch das widerrechtliche Zurückhalten eines Kindes dessen Wohl schwerwiegend beeinträchtigt wird. Ziel des von der Verordnung geschaffenen Systems sei daher die schnellstmögliche Rückkehr des Kindes an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort.26 Einwände gegen die Rückgabeentscheidung und die ausgestellte Bescheinigung könnten, um eine rasche Vollstreckung zu ermöglichen, ausschließlich im Ursprungsmitgliedstaat der Entscheidung geltend ge 23 Lübbe, NVwZ 2017, 674 (674 f.); Mitsilegas, 6 NJECL 2015, 457 (467 ff.); Sáenz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles of EU Law, S. 530 (538); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (493 f.). 24 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 – Aguirre Zarraga. 25 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (389 f.). 26 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 44 – Aguirre Zarraga.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
macht werden.27 Die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats seien nicht befugt zu überprüfen, ob eine Anhörung des Kindes tatsächlich stattgefunden hat. Eine solche Befugnis würde nach Auffassung des EuGH die praktische Wirksamkeit des Systems in Frage stellen.28 Die mit der Brüssel IIa-VO geschaffene Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaates und des Vollstreckungsmitgliedstaats beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen darauf, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene anerkannten Grundrechte zu bieten.29 Über eine Anhörung des Kindes habe das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats im Einklang mit Art. 24 GRCh zu entscheiden.30 Im Fall einer Grundrechtsverletzung durch das spanische Gericht müssten die Verfahrensbeteiligten die Rechtsschutzmöglichkeiten in der Rechtsordnung des Ursprungsmitgliedstaates nutzen.31 Der EuGH hielt in dieser Entscheidung somit trotz einer erkennbaren Grundrechtsverletzung durch das (erstinstanzliche) spanische Gericht am Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der exklusiven Grundrechtsverantwortung des Ursprungsmitgliedstaates fest. In der Literatur wurde dem EuGH deshalb vorgeworfen, die praktische Wirksamkeit des von der Brüssel IIa-VO geschaffenen Systems über den Schutz der Grundrechte und des Kindeswohls im Einzelfall zu stellen.32 Dies werde der Bedeutung der Rechte aus Art. 24 GRCh, die einen engen Bezug zur Menschenwürdegarantie aufweisen, und der besonderen Verwundbarkeit der betroffenen Kinder nicht gerecht.33 2. Referenzgebiet: Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl Auch für den RbEuHb erkannte der EuGH zunächst keine Ausnahmen von der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung aufgrund drohender oder bereits eingetretener Grundrechtsverletzungen an. Der Gerichtshof betonte vielmehr in ständiger Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten jenseits der im Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Versagungsgründe 27
EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 50 f. – Aguirre Zarraga. 28 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 54 f. – Aguirre Zarraga. 29 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 59, 70 – Aguirre Zarraga. 30 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 60 ff. – Aguirre Zarraga. 31 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 71 – Aguirre Zarraga. 32 Bartolini, 56 CMLR 2019, 91 (105 ff.); Frąckowiak-Adamska, 52 CMLR 2015, 191 (204); Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (193). 33 Bartolini, 56 CMLR 2019, 91 (93, 112 f.).
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in Art. 3 ff. RbEuHb verpflichtet seien, die von anderen Mitgliedstaaten ausgestellten europäischen Haftbefehle anzuerkennen und zu vollstrecken.34 Explizit konfrontiert mit der Frage nach ungeschriebenen grundrechtlichen Ablehnungsgründen wurde der EuGH in dieser ersten Entwicklungsphase insbesondere in den Rechtssachen Radu und Melloni. Die Rechtssache Radu35 betraf die Vollstreckung von vier Europäischen Haftbefehlen in Rumänien, die die deutschen Justizbehörden gegen einen rumänischen Staatsbürger zur Strafverfolgung wegen Raubes ausgestellt hatten. Das rumänische Gericht, das über die Vollstreckung zu entscheiden hatte, fragte den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens, ob es prüfen dürfe, ob die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls mit den Grundrechten im Einklang steht, und ob es die Vollstreckung ggfs. aufgrund von Grundrechtsverletzungen ablehnen dürfe, obwohl ein solcher Ablehnungsgrund im RbEuHb nicht vorgesehen sei. Hintergrund der Vorlagefrage war, dass Herr Radu sich dadurch in seinen Grundrechten verletzt sah, dass die streitigen Europäischen Haftbefehle ausgestellt worden waren, ohne dass er zuvor angehört wurde und die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen. Generalanwältin Sharpston sprach sich in ihren Schlussanträgen für einen entsprechenden Grundrechtsvorbehalt aus: Die zuständige Justizbehörde des Vollstreckungsstaates könne das Übergabeersuchen ablehnen, wenn nachgewiesen wird, dass die Menschenrechte der Person, die übergeben werden soll, bei oder nach dem Übergabeverfahren verletzt worden sind oder in Zukunft verletzt werden.36 Eine solche Ablehnung sei jedoch nur in Ausnahmefällen zulässig.37 Der EuGH ging hierauf in seinem Urteil nicht ein, sondern beschränkte seine Prüfung auf die Frage, ob die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls mit der Begründung ablehnen kann, dass die ausstellende Justizbehörde die gesuchte Person vor Ausstellung dieses Haftbefehls nicht angehört hat. In seiner Antwort betonte der Gerichtshof, dass eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur in den vom Rahmenbeschluss vorgesehenen Fällen in Betracht komme.38 Der Umstand, dass der Europäische Haftbefehl zur Strafverfolgung ausgestellt wurde, ohne dass die gesuchte Person von den ausstellenden Justizbehörden angehört wurde, gehöre nicht zu den vom RbEuHb vorgesehenen Ablehnungsgründen.39 Zur Wahrung der Grundrechte aus Art. 47, Art. 48 GRCh sei 34
EuGH, Urt. v. 01. 12. 2008 – C-388/08 PPU, ECLI:EU:C:2008:669 Rn. 50 f. – Leymann; Urt. v. 16. 11. 2010 – C-261/09, ECLI:EU:C:2010:683 Rn. 36 f. – Mantello; Urt. v. 28. 06. 2012 – C-192/12 PPU, ECLI:EU:C:2012:404 Rn. 55 – West; Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI: EU:C:2013:39 Rn. 36 – Radu; Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 38 – Melloni. 35 EuGH, Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 – Radu. 36 GA Sharpston, Schlussanträge v. 18. 10. 2012 – C-396/11, ECLI:EU:C:2012:648 Rn. 97 – Radu. 37 GA Sharpston, Schlussanträge v. 18. 10. 2012 – C-396/11, ECLI:EU:C:2012:648 Rn. 97 – Radu. 38 EuGH, Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 Rn. 35 f. – Radu. 39 EuGH, Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 Rn. 38 – Radu.
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auch nicht erforderlich, dass die gesuchte Person vor der Ausstellung des Haftbefehls angehört wird; einem solchen Haftbefehl müsse, um eine Flucht des Betroffenen zu verhindern, notwendig ein gewisser Überraschungseffekt zukommen.40 Der europäische Gesetzgeber habe die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch anderweitige Regelungen dergestalt gesichert, dass die Wirksamkeit des Mechanismus über den Europäischen Haftbefehl nicht beeinträchtigt werde.41 In der zweiten Entscheidung, Melloni, hob der EuGH erneut die Beschränkung der Mitgliedstaaten auf die in Art. 3 ff. RbEuHb vorgesehenen Ablehnungsgründe und die nach Art. 5 RbEuHb zulässigen Bedingungen hervor.42 Die Regelung in Art. 4a RbEuHb über die Vollstreckbarkeit von Abwesenheitsurteilen trage dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren sowie den in Art. 47 und 48 Abs. 2 GRCh garantierten Verteidigungsrechten hinreichend Rechnung.43 Der Gerichtshof stellte darüber hinaus klar, dass die Mitgliedstaaten die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls angesichts des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch nicht von der Wahrung nationaler Grundrechtsstandards, die über die Garantien auf europäischer Ebene hinausgehen, abhängig machen dürfen.44 Aus der vom EuGH gewählten Formulierung, dass die Verweigerung der Vollstreckung „nur“ in den Fällen der Art. 3 ff. RbEuHb in Betracht komme, wurde in der Literatur verbreitet geschlossen, dass der EuGH über die ausdrücklich normierten Ablehnungsgründe keinerlei grundrechtlich induzierte Überstellungshindernisse anerkennen wolle.45 Andere nahmen dagegen an, dass der EuGH die Tür zu einem Rekurs auf die EU-Grundrechte mit diesen Entscheidungen noch nicht ganz zugeschlagen habe und die Frage nach einem Grundrechtsvorbehalt im RbEuHb noch nicht final beantwortet sei.46 In der Tat darf die Aussagekraft der Entscheidungen Radu und Melloni nicht überbewertet werden. Dem Gerichtshof gelang es in beiden Entscheidungen, eine abschließende Aussage zu etwaigen Grenzen der Vertrauensvermutung zu vermeiden.47 Im Fall Radu drohte schon keine Grund 40
EuGH, Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 Rn. 39 – Radu. EuGH, Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 Rn. 41 f. – Radu. 42 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 38 – Melloni. 43 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 47 ff. – Melloni. 44 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 55 ff. – Melloni; Lübbe, NVwZ 2017, 674 (675); nachfolgend auch GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 54 f. – Puig Gordi u. a. 45 Anagnostopoulos, 15 ERA Forum 2014, 9 (16 f.); Brodowski, HRRS 2013, 54 (55 f.); ders., ZIS 2012, 558 (568); von Heintschel-Heinegg, in: Sieber u. a., Eur. Strafrecht, § 37 Rn. 57; Löber, Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, S. 263 ff., 269 f.; Vogel, StV 2013, Editorial Heft 5; Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 134; Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte, S. 120. 46 Gaede, NJW 2013, 1279 (1280); Düsterhaus, REALaw 2015, 151 (172); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 224. 47 Böhm, StraFo 2013, 177 (183); Willems, 20 GLJ 2019, 468 (482); dies., 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (224). 41
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rechtsverletzung, sodass keine Notwendigkeit bestand, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens einzuschränken.48 In Bezug auf die Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen, die Gegenstand der Entscheidung Melloni war, sah der RbEuHb selbst einen entsprechenden Ablehnungsgrund vor, der den Grundrechten des Betroffenen nach Auffassung des EuGH ausreichend Rechnung trug. Ob der EuGH seine Haltung ändern würde, wenn ihm ein klar menschenrechtswidriger Fall vorgelegt wird, der sich nicht unter Rückgriff auf die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Ablehnungsgründe lösen lässt, blieb abzuwarten.49 II. Herausbildung von grundrechtlichen Ausnahmen in den einzelnen Referenzgebieten Im weiteren Verlauf gab der EuGH seine restriktive Haltung auf und begann nach und nach, ungeschriebene Ausnahmen von der Pflicht zum Vertrauen in die wechselseitige Grundrechtswahrung anzuerkennen. Die Entwicklung verlief in den verschiedenen Referenzgebieten zeitlich nicht parallel, sondern versetzt.50 Es lassen sich aber parallele Entwicklungselemente identifizieren. Im Folgenden sollen die Meilensteine der Entwicklung in den einzelnen Sachbereichen in den Blick genommen werden. 1. Gemeinsames Europäisches Asylsystem a) Auftakt: Die Entscheidung N. S. u. a. Die zweite Phase in der Rechtsprechung des EuGH nahm ihren Anfang im Bereich des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems mit der Entscheidung N. S. u. a. zur Überstellung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO. Das Dublin-Zuständigkeitssystem hat sich in der Praxis als Schwachpunkt des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erwiesen:51 Nach den in den Dublin-Verordnungen festgelegten Zuständigkeitskriterien ist für die Prüfung eines Asylantrags im Zweifel der Mitgliedstaat exklusiv zuständig, in den der Antragsteller zuerst eingereist ist (vgl. Art. 10 Dublin II-VO, Art. 13 Dublin III-VO). Kommt es zu einer Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat, kann der Aufenthaltsstaat den zuständigen Mitgliedstaat um Wiederaufnahme der Person ersuchen und den Asylbewerber in den Staat 48
Janssens, Mutual Recognition, S. 208; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 404 f.; Swoboda, ZIS 2015, 361 (365). 49 Böhm, StraFo 2013, 177 (183); F. Meyer, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, vor Art. 82 AEUV Rn. 35, Art. 82 AEUV Rn. 12. 50 Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (492); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 30. 51 Wendel, JZ 2016, 332 (332 f.); Schorkopf, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 55 (57).
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der Ersteinreise zurückstellen, wobei er hierbei grundsätzlich auf die Grundrechtswahrung durch den Einreisestaat vertrauen darf.52 Dieses System führt zu einer besonderen Belastung der Staaten an den südlichen und südöstlichen Außengrenzen, die von Antragstellern naturgemäß häufig zuerst betreten werden.53 Gerade in diesen Staaten zeigen sich angesichts der Überforderungssituation aber erhebliche Defizite bei der Wahrung elementarer Verfahrens- und Unterbringungsstandards, aus denen nicht selten eine menschenunwürdige Behandlung von Asylbewerbern folgt.54 Dieser menschenrechtlich prekären Situation trugen der EuGH und die nationalen Gerichte bei der Anwendung des Dublin-Systems nach Ansicht von Kritikern lange unzureichend Rechnung.55 Letztendlich sah sich der EuGH in der Entscheidung N. S. u. a. aber veranlasst, erstmals von der bis dahin vermeintlich „blinden“ Vertrauensvermutung abzurücken. Die Entscheidung N. S. u. a. betraf die Rücküberstellung mehrerer Asylsuchender von Großbritannien und Irland nach Griechenland. Die Antragsteller waren zunächst illegal nach Griechenland eingereist und von dort, ohne in Griechenland einen Asylantrag zu stellen, nach Großbritannien bzw. Irland weitergereist, wo sie jeweils einen Asylantrag stellten. Die britischen und irischen Behörden verfügten daraufhin ihre Rücküberstellung nach Griechenland. Die Antragssteller machten geltend, dass die britischen bzw. irischen Behörden verpflichtet seien, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO56 Gebrauch zu machen und die Zuständigkeit für die Prüfung ihrer Asylanträge zu übernehmen, da ihnen in Griechenland eine Verletzung ihrer Grundrechte drohe. Der EuGH betonte in seiner Entscheidung erneut, dass die Dublin II-VO auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhe und die Vermutung gelte, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GRCh, der GFK und der EMRK steht.57 Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass die ernsthafte Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten 52
EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 80 – N. S. u. a.; Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 52 – Abdullahi; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 82 – Jawo. 53 Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180 (1196 f.); Hilpold, EuR 2016, 373 (389); Wendel, JZ 2016, 332 (333). 54 Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180 (1196 f.); Wendel, JZ 2016, 332 (333); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (494); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 32. 55 Lübbe, NVwZ 2017, 674 (675 f.); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (493 f.); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 32. 56 Nach dieser sog. Souveränitäts- oder Selbsteintrittsklausel ist jeder Mitgliedstaat befugt, abweichend von den sonstigen Zuständigkeitskriterien der Dublin II-Verordnung ein Asylverfahren auf Grund eines Selbsteintritts an sich zu ziehen. 57 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 78 ff. – N. S. u. a.
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unvereinbar ist.58 Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Dublin II-VO berühren würde.59 Die Mitgliedstaaten dürften einen Asylbewerber jedoch dann nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ i. S. d. Dublin II-VO überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden.60 Eine unwiderlegbare Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerber in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, sei mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Dublin II-VO unvereinbar.61 Scheidet eine Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat aus, habe der Mitgliedstaat – vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO selbst zu prüfen – die Zuständigkeitsprüfung anhand der Kriterien der Dublin II-VO fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der nachrangigen Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.62 Würde die Fortführung der Zuständigkeitsprüfung zu einer unangemessenen Verlängerung des Verfahrens führen, müsse der Mitgliedstaat von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch machen und den Antrag selbst prüfen.63 Die Mitgliedstaaten sind danach bei Vorliegen von zwei kumulativen Voraussetzungen verpflichtet, von einer Überstellung an den primär zuständigen Mitgliedstaat abzusehen und die Zuständigkeitsprüfung fortzusetzen: Sofern (1.) das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller im Zielstaat systemische Schwachstellen aufweisen und (2.) im konkreten Fall die echte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragsstellers i. S. v. Art. 4 GRCh besteht.64 In der Nachfolgerichtlinie der Dublin II-VO, der Dublin III-VO, 58
EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 81 – N. S. u. a. EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 82 ff. – N. S. u. a. 60 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 94 – N. S. u. a. 61 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 99 – N. S. u. a. 62 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 96 – N. S. u. a. 63 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 98 – N. S. u. a. 64 Anders L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (85), der annimmt, dass von einer Überstellung schon beim Vorliegen systemischer Mängel unabhängig von einer individuellen Betroffenheit des Antragstellers abgesehen werden müsse. Hiergegen sprechen aber Rn. 94 und Ls. 2 des Urteils, in denen der EuGH explizit fordert, dass der „Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (…) ausgesetzt zu werden“ [Herv. durch Verf.]. Wie hier Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 167; Lübbe, ZAR 2014, 105 (109); K. Müller, ZEuS 2016, 345 (354); dies, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 565. 59
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hat der europäische Gesetzgeber diese Grundsätze nunmehr ausdrücklich kodifiziert (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, UAbs. 3 Dublin III-VO). Die Entscheidung wurde als Wendepunkt in der Entwicklung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit innerhalb der Union begrüßt.65 Bereits unmittelbar nach Erlass der Entscheidung wurde angenommen, dass die vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze in ihrer Geltung nicht auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem beschränkt sein dürften, sondern auf andere vertrauensbasierte Kooperationsmechanismen, insbesondere im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, übertragbar.66 b) Nachfolgend: Bestätigung und Konkretisierung der Grundsätze der N. S.-Entscheidung In nachfolgenden Entscheidungen bestätigte und konkretisierte der EuGH die in der Entscheidung N. S. u. a. aufgestellten Grundsätze und erweiterte deren Anwendungsbereich auf die Asylverfahrens-RL.67 aa) Betonung des Erfordernisses systemischer Defizite Noch nicht final beantwortet hatte der Gerichtshof in der Entscheidung N. S. u. a., ob das Vorliegen systemischer Defizite eine notwendige Bedingung für eine Ausnahme von der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung ist oder ob die Vermutung auch unterhalb der Schwelle systemischer Mängel erschüttert sein kann, wenn im konkreten Einzelfall eine Grundrechtsverletzung droht.68 Letzteres verneinte der Gerichtshof in der Entscheidung Abdullahi.69 Ein Asylbewerber könne angesichts des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens und mit Blick auf die Ziele des Dublin-Regimes seiner Überstellung nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme 65
Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (358 f.); Lenaerts, duE 2015, 525 (546); ders., 54 CMLR 2017, 805 (829); Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (37 f.); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (494); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 167 f. 66 Billing, 2 EuCLR 2012, 77 (85 ff.); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (358 f.); Peers, Statewatch Analysis, S. 1 (abrufbar unter https://www.statewatch.org/media/documents/analyses/ no-148-dublin-mutual-trust.pdf (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023)). 67 Bestätigend neben den im Folgenden diskutierten Entscheidungen auch EuGH, Urt. v. 14. 11. 2013 – C-4/11, ECLI:EU:C:2013:740 Rn. 29 ff. – Puid. 68 Canor, 50 CMLR 2013, 383 (404 f.); K. Hailbronner / Thym, NVwZ 2012, 406 (408); den Heijer, 49 CMLR 2012, 1735 (1747); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (831 f.); Rung, Grundrechtsschutz in der Strafkooperation, S. 401; Wendel, DVBl. 2015, 731 (734). 69 Moraru, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 37 (41 f.); Wendel, DVBl. 2015, 731 (734); ders., JZ 2016, 332 (336).
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darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.70 bb) Erstreckung der Prüfung auf den Zeitraum nach der Zuerkennung internationalen Schutzes In der Entscheidung Jawo71 konkretisierte der EuGH, aus welchen Umständen sich eine Widerlegung der Vertrauensvermutung ergeben kann.72 Der Fall betraf die Überstellung eines Asylbewerbers von Deutschland nach Italien, wo ihm nach Auffassung des vorlegenden Gerichts zwar nicht während des Asylverfahrens, aber nach dessen Abschluss im Fall der Gewährung internationalen Schutzes eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohte. Das vorlegende Gericht begründete diese Einschätzung damit, dass das italienische Sozialsystem große strukturelle Defizite aufweise, die dazu führten, dass Personen, denen in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden sei, dem Risiko ausgesetzt seien, obdachlos zu werden und zu verelenden. Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass bei der Entscheidung über die Überstellung auch die Lebensumstände zu berücksichtigen sind, denen der Betroffene in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat in der Phase nach der Anerkennung seines Asylantrags ausgesetzt wäre.73 Das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruhe nämlich auf der Zusicherung, dass die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRCh führt. Es wäre widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, in der Phase nach Zuerkennung internationalen Schutzes aber geduldet würde.74 Wenn mit Blick auf die Lebensverhältnisse für international Schutzberechtigte im zuständigen Staat Anhaltspunkte für das Risiko einer Verletzung von Art. 4 GRCh bestehen, seien die Behörden des Aufenthaltsstaats daher verpflichtet, zu prüfen, ob insoweit systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.75 Bei der Beurteilung der zielstaatlichen Lebensverhältnisse sei aber ein strenger Maßstab anzulegen: Eine Verletzung von Art. 4 GRCh könne nur bei besonderer Erheblichkeit der Schwachstellen angenommen werden, d. h. wenn sich der Betroffene dort unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.76 70
EuGH, Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 60 – Abdullahi; Maiani / Migliorini, 57 CMR 2020, 7 (38). 71 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 – Jawo. 72 Besprechung der Entscheidung bei den Heijer, 57 CMLR 2020, 539; Lübbe, EuR 2019, 352. 73 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 88 f. – Jawo. 74 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 89 – Jawo. 75 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 90 – Jawo. 76 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 91 ff. – Jawo.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Der EuGH verlängert mit dieser Entscheidung somit den Zeitraum, den der Aufenthaltsmitgliedstaat bei seiner Prüfung zu berücksichtigen hat, auf die Lebensumstände nach der Anerkennung des Asylantrags. Damit dehnt er die Kontrollpflicht des Aufenthaltsstaates in zeitlicher Hinsicht erheblich aus.77 Es fällt zudem auf, dass der EuGH der aus der N. S.-Entscheidung bekannten Figur der systemischen Mängel „allgemeine“ oder aber „bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen“ gleichstellt. Dabei handelt es sich der Sache nach jedoch um eine bloße Konkretisierung des Begriffs der systemischen Mängel ohne wesentliche Abweichung von der vorhergehenden Rechtsprechung.78 Erfasst sind in allen drei Fallgruppen Defizite, die aufgrund bestimmter Praktiken des Zielstaates ein gewisses Maß an Allgemeinheit erreichen, also über den Einzelfall hinausreichen.79 cc) Übertragung auf die Asylverfahrens-RL Die für die Dublin-Verordnungen entwickelten Grundsätze übertrug der EuGH nachfolgend auf die Asylverfahrens-RL.80 Nach Art. 33 Abs. 2 lit. a der Asylverfahrens-RL 2013 können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat. Der EuGH nimmt an, dass bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 lit. a Asylverfahrens-RL 2013 die Vermutung gilt, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der GRCh, der GFK und der EMRK steht.81 Es könne aber auch hier nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, die mit der ernsthaften Gefahr einhergehen, dass Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist.82 Die Behörden eines Mitgliedstaats dürften von Art. 33 Abs. 2 lit. a Asylverfahrens-RL 2013 dann keinen Gebrauch machen, wenn sie zu dem Schluss kommen, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller bereits internationalen Schutz genießt, systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, und dass es im Hinblick auf diese Schwachstellen ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass
77
Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180 (1187 f.). A. A. K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 479 f. 79 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (39 f.); Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (338). 80 Zur Asylverfahrens-RL bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. B. III. 2. 81 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 85 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 Rn. 29 – XXXX. 82 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 86 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 Rn. 30 – XXXX. 78
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der Antragssteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh ausgesetzt zu sein.83 Verstöße gegen die Bestimmungen der Anerkennungs-RL über den Zugang zu Sozialhilfeleistungen und medizinischer Versorgung, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 GRCh führen, hindern die Mitgliedstaaten nach Auffassung des EuGH unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat, dagegen nicht daran, einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zu erachten.84 c) Kein (klarer) Verzicht auf das Erfordernis systemischer Defizite In der Literatur wird teilweise angenommen, dass der EuGH seine in N. S. u. a. und Abdullahi aufgestellten, relativ hohen Anforderungen an die Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes nachfolgend aufgegeben habe. Diese Literaturstimmen meinen, für das Asylrecht eine dritte Phase in der Rechtsprechung des EuGH zu erkennen, in der der Gerichtshof vom Erfordernis systemischer Mängel zugunsten einer Einzelfallbetrachtung abweiche.85 Die Vermutung der wechselseitigen Grundrechtswahrung durch die Mitgliedstaaten sei nun unabhängig vom Vorliegen systemischer Defizite auch dann widerlegbar, wenn lediglich im Einzelfall die ernsthafte Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRCh drohe.86 Als Beleg hierfür werden häufig die Entscheidungen Ghezelbash,87 Karim88 und besonders C. K. u. a.89 angeführt.90 Richtigerweise lässt sich jedoch keiner der genannten Entscheidungen eine Aussage zu den Grenzen des gegenseitigen Vertrauens entnehmen:
83
EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 87 f. – Ibrahim u. a.; Urt. v. 13. 11. 2019 – C-540/17 u. C-541/17, ECLI:EU:C:2019:964 Rn. 37 f. – Hamed u. Omar; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 Rn. 31 – XXXX. 84 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 92 – Ibrahim u. a. 85 Bartolini, 56 CMLR 2019, 92 (96 f.); Pelzer, Rechtsstellung von Asylbewerbern, S. 168; Rung, Grundrechtsschutz in der Strafkooperation, S. 401 ff.; Wendel, 15 EUConst 2019, 17 (24 f., 39); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (492 f., 496 ff.); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 30, 34 ff. 86 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 56, 81; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (13); Thym, DVBl. 2018, 276 (282); Saénz Pérez, in: Ziegler / Neuvonen / Moreno-Lax, Research Handbook on General Principles in EU Law, S. 530 (541); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (496 ff.); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 34 ff. 87 EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 – Ghezelbash. 88 EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-155/15, ECLI:EU:C:2016:410 – Karim. 89 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 – C. K. u. a. 90 Bartolini, 56 CMLR 2019, 92 (96 f.); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 56; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 52; Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (496 ff.); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 34 ff.; Rung, Grundrechtsschutz und Strafkooperation, S. 401 ff.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Die Entscheidungen Ghezelbash91 und Karim92 betrafen die Frage, ob Antragsteller im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen Überstellungsentscheidungen den Einwand geltend machen können, dass die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Staates die in der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriterien fehlerhaft angewendet haben. Dies hatte der EuGH in der Entscheidung Abdullahi für die Dublin II-VO noch verneint.93 Für die neugefasste Dublin III-VO kam der EuGH dagegen zu dem Ergebnis, dass Asylantragssteller die korrekte Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften gerichtlich durchsetzen können.94 Dieses Ergebnis begründete der Gerichtshof allerdings nicht mit einer Widerlegung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens, sondern anhand einer Auslegung der Dublin III-VO, die sich hinsichtlich der dem Asylbewerber gewährten Rechte in wesentlichen Punkten von der Dublin II-VO unterscheide, und mit den darin zum Ausdruck kommenden veränderten unionsgesetzgeberischen Wertungen.95 Er wies sogar explizit darauf hin, dass die Feststellung eines Fehlers bei der Zuständigkeitsbestimmung nicht geeignet sei, das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu beeinträchtigen, da diese bloß bedeute, dass der Staat, an den der Antragsteller überstellt werden sollte, nicht der zuständige Mitgliedstaat i. S. d. Dublin III-VO ist.96 Ebenso wenig lässt sich der Entscheidung C. K. u. a.97 ein Verzicht auf das Vorliegen systemischer Defizite entnehmen. Gegenstand der Entscheidung war die geplante Überstellung von Frau C. K., ihrem Ehemann und ihrem neugeborenen Kind von Slowenien nach Kroatien, dem gemäß den Bestimmungen der Dublin III-VO für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat. Hiergegen machten die Antragsteller geltend, dass die Überstellung von Frau C. K. mit negativen Folgen für ihren Gesundheitszustand verbunden sei, die sich auch auf das Wohlbefinden ihres neugeborenen Kindes auswirken könnten. Frau C. K. leide an Depressionen und wiederkehrende Selbstmordtendenzen; ihr psychischer Gesundheitszustand drohe sich durch einen erneuten Ortswechsel ernsthaft zu verschlechtern. Die slowenischen Behörden waren dagegen der Auffassung, dass die Situation in Kroatien in Bezug auf die Aufnahme von Asylbewerbern gut sei, der Mitgliedstaat verfüge zudem über eine spezielle Aufnahmeeinrichtung für schutzbedürftige Personen, in der 91
EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 – Ghezelbash. EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-155/15, ECLI:EU:C:2016:410 – Karim. 93 EuGH, Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 42 ff. – Abdullahi. 94 EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 61 – Ghezelbash; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-155/15, ECLI:EU:C:2016:410 Rn. 19 ff. – Karim. 95 EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 34 ff. – Ghezelbash; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 167; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 51; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (830). 96 EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 55 – Ghezelbash. Zustimmend Kullak, Vertrauen in Europa, S. 52; eine Begrenzung des Vertrauensgrundsatzes annehmend aber Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (104 f.); Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 76 f. 97 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 – C. K. u. a. 92
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die erforderliche medizinische Behandlung gewährleistet sei. Der EuGH entschied, dass die Überstellung eines Asylbewerbers nur unter Bedingungen vorgenommen werden darf, die es ausschließen, dass er Gefahr läuft, bei seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh zu erleiden.98 Zwar gebe es keine Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Kroatien systemische Schwachstellen aufweisen.99 Gleichwohl könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Überstellung eines Asylbewerbers, dessen Gesundheitszustand besonders ernst ist, für ihn als solche mit einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh verbunden ist, unabhängig von der Qualität der Aufnahme und der verfügbaren Versorgung in dem für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat.100 Liefere ein Asylbewerber objektive Anhaltspunkte zum Nachweis der besonderen Schwere seines Gesundheitszustands und der erheblichen und unumkehrbaren Folgen, die eine Überstellung für ihn haben könnte, seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Gefahr zu würdigen.101 Sofern nötig, sei die Durchführung der Überstellung auszusetzen, solange der Asylbewerber aufgrund seines Zustands nicht überstellungsfähig ist.102 Den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens berührt diese Entscheidung nicht.103 Seinem Inhalt nach verpflichtet der Vertrauensgrundsatz den Aufenthaltsstaat des Asylbewerbers, die Wahrung der Grundrechte durch den Zielstaat zu unterstellen. Um die Widerlegung dieser Vermutung ging es im Fall C. K. u. a. aber nicht, da der Fall kein zielstaats-, sondern ein sog. inlandsbezogenes Überstellungshindernis betraf.104 Die Grundrechtsverletzung drohte nämlich aus dem Überstellungsvorgang an sich zu resultieren und damit unabhängig von den Bedingungen im Zielstaat.105 Andere nehmen in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Interpretation an, dass der Entscheidung C. K. u. a. keine Aussage dazu entnommen werden kann, ob die Vermutung gegenseitiger Grundrechtswahrung auch unabhängig vom Vorliegen systemischer Defizite widerlegbar ist, entnehmen eine entsprechende Rechtsauf 98
EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 65 – C. K. u. a. EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 70 ff. – C. K. u. a. 100 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 73 – C. K. u. a. 101 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 75 f. – C. K. u. a. 102 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 85 ff. – C. K. u. a. 103 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 95 – C. K. u. a.; GA Kokott, Schlussanträge v. 20. 04. 2023 – C-228/21 u. a., ECLI:EU:C:2023:316 Rn. 169 – CZA u. a.; Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (396); ders., in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (164 Fn. 5); Wendel, EuR 2019, 111 (125); ders., 15 EuConst 2019, 17 (39). 104 Lübbe, ZAR 2017, 176 (177); Lührs, Überstellungsschutz, S. 56, 136 f.; Pelzer, Rechtsstellung von Asylbewerbern, S. 170 ff.; Wendel, EuR 2019, 111 (125); ders., 15 EuConst 2019, 17 (39); ders., JZ 2019, 983 (987). Zur Unterscheidung zwischen zielstaats- und inlandsbezogenen Überstellungshindernissen s. näher Lübbe, NVwZ 2017, 674 (676 ff.); dies., ZAR 2017, 176; Lührs, Überstellungsschutz, S. 56 ff. Allgemein zur Geltung des Vertrauensgrundsatzes nur bei zielstaatsbezogenen, nicht aber innerstaatlichen Überstellungshindernissen Lührs, Überstellungsschutz, S. 110 f. 105 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 169. 99
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
fassung aber nachfolgenden Entscheidungen des Gerichtshofs.106 Tatsächlich führt der EuGH in einigen Entscheidungen mit Blick auf die Bedingungen im Zielstaat aus, dass eine Überstellung nicht erfolgen dürfe, wenn sie mit der tatsächlichen Gefahr verbunden ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh zu erleiden, ohne dass er zugleich explizit ein Vorliegen systemischer Defizite fordert.107 Der Sache nach nimmt er in diesen Entscheidungen jedoch auf Situationen Bezug, in der die Gefahr für eine Verletzung von Art. 4 GRCh aus einer allgemeinen Problemsituation im zielstaatlichen Asylsystem in Form der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger108 bzw. aus strukturellen Defiziten im Sozialsystem des Zielstaats109 resultiert. Unter diesen Umständen ist das Vorliegen systemischer Mängel im Zielstaat jeweils anzunehmen.110 Gegen eine Aufgabe des Kriteriums des systemischen Defizits spricht auch, dass der EuGH in seinen Ausführungen auf Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO Bezug nimmt, der die N. S.-Rechtsprechung einschließlich des Erfordernisses systemischer Schwachstellen kodifiziert.111 Den Entscheidungen kann also keine Aufgabe des Kriteriums der systemischen Defizite entnommen werden – an einer klaren Bekräftigung dieser Voraussetzung fehlt es aber zugegebenermaßen ebenso.112 In anderen jüngeren Entscheidungen nimmt der EuGH dagegen weiterhin auf das Erfordernis systemischer Defizite Bezug,113 was nahelegt, dass der EuGH an dieser Voraussetzung festhält.114 d) Keine Ausnahme von der Legalitätsvermutung bei systematischer Verweigerung des Flüchtlingsstatus In der Entscheidung Ibrahim115 hatte der EuGH über die Vorlagefragen in Bezug auf Art. 4 GRCh hinaus zu entscheiden, ob die Mitgliedstaaten einen An 106 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (395); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 403; Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (39). 107 EuGH, Urt. v. 26. 07. 2017 – C-490/16, ECLI:EU:C:2017:585 Rn. 41 – A. S.; Urt. v. 26. 07. 2017 – C-646/16, ECLI:EU:C:2017:586 Rn. 101 – Jafari; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 87 ff. – Jawo. 108 EuGH, Urt. v. 26. 07. 2017 – C-490/16, ECLI:EU:C:2017:585 Rn. 41 – A. S.; Urt. v. 26. 07. 2017 – C-646/16, ECLI:EU:C:2017:586 Rn. 101 – Jafari. 109 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 47 – Jawo. 110 Vgl. Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (396); Wendel, EuR 2019, 111 (125 Rn. 85). 111 EuGH, Urt. v. 26. 07. 2017 – C-490/16, ECLI:EU:C:2017:585 Rn. 41 – A. S.; Urt. v. 26. 07. 2017 – C-646/16, ECLI:EU:C:2017:586 Rn. 101 – Jafari. 112 Wendel, JZ 2019, 983 (987) hält diese Frage nach der Entscheidung Jawo ebenfalls für offen. 113 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 88 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 13. 11. 2019 – C-540/17 u. C-541/17, ECLI:EU:C:2019:964 Rn. 38 – Hamed u. Omar; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 Rn. 31 – XXXX. 114 Für ein Festhalten am Erfordernis systemischer Defizite jüngst auch GA Kokott, Schlussanträge v. 20. 04. 2023 – C-228/21 u. a., ECLI:EU:C:2023:316 Rn. 160 ff. – CZA u. a. 115 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 – Ibrahim u. a.
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trag nach Art. 33 Abs. 2 lit. a Asylverfahrens-RL 2013 auch dann nicht ablehnen dürfen, wenn der Mitgliedstaat, der dem Antragsteller zuvor subsidiären Schutz gewährt hat, Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorhersehbar und systematisch unter Verstoß gegen die Anerkennungs-RL und Art. 18 GRCh verweigert. Der Gerichtshof nahm an, dass Art. 33 Abs. 2 lit. a Asylverfahrens-RL 2013 im Licht des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens dahingehend auszulegen sei, dass die übrigen Mitgliedstaaten den neuen Antrag ungeachtet dessen als unzulässig ablehnen können.116 In einem solchen Fall müsse stattdessen der Mitgliedstaat, der den subsidiären Schutz gewährt hat, das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufnehmen.117 Aus Sicht des EuGH erfordern systemische Verletzungen des Rechts auf Asyl (Art. 18 GRCh) also offenbar keine Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.118 Damit wich der Gerichtshof von den Schlussanträgen des Generalanwalts Wathelet ab, der sich in diesem Fall für ein Ablehnungsverbot ausgesprochen hatte.119 Eine mögliche Erklärung für diese Entscheidung könnte sein, dass Personen, denen zumindest subsidiärer Schutz gewährt wurde, bereits einen Schutzstatus genießen und daher nicht denselben Risiken ausgesetzt sind wie sonstige Asylbewerber.120 e) Zwischenergebnis Bei der Anwendung der Dublin-Verordnung und der Asylverfahrens-RL ist eine Ausnahme von der Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens jedenfalls dann geboten, wenn – das Asylverfahren, die Aufnahmebedingungen oder die Lebensbedingungen in der Phase nach der Gewährung internationalen Schutzes im Zielstaat syste mische, allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen aufweisen und – diese Schwachstellen die echte Gefahr mit sich bringen, dass der Antragssteller einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird. Nicht vollständig geklärt ist, ob es sich bei dem Vorliegen systemischer Mängel um eine notwendige Bedingung handelt oder ob auch eine „nur“ im Einzelfall bestehende Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausreicht, 116
EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 100 – Ibrahim u. a. EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 100 – Ibrahim u. a. 118 Kritisch hierzu Lübbe, EuR 2019, 352 (359 f.); zustimmend Wendel, JZ 2019, 983 (988). 119 GA Wathelet, Schlussanträge v. 25. 07. 2018 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2018:617 Rn. 116 ff. – Ibrahim u. a. 120 Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180 (1192). 117
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
um die Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung zu erschüttern. Noch offen ist außerdem, ob auch drohende Verletzungen anderer Grundrechtsgarantien als Art. 4 GRCh eine Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erfordern. 2. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen hielt der EuGH vergleichsweise lange an seiner restriktiven Haltung fest und erkannte zunächst keine Ausnahmen von der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung an.121 Zwar legte die auf den gesamten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezogene Aussage im EMRK-Gutachten, dass die Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung nur vorbehaltlich „außergewöhnlicher Umstände“ gelte,122 die Schlussfolgerung nahe, dass die Vermutung auch im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen widerlegbar sein muss. Eine Bestätigung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Instrumenten der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen fand diese Annahme jedoch lange nicht. Die Frage nach Ausnahmetatbeständen von der Pflicht zur Vermutung der wechselseitigen Grundrechtswahrung ist im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen besonders mit Blick auf den Europäischen Haftbefehl relevant geworden.123 Grund hierfür ist, dass der Rahmenbeschluss keinen expliziten Ablehnungsgrund für den Fall von Grundrechtsverletzungen durch den Ausstellungsstaat enthält.124 Zwar spricht Art. 1 Abs. 3 RbEuHb vage davon, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht der Mitgliedstaaten berühre, die Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten, die in Art. 6 EUV niedergelegt sind. Ob und unter welchen Voraussetzungen sich hieraus eine Verantwortung für die vollstreckenden Justizbehörden ergibt, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen drohender oder bereits eingetretener Grundrechtsverletzungen durch den Ausstellungsstaat zu verweigern, war jedoch lange unklar.125
121 Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (492); dies., Fundamental Rights und Mutual Trust in the AFSJ, S. 30. 122 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 f. – EMRK-Beitritt II. 123 Zum RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen siehe jetzt aber auch GA Emiliou, Schlussanträge v. 04. 05. 2023 – C-819/21, ECLI:EU:C:2023:386 Rn. 45 ff. – MD (anhängiges Vorlageverfahren). 124 Lübbe, NVwZ 2017, 674 (675); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (325 f.); Schwarz, EuR 2016, 421 (424 f.); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 98. 125 Ostropolski, 6 NJECL 2015, 166 (174); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 98.
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a) Ausnahmen von der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung wegen unmenschlicher und erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsstaat aa) Übertragung der N. S.-Rechtsprechung: Aranyosi und Căldăraru Nachdem im Schrifttum schon zuvor gemutmaßt worden war, dass der EuGH seine restriktive Linie auch in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl aufgeben müsste und würde, sobald ihm ein klar menschenrechtswidriger Fall vorgelegt wird,126 bewahrheitete sich diese Vermutung mit der Entscheidung Aranyosi und Căldăraru im Jahr 2016.127 Der Gerichtshof übertrug in dieser Rechtssache die in der Entscheidung N. S. u. a. zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem entwickelten Grundsätze auf den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.128 Der Fall betraf die Vollstreckung von zwei Europäischen Haftbefehlen, die von Bulgarien bzw. Rumänien ausgestellt worden waren, in Deutschland. Sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien genügen die Haftbedingungen in einigen Haftanstalten aufgrund der Unterbringung in zu kleinen, massiv überbelegten Haftzellen ohne ausreichende Beheizung und warmes Wasser menschenrechtlichen Mindeststandards erwiesenermaßen nicht. Das Hanseatische OLG legte dem EuGH daher die Frage vor, ob Art. 1 Abs. 3 RbEuHb so auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde im Fall gewichtiger Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsstaat mit Art. 4 GRCh unvereinbar sind, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen kann oder muss. Der Gerichtshof betonte einleitend, dass die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls als solchem nach dem 10. ErwG des Rahmenbeschlusses nur im Einklang mit dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren ausgesetzt werden dürfe.129 Gleichwohl seien – wie schon im Gutachten zum EMRK-Beitritt anerkannt – unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens möglich.130 Der Rahmenbeschluss berühre, wie aus Art. 1 Abs. 3 RbEuHb hervorgehe, nicht die Pflicht, die Grundrechte zu achten.131 Unter bestimmten Umständen müsse die vollstreckende Justizbehörde deshalb 126 Böhm, StraFo 2013, 177 (183); F. Meyer, JZ 2016, 621; ders., in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 82 AEUV Rn. 12; Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (358 f.). 127 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi u. Căldăraru. 128 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 167; Schwarz, EuR 2016, 421 (427); ders., 24 Eur. Law J. 2018, 124 (130); Willems, 20 GLJ 2019, 468 (482). 129 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 81 – Aranyosi u. Căldăraru. 130 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 82 – Aranyosi u. Căldăraru. 131 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 83 – Aranyosi u. Căldăraru.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
das Übergabeverfahren beenden, wenn die Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person i. S. v. Art. 4 GRCh führt. Folglich sei die vollstreckende Justizbehörde, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, im Lichte von Art. 4 GRCh verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen.132 Der EuGH fordert in diesem Fall eine zweistufige Prüfung: Die vollstreckende Justizbehörde habe erstens zu prüfen, ob im Ausstellungsstaat systemische oder allgemeine, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel vorliegen, die abstrakt eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund der allgemeinen Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat begründen. Stelle sie das Vorliegen einer solchen – abstrakten – Gefahr fest, müsse sie zweitens konkret und genau prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Überstellung aufgrund der Haftbedingungen im Ausstellungsstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.133 Auch unter diesen Voraussetzungen hat die vollstreckende Justizbehörde nach Auffassung des EuGH die Vollstreckung des Haftbefehls aber nicht unmittelbar aufzugeben, sondern die Entscheidung über die Übergabe zunächst nur aufzuschieben und weitere Informationen einzuholen.134 Erst wenn das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden könne, sei darüber zu entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.135 Dazu, ob eine Beschränkung der Vermutung gegenseitiger Grundrechtswahrung auch jenseits systemischer Mängel geboten sein kann und ob auch die Verletzung anderer Grundrechte die Vermutung erschüttern kann, trifft der EuGH keine Aussage.136 Es fällt jedoch auf, dass der Gerichtshof in der Entscheidung den absoluten Charakter des in Art. 4 GRCh normierten Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung hervorhebt und dessen enge Verbindung zur Menschenwürdegarantie (Art. 1 GRCh) betont.137 Das legt nahe, dass sich die Entscheidung nicht 132
EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 88 – Aranyosi u. Căldăraru. 133 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 89 ff. – Aranyosi u. Căldăraru; Burchard, in: Böse, EnzEuR Bd. 11, § 14 Rn. 80; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (835 f.); Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (39); Willems, 20 GLJ 2019, 468 (490). 134 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 98 ff. – Aranyosi u. Căldăraru. 135 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 104 – Aranyosi u. Căldăraru. 136 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 33; Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (835); F. Meyer, JZ 2016, 621 (621, 624). 137 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 84 ff. – Aranyosi u. Căldăraru; vgl. Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 58 – ML.
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uneingeschränkt auf andere Chartagrundrechte übertragen lässt.138 Eine Aufwertung des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb zu einem allgemeinen Grundrechtsvorbehalt lässt sich der Entscheidung jedenfalls nicht entnehmen.139 bb) Bestätigung und Konkretisierung der Aranyosi-Rechtsprechung Nachfolgend hat der Gerichtshof die in der Rechtssache Aranyosi und Căldăraru aufgestellten Grundsätze bekräftigt und näher ausgeformt.140 In den Entscheidungen ML und Dorobantu hat er seine Vorgaben für die zweite Prüfungsstufe konkretisiert, auf der die vollstreckende Justizbehörde nach Feststellung systemischer oder allgemeiner Mängel zu würdigen hat, ob im konkreten Einzelfall die echte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Betroffenen besteht.141 Unter Berufung auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nahm der Gerichtshof eine gewisse Eingrenzung der Prüfungspflichten der vollstreckenden Justizbehörde vor: Angesichts des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten – das insoweit offenbar weiterwirkt – seien nur die Bedingungen in den Haftanstalten zu prüfen, in denen die Person nach den vom Ausstellungsstaat übermittelten Informationen konkret inhaftiert werden soll, nicht aber sämtliche Haftanstalten.142 Der Gerichtshof hob zugleich hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Entscheidung über die Übergabe keinesfalls zwischen der echten Gefahr, dass die betroffene Person eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren wird, einerseits und der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung andererseits, abwägen darf. Die Garantie aus Art. 4 GRCh dürfe als absolutes Recht in keiner Weise durch derartige Erwägungen beschränkt werden.143 Der Gerichtshof stellte außerdem klar, dass die Erschütterung der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung das ebenfalls aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Verbot, die horizontale Zusammenarbeit von der Einhaltung weitergehender nationaler Standards abhängig zu machen, unberührt lässt: Es stehe den Mitgliedstaaten zwar frei, für ihr eigenes Strafvollzugssystem 138 Willems, 20 GLJ 2019, 468 (491); eine Übertragbarkeit auf weitere Fälle systemischer Defizite in den Strafjustizsystemen der Mitgliedstaaten annehmend dagegen Anagnostaras, 53 CMLR 2016, 1675 (1694). 139 F. Meyer, JZ 2016, 621. 140 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 56 ff. – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 49 ff. – Dorobantu. 141 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 77 ff. – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 58 ff. – Dorobantu; Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (18). 142 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 87 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 66 – Dorobantu. 143 EuGH, Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 82 – Dorobantu.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Mindestanforderungen an die Haftbedingungen zu stellen, die strenger sind als die Anforderungen, die sich aus Art. 4 GRCh ergeben. Die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle dürfe aber nur von der Einhaltung der unionsrechtlichen Anforderungen abhängig gemacht werden, und nicht von der Erfüllung weitergehender, aus dem nationalen (Verfassungs-)Recht folgender Anforderungen. Die gegenteilige Herangehensweise würde zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung führen und die Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses beeinträchtigen.144 b) Rechtsstaatsspezifische Grenzen der Legalitätsvermutung Nachfolgend erkannte der Gerichtshof an, dass die Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung auch aufgrund rechtsstaatlicher Defizite in den Mitgliedstaaten erschüttert sein kann. aa) Leitentscheidung: LM Den Hintergrund der zweiten Leitentscheidung des EuGH zu den Grenzen gegenseitigen Vertrauens in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bildete die Rechtsstaatskrise in Polen.145 Im Zentrum der Vorlagefrage stand die Frage nach den Auswirkungen der polnischen Justizreformen auf die justizielle Zusammenarbeit mit dem Mitgliedstaat. Besonderen Bedenken begegnet insoweit die faktische Beseitigung einer unabhängigen verfassungsgerichtlichen Kontrolle und die Gefährdung der Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte in dem Mitgliedstaat. Gegenstand der Entscheidung LM146 war die Vollstreckung mehrerer zur Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehle, die polnische Gerichte gegen LM erlassen hatten, in Irland. Der EuGH hatte auf Vorlage des irischen High Court darüber zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen die vollstreckende Justizbehörde davon absehen kann, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, weil im Fall einer Übergabe der gesuchten Person an die ausstellende Justizbehörde die Gefahr besteht, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht (Art. 47 Abs. 2 GRCh) verletzt wird. Insbesondere fragte das vorlegende Gericht, ob es bei Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz in einem Mitgliedstaat zusätzlich in einem zweiten Schritt konkret und genau prüfen müsse, ob die betroffene Per 144
EuGH, Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 79 – Dorobantu. Hierzu näher unten, → 4. Kapitel, § 2. A. II. 2. 146 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 – LM. Zur Übertragbarkeit der in dieser Entscheidung entwickelten Grundsätze auf den RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen GA Emiliou, Schlussanträge v. 04. 05. 2023 – C-819/21, ECLI:EU:C:2023:386 Rn. 45 ff. – MD. 145
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son im Fall ihrer Übergabe einer Gefahr der Verletzung von Art. 47 Abs. 2 GRCh ausgesetzt sein wird. Es regte an, auf diese Voraussetzung zu verzichten, da vorab schwer prognostizierbar sei, ob sich entsprechende Mängel in einzelnen Strafverfahren materialisieren werden, und einer solchen Gefahr in der vorliegenden Konstellation auch kaum mittels einer Garantiezusage der ausstellenden Justizbehörde begegnet werden könne. Wäre der EuGH dieser Argumentation gefolgt, hätte dies de facto wohl zu einer vollständigen Aussetzung des Rahmenbeschlusses im Verhältnis zu Polen geführt.147 Der Gerichtshof hob erneut hervor, dass eine Beschränkung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens nur unter außergewöhnlichen Umständen in Betracht komme.148 Mit Blick auf die ihm vorgelegte Frage betonte er, dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehöre, dem als Garant für den Schutz der Rechte des Einzelnen und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte grundlegende Bedeutung zukomme.149 Das hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruhe, gründe sich auf die Prämisse, dass die Strafgerichte der übrigen Mitgliedstaaten, die nach der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls das Verfahren der Strafverfolgung oder -vollstreckung zu führen haben, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen, zu denen u. a. gehöre, dass sie unabhängig und unparteiisch sind.150 Bestehe die echte Gefahr, dass der Betroffene im Fall seiner Übergabe eine Verletzung seines Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt seines in Art. 47 Abs. 2 GRCh verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, könne es der vollstreckenden Justizbehörde ausnahmsweise gestattet sein, auf Grundlage von Art. 1 Abs. 3 RbEuHb von einer Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzusehen.151 Analog seiner Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh fordert der EuGH eine zweistufige Prüfung:152 Die vollstreckende Justizbehörde müsse in einem ersten Schritt prüfen, ob im Ausstellungsmitgliedstaat systemische oder allgemeine 147
Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (378); Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (30). EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 43 – LM. 149 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 48 ff. – LM. 150 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 58 – LM. Es fällt auf, dass der EuGH hier – anders als in anderen Entscheidungen – nicht davon spricht, dass eine Ausnahme von der Vollstreckung in diesem Fall geboten sei, sondern stattdessen formuliert, dass der vollstreckenden Justizbehörde ein Absehen von der Vollstreckung „gestattet“ sei. Das könnte man bei isolierter Betrachtung so deuten, dass die Entscheidung über die Ablehnung der Vollstreckung im Ermessen der vollstreckenden Justizbehörde steht. Richtigerweise dürfte es sich aber um ein bloßes Formulierungsversehen handeln. Im Folgenden spricht der EuGH nämlich wieder davon, dass die vollstreckende Justizbehörde bei Erfüllung der aufgestellten Voraussetzungen davon absehen muss, dem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (Rn. 78). 151 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 59 – LM. 152 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 60 ff. – LM; Böhm, NStZ 2019, 256 (260 f.); Wendel, EuR 2019, 111 (118); Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 39, 73. 148
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Mängel im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz bestehen, die abstrakt eine echte Gefahr begründen, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird. Stelle sie das Vorliegen einer solchen Gefahr fest, habe sie in einem zweiten Schritt konkret und genau zu prüfen, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation der Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Könne sie das im konkreten Fall nicht ausschließen, müsse sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.153 Der Gerichtshof erkannte damit erstmals an, dass die Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung auch jenseits von Verletzungen der absolut geschützten Kerngarantie des Art. 4 GRCh widerlegt sein kann. Er stellt den Schutz des Wesensgehalts des Grundrechts auf ein faires Verfahren dem Grundrechtsschutz des Art. 4 GRCh gleich, obwohl Art. 47 Abs. 2 GRCh selbst keinen absoluten Charakter besitzt.154 Wohl in dem Bemühen, ein Gleichgewicht zwischen der Effektivität der justiziellen Zusammenarbeit und dem Schutz der Grundrechte herzustellen, beschränkt der Gerichtshof die Ausnahme allerdings auf Fälle, in denen eine Verletzung des Wesensgehalts des Grundrechts i. S. d. Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh droht. Unklar bleibt, ob dieser Ansatz auf andere relative Grundrechtsgarantien übertragbar ist, mit der Folge, dass eine Widerlegung der Vertrauensvermutung immer dann anzunehmen wäre, wenn die echte Gefahr besteht, dass im Zielstaat der Wesensgehalt eines Unionsgrundrechts angetastet wird.155 Gegen eine uneingeschränkte Übertragbarkeit spricht, dass die Argumentation des EuGH wesentlich auf der „grundlegenden Bedeutung“ des Grundrechts aus Art. 47 Abs. 2 GRCh für den Individualrechtsschutz und die Wahrung der gemeinsamen Werte nach Art. 2 EUV aufbaut.156 Die Garantie eines fairen Verfahrens vor unabhängigen und unparteilichen Gerichten ist von hervorgehobener Bedeutung für die Durchsetzung sonstiger formal gewährter Rechte.157
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EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 78 – LM. Kullak, Vertrauen in Europa, S. 70. 155 So Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180 (1190); Böhm, NStZ 2021, 209 (211); Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 80; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 146; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 580 f., 765 ff.; im Ergebnis auch Penkuhn, Der ordre-public- Vorbehalt als Auslieferungshindernis, S. 256 ff. 156 Wendel, EuR 2019, 111 (121); ders., 15 EuConst 2019, 17 (32 f.). Auf die elementare Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen verweisen auch Rat, Schlussfolgerungen zur gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen: „Förderung der gegenseitigen Anerkennung durch Stärkung des gegenseitigen Vertrauens“, ABl. EU 2018 C 499/6; Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (689, 704). 157 Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 8; vgl. EuGH, Urt. v. 02. 03. 2021 – C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153 Rn. 116 – A. B. u. a.; Urt. v. 20. 04. 2021 – C-896/19, ECLI:EU:C:2021:311 Rn. 51 – Republikka; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 Rn. 58 – Kommission / Polen. 154
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An der konkreten Einzelfallprüfung auf der zweiten Stufe hält der EuGH explizit fest.158 Er begründet dies damit, dass die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls – wie aus dem 10. ErwG des RbEuHb hervorgehe – nur ausgesetzt werden dürfe, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze vorliegt und diese vom Europäischen Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 3 EUV festgestellt wird.159 Der Standpunkt des EuGH ist insoweit konsequent, als es sich bei der von der vollstreckenden Justizbehörde zu treffenden Überstellungsentscheidung um eine Einzelfallentscheidung handelt, bei der – anders als im politischen Verfahren nach Art. 7 EUV oder in Vertragsverletzungsverfahren – der Individualrechtsschutz im Vordergrund steht und nicht die Sanktionierung einzelner Mitgliedstaaten für rechtsstaatliche Defizite.160 Aus dem Vorliegen systemischer Mängel, die die abstrakte Gefahr einer Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren begründen, folgt nicht automisch auch eine individuelle Betroffenheit in jedem Einzelfall. Es ist daher zusätzlich im Einzelfall zu prüfen, ob die konkrete Gefahr besteht, dass die betroffene Person mit der mangelhaften Struktur in Berührung kommt.161 Mit Blick auf die praktische Umsetzung begegnet dieser Ansatz dennoch Bedenken: Da die Maßnahmen der polnischen Regierung die Unabhängigkeit der polnischen Justiz in ihrer Gesamtheit bedrohen, lässt sich im Zeitpunkt der Entscheidung über die Überstellung kaum sicher feststellen, dass nicht an irgendeinem Punkt des Verfahrens ein kompromittierter Richter über den Fall entscheiden wird.162 Diesen Bedenken sollte jedoch vorrangig mit einer sachgerechten Ausgestaltung der Prüfung auf der zweiten Stufe Rechnung getragen werden anstatt mit einem vollständigen Verzicht auf eine Einzelfallprüfung. Der EuGH nimmt insoweit zu Recht an, dass die vollstreckende Justizbehörde die Überstellung bereits dann ablehnen muss, wenn sie das Bestehen einer konkreten Gefahr im Einzelfall nicht ausschließen kann.163 bb) Nachfolgend: Festhalten am Erfordernis der Einzelfallprüfung Zwei Jahre nach der Entscheidung LM wurde der EuGH auf Vorlage eines niederländischen Gerichts erneut mit der Frage befasst, ob die Einzelfallprüfung für 158
EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 68 ff. – LM. EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 70 – LM. 160 Vgl. von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (737); Konstadinides, 56 CMLR 2019, 734 (750 f.); Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (30); Giegerich, ZEuS 2019, 61 (100). Kritisch mit Blick auf die Defizite des Art. 7 EUV-Verfahrens, die eine Aussetzung des RbEuHb praktisch verhindern aber Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (360). 161 Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 154. 162 von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (737); Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (361); Canor, in: von Bogdandy / Bogdanowicz / Canor / Grabenwarter / Taborowski / M. Schmidt, Defending Checks and Balances, S. 183 (202); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 71; Giegerich, ZEuS 2019, 61 (100). 163 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 78 – LM. 159
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
in Polen ausgestellte Europäische Haftbefehle ausgesetzt werden darf.164 Das vorlegende Gericht war der Auffassung, dass die vom EuGH in der Rechtssache LM vorgegebene zweistufige Prüfung angesichts der fortschreitenden Verschlechterung der Situation in Polen nicht mehr geboten sei. Die Justizreformen hätten dazu geführt, dass das Recht auf ein unabhängiges Gericht gegenüber keiner einzigen verdächtigen Person, die sich vor den polnischen Gerichten verantworten müsse, gewährleistet sei, und zwar unabhängig von den Umständen des Einzelfalls. In diesem Kontext müsse die Möglichkeit bestehen, die Vollstreckung sämtlicher von polnischen Gerichten ausgestellten Haftbefehle ohne Einzelfallprüfung abzulehnen. Der EuGH verneinte dies. Das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz in Polen berechtige die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten nicht dazu, polnischen Gerichten die Eigenschaft einer „ausstellenden Justizbehörde“ i. S. v. Art. 6 Abs. 1 RbEuHb pauschal abzusprechen.165 Die Existenz derartiger Mängel wirke sich nämlich nicht zwangsläufig auf jede Entscheidung aus, die die Gerichte dieses Mitgliedstaats im jeweiligen Einzelfall erlassen.166 Eine gegenteilige Auslegung liefe nach Auffassung des Gerichtshofs darauf hinaus, dass die Beschränkungen, denen die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung unterworfen werden können, über „außergewöhnliche Umstände“ hinaus ausgedehnt würden, mit der Folge, dass diese Grundsätze im Rahmen Europäischer Haftbefehle, die von polnischen Gerichten ausgestellt würden, generell keine Anwendung mehr fänden.167 Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte für den EuGH auch gespielt haben, dass die Feststellung, dass polnische Gerichte in ihrer Gesamtheit nicht mehr als unabhängig anzusehen sind, diesen möglicherweise zugleich die Berechtigung genommen hätte, das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV in Anspruch zu nehmen.168 Der Vorabentscheidungsmechanismus hat sich aber als ein Schlüsselinstrument beim Widerstand der polnischen Gerichte gegen die Justizreformen der Regierung erwiesen.169
164
EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 – L. u. P. 165 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 34 ff. – L. u. P. 166 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 42 – L. u. P. 167 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 43 – L. u. P. 168 Der EuGH verweist in der Entscheidung explizit darauf, dass eine gegenteilige Auslegung bedeuten würde, dass kein polnisches Gericht mehr als „Gericht“ i. S. d. Art. 267 AEUV angesehen werden könnte, EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 44 – L. u. P. Zu dieser Problematik s. ausführlich unten, → 4. Kapitel, § 3. A. IV. 1. 169 Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (701).
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Auch am Erfordernis einer zweistufigen Prüfung hielt der EuGH trotz der ge äußerten Kritik fest.170 Solange der Europäische Rat nicht gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze festgestellt habe und die Anwendung des RbEuHb gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat daraufhin vom Rat ausgesetzt worden sei, dürfe die vollstreckende Behörde sich nicht mit der Feststellung systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats begnügen, sondern müsse in einem zweiten Schritt stets konkret und genau prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu übergebende Person angesichts ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des der Ausstellung des Haftbefehls zugrunde liegenden Sachverhalts im Fall ihrer Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird.171 Während die Entscheidung LM einen zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehl betraf, waren Gegenstand der vorliegenden Entscheidung mehrere Europäische Haftbefehle, darunter auch ein Europäischer Haftbefehl, der zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden war. Der Gerichtshof entschied, dass auch im Fall eines zur Strafvollstreckung ausgestellten Europäischen Haftbefehls im Wege einer zweistufigen Prüfung über die Übergabe zu entscheiden ist. Die vollstreckende Justizbehörde habe in diesem Fall jedoch neben künftig drohenden Verletzungen des Grundrechts aus Art. 47 Abs. 2 GRCh auch das Verfahren zu berücksichtigen, das zur Verhängung der zu vollstreckenden Strafe geführt hat: Einerseits habe die vollstreckende Justizbehörde zu prüfen, ob die Person nach ihrer Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird, wenn gegen sie nach ihrer eventuellen Übergabe ein neues Gerichtsverfahren – etwa wegen Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe oder eines Rechtsmittels gegen die Gerichtsentscheidung, deren Vollstreckung Gegenstand des Europä ischen Haftbefehls ist – eröffnet wird.172 Darüber hinaus sei zu prüfen, inwieweit die im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bestehenden systemischen oder allgemeinen Mängel die Unabhängigkeit des Gerichts beeinträchtigt haben, das die Freiheitsstrafe verhängt hat.173
170
EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 Rn. 53 ff. – L. u. P; Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (701). 171 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 Rn. 57 ff. – L. u. P. 172 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 Rn. 67 – L. u. P. 173 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 Rn. 68 – L. u. P.
PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
cc) Übertragung auf Fälle einer (drohenden) Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht Die Entscheidungen LM und L. u. P. betrafen die aus Art. 47 Abs. 2 GRCh folgende Garantie der richterlichen Unabhängigkeit. Der EuGH übertrug die hierzu entwickelten Grundsätze in den Entscheidungen X. u. Y. und WO u. JL auf Fälle, in denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die zu überstellende Person im Fall ihrer Übergabe keinen Zugang zu einem „zuvor durch Gesetz errichteten“ Gericht i. S. d. Art. 47 Abs. 2 GRCh haben wird.174 Hintergrund der Entscheidungen waren erneut die polnischen Justizreformen. Die vorlegenden Gerichte äußerten angesichts von Neuregelungen, die der Regierung erheblichen Einfluss auf die Richterernennung einräumen, Zweifel daran, ob das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht in Polen noch gewährleistet ist. Der EuGH hielt zunächst fest, dass es sich bei dem Recht auf ein zuvor durch Gesetz geschaffenes Gericht um ein eigenständiges Grundrecht handele. Dieses sei aber eng mit den ebenfalls aus Art. 47 Abs. 2 GRCh folgenden Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verknüpft und ziele – wie diese – auf die Wahrung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips und der Gewaltenteilung ab.175 Die vollstreckende Justizbehörde habe daher auch in Fällen, in denen der Zugang zu einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in Frage steht, eine zweistufige Prüfung vorzunehmen:176 In einem ersten Schritt müsse die vollstreckende Justizbehörde generell beurteilen, ob eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats oder einer Missachtung des Erfordernisses eines durch Gesetz errichteten Gerichts aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Staat zusammenhängt.177 Im zweiten Schritt habe die vollstreckende Justizbehörde zu prüfen, ob sich die festgestellten systemischen oder allgemeinen Mängel im Fall der Übergabe der betroffenen Person an den Ausstellungsmitgliedstaat konkretisieren können und ob diese Person unter den besonderen Umständen des konkreten Falles einer echten Gefahr der Verletzung ihres in Art. 47 Abs. 2 GRCh verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren vor einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht ausgesetzt ist.178 Eine Eingrenzung auf den Wesensgehalt des 174
EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 – X. u. Y; Beschl. v. 12. 07. 2022 – C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592 – WO u. JL. Ausführlich zum Erfordernis einer gesetzlichen Errichtung des Gerichts Rizcallah / Davio, 17 EuConst 2021, 581. 175 EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 55 f. – X. u. Y. 176 EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 66 – X. u. Y. 177 EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 67 – X. u. Y; Beschl. v. 12. 07. 2022 – C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592 Rn. 35, 37 – WO u. JL. 178 EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 82 – X. u. Y.; Beschl. v. 12. 07. 2022 – C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592 Rn. 36 f., 39 – WO u. JL.
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Grundrechts aus Art. 47 Abs. 2 GRCh nimmt der EuGH hier – anders als noch in der Rechtssache LM – nicht mehr vor. Der EuGH differenziert auch in diesen Entscheidungen zwischen Europäischen Haftbefehlen, die zur Strafverfolgung ausgestellt worden sind, und solchen, die zur Strafvollstreckung ausgestellt worden sind: Bei einem zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehl sei auf zweiter Stufe der Spruchkörper, der voraussichtlich mit dem Fall befasst sein wird, in den Blick zu nehmen,179 im Fall eines zur Strafvollstreckung ausgestellten Europäischen Haftbefehls der Spruchkörper, der mit der Strafsache befasst war, die zur Ausstellung des Haftbefehls geführt hat.180 dd) Explizites Festhalten am Erfordernis systemischer Mängel Ob die Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung nur dann erschüttert ist, wenn in einem Mitgliedstaat systemische Mängel hinsichtlich der Wahrung der Grundreche vorliegen, oder ob der EuGH bereit wäre, vom Erfordernis systemischer Mängel zugunsten einer Einzelfallbetrachtung abzuweichen, blieb lange ungeklärt.181 Die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung herangezogene zweistufige Prüfung deutete zwar klar daraufhin, dass das Vorliegen systemischer Mängel eine notwendige Voraussetzung für eine Widerlegung der Legalitätsvermutung ist,182 explizit aufgegriffen hat der Gerichtshof dieser Frage aber erst kürzlich in der Entscheidung Puig Gordi u. a.183 In dem Verfahren hatte der EuGH darüber zu entscheiden, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der Begründung ablehnen können, dass der betroffenen Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat
179
EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 102 – X. u. Y.; Beschl. v. 12. 07. 2022 – C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592 Rn. 40, 58 – WO u. JL. 180 EuGH, Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 86 ff., 102 – X. u. Y.; Beschl. v. 12. 07. 2022 – C-480/21, ECLI:EU:C:2022:592 Rn. 40, 58 – WO u. JL. 181 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 33; Konstadinides, 56 CMLR 2019, 743 (755); einen Verzicht des EuGH auf das Erfordernis systemischer Mängel für nicht unwahrscheinlich haltend Böhm, NStZ 2019, 256 (257); Burchard, in: Böse, EnzEuR Bd. 11, § 14 Rn. 81; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 682 f. 182 Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 68; Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (341); Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (24): „The wording and rationale behind the European Court’s reasoning (…) have made it crystal clear that this individualised assessment is to be understood as a cumulative, not alternative condition.“ Von einer kumulativen Prüfung ging auch das EuG aus, Urt. v. 09. 02. 2022 – T-791/19, ECLI:EU:T:2022:67 Rn. 94 – Sped-Pro / Europäische Kommission. Vgl. auch Böhm, NStZ 2020, 204 (205), der die Besorgnis äußerte, dass der EuGH am Erfordernis systemischer Mängel auch weiterhin festhalten würde. 183 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 – Puig Gordi u. a.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
insofern eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 47 Abs. 2 GRCh drohe, als sie Gefahr laufe, durch ein nicht zuständiges Gericht verurteilt zu werden. Der Gerichtshof hielt fest, dass sich eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 47 Abs. 2 GRCh auch daraus ergeben kann, dass der Fall des Betroffenen von einem Gericht entschieden wird, das nach den maßgeblichen nationalen Vorschriften nicht für die Entscheidung zuständig ist.184 Aus der bei der Auslegung von Art. 47 Abs. 2 GRCh zu berücksichtigenden Rechtsprechung des EGMR ergebe sich, dass die Zuständigkeit eines Gerichts in engem Zusammenhang mit dem Erfordernis eines „auf Gesetz beruhenden Gerichts“ i. S. v. Art. 6 Abs. 1 EMRK steht. Auch in dem Fall habe die vollstreckende Justizbehörde eine zweistufige Prüfung vorzunehmen:185 In einem ersten Schritt müsse sie ermitteln, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel oder aufgrund von Mängeln, die eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen und der die betreffende Person angehört, eine echte Gefahr der Verletzung des von Art. 47 Abs. 2 GRCh gewährleisteten Grundrechts auf ein faires Verfahren gegeben ist, die mit der Verkennung des Erfordernisses eines durch Gesetz errichten Gerichts zusammenhängt.186 Entsprechende Mängel lägen vor, wenn Angeklagte im Ausstellungsmitgliedstaat im Allgemeinen über keinen wirksamen Rechtsbehelf verfügen, mit dem die Zuständigkeit des entscheidenden Strafgerichts kontrolliert werden kann.187 In einem zweiten Schritt müsse die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die festgestellten Mängel auf das Verfahren gegen die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, auswirken können und ob es im konkreten Fall ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Fall ihrer Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird.188 Eine solche Gefahr könne nur festgestellt werden, wenn die fehlende Zuständigkeit offensichtlich ist.189 Die Frage, ob die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung ablehnen könne, ohne in einem ersten Schritt das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel im Ausstellungmitgliedstaat festgestellt zu haben, verneinte der EuGH ausdrücklich.190 In Fällen, in denen keine systemischen Mängel des Justizsystems im Ausstellungsmitgliedstaats feststellbar seien, könne der Betroffene Rechtsschutz im
184
EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 98 ff. – Puig Gordi u. a. EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 101 – Puig Gordi u. a. 186 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 102 – Puig Gordi u. a. 187 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 103 – Puig Gordi u. a. 188 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 106 – Puig Gordi u. a. 189 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 107 f. – Puig Gordi u. a. 190 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 109 ff. – Puig Gordi u. a.; vgl. nachfolgend auch EuGH, Urt. v. 23. 03. 2023 – C-514/21 u. C-515/21, ECLI:EU:C:2023:235 Rn. 86 – LU u. PH. 185
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Ausstellungsmitgliedstaat suchen.191 Die vollstreckende Justizbehörde sei gemäß dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gehalten, das Bestehen und die Wirksamkeit entsprechender Rechtsbehelfe zu unterstellen.192 Dem ist im Grundsatz zuzustimmen. Liegen im Ausstellungsmitgliedstaat keine systemischen Defizite vor, besteht in der Tat kein Anlass, von der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Verantwortungsteilung zwischen den beteiligten Mitgliedstaat abzuweichen.193 c) Zwischenergebnis Sofern die vollstreckende Justizbehörde über Anhaltspunkte verfügt, dass der zu überstellenden Person eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh droht oder diese Person in ihrem in Art. 47 Abs. 2 GRCh verankerten Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht zu verletzt werden droht bzw. in dem der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls vorangegangenen Strafverfahren bereits verletzt wurde, ist sie nach der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet, diese Gefahr zu würdigen. Die vollstreckende Justizbehörde hat vor der Entscheidung über die Übergabe eine zweistufige Prüfung vorzunehmen, bei der sie auf der ersten Stufe das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel zu bewerten, und auf der zweiten Stufe eine Einzelfallprüfung mit Blick auf die konkrete Situation der zu überstellenden Person vorzunehmen hat. Eine Ablehnung der Überstellung kommt nach Auffassung des EuGH nur dann in Betracht, wenn im Ausstellungsmitgliedstaat sowohl systemische Mängel in Bezug auf die Wahrung der genannten Grundrechte vorliegen als auch eine konkret-individuelle Gefährdung der Grundrechte der zu überstellenden Person feststellbar ist. Unklar bleibt, ob auch systemische Mängel bei der Wahrung anderer als der genannten Grundrechte die Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung erschüttern können.194 3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen Auch im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen gilt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte beachten, nur vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände.195 Dennoch hat der EuGH, soweit ersichtlich, in diesem 191
EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 112 f. – Puig Gordi u. a. EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 114 – Puig Gordi u. a. 193 Ausführlich hierzu s. unten, → 3. Kapitel, § 2. C. III. 1. 194 Konstadinides, 56 CMLR 2019, 743 (755). 195 EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 40 – Diageo Brands; allgemein mit Blick auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 191 – EMRK-Beitritt II. 192
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Sachbereich noch in keiner Entscheidung eine Widerlegung der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung angenommen.196 Ein Grund hierfür dürfte sein, dass viele der vertrauensbasierten zivilrechtlichen Anerkennungsinstrumente vergleichsweise weitreichende Ausnahmen von der Pflicht zur Vollstreckung mitgliedstaatlicher Entscheidungen vorsehen und darüber hinaus zum Teil verbindliche Mindeststandards normieren, die das gegenseitige Vertrauen stärken sollen.197 So kann der Vollstreckungsstaat beispielsweise im Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO die Vollstreckung einer Entscheidung unter Berufung auf den ordre public-Vorbehalt in Art. 45 Abs. 1 lit. a verweigern, sofern ein offensichtlicher und schwerwiegender Grundrechtsverstoß vorliegt.198 Zudem erweist sich die Anerkennung und Vollstreckung zivilrechtlicher Entscheidungen in aller Regel als weniger eingriffsintensiv. Einen Sonderfall innerhalb der Anerkennungsinstrumente in Zivilsachen bilden die Brüssel IIa-VO und ihre Nachfolgerichtlinie, die Brüssel IIb-VO. Mit der Brüssel IIa-VO wurde für Umgangsentscheidungen und Entscheidungen über die Rückgabe entführter oder zurückgehaltener Kinder neben dem Exequaturverfahren auch der ordre public-Vorbehalt abgeschafft.199 Entscheidungen in diesem Bereich sind bei Erfüllung der sekundärrechtlichen Anforderungen unionsweit vollstreckbar, ohne dass Anfechtungsmöglichkeiten bestehen (Art. 42 Abs. 1 Brüssel IIa-VO, Art. 45 f. Brüssel IIb-VO).200 Hinzu kommt, dass die Entscheidungen in hohem Maße grundrechtssensible Fragen betreffen. Dennoch hat der EuGH auch in diesem Bereich bis heute keine Ausnahmen vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens anerkannt.201 Ob der EuGH weiter an seiner strikten Haltung aus der Entscheidung Aguirre Zarraga festhalten würde oder ob sich ihm mit Blick auf die ihm vorgelegten Fälle bislang schlicht kein Anlass bot, seine Rechtsprechung auch in diesem Bereich zu relativieren, ist offen.202
196
Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 64. Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (195); Sujecki, ZEuP 2008, 458 (460); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1193, Fn. 90). 198 EuGH, Urt. v. 28. 03. 2000 – C-7/98, ECLI:EU:C:2000:164 Rn. 44 – Krombacher; BGH, Beschl. v. 19. 07. 2018 – IX ZB 10/18, NJW 2018, 3254 Rn. 14 ff.; Hess, Eur. ZivilprozessR, S. 208 f. Aus der Rs. Krombacher lässt sich aber – anders als Herrnfeld, in: FS Schwarze, S. 81 (106) meint – nicht schließen, dass die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens generell zu beschränken seien, wenn ein offensichtlicher Grundrechtsverstoß vorliegt, da Gegenstand der Entscheidung lediglich die Auslegung des ordre publicVorbehalts war; wie hier Burchard, Konstitutionalisierung, S. 358. 199 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 63; Wagner, IPRax 2019, 185 (194). 200 S. bereits oben, → 1. Kapitel, § 1. B. I. 2. b). 201 Bartolini, 56 CMLR 2019, 91 (95); Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (390). 202 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (390). Zweifel daran, ob der EuGH an der ausnahmslosen Pflicht zur Vollstreckung von Brüssel IIa-Entscheidungen festhalten wird bei SchmidtAßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Fn. 86; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 648. 197
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
209
Es bleibt also vorerst unklar, ob der Gerichtshof die Beschränkungen der Legalitätsvermutung, die er in seiner Rechtsprechung in Straf- und Asylsachen entwickelt hat, beim Fehlen sekundärrechtlicher Ablehnungsgründe auf die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen übertragen würde. Mit Blick darauf, dass sich die Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes in den verschiedenen Referenzgebieten auf einen übergreifenden Rechtsgrundsatz zurückführen lassen,203 wäre diese Entwicklung nur konsequent.204 4. Binnenmarkt Im Bereich des Binnenmarktrechts hat der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Zusammenhang mit der gegenseitigen Anerkennung sowohl im harmonisierten als auch im nicht harmonisierten Bereich herangezogen. Bislang hat er – entgegen mancher anders lautender Aussagen in der Literatur – weder im Bereich der Grundfreiheiten noch in Bezug auf sekundärrechtliche Anerkennungsinstrumente Ausnahmen von der gegenseitigen Legalitätsvermutung aufgrund von Grundrechtsverletzungen in einem der Mitgliedstaaten angenommen. a) Grundfreiheiten Soweit keine sekundärrechtliche Harmonisierung erfolgt ist, findet der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarktrecht seine Grenzen in den geschriebenen Ausnahmen der Art. 36, 45 Abs. 3, 52, 62, 65 AEUV sowie den zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls i. S. d. Cassis-Rechtsprechung. Zu den zwingenden Interessen des Allgemeinwohls gehört auch die Wahrung der Unionsgrundrechte.205 In der Literatur wird teilweise angenommen, dass diese Rechtfertigungsgründe, die den Mitgliedstaaten eine verhältnismäßige Einschränkung der europäischen Grundfreiheiten zum Schutz eigener Gemeinwohlinteressen gestatten, gleichzeitig die Grenzen des gegenseitigen Vertrauens markieren.206 Bei näherem Hinsehen sind diese Ausnahmetatbestände jedoch nicht darauf zurückzuführen, dass die Vermutung, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und die in diesem Recht anerkannten Grundrechte beachten, erschüttert wäre. Sie sollen vielmehr einen gerechten und effektiven Ausgleich im Spannungsverhält S. oben, → 1. Kapitel, § 2. Für eine Übertragung der in Straf- und Asylsachen anerkannten Grenzen auf die justizielle Zusammenarbeit auch Canor, ZaöRV 2013, 249 (283 ff.); Weller, 35 NIPR 2017, 1 (18 f.). 205 EuGH, Urt. v. 12. 06. 2003 – C-112/00, ECLI:EU:C:2003:333 Rn. 68 ff. – Schmidberger; Haltern, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 55; Streinz, EuropaR, Rn. 878. 206 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 480; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 49; Rizcallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (41); Snell, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 11; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 70. 203 204
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
nis zwischen dem Ziel der Marktöffnung und dem Interesse der Mitgliedstaaten, Regulierungsmaßnahmen zugunsten bestimmter förderungswürdiger öffentlicher Güter zu ergreifen, herstellen.207 Es handelt sich also um die Normierung eines unionsrechtlichen anerkannten Zielkonflikts.208 Dessen Ausgleich obliegt bei Fehlen harmonisierender Vorgaben innerhalb der primärrechtlichen Grenzen den Mitgliedstaaten.209 Ein Bezug dieser Ausnahmetatbestände zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und dessen Grenzen besteht nicht. b) Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen In der Entscheidung Donnellan210 hat der Gerichtshof angenommen, dass der um Amtshilfe ersuchte Mitgliedstaat die horizontale Zusammenarbeit auf Grundlage der RL 2010/24/EU über die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen ausnahmsweise aufgrund von Grundrechtsverletzungen durch den ersuchenden Mitgliedstaat verweigern kann. Bei näherem Hinsehen stützt er diese Versagungsmöglichkeit aber nicht auf eine primärrechtlich gebotene Begrenzung der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung, sondern auf einen in der Richtlinie angelegten, ungeschriebenen ordre public-Vorbehalt. Der Fall betraf die Beitreibung einer Forderung der griechischen Zollbehörden gegen einen in Irland wohnhaften irischen Staatsbürger. Die Forderung bestand aus einer Geldbuße, die die griechischen Zollbehörden wegen Schmuggelns von Zigaretten verhängt hatten, sowie aus Zinsen und Kosten oder Strafen im Zusammenhang mit dieser Geldbuße. Auf Ersuchen der griechischen Behörden versuchten die irischen Behörden die Forderung in Irland beizutreiben. Herr Donnellan wehrte sich gegen die Beitreibung mit dem Argument, dass ihm in Griechenland das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vorenthalten worden sei, da ihm die Entscheidung nicht zugestellt worden sei und er damit keine Möglichkeit gehabt habe, die Forderung rechtzeitig anzufechten. Der irische High Court legte dem EuGH daraufhin die Frage vor, ob er die Vollstreckung eines Ersuchens um Beitreibung einer Forderung aus Gründen ablehnen kann, die mit dem Recht des Betroffenen auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zusammenhängen.
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Haltern, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 2, 4; W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 2; Kaila, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 227 (243). 208 W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 2. 209 Leible / T. Streinz, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 36 AEUV Rn. 4; W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 2. 210 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 – Donnellan.
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
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Der EuGH hob hervor, dass die Richtlinie auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhe, der von jedem Mitgliedstaat verlange, dass er abgesehen von außergewöhnlichen Umständen davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und die dort anerkannten Grundrechte beachten.211 Aus Art. 14 Abs. 1 der RL 2010/24/EU ergebe sich zudem, dass mit der Anfechtung der Forderung des ursprünglichen Vollstreckungstitels oder einer Zustellung durch den ersuchenden Mitgliedstaat die einschlägigen Instanzen dieses Mitgliedstaats zu befassen sind und nicht diejenigen des ersuchten Mitgliedstaats.212 Die von den Mitgliedstaaten gemäß der mit der RL 2010/24/EU geschaffenen Amtshilferegelung getroffenen Maßnahmen müssten zwar mit den Grundrechten der Union und dem in Art. 47 GRCh genannten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Einklang stehen. Daraus ergebe sich aber nicht, dass die Handlungen des ersuchenden Mitgliedstaats sowohl vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats als auch vor denen des ersuchten Mitgliedstaats anfechtbar sein müssen. Vielmehr trage die auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestützte Amtshilferegelung dazu bei, die Rechtssicherheit zu erhöhen und ein „forum shopping“ zu vermeiden.213 Folglich könne ein Rechtsbehelf, den der Betroffene im ersuchten Mitgliedstaat einlegt, nicht zu einer Prüfung der Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Forderung führen.214 Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass die ersuchte Behörde ausnahmsweise beschließen kann, der ersuchenden Behörde keine Amtshilfe zu leisten. So könne die Vollstreckung u. a. dann abgelehnt werden, wenn sie die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats der ersuchten Behörde beeinträchtigt.215 Nach Art. 13 Abs. 1 RL 2010/24/EU sei eine Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats zu behandeln, so dass dieser die Befugnisse ausübt und die Verfahren anwendet, die nach den in seiner Rechtsordnung geltenden Vorschriften für Forderungen aufgrund von gleichen oder vergleichbaren Steuern oder Abgaben vorgesehen sind. Es sei aber kaum denkbar, dass ein Vollstreckungstitel, der die Beitreibung einer gleichen oder vergleichbaren Forderung des ersuchten Mitgliedstaats ermöglicht, von ihm vollstreckt wird, wenn dies seine öffentliche Ordnung beeinträchtigen könnte.216 Über die engen Grenze, innerhalb derer die Mitgliedstaaten die Amtshilfe unter Berufung auf die öffentliche Ordnung verweigern können, wache allerdings der Gerichtshof.217 Beschränkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens seien eng auszulegen.218 Habe
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EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 40 f. – Donnellan. EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 43 f. – Donnellan. 213 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 45 – Donnellan. 214 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 46 – Donnellan. 215 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 47 – Donnellan. So schon zur Vorgänger-RL, der RL 76/308/EWG, ohne Bezugnahme auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens EuGH, Urt. v. 14. 01. 2010 – C-233/08, ECLI:EU:C:2010:11 Rn. 42 – Kyrian. 216 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 48 – Donnellan. 217 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 49 – Donnellan. 218 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 50 – Donnellan. 212
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
der Betroffene, wie im vorliegenden Fall, keine Möglichkeit die Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats „unter Bedingungen anzurufen, die mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vereinbar sind“, könne ihm die von Art. 14 Abs. 1 der RL 2010/24/EU vorgesehene alleinige Zuständigkeit des ersuchenden Staates nicht entgegengehalten werden und die ersuchte Behörde könne berechtigte sein, die Amtshilfe bei der Beitreibung zu verweigern.219 Der EuGH schafft damit für den Anwendungsbereich der RL 2010/24/EU einen ungeschriebenen ordre public-Vorbehalt.220 Die Erklärung hierfür dürfte darin zu sehen sein, dass Art. 13 Abs. 1 RL 2010/24/EU vorsieht, dass Forderungen, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, vom ersuchten Mitgliedstaat wie Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats behandelt werden, sofern in der RL nichts anderes bestimmt ist.221 Der irische High Court hatte unter Berufung hierauf vorgebracht, dass nach dem nationalen Recht eine Entscheidung, die dem Betroffenen nicht zugestellt worden ist, wegen eines Verstoßes gegen die öffentlich Ordnung nicht vollstreckbar wäre.222 Hierauf nahm auch der EuGH in der Begründung des Ablehnungsgrundes maßgeblich Bezug.223 Angesichts dieser sekundärrechtlichen Herleitung des Ablehnungsgrundes können der Entscheidung keine auf andere Bereiche übertragbaren Aussagen über die primärrechtlichen Schranken der Verpflichtung zum gegenseitigen Vertrauen entnommen werden.224 Für die RL 2010/24/EU hat der EuGH die Möglichkeit des ersuchten Mitgliedstaats, die Amtshilfe wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung abzulehnen, nachfolgend bestätigt.225 III. Zwischenfazit Nachdem der EuGH zunächst wenig Bereitschaft erkennen ließ, die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Legalitätsvermutung mit Blick auf drohende oder bereits eingetretene Grundrechtsverletzungen zu begrenzen, hat er in den vergangenen rund zehn Jahren mit Blick auf den Grundrechtsschutz einige, wenn auch eng umgrenzte Ausnahmen anerkannt. Der Rechtsprechung lassen sich hierzu folgende rechtsgebietsübergreifende Grundlinien entnehmen:
219
EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 59, 61 – Donnellan. Vgl. Kohler, IPRax 2020, 405 (408). 221 Kohler, IPRax 2020, 405 (407) geht dagegen davon aus, dass der Grund für das einschränkende Verständnis des EuGH in der kritischen Haltung des EGMR gegenüber dem aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Nachprüfungsverbot zu sehen ist. Gegen diese Erklärung spricht aber, dass sich der EuGH auch in anderen Sachbereichen nicht an entsprechenden Entscheidungen des EGMR orientiert. 222 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 36 – Donnellan. 223 EuGH, Urt. v. 26. 04. 2018 – C-34/17, ECLI:EU:C:2018:282 Rn. 48 – Donnellan. 224 Für eine Übertragbarkeit aber Kohler, IPRax 2020, 405 (407 f.). 225 EuGH, Urt. v. 20. 01. 2021 – C-420/19, ECLI:EU:C:2021:33 Rn. 38 – Heavyinstall. 220
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
213
– Nach Auffassung des EuGH erfordert bzw. rechtfertigt nicht jede Grundrechtsverletzung durch einen der Mitgliedstaaten eine Begrenzung des gegenseitigen Vertrauens und eine Verlagerung der Grundrechtsverantwortung auf die übrigen Mitgliedstaaten.226 – In Überstellungsfällen greift eine Ausnahme von der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung, wenn im Zielstaat systemische Mängel erkennbar sind, die abstrakt die echte Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRCh begründen, und wenn es im konkreten Einzelfall ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.227 – Im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist die Vermutung der wechselseitigen Grundrechtswahrung auch dann widerlegt, wenn systemische Mängel vorliegen, die die echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren (Art. 47 Abs. 2 GRCh) begründen, und ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person nach den konkreten Umständen des Einzelfalles einer echten Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ausgesetzt ist oder in diesen Garantien bereits verletzt wurde.228 Von diesen Eckpunkten abgesehen sind weiter Fragen offen. Diese Situation resultiert nicht zuletzt daraus, dass treibende Kraft bei der Bestimmung der grundrechtlichen Grenzen des Vertrauensgrundsatzes bislang primär die europäischen Gerichte sind.229 Da der Gerichtshof immer nur über den ihm jeweils vorliegenden Einzelfall zu entscheiden hat, bleiben die von ihm aufgestellten Grundsätze notwendig fragmentarisch. Unklar ist insbesondere, welche Grundrechtsgarantien gefährdet oder verletzt sein müssen, um eine Abweichung von der Vermutung der wechselseitigen Grundrechtswahrung zu rechtfertigen.230 Bislang hat sich die Rechtsprechung nur auf das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 4 GRCh) und auf das Recht auf ein faires Verfahren vor einem un 226
EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 82 ff. – N. S. u. a.; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 100 – Ibrahim u. a.; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 171 f.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 97; Wendel, DVBl. 2015, 731 (734). 227 St. Rspr. seit EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 94 – N. S. u. a.; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 88 ff. – Aranyosi u. Căldăraru. 228 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 60 ff. – LM; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 66 ff. – X. u. Y. 229 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (389); Bay Larsen, in: Cardonnel / Rosas / Wahl, Constitutionalising the EU Judicial System, S. 139 (141). 230 Böhm, NStZ 2021, 209 (210); Konstadinides, 56 CMLR 2019, 743 (755); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 765; Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (88); Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (187).
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
abhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht (Art. 47 Abs. 2 GRCh) konzentriert. Systemische Verletzungen des Rechts auf Asyl (Art. 18 GRCh) sind nach Auffassung des Gerichtshofs dagegen nicht geeignet, die Vermutung der wechselseitigen Grundrechtswahrung zu erschüttern.231 Unter welchen Voraussetzungen vom Vorliegen „systemischer Defizite“ auszugehen ist und wie genau solche Mängel gegenüber einzelnen Rechtsverstößen abzugrenzen sind, hat der EuGH bislang ebenfalls nicht definiert.232 Klar ist lediglich, dass die Annahme systemischer Defizite nicht voraussetzt, dass die festgestellten Mängel sämtliche Asylsuchenden oder sämtliche Haftanstalten in einem Mitgliedstaat betreffen, sondern dass auch allgemeine, bestimmte Personengruppen oder Haftanstalten betreffende Mängel ausreichen.233 In der Literatur ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf ein geteiltes Echo gestoßen. Dass eine Widerlegung der Vertrauensvermutung nach dem aktuellen Stand der Rechtsprechung das Vorliegen systemischer Defizite voraussetzt, ist verbreitet auf Kritik gestoßen.234 Der horizontalen Kooperation müsse richtigerweise in jedem Einzelfall eine Prüfung auf das Vorliegen manifester Grundrechtsverstöße durch den anderen Mitgliedstaat vorangehen.235 Sofern sich im konkreten Fall hinreichende Anhaltspunkte für gewichtige Grundrechtsverletzungen ergeben, sei die Kooperation zu verweigern, und zwar unabhängig davon, ob die festgestellten Defizite Ausdruck systemischer Mängel sind.236 Alles andere sei „menschenrechtlicher Zynismus“;237 aus einer am Schutz des Individuums ansetzenden, grundrechtlichen Perspektive sei es irrelevant, ob die Grundrechtsgefährdung bzw. -verletzung aus systemischen Defiziten rühre oder nicht.238 Der EuGH messe dem Grundsatz des 231
EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 – Ibrahim u. a. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 79; Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 143; Lührs, Überstellungsschutz, S. 123. In der Literatur wird der Begriff kontrovers diskutiert und sehr unterschiedlich verstanden, s. näher unten, → 3. Kapitel, § 2. C. III. 2. 233 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 89 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 60 – ML; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 90 – Jawo; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 88 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 52 – Dorobantu. 234 Burchard, in: Böse, EnzEuR Bd. 11, § 14 Rn. 81; Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 194 ff.; Montaldo, 1 Eur. Papers 2016, 965 (986); Nettesheim, EuZ 2018, 4 (13); Schwarz, 24 Eur. Law J. 2018, 124 (138). 235 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 784 ff.; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (13); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (505 f.). 236 Britz, JZ 2013, 105 (109); Costello, 12 HRLRev 2012, 287 (331); Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 158; Marx, NVwZ 2012, 409 (412); Montaldo, 1 Eur. Papers 2016, 965 (988); Moraru, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 37 (42); Nettesheim, EuZ 2018, 4 (13); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 303 f.; Storskrubb, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 15 (19). 237 Nettesheim, EuZ 2018, 4 (13). 238 Costello, 12 HRLRev 2012, 287 (331); Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 71; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (13); Montaldo, 1 Eur. Papers 2016, 965 (986). 232
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gegenseitigen Vertrauens und der praktischen Wirksamkeit der sekundärrechtlichen Kooperationsinstrumente auf Kosten des Grundrechtsschutzes zu viel Gewicht bei.239 Die Frage dürfe nicht lauten „Wie viel Grundrechte verträgt das System?“, sondern es müsse gefragt werden wieviel System die Grundrechte vertragen.240 Unabhängig davon sei das Kriterium „systemischer Defizite“ schon wegen seiner Unbestimmtheit abzulehnen.241 Andere dagegen begrüßen die durch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens geschaffene Verantwortungszuordnung im europä ischen Grundrechtsverbund, die nur ausnahmsweise eine Suspendierung der Vertrauenspflicht und eine Vorverlagerung der Grundrechtsprüfung auf einen anderen Mitgliedstaat vorsieht.242 Indem der Gerichtshof die Vermutung grundrechtskonformen Verhaltens einerseits für widerlegbar erklärt, die Widerlegung aber andererseits an das voraussetzungsvolle Kriterium systemischer Mängel knüpft, stelle er eine angemessene Balance zwischen der Wahrung der Union als föderativ-autonomer Einheit und dem Grundrechtsschutz des Einzelnen her.243 Die Fälle, in denen eine Ausnahme von der Vertrauenspflicht akzeptiert wird, müssten die absolute Ausnahme bleiben, da ansonsten die Gefahr der Fragmentierung und mangelnden Wirksamkeit des Unionsrechts bestehe.244
C. Entwicklung allgemeiner Grundsätze Der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll im Folgenden ein eigener Ansatz entgegengestellt werden. Ziel ist die Entwicklung allgemeiner, sachbereichsübergreifend gültiger Grundsätze zu der Frage, unter welchen Umständen die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Legalitätsvermutung aufgrund drohender oder bereits eingetretener Grundrechtsverletzungen als erschüttert anzusehen ist.
239 Pointiert Gärditz, VerfBlog 2021/01/04, DOI: 10.17176/20210104-182853-0: „[G]rund rechtsfeindliche Deformation der Rechtsordnung zu Gunsten administrativer Vollzugsinteressen“. Der EuGH habe „hier als Grundrechtsgericht bislang schlicht versagt“. 240 Callewaert, ZEuS 2014, 79 (90); zustimmend Schwarz, EuR 2016, 421 (429); ders., Grundlinien der Anerkennung, S. 303. 241 Schwarz, 24 Eur. Law J. 2018, 124 (138); vgl. auch Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 158. 242 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (64 f., 86 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 152 f.; Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (27 ff.); ders., EuR 2019, 111 (123 ff.). 243 Wendel, JZ 2016, 333 (336); ders., EuR 2019, 111 (125). 244 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (86); Lenaerts, 54 CMLR 805 (821 f.).
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
I. Ausgangspunkt Ausgangspunkt der Überlegungen ist die These, dass dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine Art Solange-Vorbehalt für die horizontale Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten zu entnehmen ist.245 Solange keine – im Folgenden näher zu bestimmenden – außergewöhnlichen Umstände vorliegen, sind die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verpflichtet, im Rahmen der horizontalen Zusammenarbeit von einer Nachprüfung der Grundrechtswahrung durch die anderen Mitgliedstaaten abzusehen. Ähnliche Vorbehalte haben das BVerfG und der EGMR für das Verhältnis zwischen dem Grundgesetz und dem Unionsrecht und das Verhältnis zwischen der EMRK und dem Unionsrecht entwickelt: So sieht das BVerfG von einer Prüfung des Unionsrechts am Maßstab der deutschen Grundrechte ab, solange auf Unionsebene ein Grundrechtsschutz gewährleistet ist, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist (Solange II).246 Der Grundrechtsschutz im Einzelfall obliegt dem EuGH, während das BVerfG sich auf die Wahrnehmung einer Gewährleistungsverantwortung beschränkt, die dann greift, wenn der als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz auf Unionsebene generell nicht mehr gewährleistet ist.247 Voraussetzung für ein Aufleben der Grundrechtskontrolle des BVerfG sind mithin grundsätzlich strukturelle Defizite des Grundrechtsschutzes durch die EU.248 Der EGMR nimmt mit Blick auf die fehlende EMRK-Mitgliedschaft der Union seine Prüfungskompetenz in Fällen zurück, in denen das Handeln der Mitgliedstaaten – die anders als die 245 Ebenso Canor, ZaöRV 2013, 249; dies., 50 CMLR 2013, 383; dies., in: von Bogdandy / Bogdanowicz / Canor / Grabenwarter / Taborowski / M. Schmidt, Defending Checks and Balances, S. 183 (188); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 152 f.; M. Müller, in: Mankowski / M. Müller / J. Schmidt, EuInsVO 2015, Art. 33 Rn. 32; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 302; Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1191 ff.); Wendel, DVBl. 2015, 731 (734); ablehnend Britz, JZ 2013, 105 (108 f.); Burchard, Konstitutionalisierung, S. 366 ff., 616. Die Charakterisierung der Rechtsprechung als horizontaler Solange-Vorbehalt ist zu unterscheiden von dem rechtsfortbildenden Vorschlag des „Reverse Solange“, der – anders als der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – auch außerhalb horizontaler Kooperationssituationen auf rein innerstaatliche Sachverhalte ohne Bezug zum Unionsrecht Anwendung finden soll, s. hierzu von Bogdandy / Kottmann / Antpöhler / Dickschen / Hentrei / Smrkolj, 49 CMLR 2012, 489; dies., ZaöRV 2012, 45; Fortentwicklung des Ansatzes bei von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301. 246 St. Rspr., s. nur BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (384, 387) – Solange II; Urt. v. 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht; Beschl. v. 07. 06. 2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (162 f.) – Bananenmarktordnung; Beschl. v. 13. 03. 2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95) – TEHG; Urt. v. 30. 06. 2009 – 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267 (335) – Lissabon; Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, BVerfGE 152, 216 Rn. 47 – Recht auf Vergessen II. 247 BVerfG, Urt. v. 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht; Beschl. v. 07. 06. 2000 – 2 BvL 1/97, BVerfGE 102, 147 (162 f.) – Bananenmarktordnung; Beschl. v. 13. 03. 2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95) – TEHG. 248 Von dem generell-typisierenden Maßstab der Solange-Rechtsprechung weicht das BVerfG nach seiner jüngeren Rspr. zur Identitätskontrolle im Fall einer Berührung von Art. 1 GG aus-
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
217
Union an die EMRK gebunden sind und der Rechtsprechungsgewalt des EGMR unterliegen – unionsrechtlich determiniert ist. So soll vermieden werden, dass die Mitgliedstaaten bei Vollziehung des Unionsrechts in einen Konflikt zwischen ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen und ihrer völkerrechtlichen Bindung an die EMRK geraten.249 Solange die Union die Grundrechte in einer der EMRK gleichwertigen Weise schützt, gilt deshalb die Vermutung, dass auch die Anforderungen der EMRK gewahrt sind (sog. Bosphorus-Vermutung), und der EGMR sieht von einer Prüfung mitgliedstaatlichen Handelns, das der Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten dient, am Maßstab der EMRK ab.250 Der EGMR hat sich aber die Ausübung seiner Kontrolle auch im Einzelfall vorbehalten, sofern der Schutz von Konventionsrechten offensichtlich unzureichend ist.251 Auch wenn diese Solange-Vorbehalte auf unterschiedlichen rechtlichen und rechtspolitischen Erwägungen beruhen und sich ihre Ausgestaltung in Einzelheiten unterscheidet, sind gemeinsame Kernelemente identifizierbar, die eine SolangeDoktrin im Allgemeinen ausmachen. Im Zentrum entsprechender Vorbehalte steht erkennbar die arbeitsteilige Zuordnung der Grundrechtsverantwortung im europä ischen Mehrebenensystem: Die Verantwortung für die Wahrung der Grundrechte wird bei einem Akteur konzentriert, während den anderen Akteuren nur eine Garantieverantwortung im Ausnahmefall zukommt. Dem primär für die Grundrechtswahrung verantwortlichen Akteur wird gleichsam ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht.252 Ziel dieser Verantwortungsteilung ist die Erleichterung der Kooperation zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen bzw. ihren Hoheitsträgern.253 Eine Kooperation auf dieser Grundlage kann jedoch nur solange stattfinden, wie auf Seiten des Kooperationspartners gewisse grundrechtliche Mindeststandards, die als unabdingbare Grundlage der Kooperation empfunden werden, gewahrt sind.254 Ob die Auffangverantwortung bereits greift, wenn im Einzelfall gravierende Abweichungen von den grundrechtlichen Mindeststandards festzustellen sind oder nahmsweise zugunsten einer Prüfung im Einzelfall ab und hat damit eine partielle Relativierung des Solange-Vorbehalts vorgenommen, vgl. insb. BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl II. S. hierzu Burchardt, ZaöRV 2016, 527 (542 ff.); Klement, in: Grabenwarter, EnzEuR Bd. 2, § 9 Rn. 79; Ruffert, EuGRZ 2017, 241 (242); Sauer, NJW 2016, 1134 (1136). 249 Preßlein, EuR 2021, 247 (268 f.); Schmahl, JZ 2016, 921 (922); Breuer, EuR 2015, 330 (335). 250 EGMR, Urt. v. 30. 06. 2005 – 45036/98 Rn. 152 ff. – Bosphorus; Urt. v. 06. 12. 2012 – 12323/11 Rn. 105 ff. – Michaud; Urt. v. 25. 03. 2021 – 40324/16 u. 12623/17 Rn. 97 – Bivolaru u. Moldovan; Schmahl, JZ 2016, 921 (922). 251 EGMR, Urt. v. 30. 06. 2005 – 45036/98 Rn. 156 – Bosphorus; Urt. v. 23. 05. 2016 – 17502/07 Rn. 113 ff. – Avotiņš; Urt. v. 25. 03. 2021 – 40324/16 u. 12623/17 Rn. 101 f. – Bivolaru u. Moldovan; Breuer, EuR 2015, 330 (335); Halberstam, 16 GLJ 2015, 105 (132, 133 f.); Lohse, BayVBl. 2023, 1 (9); Timmermans, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 21 (31). 252 Franzius, HFR 2010, 159 (174). 253 von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (315 f.). 254 von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (315 f.).
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
nur, wenn der als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht mehr gewährleistet ist, hängt von der Ausgestaltung des Vorbehalts ab. Der dogmatische Gedanke der Solange-Doktrin ist nicht auf das vertikale Verhältnis beschränkt, sondern lässt sich auf das horizontale Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der Union übertragen.255 Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist gemessen an den soeben herausgearbeiteten Merkmalen einer Solange-Doktrin ein horizontaler Solange-Vorbehalt256 zu entnehmen: Er nimmt eine horizontale Zuständigkeits- und Verantwortungsteilung im europäischen Grundrechtsverbund vor,257 wobei die Verantwortung für die Wahrung grundrechtlicher Garantien im jeweils sachnäheren Staat konzentriert wird.258 Die damit einhergehende Pflicht, auf gegenseitige Kontrollen grundsätzlich zu verzichten, verhilft der horizontalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu praktischer Wirksamkeit und trägt so zur Erreichung der Ziele der Union bei.259 Grundvoraussetzung für die Kooperation unter den Mitgliedstaaten ist allerdings die Einhaltung gewisser grundrechtlicher (Mindest-)Standards, die gleichsam die Geschäftsgrundlage der horizontalen Zusammenarbeit bilden. Bei der Bestimmung der grundrechtlichen Grenzen des aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Solange-Vorbehalts stellen sich damit zwei Fragen: Zunächst ist zu untersuchen, welcher materielle grundrechtliche Mindeststandard der horizontalen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten zugrunde zu legen ist (→ II.). Es fragt sich zudem, ab welcher Schwelle die Gewährleistungsverantwortung der übrigen Mitgliedstaaten greift (→ III.). Zu klären ist insoweit, ob eine Ausnahme vom Solange-Vorbehalt das Vorliegen systemischer Mängel in dem jeweiligen Mitgliedstaat voraussetzt oder ob es bereits ausreicht, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte für eine (gravierende) Verletzung der grundrechtlichen Mindeststandards bestehen. Anschließend werden die Rechtsfolgen bei einer Erschütterung der Vermutung der wechselseitigen Grundrechtswahrung in den Blick genommen (→ IV.). Zuletzt ist zu klären, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Art. 7 EUV-Verfahren gegen einen Mitgliedstaat zugleich zu einer Widerlegung der horizontalen Solange-Vermutung260 gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat führt (→ V.). 255 Canor, ZaöRV 2013, 249; dies., 50 CMLR 2013, 383; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (315). 256 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 257 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 132; Wendel, EuR 2019, 111 (123 ff.). 258 EuGH, Urt. v. 23. 01. 2018 – C-357/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 49 f. – Piotrowski; Urt. v. 11. 11. 2021 – C-852/19, ECLI:EU:C:2021:902 Rn. 55 – Gavanozov II; Nettesheim, EuZ 2018, 4 (8 f.). Zur aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Zuständigkeits- und Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten s. bereits oben, → 1. Kapitel, § 3. D., → 3. Kapitel, § 2. A. 259 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 211. Zur Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes für die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen s. bereits oben, → 1. Kapitel, § 3. A. 260 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249.
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II. Grundrechtliche Mindeststandards der horizontalen Kooperation 1. Anknüpfung an die Unionsgrundrechte Verbreitet wird angenommen, dass die Wahrung der Unionsgrundrechte die Grundlage und zugleich die Grenze der vertrauensbasierten horizontalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bildet.261 Diese Überlegung stützt sich darauf, dass der Mitgliedstaat, der über die Überstellung einer Person in einen anderen Mitgliedstaat bzw. die Anerkennung und Vollstreckung einer justiziellen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats zu entscheiden hat, bei der Erbringung seiner Kooperationsleistung regelmäßig einer Bindung an die Unionsgrundrechte unterliegt.262 Aus der Bindung dieses Staates an die Unionsgrundrechte wird geschlossen, dass die Verletzung von unionsgrundrechtlichen Garantien zugleich die Grenze des horizontalen Solange-Vorbehalts263 markiert. Bei Lichte betrachtet greift diese Argumentation jedoch, wie im Folgenden zu zeigen ist, zu kurz. Ob ein Mitgliedstaat bei der horizontalen Zusammenarbeit einer Bindung an die Unionsgrundrechte unterliegt, bestimmt sich nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh. Danach gilt die Grundrechtecharta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Wann eine Durchführung des Unionsrechts i. S. d. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh anzunehmen ist, ist nicht für alle Konstellationen abschließend geklärt. Unstreitig besteht eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Chartagrundrechte, wenn ihr Handeln vollständig unionsrechtlich determiniert ist (sog. agency situations), insbesondere also beim Vollzug zwingenden Verordnungsrechts sowie bei der Umsetzung von Richtlinien, die keine Umsetzungsspielräume belassen.264 Umgekehrt beansprucht die GRCh unzweifelhaft keine Geltung, wenn ein Sachverhalt rein mitgliedstaatlich geprägt ist und dem Unionsrecht keine bestimmten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den fraglichen Sachverhalt zu entnehmen sind.265 Dass die Union für einen bestimmten Bereich Regelungen treffen könnte, weil sie über entsprechende Kompetenzen verfügt, genügt nicht.266 Schwieriger zu beurteilen sind 261
Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 77; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 136 ff.; Penkuhn, Der ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungshindernis, S. 253; Willems, 20 GLJ 2019, 468 (493); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 284. 262 Ausführlich Burchard, Konstitutionalisierung, S. 394 ff.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 118 ff. 263 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 264 EuGH, Urt. v. 13. 07. 1989 – C-5/88, ECLI:EU:C:1989:321 Rn. 19 – Wachauf; BVerfG, Beschl. v. 13. 03. 2007 – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79 (95 f.) – TEHG; A. Schwerdtfeger, in: Meyer / Hölscheidt, GRCh, Art. 51 Rn. 48. 265 EuGH, Urt. v. 05. 02. 2015 – C-117/14, ECLI:EU:C:2015:60 Rn. 28 f. – Poclava; Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 24. 266 EuGH, Urt. v. 10. 07. 2014 – C-198/13, ECLI:EU:C:2014:2055 Rn. 36 – Hernández; Urt. v. 19. 11. 2019 – C-609/17 u. C-610/17, ECLI:EU:C:2019:981 Rn. 46 – TSN; Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 24.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Konstellationen, in denen den Mitgliedstaaten beim Vollzug oder der Umsetzung von Sekundärrecht ein nicht abschließend unionsrechtlich vorstrukturierter Ermessens- oder Gestaltungsspielraum verbleibt. Eine Bindung an die Grundrechtecharta ist in diesen Fällen aber jedenfalls dann anzunehmen, wenn dem Unionsrecht hinreichend spezifische Vorgaben bezüglich der Ausgestaltung dieser Spielräume zu entnehmen sind.267 Nach diesen Maßstäben besteht regelmäßig eine Bindung des überstellenden bzw. um die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats ersuchten Staates an die Unionsgrundrechte. Die sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente sehen regelmäßig eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Anerkennung und Vollstreckung der in anderen Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen vor.268 Folglich handelt der ersuchte Mitgliedstaat bei der Erfüllung dieser Kooperationspflicht in Durchführung des Unionsrecht und ist an die Unionsgrundrechte gebunden.269 Einen Sonderfall bilden die Dublin-Verordnungen, die es in das Ermessen des Aufenthaltsstaates stellen, von einer Überstellung abzusehen und den Antrag auf internationalen Schutz selbst zu prüfen, auch wenn er nach den Kriterien der Verordnung nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO, Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO). Bei der Ausübung dieses Ermessens sind die Mitgliedstaaten jedoch verpflichtet, die übrigen Vorgaben der Dublin-Verordnung zu beachten und angesichts dieser unionsrechtlichen Strukturierung ihrer Ermessensausübung an die Grundrechtecharta gebunden.270 Aus der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf das Kooperationshandeln des überstellenden bzw. um Anerkennung und Vollstreckung ersuchten Mitgliedstaats kann jedoch richtigerweise nicht geschlossen werden, dass die Wahrung der Unionsgrundrechte durch alle beteiligten Mitgliedstaaten die Grundvoraussetzung der vertrauensbasierten horizontalen Zusammenarbeit bildet. Folge dieser Auffassung wäre, dass die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Pflicht, auf gegenseitige Kontrollen zu verzichten, nur gilt, solange auch im Ursprungsmitgliedstaat der anzuerkennenden Entscheidung bzw. im Zielstaat der Überstellung den Anforderungen der Unionsgrundrechte umfassend Rechnung getragen wird. Der Ursprungs- bzw. Zielstaat unterliegt in den einschlägigen Re 267
EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 64 ff. – N. S.; Urt. v. 09. 03. 2017 – C-406/15, ECLI:EU:C:2017:198 Rn. 51 ff. – Milkova; Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 26; A. Schwerdtfeger, in: Meyer / Hölscheidt, GRCh, Art. 51 Rn. 48; mittlerweile auch BVerfG, Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, BVerfGE 152, 152 Rn. 44 – Recht auf Vergessen I. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob im Bereich der Spielräume neben den Unionsgrundrechten zugleich die nationalen Grundrechte zur Anwendung kommen. 268 Vgl. im Einzelnen oben, → 1. Kapitel, § 1. 269 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 284; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 120 f.; Burchard, Konstitutionalisierung, S. 644; Classen, in: FS Schwarze, S. 556 (569); für die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (325); Klement, in: Grabenwarter, EnzEuR Bd. 2, § 9 Rn. 85. 270 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 64 ff. – N. S.; Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 26; Lührs, Überstellungsschutz, S. 46 ff.
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gelungsbereichen jedoch regelmäßig keiner Bindung an die Grundrechtecharta, da insoweit keine unionsrechtliche Harmonisierung erfolgt ist und den Mitgliedstaaten die betroffenen Bereiche in eigener Regelungskompetenz verbleiben.271 Verdeutlichen lässt sich die Problematik etwa mit Blick auf den Europäischen Haftbefehl: Zwar fällt die Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde über die Vollstreckung in den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte, bezüglich der Haftbedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten fehlt es aber an einem unionsrechtlichen Rahmen. Die nationalen Strafrechtssysteme sind ebenfalls nur in geringem Maß harmonisiert. Auch nach dem Vertrag von Lissabon verfügt die Union nur über sehr eingeschränkte Kompetenzen zur Vornahme von Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich des materiellen Strafrechts und der nationalen Strafprozessordnungen.272 Würde man die Wahrung der Unionsgrundrechte zur unabdingbaren Voraussetzung für die horizontale Kooperation auf Grundlage des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens erheben, hätte dies zur Folge, dass rein national geregelte Materien unter Umgehung der Voraussetzungen des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh mittelbar an den Unionsgrundrechten zu messen wären.273 Zwar macht der Mitgliedstaat, der darüber entscheidet, ob er eine Person in einen anderen Mitgliedstaat überstellt oder die justizielle Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats anerkennt und vollstreckt, die Unionsgrundrechte vordergründig nur zum Maßstab seiner eigenen Entscheidung. Die Frage einer grundrechtlichen Verantwortlichkeit des Ursprungs- bzw. Zielstaats am Maßstab der Unionsgrundrechte stellt sich unmittelbar nicht. Es lässt sich aber kaum übersehen, dass zumindest faktisch eine Ausdehnung des Maßstabs der Unionsgrundrechte auch auf das Handeln des Ursprungs- bzw. Zielstaats erfolgen würde. Um von den sekundärrechtlich normierten Kooperationsinstrumenten effektiv Gebrauch machen zu können, müsste dieser Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte unabhängig von einer Durchführung des Unionsrechts beachten. Das hätte zur Konsequenz, dass das Unionsrecht die nationalen Handlungsspielräume faktisch auch in Bereichen begrenzt, die in der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten verblieben sind.
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Kullak, Vertrauen in Europa, S. 123; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 299; mit Blick auf den Europäischen Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen Bach, Grenzüberschreitende Vollstreckung in Europa, S. 374. 272 Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 299. Zu den kompetenziellen Grenzen der Strafrechtsharmonisierung nach Art. 82, 83, 325 AEUV s. Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, S. 452 ff.; Heger, ZIS 2009, 406 (411 ff.); Marguery, 20 MJ 2013, 282 (289 ff.). 273 Canor, ZaöRV 2013, 249 (264 f.); dies., 50 CMLR 2013, 383 (395 f.); von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (325); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 435 f. Ungeachtet dessen für eine Anwendbarkeit der GRCh „auch jenseits einer strikten Durchführung des Unionsrechts“ Classen, in: FS Schwarze, S. 556 (569); in diese Richtung auch K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 743, die die Auffassung vertritt, dass die Mitgliedstaaten nach dem Vertrauensgrundsatz verpflichtet seien, gemäß Art. 6 EUV die Wahrung der Grundrechte zu garantieren, auch wenn kein unmittelbarer Zusammenhang mit der Durchführung von Unionsrecht durch ihre Behörden bestehe.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Ein solcher Ansatz würde nicht nur mit einer Umgehung der Voraussetzungen des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh einhergehen, sondern stünde auch im diametralen Gegensatz zu dem rechtspolitischen Regelungskonzept, das hinter den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens steht. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens soll – im Zusammenwirken mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – die Schaffung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen unter gleichzeitiger Bewahrung der Pluralität der mitgliedstaat lichen Rechtsordnungen ermöglichen.274 An die Stelle einer – politisch unerwünschten – Rechtsvereinheitlichung sollte ein System der horizontalen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten treten, das auf der gegenseitigen Anerkennung und unionsweiten Durchsetzbarkeit nationaler Entscheidungen und Standards beruht.275 Die Normierung von Anerkennungs- und Kooperationspflichten bewirkt lediglich eine Verschränkung von Rechtsräumen, die in der Regel den Mitgliedstaaten autonom belassen werden sollen.276 Die Ungleichheiten, die sich aus der – erwünschten oder jedenfalls bewusst in Kauf genommenen – Pluralität und Diversität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ergeben, sind bei der Bestimmung der Grenzen des gegenseitigen Vertrauens zu berücksichtigen.277 Vor diesem Hintergrund kann der volle Grundrechtsrechtsbestand der GRCh nicht zur Grundvoraussetzung der horizontalen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten erhoben werden. 2. Anknüpfung an die Garantien der EMRK Teilweise wird angesichts dieses Befundes vorgeschlagen, auf die Grundrechtsgarantien der EMRK als gemeinsamen Mindeststandard zurückzugreifen.278 Hierfür scheint auf den ersten Blick zu sprechen, dass alle EU-Mitgliedstaaten zugleich Mitgliedstaaten des Europarats und Vertragsstaaten der EMRK sind. Als solche unterliegen sie nach Art. 1 EMRK einer umfassenden Bindung an die EMRKGrundrechte, und zwar unabhängig davon, ob ihr Handeln auf innerstaatliches Recht zurückgeht oder der Umsetzung unionsrechtlicher Verpflichtungen dient.279 274
Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (73); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 231; Riczallah, 25 Eur. Law J. 2019, 37 (38); Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 2; Willems, 20 GLJ 2019, 468 (480); vgl. auch T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 414 f. S. hierzu bereits ausführlich oben, → 1. Kapitel, § 3. B. 275 Lührs, Überstellungsschutz, S. 72; Mitsilegas, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 23; ders., 31 YEL 2012, 319 (321); ders., 57 CMLR 2020, 45 (48 f.). Vgl. auch Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (77): „[T]endency to pursue integration by means of a greater reliance on cooperative strategies.“ 276 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 123; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 299; Bach, Grenzüberschreitende Vollstreckung in Europa, S. 374. 277 Kohler, ZEuS 2016, 135 (141). 278 Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 303; Zipperer, ZIP 2021, 231 (234). 279 EGMR, Urt. v. 30. 06. 2005 – 45036/98 Rn. 153 – Bosphorus; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 13; Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 13; Lührs, Überstellungsschutz, S. 42.
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Gegen diesen Ansatz ist einzuwenden, dass die EMRK bis zu einem Beitritt der Union kein Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, sondern lediglich als Rechtserkenntnisquelle dient (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 GRCh).280 Wann und ob der von Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehene Beitritt der EU zur EMRK erfolgt, ist, nachdem der EuGH den Entwurf eines Beitrittsabkommens für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt hat,281 nicht absehbar.282 Der Umstand, dass die EMRK bislang kein Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, hat zur Folge, dass der EuGH die EMRK-Grundrechte angesichts der klaren Umgrenzung seines Mandats in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV weder anwenden noch auslegen darf.283 Bei dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens handelt es sich aber um einen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, über dessen Grenzen der EuGH wachen muss. Hinzukommt, dass die EU keinerlei Einfluss auf etwaige Änderungen der EMRK oder die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft der einzelnen Mitgliedstaaten hat. Zuletzt ist die Stellung der EMRK in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen sehr unterschiedlich ausgestaltet.284 Der grundrechtliche Mindeststandard für die horizontale Kooperation kann folglich nicht in Anlehnung an die EMRK bestimmt werden, sondern es bedarf eines originär unionsrechtlichen Anknüpfungspunktes. 3. Anknüpfung an die Werte des Art. 2 EUV a) Bestimmung des grundrechtlichen Mindeststandards anhand von Art. 2 EUV aa) Menschenrechtliche Garantien des Art. 2 EUV als Geschäftsgrundlage des horizontalen Solange-Vorbehalts285 Das materielle Fundament des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens bilden – wie schon im 2. Kapitel herausgearbeitet – die in Art. 2 EUV normierten 280
Jarass / Kment, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 22 ff.; Pache, Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 6 EUV Rn. 66 ff.; Streinz, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 6 EUV Rn. 25. 281 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 – EMRK-Beitritt II. 282 Zur Frage, ob ein Beitritt unter den in der Rspr. des EuGH aufgestellten Maßgaben überhaupt realisierbar scheint Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (269 ff.); Daiber, EuR 2021, 596. Die Beitrittsverhandlungen lagen nach dem Gutachten des EuGH vorerst auf Eis, wurden jedoch im Juni 2020 wieder aufgenommen. Zum aktuellen Stand: https://www.coe.int/en/web/human-rights-intergovernmental-cooperation/accessionof-the-european-union-to-the-european-convention-on-human-rights (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 283 Mayer, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 19 EUV Rn. 48 f.; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 19 EUV Rn. 25. 284 Huber, in: von Bogdandy / Huber, Ius Publicum Europaeum Bd. 2, § 26 Rn. 93 ff.; Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 6 EUV Rn. 18. 285 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
gemeinsamen Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten.286 Die Prämisse, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten in ihrer gesamten hoheitlichen Tätigkeit gemein sind, schafft die notwendige Legitimationsgrundlage für die vertrauensbasierte Zusammenarbeit im horizontalen Verhältnis.287 Konsequenterweise markieren die vom Wertekatalog des Art. 2 EUV umfassten menschenrechtlichen Garantien zugleich den unabdingbaren grundrechtlichen Mindeststandard, dessen Wahrung die Grundvoraussetzung für die vertrauensbasierte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bildet. Ist diese Vertrauensgrundlage erschüttert, ist auch der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung die Grundlage entzogen.288 Die grundrechtlichen Grenzen des aus dem Vertrauensgrundsatz folgenden Solange-Vorbehalts sind somit in Anknüpfung an den Wertekatalog des Art. 2 EUV zu bestimmen.289 Für diesen Ansatz spricht insbesondere, dass sich das in Art. 2 EUV enthaltene unionsrechtliches Gebot der Wertehomogenität – anders als die Vorgaben der Grundrechtecharta – auf das gesamte Handeln der Mitgliedstaaten erstreckt. Die Mitgliedstaaten sind unabhängig von einer Durchführung des Unionsrechts zur Achtung der gemeinsamen Werte und der von Art. 2 EUV umfassten menschenrechtlichen Garantien verpflichtet.290 Eine Anknüpfung an Art. 2 EUV ist daher unabhängig von einer (Teil-)Harmonisierung der jeweiligen Rechtsgebiete möglich, ohne damit die den Mitgliedstaaten verbleibenden Regelungskompetenzen über den in den Europäischen Verträgen vorgesehenen Umfang hinaus zu beschneiden und das föderale Gleichgewicht zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu verschieben. Zu beachten ist, dass die Achtung der von Art. 2 EUV garantierten menschenrechtlichen Gewährleistungen nur den unabdingbaren grundrechtlichen Mindeststandard für eine Zusammenarbeit bildet. Dem europäischen Gesetzgeber bleibt es unbenommen, ein darüber hinausgehendes Grundrechtsschutzniveau vorzusehen 286
Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 15; Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (43); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 156 ff.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 753 f. S. ausführlich oben, → 2. Kapitel, § 2. C. II. 287 EuGH, Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 168 – EMRK-Beitritt II; Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 30 – ASJP; Urt. v. 06. 03. 2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 Rn. 34 – Achmea; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI: EU:C:2019:218 Rn. 80 – Jawo; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 83 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 45 – Dorobantu; Urt. v. 11. 03. 2020 – C-314/18, ECLI:EU:C:2020:191 Rn. 35 – SF; Urt. v. 24. 09. 2020 – C-195/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:749 Rn. 30 – XC; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (79); Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (43). 288 Frąckowiak-Adamska, 59 CMLR 2022, 113 (142); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 165 f.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 97. 289 So im Ergebnis auch Kullak, Vertrauen in Europa, S. 164 ff.; ohne Konzeption als horizontaler Solange-Vorbehalt auch L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (87). 290 GA Tanchev, Schlussanträge v. 20. 06. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:529 Rn. 72 – Kommission / Polen; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (304); Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 18; Franzius, ZaöRV 2015, 383 (405); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 168; Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 58.
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
225
und dieses, etwa durch Normierung entsprechender Ablehnungsgründe in den sekundärrechtlichen Kooperationsinstrumenten, zur Voraussetzung der Zusammenarbeit in einem bestimmten Bereich zu machen.291 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens steht entsprechenden Regelungen nicht entgegen. Normiert der Sekundärrechtsgeber entsprechende Vorbehalte, gehen diese den allgemeinen Wirkungen des Vertrauensgrundsatzes vor. bb) Justiziabilität292 der europäischen Werte Nach dem Wertekatalog des Art. 2 Satz 1 EUV gründet sich die Union auf die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“. Die genannten Werte erscheinen im ersten Zugriff recht abstrakt und bedürfen zu ihrer Operabilität näherer Konkretisierung.293 Angesichts dieses Befundes werden mitunter Zweifel an der Justiziabilität der in Art. 2 EUV normierten Werte geäußert.294 Teile der Literatur gehen davon aus, dass die Werte des Art. 2 EUV einer Umsetzung in Normen des Primär- oder Sekundärrechts bedürfen, bevor sie verbindliche Rechtswirkungen entfalten.295 Sie könnten daher auch nicht isoliert als Prüfungsmaßstab gerichtlicher Entscheidungen herangezogen werden, sondern nur in Kombination mit solchen Bestimmungen des Unionsrechts, die als Ausprägung der Werte angesehen werden können.296 Es wird zudem darauf verwiesen, dass eine gerichtliche Konkretisierung des gemeinsamen Wertekatalogs unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung Probleme aufwerfe, da so die Entscheidungsmacht in hochpolitischen Konflikten hin zur Judikative verlagert würde.297
291
Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 75; Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (395). S. ausführlich bereits oben, → 2. Kapitel, § 4. A. 292 Justiziabel im hier verstandenen Sinne sind Vertragsbestimmungen, die verbindliche Rechtsnormen enthalten und als unmittelbarer Maßstab für die Entscheidung von Rechtssachen durch die europäischen Gerichte wirken. 293 Holterhus / Kornack, EuGRZ 2014, 389 (390); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 161 f.; Lenaerts, EuGRZ 2017, 639 (640); Nettesheim, in: Holterhus / Michl, Die schwache Gewalt, S. 111 (117 f.). 294 Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (437 f.); Kochenov / Pech, 11 EuConst 2015, 512 (519 f.); Nettesheim, in: Holterhus / Michl, Die schwache Gewalt, S. 111 (117 f.); Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 11. 295 Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (437). 296 Kochenov / Pech, 11 EuConst 2015, 512 (519 f.); Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 11; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 46a. 297 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 46; von Bogdandy, ZaöRV 2019, 503 (536); vgl. Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 29.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Diese Skepsis kann jedoch nicht überzeugen. Bei den gemeinsamen „Werten“ handelt es sich ungeachtet ihrer Konkretisierungsbedürftigkeit nicht bloß um politische Leitlinien oder Postulate, sondern um europäische Rechtsgrundsätze, die rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten.298 Aus der Wertesemantik des Art. 2 EUV folgt nichts anderes. Wie die Präambel zum EUV erkennen lässt, hat der europäische Gesetzgeber die Begriffe „Werte“ und „Grundsätze“ insoweit synonym verwendet.299 Auch der Gerichtshof spricht in Bezug auf Art. 2 EUV synonym von Werten oder Grundsätzen.300 Art. 49 EUV und das Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV unterstreichen die rechtliche Verbindlichkeit der gemeinsamen Werte für die Mitgliedstaaten.301 Die Einhaltung der Werte des Art. 2 EUV ist nicht nur europapolitisch, sondern auch unionsrechtlich die Voraussetzung für den Beitritt zur Union und den fortwährenden Genuss der Mitgliedschaftsrechte.302 Die Werte des Art. 2 EUV sind auch einer unmittelbaren Anwendung durch die europäischen Gerichte zugänglich.303 Sie bezeichnen grundlegende Verfassungsprinzipien wie sie auch das Grundgesetz kennt und wie sie vom BVerfG seit jeher als Maßstabsnormen angewendet werden.304 Es spricht daher nichts dagegen, dass sie auch vom EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten unmittelbar als Entscheidungsmaßstäbe herangezogen werden.305 Der Gerichtshof kann bei der Konkretisierung der gemeinsamen Werte im Wege der Verfassungsvergleichung auf das Verständnis der entsprechenden Grundsätze in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen zurückgreifen.306 Die Werte des Art. 2 EUV gehen nämlich auf gemeinsame Werte zurück, die auch von den Mitgliedstaaten in ihren eigenen 298
EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 232 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 264 – Polen / Parlament u. Rat; Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (433); Epiney, NVwZ 2022, 1263 (1269); Hoffmeister, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 21 (22); Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 7 f.; Calliess, NVwZ 2019, 684 (686); Kochenov, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 9 (9 f.); Scheppele / Kochenov / Grabowska-Moroz, 39 YEL 2020, 3 (67); Spieker, 59 CMLR 2022, 777 (800 f.); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 51. 299 Spieker, 59 CMLR 2022, 777 (800 f.). 300 EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 39, 57 – L. u. P.; Urt. v. 03. 06. 2021 – C-650/18, ECLI:EU:C:2021:426 Rn. 94 – Ungarn / Parlament. 301 Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (436); von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (716 f.); Spieker, 59 CMLR 2022, 777 (801). 302 Schorkopf, in: Di Fabio, Die Selbstbehauptung Europas, S. 117 (126). 303 von Bogdandy, ZaöRV 2019, 503 (538); ders., 57 CMLR 2020, 705 (727); Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); vgl. EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 329 – Polen / Parlament u. Rat. 304 Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482). 305 Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); vgl. EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI: EU:C:2022:98 Rn. 329 – Polen / Parlament u. Rat. 306 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 14; Holterhus / Kornack, EuGRZ 2014, 389 (390 f.); Träbert, Sanktionen der EU gegen ihre Mitgliedstaaten, S. 231 f.
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
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Rechtsordnungen anerkannt und angewandt werden.307 Daneben kommt auch eine vergleichende Heranziehung völkerrechtlicher Verträge, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren, in Betracht.308 Die Europäischen Verträge enthalten zudem an verschiedenen Stellen Regelungen, die sich als Ausprägung der gemeinsamen Werte verstehen lassen und ebenfalls Rückschlüsse auf das Begriffsverständnis des Primärrechtsgebers zulassen. Mittlerweile ist auf dieser Grundlage in Rechtsprechung und Literatur eine zunehmende Festigung des Gehalts der Werte aus Art. 2 EUV erfolgt.309 cc) Keine Umgehung der Kompetenzordnung der Verträge Gegen die vorgeschlagene Anknüpfung an Art. 2 EUV zur Bestimmung der Grenzen des Solange-Vorbehalts lässt sich auch nicht einwenden, dass es außerhalb der gerichtlichen Kompetenz des EuGH und der mitgliedstaatlichen Gerichte liege zu beurteilen, ob ein Mitgliedstaat den Anforderungen des Art. 2 EUV gerecht wird.310 Zwar wird teilweise vorgebracht, dass die Feststellung von Verletzungen der europäischen Werte durch einen der Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 2 EUV allein dem Europäischen Rat überantwortet sei311 und folglich eine Beurteilung der Einhaltung der gemeinsamen Werte nur innerhalb des in Art. 7 EUV normierten Verfahrens in Frage komme.312 Hierfür soll sprechen, dass Art. 2 EUV im Zusammenhang mit dem Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV gemäß Art. 269 AEUV ausdrücklich der Jurisdiktion des Gerichtshofs entzogen ist.313 Die besseren Argumente sprechen aber gegen die Annahme einer exklusiven Kompetenz des Europäischen Rates in Bezug auf die Feststellung einer Verletzung der Werte des Art. 2 EUV:
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EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 237 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 291 – Polen / Parlament u. Rat. 308 Holterhus / Kornack, EuGRZ 2014, 389 (391 f.); Schorkopf, Homogenität in der EU, S. 82 f.; Träbert, Sanktionen der EU gegen ihre Mitgliedstaaten, S. 232 f. 309 von Bogdandy, ZaöRV 2019, 503 (536); ders., 57 CMLR 2020, 705 (727); zum Beitrag des Gerichtshofs Lenaerts, EuGRZ 2017, 639 (640 ff.); vgl. EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 236 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 290 – Polen / Parlament u. Rat. 310 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 171 f.; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (326 f.); Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (44 f.). 311 Zum Vorschlag des Reverse-Solange vgl. Mangold, in: Steinbeis / Kemmerer / Möllers, Gebändigte Macht, S. 155 (160). 312 Pechstein, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 33; Kochenov / Pech, 11 EuConst 2015, 512 (520); Schorkopf, NJW 2019, 3418 (3422); Martenczuk, in: Kadel bach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (45 f.). 313 Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (46); Schorkopf, NJW 2019, 3418 (3422); Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 46; Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 204 f.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Die Prüfungskompetenz des EuGH erstreckt sich nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV auf das gesamte Unionsrecht314 und damit auch auf die Werte des Art. 2 EUV.315 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 269 AEUV. Die Vorschrift beschränkt die Überprüfungskompetenz des Gerichtshofs ausdrücklich nur in Bezug auf das Art. 7 EUV-Verfahren.316 Als Ausnahmevorschrift von der allgemeinen Zuständigkeitsregelung in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV ist Art. 269 AEUV eng auszulegen.317 Eine über ihren unmittelbaren Regelungsgehalt hinausgehende Aussage, wonach der EuGH auch außerhalb des Sanktionsverfahrens nach Art. 7 EUV nicht befugt wäre, die Wahrung des Wertekatalogs durch die Mitgliedstaaten zu überprüfen, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen.318 Das Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV ist auch nicht als abschließende Durchsetzungsregelung bezüglich der Werte des Art. 2 EUV zu verstehen, das gegenüber der Rechtsdurchsetzung durch die europäischen Gerichte als spezielle Regelung Vorrang hat.319 Das Art. 7 EUV-Verfahren und die Rechtmäßigkeitskontrolle der europäischen Gerichte am Maßstab von Art. 2 EUV stehen vielmehr nebeneinander.320 Die Europäischen Verträge enthalten keinerlei Hinweise darauf, dass das Verfahren nach Art. 7 EUV eine anderweitige Prüfung der Werte des Art. 2 EUV ausschließt.321 Zudem unterscheidet sich das Verfahren nach Art. 7 EUV in Zielrichtung und Rechtsfolge von einer Heranziehung des Art. 2 EUV bei der Entscheidung
314 Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 19 EUV Rn. 25; Streinz, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 19 EUV Rn. 39 f. 315 Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1201); von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (326 f.); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 129. 316 EuGH, Urt. v. 03. 06. 2021 – C-650/18, ECLI:EU:C:2021:426 Rn. 31 – Ungarn / Europäisches Parlament; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 192 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 225 – Polen / Parlament u. Rat; Giegerich, ZEuS 2019, 61 (96); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 171. 317 EuGH, Urt. v. 03. 06. 2021 – C-650/18, ECLI:EU:C:2021:426 Rn. 31 – Ungarn / Europä isches Parlament; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (327); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1202). 318 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 192 f. – Ungarn / Parlament u. Rat; GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50 – Kommission / Polen; Giegerich, ZEuS 2019, 61 (96); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 171; M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1071); Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (44 f.); ders., EuR 2019, 111 (129). 319 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 159 ff. – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 195 ff. – Polen / Parlament u. Rat; Giegerich, ZEuS 2019, 61 (96); Kochenov, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 9 (10 f.); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); a. A. Bonelli, 18 EuConst 2022, 30 (47 f.); Kochenov / Pech, 11 EuConst 2015, 512 (520); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (45 f.). 320 GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50 – Kommission / Polen; Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Germelmann, DÖV 2021, 193 (196); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); Nickel, EuR 2017, 663 (679). 321 von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (725); L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (82).
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
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über eine mögliche Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Das Art. 7-EUV-Verfahren ist seinem Wesen nach ein politisches Verfahren zur Bekämpfung einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat, das ultima ratio zur Suspendierung mitgliedstaatlicher Rechte führt.322 Bei einer Heranziehung der Werte als Grenze des gegenseitigen Vertrauens steht dagegen jeweils nur die Verweigerung der Kooperation im Einzelfall in Rede, also eine deutlich weniger schwerwiegende Rechtsfolge als die von Art. 7 EUV vorgesehene Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten. Eine Umgehung der hohen Voraussetzungen des Art. 7 EUV droht daher nicht. b) Konkretisierung der grundrechtlichen Grenzen nach Art. 2 EUV Der grundrechtliche Mindeststandard der horizontalen Zusammenarbeit ist also in Anknüpfung an den Wertekatalog des Art. 2 EUV zu bestimmen. Relevant sind insoweit verschiedene Werte aus dem Katalog des Art. 2 EUV: die Achtung der Menschenwürde, der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Freiheit und Gleichheit. Diese Werte bedürfen, um in der Praxis der europäischen Gerichte handhabbar zu sein, näherer Konkretisierung. aa) Vorbemerkung: Beschränkung auf Essentialia Bei der Operationalisierung der Werte ist zu beachten, dass Art. 2 EUV nur auf die Vorgabe „europäischer Mindeststandards“ zielt.323 Art. 2 EUV enthält einen harten Kern gemeinsamer Werte, der ein Mindestmaß an Homogenität im Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten gewährleisten soll, nicht aber eine umfassende, einem Bundesstaat vergleichbare Verfassungshomogenität.324 Die Mitgliedstaaten verfügen also über einen erheblichen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung dieser Grundsätze.325 Ein anderes Verständnis der Vorschrift würde verkennen, dass den Europäischen Verträgen ein Modell des Verfassungs-
322
GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50 – Kommission / Polen; Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); Nickel, EuR 2017, 663 (679). 323 von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (328); W. Schroeder, in: W. Schroeder, Streng thening the Rule of Law, S. 3 (11); Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 38. 324 von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (732); Franzius, DÖV 2018, 381 (384); Giegerich, ZEuS 2019, 61 (66); W. Schroeder, in: W. Schroeder, Strengthening the Rule of Law, S. 3 (11); Toggenburg / Grimheden, in: W. Schroeder, Strenghtening the Rule of Law, S. 221 ff.; vgl. Europäischer Konvent, Vermerk v. 06. 02. 2003, CONV 528/03, S. 11. 325 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 237 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 265 – Polen / Parlament u. Rat; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 Rn. 43 – RS.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
pluralismus zwischen den Mitgliedstaaten zugrunde liegt.326 Ausdruck hiervon ist etwa Art. 4 Abs. 2 EUV, der die Union verpflichtet, die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt, zu achten.327 Es ist deshalb eine Balance zwischen dem Erfordernis gemeinsamer Grundwerte und dem Schutz der Vielfalt im Mehrebenensystem zu suchen. Die einzelnen Werte des Art. 2 EUV sind mit Blick darauf, dass die Vorschrift den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Ausgestaltung ihrer staatlichen Ordnung nur wenige, zentrale Grundprinzipien vorgeben soll, restriktiv auszulegen und auf Essentialia zu beschränken.328 In Bezug auf grundrechtliche Garantien ist eine entsprechende Auslegung auch angesichts von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh geboten. Der Rückgriff auf Art. 2 EUV darf nicht dazu führen, dass die Mitgliedstaaten unabhängig von einer Durchführung des Rechts der Union an den vollen Grundrechtsbestand des Unionsrechts gebunden sind.329 Die Beschränkung der einschlägigen Werte in Art. 2 EUV auf grundrechtliche Kerngarantien vermeidet eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte unter rechtswidriger Umgehung von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh.330 bb) Achtung der Menschenwürde An erster Stelle des Wertekatalogs steht als „Schlüssel-Wert“ das Gebot, die Menschenwürde zu achten.331 Die Würde des Menschen wird damit als oberstes Konstitutionsprinzip des europäischen Staaten- und Verfassungsbunds anerkannt und die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen in den Mittelpunkt des gesamten hoheitlichen Tätigwerdens der Union und ihrer Mitgliedstaaten gestellt.332 Ent 326
von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (732); ders. / Spieker, EuR 2020, 301 (328); W. Schroeder, in: ders., Strengthening the Rule of Law, S. 3 (11); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1210). 327 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 169; W. Schroeder, in: W. Schroeder, Strengthening the Rule of Law, S. 3 (11). 328 Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1210); ders., 59 CMLR 2022, 777 (790); Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (439 f.). Vgl. auch Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 14 f., der zwischen einem justiziablen „harten“ Begriffskern und einem nicht justiziablen, in demokratischen Willensbildungsprozessen auszufüllenden Begriffshof unterscheidet. 329 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 36; Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 35. 330 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 168 f.; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (328). 331 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 18; Rensmann, in: Blumenwitz / Gornig / Murswiek, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, S. 49 (58 ff.); Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 2 EUV Rn. 5. 332 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 18; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 22; Lenaerts, EuGRZ 2017, 639 (640); Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 26.
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
231
sprechend steht die Gewährleistung der Menschenwürde auch an der Spitze der Gewährleistungen der Grundrechtecharta. Mit Blick auf den Katalog des Art. 2 EUV fällt auf, dass die Norm die Achtung der Menschenwürde als eigenständigen Wert neben dem Menschenrechtsschutz aufführt. Grund hierfür dürfte neben dem programmatischen Bekenntnis, den europäischen Grundrechtsschutz an der Würde des Menschen als Fundamentalwert auszurichten, sein, dass die Menschenwürde auch im Unionsrecht nicht eingeschränkt werden kann.333 Die Entwicklung eines genuin unionalen Würdekonzepts steht allerdings noch am Anfang.334 Ein unmittelbarer Rückgriff auf die nationalen Vorverständnisse von dem, was die Menschenwürde ausmacht, scheidet angesichts der divergierenden Interpretationen in den Mitgliedstaaten aus.335 Im Kern fungiert die Menschenwürde auch auf europäischer Ebene als Schutz vor der Überschreitung „letzter Grenzen“.336 Der Kern der Menschenwürde liegt in der Anerkennung und Achtung des Eigenwertes jeder Person und damit in dem Verbot, sie zum bloßen Objekt öffentlichen oder privaten Handelns herabzuwürdigen.337 Relevant geworden ist die Menschenwürdegarantie in den vorliegend relevanten Sachbereichen in neuerer Zeit etwa mit Blick auf den Zugang zu medizinischer Versorgung und der Gewährleistung eines sachlichen Existenzminimums für Asylbewerber.338 In zahlreichen anderen Entscheidungen zu den Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz suchen, und zu menschenrechtswidrigen Haftbedingungen nimmt der EuGH dagegen nicht auf Art. 1 GRCh, sondern auf das enge Bezüge zur Menschenwürdegarantie aufweisende Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aus Art. 4 GRCh Bezug.339 cc) Wahrung der Menschenrechte Zu den gemeinsamen Werten der Union und ihrer Mitgliedstaaten zählt weiterhin die Wahrung der Menschenrechte. Eine Konkretisierung dieses Wertes er 333
Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 23. Zur Vorbehaltlosigkeit der Menschenwürdegarantie EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 85 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 59 – C. K. u. a.; Blömacher, Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 266. 334 Blömacher, Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 265 f.; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 12 f.; Pechstein, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 2. 335 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 23; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 12. 336 Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 31. 337 GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 18. 03. 2004 – C-36/02, ECLI:EU:C:2004:162 Rn. 75, 78 – Omega; Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 28. 338 EuGH, Urt. v. 27. 09. 2021 – C-179/11, ECLI:EU:C:2012:594 Rn. 56 – Cimade; Urt. v. 12. 11. 2019 – C-233/18, ECLI:EU:C:2019:956 Rn. 46 ff. – Haqbin. 339 S. bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. B.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
folgt durch Art. 6 EUV, der die Grundrechtecharta und die überlieferten Rechtsgrundsätze des Unionsrechts zu Bestandteilen des Unionsprimärrechts erklärt.340 Art. 6 EUV fungiert gleichermaßen als „Scharnier“ zwischen den Unionsgrundrechten und dem Wertesystem der EU.341 Dieser Konkretisierungszusammenhang kann allerdings – wie bereits aufgezeigt – nicht dazu führen, dass Art. 2 EUV durch den vollständigen grundrechtlichen Besitzstand der Union aufgeladen wird.342 Ein solches Verständnis würde zu einer unzulässigen Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta unter Umgehung von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh führen.343 Die Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte nach Art. 2 EUV ist vielmehr „pluralistisch“ zu deuten.344 Jenseits des Anwendungsbereichs des Unionsgrundrechte muss den Mitgliedstaaten eine gewisse nationale Grundrechtsautonomie verbleiben. Der Wert der Menschenrechte nach Art. 2 EUV beschränkt sich deshalb auf einen „harten Kern“ der Menschenrechte.345 Für eine Beschränkung auf essenzielle menschenrechtliche Garantien spricht auch eine Gesamtschau mit den sonstigen Werten des Katalogs in Art. 2 EUV. Dieser beschränkt sich auf die Vorgabe grundlegender Werte von höchster Relevanz wie der Achtung der Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die von der Grundrechtecharta umfassten grundrechtlichen Gewährleistungen können sich angesichts ihrer Diversität, Heterogenität und unterschiedlichen Gewichtung nicht alle in gleichem Maße auf einer Stufe mit den übrigen Werten des Art. 2 EUV behaupten.346 Es stellt sich sodann die Frage, welche menschenrechtlichen Gewährleistungen zu den von Art. 2 EUV erfassten, essenziellen Garantien zu rechnen sind. Hierzu werden unterschiedliche Ansätze vertreten. Teilweise wird eine Konzentration auf absolute Rechte und den grundrechtlichen Wesensgehalt anderer Grundrechte vorgeschlagen.347 Andere nehmen eine Beschränkung auf bestimmte Grundrechte vor und knüpfen hierbei an die nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfesten Grund-
340
Beutler, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionrecht, Art. 6 EUV Rn. 9; Geiger / Kirchmair, in: Geiger / Khan / Kotzur / Kirchmair, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 3; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 177 f.; Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 1. 341 Beutler, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionrecht, Art. 6 EUV Rn. 9. 342 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 36; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (328); Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 35. 343 von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (328); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 168 f.; a. A. Pechstein, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 7. 344 Franzius, ZaöRV 2015, 383 Fn. 86. 345 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 36; von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (328); Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 35 f.; Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1210). 346 Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 35. 347 von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (328 f.); Spieker, 59 CMLR 2022, 777 (790 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 178.
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
233
rechtsgarantien an.348 Dazu gehören das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, der Sklaverei sowie der Grundsatz nulla poena sine lege. Über die in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Garantien hinaus werden teils auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit, habeas corpus, das Gebot der Achtung der Privatsphäre, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, die Rechtsweggarantie, das Recht auf Eigentum und das Diskriminierungsverbot sowie die Grundsätze des Minderheitenschutzes und das Verbot institutionalisierter Rassendiskriminierung einbezogen.349 Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sollen dagegen nicht zu den von Art. 2 EUV gewährleisteten Standards gehören.350 Sachgerecht erscheint eine zweifache Beschränkung: Zum einen können kaum sämtliche Grundrechtsgewährleistungen, die in der Grundrechtecharta enthalten sind, als unabdingbare Grundlage der europäischen Wertegemeinschaft angesehen werden. Dies gilt besonders bezüglich der sozialen und politischen Garantien nach Art. 27–38 und Art. 39–46 GRCh. Insoweit erscheint eine Konzentration auf die „klassischen“ Grundrechtsgarantien, die den mitgliedstaatlichen Verfassungen, der EMRK und der GRCh gemein sind, angezeigt. Hierzu sind die aus der Menschenwürde folgenden Garantien (Art. 1–5 GRCh), die Freiheitsgrundrechte (Art. 6–19), die Gleichheitsrechte (Art. 20–26 GRCh) sowie die justiziellen Rechte (Art. 47–50 GRCh) zu rechnen. Um den Mitgliedstaaten auch bezüglich dieser gemeinsamen Grundrechtsgarantien eine gewisse nationale Grundrechtsautonomie zu belassen, erfasst Art. 2 EUV zum anderen nur absolute Garantien und den Wesensgehalt relativer Grundrechtsgarantien. Die vom EuGH bislang anerkannten Ausnahmen vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für Konstellationen, in denen in bestimmten Mitgliedstaaten der Schutz der absoluten Garantie des Art. 4 GRCh und des Wesensgehalts des Grundrechts aus Art. 47 Abs. 2 GRCh nicht mehr gewährleistet ist, fügen sich in diesen Vorschlag ein. dd) Rechtsstaatlichkeit Den Mitgliedstaaten und der Union ist nach Art. 2 EUV zudem das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gemein. In Bezug auf die Union selbst ist die deutsche Sprachfassung wenig passend, da die EU keine Staatsqualität besitzt.351 Ungeachtet dessen hat sie sich der Sache nach an rechtsstaatlichen Prinzipien auszurichten, die 348
Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 37; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 178. 349 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 37; vgl. mit geringfügigen Abweichungen auch Kassner, Unionsaufsicht, S. 108 f.; Voßkuhle, Idee der Europäischen Wertegemeinschaft, S. 36. 350 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 37. 351 Klarer die englische Fassung: „The Union is founded on the values of respect for (…) the rule of law“.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
trotz ihrer fehlenden Staatlichkeit auf die EU als durch öffentliche Gewalt geprägtes Ordnungssystem übertragbar sind.352 Der unionsrechtliche Rechtsstaatlichkeitsbegriff formuliert nicht nur formelle, sondern auch materielle Anforderungen an die Legalität hoheitlichen Handelns und weist eine enge Verbindung zur Wahrung und Achtung der Demokratie und der Menschenrechte auf.353 Er umfasst eine Reihe unterschiedlicher Einzelgarantien, die allesamt auf die rechtliche Bindung politischer und administrativer Macht zielen.354 Dazu gehören insbesondere der Grundsatz der Gewaltenteilung,355 der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, das Willkürverbot und der Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz, das Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, die Garantie effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, die Achtung der Grundrechte356 und das Verhältnismäßigkeitsprinzip.357 Unabdingbare Voraussetzung für die Gewährleistung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, Ausfluss des Grundsatzes der Gewaltenteilung und damit Teil des unionsverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips ist auch die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz.358 Näher konkretisiert wird der Wert der Rechtsstaatlichkeit insbesondere in Art. 19 EUV sowie den justiziellen Rechten nach Art. 47–50 GRCh.359 352
Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 26; Holterhus / Kornack, EuGRZ 2014, 389 (392); Pechstein, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 6; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 20. 353 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2002 – C-50/00 P, ECLI:EU:C:2002:462 Rn. 58 f. – UPA / Rat; Urt. v. 03. 09. 2008 – C-402/05 P u. C-415/05 P, ECLI:EU:C:2008:461 Rn. 316 – Kadi u. a.; Europäische Kommission, Mitteilung v. 11. 03. 2014, COM(2014) 158 final, S. 4 f.; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 35; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 26; Blanke / Sander, EuR 2023, 54 (61); Lenaerts, EuGRZ 2017, 639 (641); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch Haushaltsrecht, S. 2, 9. 354 Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282 (286). 355 EuGH, Urt. v. 10. 11. 2016 – C-477/16, ECLI:EU:C:2016:861 Rn. 36 – Kovalkovas; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 Rn. 42 – RS. 356 GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 21. 12. 2011 – C-336/09 P, ECLI:EU:C:2011:860 Rn. 30 – Kommission / Polen; Blanke / Sander, EuR 2023, 54 (62). 357 Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 9 ff.; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 26; Lenaerts, EuGRZ 2017, 639 (641); Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 38 ff.; Stäsche, ZEuS 2021, 561 (566); Europäische Kommission, Mitteilung v. 11. 03. 2014, COM(2014) 158 final, S. 4 f. 358 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 48 – LM; Urt. v. 02. 03. 2021 – C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153 Rn. 118 – A. B. u. a.; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 Rn. 96 – Kommission / Polen; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 132 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 150 – Polen / Parlament u. Rat; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/212, ECLI: EU:C:2022:99 Rn. 42 – RS; Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (386); Lenaerts, EuGRZ 2017, 639 (641); Payandeh, JuS 2021, 481 (485); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europä isches Haushaltsrecht, S. 9. 359 EuGH, Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 47 – Kommission / Polen; Urt. v. 05. 11. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 98 – Kommission / Polen; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 157 ff. – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 193 ff. – Polen / Parlament u. Rat.
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In Bezug auf den Grundrechtsschutz ergibt sich also eine Schnittmenge zwischen der von Art. 2 EUV umfassten Wahrung der Menschenrechte und dem Wert der Rechtsstaatlichkeit.360 Die aus dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip folgenden Anforderungen können dabei jedoch nicht weiter reichen als die zuvor ermittelten menschenrechtlichen Standards. ee) Freiheit und Gleichheit Der Wertekatalog des Art. 2 EUV benennt als weitere grundlegende Werte des europäischen Staatenverbunds die Werte der Freiheit und der Gleichheit. Der europäische Freiheitsbegriff ist vielschichtig und nicht abschließend definiert.361 Er weist neben einer individuellen Dimension wohl auch Elemente der kollektiven Selbstbestimmung auf.362 Mit Blick auf die individuelle Freiheitssicherung gelten als gesicherter Bestand des europäischen Freiheitsbegriffs die Selbstbestimmung des Einzelnen, die Achtung der Menschenwürde, die Abwesenheit von Fremdherrschaft sowie die Negation jedes Gewaltmonismus und jeder Form von Suprematie einer politischen Organisation.363 Konkrete verfassungsrechtliche Ausprägungen sind etwa die Rechtsstaatlichkeit, die aus der Unionsbürgerschaft folgenden Rechte (Art. 9 EUV, Art. 18 ff. AEUV) sowie die Grundfreiheiten und die grundrechtlichen Garantien der Art. 6–19 GRCh.364 Auch der Wert der Freiheit weist also eine menschenrechtliche Dimension auf.365 Ihm können aber keine weitergehenden grundrechtlichen Mindeststandards entnommen werden als bereits aus der Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte folgen. Den Wesensgehalt der in Art. 16–19 GRCh garantierten Freiheitsgrundrechte haben die Mitgliedstaaten bereits angesichts dieser Verpflichtung zu wahren. Entsprechendes gilt in Bezug auf den gemeinsamen Wert der Gleichheit. Der Art. 2 Satz 1 EUV zugrundeliegende Gleichheitsbegriff bezieht sich sowohl auf die Gleichheit der Mitgliedstaaten als auch auf die Gleichheit der Unionsbürger vor dem Gesetz.366 In seiner individuellen Dimension weist auch der Wert der Gleich 360
Holterhus / Kornack, EuGRZ 2014, 389 (393); Diel-Gligor, ZRP 2021, 63 (64). Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 25; zum Freiheitskonzept der Unionsverträge Terhechte, Konstitutionalisierung und Normativität der europäischen Grundrechte, S. 49 ff. 362 EuGH, Urt. v. 10. 12. 2018 – C-621/18, ECLI:EU:C:2018:999 Rn. 62 ff. – Wightman u. a.; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 20; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 25. 363 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 20; Grawert, in: FS Quaritsch, S. 95 (103); Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 25; Terhechte, Konstitutionalisierung und Normativität der europäischen Grundrechte, S. 50. 364 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 20; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 14. 365 Holterhus / Kornack, EuGRZ 2014, 389 (393); Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (441 f.). 366 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 24; Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 18; a. A. Sommermann, in: Niedobitek, Euro 361
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
heit eine menschenrechtliche Dimension auf, die in den Art. 20 ff. GRCh nähere Konkretisierung findet.367 Höhere grundrechtliche Standards als aus der Maßgabe, die Menschenrechte zu wahren, folgen aber auch aus dem Wert der Gleichheit nicht. 4. Zwischenergebnis Unabdingbare Grundlage der auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhenden horizontalen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten ist die Wahrung der vom Wertekatalog des Art. 2 EUV umfassten gemeinsamen menschenrechtlichen Garantien. Zeigen sich in einzelnen Mitgliedstaaten Mängel, die diese Vertrauensgrundlage erschüttern, ist auch der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung die Grundlage entzogen. Die grundrechtlichen Mindeststandards sind somit in Anknüpfung an den Wertekatalog des Art. 2 EUV zu bestimmen. Von maßgeblicher Relevanz sind dabei zwei Werte aus dem Katalog des Art. 2 EUV: die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte. Bei ihrer näheren Ausformung ist zu beachten, dass der Wertekatalog des Art. 2 EUV den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Ausgestaltung ihrer staatlichen Ordnung nur wenige zentrale Grundprinzipien vorgeben soll und dass der Rückgriff auf Art. 2 EUV nicht dazu führen darf, dass unter Umgehung von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh unabhängig von einer Durchführung des Unionsrechts der volle Grundrechtsbestand der Grundrechtecharta Anwendung findet. Die einzelnen Werte sind daher eng auszulegen. Es ist zum einen eine Beschränkung auf grundrechtliche Kerngarantien vorzunehmen. Zu diesen essenziellen menschenrechtlichen Garantien sind die aus der Menschenwürde folgenden Garantien (Art. 1–5 GRCh), die Freiheitsgrundrechte (Art. 6–19), die Gleichheitsrechte (Art. 20–26 GRCh) sowie die justiziellen Rechte (Art. 47–50 GRCh) zu rechnen. Um den Mitgliedstaaten auch bezüglich dieser gemeinsamen Grundrechtsgarantien eine gewisse nationale Grundrechtsautonomie zu belassen, erstreckt sich Art. 2 EUV nur auf absolute Garantien und den Wesensgehalt der relativen Grundrechtsgarantien. III. Schwelle für die Suspendierung des Solange-Vorbehalts Mit der Bestimmung der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards ist die Frage nach den grundrechtlichen Grenzen des horizontalen Solange-Vorbehalts368 noch nicht abschließend beantwortet. Zu klären bleibt, ob die Auffangverantwortung der übrigen Mitgliedstaaten bereits dann greift, wenn es in einem paR, § 3 Rn. 37, der annimmt, dass in Art. 2 EUV nicht zugleich die Gleichheit der Mitgliedstaaten angesprochen wird. 367 Holterhus / Kornack, EuGRZ 2014, 389 (393); Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 18. 368 Begriff erstmals bei Canor, ZaöRV 2013, 249.
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
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Mitgliedstaat im Einzelfall zu einer Verletzung der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards kommt, oder erst, wenn sich in einem Mitgliedstaat über den Einzelfall hinausgehende Defizite hinsichtlich der Wahrung dieser Standards zeigen. Zuletzt fragt sich, ob eine Verlagerung der Grundrechtsverantwortlichkeit auf einen anderen Mitgliedstaat voraussetzt, dass der Betroffene zuvor den nationalen Rechtsweg im primär grundrechtsverantwortlichen Mitgliedstaat erschöpft hat. 1. Erfordernis systemischer Mängel Der EuGH vertritt die Auffassung, dass eine Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nur bei Vorliegen systemischer Mängel greift.369 An dieser Schwelle ist festzuhalten.370 Nicht jede Verletzung der grundrechtlichen Mindeststandards kann eine Verlagerung der Grundrechtsverantwortung vom primär zuständigen Mitgliedstaat auf die übrigen Mitgliedstaaten rechtfertigen. Eine Ausnahme von der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung ist erst dann geboten, wenn in einem Mitgliedstaat systemische Mängel vorliegen, die dazu führen, dass der aus Art. 2 EUV folgende, unabdingbare Grundrechtsstandard generell nicht mehr gewährleistet ist. Darin liegt nur auf den ersten Blick eine Geringschätzung der Grundrechtspositionen des Einzelnen: Mit der Bestimmung der Grenzen des Solange-Vorbehalts wird nicht zugleich über die Geltung oder Durchsetzung der Grundrechtsposition des Betroffenen entschieden, sondern lediglich festgelegt, welcher Mitgliedstaat die Verantwortung für die Gewährleistung der Grundrechte des Betroffenen trägt.371 Es geht bei der Frage nach den Grenzen des horizontalen Solange-Vorbehalts372 nicht um das „Ob“, sondern um das „Wo“ des Grundrechtsschutzes innerhalb einer föderativ strukturierten Union von Rechtsstaaten.373 Die primäre Grundrechtsverantwortlichkeit soll grundsätzlich bei dem sachnäheren Mitgliedstaat verbleiben. Eine Einzelfallbetrachtung wird also nicht ausgeschlossen, sondern lediglich dem primär grundrechtsverantwortlichen Mitgliedstaat zugeordnet.374 Liegen in diesem 369
EuGH, Urt. v. 10. 12. 2013 – C-394/12, ECLI:EU:C:2013:813 Rn. 60 – Abdullahi; Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 109 ff. – Puig Gordi u. a.; jüngst auch GA Kokott, Schlussanträge v. 20. 04. 2023 – C-228/21 u. a., ECLI:EU:C:2023:316 Rn. 160 ff. – CZA u. a. 370 So auch L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (86 f.); Lenaerts, duE 2015, 525 (546); Wendel, JZ 2016, 333 (336); ders., EuR 2019, 111 (125); ders., 15 EUConst 2019, 17 (37 ff.). 371 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 80; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 225 f. 372 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 373 Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (35); Reinbacher / Wendel, EuGRZ 2016, 333 (337); Wendel, EuR 2019, 111 (125 f.); ders., 15 EuConst 2019, 17 (40); ders., JZ 2019, 983 (986); vgl. GA de la Tour, Schlussanträge v. 14. 07. 2022 – C-158/21, ECLI:EU:C:2022:573 Rn. 85 – Puig Gordi. 374 Callewaert, ZEuS 2014, 79 (85).
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Mitgliedstaat keine systemischen Mängel in Bezug auf die Gewährleistung der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards vor, ist eine zusätzliche Überprüfung durch einen anderen Mitgliedstaat weder erforderlich noch geboten. Der Einzelne hat, sofern es zu einer Verletzung seiner Grundrechte kommt, stattdessen Rechtsschutz in dem Mitgliedstaat zu suchen, der die anzuerkennende Entscheidung erlassen hat bzw. in dem er sich nach seiner Überstellung befindet.375 Solange keine systemischen Defizite vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass das Rechtssystem dieses Mitgliedstaats dem Einzelnen ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten bietet. Nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs steht dem Einzelnen zudem eine Befassung des EGMR offen.376 Bei der Bestimmung der Schwelle für eine Suspendierung des horizontalen Solange-Vorbehalts377 ist zudem den institutionellen Auswirkungen im europäischen Verbund Rechnung zu tragen. Greift eine Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, führt dies dazu, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats in eine Art Wächterrolle gegenüber einem anderen Mitgliedstaat rücken,378 in der sie zu prüfen haben, ob ein anderer, gleichermaßen an das Unionsrecht und die EMRK gebundener Mitgliedstaat, die Werte des Art. 2 EUV verletzt. Diese horizontale Wächterstellung „unter Gleichen“ (vgl. Art. 2 Satz 1, Art. 4 Abs. 2 EUV) bietet schon an sich erkennbar erhebliches Konfliktpotential. Verschärfend kommt noch hinzu, dass in den einschlägigen Regelungsbereichen regelmäßig keine unionsrechtliche Harmonisierung erfolgt ist, sondern Materien betroffen sind, die grundsätzlich den Mitgliedstaaten in eigener Regelungskompetenz verbleiben und teils Kernaspekte der nationalen Souveränität berühren. Solange der Schutz der gemeinsamen Grundrechtsstandards in einem Mitgliedstaat grundsätzlich intakt ist, sollten die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten nicht ohne Not in eine Wächterrolle bezüglich der Wertetreue der anderen Mitgliedstaaten gedrängt werden. Zuletzt gebietet auch die instrumentelle Funktion des Vertrauensgrundsatzes eine enge Begrenzung der Ausnahmen des horizontalen Solange-Vorbehalts379. Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens kommt eine elementare Rolle bei der Schaffung eines europäischen Rechts- und Wirtschaftsraums, in dem Produktionsgüter ebenso wie behördliche und justizielle Entscheidungen über die Binnengrenzen hinweg frei verkehren, zu.380 Indem er die Mitgliedstaaten im Grundsatz berechtigt und verpflichtet, auf gegenseitige Kontrollen zu verzichten, die den angestrebten freien Verkehr behindern würden, trägt er maßgeblich zur Erreichung
375
Vgl. Maiani / Migliorini, 57 CMLR 2020, 7 (35). Callewaert, ZEuS 2014, 79 (85); von Bogdandy / Spieker, EuR 2020, 301 (331). 377 Begriff erstmals bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 378 Canor, ZaöRV 2013, 249 (286); Wendel, EuR 2019, 111 (115); ders., 15 EuConst 2019, 17 (21 f.). 379 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 380 Ausführlich hierzu s. oben, → 1. Kapitel, § 3. A. 376
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dieses Ziels bei.381 Der wechselseitige Kontrollverzicht sichert die Funktionsfähigkeit bestehender Kooperationssysteme und ermöglicht eine effektive horizontale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Um die praktische Wirksamkeit der horizontalen Kooperation und die Einheitlichkeit des Unionsrechts nicht zu gefährden, sind die Fälle, in denen eine Ausnahme von der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung greift, auf Ausnahmefälle zu beschränken.382 Müsste eine Nachprüfung automatisch immer dann erfolgen, wenn Anhaltspunkte für eine bereits eingetretene oder zukünftige Verletzung der gemeinsamen Grundrechtsstandards durch den zuständigen Mitgliedstaat bestehen, bliebe vom Ausnahmecharakter der grundrechtlichen Auffangverantwortung der übrigen Mitgliedstaaten nicht viel übrig.383 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens würde seines Inhalts und Zwecks weitgehend beraubt.384 2. Begriff der systemischen Mängel Zur näheren Konkretisierung der Schwelle für die Suspendierung des horizontalen Solange-Vorbehalts385 bedarf es einer Definition der Rechtsfigur der „systemischen Mängel“. Anstatt von systemischen Mängeln wird in Rechtsprechung und Literatur teils auch von „systemischen Unzulänglichkeiten“,386 „systemischen Schwachstellen“,387 oder „systemischen Defiziten“388 gesprochen. Der in Umsetzung der N. S.-Entscheidung ergangene Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO spricht ebenfalls von „systemischen Schwachstellen“. Die genannten Begriffe meinen in der Sache dasselbe, sind also synonym zu verstehen.389 Der EuGH hat bislang nicht definiert, was ein Defizit zu einem „systemischen“ Mangel macht und wie genau derartige Mängel etwa gegenüber einzelnen Rechtsverstößen abzugrenzen sind.390 Er hat aber klargestellt, dass die Annahme syste-
381
Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (267); Lührs, Überstellungsschutz, S. 86 f. 382 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (86); Frąckowiak-Adamska, 52 CMLR 2015, 191 (216 f.). 383 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (393). 384 Lenaerts, duE 2015, 525 (546); Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (379). 385 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 386 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 89 – N. S. u. a. 387 EuGH, Urt. v. 07. 06. 2016 – C-63/15, ECLI:EU:C:2016:409 Rn. 37 – Ghezelbash; Urt. v. 07. 06. 2016 – C-155/15, ECLI:EU:C:2016:410 Rn. 22 – Karim; Urt. v. 16. 02. 2017 – C-578/16 PPU, ECLI:EU:C:2017:127 Rn. 71, 91 ff. – C. K. u. a. 388 von Bogdandy, ZaöRV 2019, 503 (516 ff.); von Bogdandy / Ioannidis, ZaöRV 2014, 283 (283 ff.); Franzius, ZaöRV 2015, 383 (405). 389 Lührs, Überstellungsschutz, S. 123. 390 Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 79; Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 143; Lührs, Überstellungsschutz, S. 123.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
mischer Mängel nicht voraussetzt, dass die festgestellten Defizite flächendeckend auftreten in dem Sinne, dass sie sämtliche Asylsuchenden oder sämtliche Haft anstalten in einem Mitgliedstaaten betreffen müssen, sondern dass auch allgemeine, bestimmte Personengruppen oder Haftanstalten betreffende Mängel ausreichen können.391 Die deutschen Verwaltungsgerichte, denen bei der Entscheidung über Dublin-Überstellungen die Feststellung systemischer Defizite obliegt, grenzen systemische Defizite anhand ihrer Vorhersehbarkeit und Regelhaftigkeit von solchen Rechtsverletzungen ab, die den Einzelnen schicksalhaft aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände treffen. Systemische Mängel sind demnach solche Defizite, die im Rechtssystem des jeweiligen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb aus Sicht der Behörden und Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten vorhersehbar sind.392 Dabei sei nicht erforderlich, dass sich die Schwachstellen auf eine unüberschaubare Vielzahl von Personen auswirken. Vielmehr könne ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein lediglich eine geringe Zahl an Personen betreffen kann, sofern er sich vorhersehbar und regelhaft realisieren wird und nicht gewissermaßen dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. einzelnen Fehlleistungen von in das Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist.393 In der Literatur wird der Begriff kontrovers diskutiert und sehr unterschiedlich verstanden. Teils wird angenommen, dass das Vorliegen systemischer Defizite gravierende, flächendeckende Fehlfunktionen im Rechtssystem des zuständigen Staates, die mit den Defiziten des griechischen Asylsystems im Jahr 2009 vergleichbar sind,394 oder jedenfalls größere Funktionsstörungen voraussetzt.395 Andere fordern eine besondere Schwere der Rechtsverletzung396 oder einen qualifizierten Grad an Schwere und Vorhersehbarkeit der Rechtsverletzung.397 Die wohl überwiegende Auffassung stellt dagegen – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte – darauf ab, ob in einem Mitgliedstaat strukturelle Mängel im Sinne einer fehlerproduzierenden Systemstruktur vorliegen, die regelhaft und vor-
391
EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 89 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 60 – ML; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU:C:2019:218 Rn. 90 – Jawo; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 88 – Ibrahim u. a.; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 52 – Dorobantu. 392 St. Rspr., BVerwG, Beschl. v. 19. 03. 2014 – 10 B 6/14, NVwZ 2014, 1039 Rn. 9; Beschl. v. 15. 04. 2014 – 10 B 16/14 Rn. 3 (juris); Beschl. v. 06. 06. 2014 – 10 B 35/14, NVwZ 2014, 1677 Rn. 5. 393 VGH BW, Urt. v. 10. 11. 2014 – A 11 S 1778/14, DVBl. 2015, 118 (119); Urt. v. 18. 03. 2015 – A 11 S 2042/14 Rn. 33 (juris); Urt. v. 01. 04. 2015 – A 11 S 106/15 Rn. 33 (juris). 394 K. Hailbronner / Thym, NVwZ 2012, 406 (408). 395 K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 478. 396 Canor, ZaöRV 2013, 278. 397 Wendel, EuR 2019, 111 (125); ders., DVBl. 2015, 731 (734).
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hersehbar zu Grundrechtsverletzungen führen.398 Auf die Schwere der drohenden Rechtsverletzung oder ein flächendeckendes Auftreten in einer Vielzahl von Fällen soll es danach nicht ankommen.399 In eine ähnliche Richtung gehen Ansätze, die unter systemischen Defiziten solche Phänomene verstehen, die Teil einer weit verbreiteten oder regelmäßigen Praxis sind, sodass sie nicht mehr als Ausnahmen, sondern eher als Charakteristika eines Systems zu verstehen sind.400 Auf eine besondere Schwere der Rechtsverletzungen kann es für die Definition systemischer Defizite richtigerweise nicht ankommen. Die Suspendierung des horizontalen Solange-Vorbehalts401 ist bereits angesichts der engen Definition der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards anhand von Art. 2 EUV an die drohende oder bereits eingetretene Verletzung elementarer Grundrechtsstandards geknüpft. Würde man auch für das Vorliegen systemischer Mängel an die Schwere der Rechtsverletzung anknüpfen, hätte das Kriterium keine eigenständige Bedeutung. Eine solche Auslegung widerspräche auch dem allgemeinen Sprachverständnis. Der allgemeine Wortsinn legt vielmehr nahe, dass mit „systemischen Mängeln“ solche Fehler gemeint sind, die ein bestimmtes (Rechts-)System betreffen bzw. diesem immanent sind.402 Unter systemischen Mängeln sind also solche Defizite zu verstehen, die das Rechtssystem eines Mitgliedstaats oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb regelhaft und vorhersehbar zu Rechtsverletzungen führen. Den Gegenbegriff hierzu bilden Defizite, die dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen einzelner staatlicher Akteure geschuldet sind. Dabei ist unerheblich, ob der Mangel flächendeckend auftritt oder nur eine bestimmte Gruppe oder einen abgegrenzten Sachbereich betrifft. Ein besonders gravierender Verstoß im Einzelfall kann ebenfalls auf einen systemischen Mangel hindeuten, insbesondere dann, wenn ihm seitens der zuständigen mitgliedstaatlichen Akteure nicht mit einer angemessenen Reaktion begegnet wird. Auch in einem solchen Fall deutet sich ein systemisches Versagen an.403
398
Lübbe, ZAR 2014, 105 (107 f.); dies., in: Barwig / Beichel-Benedetti / Brinkmann, Migrationsrecht unter Druck, S. 196 (199); Franzius, ZaöRV 2015, 383 (407 f.); Kopowski, Grenzen gegenseitiger Anerkennung, S. 143 f.; Lührs, Überstellungsschutz, S. 13 f.; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 142. 399 Lübbe, ZAR 2014, 105 (107); dies., in: Barwig / Beichel-Benedetti / Brinkmann, Migrationsrecht unter Druck, S. 196 (199); Franzius, ZaöRV 2015, 383 (407 f.); Lührs, Überstellungsschutz, S. 130 f. 400 von Bogdandy / Ioannidis, ZaöRV 2014, 283 (287 ff.); von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (718); von Bogdandy / Spieker, EuR 2021, 305 (330). 401 Begriff zuerst bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 402 Lührs, Überstellungsschutz, S. 130 mit Verweis auf https://www.duden.de/rechtschreibung/ systemisch (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 403 von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (718).
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
3. Erfordernis der Rechtswegerschöpfung im primär verantwortlichen Mitgliedstaat Abschließend stellt sich die Frage, ob ein Eingreifen der grundrechtlichen Auffangverantwortung eines anderen Mitgliedstaats voraussetzt, dass der Betroffene im primär grundrechtsverantwortlichen Mitgliedstaat alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe erschöpft hat, um Abhilfe zu erreichen.404 Ein solches Erfordernis kann dazu beitragen, unnötige Konfrontationen zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden.405 In Fällen, in denen die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung in Frage steht, bei deren Erlass es zu einem Grundrechtsverstoß gekommen sein soll, sind die für Rechtsbehelfe zuständigen Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zudem die sachnäheren Gerichte, während die Gerichte im Anerkennungsstaat möglicherweise inzident über ausländisches Sach- oder Prozessrecht zu befinden hätten. Der Betroffene ist daher grundsätzlich vorrangig auf den nationalen Rechtsweg im primär grundrechtsverantwortlichen Mitgliedstaat zu verweisen. Von diesem Grundsatz sind aber Ausnahmen geboten. So kann das Gebot der Rechtswegerschöpfung keine Geltung beanspruchen, sofern der Verweis auf Rechtsschutz in dem anderen Mitgliedstaat dem Betroffenen angesichts der ihm drohenden Nachteile unzumutbar ist. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Betroffenen im Fall seiner Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung unter Verstoß gegen Art. 4 GRCh droht.406 Angesichts der Bedeutung der absoluten Garantie in Art. 4 GRCh darf der Betroffene nicht unter Verweis auf nachträglichen Rechtsschutz sehenden Auges der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat ausgesetzt werden. Eine weitere Ausnahme muss gelten, sofern im primär verantwortlichen Mitgliedstaat aufgrund besonderer Umstände kein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist.407 Insoweit ist vor einer Verweisung des Betroffenen auf den Rechtsschutz im primär zuständigen Mitgliedstaat zu prüfen, ob sich die festgestellten systemischen Defizite auch auf das Rechtsschutzsystem des betreffenden Mitgliedstaates erstrecken. 404
So Britz, JZ 2013, 105 (110); Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 160 ff.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 771 ff.; in diese Richtung auch EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010 – C-491/10 PPU, ECLI:EU:C:2010:828 Rn. 70 ff. – Aguirre Zarraga; Urt. v. 30. 05. 2013 – C-168/13 PPU, ECLI:EU:C:2013:358 Rn. 50 – Jeremy F.; Urt. v. 26. 09. 2013 – C-157/12, ECLI:EU:C:2013:597 Rn. 35 – Salzgitter Mannesmann Handel; Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 62 ff. – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni. 405 Britz, JZ 2013, 105 (110). 406 Vgl. EuGH, Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 80 f. – Dorobantu; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 72 ff. – ML. 407 Vgl. Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 163; Lübbe, NVwZ 2017, 674 (679); EuGH, Urt. v. 16. 07. 2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 Rn. 68 – Diageo Brands; Urt. v. 25. 05. 2016 – C-559/14, ECLI:EU:C:2016:349 Rn. 48 – Meroni.
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IV. Folgen bei Widerlegung der horizontalen Solange-Vermutung 1. Ausgangspunkt Liegen in einem Mitgliedstaat systemische Mängel in Bezug auf die Wahrung der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards vor, greift eine Ausnahme von dem aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Nachprüfungsverbot bei der horizontalen Zusammenarbeit. Die übrigen Mitgliedstaaten trifft eine grundrechtliche Auffangverantwortung, aufgrund derer sie verpflichtet sind, im Einzelfall zu prüfen, ob durch die horizontale Kooperation eine Verletzung der gemeinsamen Grundrechtsstandards durch den anderen Mitgliedstaat droht oder eine durch diesen Mitgliedstaat bereits bewirkte Grundrechtsverletzung vertieft würde.408 In diesem Fall ist die Zusammenarbeit abzulehnen. Wird der Mitgliedstaat dieser Auffangverantwortung nicht gerecht, begeht er – wie im Folgenden näher zu zeigen sein wird – durch die Erbringung seiner Kooperationsleistung eine eigene Grundrechtsverletzung. Diese Einzelfallprüfung entspricht der konkret-individuellen Prüfung auf der zweiten Stufe des vom EuGH ausgeformten Zwei-Stufen-Tests. Die übrigen Wirkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, etwa das Verbot, die horizontale Kooperation von der Wahrung weitergehender nationaler Standards abhängig zu machen und die wechselseitigen Kooperationspflichten, bleiben von der Widerlegung der Vermutung der gegenseitigen Grundrechtswahrung unberührt.409 Wie bereits gezeigt,410 handelt der Mitgliedstaat, der aufgrund sekundärrechtlicher Vorgaben zur Überstellung einer Person bzw. zur Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats verpflichtet ist, bei der Erfüllung dieser Kooperationspflicht regelmäßig in Durchführung des Unionsrecht. Er hat folglich im Einzelfall eine Grundrechtsprüfung anhand der Unionsgrundrechte vorzunehmen, wobei er materiell auf das gemeinsame unionsrechtliche Schutzniveau nach Art. 2 EUV beschränkt ist. Im Übrigen ist das Vorliegen einer Grundrechtsverletzung nach allgemeinen Grundsätzen zu prüfen. Im Folgenden sollen einige Fragen, die bei der vorzunehmenden Grundrechtsprüfung regelmäßig von Relevanz sind, überblicksartig beleuchtet werden.
408
A. A. Canor, in: von Bogdandy / Bogdanowicz / Canor / Grabenwarter / Taborowski / M. Schmidt, Defending Checks and Balances, S. 183 (203), die annimmt, dass die Kooperation bei Widerlegung der horizontalen Solange-Vermutung ohne weitere Einzelfallprüfung abzulehnen ist. 409 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 Rn. 87 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 66, 79 – Dorobantu; Anagnostaras, 53 CMLR 2016, 1675 (1687); Marin, 2 Eur. Papers 2017, 141 (146). 410 S. oben, → 3. Kapitel, § 2. C. II. 1.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
2. Eckpunkte zur Grundrechtsprüfung im Einzelfall a) Betroffenheit der Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion Zunächst stellt sich die Frage, ob die zu betrachtenden Konstellationen der abwehrrechtlichen Dimension oder der Schutzpflichtendimension411 der Grundrechte zuzuordnen sind. Dies wird insbesondere in Sachverhaltskonstellationen, in denen ein Mitgliedstaat in Anwendung des RbEuHb, der Dublin-Verordnungen oder der Brüssel II-Verordnungen über die Überstellung von Personen in einen anderen Mitgliedstaat zu entscheiden hat, unterschiedlich beurteilt. Mit Blick darauf, dass eine Verpflichtung des überstellenden Staates in Frage steht, den Betroffenen vor einer Grundrechtsverletzung durch einen anderen Mitgliedstaat zu schützen, ließe sich einerseits eine Schutzpflichtenkonstellation annehmen.412 Bei näherem Hinsehen erscheint diese Einordnung aber zweifelhaft, da es nicht darum geht, eine Person durch aktives Tun vor einer ihr durch eine fremde Staatsgewalt drohenden Grundrechtsverletzung zu schützen, sondern darum, dass der überstellende Staat die Person nicht durch eigenes Tun in eine schadensbegründende Situation bringen soll.413 Im Unterschied zu einer Schutzpflichtenkonstellation könnte sich die Grundrechtsverletzung durch den Zielstaat in Überstellungssituationen ohne die vorgelagerte Handlung des Aufenthaltsstaates gar nicht realisieren.414 Der Aufenthaltsstaat soll also nicht in erster Linie zur Schutzgewähr durch positives Tun verpflichtet werden, sondern vielmehr zum Unterlassen der Überstellung.415 Entsprechend knüpft der EuGH in seiner Rechtsprechung auch an die Verpflichtung der Mitgliedstaaten an, bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen von einer Überstellung „abzusehen“.416 Anders als im Fall einer Schutzpflicht, zu deren Erfüllung dem Staat üblicherweise eine Mehrzahl von Maßnahmen zur Auswahl
411 Ob den Unionsgrundrechten über die punktuell in der GRCh vorgesehenen Schutzgebote (z. B. Art. 1 Satz 2, Art. 30 GRCh) hinaus allgemein Schutzpflichten entnommen werden können, wird unterschiedlich beurteilt. Die wohl überwiegende Auffassung spricht sich für eine allgemeine Schutzpflichtenlehre aus, s. nur Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 33; Kühling, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches VerfassungsR, S. 657 (676); Suer baum, EuR 2003, 390; zweifelnd Müller-Graff, EuR 2006, Beiheft 1, 19 (30). 412 So Lührs, Überstellungsschutz, S. 61; K. Hailbronner, JZ 1995, 127 (137); Weinzierl, Flüchtlinge: Schutz und Abwehr in der erweiterten EU, S. 129. Vgl. auch Lorz / Sauer, EuGRZ 2010, 389 (392), die einräumen, dass die Situation „einer Schutzpflichtkonstellation ähnelt“, im Ergebnis aber dennoch eine Abwehrkonstellation annehmen. 413 Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 241; Gusy, Goltdammer’s Archiv 1983, 73 (79); Lübbe, NVwZ 2017, 674 (677). 414 Lorz / Sauer, EuGRZ 2010, 389 (392); T. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 104. 415 Lorz / Sauer, EuGRZ 2010, 389 (392); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 438. 416 EuGH, Urt. v. 25. 06. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 78 – LM; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 61 – L. u. P.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 101 – X. u. Y.
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steht,417 geht es hier von vornherein nur um das Unterlassen einer ganz bestimmten Maßnahme.418 All dies spricht für eine Einordnung als Abwehrkonstellation.419 An dieser Einordnung werden jedoch wiederum Zweifel geäußert mit der Begründung, dass die Überstellung an sich nicht das Problem sei und die Pflicht, sie zu unterlassen, primär dem Schutz vor einem Problem im Zielstaat diene.420 Teils werden diese Konstellationen deshalb auch als unauflösbare „dogmatische Zwitter“ beschrieben: Es handele sich weder um eine klare Schutzpflichtenkonstellation noch um eine klare Eingriffskonstellation.421 Auch wenn es sich um eine Sonderkonstellation handeln mag, ist im Ergebnis mit der wohl überwiegenden Auffassung eine abwehrrechtliche Einordnung vorzunehmen. Schutzpflichtkonstellation sind dadurch gekennzeichnet, dass grundrechtlich geschützte Rechtsgüter Eingriffen oder Gefährdungen nicht seitens der grundrechtsgebundenen öffentlichen Gewalt, sondern von Seiten nicht unmittelbar an die Grundrechte gebundener Dritter ausgesetzt sind.422 Es liegt eine Dreieckskonstellation zwischen dem Grundrechtsträger als Opfer, dem Dritten als Grundrechtsbeeinträchtiger und dem an der Grundrechtsbeeinträchtigung unbeteiligten Staat als Grundrechtsschützer vor.423 Der beeinträchtigende Dritte kann dabei entweder ein Privater oder eine fremde Hoheitsgewalt sein.424 Bei der Vornahme von Überstellungen im Dublin-System, der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls oder einer Rückführungsentscheidung nach den Brüssel II-Verordnungen befindet sich der überstellende Mitgliedstaat aber nicht in der Rolle eines an der Grundrechtsbeeinträchtigung unbeteiligten Dritten. Sein aufenthaltsbeendendes Handeln ist nicht neutral,425 sondern leistet einen Beitrag, der kausal für die Grundrechtsbeeinträchtigung durch den anderen Mitgliedstaat wird, und ohne
417
Aus deutscher Perspektive BVerfG, Beschl. v. 29. 10. 1987 – 2 BvR 624/83 u. a., BVerfGE 77, 170 (215); Beschl. v. 30. 11. 1988 – 1 BvR 1301/84, BVerfGE 79, 174 (202); Beschl. v. 20. 02. 2008 – 1 BvR 2272/06, NVwZ 2008, 780 Rn. 78; Calliess, in: Merten / Papier, Hb. d. Grundrechte Bd. 2, § 44 Rn. 26; Dreier, in: Dreier, GG Bd. I, Vorb. vor Art. 1 Rn. 103. 418 Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 438. 419 So Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 233 ff.; Gusy, Goltdammer’s Archiv 1983, 73 (79); Lorz / Sauer, EuGRZ 2010, 389 (392); T. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 104; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 437 f.; vgl. auch Gärditz, in: Grabenwarter, EnzEuR Bd. 2, § 6 Rn. 62. 420 Lübbe, NVwZ 2017, 674 (677). 421 Lübbe, NVwZ 2017, 674 (677). 422 Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 239 f.; Dreier, in: Dreier, GG Bd. I, Vorb. vor Art. 1 Rn. 103. 423 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 f.; ders., in: Isensee / Kirchhof, Hb. d. StR Bd. IX, § 191 Rn. 5; Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 240 f.; Dreier, in: Dreier, GG Bd. 1, Vorb. vor Art. 1 Rn. 103. 424 Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 236 ff.; Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 27 ff.; E. Klein, NJW 1989, 1633. 425 Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 241 f.; Gusy, Goltdammer’s Archiv 1983, 73 (79); T. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 104; a. A. Maaßen, Rechtsstellung des Asylbewerbers, S. 126 f.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
den die Grundrechtsbeeinträchtigung nicht eintreten könnte.426 Eine Differenzierung zwischen der Überstellungshandlung als einem vermeintlich neutralen Vorgang und der Grundrechtsverletzung durch den Zielstaat erscheint angesichts des klaren und für den handelnden Mitgliedstaat erkennbaren Kausalzusammenhangs künstlich.427 Kennzeichnend für Schutzpflichtkonstellationen ist zudem, dass ein positives Tun des grundrechtsverpflichteten Staates zum Schutz des Grundrechts erforderlich ist, während der Betroffene durch reines Nichthandeln der grundrechtsverpflichteten Hoheitsgewalt nichts gewinnen würde.428 In den vorliegend diskutierten Konstellationen reicht aber bereits ein Unterlassen der Überstellung um die drohende Grundrechtsbeeinträchtigung zu verhindern. Die Grundrechte sind also in ihrer Abwehrfunktion betroffen. Entsprechendes gilt über die besonders umstrittenen Überstellungskonstellationen hinaus auch für die Vollstreckung sonstiger Entscheidungen aus einem anderen Mitgliedstaat. b) Schutzbereich In sachlicher Hinsicht können durch die horizontale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten grundsätzlich alle grundrechtlichen Garantien des Unionsrechts betroffen sein. Zu beachten ist aber, dass die Prüfung auf den gemeinsamen Grundrechtsstandard nach Art. 2 EUV zu beschränken ist.429 Folglich sind nur die in Titel I, II, III und VI der Grundrechtecharta enthaltenen Grundrechtsgewährleistungen zu prüfen. Besondere praktische Relevanz haben die menschenwürdebezogenen Garantien (Art. 1–5 GRCh), die justiziellen Rechte (Art. 47–50 GRCh), das Recht auf Freiheit (Art. 6 GRCh), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRCh) und die Rechte des Kindes (Art. 24 GRCh). Bei der Definition des Schutzbereichs ist zudem zu beachten, dass der Schutzumfang des Art. 2 EUV sich im Fall relativer Grundrechtsgarantien nur auf deren Wesensgehalt erstreckt. Hinsichtlich des persönlichen Schutzbereichs ergeben sich keine Besonderheiten. Träger der Unionsgrundrechte sind grundsätzlich alle natürlichen Personen, unabhängig von ihrem Alter, ihrer Staatsangehörigkeit und ihren Fähigkeiten.430 Etwas anderes gilt nur, wenn die Gewährleistungen aufgrund ihres Schutzzwecks auf bestimmte Personengruppen beschränkt sind (z. B. Art. 24 GRCh) oder soweit einzelne Rechte ausdrücklich Unionsbürgern i. S. v. Art. 9 Satz 2 EUV, Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV vorbehalten sind (sog. Unionsbürgerrechte).431 Eine allge 426
T. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung, S. 104. So aber Maaßen, Rechtsstellung des Asylbewerbers, S. 126 f. 428 Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 240; E. Klein, NJW 1989, 1633; Dreier, in: Dreier, GG Bd. I, Vorb. vor Art. 1 Rn. 103; vgl. auch Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 21. 429 Hierzu ausführlich oben, → 3. Kapitel, § 2. C. II. 3. 430 Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 55; Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 49; Streinz, EuropaR, Rn. 788. 431 Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 55; Knoth / Seyer, JuS 2021, 928 (931). 427
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meine Regelung zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen enthält die GRCh – anders als das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 3 GG – nicht. Auf juristische Personen des Privatrechts findet die GRCh zunächst Anwendung, sofern einzelne Grundrechte dies explizit vorsehen. Bei Fehlen einer ausdrücklichen Regelung ist darauf abzustellen, ob die jeweilige Gewährleistung ihrem Wesen nach auch auf juristische Personen und nicht nur auf natürliche Personen zugeschnitten ist.432 Inwieweit auch juristische Personen des öffentlichen Rechts und staatlich beherrschte juristische Personen Träger der Chartagrundrechte sind, ist nicht abschließend geklärt. Jedenfalls die Verfahrensgewährleistung des Art. 41 GRCh und die justiziellen Garantien der Art. 47 ff. GRCh gelten auch für diese.433 Im Übrigen liegt es nahe, wie im deutschen Recht auf das Bestehen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage abzustellen.434 c) Eingriff Ein Grundrechtseingriff ist die Verkürzung des grundrechtlichen Schutzbereichs durch einen Grundrechtsverpflichteten.435 Der EuGH geht von einem weiten Eingriffsbegriff aus, der neben unmittelbaren Eingriffen auch mittelbare Wirkungen hoheitlichen Handelns erfasst, sofern sie „eine hinreichend direkte und bedeutsame Auswirkung“ 436 auf das grundrechtliche Schutzgut zeitigen.437 Erfolgt die horizontale Zusammenarbeit trotz einer Verletzung elementarer grundrechtlicher Gewährleistungen durch den anderen Mitgliedstaat, stellt die Erbringung der Kooperationsleistung (z. B. die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls) einen eigenständigen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen dar.438 Steht eine Ablehnung der horizontalen Zusammenarbeit wegen drohender Grundrechtsverletzungen durch einen anderen Mitgliedstaat in Frage, besteht die Besonderheit, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung noch keine Beeinträchtigung 432 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 53; Pache, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 8; Streinz, EuropaR, Rn. 788. 433 EuGH, Urt. v. 18. 02. 2016 – C-176/13 P, ECLI:EU:C:2016:96 Rn. 49 – Rat / Bank Mellat; Knoth / Seyer, JuS 2021, 928 (931); A. Schwerdtfeger, in: Meyer / Hölscheidt, GRCh, Art. 51 Rn. 61; vgl. auch schon EuGH, Urt. v. 02. 12. 2009 – C-89/08 P, ECLI:EU:C:2009:742 Rn. 50 ff. – Kommission / Irland; Urt. v. 12. 02. 1992 – C-48/90 u. C-66/90, ECLI:EU:C:1992:63 Rn. 40 ff. – Niederlande u. a. / Kommission. 434 Knoth / Seyer, JuS 2021, 928 (931); Pache, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 9; Streinz, EuropaR, Rn. 788. 435 Bühler, Einschränkung von Grundrechten, S. 72; Haratsch / Koenig / Pechstein, EuropaR, Rn. 669; Gärditz, in: Grabenwarter, EnzEuR Bd. 2, § 6 Rn. 54. 436 EuGH, Urt. v. 23. 09. 2004 – C-435/02, C-103/03, ECLI:EU:C:2004:552 Rn. 49 – Springer; vgl. auch EuGH, Urt. v. 30. 07. 1996 – C-84/95, ECLI:EU:C:1996:312 Rn. 22 f. – Bosphorus. 437 Bühler, Einschränkung von Grundrechten, S. 72 ff.; Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 98; Gärditz, in: Grabenwarter, EnzEuR Bd. 2, § 6 Rn. 59; Knoth / Seyer, JuS 2020, 928 (931). 438 Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 160.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
einer grundrechtlichen Rechtsposition durch den anderen Mitgliedstaat eingetreten ist. Die Vornahme der Kooperationshandlung hätte in dieser Konstellation angesichts verbleibender tatsächlicher Unsicherheiten über die zukünftige Grundrechtswahrung durch den anderen Mitgliedstaat unmittelbar „nur“ eine Grundrechtsgefährdung zur Folge. Auch Grundrechtsgefährdungen sind aber unter bestimmten Voraussetzungen bereits als Grundrechtseingriff zu werten.439 Entscheidende Parameter sind insoweit die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie Art und Rang des geschützten Rechtsguts.440 Handelt es sich um ein fundamentales Rechtsgut und ist die drohende Beeinträchtigung nicht rückgängig zu machen, muss bereits eine ernsthafte Gefährdung des Schutzguts ausreichen.441 Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegend diskutierte Konstellation ist zu beachten, dass die Grundrechtsprüfung bei der Entscheidung über die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat ohnehin auf grundrechtliche Kerngarantien beschränkt ist. Hinzukommt, dass der überstellende Mitgliedstaat nach der Vornahme der Überstellung keine reelle Möglichkeit mehr hat, auf die Beseitigung einer etwaigen Grundrechtsverletzung hinzuwirken. Demnach dürfte es notwendig, aber auch hinreichend sein, wenn im Einzelfall ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die echte Gefahr einer Verletzung der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards durch den anderen Mitgliedstaat sprechen.442 d) Rechtfertigung Liegt ein Eingriff in eine der von Art. 2 EUV umfassten grundrechtlichen Kerngarantien vor, ist zugleich eine Grundrechtsverletzung gegeben. Eine Rechtfertigung scheidet sowohl bei der Verletzung absoluter Rechte als auch bei einer Berührung des Wesensgehalts eines relativen Grundrechts (Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh) aus. Der um Kooperation ersuchte Mitgliedstaat hat die Zusammenarbeit abzulehnen bzw. im Bereich des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems von einer Überstellung der Person in den betroffenen Mitgliedstaat Abstand zu nehmen. 439
BVerfG, Beschl. v. 18. 02. 2010 – 2 BvR 2502/08, NVwZ 2010, 702 Rn. 12; Hillgruber, in: Isensee / Kirchhof, Hb. d. StR Bd. IX, § 200 Rn. 94; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Vorb. zu Art. 1 Rn. 28, Art. 2 Rn. 106; Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 306 f. Mit dogmatischer Einordnung als Frage des Schutzbereichs im Ergebnis ebenso Burchard, Konstitutionalisierung, S. 619. 440 BVerfG, Beschl. v. 03. 10. 1979 – 1 BvR 614/79, BVerfGE 52, 214 (220); Beschl. v. 18. 02. 2010 – 2 BvR 2502/08, NVwZ 2010, 702 Rn. 12; Hillgruber, in: Isensee / Kirchhof, Hb. d. StR Bd. IX, § 200 Rn. 94; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 106; Cremer, Schutz vor Auslandsfolgen, S. 307. 441 Hillgruber, in: Isensee / Kirchhof, Hb. d. StR Bd. IX, § 200 Rn. 94. 442 So im Ergebnis auch EuGH, Urt. v. 21. 10. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI: EU:C:2011:865 Rn. 94 – N. S. u. a.; Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI: EU:C:2016:198 Rn. 94 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI: EU:C:2018:586 Rn. 68 – LM; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 441.
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V. Sonderfall: Beschlüsse nach Art. 7 EUV Auch das Verfahren nach Art. 7 EUV zum Schutz der Grundwerte der EU dient der Feststellung und Sanktionierung von Verletzungen der gemeinsamen Werte in Art. 2 EUV. Es fragt sich deshalb, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Art. 7 EUV-Verfahren gegenüber einem Mitgliedstaat zugleich zu einer Wider legung der horizontalen Solange-Vermutung443 im Verhältnis zu diesem Mitgliedstaat führt. Art. 7 EUV sieht ein dreistufiges Verfahren vor, an dessen Ende die Einschränkung bestimmter Mitgliedschaftsrechte steht. Dem eigentlichen Sanktions- bzw. Suspendierungsverfahren ist nach Art. 7 Abs. 1 EUV auf erster Stufe ein Frühwarnverfahren- bzw. Präventionsmechanismus vorgelagert.444 Hierzu bestimmt Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 EUV, dass der Rat auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen kann, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der betroffene Mitgliedstaat stimmt bei der Abstimmung im Rat – wie auch im weiteren Verfahren nach Art. 7 AEUV – nicht mit (Art. 354 Abs. 1 AEUV). Bevor der Rat eine solche Feststellung trifft, hat er den betroffenen Mitgliedstaat anzuhören. Er kann zudem Empfehlungen an den Mitgliedstaat richten (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV). Dieser ersten Verfahrensstufe kommt in erster Linie eine Warnfunktion zu; dem betroffenen Mitgliedstaat soll frühzeitig der Ernst der Lage verdeutlicht werden.445 In materieller Hinsicht setzt eine entsprechende Feststellung des Rates das Vorliegen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat voraus.446 Eine Verletzung der gemeinsamen Werte muss also noch nicht eingetreten sein, aber bei unveränderter Lage in absehbarer Zeit bevorstehen.447 Entsprechend kann von einem Beschluss des Rates nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 EUV nicht automatisch auf das Vorliegen systemischer Mängel in Bezug auf die Wahrung der gemeinsamen Grundrechtsstandards geschlossen werden. Das Vorliegen 443
Begriff erstmals bei Canor, ZaöRV 2013, 249. Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (133); Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 1, 6; Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (43); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (570). 445 Becker, in: Schwarze / Becker / Hatje / Schoo, EU-Kommentar, Art. 7 EUV Rn. 2, 4; Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 6; Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 59; Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 4, 6. 446 Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 6, 7 ff.; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 10; Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 21. 447 Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 10; Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 7. 444
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eines solchen Beschlusses führt daher nicht automatisch zu einer Widerlegung der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Solange-Vermutung. Dies gilt erst recht, sofern noch kein Ratsbeschluss ergangen ist und lediglich ein begründeter Vorschlag des Parlaments, der Kommission oder eines Drittels der Mitgliedstaaten vorliegt. Ein Beschluss des Rats nach Art. 7 Abs. 1 EUV oder ein begründeter Vorschlag eines initiativberechtigten Organs sowie die darin in Bezug genommenen Dokumente sind aber bei der Prüfung, ob in einem Mitgliedstaat systemische Mängel bezüglich der gemeinsamen Mindeststandards bestehen, als zentrales Indiz zu berücksichtigten.448 Das eigentliche Sanktionsverfahren ist in Art. 7 Abs. 2–4 EUV geregelt. Auf der zweiten Stufe kann der Europäische Rat auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt (Art. 7 Abs. 2 EUV). Anders als im Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 EUV reicht hier nicht das Vorliegen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der gemeinsamen Werte aus, sondern es muss tatsächlich eine Verletzung eingetreten sein.449 Wurde die Feststellung nach Art. 7 Abs. 2 EUV getroffen, kann der Rat auf der dritten Stufe mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Mitgliedschaftsrechte des betroffenen Staates auszusetzen (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 1 EUV). Liegen die Voraussetzungen für einen Ratsbeschluss nach Art. 7 Abs. 2 EUV vor, sind zugleich die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom horizontalen Solange-Vorbehalt450 erfüllt. Hat der Europäische Rat einen entsprechenden Feststellungsbeschluss gegenüber einem Mitgliedstaat gefasst, ist die Solange-Vermutung daher im Verhältnis zu diesem Mitgliedstaat als widerlegt anzusehen und die übrigen Mitgliedstaaten sind verpflichtet, ihre grundrechtliche Auffangverantwortung auszuüben.451 Daraus folgt aber nicht, dass eine Kooperation mit diesem Mitgliedstaat in jedem Einzelfall automatisch abzulehnen ist.452 Vielmehr ist ungeachtet eines Feststellungsbeschlusses nach Art. 7 Abs. 2 EUV stets auf der zweiten Stufe konkret-individuell zu prüfen, ob im Einzelfall eine Verletzung der gemeinsamen Grundrechtsstandards droht. Auch schwerwiegende 448
EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 34, 61 – LM; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 52 – L. u. P.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-562/21 PPU u. C-563/21 PPU, ECLI:EU:C:2022:100 Rn. 78 – X. u. Y.; Wendel, EuR 2019, 111 (130); von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (723). 449 Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 16; Pechstein, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 12. 450 Begriff erstmals bei Canor, ZaöRV 2013, 249. 451 Umgekehrt gilt dieser Automatismus nicht, d. h. aus einem Vorliegen systemischer Defizite in Bezug auf die gemeinsamen grundrechtlichen Standards in einem bestimmten Sachbereich kann nicht auf das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des Art.7 Abs. 2 EUV geschlossen werden, vgl. Canor, ZaöRV 2013, 249 (268). 452 A. A. Kullak, Vertrauen in Europa, S. 173; Canor, in: von Bogdandy / Bogdanowicz / Canor / Grabenwarter / Taborowski / M. Schmidt, Defending Checks and Balances, S. 183 (193 f.).
§ 2 Grundrechtliche Grenzen der Legalitätsvermutung
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und anhaltende Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Werte müssen sich nicht zwingend in jedem Einzelfall manifestieren.453 Kommt der Betroffene mit der fehlerhaften Struktur nicht in Berührung, gebietet der Schutz der Grundrechte des Einzelnen keine Verweigerung der Zusammenarbeit. Eine generelle Aussetzung eines sekundärrechtlichen Kooperationsinstruments soll nach der Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Haftbefehl nur dadurch bewirkt werden können, dass der Rat im Anschluss an die Feststellung nach Art. 7 Abs. 2 EUV die Anwendung des Rahmenbeschlusses gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat aussetzt.454 Auf welche Rechtsgrundlage der EuGH diese Aussetzungsbefugnis des Rates stützt, wird nicht vollständig klar. Daraus, dass der Gerichtshof in der Herleitung dieses Ergebnisses auf Art. 7 Abs. 3 EUV Bezug nimmt,455 könnte man schließen, dass er die Rechtsgrundlage für einen Aussetzungsbeschluss in Art. 7 Abs. 3 EUV sieht. Das erscheint aber kaum tragbar, da Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 EUV „nur“ die Aussetzung von „Rechten (…), die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten“, ermöglicht. Darunter fallen sämtliche Teilhaberechte (z. B. Vorschlagsrecht, Rede- und Teilnahmerechte, Stimmrechte), die sich aus dem EUV und dem AEUV ergeben, nicht aber die Aussetzung sekundärrechtlicher Rechtsinstrumente.456 Denkbar wäre auch, dass der Gerichtshof die Aussetzungsbefugnis dem zehnten Erwägungsgrund des RbEuHb entnimmt, wonach die Anwendung des Mechanismus ausgesetzt werden darf, „wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze [jetzt: Art. 2 EUV] durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom [Europäischen] Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 [jetzt: Art. 7 Abs. 2 EUV] des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 [jetzt: Art. 7 Abs. 3 EUV] festgestellt wird“. Auch diese Herleitung wäre aber erheblichen Zweifeln ausgesetzt, da Erwägungsgründen kein normativer, regelnder Charakter zukommt, sondern es sich bloß um politische Herleitungen und Zielsetzungen handelt.457 Richtigerweise wird eine vollständige Aussetzung horizontaler Kooperationsinstrumente in Anknüpfung an einen Feststellungsbeschluss des Europäischen Rates nach Art. 7 Abs. 2 EUV nur in Betracht kommen, wenn das jeweilige Kooperationsinstrument ein entsprechendes Aussetzungsverfahren vorsieht. 453
Vgl. EuGH, Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 42 – L. u. P.; Kopowski, Grenzen der gegenseitigen Anerkennung, S. 154. 454 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 72 – LM; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 57 f. – L. u. P.; GA Emiliou, Schlussanträge vom 04. 05. 2023 – C-819/21, ECLI:EU:C:2023:386 Rn. 64; so auch Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (130 f.). 455 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 72 – LM; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 57 – L. u. P. 456 Vgl. Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 28; Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 43; a. A. Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (130 f.). 457 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 371.
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
VI. Ergebnis Aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgt ein horizontaler SolangeVorbehalt458 für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Solange in den Mitgliedstaaten keine systemischen Defizite in Bezug auf die grundrechtlichen Mindeststandards, die den Mitgliedstaaten nach Art. 2 EUV gemein sind und die die Grundlage der horizontalen Kooperation bilden, bestehen, sind die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet, bei der horizontalen Zusammenarbeit von einer Prüfung der Grundrechtskonformität der Hoheitsakte der übrigen Mitgliedstaaten abzusehen. Als systemisch sind solche Defizite anzusehen, die das Rechtssystem eines Mitgliedstaats oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb regelhaft und vorhersehbar zu Rechtsverletzungen führen. Zeigen sich in einem Mitgliedstaat systemische Defizite bezüglich der Wahrung der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards, gilt die Vermutung als widerlegt. Die übrigen Mitgliedstaaten trifft bei Widerlegung der Vertrauensvermutung eine grundrechtliche Auffangverantwortung, aufgrund derer sie verpflichtet sind, im Einzelfall zu prüfen, ob durch die horizontale Kooperation eine Verletzung der gemeinsamen Grundrechtsstandards droht oder eine in dem anderen Mitgliedstaat bereits eingetretene Grundrechtsverletzung vertieft würde. Wird der Mitgliedstaat dieser Auffangverantwortung nicht gerecht, begeht er durch die Erbringung seiner Kooperationsleistung eine eigene Grundrechtsverletzung.
§ 3 Weitere Ausnahmetatbestände Im Fokus des vorhergehenden Abschnitts stand die Frage, wann die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Vermutung, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Unionsgrundrechte wahren, wegen Grundrechtsverletzungen in einem anderen Mitgliedstaat erschüttert ist. Im Folgenden soll untersucht werden, ob die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Legalitätsvermutung darüber hinaus weiteren Grenzen unterliegt und falls ja, in welchen weiteren Konstellationen die Mitgliedstaaten von der Vermutung der wechselseitigen Rechtswahrung Abstand nehmen dürfen und müssen.
A. Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH hat in verschiedenen Sachbereichen weitere Ausnahmen vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens anerkannt.
458
Begriff erstmals bei Canor, ZaöRV 2013, 249.
§ 3 Weitere Ausnahmetatbestände
253
I. Europäisches Sozialversicherungsrecht Die Frage nach den Grenzen des gegenseitigen Vertrauens stellte sich im europäischen Sozialversicherungsrecht im Zusammenhang mit fehlerhaften Entsendebescheinigungen für Arbeitnehmer. Wie schon bei der Untersuchung der Referenzgebiete gezeigt, unterliegen Arbeitnehmer nach den sekundärrechtlichen Regelungen der VO (EWG) 1408/71 bzw. der Nachfolgeregelung VO (EG) 883/2004 grundsätzlich dem Sozialversicherungsrecht desjenigen Staates, in dem sie tätig sind.459 Bei Arbeitnehmern, die nur temporär in einen anderen Mitgliedstaat entsendet werden, kann es der Arbeitgeber aber unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise bei der Anmeldung im Sozialversicherungssystem des ersten Mitgliedstaates belassen. Hierüber stellt der zuständige Sozialversicherungsträger des ersten Mitgliedstaats eine Bescheinigung aus, die sog. Entsendebescheinigung A 1 (früher: Entsendebescheinigung E 101). Die Entsendebescheinigung entfaltet für die Sozialversicherungsbehörden des Mitgliedstaats, in den der Arbeitnehmer entsendet wird, grundsätzlich Bindungswirkung mit der Folge, dass sie den betroffenen Arbeitnehmer nicht ihrem eigenen Sozialversicherungssystem unterstellen dürfen.460 In der Praxis stellt sich jedoch immer wieder die Problematik fehlerhafter oder mitunter betrügerisch erlangter Entsendebescheinigungen. Der EuGH hatte deshalb bereits mehrfach über die Frage nach den Grenzen der Bindungswirkung ausgestellter Bescheinigungen und damit zugleich über die Grenzen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zu entscheiden. Der EuGH betont in mittlerweile gefestigter Rechtsprechung, dass die Entsendebescheinigung mit Blick auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten die Vermutung begründet, dass der Anschluss des betreffenden Arbeitnehmers an das Sozialversicherungssystem des Mitgliedstaates, der die Bescheinigung ausgestellt hat, ordnungsgemäß ist.461 Solange die Entsendebescheinigung vom Ausstellungsmitgliedstaat nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, seien die Behörden und Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer seine Arbeit ausführt, daher grundsätzlich an diese gebunden.462 Dies gilt nach S. ausführlich oben, → 1. Kapitel, § 1. A. II. 2. EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 39 ff. – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 94 – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 62 f. – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 40 f. – Bouygues travaux public u. a. 461 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 39 f. – Altun u. a.; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 62 – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 40 – Bouygues travaux public u. a. 462 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 39, 41 – Altun u. a.; Urt. v. 06. 09. 2018 – C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669 Rn. 46 – Alpenrind u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 94 f. – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 63 –CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 40 f. – Bouygues travaux public u. a. 459 460
254
3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Auffassung des Gerichtshofs selbst im Fall einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der Bescheinigung.463 Bei Zweifeln an der Richtigkeit der Bescheinigung müsse sich der Mitgliedstaat, in dem der Arbeitnehmer tätig ist, an die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats wenden. Diese seien nach dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit verpflichtet, zu überprüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und die Bescheinigung ggfs. zurückzuziehen.464 Führe dies zu keinem Ergebnis, könnten sich die betreffenden Mitgliedstaaten an eine sekundärrechtlich vorgesehene europäische Verwaltungskommission wenden und, wenn es dieser nicht gelingt, zwischen den Standpunkten der Mitgliedstaaten zu vermitteln, ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV einleiten.465 Seit der Entscheidung Altun erkennt der Gerichtshof aber an, dass die Bindungswirkung der Entsendebescheinigung nicht absolut gelten kann. Eine Grenze sieht er in Fällen erreicht, in denen Entsendebescheinigungen auf betrügerische oder missbräuchliche Weise erlangt wurden. Nehme der ausstellende Mitgliedstaat Entsendebescheinigungen trotz konkreter Beweise dafür, dass diese betrügerisch oder rechtsmissbräuchlich erlangt wurden, nicht zurück, so könne der Mitgliedstaat, in den die Arbeitnehmer entsandt wurden, diese ausnahmsweise außer Acht lassen.466 Abgesehen von Fällen des Betrugs oder des Rechtsmissbrauchs könne der Aufnahmemitgliedstaat eine Entsendebescheinigung aber nicht für ungültig erklären, da sonst das auf der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Sozialversicherungsträgern beruhende System gefährdet sei.467 Der EuGH stellt also auch im Bereich der Arbeitnehmerentsendung recht hohe Hürden für eine Widerlegung des Vertrauensgrundsatzes auf. Eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch den ausstellenden Staat soll die wechselseitige Legalitätsvermutung selbst bei offensichtlicher Fehlerhaftigkeit der Entsendebescheinigung nicht erschüttern können. Eine Grenze soll aber erreicht sein, wenn der ausstellende Mitgliedstaat die Bescheinigung trotz klarer Beweise für betrügerisches oder rechtsmissbräuchliches Verhalten seitens des Arbeitgebers nicht zurücknimmt. Zwar ist dem Ausstellungsstaat das betrügerische oder rechtsmissbräuchliche Handeln Privater an sich nicht unmittelbar zurechenbar. Hält ein Mitgliedstaat aber in 463 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 46 f. – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 93 – Kommission / Belgien; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 42 – Bouygues travaux public u. a.; Regan, duE 2018, 231 (242). 464 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 42 f. – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 88 f. – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 64 – CRPNPAC. 465 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 44 f. – Altun u. a.; Urt. v. 06. 09. 2018 – C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669 Rn. 60 – Alpenrind u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 91 f. – Kommission / Belgien. 466 EuGH, Urt. v. 06. 02. 2018 – C-359/16, ECLI:EU:C:2018:63 Rn. 54 f., 61 – Altun u. a.; Urt. v. 11. 07. 2018 – C-356/15, ECLI:EU:C:2018:555 Rn. 100 f. – Kommission / Belgien; Urt. v. 02. 04. 2020 – C-370/17 u. C-37/18, ECLI:EU:C:2020:260 Rn. 78 – CRPNPAC; Urt. v. 14. 05. 2020 – C-17/19, ECLI:EU:C:2020:379 Rn. 43 – Bouygues travaux public u. a. 467 EuGH, Urt. v. 06. 09. 2018 – C-527/16, ECLI:EU:C:2018:669 Rn. 46 – Alpenrind u. a.
§ 3 Weitere Ausnahmetatbestände
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Kenntnis dieser Umstände an den ausgestellten Bescheinigungen fest, ist das Verhalten des Privaten auch ihm zuzurechnen. Die Entscheidung scheint grundsätzlich auf andere Konstellationen übertragbar, in denen die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Entscheidungen und Bescheinigungen anderer Mitgliedstaaten auf Grundlage der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens anzuerkennen.468 II. Bevorstehender Austritt eines Mitgliedstaats Die Frage nach einer Erschütterung des Vertrauensgrundsatzes stellte sich auch mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und dem damaligen Noch-Mitgliedstaat Großbritannien in der Phase zwischen der Mitteilung der Austrittsabsicht und dem endgültigen Austritt. Der EuGH war in einem Vorabentscheidungsverfahren mit der Frage konfrontiert, ob die Vermutung, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Unionsgrundrechte wahren, bei der Entscheidung über Überstellungen nach dem RbEuHb als widerlegt gelten muss, wenn ein Mitgliedstaat seine Absicht mitgeteilt hat, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten.469 Zwar finden das Unionsrecht und folglich auch der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Verhältnis zu dem austrittswilligen Mitgliedstaat bis zu seinem tatsächlichen Austritt weiter Anwendung (vgl. Art. 50 Abs. 3 EUV).470 In Bezug auf den Europäischen Haftbefehl stellt sich aber die Problematik, dass die zu überstellende Person sich bei der Verurteilung zu einer längeren Haftstrafe auch über den Zeitpunkt des endgültigen Austritts hinaus noch in dem ehemaligen Mitgliedstaat in Haft befinden wird, sich dort nach dem Austritt aber nicht mehr auf die unionsrechtlichen Garantien berufen kann. Der Gerichtshof nahm in seiner Entscheidung auf die bekannte Formel Bezug, wonach eine Beschränkung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ in Betracht komme.471 Die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, könne als solche nicht als außergewöhnlicher Umstand angesehen werden, der die übrigen Mitgliedstaaten berechtigt, von einer Überstellung in den austrittswilligen Mitgliedstaat abzusehen.472 Der überstellende Mitgliedstaat habe aber zu prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die ein Europä 468
Epiney, NVwZ 2021, 1503 (1511). EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 – RO. Besprechung bei Hummer, EuR 2018, 653 (669 ff.). 470 EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 45 – RO; Urt. v. 23. 01. 2019 – C-661/17, ECLI:EU:C:2019:53 Rn. 80 – M. A. u. a. S. hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. A. II. 471 EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 39 – RO. 472 EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 48 – RO; bestätigt in Urt. v. 23. 01. 2019 – C-661/17, ECLI:EU:C:2019:53 Rn. 82 – M. A. u. a. 469
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
ischer Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsstaates der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihre Grundrechte und die ihr nach dem RbEuHb nach der Übergabe zustehenden Rechte nicht mehr gewahrt werden.473 Maßgeblich sei, ob das nationale Recht des Ausstellungsmitgliedstaates den Inhalt dieser Rechte auch nach seinem Austritt aus der Union voraussichtlich weiter gewährleisten werde.474 Diese Annahme sei insbesondere dann zulässig, wenn der Mitgliedstaat seine Beteiligung an internationalen Übereinkommen wie der EMRK oder dem Auslieferungsübereinkommen des Europarats ungeachtet seines Austritts aufrechterhält.475 Nur bei Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte, die auf den Beweis des Gegenteils hinauslaufen, dürfe die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern.476 Auch wenn der Gerichtshof rhetorisch an der Geltung des Vertrauensgrundsatzes festhält, schwächt er die Anforderungen an die Widerlegung der Vermutung mit Blick auf den bevorstehenden Austritt deutlich ab.477 Die vollstreckende Justizbehörde hat unabhängig vom Vorliegen systemischer Mängel zu prüfen, ob das von der GRCh und dem RbEuHb gewährleistete Schutzniveau nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats unterschritten wird und die Auslieferung bei Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte hierfür zu verweigern. Damit trägt der EuGH der durch die Mitteilung der Austrittsabsicht geschaffenen Unsicherheit Rechnung, ob und wie lange die in Art. 2 EUV normierten Prinzipien, die das Fundament der vertrauensbasierten Kooperation bilden, im Zielstaat nach dem Austritt noch Geltung beanspruchen. Diese Unsicherheit erschüttert die Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens zwischen dem austrittswilligen Mitgliedstaat und den übrigen Mitgliedstaaten.478 III. Zwischenfazit Der Gerichtshof hat seine Formel, wonach die Vermutung, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht achten, nur vorbehaltlich „außergewöhnlicher Umstände“ gilt, auch auf Fälle übertragen, in denen zwar keine systemischen Defizite in Bezug auf die Wahrung grundrechtlicher Gewährleistungen erkennbar sind, die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Legalitätsvermutung aber aus anderen Gründen erschüttert sein könnte. Inhaltliche Rückschlüsse auf mögliche Ausnahmen lassen sich aus dieser Formel aber kaum ableiten. Der Gerichtshof 473
EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 49 – RO. EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 61 – RO. 475 EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 61 – RO. 476 EuGH, Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 61 – RO. 477 Mancano, 40 YEL 2021, 475 (508); vgl. K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 685 f. 478 Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 36 f.; dies., in: Ahmed / Fahey, On Brexit. Law, Justices and Injustices, S. 175 (179 ff.). 474
§ 3 Weitere Ausnahmetatbestände
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hat bislang in zwei Fallgruppen eine Beschränkung der Vertrauensvermutung anerkannt: Mit Blick auf betrügerisch oder rechtsmissbräuchlich erlangte Arbeitnehmerentsendebescheinigungen, die ein Mitgliedstaat trotz besseren Wissens nicht zurücknimmt, sowie im Fall des bevorstehenden Austritts eines Mitgliedstaats, soweit es um die Zeit nach dem Austritt geht. Eine klare dogmatische Herleitung dieser Ausnahmen lässt die Rechtsprechung jedoch vermissen.
B. Entwicklung allgemeiner Grundsätze Die Grenzen der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung sind über die Fallgruppe defizitärer Grundrechtsstandards hinaus allgemein in Anknüpfung an Art. 2 EUV zu bestimmen.479 Nicht nur die von Art. 2 EUV umfassten grundrechtlichen Mindeststandards, sondern die Wahrung der gemeinsamen Grundwerte in ihrer Gesamtheit bildet die unabdingbare Grundlage für die auf gegenseitigem Vertrauen beruhende horizontale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Dies gilt insbesondere für die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien.480 Die oben zu den grundrechtlichen Grenzen der Vertrauensvermutung entwickelten Grundsätze sind daher entsprechend auf die sonstigen Werte des Art. 2 EUV zu übertragen. (Nur) solange in einem Mitgliedstaat keine systemischen Defizite in Bezug auf die gemeinsamen Werte nach Art. 2 EUV bestehen, sind die übrigen Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet, im Rahmen der horizontalen Zusammenarbeit von einer Nachprüfung des hoheitlichen Handelns der übrigen Mitgliedstaaten abzusehen. Dieser Ansatz vermag auch zu erklären, warum der EuGH die Legalitätsvermutung in Fällen erschüttert sieht, in denen Mitgliedstaaten in Kenntnis rechtsmissbräuchlichen oder betrügerischen Verhaltens Privater an ausgestellten Entsendebescheinigungen festhalten. Ein solches Vorgehen zeigt systemische Defizite in Bezug auf die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze im Ausstellungsstaat auf.481 Entsprechendes muss in Fällen gelten, in denen ein Mitgliedstaat selbst in rechtsmissbräuchlicher Art und Weise von einem auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhenden sekundärrechtlichen Kooperationsinstrument Gebrauch macht.482 Einen Sonderfall, auf den sich die allgemeinen Grundsätze nicht ohne Weiteres übertragen lassen, bildet die Zusammenarbeit mit einem Mitgliedstaat, der gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV seine Absicht mitgeteilt hat, aus der EU auszutreten. Mit dem 479
Vgl. Kullak, Vertrauen in Europa, S. 174 ff. Zum Wert der Rechtsstaatlichkeit s. bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. C. II. 3. b) dd). 481 Vgl. Epiney, NVwZ 2021, 1503 (1511). 482 Vgl. Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (380 f.); Eisele, in: GS Vogel, S. 221 (231). Für einen allgemeinen Missbrauchsvorbehalt bei der Anerkennung und Vollstreckung Europäischer Haftbefehle auch Burchard, in: Böse, EnzEuR Bd. 11, § 14 Rn. 84. 480
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3. Kap.: Grenzen der Legalitätsvermutung
Austritt entfällt die Bindung an die gemeinsamen Grundwerte des Art. 2 EUV und damit die Geschäftsgrundlage für die vertrauensbasierte horizontale Kooperation. Diesem Umstand ist in Sachverhalten, in denen die Wirkungen der horizontalen Kooperation über den Zeitpunkt des Austritts hinausreichen, bereits in der Phase zwischen der Mitteilung der Austrittsabsicht und dem endgültigem Austritt Rechnung zu tragen. Entsprechend können die verbleibenden Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit in solchen Konstellationen unabhängig vom Vorliegen systemischer Defizite bereits dann verweigern, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass dem Betroffenen die von Art. 2 EUV gewährleisteten Mindestgarantien nach dem Austritt genommen werden.
4. Kapitel
Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise § 1 Hinführung und Fragestellung Die mitgliedstaatliche Zusammenarbeit auf Grundlage des Vertrauensgrundsatzes sieht sich in jüngerer Zeit durch verschiedene krisenhafte Entwicklungen, die sich unter dem Schlagwort der sog. „Polykrise“ der Union zusammenfassen lassen, mit ernsten Herausforderungen konfrontiert.1 Es ist eine eigenartige Doppelbewegung zu beobachten: Während der EuGH die grundlegende Bedeutung eines normativ verstandenen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten betont und den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erst in jüngerer Zeit schrittweise als ein universelles Verfassungsprinzip des Unionsrechts erkannt und konturiert hat, scheint in der Rechtsanwendungspraxis die Grundlage für das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu schwinden.2 Diese Entwicklungen können bei der wissenschaftlichen Untersuchung des Vertrauensgrundsatzes nicht ausgeblendet werden. Im Folgenden werden deshalb die Auswirkungen analysiert, die die multiplen Krisen der Union auf die vertrauensbasierte horizontale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zeitigen (→ § 2). Es lässt sich eine „Vertrauenskrise“ zwischen den Mitgliedstaaten ausmachen, die zu Umsetzungs- und Vollzugsdefiziten in der mitgliedstaatlichen Kooperation und einer Fragmentierung des europäischen Rechtsraums führt. Auf Grundlage dieses Befundes werden Wege für eine Effektuierung der vertrauensbasierten Zusammenarbeit in der gegenwärtigen Krise der Union gesucht (→ § 3).
1 Mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeitskrise von Bogdandy, EuR 2017, 487 (499); ders., 14 EuConst 2018, 675 (687); ders., in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 23 (25); Vocks, Bausteine supranationaler Gerichtskooperation, S. 213 spricht von einer „existenzielle[n] Gefährdung“. 2 Bieber, in: Epiney, Die Schweiz und die europäische Integration, S. 37 (38); Ladenburger, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (165); Weller, 35 NIPR 2017, 1 (3).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
§ 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise A. Die Polykrise der Union Vor einer Analyse der Auswirkungen auf die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes gilt es, den Begriff der Polykrise zu definieren und die für den vorliegenden Kontext relevanten Problemfelder herauszuarbeiten. I. Begriff Den Begriff der Polykrise der Union prägte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in verschiedenen öffentlichen Äußerungen zur Lage der Union im Jahr 2016.3 Er steht für eine Vielzahl schwerwiegender, teils ineinander verschränkter Krisen, mit denen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten gegenwärtig konfrontiert sehen bzw. in jüngerer Vergangenheit konfrontiert sahen.4 Darunter fallen insbesondere die Wirtschafts- und Währungskrise, der Brexit, die Migrationskrise, die Rechtsstaatlichkeitskrise, die teils prekären menschenrechtlichen Zustände in Teilen der Mitgliedstaaten und eine zunehmende inhaltliche Spaltung der Europäischen Wertegemeinschaft.5 Jede dieser Krisen bringt bereits für sich genommen erhebliche Herausforderungen mit sich. Angesichts ihrer zeitlichen Parallelität und ihrer Wechselbeziehungen setzen sie das europäische Integrationsprojekt einer echten Belastungsprobe aus.6 II. Für die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes relevante Problemfelder Von Relevanz für die horizontale Zusammenarbeit auf Grundlage des Vertrauensgrundsatzes sind von den soeben benannten Entwicklungen primär die Migrationskrise, die Rechtsstaatlichkeitskrise, sowie die Nichtachtung grundlegender
3 S. etwa Rede auf der Hauptversammlung des griechischen Industrieverbands (SEV) v. 21. 06. 2016, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_16_2293; Rede anlässlich der 70. Jubiläumsfeier der Zürich-Rede von Winston Churchill v. 19. 09. 2016, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/fr/SPEECH_16_3117; „Europa-Rede“ bei der Konrad Adenauer Stiftung v. 09. 11. 2016, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/ detail/de/SPEECH_16_3654 (alle zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 4 Ludwigs / Schmahl, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 9. 5 Vgl. Calliess, NVwZ 2018, 1; Ludwigs / Schmahl, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 9; Streinz, Europäische Union, in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon Bd. 2, Nr. 8.2; Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 21. 6 Ludwigs / Schmahl, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 9.
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menschenrechtlicher Garantien in einigen Mitgliedstaaten. Daneben hat auch der bevorstehende Austritt des Vereinigten Königreichs Bedeutung erlangt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die einzelnen Krisenphänomene nicht trennscharf voneinander abgrenzbar, sondern teils eng miteinander verwoben sind. 1. Migrationskrise Das Gemeinsame Europäische Asylsystem befindet sich seit geraumer Zeit in einer schweren Krise.7 Die Krisenerscheinungen und die dahinterstehenden Ursachen sind ebenso facettenreich wie komplex und können hier nur angerissen werden. Als einer der elementaren Schwachpunkte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hat sich das von den Dublin-Verordnungen geschaffene Zuständigkeitssystem für die Bearbeitung von Asylanträgen in der EU erwiesen.8 Wie schon gezeigt,9 führen die vorgegebenen Zuständigkeitskriterien zu einer übermäßigen Belastung der Staaten an den südlichen und südöstlichen Außengrenzen, die von den Antragstellern naturgemäß häufig zuerst betreten werden.10 Aus dieser Überforderungssituation resultieren in den betroffenen Mitgliedstaaten erhebliche Defizite bei der Wahrung elementarer Verfahrens- und Unterbringungsstandards, die zu Verletzungen der menschenrechtlichen Standards der EMRK, der GFK und der GRCh führen.11 Spätestens die Fluchtbewegungen in den Jahren 2015 und 2016 haben die Dysfunktionalität des Dublin-Systems offenbar gemacht und die Notwendigkeit einer gleichmäßigen, an der Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten orientierten Verteilung der Antragsteller innerhalb der Union aufgezeigt.12 Versu 7
Nettesheim, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 75. Wendel, JZ 2016, 332 (332 f.); Schorkopf, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 55 (57). Vgl. auch die Äußerungen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede vor dem Europäischen Parlament am 07. 10. 2015 in Straßburg: „Seien wir ehrlich: Das Dublin-Verfahren in seiner jetzigen Form ist in der Praxis obsolet. Es war in der Tat gut gemeint; ohne Zweifel. Doch unter dem Strich hat es sich angesichts der Herausforderungen an unseren Außengrenzen als nicht tragfähig erwiesen.“, https://www.bundesregierung. de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-805092 (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 9 S. oben, → 3. Kapitel, § 2. B. II. 1. a). 10 Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180 (1196 f.); Hilpold, EuR 2016, 373 (389); Wendel, JZ 2016, 332 (333). 11 Anagnostaras, 21 GLJ 2020, 1180 (1196 f.); Wendel, JZ 2016, 332 (333); Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (51); Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (494); dies., Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 32. Zur menschenrechtlichen Situation in Griechenland s. nur die Leitentscheidungen EGMR, Urt. v. 21. 01. 2011 – 30696/09, NVwZ 2011, 413 – M. S.S. / Belgien u. Griechenland; EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 – N. S. u. a.; jüngst auch EGMR, Urt. v. 04. 04. 2023 – 55363/19, BeckRS 2023, 6204 – AD / Griechenland. 12 Schorkopf, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 55 (57). 8
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
che, diese Situation durch eine Umverteilung von Flüchtlingen oder eine Revision der Dublin III-VO aufzulösen, sind bislang jedoch ohne nennenswerten Erfolg geblieben. Zwar wurde im Rat jüngst ein vorübergehender „freiwilliger Solidaritätsmechanismus“ vereinbart, der eine Umverteilung von Schutzsuchenden und anderweitige – insbesondere finanzielle – Unterstützungsleistungen zugunsten der Einreisemitgliedstaaten an den Außengrenzen vorsieht.13 Dabei handelt es sich aber lediglich um einen befristeten, nicht legislativen Mechanismus, an dem sich nicht einmal die Hälfte der EU-Staaten beteiligt. Zu den Konstruktionsschwächen des Dublin-Systems kommt eine defizitäre Rechtsanwendungspraxis hinzu.14 In einer Reihe von Mitgliedstaaten lässt sich eine systematische Nichtanwendung obligatorischer Vorschriften des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems feststellen.15 So weigerten sich Tschechien, Polen und Ungarn etwa, zwei Notfallbeschlüsse des Rates zur Umverteilung von Flüchtlingen aus dem Jahr 201516 umzusetzen, was die Kommission zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen diese Mitgliedstaaten veranlasste, an dessen Ende eine Verurteilung der drei Mitgliedstaaten durch den EuGH stand.17 Ein weiteres problematisches Beispiel sind die Verschärfungen des ungarischen Asyl- und Migrationsrechts, die der Mitgliedstaat infolge der Flüchtlingskrise 2015 vorgenommen hat. Die Kommission hat in Bezug auf verschiedene Neuregelungen Vertragsverletzungsverfahren wegen der Verletzung unionsrechtlicher Schutzvorgaben angestrengt, die zu weiteren Verurteilungen Ungarns geführt haben.18 2. Rechtsstaatlichkeitskrise Eine weitere Herausforderung für die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes liegt in der sich seit Jahren manifestierenden Rechtsstaatlichkeitskrise in einigen Mitgliedstaaten.19 Die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien bildet nach
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https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_3970 (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 14 Schorkopf, ZG 2019, 1. 15 von Bogdandy, EuR 2017, 487 (499); ders., 57 CMLR 2020, 705 (706); Ludwigs / Schmahl, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 9 (12). 16 Rat, Beschl. (EU) 2015/1523 v. 15. 09. 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl. EU 2015 L 239/146; Rat, Beschl. (EU) 2015/1601 v. 22. 09. 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl. EU 2015 L 248/80. Eine Nichtigkeitsklage der Slowakei und Ungarns gegen den Beschluss (EU) 2015/1601 blieb erfolglos, EuGH, Urt. v. 06. 09. 2017 – C-643/15 u. C-647/15, ECLI:EU:C:2017:631 – Slowakei u. a. / Rat. 17 EuGH, Urt. v. 02. 04. 2020 – C-715/17 u. a., ECLI:EU:C:2020:257 – Kommission / Polen u. a. 18 Ausführlich Stäsche, ZEuS 2021, 561 (586 ff.). 19 von Bogdandy, EuR 2017, 487 (499); Kulick, JZ 2020, 223 (224); Terhechte, EuR 2020, 569 (586).
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Art. 2 EUV einen der zentralen Werte, auf den sich die Union und die vertrauensbasierte Zusammenarbeit zwischen ihren Mitgliedstaaten gründet.20 Dennoch lässt sich in den letzten Jahren in Teilen der Mitgliedstaaten ein gezielter Rückbau rechtsstaatlicher Strukturen beobachten.21 Dieser Befund soll im Folgenden näher beleuchtet werden, wobei die Betrachtung auch hier naturgemäß kursorisch bleiben und sich auf einige wichtige, ausgewählte Gesichtspunkte beschränken muss, da jeder der zu behandelnden Aspekte für sich genommen Gegenstand eingehender Untersuchungen sein könnte. Typische Anzeichen einer Erosion von Rechtsstaatlichkeit sind die Beseitigung einer unabhängigen Justiz, der gezielte und bewusste Umbau der öffentlichen Medienlandschaft unter Einschränkung von Pressefreiheit und Medienpluralismus, autoritäre Zentralisierungstendenzen, die Zurückdrängung zivilgesellschaftlicher Organisationen, Wahlrechtsänderungen zur Eliminierung oder Unterdrückung eines wirksamen parteipolitischen Wettbewerbs, Korruption sowie die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit und Autonomie von Universitäten und Forschungsinstituten.22 Häufig werden diese Veränderungen von populistischer Rhetorik gegen rechtsstaatliche Institutionen und „alte Eliten“ begleitet.23 Auch die systematische Verletzung oder Nichtanwendung von Unionsrecht weist auf eine Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien hin.24 Entwicklungen der beschriebenen Art zeigen sich in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität in verschiedenen Mitgliedstaaten.25 Besonders ernst ist die Lage in Polen und Ungarn.26 In Polen hat die Regierung seit 2015 zahlreiche Justizreformen umgesetzt, die die Unabhängigkeit der Gerichte strukturell untergraben haben und Gerichte und Staatsanwaltschaft erheblicher politischer Einflussnahme aussetzen.27 Teil der Reformen war u. a. die faktische Entmachtung des Verfassungsgerichts, die Herabsetzung des Pensionsalters, um unliebsame Richter in den vorzeitigen Zwangsruhestand versetzen zu können, die Schaffung disziplinarischer Durchgriffsbefug 20 Dörr, ZG 2019, 26; Reynders, Recht und Politik 2021, 1; Payandeh, JuS 2021, 481 (481, 489); Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1346). Zum europäischen Rechtsstaatlichkeitsbegriff s. bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. C. II. 3. b) dd). 21 Dörr, ZG 2019, 26 (30 f.); Jakab, ZÖR 2019, 369 (370). 22 Jakab, ZÖR 2019, 369 (379 ff.); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (9 f.); vgl. Payandeh, JuS 2021, 481 (481 f.). 23 Jakab, ZÖR 2019, 369 (379). 24 von Bogdandy, EuR 2017, 387 (499, 506 f.); Editorial Comments, 53 CMLR 2016, 597 (598); Ludwigs / Schmahl, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 9 (12). 25 Zur Situation in den Mitgliedstaaten s. im Einzelnen die Länderkapitel der jährlichen Rechtsstaatlichkeitsberichte der Kommission, jüngst aus dem Jahr 2022, https://ec.europa.eu/ info/publications/2022-rule-law-report-communication-and-country-chapters_de (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 26 Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1346 f.); Franzius, DÖV 2018, 381; Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 24; Terhechte, EuR 2020, 569 (586). 27 Dörr, ZG 2019, 26 (30); Franzius, DÖV 2018, 381; Stäsche, ZEuS 2021, 561 (572, 592).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
nisse des Justizministers, der Umbau des Landjustizrats, die Zusammenlegung von Justizministerium und Generalstaatsanwaltschaft sowie die Beschneidung des Vorabentscheidungsverfahrens. Angesichts dieser Entwicklungen hat die Kommission bereits 2017 einen begründeten Vorschlag zur Einleitung des Art. 7 EUV-Verfahrens gegenüber Polen vorgelegt.28 Zwar hat Polen die umstrittene Disziplinarkammer, die der EuGH bereits im Juli 2021 für mit dem Unionsrecht unvereinbar befand,29 jüngst abgeschafft und Änderungen der Disziplinarordnung für Richter verabschiedet. Damit sind die Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz in Polen jedoch keinesfalls vollständig ausgeräumt.30 Eine weitere Zuspitzung des Konflikts zwischen der EU und Polen stellte das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober 2021 dar, in dem das Gericht Teile des europäischen Primärrechts für mit der polnischen Verfassung unvereinbar und daher für Polen unverbindlich erklärte und so den Anwendungsvorrang des Unionsrechts offen in Abrede stellte.31 Über die Justizreformen hinaus wurden auch die Unabhängigkeit der Medien und der Medienpluralismus im Land durch verschiedene Reformen empfindlich eingeschränkt.32 Ähnlich wie in Polen stellt sich die Situation in Ungarn dar.33 In Ungarn wurden in den Jahren ab 2010 verschiedene Reformen im Justizbereich vorgenommen, die zu einer Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit geführt und den politischen Einfluss auf die Justiz gestärkt haben.34 Gegenstand der Reformen war u. a. eine Beschränkung der Kontrollkompetenzen des Verfassungsgerichts bei gleichzeitiger Stärkung der Einflussnahme der Regierung auf dessen Zusammensetzung und Arbeitsweise, eine Senkung des Renteneintrittsalters im Justizbereich, um zahlreiche frei gewordene Posten mit regierungstreuen Richtern ersetzen zu können sowie die Einführung eines regierungsnahen Landesrichteramtes, dessen Präsident weitreichende Befugnisse bei der Richterernennung hatte. Jüngst hat Ungarn unter europäischem Druck zwar eine Justizreform beschlossen, die zuvor eingeführte Beschränkungen des Vorlagerechts (Art. 267 AEUV) ungarischer Richter rückgängig macht und Befugnisse vom Landesrichteramt auf den unabhängigen Landesrichterrat zurücküberträgt.35 Damit ist bestehenden Defiziten bei der Unabhängigkeit der Justiz aber nur partiell Rechnung getragen. Parallel zur Umgestaltung der Justiz kam es in Ungarn zu Einschränkungen der Presse- und Rund 28
Europäische Kommission, Vorschlag v. 20. 12. 2017, COM(2017) 835 final. EuGH, Urt. v. 15. 07. 2021 – C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 – Kommission / Polen. 30 Näher Blanke / Sander, EuR 2023, 54 (74). 31 Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 07. 10. 2021 – K 3/21, Leitsätze abgedruckt in EuR 2022, 511. Ausführlich hierzu Blanke / Sander, EuR 2023, 54 (69 ff.). Die EU-Kommission hat wegen dieser Entscheidung mittlerweile ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. 32 Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, S. 138 ff.; Möllers / Schneider, Demokratiesicherung in der EU, S. 71 f.; Dörr, ZG 2019, 26 (30). 33 Monographisch hierzu Leyrer Leifer Nunes, Rechtliche Entwicklung Ungarns seit 2010. 34 Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1346 f.); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (583, 593). 35 https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/ungarn-beschliesst-justizreform---voraus setzung-fuer-eu-gelder (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 29
§ 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise
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funkfreiheit.36 Gegenstand von Kritik sind darüber hinaus u. a. die Reformen des ungarischen Wahlrechts, mit denen eine Neueinteilung der Wahlkreise einherging, die mangelnde Korruptionsbekämpfung in dem Mitgliedstaat, Einschränkungen der Hochschulautonomie, mit denen Ungarn u. a. den Wegzug der Central European University in Budapest erzwungen hat, sowie ein Gesetz, das die ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen erschwert.37 Das Europäische Parlament hat deshalb im Herbst 2018 eine Entschließung angenommen, mit der es den Rat aufgefordert hat, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch Ungarn besteht.38 Die jährlichen Berichte der Kommission zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU39 belegen, dass sich über Polen und Ungarn hinaus auch in anderen Mitgliedstaaten rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklungen beobachten lassen, wenn die Probleme auch nicht die gleiche systemische Dimension annehmen.40 Probleme hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit und bei der Korruptionsbekämpfung zeigen sich beispielsweise auch in Rumänien. Rumänien hat zwischen 2017 und 2019 eine Reihe von Änderungen der nationalen Justizgesetze vorgenommen, die negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Rechtspflege in dem Mitglied-
36
Dörr, ZG 2019, 26 (31); Franzius, DÖV 2018, 381; Kadelbach, in: Kadelbach, Verfassungskrisen, S. 9 (10); Leyrer Leifer Nunes, Rechtliche Entwicklung Ungarns seit 2010, S. 157 ff.; Hoffmeister, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 21 (39); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (591). 37 Franzius, DÖV 2018, 381; Hoffmeister, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 21 (25); Leyrer Leifer Nunes, Rechtliche Entwicklung Ungarns seit 2010, S. 122 ff., 270 ff., 273 ff.; Stäsche, ZEuS 2021, 561 (583). 38 Europäisches Parlament, Entschließung v. 12. 09. 2018, ABl. EU 2018 C 433/66. 39 Abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/publications/2022-rule-law-report-communicationand-country-chapters_de (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 40 Ausführlich Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 38 ff. Die Entscheidung des EuGH, wonach deutschen Staatsanwälten aufgrund des in §§ 146 f. GVG vorgesehenen Weisungsrechts die notwendige Unabhängigkeit fehle, um einen Europäischen Haftbefehl auszustellen (Urt. v. 27. 05. 2019 – C-508/18 u. C-82/19 PPU, ECLI:EU:C:2019:456 Rn. 73 – OG u. PI), lässt sich nicht in diesem Problemkreis verorten. Zum einen steht die Weisungsabhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften nicht per se im Konflikt mit dem europäischen Recht. Das vom EuGH für die Ausstellung Europäischer Haftbefehle aufgestellte Unabhängigkeitserfordernis folgt vielmehr daraus, dass die ausstellenden und vollstreckenden Justizbehörden hier besonders intensive Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen zu verantworten haben (hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 2. C. II. 2. d) cc)). Europäische Ermittlungsanordnungen kann die deutsche Staatsanwaltschaft aufgrund der geringeren Eingriffsintensität des Instruments dagegen ungeachtet ihrer Weisungsabhängigkeit ausstellen (EuGH, Urt. v. 08. 12. 2020 – C-584/19, ECLI:EU:C:2020:1002 Rn. 74 f. – A. u. a.). Zum anderen lässt sich die vom EuGH beanstandete, europarechtswidrige Umsetzung des RbEuHb auch nicht als Ausdruck struktureller rechtsstaatlicher Probleme in Deutschland deuten. Der Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission aus dem Jahr 2022 kommt im Länderkapitel zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland vielmehr zu dem Ergebnis, dass das deutsche Justizsystem weiterhin ein sehr hohes Maß an Unabhängigkeit aufweise.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
staat hatten und den politischen Einfluss auf die Justiz gestärkt haben.41 Der EuGH hat sich in einem Vorabentscheidungsverfahren mit verschiedenen Aspekten dieser Reformen beschäftigt und Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der Reformen mit den unionsrechtlichen Vorgaben richterlicher Unabhängigkeit geäußert.42 Auch in weiteren Entscheidungen hat der Gerichtshof zuletzt Mängel des rumänischen Justizsystems und Versäumnisse bei der Korruptionsbekämpfung gerügt.43 Nicht zuletzt steht die systematische Nichtbeachtung der Vorschriften des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in einigen Mitgliedstaaten44 ebenfalls im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien.45 3. Prekäre menschenrechtliche Zustände Ein Problem für die horizontale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sind auch die teils prekären menschenrechtlichen Bedingungen für bestimmte Gruppen in einigen Mitgliedstaaten. Das betrifft einerseits im Zusammenhang mit der Migrationskrise die Aufnahmebedingungen und Verfahrensstandards für Schutzsuchende in verschiedenen Mitgliedstaaten an den südlichen und südöstlichen Außengrenzen.46 Problematisch sind zudem die Haftbedingungen in der Untersuchungshaft und im Strafvollzug, die in einer nicht unerheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten hinter grundlegenden menschenrechtlichen Mindeststandards zurückbleiben.47 Häufige Probleme sind Überbelegung, defizitäre Hygiene und Sanitäranlagen, unzureichender Zugang zu medizinischer Versorgung sowie Gewalt unter Häftlingen.48 Gegenstand von Vorabentscheidungsersuchen vor dem EuGH waren im Zusammenhang mit Überstellungen auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls bislang die Haftbedingungen in Ungarn und Rumänien.49 41 Hoffmeister, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 21 (43 f.); Selejan-Gutan, VerfBlog 2018/01/31, DOI: 10.17176/20180131-101044. 42 EuGH, Urt. v. 18. 05. 2021 – C-83/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:393 – Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“. 43 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 – Euro Box Promotion u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 – RS. 44 Hierzu bereits oben, → 4. Kapitel, § 2. A. II. 1. 45 von Bogdandy, EuR 2017, 387 (499); Ludwigs / Schmahl, in: Ludwigs / Schmahl, EU zwischen Niedergang und Neugründung, S. 9 (12). 46 S. hierzu bereits oben, → 4. Kapitel, § 2. A. II. 1. 47 Anagnostaras, 53 CMLR 2016, 1675 (1694); Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (688, Fn. 28); Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (51); Willems, 20 GLJ 2019, 468 (489); von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (706). 48 S. im Einzelnen etwa den Report der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, „Criminal detention conditions in the European Union: rules and reality“, 2019, https://fra. europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2019-criminal-detention-conditions-in-the-eu_ en.pdf (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 49 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aran yosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589 – ML; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 – Dorobantu.
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Unzureichende Standards in Haftanstalten sind aber nicht auf diese beiden Mitgliedstaaten beschränkt, wie die Verurteilung zahlreicher anderer Mitgliedstaaten durch den EGMR belegt.50 Da die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte zu den Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu rechnen ist,51 vertiefen die beschriebenen Defizite zugleich die europäische Rechtsstaatlichkeitskrise. 4. Brexit Am 31. 01. 2020, etwa dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum, verließ das Vereinigte Königreich mit Inkrafttreten des Austrittsabkommens die EU und wurde zu einem Drittland. Das Verhältnis zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich ist nunmehr Gegenstand verschiedener völkerrechtlicher Abkommen. Der Zeitabschnitt zwischen dem Votum und dem endgültigen Austritt des Vereinigten Königreichs war von einer erheblichen Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Folgen des bevorstehenden Austritts und der Aussicht eines möglichen „hard Brexit“ gekennzeichnet. Diese Unsicherheit betraf auch die Anwendung der auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens basierenden Kooperationsinstrumente zwischen den verbleibenden Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich.52 So stellte sich bei der Vornahme von Dublin-Überstellungen und der Vollstreckung von vom Vereinigten Königreich ausgestellten Europäischen Haftbefehlen die Frage, ob und in welchem Umfang sich die Betroffenen nach dem Austritt noch auf die Grundrechte und die in den jeweiligen Sekundärrechtsakten gewährleisteten Rechte würden berufen können.53 Nach dem zwischenzeitlich vollzogenen Austritt des Vereinigten Königreichs sind diese Fragen aber nicht mehr aktuell.
B. Auswirkungen auf die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes Für die vertrauensbasierte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ist die Achtung rechtsstaatlicher Prinzipien sowie die Wahrung menschenrechtlicher Garantien durch alle Mitgliedstaaten essenzielle Voraussetzung. Die Pflicht zum 50
S. etwa EGMR, Urt. v. 20. 10. 2016 – 7334/13 – Muršić / Kroatien; Urt. v. 26. 10. 2017 – 2539/13 u. 4705/13 – Cirino u. Renne / Italien; Urt. v. 29. 01. 2019 – 23226/16 u. a. – Nikitin u. a. / Estland; Urt. v. 20. 05. 2019 – 26564/16 – Clasens / Belgien; Urt. v. 03. 12. 2019 – 23190/17 – Petrescu / Portugal; Urt. v. 30. 01. 2020 – 9671/15 – J. M.B. u. a. / Frankreich. 51 Europäische Kommission, Mitteilung v. 11. 03. 2014, COM(2014) 158 final, S. 4 f.; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 26; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 35. 52 Ausführlich Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 36 ff.; dies., in: Ahmed / Fahey, On Brexit. Law, Justices and Injustices, S. 175 (179 ff.). 53 Hummer, EuR 2018, 653 (670); Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 37 f.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
gegenseitigen Vertrauen beruht maßgeblich auf der Prämisse, dass alle Mitgliedstaaten die Werte des Art. 2 EUV teilen.54 Die Polykrise der Union bleibt daher nicht ohne Auswirkungen auf die horizontale Kooperation und die Anwendung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens. I. Praktische Auswirkungen in ausgewählten Referenzgebieten Besonders deutlich veranschaulichen lässt sich die Problematik anhand der Folgen, die von den beschriebenen Krisenphänomenen auf das Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und die Anwendung des Europäischen Haftbefehls ausgehen. 1. Gemeinsames Europäisches Asylsystem Die fehlende Einhaltung elementarer Verfahrens- und Unterbringungsstandards in Teilen der Mitgliedstaaten hat sich als zentrales Problem für das Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erwiesen.55 An sich sehen die Dublin-Verordnungen im Fall einer Weiterreise von Schutzsuchenden in einen unzuständigen Mitgliedstaat deren Rücküberstellung in den zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat vor.56 Angesichts drohender Verstöße gegen das aus Art. 4 GRCh folgende Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung kam es im Verhältnis zu verschiedenen Mitgliedstaaten jedoch zu einer faktischen Aussetzung der Dublin-Zuständigkeitsordnung. So wurden Rücküberstellungen nach Griechenland bereits ab 2011 im Anschluss an die Entscheidungen N. S. u. a.57 und M. S.S. / Belgien und Griechenland 58 weitgehend ausgesetzt.59 Auch von Überstellungen nach Italien, Ungarn und Bulgarien wird angesichts der prekären menschenrechtlichen Bedingungen für Schutzsuchende vielfach abgesehen. Sichtbar wird die Problematik anhand der Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, in denen die Anzahl der Übernahmeersuchen und der tatsächlich erfolgten Überstellungen erfasst wird.60 Die mit 54 Zu Art. 2 EUV als Geschäftsgrundlage des Vertrauensgrundsatzes s. ausführlich oben, → 2. Kapitel, § 2. C. II. 55 Wendel, JZ 2016, 332 (333). 56 Zum Dublin-System s. ausführlich oben, → 1. Kapitel, § 1. B. III. 1. 57 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 – C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 – N. S. u. a. Zu dieser Entscheidung im Einzelnen bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. B. II. 1. a). 58 EGMR, Urt. v. 21. 01. 2011 – 30696/09, NVwZ 2011, 413 – M. S.S. / Belgien u. Griechenland. 59 Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (30); L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (86); Xanthopoulou, Fundamental Rights and Mutual Trust in the AFSJ, S. 163. 60 Abrufbar für die Jahre 2008–2022 unter https://www.proasyl.de/thema/fakten-zahlenargumente/statistiken/ (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). S. hierzu auch Lührs, Überstellungsschutz, S. 2 f.
§ 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise
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Abstand meisten Übernahmeersuchen Deutschlands richten sich an Griechenland und Italien, was angesichts der Lage dieser Staaten an der südlichen EU-Außengrenze wenig verwunderlich ist. Den Übernahmeersuchen stehen angesichts der Bedingungen für Asylsuchende in diesen Staaten jedoch wenige tatsächlich durchgeführte Überstellungen gegenüber: So stellte Deutschland 2019 9.870 Übernahmeersuchen nach Griechenland, während tatsächlich nur 20 Überstellungen erfolgten. Noch deutlicher sind die Statistiken aus den Jahren 2021 und 2022: 2021 wurde trotz 10.427 Übernahmeersuchen nur eine (!) Überstellung vorgenommen, 2022 erfolgte bei 9.166 Ersuchen keine einzige Überstellung.61 An Italien stellte Deutschland im Jahr 2019 14.175 Übernahmeersuchen, denen immerhin noch 2.575 Überstellungen gegenüberstanden. Diese Quote verschlechterte sich in den Folgejahren kontinuierlich; 2022 folgten auf 14.439 Übernahmeersuchen nur noch 362 Überstellungen. Auch in Bezug auf Ungarn und Bulgarien sind die Überstellungsquoten vergleichsweise gering: Nach Ungarn wurde 2019 keine Überstellung vorgenommen, 2021 trotz 491 Übernahmeersuchen nur eine Überstellung und 2022 bei 935 Übernahmeersuchen acht Überstellungen. An Bulgarien stellte Deutschland 2021 1.786 Übernahmeersuchen, denen nur 26 Überstellungen gegenüberstanden. Die Überstellungsquote sank im Folgejahr 2022 auf 86 Überstellungen bei insgesamt 5.438 Übernahmeersuchen. Eine vergleichbare Problematik wie bei der Anwendung der Dublin-Verordnungen stellt sich in Bezug auf die Asylverfahrens-RL 2013. Gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. a der Asylverfahrens-RL können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig ablehnen, wenn dem Antragssteller bereits ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat.62 Dies gilt aber nicht, sofern die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh zu erfahren.63 In Bezug auf die Mitgliedstaaten, in denen Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, derart prekären Bedingungen ausgesetzt sind, ist diese Regelung daher faktisch nicht anwendbar. Das betrifft besonders Griechenland und Ungarn, aber auch Italien.64
61 Die Zahlen aus dem Jahr 2020 sind angesichts coronabedingter Sondereffekte weniger aussagekräftig und werden hier daher nicht näher betrachtet. 62 Zur Asylverfahrens-RL ausführlich oben, → 1. Kapitel, § 1. B. III. 2. 63 EuGH, Urt. v. 19. 03. 2019 – C-297/17 u. a., ECLI:EU:C:2019:219 Rn. 81 ff. – Ibrahim u. a.; Urt. v. 13. 11. 2019 – C-540/17 u. C-541/17, ECLI:EU:C:2019:964 Rn. 34 ff. – Hamed u. Omar; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-483/20, ECLI:EU:C:2022:103 Rn. 31 – XXXX. Hierzu im Einzelnen bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. B. II. 1. b) cc). 64 Für Griechenland s. etwa OVG Bremen, Urt. v. 16. 11. 2021 – 1 LB 371/21; VGH BW, Urt. v. 27. 01. 2022 – A 4 S 2443/21, DÖV 2022, 431; OVG NWR, Beschl. v. 05. 04. 2022 – 11 A 314/22.A; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 19. 04. 2021 – 10 LB 244/20; Sächsisches OVG, Urt. v. 27. 04. 2022 – 5 A 492/21 A; für Ungarn OVG Saarland, Urt. v. 12. 03. 2018 – 2 A 69/18; OVG NRW, Urt. v. 21. 01. 2021 – 11 A 1564/20.A; für Italien OVG NRW, Beschl. v. 20. 09. 2021 – 11 A 912/20.A.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
2. Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl Die menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Probleme in Teilen der Mitgliedstaaten haben den EuGH auch im Anwendungsbereich des RbEuHb zur Anerkennung von Ausnahmen von der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung gezwungen, auf deren Grundlage in der Praxis in einer Vielzahl von Fällen eine Ablehnung der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen aus bestimmten Mitgliedstaaten erfolgt (→ a)). Darüber hinaus lassen sich in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor Defizite bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in nationales Recht beobachten (→ b)). Die Verletzung elementarer Grundrechts- und Verfahrensgewährleistungen in einigen Mitgliedstaaten und das Fehlen eines allgemeinen Grundrechtsvorbehalts im RbEuHb haben zudem verschiedene nationale Verfassungsgerichte zur Etablierung nationaler „Notvorbehalte“ veranlasst, um die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle über die europäischen Vorgaben hinaus kontrollieren zu können (→ c)). a) Ablehnung der Vollstreckung wegen systemischer menschen- und rechtsstaatlicher Defizite Angesichts der defizitären Haftbedingungen in Bulgarien und Rumänien übertrug der EuGH in der Entscheidung Aranyosi und Căldăraru die zum Dublin- System entwickelten Grundsätze zu einer Beschränkung der Vertrauensvermutung bei drohenden Verletzungen von Art. 4 GRCh auf den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.65 Spiegel der Rechtsstaatlichkeitskrise ist die Entscheidung LM,66 in der der EuGH eine weitere Ausnahme von der Vermutung der wechselseitigen Grundrechtswahrung für Fälle anerkannt hat, in denen die echte Gefahr einer Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Mitgliedstaat zusammenhängt.67 Die praktische Relevanz dieser grundrechtlichen Ausnahmetatbestände für die Anwendung des Europäischen Haftbefehls in Deutschland lässt sich anhand statistischer Befunde veranschaulichen. So zeigen die Auslieferungsstatistiken des Bundesamts für Justiz,68 dass im Jahr 2019 besonders die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen aus Griechenland (52 %), Polen (20 %) und Rumänien (46 %) überproportional häufig abgelehnt wurde. Im Vergleich hierzu wurde die 65
EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi u. Căldăraru. Ausführlich hierzu bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. B. II. 2. a) aa). 66 EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 – LM. Eingehend zur Entscheidung oben, → 3. Kapitel, § 2. B. II. 2. b) aa). 67 Wendel, EuR 2019, 111 (113 f.). 68 Abrufbar unter https://www.bundesjustizamt.de/DE/Service/Justizstatistiken/Justizstatistiken_ node.html#AnkerDokument43936 (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023).
§ 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise
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Vollstreckung von in Frankreich und den Niederlanden ausgestellten Europäische Haftbefehlen in nur knapp 5 % der Fälle abgelehnt. Im Jahr 2020 stieg der Anteil der Ablehnungen für Europäische Haftbefehle aus Polen (22 %) und Rumänien (49 %) leicht an, während er in Bezug auf Griechenland gleich blieb. 2021 stiegen die Ablehnungsquoten für Überstellungsersuchen aus Polen (30 %) und Griechenland (74 %) weiter an. Zwar weisen die Auslieferungsstatistiken die Gründe für die Ablehnung nicht aus, es liegt jedoch nahe, dass die hohen Ablehnungsquoten auf die menschen- und rechtsstaatlichen Defizite in den betroffenen Mitgliedstaaten zurückzuführen sind. Diese These wird gestützt durch die Kasuistik des EuGH,69 des BVerfG70 sowie die Rechtsprechungspraxis der Oberlandesgerichte.71 Dass die Ablehnungsquote für von polnischen Justizbehörden ausgestellte Europäische Haftbefehle trotz der eklatanten rechtsstaatlichen Defizite in dem Mitgliedstaat nicht höher liegt, dürfte darin begründet sein, dass sich der vom EuGH geforderte Nachweis, dass im Einzelfall die konkrete Gefahr einer Verletzung von Art. 47 Abs. 2 GRCh besteht, als sehr komplex erweist.72 Im Verhältnis zu Rumänien und Griechenland stehen dagegen menschenrechtliche Defizite in Form unzureichender Haftbedingungen im Vordergrund, deren Feststellung im konkreten Fall den vollstreckenden Justizbehörden leichter fallen dürfte. b) Defizite bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses Der 2002 verabschiedete RbEuHb musste bis zum 31. 12. 2003 in nationales Recht umgesetzt werden. Ungeachtet dessen bewertete die Kommission den Stand der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in einigen Mitgliedstaaten auch fast 20 Jahre später als nach wie vor nicht zufriedenstellend.73 In ihrem Bericht über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses aus dem Jahr 2020 bemängelt sie u. a., dass einige Mitgliedstaaten die Überstellung in ihren nationalen Umsetzungsgesetzen nach wie vor von der Achtung ihrer nationalen Grundrechte abhängig S. oben, → 3. Kapitel, § 2. B. II. 2. BVerfG, Beschl. v. 19. 12. 2017 – 2 BvR 424/17, BVerfGE 147, 364; Beschl. v. 01. 12. 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18, BVerfGE 156, 182 – Europäischer Haftbefehl III; Beschl. v. 27. 01. 2022 – 2 BvR 1214/21, NJW 2022, 932. 71 Für Rumänien s. etwa OLG Celle, Beschl. v. 31. 03. 2017 – 2 AR (Ausl) 15/17, StraFo 2017, 287; OLG Nürnberg, Beschl. v. 05. 05. 2017 – 2 Ausl AR 14/17, StraFo 2017, 291; OLG München, Beschl. v. 13. 04. 2017 – 1 AR 126/17, NStZ-RR 2017, 229; OLG Brandenburg, Beschl. v. 21. 05. 2019 – 2 AR 8/19; für Griechenland OLG Hamm, Beschl. v. 30. 11. 2017 – 2 Ausl 81/17; OLG München, Beschl. v. 09. 01. 2018 – 1 AR 319/17; für Polen OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17. 02. 2020 – Ausl 301 AR 156/19; Beschl. v. 27. 11. 2020 – Ausl 301 AR 104/19. Vgl. auch OLG Hamburg, Vorabentscheidungsersuchen v. 08. 02. 2018 – Ausl. 81/16 Rn. 11, wonach allein 2017 77 Auslieferungsersuchen aus Rumänien wegen unzureichender Haftbedingungen im Ausstellungsstaat abgelehnt worden seien. 72 Böhm, NStZ 2021, 209 (214 f.); Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (706). 73 Europäische Kommission, Bericht über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates v. 13. 06. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten v. 02. 07. 2020, COM(2020) 270 final, S. 25. 69 70
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
machen.74 Solche nationalen Grundrechtsvorbehalte widersprechen der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die Vollstreckung eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Europäischen Haftbefehls kein höheres grundrechtliches Schutzniveau verlangen dürfen als das auf europäischer Ebene geltende.75 Die Auswertung der Kommission ergab außerdem, dass mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten über die im Rahmenbeschluss normierten Ablehnungsgründe hinaus weitere Gründe vorsehen, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, etwa auf Grundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder unter Hinweis auf die öffentliche Ordnung oder andere wesentliche Interessen des Vollstreckungsmitgliedstaates.76 Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH sind die im Rahmenbeschluss aufgeführten Ablehnungsgründe jedoch abschließend,77 mit der Folge, dass es den Mitgliedstaaten verwehrt ist, weitergehende nationale Ablehnungsgründe vorzusehen.78 Darüber hinaus haben einige Mitgliedstaaten zusätzliche Anforderungen und Beschränkungen in Bezug auf eigene Staatsangehörige eingeführt.79 Auch diese Umsetzungsdefizite dürften nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass einige Mitgliedstaaten – teils berechtigte – Zweifel an der Äquivalenz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und Praktiken hegen.80 c) Notvorbehalte nationaler Verfassungs- und Höchstgerichte Am Beispiel des Europäischen Haftbefehls lässt sich eine weitere Folge der Polykrise für die horizontale Zusammenarbeit beobachten: Die menschenrechtlichen 74
Europäische Kommission, Bericht über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates v. 13. 06. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten v. 02. 07. 2020, COM(2020) 270 final, S. 9 f. 75 Vgl. EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 55 ff. – Melloni; Urt. v. 15. 10. 2019 – C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857 Rn. 79 – Dorobantu. 76 Europäische Kommission, Bericht über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates v. 13. 06. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten v. 02. 07. 2020, COM(2020) 270 final, S. 14. 77 S. nur EuGH, Urt. v. 16. 11. 2010 – C-261/09, ECLI:EU:C:2010:683 Rn. 37 – Mantello; Urt. v. 28. 01. 2012 – C-192/12 PPU, ECLI:EU:2012:404 Rn. 55 – West; Urt. v. 29. 01. 2013 – C-396/11, ECLI:EU:C:2013:39 Rn. 36, 38 – Radu; Urt. v. 26. 02. 2013 – C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 38 – Melloni; Urt. v. 29. 06. 2017 – C-579/15, ECLI:EU:C:2017:503 Rn. 19 – Popławski; Urt. v. 10. 08. 2017 – C-270/17 PPU, ECLI:EU:C:2017:628 Rn. 50 – Tupikas; Urt. v. 23. 01. 2018 – C-367/16, ECLI:EU:C:2018:27 Rn. 48 f. – Piotrowski; Urt. v. 14. 07. 2022 – C-168/21, ECLI:EU:C:2022:558 Rn. 40 – KL. 78 EuGH, Urt. v. 31. 01. 2023 – C-158/21, ECLI:EU:C:2023:57 Rn. 75 ff. – Puig Gordi u. a. 79 Europäische Kommission, Bericht über die Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. 06. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten v. 02. 07. 2020, COM(2020) 270 final, S. 15. 80 Vgl. Kaufhold, EuR 2012, 408 (421 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (118 f.); Streinz, in: FS Höpfel, S. 549 (555).
§ 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise
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und rechtsstaatlichen Defizite in einigen Mitgliedstaaten und das Fehlen eines allgemeinen Grundrechtsvorbehalts im RbEuHb haben verschiedene mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte zur Etablierung von nationalen „Notvorbehalten“ bewogen, um die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle über die europäischen Vorhaben hinaus anhand ihrer nationalen Verfassung kontrollieren zu können.81 So hat das BVerfG in mehreren Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehl die Identitätskontrolle als nationalen Letztvorbehalt in Stellung gebracht.82 Nach der Rechtsprechung des BVerfG findet der Anwendungsvorrang des Unionsrechts seine Grenze in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der deutschen Verfassung, wozu namentlich die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG gehört.83 Ob diese Grundsätze und insbesondere Art. 1 GG bei der Anwendung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl im Einzelfall verletzt werden, prüft das BVerfG im Rahmen der Identitätskontrolle.84 Diesen Kontrollvorbehalt hat das BVerfG auch nach der Neujustierung seines Prüfungsmaßstabs in den Entscheidungen Recht auf Vergessen I 85 und II 86 nicht aufgegeben,87 wenngleich seine praktische Bedeutung im Bereich der Grundrechtskontrolle nach der Erstreckung des Prüfungsmaßstabs der Verfassungsbeschwerde auf die Grundrechte der GRCh wieder in den Hintergrund rücken dürfte. Auch das Spanische Verfassungsgericht hat in der Rechtssache Melloni einen nationalen Letztvorbehalt formuliert.88 In der Entscheidung, die im Anschluss an die Vorabentscheidung des EuGH erging, wies das Verfassungsgericht darauf hin, dass es sich das Recht vorbehalte, sekundäres Unionsrecht unangewendet zu lassen, wenn dieses in Konflikt zu der nationalen Verfassung stehe und dieser Konflikt nicht auf dem in den Verträgen vorgesehenen Weg gelöst werden könne.89 Das Gericht behält es sich damit vor, bei der Entscheidung über die Vollstreckung 81 Vgl. Kaufhold, EuR 2012, 408 (421); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (118); Anagnostaras, 53 CMLR 2016, 1675 (1686). 82 BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl II; Beschl. v. 19. 12. 2017 – 2 BvR 424/17, BVerfGE 147, 364; Beschl. v. 01. 12. 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18, BVerfGE 156, 182 – Europäischer Haftbefehl III. 83 BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317 Rn. 36 – Europäischer Haftbefehl II; Urt. v. 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15 u. a., BVerfGE 154, 17 Rn. 115 – PSPP. 84 BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317 Rn. 43 – Europä ischer Haftbefehl II; Beschl. v. 19. 12. 2017 – 2 BvR 424/17, BVerfGE 147, 364 Rn. 34; Beschl. v. 01. 12. 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18, BVerfGE 156, 182 Rn. 40 – Europäischer Haftbefehl III. 85 BVerfG, Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, BVerfGE 152, 152 – Recht auf Vergessen I. 86 BVerfG, Beschl. v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, BVerfGE 152, 216 – Recht auf Vergessen II. 87 BVerfG, Beschl. v. 01. 12. 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18, BVerfGE 156, 182 Rn. 40 – Europäischer Haftbefehl III; Böhm, NStZ 2021, 209 (210). 88 Anagnostaras, 53 CMLR 2016, 1675 (1686); Streinz, in: FS Höpfel, S. 549 (557); Torres Pérez, 10 EuConst 2014, 308 (319 f.). 89 Spanisches Verfassungsgericht, Urt. v. 13. 04. 2014 – 26/2014 (englische Fassung abrufbar unter https://www.tribunalconstitucional.es/ResolucionesTraducidas/STC%2026-2014%20EN. pdf (zuletzt abgerufen am 08.06.2023)).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
Europäischer Haftbefehle in künftigen Fällen den nationalen Grundrechten den Vorrang einzuräumen, sofern auf Unionsebene kein hinreichender Grundrechtsschutz gesichert ist.90 II. Systematisierung der Beobachtungen Die Beispiele des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und des Europä ischen Haftbefehls zeigen exemplarisch, welche Konsequenzen die multiplen Krisen der Union und die damit einhergehende Erschütterung des Fundaments des gegenseitigen Vertrauens für die horizontale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten haben. Nimmt man eine Systematisierung der Beobachtungen vor, können insbesondere zwei aus der Polykrise resultierende Dysfunktionalitäten festgestellt werden. 1. Umsetzungs- und Vollzugsdefizite Bestehen in einem Mitgliedstaat systemische Defizite bei der Wahrung menschenrechtlicher Gewährleistungen und rechtsstaatlicher Prinzipien lassen sich die Auswirkungen angesichts der engen horizontalen Verschränkung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht auf den betroffenen Mitgliedstaat beschränken.91 Vermittelt über die sekundärrechtlichen Kooperations- und Anerkennungsinstrumente betreffen diese Mängel vielmehr auch die übrigen Mitgliedstaaten und deren Bürger.92 Um diesem Effekt zu begegnen, reagieren die anderen Mitgliedstaaten mit einem Rückzug aus der horizontalen Kooperation und einer Abschottung ihrer Rechtsordnungen gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat. Die Verletzung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Standards in einzelnen Mitgliedstaaten führt somit unionsweit zu Defiziten bei der Umsetzung und dem Vollzug der sekundärrechtlichen Kooperationsinstrumente, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen.93 Ausdruck hiervon ist neben schlicht fehlender oder mangelhafter Umsetzung und Anwendung des Unionsrechts auch die Aktivierung nationaler Verfassungsvorbehalte.94 90
Anagnostaras, 53 CMLR 2016, 1675 (1686). Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (11); J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (144 f.); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 2, 13 ff. 92 Europäische Kommission, Mitteilung v. 11. 03. 2014, COM(2014) 158 final, S. 5; Germelmann, DÖV 2021, 193 (194); J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (145); Leyrer Leifer Nunes, Die rechtliche Entwicklung Ungarns seit 2010, S. 297; Symann, Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 17 ff. 93 Kaufhold, EuR 2012, 408 (421 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (118 f.); von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (713); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 91; Voßkuhle, NJW 2018, 3154 (3155). 94 Kaufhold, EuR 2012, 408 (421 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (118 f.); Germelmann, DÖV 2021, 193 (194). 91
§ 2 Der Vertrauensgrundsatz in der Krise
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2. Fragmentierung des europäischen Rechtsraums Sind aufgrund systemischer Mängel in einem Mitgliedstaat die von Art. 2 EUV umfassten grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Mindeststandards nicht gewährleistet, greift eine Ausnahme von der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung.95 Teils sehen die sekundärrechtlichen Kooperationsinstrumente darüber hinaus weitergehende Kontrollvorbehalte und Anerkennungshindernisse für den Fall von Grundrechtsverletzungen oder Verstößen gegen rechtsstaatliche Verfahrensgarantien vor. Die krisenhaften Entwicklungen in Teilen der Mitgliedstaaten führen dazu, dass die anderen Mitgliedstaaten verstärkt auf diese Ausnahmetatbestände zurückgreifen. Damit einher geht eine Fragmentierung des europäischen Rechtsraums:96 Zwar beanspruchen die sekundärrechtlichen Kooperationsinstrumente formal weiterhin gegenüber allen Mitgliedstaaten Geltung.97 Faktisch finden sie im Verhältnis zu bestimmten Mitgliedstaaten aber nur noch partiell Anwendung, da die anderen Mitgliedstaaten von den Ausnahmetatbeständen Gebrauch machen und die Kooperation verweigern.98 Herrschen in einem Mitgliedstaat flächendeckende Defizite, kommt dies einer Aussetzung der Anwendung des betreffenden Sekundärrechtsakts gleich. Die Gefahr einer Fragmentierung des Unionsrechts wird dadurch erhöht, dass zur Entscheidung über die Frage, ob in einem anderen Mitgliedstaat systemische Defizite vorliegen, die zu einer Widerlegung der Solange-Vermutung führen, die nationalen Instanzgerichte berufen sind.99 Zwar gibt der EuGH den mitgliedstaatlichen Gerichten im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens Entscheidungsmaßstäbe vor und diese können sich, sofern bereits ein Verfahren nach Art. 7 EUV eingeleitet wurde, bei ihrer Entscheidung auf die in einem begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV enthaltenen Informationen stützen.100 Die Entscheidung im Einzelfall erfolgt aber dezentral, was die Gefahr abweichender Entscheidungen und divergierender Praktiken innerhalb der Union mit sich bringt.101
S. oben, → 3. Kapitel. Vgl. L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (86); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (821 f.). 97 Canor, ZaöRV 2013, 249 (261). Entsprechend betont der EuGH, dass die Anwendung des RbEuHb auch bei Vorliegen systemischer Mängel in einem Mitgliedstaat nicht ausgesetzt werden darf, sondern hält am Erfordernis einer zweistufigen Prüfung fest, EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 68 ff. – LM; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 53 ff. – L. u. P. 98 Canor, ZaöRV 2013, 249 (261). 99 GA Emiliou, Schlussanträge v. 04. 05. 2023 – C-819/21, ECLI:EU:C:2023:386 Rn. 64 f. – MD; Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (42); ders., EuR 2019, 111 (127 f.); ders., JZ 2019, 983 (988); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1197); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 686. 100 Vgl. EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 61 – LM. 101 Kulick, JZ 2020, 223 (229); Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (42); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1197). Wendel, 15 EuConst 2019, 17 (41 ff.); ders., EuR 2019, 111 (126 ff.); ders., JZ 2019, 983 (988 f.) schlägt deshalb vor, dass der EuGH mehr Entscheidungsverantwortung über 95 96
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
III. Ergebnis Die Krisenerscheinungen in Teilen der Mitgliedstaaten stellen die horizontale Zusammenarbeit auf Grundlage des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens vor ernste Herausforderungen. Dies gilt insbesondere für die Migrationskrise, die Rechtsstaatlichkeitskrise sowie die Nichtachtung grundlegender menschenrechtlicher Garantien in einigen Mitgliedstaaten. Diese Krisenphänomene führen – wie anhand des Europäischen Haftbefehls und des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gezeigt – unionsweit zu Defiziten bei der Umsetzung und dem Vollzug des vertrauensbasierten Sekundärrechts sowie zu einer Fragmentierung des europäischen Rechtsraums. Es lässt sich von einer Krise des Vertrauensgrundsatzes sprechen, die eine Beeinträchtigung der Einheit, Gleichheit und Wirksamkeit des Unionsrechts nach sich zieht.102
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit Der vorhergehende Abschnitt hat gezeigt, dass es wirkungsvoller Maßnahmen bedarf, um die praktische Wirksamkeit des Vertrauensprinzips zu erhalten. Es ist nicht zu leugnen, dass die aufgezeigten Probleme vielfach realen und weithin sichtbaren Mängeln in den Mitgliedstaaten geschuldet sind, die die Grundlagen des Vertrauensgrundsatzes erschüttern.103 Erforderlich sind daher einerseits Instrumente, die auf eine Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens gerichtet sind. In Ergänzung hierzu sind Mechanismen notwendig, die in der Lage sind, auf krisenhafte Entwicklungen zu reagieren und die horizontale Zusammenarbeit auch in solchen Situationen weitestmöglich zu erhalten. Im Folgenden wird zunächst untersucht, welchen Beitrag die unionale Verfassungsaufsicht zur Bewahrung der Grundlagen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens leisten kann (→ A.). Sodann wird in den Blick genommen, ob Maßnahmen der positiven Integration, insbesondere eine verstärkte sekundärrechtliche Harmonisierung, die Effektivität der vertrauensbasierten Zusammenarbeit fördern können (→ B.). Denkbar erscheint zudem eine Reformierung der sekundärrecht lichen Anerkennungsinstrumente selbst, um deren Funktionsfähigkeit auch in Zeiten krisenhafter Entwicklungen sicherzustellen (→ C.). Die unterschiedlichen Ansätze werden abschließend in einer Gesamtschau bewertet (→ D.). nehmen sollte, was die Feststellung systemischer Mängel im Ausgangsstaat betrifft. Canor, in: von Bogdandy / Bogdanowicz / Canor / Grabenwarter / Taborowski / M. Schmidt, Defending Checks and Balances, S. 183 (198 f.) schlägt vor, dass eine Feststellung systemischer Mängel ausschließlich durch den EuGH erfolgen sollte. Wenn ein Gericht einen systemischen Mangel in einem anderen Mitgliedstaat vermutet, solle das Gericht zunächst eine Vorabentscheidung des EuGH einholen. 102 Vgl. Germelmann, DÖV 2021, 193 (194). 103 F. Meyer, EuR 2017, 163 (184).
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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A. Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens (Verfassungsaufsicht) I. Ausgangspunkt Die praktische Wirksamkeit der vertrauensbasierten horizontalen Zusammenarbeit hängt entscheidend davon ab, dass die Prinzipien des Art. 2 EUV, die das Fundament des Grundsatzes bilden,104 von allen Mitgliedstaaten tatsächlich geachtet werden. Verstöße gegen sie in einzelnen Mitgliedstaaten beschädigen die Zusammenarbeit insgesamt. Die Polykrise der Union hat jedoch deutlich vor Augen geführt, dass die unionsweite Wahrung der gemeinsamen Werte – entgegen der ursprünglichen Erwartungen –105 keinesfalls als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, sondern dass es einer vertrauenssichernden Infrastruktur zur Sicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens bedarf.106 Die Union muss in der Lage sein, die in Art. 2 EUV genannten Werte über den Zeitpunkt des Beitritts hinaus gegenüber den Mitgliedstaaten zu verteidigen.107 Diese Rolle kommt den Instrumenten der unionalen Verfassungsaufsicht108 zu, also demjenigen Instrumentarium des Unionsrechts, das auf den Schutz der gemeinsamen Grundprinzipien durch Beobachtung, Überprüfung und ggfs. Berichtigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen abzielt.109 Darunter fallen insbesondere das Verfahren nach Art. 7 EUV, der EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, das Vertragsverletzungsverfahren und der neu geschaffene Konditionalitätsmechanismus, aber auch Evaluierungsinstrumente, wie etwa der jährliche Bericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit und das EU-Justizbarometer. Vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Jahre werden allerdings Zweifel laut, inwieweit das vorhandene Instrumentarium geeignet ist, das Fundament des Vertrauensgrundsatzes effektiv abzusichern.110 Dieser Frage wird nachfolgend in näherer Auseinandersetzung mit den einzelnen Instrumenten nachgegangen.
104 Zu Art. 2 EUV als Geschäftsgrundlage des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens s. ausführlich oben, → 2. Kapitel, § 2. C. II. 105 Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, ABl. EU 2012 C 12/10, Einleitung Abs. 6. 106 von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (713); Sicurella, 9 NJECL 2018, 308 (318); K ullak, Vertrauen in Europa, S. 188 ff.; Schmidt-Aßmann / Kaufhold, in: Voßkuhle / Eifert / Möllers, Grundlagen des VerwR Bd. 2, § 27 Rn. 19a; allgemein Halberstam, 16 GLJ 2015, 105 (130 f.). 107 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 127 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 145 – Polen / Parlament u. Rat. 108 Eingehend zum Begriff M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 239 ff. Begriff auch bei Franzius, DÖV 2018, 381 (383). 109 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 280. Schorkopf, EuR 2016, 147 (149) spricht vom „Inventar institutionalisierter Wertesicherung“. 110 Vgl. Dörr, ZG 2019, 26; Germelmann, DÖV 2021, 193 (198); Mader, EuZW 2021, 133 (134).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
II. Das Verfahren nach Art. 7 EUV 1. Grundzüge Als zentrales Instrument zur Verteidigung der gemeinsamen Werte nach Art. 2 EUV gegen gravierende Verletzungen durch einzelne Mitgliedstaaten sehen die Europäischen Verträge das Verfahren nach Art. 7 EUV vor.111 Konzeptionell handelt es sich um ein im Kern politisches Verfahren, das den politischen Organen der Union unter weitgehendem Ausschluss des EuGH überantwortet ist (vgl. Art. 269 AEUV).112 Materielle Voraussetzung für ein Vorgehen nach Art. 7 EUV ist eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Grundwerte (Art. 7 Abs. 2 EUV) bzw. auf der ersten Stufe die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung dieser Werte (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 EUV). Es genügt also nicht bereits eine einmalige oder vereinzelte Verletzung einzelner oder mehrerer in Art. 2 EUV genannter Werte, sondern es sind qualifizierte Anforderungen an die Intensität und, ab der zweiten Stufe, an die Dauer der Homogenitätsverletzung zu stellen.113 Singuläre Verstöße sind im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 f. AEUV) zu adressieren.114 Wurde vom Europäischen Rat das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der gemeinsamen Werte durch einen Mitgliedstaat festgestellt, kann der Rat beschließen, bestimmte Rechte des betroffenen Staates auszusetzen, einschließlich der Stimmrechte im Rat (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 EUV). Die Mitgliedschaft in der EU selbst bleibt jedoch unberührt; einen Ausschluss des betroffenen Staates aus der Union ermöglicht Art. 7 EUV nicht.115 Dies ergibt sich einerseits aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach der Rat nur „bestimmte Rechte“ aussetzen kann, als auch aus der Regelung in Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 EUV, wonach die aus der Mitgliedschaft folgenden Pflichten des betroffenen Mitgliedstaats fortbestehen.116 Der Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV-Verfahrens zielt nicht darauf ab, den Zu den einzelnen Verfahrensstufen s. bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. C. V. Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (132); Giegerich, ZEuS 2019, 61 (82); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 164; Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571); Wendel, EuR 2019, 111 (117). 113 Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 16; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 6; Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 31 ff. 114 Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 142; Möllers / Schneider, Demokratiesicherung in der EU, S. 46. 115 Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (129 f.); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (45); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571); Träbert, Sanktionen der EU gegen ihre Mitgliedstaaten, S. 327 f.; Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 5; Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 178 f. 116 Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 5; Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (129 f.); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571). 111 112
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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betroffenen Mitgliedstaat aus der Union herauszulösen, sondern vielmehr darauf, Mitgliedstaaten, die die gemeinsamen Grundwerte systematisch missachten, in Isolation zu nehmen, um ihren schädlichen Einfluss innerhalb der Rechtsgemeinschaft zu minimieren und sie zur Einhaltung der in Art. 2 EUV genannten Werte zu bewegen.117 Angesichts der hohen Hürden des Verfahrens, der weitgehenden Sanktionsmöglichkeiten,118 und der Befürchtung, dass betroffene Mitgliedstaaten anstatt einzulenken, mit einem Austritt aus der EU reagieren könnten, wird Art. 7 EUV teils als die „nukleare Option“ der Union beschrieben – prominent etwa von dem vormaligen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso.119 Diese Beschreibung suggeriert, dass das Verfahren als Abschreckungsmechanismus wirken soll, aber niemals tatsächlich zum Einsatz kommen.120 Unabhängig davon, ob man dieses Verständnis von der Funktion des Art. 7 EUV-Verfahrens teilt,121 hat sich diese Erwartung insoweit als falsch erwiesen, als mit den Verfahren gegen Polen und Ungarn mittlerweile zwei Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV anhängig sind. Erstmals hat die Kommission Ende 2017 ein Art. 7 EUV-Verfahren gegen Polen eingeleitet,122 das sich trotz einer fortschreitenden Verschlechterung der rechtsstaatlichen Situation in Polen aber auch über fünf Jahre später noch auf der Vorstufe des Art. 7 Abs. 1 EUV befindet. Die nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV erforderliche Anhörung Polens und mehrere weitere Anhörungen im Rat blieben ohne konkretes Ergebnis.123 Ob und wann der Rat eine Gefahrenfeststellung i. S. v. Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 EUV treffen wird, ist völlig offen. Im Fall Ungarns ist nicht die Kommission tätig geworden, sondern das nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 EUV ebenfalls initiativberechtigte Europäische Parlament. Am 12. September 2018 nahm das Parlament eine Entschließung an, mit der der Rat aufgefordert wurde, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der gemeinsamen Werte durch Ungarn 117 J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (144); Schorkopf, EuR 2016, 147 (150); Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 5. 118 Ob auch eine vollständige Aussetzung der Mitgliedschaftsrechte möglich ist, wird unterschiedlich beurteilt, so etwa Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 5; ablehnend Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 177; Hau, Sanktionen und Vorfeldmaßnahmen, Rn. 112. 119 Rede zur Lage der Union 2012 vor dem Europäischen Parlament v. 12. 09. 2012, https://ec. europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_12_596 (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023); zustimmend Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1347); Franzius, DÖV 2018, 381 (382). 120 Giegerich, ZEuS 2019, 61 (89); Schorkopf, EuR 2016, 147 (150). 121 Kritisch von Bogdandy, EuZW 2016, 441 (442); Krzan, in: Hofmeister, The End of the Ever Closer Union, S. 143 (149); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2019, 3 (12). 122 Europäische Kommission, Vorschlag v. 20. 12. 2017, COM(2017) 835 final. 123 Vgl. Pressemitteilung zum 3629. Treffen des Rates für Allgemeine Angelegenheiten am 26. 06. 2018 (10519/18), S. 7: „The Council held a hearing under Article 7(1) TEU on the rule of law in Poland. The hearing offered a possibility for ministers to have an in-depth exchange with Poland on the concerns identified in the Commission’s reasoned proposal“, https://www. consilium.europa.eu/media/35866/st10519-en18.pdf (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
besteht.124 Gegen diese Entschließung hat Ungarn, unterstützt durch Polen, Nichtigkeitsklage erhoben und u. a. geltend gemacht, dass es bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses zu einem Verstoß gegen Art. 354 Abs. 4 AEUV gekommen sei. Die Klage blieb vor dem EuGH ohne Erfolg.125 Auch in diesem Verfahren gibt es keine Anzeichen dafür, dass es in absehbarer Zeit zu einem Ratsbeschluss nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 EUV kommen könnte. 2. Bewertung der Wirksamkeit Wie der Verlauf der Verfahren gegen Ungarn und Polen belegt, erweist sich das Art. 7 EUV-Verfahren in der Praxis als schwerfällig und ineffektiv.126 Auch die Kommission teilt diese Einschätzung und hat festgestellt, dass die Fortschritte, die der Rat in den beiden Verfahren erzielt hat, „hätten bedeutsamer sein können“127 und dass die meisten der ermittelten Herausforderungen ungeachtet der durchgeführten Anhörungen weiter ungelöst sind.128 Als effektiver Kontrollmechanismus zur Absicherung der Grundlagen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens fällt Art. 7 EUV damit aus.129 Die Gründe für die Ineffektivität des Instruments sind vielfältig. Das Nadelöhr des Verfahrens bildet das Erfordernis der Einstimmigkeit für die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der gemeinsamen Werte durch den Europäischen Rat (Art. 7 Abs. 2 EUV).130 Zwar darf der betroffene Mitgliedstaat nicht mitstimmen (Art. 7 Abs. 5 EUV, Art. 354 Abs. 1 AEUV), in einer Situation, in der sich rechtsstaatliche Defizite in verschiedenen Mitgliedstaaten zeigen, ist aber damit zu rechnen, dass die betroffenen Staaten sich gegenseitig schützen.131 So haben Polen und Ungarn sich Berichten zufolge gegenseitig eines Vetos versichert.132 Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, ob und ggfs. unter welchen Voraussetzungen ein verbundenes Art. 7 EUV-Verfahren gegen zwei Mitgliedstaaten gleichzeitig 124
Europäisches Parlament, Entschließung v. 12. 09. 2018, ABl. EU 2018 C 433/66. EuGH, Urt. v. 03. 06. 2021 – C-650/18, ECLI:EU:C:2021:426 – Ungarn / Europäisches Parlament. 126 Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1347); Franzius, DÖV 2018, 381; Germelmann, DÖV 2021, 193 (195); Giegerich, ZEuS 2019, 61 (89 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 164; Kulick, JZ 2020, 223 (227); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571); Wendel, EuR 2019, 111 (117); Yamato / Stephan, DÖV 2014, 58 (65). 127 Europäische Kommission, Mitteilung vom 03. 04. 2019, COM(2019) 163 final, S. 3. 128 Europäische Kommission, Mitteilung vom 30. 09. 2020, COM(2020) 580 final, S. 31. 129 Kulick, JZ 2020, 223 (227); Spaventa, 22 MJ 2015, 35 (52). 130 Kadelbach, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 9 (17); Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1348); Germelmann, DÖV 2021, 193 (195); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 45. 131 Kulick, JZ 2020, 223 (224); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571). 132 S. etwa https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-polen-rechtsstaat-artikel-7-eugh-vertraege1.5445810 (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023); Conzelmann, 7 Eur. Papers 2022, 671 (680); Karpenstein, EuZW 2018, 97 (98). 125
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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geführt werden kann, mit der Folge, dass beide Staaten als betroffene Mitgliedstaaten i. S. v. Art. 354 Abs. 1 Satz 1 AEUV von der Abstimmung im Europäischen Rat ausgeschlossen wären.133 Als Argument für die Zulässigkeit einer Verfahrensverbindung ließe sich der effet utile des Art. 7 EUV-Verfahrens und die Gefahr eines kollusiven Zusammenwirkens der betroffenen Mitgliedstaaten anführen. Dagegen sprechen aber der Wortlaut des Art. 7 Abs. 2 EUV („Verletzung… durch einen Mitgliedstaat“) und des Art. 354 Abs. 1 AEUV („das Mitglied des Europäischen Rates oder des Rates, das den betroffenen Mitgliedstaat vertritt“) sowie die Gefahr, dass bei der parallelen Einleitung von Verfahren gegen eine Mehrzahl von Mitgliedstaaten eine vergleichsweise geringe Anzahl von Staaten eine entsprechende Feststellung treffen könnte.134 Das Einstimmigkeitserfordernis wurde angesichts des hochpolitischen Charakters des Art. 7 EUV-Verfahrens aber bewusst gewählt.135 Einen Vorfeldbeschluss nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 EUV kann der Rat mit einer Mehrheit von „nur“ vier Fünfteln seiner Mitglieder fassen. Auch hier ist das Mitglied des Rates, das den betroffenen Mitgliedstaat vertritt, nicht stimmberechtigt und wird bei der Berechnung des notwendigen Quorums nicht berücksichtigt (Art. 7 Abs. 5 EUV i. V. m. Art. 354 Abs. 1 AEUV).136 Bei derzeit 27 Mitgliedstaaten könnte der Rat einen entsprechenden Beschluss also bereits mit den Stimmen von 21 Mitgliedstaaten fassen.137 Dass der Rat bislang dennoch in keinem Verfahren eine solche Feststellung getroffen hat, legt nahe, dass ein entschlosseneres Vorgehen nicht nur an der Ausgestaltung des Art. 7 EUV, sondern auch am fehlenden politischen Willen der Mitgliedstaaten scheitert, von dem Instrument Gebrauch zu machen.138 Selbst wenn es aber zu einer solchen Feststellung kommen sollte, erscheint fraglich, ob sich der Mitgliedstaat davon allein beeindrucken ließe und sich dazu veranlasst sähe, die Gründe, die zu der Feststellung geführt haben, auszuräumen.139
133
Dafür Möllers / Schneider, Demokratiesicherung in der EU, S. 120 f.; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 20; Krzan, in: Hofmeister, The End of the Ever Closer Union, S. 143 (164); Scheppele, VerfBlog 2016/10/24, DOI: 10.17176/20161024-111216; Thiele, VerfBlog 2017/07/24, DOI: 10.17176/20170724-153603; ablehnend Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 175; Germelmann, DÖV 2021, 193 (195); Giegerich, ZEuS 2019, 61 (86); Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 21; Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 47 f.; unentschlossen Kadelbach, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 9 (17). 134 Kadelbach, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 9 (17); Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 175; Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 21; Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 47. 135 Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 47 f.; vgl. Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 175. 136 Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 143; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 13; Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 23. 137 Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 143. 138 Bárd / van Ballegooij, 9 NJECL 2018, 353 (355); Nickel, EuR 2017, 663 (679). 139 Dörr, ZG 2019, 26 (35); Nickel, EuR 2017, 663 (674).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
3. Ergänzung durch den EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit Ergänzt wird das Verfahren nach Art. 7 EUV durch den sog. EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, den die Kommission auf Aufforderung des Rates und des Europäischen Parlaments erarbeitet hat, um Lücken im Vorfeld des Verfahrens zu schließen.140 Das Instrument soll zur Anwendung gelangen, wenn sich in einem Mitgliedstaat systemimmanente Gefährdungen für die Rechtsstaatlichkeit zeigen, die sich zu einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit i. S. v. Art. 7 Abs. 1 EUV entwickeln könnten. Es sieht die Durchführung eines strukturierten, bilateralen Rechtsstaatsdialogs zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat vor, in dem die festgestellten Defizite erörtert und nach Möglichkeit kooperativ gelöst werden sollen. Gefahren für das Rechtsstaatsprinzip sollen auf diese Weise abgewendet werden, bevor die Voraussetzungen für die Aktivierung des Mechanismus in Art. 7 EUV eintreten. Der EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit bildet also gleichsam das informelle Vorverfahren des Art. 7 EUV-Verfahrens.141 Er ist zu unterscheiden von dem „Rechtsstaatlichkeitsdialog“ des Rates, der in regelmäßigen Abständen allgemeine Fragen und europäische Entwicklungen im Themenfeld der Rechtsstaatlichkeit behandelt.142 Das Verfahren umfasst drei Stufen: Auf der ersten Stufe nimmt die Kommission eine Sachstandsanalyse vor und prüft, ob es klare Anzeichen für eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit gibt. Gelangt sie zu dem Ergebnis, dass eine solche Gefährdung vorliegt, richtet sie eine „Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit“ an den betroffenen Mitgliedstaat, in der sie ihre Bedenken begründet, und gibt dem Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung. Sofern der Mitgliedstaat auf die festgestellte Gefährdung nicht angemessen reagiert, richtet die Kommission in der zweiten Verfahrensphase eine „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ an den Mitgliedstaat, in der sie die Gründe für ihre Bedenken erneut darlegt und dem Mitgliedstaat eine Frist setzt, innerhalb derer er die beanstandeten Probleme zu beheben hat. Die Empfehlungen sind zwar nicht rechtlich verbindlich (Art. 288 Abs. 5 AEUV), ihr wesentlicher Inhalt wird aber veröffentlicht. Im dritten Verfahrensstadium überwacht die Kommission die Maßnahmen, die der betroffene Mitgliedstaat zur Umsetzung der getroffenen Empfehlung hin ergreift. Kommt der Mitgliedstaat
140
Europäische Kommission, Mitteilung v. 11. 03. 2014, COM(2014) 158 final. Näher zum Entstehungshintergrund Krzan, in: Hofmeister, The End of the Ever Closer Union, S. 143 (150 f.); Besselink, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 128 (134 f.). 141 Germelmann, DÖV 2021, 193 (196). 142 Germelmann, DÖV 2021, 193 (196); Diel-Gligor, ZRP 2021, 63 (64); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (49). Näher zum Rechtsstaatlichkeitsdialog des Rates s. Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 235 ff.; Krzan, in: Hofmeister, The End of the Ever Closer Union, S. 143 (156 ff.); Leyrer Leifes Nunes, Die rechtliche Entwicklung Ungarns seit 2010, S. 315 f. Zur Weiterentwicklung des Formats zu einem „Peer Review“ Conzelmann, 7 Eur. Papers 2022, 671 (686 ff.).
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der Empfehlung innerhalb der gesetzten Frist nicht zufriedenstellend nach, prüft die Kommission die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 7 EUV. Ob die EU über die Kompetenz zur Einführung dieses „Vorverfahrens“ zu Art. 7 EUV verfügt, ist nicht abschließend geklärt.143 Teile der Literatur halten eine gesonderte Rechtsgrundlage unter Verweis auf die rechtliche Unverbindlichkeit der ausgesprochenen Stellungnahmen und Empfehlungen sowie den primär politischen Charakter des Verfahrens für entbehrlich.144 Hält man ungeachtet der rechtlichen Unverbindlichkeit der Maßnahmen aufgrund ihrer Steuerungswirkung eine Rechtsgrundlage für erforderlich,145 dürfte viel dafür sprechen, eine implizite Grundlage für das Instrument in Art. 7 EUV zu sehen.146 Der Rechtsstaatsdialog ist eng an den Tatbestand des Art. 7 EUV angelehnt und dient als Vorfeldmaßnahme für ein formelles Verfahren. Als vorschlagsberechtigtes Organ ist die Kommission bereits vor der formellen Einleitung eines Verfahrens nach Art. 7 EUV befugt, die Entwicklung in den Mitgliedstaaten zu überwachen und in einen Dialog mit potentiell rechtsverletzenden Mitgliedstaaten zu treten, um sich bei ihrer Entscheidung über die Vorlage eines begründeten Vorschlags nach Art. 7 Abs. 1 EUV auf eine solide Entscheidungsbasis stützen zu können.147 Der EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit gestaltet diesen Vorbereitungsprozess lediglich aus, gibt ihm eine Struktur und erhöht seine Transparenz.148 Entsprechend hat auch der EuGH das Verfahren nicht beanstandet.149 Erstmals Anwendung gefunden hat das neue Instrument im Verhältnis zu Polen.150 Nach intensivem Dialog mit der polnischen Regierung nahm die Kommission am 1. Juni 2016 eine Stellungnahme zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in 143 Zweifelnd Skouris, EuR 2015, Beiheft 2, 9 (17); Wunderlich, EuR 2019, 557 (572); das Fehlen einer Rechtsgrundlage beanstandet ein Gutachten des juristischen Dienstes des Rats v. 27. 05. 2014, Dok. 10296, https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10296-2014INIT/de/pdf (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 144 von Bogdandy / Ioannidis, ZaöRV 2014, 283 (324); Franzius, DÖV 2018, 381 (382); L eyrer Leifer Nunes, Die rechtliche Entwicklung Ungarns seit 2010, S. 299 f.; Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 194; in diese Richtung auch Wunderlich, EuR 2019, 557 (572); a. A. Giegerich, in: FS Stein, S. 499 (534). 145 Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 157 ff.; von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (726). 146 Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (139); Bletten berg, Reaktionsmechanismen, S. 159 ff.; von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (726); Krzan, in: Hofmeister, The End of the Ever Closer Union, S. 143 (155); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (49); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (16); M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 384 ff. 147 Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (16); Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (134, 139). 148 Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 159 ff.; Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (16); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (49); Wilms, Protecting Fundamental Values in the EU, S. 76. 149 EuGH, Beschl. v. 17. 12. 2018 – C-619/18, ECLI:EU:C:2018:1021 Rn. 81 ff. – Kommission / Polen. 150 Ausführlich hierzu statt vieler Hofmeister, DVBl. 2016, 869; Krzan, in: Hofmeister, The End of the Ever Closer Union, S. 143 (164 ff.); Nickel, EuR 2017, 663 (670 ff.).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
Polen an.151 Kurze Zeit später, am 27. Juli 2016, verabschiedete die Kommission ihre erste Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit152 und am 21. Dezember 2016 eine zweite ergänzende Empfehlung, weil der Mitgliedstaat bis dahin keine oder nur unzureichende Maßnahmen zur Beseitigung der festgestellten Missstände ergriffen hatte und aufgrund der fortschreitenden Entwicklung zudem neue Bedenken aufgekommen waren.153 Am 26. Juli und am 20. Dezember 2017 folgten eine dritte und vierte Empfehlung.154 Insgesamt muss die Durchführung des Rechtsstaatsdialogs mit Polen als erfolglos bewertet werden, da das Verfahren die Verantwortlichen in keiner Weise veranlasst hat, die erforderlichen Maßnahmen zur Behebung der festgestellten rechtsstaatlichen Defizite zu ergreifen.155 Vielmehr hat sich die Lage in dem Mitgliedstaat während des Verfahrens kontinuierlich weiter verschlechtert. Gegenüber Ungarn hat die Europäische Kommission den EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips trotz mehrfacher Aufforderung durch das Parlament156 nicht zur Anwendung gebracht. Der EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips setzt auf eine politische Lösung im Wege des Dialogs mit dem betroffenen Mitgliedstaat. Darin liegt zugleich seine Schwäche: Dieses Vorgehen verspricht nur Erfolg, sofern aufseiten des betroffenen Mitgliedstaats die notwendige Dialog- und Kooperationsbereitschaft besteht und die ernsthafte Absicht, die festgestellten Defizite im Zusammenwirken mit der Kommission auszuräumen.157 Im Umgang mit mitgliedstaatlichen Regierungen, deren Handeln auf einen planvollen und systematischen Abbau rechtsstaatlicher Strukturen zielt, erweist sich das Instrument daher als wirkungslos.158 Das belegt die Fruchtlosigkeit des Dialogs mit Polen. In solchen Fällen erscheint die Durchführung des Rechtsstaatsdialogs eher kontraproduktiv, weil es strategisch handelnden Regierungen lediglich zusätzliche Zeit verschafft, in der sie ihre Agenda weitgehend unbehelligt weiterverfolgen können.159 Die Erwartung der 151
Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 01. 06. 2016, https://ec.europa.eu/commission/ presscorner/detail/de/IP_16_2015 (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 152 Europäische Kommission, Empfehlung (EU) 2016/1374 v. 27. 07. 2016, ABl. EU 2016 L 217/53. 153 Europäische Kommission, Empfehlung (EU) 2017/146 v. 21. 12. 2016, ABl. EU 2016 L 22/65. 154 Europäische Kommission, Empfehlung (EU) 2017/1520 v. 26. 07. 2017, ABl. EU 2017 L 228/19; Empfehlung (EU) 2018/103 v. 20. 12. 2017, ABl. EU 2018 L 17/50. 155 Dörr, ZG 2019, 26 (36); Franzius, DÖV 2018, 381 (383); Germelmann, DÖV 2021, 193 (196); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (50); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (572, 593 f.); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 193. 156 S. etwa Europäisches Parlament, Entschließung v. 16. 12. 2015, P8 TA (2015)0461, Ziff. 8. 157 Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Íñiguez, 23 GLJ 2022, 1104 (1107); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (568); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (27); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (57). 158 Hofmeister, DVBl. 2016, 869 (874 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 191; vgl. Mader, EuZW 2021, 917 (918). 159 Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Mader, EuZW 2021, 917 (919); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (27); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 195 f.
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Kommission, dass die Mitgliedstaaten während der Dauer des Verfahrens von irreversiblen Maßnahmen in Bezug auf die von der Kommission geltend gemachten Bedenken Abstand nehmen,160 dürfte sich hier – wie das Beispiel Polens zeigt – kaum bewahrheiten. Mit Blick auf die Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens ist zudem der beschränkte Anwendungsbereich des EU-Rahmens zu beachten. Das Instrument greift nur bei systemischen Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit, nicht aber hinsichtlich anderer Werte des Art. 2 EUV. 4. Ergänzung durch eine sog. Kopenhagen-Kommission? Ergänzend zum Verfahren nach Art. 7 EUV wird teilweise die Einrichtung einer sog. Kopenhagen-Kommission vorgeschlagen, die dafür zuständig sein soll, nach dem Beitritt zur EU die Wahrung der Werte des Art. 2 EUV durch die Mitgliedstaaten zu überwachen.161 Die zu schaffende Kommission soll – ähnlich der Venedig-Kommission des Europarats – aus angesehenen Experten aus den Bereichen Recht und Politik zusammengesetzt sein.162 Sofern in einem Mitgliedstaat ein systematischer Rückbau rechtsstaatlicher Prinzipien zu beobachten ist, soll die Kopenhagen Kommission ermächtigt sein, die Situation zu untersuchen und Maßnahmen zu ergreifen, die über unverbindliche Empfehlungen hinausgehen, aber weniger einschneidend sind als die in Art. 7 EUV vorgesehenen Sanktionen.163 Vorgeschlagen wird etwa, dass die Europäische Kommission bei Feststellung entsprechender Defizite durch die Kopenhagen-Kommission verpflichtet sein soll, die Mittel zu kürzen, die der betroffene Staat von der EU erhält, oder Geldstrafen zu verhängen.164 In eine ähnliche Richtung geht auch der Vorschlag zur Schaffung eines „Systemic Deficiency Committee“.165 Der Ansatz, eine unparteiische und unpolitische Expertenkommission als „glaubwürdigen Wächter“ der europäischen Werte zu installieren, mag auf den ersten Blick einleuchten, wirft aber bei näherem Hinsehen erhebliche Fragen hinsichtlich der Legitimation der vorgeschlagenen Kommission auf.166 Es fehlt zudem an einer überzeugenden Begründung dafür, dass es für die Erfüllung der der Kopenhagen-Kommission zugeschriebenen Rolle der Schaffung einer neuen Institution 160
Europäische Kommission, Mitteilung v. 11. 03. 2014, COM(2014) 158 final, S. 8. J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (149 ff.); ders., in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 206 (211 ff.). 162 J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (150 f.); ders., in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 206 (214). 163 J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (151). 164 J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (151); ders., in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 206 (217). 165 von Bogdandy / Antpöhler / Ioannidis, MPIL Research Paper Series 2016-04, 1 (16 ff.); dies., in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 218 (228 ff.). 166 Franzius, VerfBlog 2013/04/08, DOI: 10.17176/20171014-160449. Kritisch deshalb auch Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 14. 161
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
neben der Europäischen Kommission bedarf.167 Fraglich erscheint auch, welchen Mehrwert die vorgeschlagene Kommission neben dem zwischenzeitlich eingerichteten Rechtsstaatsmonitoring der Kommission168 und dem neu geschaffenen Konditionalitätsmechanismus, der es der Union ermöglicht, bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien finanzwirksame Maßnahmen gegen einen Mitgliedstaat zu ergreifen,169 leisten könnte. Soll die Kommission mit Sanktionsbefugnissen ausgestattet werden, bedürfte ihre Einrichtung zudem einer Vertragsänderung, die politisch auf absehbare Zeit kaum durchsetzbar sein dürfte.170 Schon deshalb kann der Vorschlag einer Kopenhagen Kommission – wie jeder Vorschlag, der eine Änderung des Primärrechts voraussetzt – auf kurz- und mittelfristige Sicht keinen Beitrag zur Absicherung der Grundlagen des Vertrauensgrundsatzes leisten. III. Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) Da sich das Verfahren nach Art. 7 EUV als praktisch wenig effektiv erwiesen hat, stellt sich die Frage nach weiteren, wirksameren Instrumenten zur Sicherung und Durchsetzung der gemeinsamen Werte. Angesichts der Blockade auf poli tischer Ebene haben dabei gerichtliche Durchsetzungsinstrumente Bedeutung erlangt, in erster Linie das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV. 1. Einsatz des Vertragsverletzungsverfahrens zur Sicherung der gemeinsamen Werte a) Grundzüge Gemäß Art. 258 Abs. 1, Art. 259 Abs. 1 AEUV können sowohl die Kommission als auch die Mitgliedstaaten den EuGH anrufen, wenn sie der Auffassung sind, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstößt. Prüfungsmaßstab im Vertragsverletzungsverfahren ist das Unionsrecht.171 Haben Grundrechts- und Verfahrensstandards eine sekundärrechtliche Harmonisierung erfahren, kann ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verletzung dieser Be-
167
Vgl. Komárek, VerfBlog 2013/03/25, DOI: 10.17176/20181005-173858-0: „The establishment of the ‚Copenhagen Commission‘ is the familiar, but repeatedly unsuccessful EU strategy of creating a new institution rather than its addressing the real problem.“ 168 Hierzu unten, → 4. Kapitel, § 3. A. VI. 2. 169 Hierzu unten, → 4. Kapitel, § 3. A. V. 170 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 192 f.; Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1184); Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 246. 171 W. Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 34; J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (147); Burgi, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Hb. d. Rechtschutzes in der EU, § 6 Rn. 45.
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stimmungen – und ggfs. zugleich der Unionsgrundrechte – erfolgen.172 Die in verschiedenen Mitgliedstaaten auftretenden systemischen Defizite bei der Wahrung menschenrechtlicher Gewährleistungen und rechtsstaatlicher Prinzipien betreffen aber häufig Bereiche, die auf den ersten Blick außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts zu liegen scheinen, wie etwa die Ausgestaltung der nationalen Justizsysteme oder die Bedingungen in den mitgliedstaatlichen Haftanstalten.173 Will man das Vertragsverletzungsverfahren gegen diese Defizite nutzbar machen, stellt sich die Herausforderung, konkrete Bestimmungen des Unionsrechts auszumachen, deren Verletzung vor dem EuGH geltend gemacht werden kann. Ein Ansatz zur Lösung dieses Problems besteht darin, sich auf Bestimmungen des Unionsrechts zu stützen, die nicht speziell auf die Sicherung der gemeinsamen Werte ausgerichtet sind, aber dennoch von den Defiziten berührt werden, z. B. die Grundfreiheiten oder sekundärrechtliche Bestimmungen.174 So ist die Kommission gegen die Absenkung der Altersgrenze für die ungarischen Richter und Staatsanwälte von 70 auf 62 Jahre, deren Ziel es war, die ausscheidenden Richter durch regierungsfreundliche Richter zu ersetzen, wegen Altersdiskriminierung entgegen der RL 2000/78/EG vorgegangen und nicht wegen des in dieser Reform liegenden Angriffs auf die richterliche Unabhängigkeit.175 Ein weiteres Beispiel bietet das Vertragsverletzungsverfahren wegen des ungarischen Hochschulgesetzes, das die Central European University zum Wegzug aus Ungarn zwang: In diesem Verfahren stützte sich die Kommission auf Verstöße gegen das GATS-Abkommen, die RL 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt, die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit sowie die Unionsgrundrechte.176 Der weitere Fortgang des Verfahrens gegen Ungarn wegen der Herabsetzung der Altersgrenze für Richter verdeutlicht jedoch die Schwächen dieses Ansatzes. Zwar war die Klage vor dem EuGH erfolgreich, dem eigentlichen Problem, dem Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, konnte die Kommission auf diesem Weg aber nicht wirksam begegnen: Die ungarische Regierung half im Nachgang des Verfahrens der Altersdiskriminierung ab, indem sie den vorzeitig in den Ruhestand versetzten Richtern anstatt einer Rückkehr eine finanzielle Entschädigung anbot, die von vielen Betroffenen angenommen wurde.177 172
Vgl. etwa die Verfahren EuGH, Urt. v. 02. 04. 2020 – C-715/17 u. a., ECLI:EU:C:2020:257 – Kommission / Polen u. a.; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-808/18, ECLI:EU:C:2020:1029 – Kommission / Ungarn; Urt. v. 16. 11. 2021 – C-821/19, ECLI:EU:C:2021:930 – Kommission / Ungarn gegen Ungarn und Polen wegen verschiedener Verstöße gegen Bestimmungen des EU-Asylrechts. 173 J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (147); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1186). 174 Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1186 f.). 175 EuGH, Urt. v. 06. 11. 2012 – C-286/12, ECLI:EU:C:2012:687 – Kommission / Ungarn. 176 EuGH, Urt. v. 06. 10. 2020 – C-66/18, ECLI:EU:C:2020:792 – Kommission / Ungarn; Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (13). 177 S. hierzu Bonelli, 18 EuConst 2022, 30 (33); Kulick, JZ 2020, 223 (228); Scheppele, in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 105 (109 f.); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 30.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
Bei ihrem Vorgehen gegen die polnischen Justizreformen wählte die Kommission deshalb einen anderen Ansatz und stützte das Vertragsverletzungsverfahren darauf, dass Polen durch die Herabsetzungen des Ruhestandsalters von polnischen Richtern und Staatsanwälten gegen seine Verpflichtung aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zur Einrichtung unabhängiger Gerichte verstoßen habe. Der EuGH stellte in Anknüpfung an seine Rechtsprechung in der Sache ASJP178 einen Verstoß gegen diese Bestimmungen fest: Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV konkretisiere den in Art. 2 EUV normierten Wert der Rechtsstaatlichkeit und verpflichte die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ i. S. d. Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems sind und in dieser Eigenschaft möglicherweise über die Anwendung oder die Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden.179 In Anbetracht der Regelungsdichte des Unionsrechts betrifft dies praktisch alle mitgliedstaatlichen Gerichte.180 Um zu gewährleisten, dass die Gerichte in der Lage sind, einen wirksamen Rechtsschutz zu bieten, sei es von grundlegender Bedeutung, dass ihre Unabhängigkeit gewahrt ist.181 Dies bestätige die Regelung in Art. 47 Abs. 2 GRCh, wonach das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. den Zugang zu einem „unabhängigen Gericht“ umfasse.182 Diese Auslegung des Art. 19 Abs. 1 EUV bewirkte einen erheblichen Bedeutungsgewinn des Vertragsverletzungsverfahrens bei der Kontrolle mitgliedstaatlicher Maßnahmen, die auf eine Unterminierung der richterlichen Unabhängigkeit zielen.183 b) Vertragsverletzungsverfahren wegen Verletzung von Art. 2 EUV? Die Krisenerscheinungen in den Mitgliedstaaten beschränken sich aber nicht auf Gefahren für die Unabhängigkeit der Justiz. Außerhalb dieses Bereichs dürfte es nicht immer gelingen, der Verletzung menschenrechtlicher und rechtsstaat licher Standards unter Rückgriff auf sekundärrechtliche Regelungen, die Grundfreiheiten, die Unionsgrundrechte oder sonstige Vorschriften des Primärrechts zu begegnen.184 Es fragt sich deshalb, ob Vertragsverletzungsverfahren neben Ver-
178
EuGH, Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 – ASJP. EuGH, Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 47, 55 – Kommission / Polen; Urt. v. 05. 11. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 98, 103 – Kommission / Polen. 180 Spieker, 59 CMLR 2022, 777 (783); Bonelli, 18 EuConst 2022, 30 (36). 181 EuGH, Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 57 – Kommission / Polen; Urt. v. 05. 11. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 105 – Kommission / Polen. 182 EuGH, Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 57 – Kommission / Polen; Urt. v. 05. 11. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 105 – Kommission / Polen. Kritik an der Entscheidung bei Kulick, JZ 2020, 223 (228 f.); Schorkopf, JZ 2020, 477 (483 ff.). 183 Bonelli, 18 EuConst 2022, 30 (36); Kulick, JZ 2020, 223 (231); Germelmann, DÖV 2021, 193 (195). 184 Ausführlich Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1187 ff.). 179
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stößen gegen unionsrechtliche Einzelbestimmungen auch auf eine Verletzung von Art. 2 EUV gestützt werden können.185 Gegen eine Heranziehung von Art. 2 EUV im Vertragsverletzungsverfahren lässt sich nicht einwenden, dass es an der Justiziabilität der gemeinsamen Werte fehle.186 Bei den in Art. 2 EUV normierten Werten handelt es sich um europäische Rechtsgrundsätze, die einer unmittelbaren Anwendung durch den EuGH zugänglich sind.187 Art. 7 EUV bildet darüber hinaus keine abschließende Spezialregelung zur Sanktionierung von Verstößen gegen die gemeinsamen Werte, die die Ahndung von Verstößen gegen Werte des Art. 2 EUV im Vertragsverletzungsverfahren ausschließen würde:188 In den Verträgen findet sich kein Hinweis auf eine Spezialität des Art. 7 EUV oder darauf, dass dieses Verfahren das einzige zum Schutz der Werte des Art. 2 EUV sein soll.189 Die Bezugnahme auf eine „Verpflichtung aus den Verträgen“ in den Art. 258 f. AEUV umfasst vielmehr alle Rechtsvorschriften des Unionsrechts.190 Die Verfahren unterscheiden sich zudem in ihrer Zielsetzung,
185
Dafür Dörr, ZG 2019, 26 (37); Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Giegerich, ZEuS 2019, 61 (95 f.); Scheppele, in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 105 (114 ff.); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (39); Sangi / Wittmer, EuZW 2021, 481 (482); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 50 ff.; ablehnend Bonelli, 18 EuConst 2022, 30 (44 ff.); Kochenov / Pech, 11 EuConst 2015, 512 (520); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (45 f.); Pechstein, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 33; Korte, Standortfaktor Öffentliches Recht, S. 190 f.; zweifelnd GA Pikamäe, Schlussanträge v. 11. 12. 2019 – C-457/18, ECLI:EU:C:2019:1067 Rn. 132 f. – Slowenien / Kroatien; Prete, Infringement Proceedings, S. 225. In dem anhängigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen des 2021 verabschiedeten sog. „AntiLGBTQ-Gesetzes“ (C-769/22) macht die Kommission – soweit ersichtlich erstmals – in einem der Punkte isoliert eine Verletzung von Art. 2 EUV geltend. 186 So aber Kochenov / Pech, 11 EuConst 2015, 512 (519 f.); Terhechte, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 2 EUV Rn. 11. 187 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 329 – Polen / Parlament u. Rat; von Bogdandy, ZaöRV 2019, 503 (538); ders., 57 CMLR 2020, 705 (727); Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482). Ausführlich zur Justiziabilität der Werte des Art. 2 Satz 1 EUV s. bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. C. II. 3. a) bb). 188 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 159 ff. – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 195 ff. – Polen / Parlament u. Rat; GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50 – Kommission / Polen; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (82 f.); Hillion, in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 59 (71 ff.); Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482); M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1069 ff.); Sommermann, in: Niedobitek, EuropaR, § 3 Rn. 64; Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1202); a. A. Kochenov / Pech, 11 EuConst 2015, 512 (520); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (45 f.). 189 GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50 – Kommission / Polen; Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 52, 128 f.; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (82 f.); Hillion, in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 59 (72). 190 GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50 – Kommission / Polen; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (82 f.); M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1070).
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ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen.191 Bei Art. 7 EUV handelt es sich um ein politisches Verfahren, an dessen Ende die Aussetzung der Mitgliedschaftsrechte eines Mitgliedstaates stehen kann. Primärer Zweck des Verfahrens ist es, Mitgliedstaaten, die eine Zusammenarbeit durch anhaltende Werteverstöße unmöglich machen, zu isolieren.192 Es findet daher nur in Fällen Anwendung, in denen ein Mitgliedstaat schwerwiegend und dauerhaft gegen die gemeinsamen Fundamentalprinzipien verstößt, sodass seine Mitwirkung innerhalb der Rechtsgemeinschaft den anderen Mitgliedstaaten nicht mehr zugemutet werden kann.193 Das Vertragsverletzungsverfahren ist dagegen ein gerichtliches Verfahren, das auf die Feststellung und Beendigung einzelner Vertragsverletzungen gerichtet ist,194 und so die unionsweit einheitliche Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts absichern soll.195 Zur Durchsetzung klagestattgebender Urteile sieht Art. 260 AEUV finanzielle Sanktionen vor.196 Selbst wenn der EuGH im Vertragsverletzungsverfahren einzelne Verstöße gegen Art. 2 EUV feststellt, kann also ein berechtigtes Interesse daran bestehen, auch politische Sanktionen nach Art. 7 EUV zu verhängen, und umgekehrt.197 Beide Verfahren finden folglich parallel Anwendung. Dass die Kommission und der EuGH bei Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit nicht direkt auf Art. 2 EUV abstellen, sondern auf Art. 19 Abs. 1 EUV, dürfte darin begründet sein, dass es sich bei Art. 19 Abs. 1 EUV um eine Konkretisierung des in Art. 2 EUV enthaltenen Wertes der Rechtsstaatlichkeit handelt.198 Als problematisch könnte sich allenfalls der fallspezifische Charakter des Vertragsverletzungsverfahrens erweisen.199 Das Vertragsverletzungsverfahren erlaubt die Rüge einzelner Vertragsverstöße, während die Erosion von menschenrecht lichen und rechtsstaatlichen Standards in einem Mitgliedstaat regelmäßig ein
191
GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (83); Hillion, in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 59 (73); M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1071 ff.); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1202). 192 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (83); J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (144); Schorkopf, EuR 2016, 147 (150); Scheppele, in: Closa / Kochenov, Reinforcing Rule of Law Oversight, S. 105 (106). 193 Murswiek, NVwZ 2009, 481 (482). 194 GA Tanchev, Schlussanträge v. 11. 04. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:325 Rn. 50; M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1073). 195 Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 198 f. 196 Hierzu sogleich näher, → 4. Kapitel, § 3. A. III. 1. c). 197 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (83). 198 Vgl. EuGH, Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 47 – Kommission / Polen; Urt. v. 05. 11. 2019 – C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 98 – Kommission / Polen; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357–19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 221 – Eurobox Promotion u. a.; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 160 – Ungarn / Parlament u. Rat; Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1202, 1204 ff.); Pohjankoski, 58 CMLR 2021, 1341 (1346 f.). 199 Schorkopf, Homogenität in der EU, S. 108; Kulick, JZ 2020, 223 (227); von Bogdandy / Ioannidis, 51 CMLR 2014, 59 (61).
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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systemisches Phänomen ist, das sich in einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen manifestiert.200 Im Vertragsverletzungsverfahren können solche systemischen Phänomene aber nur jeweils anhand der einzelnen, konkreten Rechtsverstöße thematisiert werden.201 Hieraus lassen sich jedoch allenfalls Zweifel an der Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens zur Bekämpfung systemischer Defizite in den Mitgliedstaaten ableiten, nicht aber Argumente gegen die rechtliche Zulässigkeit eines auf Art. 2 EUV gestützten Vorgehens.202 c) Durchsetzung klagestattgebender Entscheidungen Stellt der EuGH im Vertragsverletzungsverfahren einen Verstoß gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen fest, hat der verurteilte Mitgliedstaat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil ergeben (Art. 260 Abs. 1 AEUV). Sofern der Mitgliedstaat das Urteil nicht oder nur unzureichend umsetzt, kann die Kommission, nachdem sie dem Mitgliedstaat zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, ein sog. Follow-Up-Verfahren einleiten (Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV). Kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann er die Zahlung eines Pauschalbetrags und / oder eines Zwangsgelds verhängen (Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV). Bei dem Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV handelt es sich dogmatisch um ein besonderes Vollstreckungsverfahren zur Durchsetzung von in Vertragsverletzungsverfahren ergangenen Urteilen.203 Das Verfahren soll „wirtschaftlichen Zwang“ auf den Mitgliedstaat ausüben, der ihn dazu veranlasst, die festgestellte Vertragsverletzung abzustellen.204 In der Regel beantragt die Kommission die Festsetzung sowohl eines Zwangsgelds als auch eines Pauschalbetrags: Der Pauschalbetrag soll der Ahndung des Verstoßes für den Zeitraum zwischen dem den Verstoß feststellenden ersten Urteil und dem Urteil nach Art. 260 Abs. 2 AEUV dienen, die Verhängung des Zwangsgeld erfolgt für jeden weiteren Tag, an dem der Staat dem Urteil nicht nachkommt.205 Verweigert der verurteilte Mitgliedstaat die Zahlung des Pauschalbetrags und / oder des Zwangsgelds, kann die Union ihre Zahlungsansprüche gegen Ansprüche des
200
Kulick, JZ 2020, 223 (227). Payandeh, JuS 2021, 481 (487). 202 L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (82). 203 EuGH, Urt. v. 12. 07. 2005 – C-304/02, ECLI:EU:C:2005:444 Rn. 92 – Kommission / Frankreich; Urt. v. 10. 09. 2009 – C-457/07, ECLI:EU:C:2009:531 Rn. 47 – Kommission / Portugal; Urt. v. 15. 01. 2014 – C-292/11 P, ECLI:EU:C:2014:3 Rn. 39 f. – Kommission / Portugal; Wunderlich, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 260 AEUV Rn. 14. 204 EuGH, Urt. v. 12. 07. 2005 – C-304/02, ECLI:EU:C:2005:444 Rn. 92 – Kommission / Frankreich; Wunderlich, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 260 AEUV Rn. 14. 205 Europäische Kommission, Mitteilung, SEK(2005)1658, Ziff. 10.3; Pohjankoski, 58 CMLR 2021, 1341 (1354). 201
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
Mitgliedstaats auf EU-Mittel aufrechnen.206 Zwar fehlt es an einer ausdrücklichen Regelung hierzu in den Verträgen. Da die Aufrechnung in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anerkannt ist, lässt sich aber auf die Existenz eines entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Unionsrecht schließen.207 2. Einstweilige Anordnungen (Art. 279 AEUV) Das Vertragsverletzungsverfahren nimmt wegen seiner Mehrstufigkeit und der Dauer des Klageverfahrens vor dem EuGH erhebliche Zeit in Anspruch.208 Von der Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens bis zur Feststellung der Vertragsverletzung durch den EuGH vergehen selten weniger als drei Jahre.209 Droht in der Zwischenzeit der Eintritt irreparabler und schwerwiegender Schäden, kann der EuGH auf Antrag der Kommission eine einstweilige Anordnung (Art. 279 AEUV) zur vorläufigen Suspendierung der verfahrensgegenständlichen Maßnahmen erlassen.210 Den teilweise geäußerten Einwand, dass der Erlass entsprechender Anordnungen über die im Hauptverfahren nach Art. 260 Abs. 1 AEUV allein mögliche Feststellung einer Vertragsverletzung hinausgehe und daher nicht von der Kompetenz des EuGH umfasst sei,211 hat der Gerichtshof nicht aufgegriffen.212
206 Giegerich, ZEuS 2019, 61 (103 f.); Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 260 AEUV Rn. 76; Pechstein, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 260 AEUV Rn. 20; Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (42); Pohjankoski, 58 CMLR 2021, 1341 (1358 ff.); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (595); Wunderlich, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 258 AEUV Rn. 39; a. A. Klamert, EuR 2018, 159 (171); Härtel, EuR 2001, 617 (622). Erstmals Gebrauch gemacht hat die EU von dieser Möglichkeit im Konflikt mit Polen um den Weiterbetrieb des Braunkohletagebaus Turów. 207 Giegerich, ZEuS 2019, 61 (103); Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 260 AEUV Rn. 76; Pohjankoski, 58 CMLR 2021, 1341 (1359 ff.); Wunderlich, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 258 AEUV Rn. 39. Vgl. zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Aufrechnung im Unionsrecht EuGH, Urt. v. 10. 07. 2003 – C-87/01 P, ECLI:EU:C:2003:400 Rn. 56 – CCRE. 208 Haltern, EuropaR II, Rn. 99; Payandeh, JuS 2021, 481 (488). 209 Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 258 AEUV Rn. 13; Stäsche, ZEuS 2021, 561 (570). 210 EuGH, Beschl. v. 25. 10. 1985 – C-293/85 R, ECLI:EU:C:1985:446 – Kommission / Belgien; Beschl. v. 02. 10. 2003 – C-320/03 R, ECLI:EU:C:2003:543 – Kommission / Österreich; Beschl. v. 20. 11. 2017 – C-441/17 R, ECLI:EU:C:2017:877 – Kommission / Polen; Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 258 AEUV Rn. 82; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 279 AEUV Rn. 6. 211 GA Mayras, Schlussanträge v. 20. 05. 1977 – 31/77 R u. 53/77 R, ECLI:EU:C:1977:85 – Kommission / Großbritannien; Ehricke, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 37; Kort, DB 1996, 1323 (1326); Pechstein, EU-Prozessrecht, Rn. 323 f.; zweifelnd W. Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 38. 212 EuGH, Urt. v. 20. 11. 2017 – C-441/17 R, ECLI:EU:C:2017:877 Rn. 103 – Kommission / Polen; zustimmend Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 258 AEUV Rn. 84.
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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Für den Fall, dass der betreffende Mitgliedstaat die einstweilige Anordnung nicht unmittelbar und vollständig befolgt, kann der Gerichtshof gestützt auf Art. 279 AEUV ein Zwangsgeld zur Durchsetzung der getroffenen Anordnung verhängen,213 das entsprechend der Zahlungsansprüche nach Art. 260 Abs. 2 AEUV durch Aufrechnung vollstreckt werden kann.214 Die Zulässigkeit eines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz setzt allerdings die Rechtshängigkeit der Haupt sache voraus, d. h. solange sich das Vertragsverletzungsverfahren noch im behördlichen Vorverfahren befindet, kann die Kommission nicht auf dieses Instrument zurückgreifen.215 Die Kommission macht in Vertragsverletzungsverfahren grundsätzlich nur selten von Art. 279 AEUV Gebrauch.216 In jüngerer Zeit hat sie aber in mehreren wichtigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen den Erlass einstweiliger Anordnungen bewirkt. Das erste Verfahren betraf Waldbewirtschaftungsmaßnahmen und Rodungen im Natura-2000-Gebiet Puszcza Białowieska, die Polen unter Verstoß gegen die Habitat- und Vogelschutzrichtlinie vornahm.217 Nachdem der EuGH die Suspendierung der Maßnahmen angeordnet und zudem angedroht hatte, bei Nichtbefolgung der Anordnung ein Zwangsgeld in Höhe von mindestens EUR 100.000 pro Tag zu verhängen, beendete Polen die Maßnahmen. Auch im Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen wegen der Herabsetzung der Altersgrenze für die Richter des Obersten Gerichts beantragte die Kommission den Erlass einer einstweiligen Anordnung, weil die Gefahr bestand, dass aufgrund der Neuregelung ein erheblicher Teil der Richter zeitnah ausgetauscht und damit vor der Entscheidung zur Hauptsache vollendete Tatsachen geschaffen würden.218 Die einstweilige Anordnung des EuGH veranlasste Polen, Teile der umstrittenen Reform kurz nach Erlass der Anordnung wieder rückgängig zu machen.219 Zwei weitere einstweilige Anordnungen betrafen die Disziplinarordnung für Richter und die Einrichtung der Disziplinarkammer am Obersten Gericht Polens.220 Da die Disziplinarkammer trotz der Anordnung des EuGH, ihre Arbeit auszusetzen, weiter tätig blieb, setzte der EuGH in der Folge ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von einer Million Euro zur
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EuGH, Beschl. v. 20. 11. 2017 – C-441/17 R, ECLI:EU:C:2017:877 Rn. 94 ff. – Kommission / Polen; Beschl. v. 27. 10. 2021 – C-204/21 R, ECLI:EU:C:2021:878 – Kommission / Polen. 214 Stäsche, ZEuS 2021, 561 (595); Spieker, 59 CMLR 2022, 777 (795 f.). 215 Prete, Infringement Proceedings, S. 232 f.; Pechstein, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 279 AEUV Rn. 7; Wegener, in: Calliess / Ruffert, Art. 279 AEUV Rn. 8; von Winterfeld, NJW 1988, 1409 (1413). 216 Prete / Smulders, 58 CMLR 2021, 285 (312); Prete, Infringement Proceedings, S. 237; Giegerich, ZEuS 2019 61 (92); vgl. allgemein Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 279 AEUV Rn. 1. 217 EuGH, Beschl. v. 20. 11. 2017 – C-441/17 R, ECLI:EU:C:2017:877 – Kommission / Polen. 218 EuGH, Beschl. v. 17. 12. 2018 – C-619/18 R, ECLI:EU:C:2018:1021 – Kommission / Polen. 219 Giegerich, ZEuS 2019, 61 (94); Spieker, 20 GLJ 2019, 1181 (1189); von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (722 Fn. 104). 220 EuGH, Beschl. v. 08. 04. 2020 – C-791/19 R, ECLI:EU:C:2020:277 – Kommission / Polen; Beschl. v. 14. 07. 2021 – C-204/21 R, ECLI:EU:C:2021:593 – Kommission / Polen.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
Durchsetzung seiner einstweiligen Anordnung fest.221 Nachdem sich die Zwangsgeldforderungen auf ca. 200 Millionen Euro summierten, beschloss Polen im Juni 2022 die Abschaffung der Disziplinarkammer und ihre Ersetzung durch eine neue „Kammer für berufliche Verantwortung“. Diese Beispiele belegen, dass einstweilige Anordnungen ein geeignetes Mittel sein können, um schnell und effektiv auf schwerwiegende Vertragsverletzungen in den Mitgliedstaaten zu reagieren.222 3. Bewertung der Wirksamkeit Das Vertragsverletzungsverfahren hat sich insgesamt als vergleichsweise wirksames Mittel zur Durchsetzung der gemeinsamen Grundwerte gegenüber vertragsbrüchigen Mitgliedstaaten erwiesen.223 Die Rechtsdurchsetzung vor dem EuGH kompensiert – wie schon manches Mal in der Geschichte der europäischen Integration – zu einem gewissen Grad die Durchsetzungslücke, die infolge der politischen Blockade im Ministerrat und im Europäischen Rat entstanden ist.224 Seine Wirksamkeit verdankt das Vertragsverletzungsverfahren insbesondere der Möglichkeit, die Urteile des EuGH mittels finanzieller Sanktionen durchzusetzen und bei ausbleibender Zahlung gegen Ansprüche des verurteilten Mitgliedstaats auf Mittel aus dem Unionshaushalt aufzurechnen.225 Der Erlass zwangsgeldbewehrter einstweiliger Anordnungen ermöglicht zudem eine kurzfristige Reaktion auf problematische Entwicklungen, bevor irreversible Veränderungen eintreten. Als Nachteil bei der strategischen Nutzung des Vertragsverletzungsverfahrens zum Schutz der gemeinsamen Werte erweist sich jedoch der fallspezifische Charakter des Verfahrens. Anders als im Art. 7 EUV-Verfahren können Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens immer nur bestimmte Einzelmaßnahmen sein, nicht aber systemische Defizite in ihrer Gesamtheit.226 Das erschwert auch die Reaktion auf neue Entwicklungen in den Mitgliedstaaten innerhalb eines laufenden Verfah-
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EuGH, Beschl. v. 27. 10. 2021 – C-204/21 R, ECLI:EU:C:2021:878 – Kommission / Polen. Mittlerweile hat der EuGH das Zwangsgeld auf 500.000 Euro reduziert, da Polen Teile der Anordnungen erfüllt hat. 222 von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (722); M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 530; Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1186). 223 Ebenso Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1186); Germelmann, DÖV 2021, 193 (195); Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1348). Kritisch gegenüber der Eignung des Vertragsverletzungsverfahrens zur Bekämpfung struktureller Probleme in den Mitgliedstaaten Schorkopf, EuR 2016, 147 (161). 224 Spieker, 20 GLJ 2019, 1181 (1185 f.); von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (726 ff.). 225 Pohjankoski, 58 CMLR 2021, 1341 (1342); Prete / Smulders, 58 CMLR 2021, 285 (322); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (42 f.); Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Spieker, 59 CMLR 2022, 777 (795). 226 Franzius, DÖV 2018, 381 (386); Germelmann, DÖV 2021, 193 (196); Kulick, JZ 2020, 223 (227); Baratta, 8 Hague J. Rule of Law, 2016, 357 (362); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (595).
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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rens. Da der Gegenstand des behördlichen Vorverfahrens und das Vorbringen im gerichtlichen Klageverfahren übereinstimmen müssen,227 ist bei einer Änderung der mitgliedstaatlichen Regeln oder Praktiken oder dem Hinzutreten weiterer Werteverstöße die Einleitung eines weiteren Vertragsverletzungsverfahrens erforderlich.228 Zudem lässt sich im Fall von Mitgliedstaaten, die die gemeinsamen rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards bewusst untergraben, ungeachtet des Durchsetzungsmechanismus in Art. 260 AEUV die Gefahr einer nur schleppenden oder unzureichenden Umsetzung klagestattgebender Urteile naturgemäß nicht ausschließen.229 Die Wirksamkeit des Vertragsverletzungsverfahrens basiert auf der grundsätzlichen Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Befolgung des Unionsrechts, welche sich nicht erzwingen lässt.230 IV. Exkurs: Das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) 1. Das Vorabentscheidungsverfahren als Mittel zur Sicherung der gemeinsamen Werte Das Vorabentscheidungsverfahren ist genau genommen nicht zu den Instrumenten der unionalen Verfassungsaufsicht zu rechnen, weil es ihm an der für Aufsichtsmechanismen charakteristischen Rüge- und Berichtigungsfunktion gegenüber den Mitgliedstaaten fehlt.231 Das Verfahren ist nicht Teil eines hierarchisch gegliederten Instanzenzugs, sondern Ausdruck einer funktionellen Aufgabenteilung innerhalb der europäischen Gerichte, in deren Rahmen die Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts und die Entscheidung über dessen Gültigkeit dem EuGH übertragen ist.232 Es handelt sich um ein Instrument richterlicher Zusam-
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EuGH, Urt. v. 10. 05. 2012 – C-368/10, ECLI:EU:C:2012:284 Rn. 78 – Kommission / Niederlande; Urt. v. 25. 04. 2013 – C-480/10, ECLI:EU:C:2013:263 Rn. 18 f. – Kommission / Schweden; Urt. v. 29. 06. 2019 – C-729/17, ECLI:EU:C:2019:534 Rn. 39 ff. – Kommission / Griechenland; Urt. v. 21. 03. 2019 – C-127/17, ECLI:EU:C:2019:236 Rn. 119 f. – Kommission / Polen; Prete / Smulders, 58 CMLR 2021, 285 (304); W. Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 16. 228 Dass der Mitgliedstaat die Unionsrechtsverletzung während des Klageverfahrens beseitigt hat, steht einem klagestattgebenden Urteil dagegen nicht entgegen, weil der EuGH das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation bei Ablauf der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist beurteilt und spätere Änderungen nicht berücksichtigt, EuGH, Urt. v. 06. 11. 2012 – C-286/12, ECLI:EU:C:2012:687 Rn. 41 – Kommission / Ungarn; Urt. v. 24. 06. 2019 – C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 30 – Kommission / Polen; Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 258 Rn. 56. 229 Dörr, ZG 2019, 26 (37); Pech / Scheppele, 19 CYELS 2017, 3 (20 f.); M. Schmidt / Bogdano wicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1074); Bonelli, 18 EuConst 2022, 30 (40). 230 Franzius, DÖV 2018, 381 (386); M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1074). 231 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 23, 278; vgl. EuGH, Urt. v. 26. 03. 2020 – C-558/18 u. C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234 Rn. 47 – Miasto Łowicz. 232 Wendel, ZaöRV 2014, 615 (617 f.); M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 23 f.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
menarbeit,233 dessen primärer Zweck die Wahrung der Rechtseinheit des Unionsrechts ist.234 Ungeachtet dessen hat das Vorabentscheidungsverfahren in der aktuellen Krise der Union nicht unerhebliche Bedeutung bei der Verteidigung der gemeinsamen Werte erlangt.235 Das Verfahren kann von den Gerichten der Mitgliedstaaten, in denen es zu Verletzungen der europäischen Grundwerte kommt, als Instrument der „Verfassungsaufsicht von innen“ genutzt werden. Besonders die polnischen Gerichte haben dem EuGH eine Vielzahl von Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt, die die Vereinbarkeit verschiedener Aspekte der polnischen Justizreformen mit dem Unionsrecht in Frage stellen.236 Auch ungarische und rumänische Gerichte haben bereits verschiedentlich Vorabentscheidungsersuchen zur Vereinbarkeit ihrer jeweiligen Justizgesetze mit dem unionalen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, Art. 47 Abs. 2 GRCh) sowie Art. 267 AEUV eingeleitet.237 Die Kooperation mit dem EuGH dient den nationalen Gerichten in dieser Situation als Werkzeug, um eine externe Kontrolle der nationalen Reformen herbeizuführen, sowie als Mittel des Widerstands und der Selbstverteidigung gegen Einschränkungen der richterlichen Unabhängigkeit seitens der Mitgliedstaaten.238 Während der Gerichtshof im Vertragsverletzungsverfahren unabhängig von der Anhängigkeit eines Rechtsstreits prüft, ob die beanstandete nationale Maßnahme dem Unionsrecht zuwiderläuft, besteht seine Aufgabe im Vorabentscheidungs 233
EuGH, Urt. v. 12. 06. 2003 – C-112/00, ECLI:EU:C:2003:333 Rn. 30 f. – Schmidberger; Urt. v. 04. 07. 2006 – C-212/04, ECLI:EU:C:2006:443 Rn. 40 f. – Adeneler u. a. / ELOG; Ehricker, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 7. 234 EuGH, Urt. v. 16. 01. 1974 – 166/73, ECLI:EU:C:1974:3 Rn. 2 – Rheinmühlen-Düsseldorf / Einfuhr- und Vorratsstelle; Urt. v. 24. 05. 1977 – 107/76, ECLI:EU:C:1977:89 Rn. 5 – Hoffmann La Roche / Centrafarm; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 Rn. 64, 73 – RS; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 1. 235 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 278; Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (701). 236 S. etwa EuGH, Urt. v. 19. 11. 2019 – C-585/18 u. a., ECLI:EU:C:2019:982 – A. K. zur Disziplinarkammer; Beschl. v. 29. 01. 2020 – C-522/18, ECLI:EU:C:2020:42 – DŚ zur Herabsetzung des Ruhestandsalters; Urt. v. 26. 03. 2020 – C-558/18 u. C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234 – Miasto Łowicz zu Disziplinarmaßnahmen gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit; Urt. v. 02. 04. 2021 – C-824/18, ECLI:EU:C:2021:153 zur Ernennung von Richtern am obersten Gericht – A. B. u. a.; Urt. v. 16. 11. 2021 – C-748/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:931 – WB u. a. zu Abordnungen durch den Justizminister; Urt. v. 06. 12. 2021 – C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798 – W. Ż. zur Versetzung und Ernennung von Richtern; Urt. v. 22. 03. 2022 – C-508/19, ECLI:EU:C:2022:201 – M. F. / J. M. zu Unregelmäßigkeiten bei der Richterernennung; GA Rantos, Schlussanträge v. 02. 03. 2023, C-718/21, ECLI:EU:C:2023:150 – L. G. zu einer Entscheidung des Landesjustizrats. Ausführlich mit zahlreichen weiteren Beispielen Jaremba, 5 Eur. Papers 2020, 851 (853 f., 861 ff.). 237 EuGH, Urt. v. 18. 05. 2021 – C-83/19, ECLI:EU:C:2021:393 – Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“; Urt. v. 23. 11. 2021 – C-564/19, ECLI:EU:C:2021:949 – IS; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 – Euro Box Promotion u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 – RS. Weitere Vorabentscheidungsverfahren rumänischer Gerichte sind aktuell anhängig, s. z. B. Verfahren C-216/21 – AFJR; C-926/19 – BR. 238 Jaremba, 5 Eur. Papers 2020, 851 (868); Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (701); vgl. Giegerich, ZEuS 2019, 61 (70).
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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verfahren darin, das vorlegende Gericht bei der Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits zu unterstützen.239 Die Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte zur Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Maßnahmen mit dem Unionsrecht hängt deshalb davon ab, dass die vorgelegte Frage in einem konkreten Verfahren vor diesem Gericht entscheidungserheblich ist.240 Der EuGH gewährt den vorliegenden Gerichten zwar grundsätzlich einen großen Spielraum bei der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit, in Ausnahmefällen, in denen die Vorlagefrage für den Ausgangsrechtsstreit offensichtlich nicht erheblich ist, erklärt er sich jedoch für unzuständig.241 Dieser Zusammenhang wird bei Vorabentscheidungsvorlagen, die im Kern die Justizreformen eines Mitgliedstaats betreffen, nicht immer ohne Weiteres zu begründen sein. Entsprechend hat der EuGH die Vorlagefragen polnischer Gerichte teils mangels Entscheidungserheblichkeit für unzulässig erklärt.242 Anders als im Vertragsverletzungsverfahren ist der EuGH im Verfahren nach Art. 267 AEUV außerdem nicht befugt, einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV zu erlassen. Da es sich beim Vorabentscheidungsverfahren bloß um ein Zwischenverfahren und nicht um eine beim Gerichtshof anhängige Klage handelt, obliegt die Gewährleistung einstweiligen Rechtsschutzes während des Verfahrens den nationalen Gerichten.243 Die vom EuGH im Vorabentscheidungsverfahren vorgenommene Auslegung ist für das vorlegende Gericht und andere mit demselben Verfahrensgegenstand befasste Gerichte verbindlich.244 Über die Kompetenz, die Beachtung seiner Auslegungsvorgaben auf nationaler Ebene zu kontrollieren oder durchzusetzen, verfügt der Gerichtshof aber nicht.245 Bei Nichtbeachtung der Entscheidung des EuGH 239
EuGH, Urt. v. 26. 03. 2020 – C-558/18 u. C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234 Rn. 47 – Miasto Łowicz; Urt. v. 15. 11. 2016 – C-268/15, ECLI:EU:C:2016:874 Rn. 49 – Ullens de Schooten. 240 EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-194/10, ECLI:EU:C:2011:182 Rn. 30 ff. – Abt u. a. / Hypo Real Estate; Giegerich, ZEuS 2019, 61 (97); Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 267 AEUV Rn. 25. 241 EuGH, Urt. v. 16. 12. 2008 – C-210/06, ECLI:EU:C:2008:723 Rn. 67 – Cartesio; Urt. v. 24. 03. 2011 – C-194/10, ECLI:EU:C:2011:182 Rn. 29, 31 f. – Abt u. a. / Hypo Real Estate; Urt. v. 19. 11. 2019 – C-585/18 u. a., ECLI:EU:C:2019:982 Rn. 70 – A. K.; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 139 – Euro Box Promotion u. a.; Ehricke, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 35 f.; Pechstein / Görlitz, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 54 f. 242 S. etwa EuGH, Urt. v. 26. 03. 2020 – C-558/18 u. C-563/18, ECLI:EU:C:2020 Rn. 31 ff. – Miasto Łowicz; Urt. v. 22. 03. 2022 – C-508/19, ECLI:EU:C:2022:201 Rn. 59 ff. – M. F. / J. M. 243 EuGH, Beschl. v. 24. 10. 2001 – C-186/01 R, ECLI:EU:C:2001:563 Rn. 6 ff. – Dory; Giegerich, ZEuS 2019, 61 (93); Stoll / Rigod, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 279 AEUV Rn. 5. 244 EuGH, Urt. v. 03. 02. 1977 – 52/6, ECLI:EU:C:1977:16 Rn. 26 f. – Benedetti; Urt. v. 14. 12. 2000 – C-446/98, ECLI:EU:C:2000:691 Rn. 49 – Fazenda Pública; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 Rn. 74 – RS; BVerfG, Beschl. v. 08. 04. 1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (244); Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 267 AEUV Rn. 102. 245 Callewaert, in: Bungenberg / Giegerich, Europa lässt sich nicht mit einem Schlag herstellen, S. 105 (109).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
kommt lediglich die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission (Art. 258 AEUV) oder einen der anderen Mitgliedstaaten (Art. 259 AEUV) in Betracht.246 Als problematisch erweisen sich in der Rechtsstaatskrise die Anforderungen, die der EuGH an vorlageberechtigte „Gerichte“ stellt. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein Spruchkörper nämlich nur dann als „Gericht“ i. S. d. Art. 267 AEUV anzusehen und als solches vorlageberechtigt, wenn er durch Gesetz errichtet ist und in richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entscheidet.247 Dies wirft die Frage auf, ob Gerichte aus Mitgliedstaaten, in denen systemische Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz bestehen, weiterhin zur Teilnahme am Vorabentscheidungsverfahren berechtigt sind, oder ob dieser Umstand zur strukturellen Unzulässigkeit der Vorlagefragen betroffener Gerichte führt.248 Letzteres hätte den vollständigen Ausschluss dieser Gerichte aus dem institutionalisierten Dialog mit dem EuGH zur Folge, was mit Blick auf das Wesen und die Zwecke des Vorabentscheidungsverfahrens wenig sinnhaft erscheint.249 Auch der EuGH hat derart weitgehende Konsequenzen bislang nicht gezogen und befand jüngst das Vorabentscheidungsersuchen eines Richters des polnischen Obersten Gerichts trotz Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seiner Ernennung für zulässig.250 Es sei unstreitig, dass das Oberste Gericht „als solches“ den Anforderungen an ein Gericht i. S. v. Art. 267 AEUV genüge.251 Sofern ein Vorabentscheidungsersuchen von einem nationalen Gericht stamme, sei davon auszugehen, dass dieses die An 246 Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 258 AEUV Rn. 69; Pechstein, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 43. 247 EuGH, Urt. v. 29. 11. 2001 – C-17/00, ECLI:EU:C:2001:651 Rn. 10, 17 ff. – de Coster; Urt. v. 30. 05. 2002 – C-516/99, ECLI:EU:C:2002:313 Rn. 34 ff. – Walter Schmid; Urt. v. 24. 05. 2016 – C-396/13, ECLI:EU:C:2016:347 Rn. 23 – MT Højgaard; Urt. v. 13. 01. 2022 – C-55/20, ECLI:EU:C:2022:6 Rn. 62 ff. – Minister Sprawiedliwości; Urt. v. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 66 – Getin Noble Bank; Pechstein / Görlitz, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 40; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 19. 248 Ausführlich hierzu Reyns, 17 EuConst 2021, 26; vgl. EuGH, Urt. v. 27. 02. 2018 – C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 38, 43 – ASJP; Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 41 ff. – L. u. P.; Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (701); Mader, EuZW 2021, 133 (137). 249 Verschiedene Generalanwälte haben deshalb die Auffassung vertreten, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit im Kontext von Art. 267 AEUV eine andere Prüfung erfordere als im Kontext von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bzw. Art. 47 GRCh, und zwar in Anbetracht der unterschiedlichen Zielsetzungen und Aufgaben dieser Vorschriften, s. GA Rantos, Schlussanträge v. 02. 03. 2023 – C-718/21, ECLI:EU:C:2023:150 Rn. 19 ff. – L. G.; GA Bobek, Schlussanträge v. 08. 07. 2021 – C-132/20, ECLI:EU:C:2021:557 Rn. 36 – BN u. a.; GA Wahl, Schlussanträge v. 10. 04. 2014, C-58/13 u. C-59/13, ECLI:EU:C:2014:265 Rn. 48 ff. Der EuGH hat diese Ansätze – soweit erkennbar – bislang nicht explizit aufgegriffen. 250 EuGH, Urt. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 61 ff. – Getin Noble Bank; vgl. auch schon Urt. v. 17. 12. 2020 – C-354/20 PPU u. C-412/20 PPU, ECLI:EU:C:2020:1033 Rn. 41 ff. – L. u. P. 251 EuGH, Urt. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 68 – Getin Noble Bank.
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forderungen an ein „Gericht“ unabhängig von seiner konkreten Zusammensetzung erfülle.252 Diese Vermutung könne jedoch widerlegt werden, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eines nationalen oder internationalen Gerichts vorliegt, die dem vorlegenden Richter oder Spruchkörper die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts i. S. v. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 i. V. m. Art. 47 Abs. 2 GRCh abspricht.253 Die Reichweite dieser Vermutung beschränkt der Gerichtshof explizit auf die Beurteilung der Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen; auf eine Erfüllung der aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV oder Art. 47 GRCh folgenden Garantien lasse sich hieraus nicht schließen.254 Der EuGH schließt zudem nicht aus, dass eine andere Beurteilung geboten sein könnte, wenn über die persönliche Situation der Richter, die das konkrete Vorabentscheidungsersuchen gestellt haben, hinaus andere Gesichtspunkte Auswirkungen auf die allgemeine Funktionsweise des vorlegenden Gerichts haben und zu einer Beeinträchtigung von dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit führen.255 Er differenziert somit zwischen der Ebene der Einrichtung als solcher und Umständen, die (lediglich) die persönlichen Verhältnisse der im Einzelfall vorlegenden Personen betreffen.256 2. Bewertung der Wirksamkeit Die Effektivität des Vorabentscheidungsverfahrens als Mittel der „Verfassungsaufsicht von innen“ wird unterschiedlich beurteilt. Teils wird das Verfahren als wichtiges Mittel des dezentralen Schutzes der gemeinsamen Werte beschrieben oder ihm sogar eine Schlüsselrolle in Bezug auf den Widerstand gegen Reformen illiberaler Regierungen bescheinigt.257 Es wird zudem darauf verwiesen, dass das Vorlagerecht den nationalen Fachgerichten die Möglichkeiten gebe, das letzte Wort des – häufig zuerst politischem Einfluss untergeordneten – nationalen Verfassungsgerichts infrage zu stellen und so eine unabhängige Kontrolle der mitgliedstaatlichen öffentlichen Gewalt zu erreichen.258 Andere halten Vorabentscheidungs ersuchen betroffener Richter für wenig effektiv. An den von Polen heraus initiierten Vorabentscheidungsersuchen sei erkennbar, dass sich illiberale Regierungen hiervon wenig beeindrucken ließen.259 Die Umsetzung der vom EuGH getroffenen Entscheidungen sei angesichts der Repressalien, denen sich die Justiz ausgesetzt 252
EuGH, Urt. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 69 f. – Getin Noble Bank. EuGH, Urt. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 72 – Getin Noble Bank. 254 EuGH, Urt. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 74 – Getin Noble Bank. 255 EuGH, Urt. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 74 – Getin Noble Bank. 256 Vgl. auch den Vorschlag des Generalanwalts, GA Bobek, Schlussanträge v. 29. 03. 2022 – C-132/20, ECLI:EU:C:2022:235 Rn. 47 ff. – Getin Noble Bank. 257 Franzius, DÖV 2018, 381 (388); Mancano, 58 CMLR 2021, 683 (701); vgl. Spieker, 20 GLJ 2019, 1181 (1186). 258 Franzius, DÖV 2018, 381 (388). 259 Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1348). 253
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sieht, sowie der zunehmenden Installation regierungsfreundlicher Richter zweifelhaft.260 Tatsächlich erscheint es angesichts fehlendender Mechanismen zur Durchsetzung der getroffenen Entscheidungen und dem Fehlen von Sanktionen im Fall ihrer Nichtbeachtung wenig wahrscheinlich, dass sich nationale Regierungen, die menschenrechtlich- und rechtsstaatliche Standards bewusst untergraben, durch Vorabentscheidungen des EuGH von ihrem Kurs abbringen lassen. Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte können aber dennoch eine Möglichkeit sein, die Aufmerksamkeit der nationalen und europäischen Öffentlichkeit auf die Gefährdung der gemeinsamen Werte in dem betroffenen Mitgliedstaat zu lenken und einen gewissen Handlungsdruck aufzubauen.261 Die Vorlagebereitschaft nationaler Gerichte und damit zugleich die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens dürfte aber mit fortschreitendem Rückbau rechtsstaatlicher Strukturen in den Mitgliedstaaten abnehmen.262 Einerseits werden die mitgliedstaatlichen Regierungen – wie die Beispiele Polens, Ungarns und Rumäniens bestätigen – versuchen, Vorabentscheidungsersuchen seitens der nationalen Gerichtsbarkeit unter Androhung von Disziplinarmaßnahmen für die vorlegenden Richter zu unterbinden.263 Zum anderen werden die nationalen Gerichte nach und nach zunehmend mit regimetreuen Richtern besetzt sein, die an regierungskritischen Vorlagen kein Interesse haben. Das Vorabentscheidungsverfahren kann also insgesamt nur beschränkt zur Sicherung der europäischen Werte beitragen. V. Der Konditionalitätsmechanismus (VO [EU] 2020/2092) Angesichts der sich verschärfenden Rechtsstaatskrise und des als unzureichend empfundenen Instrumentariums der EU kam bald der Vorschlag auf, die Auszahlung von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Anforderungen zu knüpfen. Die Kommission legte bereits im Jahr 2018 den Entwurf einer „Verordnung über den Schutz des Haushalts der Union im Fall von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten“ vor.264 Nachdem das Gesetzgebungsverfahren zunächst stockte, einigten sich die Mitgliedstaaten zwei Jahre später im Rahmen der Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2021–2027 und das Aufbaupaket „NextGenerationEU“ schließlich auf 260 Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1348); dies zugestehend auch Franzius, DÖV 2018, 381 (388 Fn. 61). 261 Reyns, 17 EuConst 2021, 26 (50). 262 Vgl. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 57. 263 Zur Unionsrechtswidrigkeit entsprechender nationaler Regelungen oder Praktiken etwa EuGH, Urt. v. 26. 03. 2020 – C-558/18 u. C-563/18, ECLI:EU:C:2020:234 Rn. 83 ff. – Miasto Łowicz; Urt. v. 15. 07. 2021 – C-719/91, ECLI:EU:C:2021:596 Rn. 223 ff. – Kommission / Polen; Urt. v. 23. 11. 2021 – C-564/19, ECLI:EU:C:2021:949 Rn. 90 ff. – IS; Urt. v. 21. 12. 2021 – C-357/19 u. a., ECLI:EU:C:2021:1034 Rn. 227 – Euro Box Promotion u. a.; Urt. v. 22. 02. 2022 – C-430/21, ECLI:EU:C:2022:99 Rn. 85 – RS. 264 Europäische Kommission, Vorschlag v. 02. 05. 2018, COM(2018) 324 final.
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die Einführung eines – gegenüber dem ursprünglichem Vorschlag modifizierten – Mechanismus zur Kürzung von EU-Mitteln bei bestimmten Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip. Die in der Folge verabschiedete „Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union“ (VO [EU] 2020/2092) gilt seit dem 01. Januar 2021. 1. Grundzüge des Mechanismus Der neu geschaffene Konditionalitätsmechanismus soll das bestehende Instrumentarium zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit ergänzen, indem er der Union ermöglicht, zum Schutz des Unionshaushalts finanzwirksame Maßnahmen gegen einen Mitgliedstaat zu ergreifen, wenn Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu einem Missbrauch von EU-Mitteln führen oder ein ernsthaftes Risiko dafür schaffen.265 Dahinter steht die Erwägung, dass eine wirtschaftliche Haushaltsführung und eine ordnungsgemäße Verwendung des Unionsbudgets nur gewährleistet sind, wenn die mitgliedstaatlichen Behörden im Einklang mit dem Gesetz handeln, etwaige Gesetzesverstöße wirksam verfolgt werden und die Behörden der Mitgliedstaaten einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle durch unabhängige Gerichte und den EuGH unterliegen.266 Zugleich ist mit diesem Ansatz die politische Hoffnung verbunden, dass finanzielle Sanktionen zu einer höheren Bereitschaft der Mitgliedstaaten führen, die gemeinsame Verpflichtung auf das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 2 EUV zu achten.267 Die Verhängung finanzwirksamer Maßnahmen gegen einen Mitgliedstaat setzt voraus, dass in dem betreffenden Mitgliedstaat Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit vorliegen, die die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen (Art. 4 Abs. 1 VO [EU] 2020/2092). Rechtsstaatliche Mängel allein genügen also nicht, sondern es bedarf immer eines hinreichenden Bezugs zum EU-Haushalt. Das Verfahren zum Erlass der Maßnahmen ist in Art. 6 VO (EU) 2020/2092 detailliert geregelt. Liegen nach Auffassung der Kommission hinreichende Gründe für die Feststellung vor, dass die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1 VO (EU) 2020/2092 erfüllt sind, leitet sie ein Verfahren gegen den betreffenden Mitgliedstaat ein und gibt diesem Gelegenheit zur Stellungnahme (Art. 6 Abs. 1, Abs. 5 VO [EU] 2020/2092). Bei der Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens verfügt die Kommission grundsätzlich über kein Entschließungsermessen.268 Gelangt die Kommission unter Berücksichtigung des Vorbringens des betreffenden Mitgliedstaats zu dem Ergebnis, dass die 265
ErwG 14 VO (EU) 2020/2092; Stäsche, ZEuS 2021, 561 (597). ErwG 8 VO (EU) 2020/2092. 267 Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282; Fisicaro, 18 EuConst 2022, 334 (341). 268 Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282 (290); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (598); Stäsche, EuZW 2023, 301 (306). 266
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Voraussetzungen für die Verhängung finanzwirksamer Maßnahmen erfüllt sind und ggfs. vom Mitgliedstaat unterbreitete Abhilfemaßnahmen nicht ausreichen, schlägt sie dem Rat einen Durchführungsbeschluss mit geeigneten Maßnahmen vor (Art. 6 Abs. 9 VO [EU] 2020/2092). Denkbare Maßnahmen sind etwa die Aussetzung von Zahlungen, die Aussetzung von Genehmigungen aus EU-Programmen oder eine vorzeitige Rückzahlung von aus dem Haushalt der Union garantierten Darlehen (Art. 5 VO [EU] 2020/2092). Der Rat hat den Vorschlag der Kommission grundsätzlich binnen eines Monats anzunehmen (Art. 6 Abs. 10 VO [EU] 2020/2092). Alternativ kann er den Kommissionvorschlag gemäß Art. 6 Abs. 11 VO (EU) 2020/2092 mit qualifizierter Mehrheit ändern und den geänderten Text annehmen. Werden Maßnahmen gegen einen Mitgliedstaat verhängt, muss dieser die betroffenen Programme oder Fonds ungeachtet dessen weiter ausführen und insbesondere seinen Zahlungspflichten gegenüber den Endempfängern nachkommen (Art. 5 Abs. 2 VO [EU] 2020/2092). Damit soll verhindert werden, dass von den Unionsmitteln abhängige Endempfänger und Begünstigte in den Mitgliedstaaten – z. B. NGOs oder Forschungseinrichtungen – für Verstöße ihrer nationalen Regierungen „bestraft“ werden.269 Legen die Staaten Nachweise dafür vor, dass die Voraussetzungen für die getroffenen Maßnahmen nicht länger erfüllt sind, können diese aufgehoben werden (Art. 7 VO [EU] 2020/2092). 2. Bestätigung des Mechanismus durch den EuGH Die Schlusserklärung des Europäischen Rates sah vor, dass die Kommission von dem neuen Konditionalitätsmechanismus erst Gebrauch machen wird, nachdem sie in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten Leitlinien zur Anwendung des Mechanismus erarbeitet hat. Für den Fall, dass Klagen auf Nichtigerklärung der Verordnung erhoben werden, sollten die Leitlinien erst nach Erlass der Entscheidung des EuGH fertiggestellt werden und der Konditionalitätsmechanismus folglich auch erst nach der Überprüfung durch den Gerichtshof Anwendung finden.270 Erwartungsgemäß haben sowohl Polen als auch Ungarn Nichtigkeitsklage erhoben und u. a. das Fehlen einer tauglichen Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung, eine Umgehung des Verfahrens nach Art. 7 EUV und der Regelung in Art. 269 AEUV sowie eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit geltend gemacht. Der Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit ergebe sich daraus, dass der Begriff der 269
Stäsche, ZEuS 2021, 561 (598 f.). Europäischer Rat, Tagung vom 10. u. 11. 12. 2020 – Schlussfolgerungen EUCO 22/20, S. 2. Kritisch zur Rechtmäßigkeit der Schlussfolgerungen Mader, EuZW 2021, 133 (139 f.); Payandeh, JuS 2021, 481 (489); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (601 ff.); Stäsche, EuZW 2023, 301 (302); weniger kritisch Baraggia / Bonelli, 23 GLJ 2022, 131 (139 ff.). Das Parlament hat eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission wegen Nichtanwendung des Mechanismus erhoben (C-657/21), die es nach der Entscheidung des EuGH über die Nichtigkeitsklagen zurückgenommen hat. 270
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303
Rechtsstaatlichkeit angesichts des unterschiedlichen Begriffsverständnisses in den Mitgliedstaaten und der aus Art. 4 Abs. 2 EUV folgenden Verpflichtung, die nationale Identität eines jeden Mitgliedstaats zu achten, keiner präzisen Definition zugänglich sei und nicht einheitlich ausgelegt werden könne. Der EuGH hat die Klagen im Februar 2022 abgewiesen.271 Die Rechtsgrundlage der Verordnung sieht der Gerichtshof in der Ermächtigung zum Erlass von Haushaltsvorschriften nach Art. 322 Abs. 1 lit. a AEUV.272 Das Ziel der Verordnung bestehe darin, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich hinreichend unmittelbar aus in einem Mitgliedstaat begangenen Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben, und nicht etwa darin, derartige Verstöße als solche zu ahnden.273 Auch den Einwand einer Umgehung von Art. 7 EUV und Art. 269 AEUV wies der EuGH zurück. Der Wert der Rechtsstaatlichkeit könne von der Union nicht allein im Rahmen des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens geschützt werden.274 Es stehe dem Unionsgesetzgeber frei, in einem Sekundärrechtsakt andere Verfahren bezüglich der in Art. 2 EUV genannten Werte einzuführen, sofern sich diese Verfahren sowohl nach ihrem Zweck als auch nach ihrem Gegenstand von dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren unterscheiden, was in Bezug auf die angegriffene Verordnung der Fall sei.275 Art. 269 AEUV betreffe seinem Wortlaut nach nur die Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates und stehe der Rechtmäßigkeitskontrolle, die dem EuGH in Bezug auf Beschlüsse des Rates nach Art. 6 Abs. 10 VO (EU) 2020/2092 zukommen kann, daher nicht entgegen.276 Schließlich vermochte der EuGH auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit erkennen. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit sei in Art. 2 lit. a VO (EU) 2020/2092 für den Zweck der Verordnung durch Aufzählung verschiedener aus dem Rechtsstaatsprinzip folgender Grundsätze definiert.277 Die dort aufgeführten 271
EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 – Polen / Parlament u. Rat. Entscheidungsbesprechung bei Fisicaro, 18 EuConst 2022, 334; Sangi / Wittmer, EuZW 2022, 481. 272 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 98 ff. – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 112 ff.– Polen / Parlament u. Rat. 273 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 119 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 137 – Polen / Parlament u. Rat. 274 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 163 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 199 – Polen / Parlament u. Rat. 275 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 168 ff. – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 207 ff. – Polen / Parlament u. Rat. 276 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 192 f. – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 225 ff. – Polen / Parlament u. Rat. 277 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 227 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 323 – Polen / Parlament u. Rat.
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rechtsstaatlichen Grundsätze seien Gegenstand einer umfangreichen Rechtsprechung des Gerichtshofs und daher hinreichend bestimmbar.278 Kurz nach dieser Entscheidung hat die Kommission ausführliche Leitlinien für die Anwendung der Verordnung vorgelegt279 und Ende April 2022 ein erstes Verfahren gegen Ungarn eingeleitet.280 Der Rat hat in diesem Verfahren mit Durchführungsbeschluss vom 15. 12. 2022 die Aussetzung von Zahlungen an Ungarn in Höhe von etwa 6,3 Milliarden Euro beschlossen.281 3. Bewertung der Wirksamkeit Für eine substanzielle Bewertung des neu geschaffenen Konditionalitätsmechanismus ist es noch zu früh. Es wird sich noch zeigen müssen, ob das Instrument geeignet ist, die Mitgliedstaaten, in denen Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze festgestellt werden, zu einer nachhaltigen Beseitigung dieser Verstöße anzuhalten. Mit Ungarn sieht sich aktuell ein erster Mitgliedstaat mit einer Kürzung von EU-Mitteln konfrontiert. Ob dies den Mitgliedstaat dazu veranlassen wird, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um den festgestellten Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und den damit verbundenen Risiken für den Unionshaushalt abzuhelfen, bleibt abzuwarten. Vielfach wird kritisiert, dass die Verordnung im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission zu stark verwässert worden sei.282 Der Fokus liege nun primär auf dem Schutz des Unionshaushalts und weniger auf der effektiven Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien, was angesichts der grundlegenden Bedeutung der in Art. 2 EUV zum Ausdruck gebrachten Werte zu kurz gegriffen sei.283 Es stehe zu befürchten, dass der Mechanismus in dieser Form weitgehend wirkungslos bleibe.284 278 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 236, 240 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 290 – Polen / Parlament und Rat. 279 Europäische Kommission, Mitteilung v. 02. 03. 2022 – C(2022) 1382 final. 280 Näher zu dem Verfahren gegen Ungarn Blanke / Sander, EuR 2023, 54 (79 ff.); Stäsche, EuZW 2023, 301 (306 ff.). 281 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/2506 des Rates v. 15. Dezember 2022 über Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. 282 Fisicaro, 7 Eur. Papers 2022, 697 (698); Mader, EuZW 2021, 133; Bergmann, DVBl. 2021, 1344 (1349 ff.); Scheppele / Pech / Platon, VerfBlog 2020/12/13, DOI: 10.17176/20201214060045-0. 283 Mader, EuZW 2021, 133 (135, 138); vgl. auch Conzelmann, 7 Eur. Papers 2022, 671 (681 f.). Nettesheim, EuR 2022, 525 (536 f.) bewertet die funktionale Ausrichtung auf den Schutz des EU-Haushalts dagegen positiv. 284 Fisicaro, 7 Eur. Papers 2022, 697 (698); Mader, EuZW 2021, 133; Alemanno / Chamon, VerfBlog 2020/12/11, DOI: 10.17176/20201212-060201-0.
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Tatsächlich handelt es sich bei der Konditionalitätsverordnung nicht um einen Sanktionsmechanismus, der Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip als solche ahndet, sondern um eine besondere Verfahrensmodalität der Haushaltsausführung und -kontrolle, die dazu dient, den Haushalt der Union vor den Folgen der Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze in den Mitgliedstaaten zu schützen.285 Dieser Fokus auf dem Schutz des EU-Haushalts hat zur Folge, dass der Konditionalitätsmechanismus die rechtsstaatlichen Probleme in den Mitgliedstaaten nur teilweise adressieren kann.286 Ungeachtet dessen ist der Mechanismus ein wirkungsvolles Instrument zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und bedeutet einen erkennbaren Fortschritt gegenüber der bisherigen Rechtslage.287 Monetäre Instrumente erzeugen erfahrungsgemäß Handlungsdruck und gerade die Mitgliedstaaten, in denen der Abbau rechtsstaatlicher Prinzipien weit voran geschritten ist, sind in besonderem Maße auf die Unterstützung ihrer Haushalte durch die Union angewiesen.288 Polen und Ungarn gehören zu den größten Nettoempfängern von EU-Mitteln; allein Polen soll in der nächsten Finanzperiode (2021–2027) bis zu 280 Milliarden Euro aus Unionsmitteln erhalten.289 Nicht zuletzt hat sich die Strategie, finanzwirksame Maßnahmen nur bei einer Beeinträchtigung des Unionshaushalts vorzusehen, auch deshalb als klug erwiesen, weil es für finanzielle Sanktionsmechanismen, die unabhängig von einer haushaltsrechtlichen Relevanz von Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien greifen, an einer Rechtsgrundlage in den Verträgen fehlt.290 Die Eignung des Instruments zur Verteidigung des Wertefundaments nach Art. 2 EUV erfährt eine gewisse Einschränkung dadurch, dass der Mechanismus sich auf Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip beschränkt. Die Achtung des Rechtsstaatsprinzips ist aber untrennbar mit der Achtung der Demokratie und der Grundrechte verbunden.291 Der Schutz rechtsstaatlicher Prinzipien in einem Mitgliedstaat dient also zumindest mittelbar auch dem Schutz der übrigen Grundwerte, auf die sich die Union gründet, wie Freiheit, Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte.
285
EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 353 – Ungarn / Parlament u. Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 305 – Polen / Parlament u. Rat; Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282 (285). 286 Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 175; Fisicaro, 18 EuConst 2022, 334 (354). 287 Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282 (292); Barragia / Bonelli, 23 GLJ 2022, 131 (155); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (614); etwas zurückhaltender Germelmann, DÖV 2021, 193 (199). 288 Stäsche, ZEuS 2021, 561 (600); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 3; Germelmann, DÖV 2021, 193 (198 Fn. 86). 289 Łacny, 13 Hague J. Rule of Law 2021, 79 (80); Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282 (292). 290 Ruffert, JuS 2022, 557 (559); Germelmann, DÖV 2021, 193 (199 f.); Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 136 f., 163 ff.; Fisicaro, 18 EuConst 2022, 334 (341 ff.); vgl. GA Sánchez-Bordona, Schlussanträge v. 02. 12. 2021 – C-156/21, ECLI:EU:C:2021:974 Rn. 164 ff. – Ungarn / Parlament u. Rat. 291 So auch ErwG 6 VO (EU) 2020/2092.
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VI. Monitoring-Instrumente Weitere Instrumente der Unionsverfassungsaufsicht bilden das EU-Justizbarometer und der Rechtsstaatsmechanismus der Kommission.292 Beide Instrumente sind dem unionalen Soft Law zuzuordnen und dienen primär der Evaluierung der Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten, ohne mit einer eigenen Berichtigungsphase versehen zu sein.293 1. EU-Justizbarometer Bei dem EU-Justizbarometer handelt es sich um ein Sachstands- und Evaluierungsinstrument, dessen Ergebnisse die Kommission seit 2013 jährlich veröffentlicht.294 Das Instrument gelangt anlasslos und unterschiedslos gegenüber allen Mitgliedstaaten zur Anwendung und liefert vergleichbare Daten über verschiedene Indikatoren, die für die Bewertung der Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Justizsysteme von Belang sind. Der Schwerpunkt liegt auf Zivil-, Handels- und Verwaltungssachen sowie bestimmten Strafsachen. Ziel ist es, die EU und ihre Mitgliedstaaten durch Bereitstellung objektiver, zuverlässiger und vergleichbarer Daten bei der Verbesserung der Leistungsfähigkeit der nationalen Justizsysteme zu unterstützen.295 Zwar enthält das Verfahren selbst keine Berichtigungsphase, es dient der Kommission aber als Ansatzpunkt, um im politischen Austausch mit den Mitgliedstaaten auf Verbesserungen und Berichtigungen hinzuwirken und rechtspolitischen Druck aufzubauen.296 Das Justizbarometer war ursprünglich nicht als rechtsstaatsspezifisches Monitoring-Instrument konzipiert, wurde von der Kommission im Verlauf der Krise aber sukzessive hierauf zugeschnitten.297 2. Rechtsstaatsmechanismus Im Jahr 2019 stellte die Kommission einen neuen „Rechtsstaatsmechanismus“ vor, dessen Gegenstand ein spezifisches Monitoring der Entwicklungen und Refor 292
M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 288 f. M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 288 f., 365 ff. 294 Das EU-Justizbarometer 2022 ist abrufbar unter https://commission.europa.eu/document/ 123138e5-f651-44e4-963e-65b721c4f5e7_en (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). Kritik an der Methodik und unzureichender Transparenz bei Baldus, GPR 2016, 108 (110 f.); Blauberger, Leviathan 2016, 280 (291); Jakab / Kirchmair, 22 GLJ 2021, 936 (948 f.); Storskrubb, in: Bakardjieva Engelbrekt u. a., Trust in the EU, S. 159 (175 f.). 295 Europäische Kommission, Mitteilung v. 08. 07. 2021, COM(2021) 389 final, S. 2. 296 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 430, 458. 297 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 289, 432, 448 ff.; Jakab / Kirchmair, 22 GLJ 2021, 936 (949); vgl. Europäische Kommission, Mitteilung v. 03. 04. 2019, COM(2019) 164 final, S. 5. Vorschlag zur Weiterentwicklung des Justizbarometers in einen Rechtsstaatlichkeitsindex bei Jakab / Kirchmair, 22 GLJ 2021, 936. 293
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men in den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit ist.298 Ziel des Instruments ist es, eine größere Sensibilität und ein besseres Verständnis der Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zu gewinnen, um Gefährdungen rechtsstaatlicher Prinzipien rechtzeitig zu erkennen und effektive Lösungen entwickeln zu können.299 Es handelt sich um ein präventives Instrument, das negativen Veränderungen vorbeugen soll, bevor die Einleitung formeller Aufsichtsverfahren erforderlich wird.300 Es soll zudem dazu beitragen, die Dauerhaftigkeit und Unumkehrbarkeit von Reformen sicherzustellen, die infolge des Eingreifens der EU (z. B. durch Vertragsverletzungsverfahren) vorgenommen wurden.301 Zu diesem Zweck sieht der Rechtsstaatsmechanismus eine anlasslose jährliche Evaluierung der Lage der Rechtstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten vor.302 Der Rechtsstaatsmechanismus beinhaltet verschiedene Verfahrensstufen: Zuerst holt die Kommission Stellungnahmen von einem Netzwerk nationaler Kontaktstellen in den Mitgliedstaaten und weiteren Interessenträgern, darunter EU-Agenturen, Organisationen der Zivilgesellschaft und Berufsverbände, ein.303 Daneben zieht sie weitere Informationsquellen, wie etwa das EU-Justizbarometer oder Berichte des Europarats, der OSZE sowie verschiedener EU-Agenturen heran.304 Auf dieser Grundlage erarbeitet die Kommission einen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit, der eine Bewertung der Lage in der EU insgesamt sowie in den einzelnen Mitgliedstaaten vornimmt.305 Jedem Mitgliedstaat ist ein eigenes Länderkapitel gewidmet. Inhaltlich nimmt der Mechanismus vier Säulen in den Blick: Unabhängigkeit, Qualität und Effizienz des Justizsystems, Korruptionsbekämpfung und -prävention, Medienpluralismus und Medienfreiheit sowie sonstige institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung. Neben einer Bewertung sowohl positiver als auch negativer Entwicklungen in diesen Bereichen enthalten die jeweiligen Länderkapitel auch – unverbindliche – Empfehlungen der Kommission an die Mitgliedstaaten. Dem Bericht soll eine jährliche Diskussion der Ergebnisse in Form eines Dialogs auf EU-Ebene mit dem Parlament und dem Rat und auf nationaler Ebene mit den zuständigen Behörden und Interessenträgern folgen.306
298
Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 10 ff. Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 11. 300 Reynders, Recht und Politik 2021, 1 (2, 5). 301 Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 11. 302 Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 11. 303 Germelmann, DÖV 2021, 193 (198); Reynders, Recht und Politik, 1 (2); vgl. Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 12 f. 304 Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 12; Jakab / Kirchmair, 22 GLJ 2021, 936 (937, 948). 305 Der Rechtsstaatsbericht 2022 ist abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/publications/2022rule-law-report-communication-and-country-chapters_de (zuletzt abgerufen am 08. 06. 2023). 306 Reynders, Recht und Politik 2021, 1 (5); vgl. Europäische Kommission, Mitteilung v. 17. 07. 2019, COM(2019) 343 final, S. 13. 299
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3. Bewertung der Wirksamkeit Mit dem EU-Justizbarometer und dem Rechtsstaatsmechanismus gehen keine Befugnisse der Union einher, die Mitgliedstaaten rechtsverbindlich zur Behebung etwaiger Defizite zu verpflichten. Möglich sind lediglich unverbindliche Aufforderungen oder Empfehlungen durch die Kommission. Dennoch kommt den In strumenten eine nicht unbedeutende Rolle bei der Sicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens zu: Die Grundlage der Verteidigung der gemeinsamen Werte liegt in Überwachungsmaßnahmen wie dem EU-Justizbarometer und dem Rechtsstaatsmechanismus.307 Idealerweise schreckt die Implementierung solcher Überwachungsmechanismen die Mitgliedstaaten bereits von einer Abweichung von den gemeinsamen Standards ab.308 Anderenfalls dienen die Monitoring- Instrumente den Unionsorganen zum einen als Frühwarnsystem, um negative Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und Präventionsstrategien entwickeln zu können.309 Zum anderen können die Ergebnisse dieser Mechanismen im Wege der „Querverwertung“ als Informations- und Entscheidungsgrundlage für andere (Aufsichts-)Verfahren, wie etwa das Verfahren nach Art. 7 EUV, das Vertragsverletzungsverfahren oder das Vorabentscheidungsverfahren dienen.310 So griff etwa Generalanwalt Tanchev in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache A. K. u. a. zu den Justizreformen in Polen auf Ergebnisse des EU-Justizbarometers zurück.311 Auch ErwG 16 der VO (EU) 2020/2092 über den Konditionalitätsmechanismus sieht vor, dass die Kommission zur Feststellung von Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze den Jahresbericht über die Rechtsstaatlichkeit und das jährliche EU-Justizbarometer berücksichtigen soll. Die Ergebnisse können von den mitgliedstaatlichen Gerichten und Behörden zudem bei der Entscheidung über eine Widerlegung der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Solange-Vermutung nutzbar gemacht werden.312 Um zu beurteilen, ob in einem Mitgliedstaat systemische Defizite in Bezug auf die Wahrung der Werte des Art. 2 EUV vorliegen, müssen sich die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Umstände in dem anderen Mitgliedstaat stützen.313 Das EU-Justizbarometer und die Länderkapitel des Rechtsstaatsberichts würde der 307
Kullak, Vertrauen in Europa, S. 190; vgl. Alegre / Leaf, 10 Eur. Law J. 2004, 200 (216). Kullak, Vertrauen in Europa, S. 190; Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 175. 309 Diel-Gligor, ZRP 2021, 63 (64). 310 M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 366; Boekestein, 23 GLJ 2022, 431 (443). 311 GA Tanchev, Schlussanträge v. 27. 06. 2019 – C-585/18, ECLI:EU:C:2019:551 Rn. 144 Fn. 96 – A. K. u. a.; M. Schmidt, Verfassungsaufsicht in der EU, S. 466. 312 Vgl. De Schutter, in: De Schutter / Moreno Lax, Human Rights in the Web of Governance, S. 295 (308). 313 St. Rspr., s. nur EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU: C:2016:198 Rn. 89 – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI: EU:C:2018:586 Rn. 61 – LM; Urt. v. 19. 03. 2019 – C-163/17, ECLI:EU.C:2019:218 Rn. 90 – Jawo. 308
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EuGH sicherlich hierunter fassen.314 Der Vorteil dieser Instrumente gegenüber sonstigen Erkenntnisquellen wie etwa den Berichten von Organen des Europarats oder der Vereinten Nationalen ist, dass den getroffenen Bewertungen der gemeinsame Rechtsstaatlichkeitsbegriff des Art. 2 EUV zugrunde liegt. Eine gemeinsame Erkenntnisgrundlage beugt einer Fragmentierung des Unionsrechts aufgrund divergierender Entscheidungen der einzelnen mitgliedstaatlichen Gerichte vor und stärkt so die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts. Wünschenswert wäre ein dem Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission entsprechendes Instrument auch in Bezug auf andere Fundamentalgarantien des Art. 2 EUV, insbesondere in Grundrechtsfragen. Zwar gibt die Europäische Grundrechteagentur ebenfalls jährliche Berichte heraus, diese sind jedoch weitaus allgemeiner gehalten und enthalten keine entsprechend detaillierte und länderspezifische Bewertung am Maßstab der gemeinsamen grundrechtlichen Mindeststandards aus Art. 2 EUV. VII. Ausschluss von Mitgliedstaaten Die offene Abkehr von den europäischen Grundwerten in einigen Mitgliedstaaten und die Defizite der zur Verfügung stehenden Aufsichtsmaßnahmen werfen die Frage auf, ob die Union als letztes Mittel den Ausschluss vertragswidrig agierender Mitgliedstaaten aus ihrem Staaten- und Verfassungsbund erzwingen kann. Wendet sich ein Mitgliedstaat bewusst und dauerhaft von dem gemeinsamen Wertefundament ab, wäre die Beendigung seiner Mitgliedschaft das wirksamste Mittel, um die horizontale Zusammenarbeit in der Union vor den Auswirkungen der Entwicklungen in dem betreffenden Staat zu schützen. Die Aussicht, bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte des Art. 2 EUV aus der Union ausgeschlossen zu werden, dürfte durch ihre abschreckende Wirkung zudem dazu beitragen, die Einhaltung der gemeinsamen Werte durch die Mitgliedstaaten abzusichern. Die Europäischen Verträge enthalten keine Regelung, auf die sich eine Beendigung der EU-Mitgliedschaft gegen den Willen des betreffenden Staates stützen lässt.315 Auch das Verfahren nach Art. 7 EUV ermöglicht nur eine Aussetzung bestimmter Rechte des betroffenen Mitgliedstaats, nicht aber seinen Ausschluss aus der Union.316 Diskutiert wird jedoch, ob sich eine Ausschlussmöglichkeit auf 314
Weller, 35 NIPR 2017, 1 (19, Fn. 118). Krzan, in: Hofmeister, The End of the Ever Closer Union, S. 143 (149); Meng, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 50 EUV Rn. 12; Hantschel, NVwZ 2012, 995 (999); ausführlich Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 252 ff.; Pohjankoski, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 321 (330 ff.). 316 Besselink, in: Jakab / Kochenov, Enforcement of EU Law and Values, S. 128 (129 f.); Martenczuk, in: Kadelbach, Verfassungskrisen in der EU, S. 41 (45); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571); Träbert, Sanktionen der EU gegen ihre Mitgliedstaaten, S. 327 f.; Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 5; Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 178 f. S. ausführlich bereits oben, → 4. Kapitel, § 3. A. II. 1. 315
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Grundlage des allgemeinen Völkervertragsrechts ergibt.317 Eine mögliche völkerrechtliche Rechtsgrundlage, auf die der Ausschluss eines Mitgliedstaats gestützt werden könnte, ist Art. 60 Abs. 2 lit. a WVK.318 Danach berechtigt eine erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei die anderen Vertragsparteien, den Vertrag im Verhältnis zu dem vertragsbrüchigen Staat einvernehmlich zu suspendieren oder zu beenden. Der Regelung liegt die Erwägung zugrunde, dass es den Vertragspartnern, die ihren Pflichten nachkommen, langfristig nicht zumutbar ist, mit einem Partner in einem Verbund zu bleiben, der die vertraglichen Anforderungen erheblich verletzt.319 Ein Rückgriff auf Art. 60 Abs. 2 lit. a WVK begegnet aber schon deshalb Bedenken, weil die Europäischen Verträge eine autonome, in sich geschlossene neuartige Rechtsordnung geschaffen haben,320 die sich von ihrem Ursprung im Völkerrecht gelöst hat.321 Die Anwendung von Sanktionsmechanismen des allgemeinen Völkerrechts ist in den Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten daher grundsätzlich ausgeschlossen.322 Selbst wenn man diese Auffassung nicht teilt und das Unionsrecht nach wie vor als spezielle Rechtsordnung des Völkerrechts begreift,323 ist ein Rekurs auf die Regelungen des allgemeinen Völkervertragsrechts nur dann zulässig, wenn das Unionsrecht als lex specialis keine abschließende Regelung der in Frage stehenden Materie trifft.324 Mit 317 So Dörr, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 50 EUV Rn. 63; Pechstein, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 23; Schmahl, EuR 2000, 819 (829 f.); Stein, in: FS Jaenicke, S. 871 (888 ff.); Zuleeg, in: GS Sasse Bd. I, S. 55 (63 f.); Hantschel, NVwZ 2012, 995 (998 ff.); ablehnend Hofmeister, DVBl. 2016, 869 (872); Nowak, in: Frankfurter Kommentar, EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 25; Schorkopf, Homogenität in der EU, S. 186 f.; ders., in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 54; Nettesheim, in: Holterhus / Michl, Die schwache Gewalt, S. 111 (124 ff.). 318 Zwar haben nicht alle Mitgliedstaaten die WVK ratifiziert, es handelt sich aber um kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht, das auch gegenüber Staaten Geltung beansprucht, die der WVK nicht beigetreten sind, vgl. Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 263. 319 Schmahl, EuR 2000, 819 (829); Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 18 Rn. 77; Stein, in: FS Jaenicke, S. 871 (888); Zuleeg, in: GS Sasse Bd. I, S. 55 (63). 320 Vgl. EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964 – 6/64, ECLI:EU:C:1964:66 – Costa / E. N.E. L.: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, …“; ebenso Gutachten v. 08. 03. 2011 – 1/09, ECLI:EU:C:2011:123 – Einheitliches Patentgerichtssystem; Gutachten v. 18. 12. 2014 – 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 157 – EMRK-Beitritt II. 321 Giegerich, ZEuS 2020, 61 (86); Hofmeister, DVBl. 2016, 869 (872); Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 7 EUV Rn. 25; Pohjankoski, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 321 (326 f.); H. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 58 ff. 322 Pohjankoski, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 321 (326 f.). Vgl. EuGH, Urt. v. 13. 11. 1964 – 90/63 u. 91/63, ECLI:EU:C:1964:80 – Kommission / Luxemburg u. Belgien: „[D]er Vertrag (…) stellt eine neue Rechtsordnung auf, nach der sich die Befugnisse, Rechte und Pflichten der Rechtssubjekte sowie die zur Feststellung und Ahndung etwaiger Rechtsverletzungen erforderlichen Verfahren bestimmen.“ 323 Bleckmann, DÖV 1978, 391; Dörr, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 47 EUV Rn. 78, Art. 50 EUV Rn. 60. 324 Dörr, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 50 EUV Rn. 60; Hofmeister, DVBl. 2016, 869 (872).
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dem Vertragsverletzungsverfahren und dem Notstandsverfahren nach Art. 7 EUV sieht das Unionsrecht aber ein abschließendes Instrumentarium für den Umgang mit vertragsbrüchigen Mitgliedstaaten vor, das angesichts seiner Ausdifferenziertheit einen Rückgriff auf Art. 60 Abs. 2 lit. a WVK ausschließt.325 Der Vorschlag, eine Regelung zum Ausschluss von Mitgliedstaaten vorzusehen, die wiederholt die gemeinsamen Werte verletzen, wurde vom Konvent zur Zukunft Europas, auf dessen Vorarbeiten der Vertrag von Lissabon mittelbar beruht, nicht angenommen.326 Ist den anderen Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit mit einem Mitgliedstaat nicht mehr zumutbar, weil dieser schwerwiegend und anhaltend gegen die in Art. 2 EUV genannten Werte verstößt, ermöglichen die Verträge anstelle eines Ausschlusses eine Aussetzung von bestimmten, durch den Rat festzulegenden Mitgliedschaftsrechten (Art. 7 Abs. 3 EUV). Auch die hochgradig komplexe politische, ökonomische und rechtliche Vernetzung der Mitgliedstaaten, die über die mit sonstigen völkerrechtlichen Verträgen üblicherweise einhergehenden Bindungen deutlich hinausgeht, spricht dafür, dass der Primärrechtsgeber bewusst von der Möglichkeit eines Ausschlusses abgesehen hat. De lege ferenda mag man die Einfügung eines Ausschlusstatbestands als Sanktion ultima ratio für den Fall anhaltender und schwerwiegender Verstöße gegen die gemeinsamen Grundwerte erwägen.327 Vorbild könnte etwa Art. 8 der Satzung des Europarats sein, der vorsieht, dass ein Mitglied des Europarats, das sich eines schweren Verstoßes gegen die gemeinsamen Grundsätze schuldig macht, vom Minister-Komitee aufgefordert werden kann, auszutreten. Wird dieser Aufforderung nicht Folge geleistet, kann das Minister-Komitee den Mitgliedstaat aus dem Europarat ausschließen. Zur Normierung eines Ausschlusstatbestands bedürfte es aber einer Vertragsänderung nach Art. 48 EUV.328 Der hierfür erforderliche Konsens aller Mitgliedstaaten dürfte mittelfristig nicht zu erreichen sein.
325
Giegerich, ZEuS 2020, 61 (86 f.); Hofmeister, DVBl. 2016, 869 (872); Nowak, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 50 EUV Rn. 25; Schmalenbach, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 356 AEUV Rn. 3; Schorkopf, Homogenität in: der EU, S. 186 f.; ders., in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 7 EUV Rn. 54; allgemein zur Unzulässigkeit des Rückgriffs auf völkerrechtliche Sanktionsmechanismen Serini, Sanktionen der EU, S. 164 ff.; a. A. Nettesheim, in: Holterhus / Michl, Die schwache Gewalt, S. 111 (125). 326 GA Sánchez-Bordona, Schlussanträge v. 04. 12. 2018 – C-621/18, ECLI:EU:C:2018:978 Rn. 112 – Wightmann; Pohjankoski, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 321 (328 f.). Zum Verzicht auf eine Ausschlussklausel bereits im Zuge vorhergehender Vertragsänderungen s. Pohjankoski, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 321 (327 f.). 327 Dafür Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 294; J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (150); Montero, VerfBlog 2020/12/26, DOI: 10.17176/20201226-172622-0. 328 Blettenberg, Reaktionsmechanismen, S. 294; von Bogdandy, 57 CMLR 2020, 705 (725); Stäsche, ZEuS 2021, 561 (571).
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
VIII. Fazit Das Unionsrecht hält eine vertrauenssichernde Infrastruktur in Gestalt verschiedener Überwachungs- und Sanktionsmechanismen vor, die sicherstellen sollen, dass die Werte des Art. 2 EUV, die das Fundament des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens bilden, von allen Mitgliedstaaten tatsächlich geachtet werden. Im Ernstfall erweist sich dieses Instrumentarium jedoch – wie seine Anwendung im Zuge der andauernden Polykrise der Union offengelegt hat – nur als bedingt wirksam. Das Verfahren nach Art. 7 EUV, das seinem Normzweck nach gerade auf den Umgang mit Situationen gerichtet ist, in denen Mitgliedstaaten eine Zusammenarbeit durch anhaltende und schwerwiegende Werteverstöße unmöglich machen, hat sich in der Praxis als schwerfällig und ineffektiv herausgestellt. Auch der EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, der das Art. 7 EUV- Verfahren nunmehr als informelles Vorverfahren ergänzt, verspricht im Umgang mit mitgliedstaatlichen Regierungen, deren Handeln bewusst auf einen Abbau rechtsstaatlicher Strukturen gerichtet ist, keinen Erfolg. Dem Vorabentscheidungsverfahren als Mittel der „Verfassungsaufsicht von innen“ fehlt es an Mechanismen zur Durchsetzung der getroffenen Entscheidungen und an Sanktionsmechanismen für den Fall ihrer Nichtbeachtung. Die strategische und konsequente Nutzung des Vertragsverletzungsverfahrens kann die bestehende Durchsetzungslücke zu einem gewissen Grad kompensieren, besonders im Zusammenspiel mit dem Durchsetzungsverfahren nach Art. 260 Abs. 2 EUV und dem Erlass – ggfs. zwangsgeldbewehrter – einstweiliger Anordnungen. Als Nachteil erweist sich jedoch der fallspezifische Charakter des Vertragsverletzungsverfahrens, der bei Änderung der in Frage stehenden mitgliedstaatlichen Regelungen oder Praktiken oder dem Hinzutreten weiterer Wertverstöße die Einleitung neuer Vertragsverletzungsverfahren erforderlich macht. Einen erkennbaren Fortschritt gegenüber der bisherigen Rechtslage bedeutet die neu geschaffene Konditionalitätsverordnung, die die Kommission und den Rat nunmehr in die Lage versetzt, zum Schutz des Unionshaushalts finanzwirksame Maßnahmen gegen Mitgliedstaaten zu ergreifen, wenn Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze zu einem Missbrauch von EU-Mitteln führen oder ein ernsthaftes Risiko dafür schaffen. Gerade in weniger finanzstarken Mitgliedstaaten, für die die Unterstützung ihrer Haushalte durch EU-Mittel essenziell ist, sollten finanzwirksame Maßnahmen einen erheblichen Anpassungsdruck erzeugen. Angesichts der aufgezeigten Schwächen des unionalen Aufsichtsregimes konnte die Union bei der Verteidigung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens in der gegenwärtigen Krise bislang nur Teilerfolge erzielen. Missachten Mitgliedstaaten die gemeinsamen Werte nicht nur aus Nachlässigkeit, sondern bewusst und systematisch, geraten die Mechanismen zu ihrer Durchsetzung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.329 Nachhaltig erfolgreich können Sanktionsmechanismen nur 329
Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282 (283); M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1074).
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sein, wenn ein entsprechender Grundkonsens in den Mitgliedstaaten besteht; die Sanktion dient letztlich nur der Erinnerung daran.330 In solchen Fällen erweist sich nach dem derzeitigem Entwicklungsstand des Unionsrechts ein Rückgriff auf die Ausnahmetatbestände von der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung als unentbehrlich. Bei der Anwendung dieser Ausnahmetatbestände können sich die unionsrechtlichen Monitoring-Instrumente als wertvolle Informations- und Entscheidungsgrundlage für den EuGH und die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte erweisen. Diese gemeinsame Erkenntnisgrundlage beugt der Gefahr einer Fragmentierung des Unionsrechts vor.
B. Maßnahmen der positiven Integration Die im vorstehenden Abschnitt vorgenommene Analyse hat gezeigt, dass die Instrumente der unionalen Verfassungsaufsicht nur einen begrenzten Beitrag zur Wirksamkeit des Vertrauensprinzips leisten können. Es fragt sich daher, inwieweit die vertrauensbasierte horizontale Zusammenarbeit in Ergänzung hierzu durch Maßnahmen der positiven Integration gefördert werden kann. Positive Integration bezeichnet die materielle Verdichtung der europäischen Rechtsgemeinschaft, sei es durch den Aufbau von Zuständigkeitsordnungen, die Schaffung supranationaler europäischer Institutionen, die Ersetzung mitgliedstaatlicher Regelwerke durch harmonisiertes europäisches Recht, verbindliche europäische (Mindest-)Standards, europäische Netzwerke oder gemeinsame „best practices“.331 Diskutiert werden im vorliegenden Kontext insbesondere eine stärkere Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen in den Hauptreferenzgebieten des Vertrauensgrundsatzes (→ I.) und außerrechtliche Maßnahmen wie die (Weiter-)Entwicklung Europäischer Netzwerke und Aus- und Fortbildungsprogramme für europäische Praktiker (→ II.). I. Stärkere Harmonisierung nationaler Rechtsordnungen 1. Grundzüge Ein wesentliches Hindernis für das reibungslose Funktionieren der horizontalen Zusammenarbeit bilden unzureichende Grundrechts- und Verfahrensstandards in Teilen der Mitgliedstaaten, die – vermittelt über die Ausnahmetatbestände des Ver-
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Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 44; Pernice, in: Krüper / Payandeh / Sauer, Hesses normative Kraft der Verfassung, S. 165 (187 f.). 331 Burchard, Konstitutionalisierung, S. 444 f.; Scharpf, Regieren in Europa, S. 47 ff.; aus binnenmarktrechtlicher Sicht Krajewski, EuR 2010, 165 (167 f.); Kingreen, Sozialstaatsprinzip, S. 6 f. Der Gegenbegriff der negativen Integration steht für Maßnahmen, die auf den Abbau von Zusammenarbeitshindernissen zielen, ohne dass das zugrundeliegende Recht der Mitgliedstaaten harmonisiert wird oder sonstige gemeinsame Institutionen etabliert werden.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
trauensgrundsatzes – der horizontalen Kooperation Grenzen setzen.332 Dies gilt in besonderem Maße in grundrechtssensiblen Politikbereichen wie dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. In der Literatur wird deshalb vielfach eine Förderung des gegenseitigen Vertrauens durch eine stärkere sekundärrechtliche Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in den Hauptreferenzgebieten des Vertrauensgrundsatzes vorgeschlagen.333 Dadurch könnten gleichwertige Standards innerhalb der Union sichergestellt werden und wechselseitige Unsicherheiten hinsichtlich der Konformität der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen mit den gemeinsamen Werten nach Art. 2 EUV, die sich als Hemmnis bei der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes erwiesen haben, ausgeräumt werden.334 Auch verschiedene politische Programme der Union betonen die Bedeutung unionsweiter Mindeststandards für die wirksame Anwendung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens.335 Eine sekundärrechtliche Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Sach- oder Verfahrensrechts setzt wegen des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EUV) stets das Bestehen eines entsprechenden Kompetenztitels in den Verträgen voraus. Nimmt man die klassischen Referenzgebiete des Vertrauensgrundsatzes in den Blick, finden sich verschiedene Kompetenzgrundlagen, die die Union zum Erlass gemeinsamer europäischer Standards ermächtigen. Die auf Grundlage dieser Kompetenztitel mittlerweile erfolgte Rechtsangleichung zeigt, dass die Verankerung vertrauensbasierter Kooperationsinstrumente rechtstatsächlich regelmäßig Harmonisierungsmaßnahmen nach sich zieht.336 S. oben, → 4. Kapitel, § 2. B. II. 2. Nettesheim, EuZ 2018, 4 (18); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation, S. 91 f.; Gill-Pedro / Groussot, 35 Nordic Journ. Hum. Rights 2017, 258 (266); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 183 ff.; Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (105 f.); Hecker, DÖV 2006, 273 (276); Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (811 f.); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 126; Xanthopoulou, 55 CMLR 2018, 489 (507 f.); Willer, ZZP 2014, 99 (105 f.); Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (364 ff.); De Schutter, in: De Schutter / Moreno Lax, Human Rights in the Web of Governance, S. 295 (309); Frąckowiak-Adamska, 52 CMLR 2015, 191 (203); Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 126 f. 334 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 183 f.; Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 121 f.; Schwarz, 24 Eur. Law J. 2018, 124 (137); Lenaerts, duE 2015, 525 (532 f.). 335 S. nur Rat, Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001 C 12/1, S. 5 f.; Europäische Kommission, Grünbuch: Verfahrensgarantien in Strafverfahren, KOM(2003) 75 endg., S. 10 f.; Europäischer Rat, Mitteilung v. 03. 03. 2005, Haager Programm ABl. EU 2005 C 53/01, S. 12; Europäische Kommission, Mitteilung v. 19. 05. 2005, KOM(2005) 195 endg., Nr. 19 ff.; Rat, Entschließung v. 30. 11. 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren, ABl. EU C 295/1; Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 14 f.; Europäische Kommission, Mitteilung v. 20. 09. 2011, COM(2011) 573 final, S. 3; Europäischer Rat, Information v. 24. 07. 2014, Auszug aus den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 26.–27. Juni 2014, ABl. EU 2014 C 240/14, Nr. 11. 336 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 185; von „integrationsstimulierende[r] Wirkung“ spricht Hecker, DÖV 2006, 273 (276). 332 333
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Auf dem Gebiet des Strafrechts kommt eine Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten primär in den in Art. 82 Abs. 2 AEUV und Art. 83 AEUV genannten Bereichen in Betracht.337 Art. 82 Abs. 2 AEUV enthält eine Ermächtigung zur Harmonisierung des innerstaatlichen Strafverfahrensrechts, die darauf abzielt, die strafrechtliche Zusammenarbeit auf Grundlage der Prinzipien der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zu erleichtern.338 Soweit zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich, können Parlament und Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte des Strafverfahrens festlegen. In Umsetzung des Stockholmer Programms sind auf dieser Grundlage verschiedene Richtlinien ergangen, die umfassende verfahrensrechtliche Garantien für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren vorsehen.339 Art. 83 AEUV enthält sachlich begrenzte Harmonisierungskompetenzen auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts.340 Eine Kompetenzgrundlage für die Festlegung von Mindeststandards für die Haftbedingungen in den Mitgliedstaaten bieten die Verträge dagegen – trotz der elementaren Bedeutung dieser Frage für die praktische Wirksamkeit der Zusammenarbeit in Strafsachen – nicht.341 Im Bereich des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems kann die Union gemeinsame Verfahrensstandards für die Gewährung und den Entzug des Asylstatus bzw. des subsidiären Schutzstatus (Art. 78 Abs. 2 lit. d AEUV) sowie Normen über die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende (Art. 78 Abs. 2 lit. f) festlegen, wobei sie hier jeweils nicht auf eine Mindestharmonisierung beschränkt ist.342 Von diesen Kompetenztiteln hat die EU mit der Aufnahme-RL und der Asylverfahrens-RL Gebrauch gemacht. Für die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen enthält Art. 81 Abs. 2 AEUV verschie 337
Zu ergänzenden (impliziten) Kompetenzen auf dem Gebiet des Strafrechts s. Böse, in: Böse, EnzEuR Bd. 11, § 4 Rn. 23 ff. 338 Ausführlich zum Kompetenztitel des Art. 82 Abs. 2 AEUV s. Böse, in: Böse, EnzEuR Bd. 11, § 4 Rn. 42 ff.; Öberg, 16 EuConst 2020, 33. 339 RL 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen in Strafverfahren; RL 2012/13/ EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren; RL 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs; RL (EU) 2016/343 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren; RL (EU) 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind; RL (EU) 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls. 340 Ausführlich zum Kompetenztitel des Art. 83 AEUV s. Böse, in: Böse, EnzEuR Bd. 11, § 4 Rn. 4 ff.; Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, S. 467 ff.; Heger, ZIS 2009, 406 (411 ff.). 341 Ladenburger, in: Lenaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (168); ders., ZEuS 2020, 373 (387). 342 Weiß, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 78 AEUV Rn. 22, 41.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
dene Kompetenztitel zur Angleichung des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts, die die Normierung gemeinsamer Mindeststandards zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung ermöglichen.343 Zur Verbesserung des Zugangs zum Recht wurde auf Grundlage von Art. 81 Abs. 2 lit. e AEUV etwa eine Richtlinie zur Prozesskostenhilfe in grenzüberschreitenden Streitigkeiten (RL 2002/8/EG) erlassen. Mit Blick auf die Forderung nach einer weitergehenden Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts ist für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu beachten, dass dieser kompetenziell der geteilten Zuständigkeit zugeordnet ist (Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV). Die Union ist bei Wahrnehmung ihrer Rechtsetzungskompetenzen daher an das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV) und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 4 EUV) als allgemeine Kompetenzausübungsschranken gebunden. 2. Widerspruch zum integrationspolitischen Konzept des gegenseitigen Vertrauens? Der Ansatz, die Wirksamkeit des Vertrauensgrundsatzes durch sekundärrechtlich verankerte gemeinsame Mindeststandards zu fördern, wird häufig als rechtspolitisch inkonsistent und in sich widersprüchlich kritisiert. Eine stärkere Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen widerspreche dem integrationspolitischen Ansatz hinter den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens.344 Die Mitgliedstaaten hätten sich bewusst gegen eine Rechtsvereinheitlichung und für ein System der zwischenstaatlichen Kooperation entschieden, das auf der unionsweiten Anerkennung und Durchsetzbarkeit nationaler Entscheidungen und Standards auf der Grundlage wechselseitigen Vertrauens beruht. Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens dürfe daher nicht, gleichsam durch die Hintertür, als Vorwand für weitgehende Eingriffe in die mitgliedstaatliche Rechtsetzungsautonomie dienen.345 Außerdem werde der Grundsatz mit fortschreitender Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen seines Inhalts entleert: Werde das Moment der Ungewissheit hinsichtlich der Gleichwertigkeit der nationalen Rechtsordnungen mittels einer Angleichung selbiger ausgeräumt, sei für gegenseitiges Vertrauen weder Raum noch Notwendigkeit.346 343
Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 121 ff. Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (214, 248 f.); van den Brink, 1 Eur. Papers 2016, 921 (935); Guild, 10 Eur. Law J. 2004, 218 (227). 345 Vermeulen, in: GS Vogel, S. 181 (203 f.); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 150. Kritisch dazu, gegenseitige Anerkennung und gegenseitiges Vertrauen „zum Troja nischen Pferd“ für Harmonisierungsmaßnahmen zu erklären K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 334 ff. 346 Kaufhold, EuR 2012, 408 (420 f.); dies., in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (118); Cambien, 2 Eur. Papers 2017, 93 (105); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 245; Willems, 9 Eur. J. Legal Stud. 2016, 211 (248 f.); Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (365). 344
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Tatsächlich stehen die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens für ein Integrationsmodell, das auf eine Vermeidung von Harmonisierung, Zentralisierung und inhaltlicher Koordinierung zielt.347 In der Rechtswirklichkeit bilden gegenseitiges Vertrauen und Harmonisierung aber – wie auch Art. 82 Abs. 2 AEUV belegt – keine streng gegensätzlichen, sondern sich wechselseitig ergänzende Integrationsstrategien.348 Die auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Zusammenarbeit unter Verzicht auf wechselseitige Kontrollen erfordert nämlich notwendigerweise eine gewisse Äquivalenz der mitgliedstaat lichen Rechtsordnungen und Praktiken, insbesondere in Bezug auf den Schutz von Verfahrens- und Grundrechten.349 Die Verankerung vertrauensbasierter Kooperationsmechanismen geht daher regelmäßig mit Harmonisierungsmaßnahmen einher.350 Solange diese Maßnahmen sich auf eine Teil- oder Mindestharmonisierung beschränken, anstatt eine vollständige Vereinheitlichung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in den betreffenden Sachgebieten vorzunehmen, besteht kein Widerspruch zu dem integrationspolitischen Regelungskonzept hinter dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.351 Von einer Sinnentleerung des Grundsatzes kann ebenfalls nicht gesprochen werden. Zwar ist nach einer Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen kein wechselseitiges Vertrauen in die Qualität der nationalen Rechtsordnungen mehr erforderlich. Die Mitgliedstaaten sind nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens aber weiterhin verpflichtet, die ordnungsgemäße Anwendung der unionsrechtlichen Vorgaben durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen.352 Es ändert sich mithin lediglich der Gegenstand der Vertrauenspflicht.
Burchard, Konstitutionalisierung, S. 453 f. Ausführlich bereits oben, → 1. Kapitel, § 3. B. Vgl. Suhr, in: Calliess / Ruffert, AEUV / EUV, Art. 82 AEUV Rn. 7; Ladenburger, in: L enaerts u. a., An Ever-Changing Union, S. 163 (170); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 122; Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 164; Kotzur / van de Loo, in: Geiger / Kahn / Kotzur / Kirchmair, EUV / AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 11; Storskrubb, in: Hess u. a., EU Civil Justice, S. 299 (307 f.); Nicolaïdis, 14 J. Eur. Publ. Pol. 2007, 682 (690). 349 Gerard, in: Brouwer / Gerard, Mapping Mutual Trust, S. 69 (75); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (84 f.); Pernice, in: FS Meyer, S. 359 (376); vgl. Kaufhold, in: W. Kahl / Ludwigs, Hb. VerwR Bd. 2, § 48 Rn. 22. Auch hierzu bereits oben, → 1. Kapitel, § 3. B. 350 Kullak, Vertrauen in Europa, S. 185. Hecker, DÖV 2006, 273 (276) spricht von „integrationsstimulierende[r] Wirkung“. 351 Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 268, 283. 352 Eßlinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 127; Kullak, Vertrauen in Europa, S. 184; Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 122; L. von Danwitz, EuR 2020, 61 (67); Prechal, 2 Eur. Papers 2017, 75 (82). Dies trotz Kritik einräumend auch Kaufhold, EuR 2012, 408 (426); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, S. 246. 347 348
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
3. Bewertung und Fazit Die Festlegung gemeinsamer Standards soll Schutzlücken schließen, die sich aus der Divergenz der nationalen Rechtsordnungen ergeben, und sicherstellen, dass in allen Mitgliedstaaten ein einheitliches Mindestmaß an Verfahrensgarantien und Grundrechtsschutz gewährleistet ist. Sie soll damit einen Beitrag zur Förderung des Vertrauensprinzips leisten, für dessen praktische Wirksamkeit gleichwertige Grundrechts- und Verfahrensstandards innerhalb der Union in der Tat unerlässlich sind. Durch eine formale Rechtsangleichung allein kann dieses Ziel aber nicht erreicht werden.353 In der Polykrise der Union zeigt sich, dass das Problem in vielen Fällen weniger das Fehlen unionsweiter Standards als vielmehr die unzureichende oder fehlende Umsetzung und Anwendung bestehender Regelungen ist.354 Deutlich wird dies etwa mit Blick auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem:355 Hier ist durch die Aufnahme-RL, die Anerkennungs-RL und die AsylverfahrensRL eine vergleichsweise weitgehende sekundärrechtliche Mindestharmonisierung der Verfahrens- und Aufnahmestandards erfolgt. In der Praxis lässt sich jedoch in einer Reihe von Mitgliedstaaten eine systematische Nichtanwendung dieser Vorgaben feststellen.356 Auch bei der Umsetzung der auf Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV ergangenen Mindestvorschriften für das Strafverfahren zeigen sich in verschiedenen Mitgliedstaaten Defizite.357 Sofern die Mitgliedstaaten sekundärrechtliche Vorgaben nicht ordnungsgemäß umsetzen oder anwenden, kann die Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen die betreffenden Staaten einleiten.358 Unter bestimmten Voraussetzungen kommt den zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erlassenen Richtlinien zudem ungeachtet einer fehlenden oder unzureichenden Umsetzung unmittelbare Wirkung zugunsten des Einzelnen zu.359 Die Einzelnen können 353 Jakowski, Anerkennungsregime des europäischen Zivilprozessrechts, S. 232; Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (367 f.); Kullak, Vertrauen in Europa, S. 184 f. 354 Öberg, 16 EuConst 2020, 33 (54); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 340 f. 355 Mitsilegas, 31 YEL 2012, 319 (367 f.). 356 Hierzu bereits ausführlich oben, → 4. Kapitel, § 2. A. II. 1. 357 Rat, Schlussfolgerungen „Der Europäische Haftbefehl und Auslieferungsverfahren – aktuelle Herausforderungen und weiteres Vorgehen“, ABl. EU 2020 C 419/09, Nr. 28; Europäische Kommission, Bericht über die Umsetzung der RL 2010/64/EU, COM(2018) 857 final; Europäische Kommission, Bericht über die Umsetzung der RL 2012/13/EU, COM(2018) 858 final; Europäische Kommission, Bericht über die Umsetzung der RL 2013/48/EU, COM(2019) 560 final; Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 269. 358 Mitsilegas, in: Mitsilegas / Bergström / Konstadinides, Research Handbook EU Criminal Law, S. 148 (165); Mitsilegas, 6 NJECL 2015, 457 (477); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 269. 359 Mitsilegas, in: Mitsilegas / Bergström / Konstadinides, Research Handbook EU Criminal Law, S. 148 (165); Mitsilegas, 6 NJECL 2015, 457 (477). Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien s. im Einzelnen Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 48 ff.; Gundel, in: Frankfurter Kommentar EUV / GRC / AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 41 ff.
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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die aus dem Unionsrecht folgenden Gewährleistungen dann unmittelbar vor den mitgliedstaatlichen Gerichten geltend machen. Gleiches gilt für Verordnungen (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Bei Unklarheiten über die Vereinbarkeit der mitgliedstaatlichen Regeln und Praktiken mit dem Unionsrecht sind die zur Entscheidung berufenen mitgliedstaatlichen Gerichte zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH berechtigt bzw. vor Erlass einer letztinstanzlichen Entscheidung verpflichtet. Die Durchsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben mittels des Vertragsverletzungsverfahrens bleibt allerdings langwierig und mühsam. Ob eine dezentrale Durchsetzung vor den mitgliedstaatlichen Gerichten Erfolg verspricht, hängt davon ab, ob in dem betreffenden Mitgliedstaat der Zugang zu effektivem Rechtsschutz vor einem unabhängigen Gericht gewährleistet ist. Im Umgang mit Mitgliedstaaten, die das Unionsrecht sowie Entscheidungen des EuGH bewusst und systematisch missachten, und in denen es an einer unabhängigen Justiz fehlt, kann daher auch eine stärkere sekundärrechtliche Harmonisierung allenfalls einen eingeschränkten Beitrag zur Förderung der praktischen Wirksamkeit des Vertrauensgrundsatzes leisten. II. Außerrechtliche Maßnahmen Zur Effektivität der vertrauensbasierten Zusammenarbeit können neben einer sekundärrechtlichen Verdichtung der europäischen Rechtsgemeinschaft außerrechtliche Integrationsmaßnahmen wie Fortbildungsmaßnahmen für Angehörige der Rechtsberufe in den Mitgliedstaaten und die Pflege und Weiterentwicklung von europäischen Justiz- und Behördennetzwerken beitragen.360 Gerade mit Blick auf die Herausforderungen, denen die Zusammenarbeit angesichts der multiplen Krisen der Union derzeit begegnet, erscheinen eine supranationale Personalentwicklung und ein beständiger Austausch zwischen den mitgliedstaatlichen Rechtsanwendern elementar, um die Funktionsfähigkeit der horizontalen Kooperationsmechanismen bestmöglich aufrechtzuerhalten. Fortbildungsprogramme für Richter, Staatsanwälte und sonstige Rechtsanwender in den mitgliedstaatlichen Behörden können sich für die horizontale Zusammenarbeit unter verschiedenen Gesichtspunkten als förderlich erweisen. Sie fördern zum einen das Verständnis des Vertrauensgrundsatzes und der auf dem Vertrauens 360
Europäischer Rat, Mitteilung v. 03. 03. 2005, Haager Programm ABl. EU 2005 C 53/01, S. 11 f.; Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 13 f.; Europäischer Rat, Information v. 24. 07. 2014, Auszug aus den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 26.–27. Juni 2014, ABl. EU 2014 C 240/14, Nr. 11; Öberg, EuConst 2020, 33 (53); Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (196); Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 173 f., 270; Wischmeyer, 17 GLJ 2016, 339 (364); Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, S. 222 f.; K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 128. Ausführlich zur supranationalen Personalentwicklung als Baustein des europäischen Justizraums Vocks, Bausteine supranationaler Gerichtskooperation, S. 66 ff.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
grundsatz beruhenden sekundärrechtlichen Kooperationsinstrumente und tragen so zu deren einheitlicher Anwendung im europäischen Rechtsraum bei.361 Elementar sind in der Polykrise der Union auch verbesserte Kenntnisse der Rechtsanwender in Bezug auf die Grenzen der aus dem Vertrauensgrundsatz folgenden Legalitätsvermutung. Das Wissen um unionsrechtliche Reaktionsmöglichkeiten erleichtert den Rechtsanwendern den sachgerechten Umgang mit Mitgliedstaaten, in denen sich grundrechtliche oder rechtsstaatliche Defizite zeigen, und beugt einem vorschnellen Rückzug aus der horizontalen Zusammenarbeit durch die schlichte Nichtanwendung von Unionsrecht oder die Aktivierung nationaler Verfassungsvorbehalte vor. Daneben sollte auch der Erlass von sekundärrechtlichen Harmonisierungsmaßnahmen, die zur Unterstützung des Vertrauensgrundsatzes ergehen, von Fortbildungsprogrammen begleitet werden, um sicherzustellen, dass die unionsrechtlichen Vorgaben den nationalen Rechtsanwendern ungeachtet einer möglicherweise unterbleibenden oder defizitären Umsetzung in das nationale Recht bekannt sind.362 Nicht zuletzt kann neben dem Unionsrecht auch der Erwerb von Kenntnissen über die verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum Gegenstand gemacht werden, um den praktischen Umgang mit Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten zu erleichtern.363 Neben der Fortbildung von Rechtsanwendern kann auch die Pflege und Weiterentwicklung von Europäischen Justiz- oder Verwaltungsnetzwerken die effektive Anwendung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens stärken.364 Beispiele für bereits etablierte Netzwerke sind das Europä ische Netz der Räte für das Justizwesen, das justizielle Netzwerk der Europäischen Union, das Netzwerk der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der EU, die Vereinigung der Staatsräte und der Obersten Verwaltungsgerichte der EU und das Europäische Justiz-Ausbildungsnetz. Eine horizontale Vernetzung zwischen den mitgliedstaatlichen Justizbehörden trägt zu einem verbesserten Informationsaustausch durch Aufbau einer dialogischen Verbundstruktur auf der Arbeitsebene bei und fördert das gegenseitige Verständnis für die unterschiedlichen Rechtsordnungen.365
361 Rat, Schlussfolgerungen zur gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen: „Förderung der gegenseitigen Anerkennung durch Stärkung des gegenseitigen Vertrauens“, ABl. EU 2018 C 499/6, Ziff. 6; vgl. Europäische Kommission, Mitteilung v. 11. 03. 2014, COM(2014) 144 final, S. 6. 362 Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 269. 363 Europäische Kommission, Mitteilung v. 13. 09. 2011, COM(2011) 551 final, S. 2; Willems, Mutual Trust, S. 173 f.; Sicurella, 9 NJECL 2018, 308 (311 f.). 364 Europäischer Rat, Mitteilung v. 03. 03. 2005, Haager Programm ABl. EU 2005 C 53/01, S. 11; Europäischer Rat, Information v. 04. 05. 2010, Das Stockholmer Programm, ABl. EU 2010 C 115/01, S. 14; Öberg, EuConst 2020, 33 (53); Storskrubb, 20 CYELS 2018, 179 (196); Bast, Der Staat 2007, 1 (29). 365 Europäischer Rat, Mitteilung v. 03. 03. 2005, Haager Programm ABl. EU 2005 C 53/01, S. 11; Rat, Schlussfolgerungen „Der Europäische Haftbefehl und Auslieferungsverfahren – aktuelle Herausforderungen und weiteres Vorgehen“, ABl. EU 2020 C 419/09, Ziff. 12; Kaufhold, in: Baberowski, Was ist Vertrauen?, S. 101 (124); vgl. Kullak, Vertrauen in Europa, S. 187.
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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Das Wirkungspotential dieser außerrechtlichen Werkzeuge ist naturgemäß begrenzt. Sie können aber einen wichtigen Beitrag zu einem verbesserten Umgang der Rechtspraxis mit den vorgefundenen rechtlichen und politischen Rahmen bedingungen innerhalb der Union leisten.
C. Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente I. Ausgangspunkt Abschließend ist die Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen, in den Blick zu nehmen. Zwar hat der EuGH den Vertrauensgrundsatz mittlerweile aus seiner ursprünglichen Verknüpfung mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung herausgelöst und schreibt ihm Geltung in allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen zu.366 Ungeachtet dessen bilden Konstellationen gegenseitiger Anerkennung weiterhin den Hauptwirkbereich des Grundsatzes. Da die Pflicht der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anerkennung dabei im Regelfall durch einen sekundärrechtlichen Rechtsakt vermittelt wird, könnte der europäische Gesetzgeber der Gefahr systemischer Werteverstöße durch einzelne Mitgliedstaaten schon bei Erlass der Regelungen Rechnung tragen. Es soll daher untersucht werden, ob eine bestimmte legislative Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungs regime dazu beitragen kann, deren Funktionsfähigkeit auch in Zeiten krisenhafter Entwicklungen sicherzustellen und die horizontale Zusammenarbeit unter den gegebenen Umständen weitestmöglich zu erhalten. II. Legislative Stellschrauben 1. Kodifizierung von Ausnahmetatbeständen Die aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Pflicht, bei der gegenseitigen Anerkennung von einer Nachprüfung der Rechtmäßigkeit des Handelns der anderen Mitgliedstaaten abzusehen, gilt – wie bereits gezeigt – nicht grenzenlos, sondern unterliegt gewissen unionsverfassungsrechtlichen Grenzen.367 In den sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumenten sind die primärrechtlichen Grenzen des gegenseitigen Vertrauens aber bislang nur unzureichend abgebildet. Entsprechend hat sich der EuGH in seiner Rechtsprechung zu den Ausnahmen von der wechselseitigen Legalitätsvermutung auf eine primärrechtskonforme Auslegung von Generalklauseln wie Art. 1 Abs. 3 RbEuHb oder der Selbsteintrittsklausel 366 367
S. oben, → 1. Kapitel, § 1. C. S. oben, → 3. Kapitel.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO gestützt.368 In der Praxis bestehen deshalb erheb liche Unklarheiten darüber, unter welchen Voraussetzungen eine Widerlegung der Vertrauensvermutung anzunehmen ist, welche Risikoabklärungspflichten seitens der mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte bestehen und welche Substantiierungspflichten den Einzelnen treffen, der sich auf die Widerlegung der Vermutung beruft.369 Folge dieser Unklarheiten ist eine uneinheitliche Anwendung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente im Verhältnis zu Mitgliedstaaten, in denen sich grundrechtliche oder rechtsstaatliche Defizite zeigen. Abhilfe würde eine präzise und erschöpfende Kodifizierung der primärrechtlich gebotenen Ausnahmetatbestände in den jeweiligen Anerkennungsinstrumenten schaffen. Eine entsprechende Regelung durch den Unionsgesetzgeber ist sowohl im Interesse der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts als auch aus Gründen der Rechtssicherheit dringend geboten.370 Etwaige künftige Präzisierungen und Weiterentwicklungen der Rechtsprechung zu den Grenzen des Vertrauensgrundsatzes durch den EuGH können ein Tätigwerden des Unionsgesetzgebers nicht ersetzen.371 Da der Gerichtshof immer nur über die ihm zur Entscheidung vorgelegten Einzelfälle zu entscheiden hat, werden die von ihm aufgestellten Grundsätze auch weiterhin notwendig fragmentarisch bleiben. Dem Sekundärrechtsgesetzgeber stünde es bei der Ausgestaltung der Ablehnungsgründe selbstredend frei, über das unionsverfassungsrechtlich gebotene Minimum hinauszugehen und weitergehende Kontroll- und Nachprüfungsvorbehalte vorzusehen.372 Entscheidend ist, dass eine klare Regelung erfolgt, die mindestens die primärrechtlich gebotenen Ausnahmetatbestände umfasst. 2. Aufklärungs- und Abhilfeverfahren Zeigen sich in einem Mitgliedstaat grundrechtliche oder rechtsstaatliche Defizite, die aus Sicht des um Anerkennung und Vollstreckung ersuchten Mitgliedstaats eine Verweigerung der Anerkennung oder Vollstreckung erfordern, sind die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH zunächst verpflichtet, sich im Dialog um eine Lösung zu bemühen, die eine Anerkennung oder Vollstreckung nach Ausräumen bestehender Bedenken oder Abstellen etwaiger Mängel doch 368 Für den RB 2008/909/JI über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen stützt GA Emiliou eine entsprechende Ausnahme auf die „allgemeine Grundrechtsklausel“ in Art. 3 Abs. 4, GA Emiliou, Schlussanträge v. 04. 05. 2023 – C-819/21, ECLI:EU:C:2023:386 Rn. 66 – MD. 369 F. Meyer, EuR 2017, 163 (181 f.). 370 Ladenburger, ZEuS 2020, 373 (395); vgl. K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 806 ff.; Schwarz, Grundlinien der Anerkennung, S. 303; Willems, Mutual Trust in EU Criminal Law, S. 267; Schmidt-Aßmann, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, 263 (272). 371 Lenaerts, 54 CMLR 2017, 805 (811); Wendel, JZ 2019, 983 (989). 372 S. bereits oben, → 2. Kapitel, § 4. A.
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
323
noch ermöglicht.373 Gerade in Krisensituationen, in denen sich in verschiedenen Mitgliedstaaten Defizite unterschiedlichen Ausmaßes zeigen, helfen solche Aufklärungs- und Abhilfeverfahren, die horizontale Zusammenarbeit weitestmöglich aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass eine Ablehnung der Zusammenarbeit nur erfolgt, soweit keine anderweitige Abhilfe möglich ist. Die sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente enthalten aktuell aber allenfalls rudimentäre Vorgaben für entsprechende Aufklärungs- und Abhilfeverfahren (vgl. z. B. Art. 15 Abs. 2 RbEuHb). Die Normierung klarer Verfahrensregeln in den jeweiligen Anerkennungsinstrumenten würde die praktische Wirksamkeit der horizontalen Kooperation stärken.374 Bei der Ausgestaltung dieser Mechanismen kann sich der Unionsgesetzgeber an den in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten Ansätzen orientieren.375 Vor einer Ablehnung der Kooperation wegen grundrechtlicher oder rechtsstaat licher Defizite sollte die zuständige Stelle des um Zusammenarbeit ersuchten Mitgliedstaates verpflichtet sein, sich mit dem anderen Mitgliedstaat in Verbindung zu setzen und diesem Gelegenheit zur Stellungnahme und zum Abstellen etwaiger Mängel zu geben. Spiegelbildlich hierzu sollte die zuständige Stelle des anderen Mitgliedstaats hierzu innerhalb einer angemessenen Frist tatsächlich Stellung nehmen und etwaige Unklarheiten aufklären müssen. Die zuständige Stelle des ersuchten Mitgliedstaates sollte wiederum verpflichtet sein, die von dem anderen Mitgliedstaat erteilten Informationen und ggfs. ergriffenen Abhilfemaßnahmen in ihrer Prüfung und Entscheidung zu berücksichtigen. Die Einzelheiten des Verfahrens sind dabei an die Ausgestaltung und Besonderheiten der jeweiligen Anerkennungsinstrumente anzupassen. 3. Aussetzungsverfahren Teils wird angesichts der politischen Blockade des Art. 7 EUV-Verfahrens vorgeschlagen, in die sekundärrechtlichen Rechtsakte zur gegenseitigen Anerkennung ein einfachrechtliches, an Art. 7 EUV angelehntes Aussetzungsverfahren zu integrieren.376 Auf dieser Grundlage soll die Anwendung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente im Verhältnis zu Mitgliedstaaten, in denen eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte vorliegt, unterhalb der prozeduralen Schwellen des Art. 7 EUV-Verfahrens suspendiert 373
EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016 – C-404/15 u. C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 94 ff. – Aranyosi u. Căldăraru; Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 76 f. – LM; F. Meyer, EuR 2017, 162 (182 f.). 374 Vgl. Classen, in: FS Schwarze, S. 556 (571). 375 S. hierzu oben, → 1. Kapitel, § 2. C. III. 1. 376 Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, S. 278 in Anknüpfung an den Vorschlag von Wilkitzki, ZStW 1993, 821 (842 f., 845); K. Müller, Vertrauen im Mehrebenensystem, S. 796 f.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
werden. Die Entscheidung über die Aussetzung soll der Kommission in Zusammenarbeit mit der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte obliegen.377 Sinnvollerweise wäre eine Aussetzung wohl außerdem davon abhängig zu machen, dass die festgestellten Werteverstöße sich ihrer Art nach zumindest potenziell auf Lebenssachverhalte auswirken können, die in den Anwendungsbereich des jeweiligen Anerkennungsinstruments fallen. Der Vorschlag läuft jedoch auf eine unzulässige Umgehung des Verfahrens nach Art. 7 EUV hinaus und ist daher mit dem geltenden Primärrecht nicht in Einklang zu bringen. Zwar kann die Union die Werte des Art. 2 EUV nicht allein im Rahmen des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens schützen.378 Der Unionsgesetzgeber kann aber nicht, ohne gegen Art. 7 EUV zu verstoßen, ein Verfahren einführen, das parallel zu dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren besteht und im Wesentlichen denselben Gegenstand hat, dasselbe Ziel verfolgt und das Ergreifen entsprechender Maßnahmen ermöglicht, dabei aber das Tätigwerden anderer Organe oder andere materielle und verfahrensrechtliche Voraussetzungen als die in dieser Bestimmung genannten vorsieht.379 Andere sekundärrechtliche Verfahren bezüglich der in Art. 2 EUV genannten Werte sind nur dann zulässig, sofern sie sich sowohl nach ihrem Zweck als auch nach ihrem Gegenstand von dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren unterscheiden.380 Die vorgeschlagenen sekundärrechtlichen Aussetzungsverfahren wären aber sowohl ihrem Ziel als auch ihrem Gegenstand nach „kleine“ Art. 7 EUV-Verfahren: Wie das Verfahren nach Art. 7 EUV bezwecken sie, Mitgliedstaaten, die die gemeinsamen Grundwerte systematisch missachten, in Isolation zu nehmen, um ihren schädlichen Einfluss innerhalb der Rechtsgemeinschaft zu minimieren.381 Mitgliedstaaten, mit denen eine vertrauensbasierte Zusam 377
Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen, S. 278. EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 163 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 199 – Polen / Parlament u. Rat. 379 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 167 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 206 – Polen / Parlament u. Rat. 380 EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 167 – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 207 – Polen / Parlament u. Rat. In dem neu geschaffenen Konditionalitätsmechanismus nach der VO (EU) 2020/2092 sah der EuGH kein unzulässiges Parallelverfahren zu Art. 7 EUV, da sich das Verfahren sowohl seinem Ziel als auch seinem Gegenstand nach von dem in Art. 7 EV vorgesehenen Verfahren unterscheidet: Der Konditionalitätsmechanismus zielt darauf, den Unionshaushalt zu schützen und ist seinem Gegenstand nach auf einen der Werte des Art. 2 EUV beschränkt, nämlich die Rechtsstaatlichkeit. Die Verordnung erlaubt die Prüfung von Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien zudem nur insoweit, als hinreichende Gründe für die Feststellung vorliegen, dass sie Auswirkungen auf den Haushalt haben. Die Art der Maßnahmen, die erlassen werden können, ist auf Maßnahmen haushaltsrechtlicher Natur beschränkt, s. EuGH, Urt. v. 16. 02. 2022 – C-156/21, ECLI:EU:C:2022:97 Rn. 169 ff. – Ungarn / Parlament und Rat; Urt. v. 16. 02. 2022 – C-157/21, ECLI:EU:C:2022:98 Rn. 208 ff. – Polen / Parlament u. Rat. 381 Zur entsprechenden Zielrichtung des Verfahrens nach Art. 7 EUV J.-W. Müller, 21 Eur. Law J. 2015, 141 (144); Schorkopf, EuR 2016, 147 (150). 378
§ 3 Effektuierung vertrauensbasierter Zusammenarbeit
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menarbeit aufgrund anhaltender Werteverstöße nicht mehr möglich ist, sollen auf diese Weise partiell von der horizontalen Kooperation ausgeschlossen werden und die reibungslose Anwendung der Kooperationsinstrumente zwischen den übrigen Mitgliedstaaten geschützt. Was den Gegenstand der Aussetzungsverfahren belangt, würde ihr Anwendungsbereich – wie das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren – jede schwerwiegende und anhaltende Verletzung eines in Art. 2 EUV genannten Wertes erfassen. Mit der sekundärrechtlichen Normierung der vorgeschlagenen Aussetzungsverfahren, in denen die Kommission unabhängig vom Vorliegen einer Feststellung nach Art. 7 Abs. 2 EUV die Aussetzung der jeweiligen Anerkennungsinstrumente im Verhältnis zu bestimmten Mitgliedstaaten aufgrund schwerwiegender und anhaltender Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Werte beschließen könnte, würde somit ein unrechtmäßiger Parallelmechanismus zum Verfahren des Art. 7 EUV geschaffen.382 Die Feststellung einer entsprechenden Verletzung der gemeinsamen Werte im Hinblick auf die Aussetzung der Anwendung sekundärrechtlicher Kooperationsmechanismen obliegt demnach gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV dem Europäischen Rat.383 Denkbar wäre daher allenfalls die sekundärrechtliche Normierung von Aussetzungsverfahren, die an einen Feststellungsbeschluss des Europäischen Rates nach Art. 7 Abs. 2 EUV anknüpfen und vorsehen, dass die Anwendung des jeweiligen Instruments in diesem Fall ausgesetzt werden kann. Daran dürfte angesichts der politischen Blockade des Art. 7 Abs. 2 EUV aber kein praktisches Interesse bestehen. III. Fazit Der Sekundärrechtsgesetzgeber kann durch eine „krisenfeste“ Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente dazu beitragen, die praktische Wirksamkeit der Instrumente auch im Fall anhaltender Werteverstöße in einzelnen Mitgliedstaaten weitestmöglich aufrechtzuerhalten.384 Zu diesem Zweck sollte eine Kodifizierung der primärrechtlich gebotenen Ausnahmetatbestände in den jeweiligen Anerkennungsinstrumenten erfolgen und einer Ablehnung der Anerkennung ein ausdrücklich normiertes, dialogisches Aufklärungs- und Abhilfeverfahren vorgeschaltet werden. Die Möglichkeiten des Unionsgesetzgebers sind aber darauf beschränkt, sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit innerhalb der gegebenen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen nicht mehr als nötig behindert wird. Die Beeinträchtigungen der horizontalen Kooperation, die daraus resultieren, dass die Mitgliedstaaten aufgrund systemischer Mängel in anderen
382
Vgl. EuGH, Urt. v. 25. 07. 2018 – C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 71 – LM; Urt. v. 19. 09. 2018 – C-327/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:733 Rn. 47 – RO. 383 S. bereits oben, → 3. Kapitel, § 2. C. V. 384 Ebenso Vocks, Bausteine supranationaler Gerichtskooperation, S. 216 f.
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4. Kap.: Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise
Mitgliedstaaten berechtigterweise verstärkt auf Ausnahmetatbestände zurückgreifen, bleiben unberührt.
D. Abschlussbetrachtung Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass sowohl die Instrumente der unionalen Verfassungsaufsicht als auch Maßnahmen der positiven Integration und eine krisenfestere Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente bedeutende Beiträge zur praktischen Wirksamkeit der vertrauensbasierten horizontalen Zusammenarbeit leisten können. Keiner dieser Ansätze vermag jedoch für sich allein genommen die Herausforderungen, die sich aus der Polykrise der Union ergeben, zu lösen. Erforderlich ist daher ein vielschichtiger Ansatz, der gleichermaßen auf Sanktions- und Überwachungsmechanismen zur Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens, eine Teilharmonisierung der nationalen Rechtsordnungen, außerrechtliche Maßnahmen wie Aus- und Fortbildungsprogramme und europäische Netzwerke sowie eine krisenfestere legislative Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsmechanismen setzt.385 Zugleich ist deutlich geworden, dass die Vertrauenskrise mit den Mitteln des Rechts allein nicht zu bewältigen ist.386 Wie jede freiheitliche Rechtsordnung lebt die EU als Verfassungswertegemeinschaft von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann,387 nämlich von einem Grundkonsens der Mitgliedstaaten in Bezug auf die gemeinsamen Werte des Art. 2 EUV.388 Missachten einzelne Mitgliedstaaten die gemeinsamen Werte nicht nur aus Nachlässigkeit, sondern bewusst und systematisch, sind die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Unionsrechtsordnung erreicht.389 In solchen Fällen erweist sich ein Rückgriff auf die Ausnahmetatbestände von der aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgenden Legalitätsvermutung trotz der damit einhergehenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der horizontalen Zusammenarbeit als unentbehrlich. Diese Erkenntnis unterstreicht das praktische Bedürfnis nach einer präzisen und erschöpfenden Kodifizierung der primärrechtlich gebotenen Ausnahmetatbestände in den jeweiligen Anerkennungsinstrumenten.
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Ebenso Kullak, Vertrauen in Europa, S. 195 f., 197. Vgl. Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1213); Jakab, ZÖR 2019, 369 (382 f.); von Bogdandy, EuR 2017, 487 (496). 387 Vgl. Böckenförde, in: FS Forsthoff, S. 75 (93). 388 Spieker, 20 GLJ 2019, 1182 (1213); Giegerich, ZEuS 2019, 61 (107); Bast / Thiruvengadam, in: Bast / Thiruvengadam, Democratic Constitutionalism, S. 75 (102); vgl. Symann, Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht, S. 44. 389 Vgl. Neumeier / Sangi, JZ 2022, 282 (283); M. Schmidt / Bogdanowicz, 55 CMLR 2018, 1061 (1074). 386
Zusammenfassung in Thesen 1. Kapitel Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der Rechtsprechung des EuGH 1. Der EuGH hat den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens seit seiner ersten Erwähnung im Kontext des Binnenmarktrechts in einer Reihe von Leitentscheidungen graduell konkretisiert und ausgeformt. Mittlerweile hat er den Vertrauensgrundsatz aus seiner ursprünglichen Verknüpfung mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung herausgelöst und schreibt ihm primärrechtlichen Rang und Geltung in „allen unter das Unionsrecht fallenden Bereichen“ zu. 2. Die Ausprägungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in den verschiedenen Referenzgebieten lassen sich auf einen übergreifenden Rechtsgrundsatz zurückführen. In sachlicher Hinsicht ist der Anwendungsbereich des Grundsatzes nicht auf bestimmte Sach- oder Politikbereiche beschränkt. Eine gewisse Einschränkung seines Anwendungsbereichs folgt jedoch daraus, dass er nur im Verhältnis der Mitgliedstaaten und bestimmter privilegierter Drittstaaten gilt. 3. Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens lassen sich zwei, im Schwerpunkt negative Grundpflichten entnehmen: – Die Mitgliedstaaten haben, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und ihr nationales Recht beachten und einen gleichwertigen und wirksamen Rechtsschutz gewährleisten (Legalitätsvermutung). Sie haben außerdem auf die Gleichwertigkeit ihrer nationalen Rechtsordnungen zu vertrauen (Gleichwertigkeitsvermutung). Damit einher geht ein wechselseitiges Nachprüfungsverbot. – Den Mitgliedstaaten ist es verwehrt, bei der horizontalen Zusammenarbeit von den anderen Mitgliedstaaten ein höheres nationales Schutzniveau einzufordern als das durch das Unionsrecht gewährleistete. 4. Der Vertrauensgrundsatz komplementiert das bereits aus dem Völkerrecht bekannte Instrument der gegenseitigen Anerkennung und fördert die praktische Wirksamkeit der unionsrechtlichen Anerkennungspflichten. Daneben entfaltet er auslegungssteuernde Wirkung; hinter dem Grundsatz verbirgt sich ein Bündel verschiedener Auslegungsmaximen. Der EuGH leitet aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zudem ungeschriebene Kooperationspflichten und eine Pflicht der Mitgliedstaaten zu „vertrauenswürdigem Verhalten“ ab.
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5. Primäre Verpflichtungsadressaten des Vertrauensgrundsatzes sind die Mitgliedstaaten. Die Stellen der Union sind verpflichtet, den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge zu achten. 6. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bildet ein wichtiges Instrument zur Erreichung des in Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV festgeschriebenen Ziels, einen europäischen Binnenraum zu errichten, in dem Produktionsgüter ebenso wie behördliche und justizielle Entscheidungen frei verkehren. Er steht für ein Integrationsmodell, das auf eine weitgehende Vermeidung von Harmonisierung, Zentralisierung und inhaltlicher Koordinierung zielt. An die Stelle einer Abgabe von Rechtsetzungskompetenzen „nach oben“ tritt dabei eine Öffnung „zur Seite“. Mit der horizontalen Öffnung und Verschränkung der mitgliedstaatlichen Rechtsebenen geht die Entstehung kooperativen föderalen Ordnung und eine Zuständigkeits- und Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten einher. Dem der Rechtsprechung des Gerichtshofs zugrunde liegenden Idealbild zufolge wird die Verantwortung für die Rechtswahrung beim jeweils sachnäheren Mitgliedstaat konzentriert, während die übrigen Mitgliedstaaten nur eine Auffangverantwortung trifft. 2. Kapitel Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsprinzip des Unionsrechts 7. Die Geltung des Vertrauensgrundsatzes ergibt sich nicht bereits aus der Rechtsbindung der Mitgliedstaaten an das Unionrecht, sondern bedarf einer gesonderten normativen Grundlage. 8. Seine Rechtsgrundlage findet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 EUV. Der Vertrauensgrundsatz und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit weisen ihrer Struktur und Funktion nach Parallelen auf, die eine Verortung als Unterprinzip des Loyalitätsprinzips nahelegen. Als an sich neutrales, auf den effet utile des Unionsrecht gerichtetes Vollzugsprinzip kann das Loyalitätsprinzip aus sich heraus aber nicht die erforderliche Rechtfertigung dafür liefern, warum die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet sein sollen, unter Verzicht auf eine eigene Prüfung auf die Rechtswahrung durch die übrigen Mitgliedstaaten zu vertrauen und die eigenen Schutzstandards hinter das unionsrechtliche Schutzniveau zurückzustellen. Zur Begründung seiner Geltung bedarf es daher der Verknüpfung von Art. 4 Abs. 3 EUV mit Art. 2 EUV. Die gemeinsame Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf die Werte des Art. 2 EUV schafft die notwendige Legitimation für eine vertrauensbasierte horizontale Zusammenarbeit. 9. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist seiner Rechtsnatur nach als Rechtsprinzip des Unionsrechts einzuordnen. Nimmt man eine Kategorisierung anhand seiner rechtlichen Wirkungen vor, ist er zu den sog. verbundmoderierenden Prinzipien zu rechnen.
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10. Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens sind keine verbindlichen Vorgaben für den europäischen Gesetzgeber zu entnehmen. Als verbundmoderierendes Prinzip verpflichtet er seinem Inhalt nach in erster Linie die rechtsanwendenden Organe der Mitgliedstaaten. Unberührt hiervon bleibt die rechtsetzungsanleitende Funktion des Vertrauensgrundsatzes, die aber vornehmlich rechtspolitischer Natur und nicht justiziabel ist. 11. Die Mitgliedstaaten sind in Anknüpfung an die für den Anwendungsbereich des Loyalitätsprinzips (Art. 4 Abs. 3 EUV) geltenden Grundsätze in allen vom Unionsrecht erfassten Bereichen an den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gebunden. 3. Kapitel Grenzen der Legalitätsvermutung 12. Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist ein horizontaler SolangeVorbehalt zu entnehmen. Solange in den Mitgliedstaaten gewisse Mindeststandards gewahrt sind, die die Geschäftsgrundlage der horizontalen Kooperation bilden, sind die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet, bei der horizontalen Zusammenarbeit von einer Prüfung der (Grund-)Rechtskonformität der Hoheitsakte der anderen Mitgliedstaaten abzusehen. Die Verantwortung für die Rechtswahrung wird beim sachnäheren Mitgliedstaat konzentriert, während den anderen Mitgliedstaaten nur eine Gewährleistungsverantwortung im Ausnahmefall zukommt. 13. Die Grenzen des horizontalen Solange-Vorbehalts sind in Anknüpfung an den Wertekatalog des Art. 2 EUV zu bestimmen. Die Prämisse, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten in ihrer gesamten hoheitlichen Tätigkeit gemein sind, schafft die notwendige Legitimationsgrundlage für den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Konsequenterweise markieren die Werte des Art. 2 EUV zugleich den unabdingbaren Mindeststandard, dessen Wahrung die Grundvoraussetzung für die vertrauensbasierte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bildet. 14. Eine Ausnahme von der wechselseitigen Legalitätsvermutung ist erst dann geboten, wenn in einem Mitgliedstaat systemische Mängel in Bezug auf die Wahrung der gemeinsamen Werte nach Art. 2 EUV bestehen. Liegen keine systemischen Mängel vor, ist eine zusätzliche Überprüfung durch einen anderen Mitgliedstaat weder erforderlich noch geboten. Der Einzelne hat, sofern es zu einer Verletzung seiner Rechte kommt, stattdessen Rechtsschutz in dem Mitgliedstaat zu suchen, der die anzuerkennende Entscheidung erlassen hat bzw. in dem er sich nach seiner Überstellung befindet. Solange dort keine systemischen Defizite vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass das Rechtssystem dieses Mitgliedstaats dem Einzelnen ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten bietet. 15. Unter systemischen Mängeln sind solche Defizite zu verstehen, die das Rechtssystem eines Mitgliedstaats oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen
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und deshalb regelhaft und vorhersehbar zu Rechtsverletzungen führen. Den Gegenbegriff hierzu bilden Defizite, die dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen einzelner staatlicher Akteure geschuldet sind. Dabei ist unerheblich, ob der Mangel flächendeckend auftritt oder nur eine bestimmte Gruppe oder einen abgegrenzten Sachbereich betrifft. Auch ein besonders gravierender Verstoß im Einzelfall kann auf systemische Mängel hindeuten, insbesondere dann, wenn ihm seitens der zuständigen mitgliedstaatlichen Akteure nicht mit einer angemessenen Reaktion begegnet wird. 16. Aus einem Beschluss des Rates nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 EUV kann nicht automatisch auf eine Widerlegung der horizontalen Solange-Vermutung geschlossen werden. Fasst der Europäische Rat dagegen einen Beschluss nach Art. 7 Abs. 2 EUV mit dem er feststellt, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, ist die horizontale Solange-Vermutung als widerlegt anzusehen. 4. Kapitel Effektuierung des Vertrauensgrundsatzes in der Krise 17. Die mitgliedstaatliche Zusammenarbeit auf Grundlage des Vertrauensgrundsatzes sieht sich in jüngerer Zeit durch verschiedene krisenhafte Entwicklungen, die sich unter dem Schlagwort der sog. Polykrise der Union zusammenfassen lassen, mit ernsten Herausforderungen konfrontiert. Die Auswirkungen dieser Krisenphänomene führen angesichts der engen horizontalen Verschränkung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unionsweit zu Defiziten bei der Umsetzung und dem Vollzug des vertrauensbasierten Sekundärrechts und einer Fragmentierung des europäischen Rechtsraums. 18. Die praktische Wirksamkeit der vertrauensbasierten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten hängt entscheidend davon ab, dass die Prinzipien des Art. 2 EUV von allen Mitgliedstaaten dauerhaft geachtet werden. Das Unionsrecht hält eine vertrauenssichernde Infrastruktur in Gestalt der Instrumente der sog. unionalen Verfassungsaufsicht vor, denen die Rolle zukommt, die gemeinsamen Werte über den Zeitpunkt des Beitritts hinaus gegenüber den Mitgliedstaaten zu verteidigen. Darunter fallen das Verfahren nach Art. 7 EUV, der EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, das Vertragsverletzungsverfahren und der neu geschaffene Konditionalitätsmechanismus, aber auch Evaluierungsinstrumente, wie etwa der jährliche Bericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit und das EU-Justizbarometer. Ein Ausschluss von Mitgliedstaten als Sanktion ultima ratio ist dagegen de lege lata nicht möglich. Angesichts verschiedener Schwächen des unionalen Aufsichtsregimes konnte die Union bei der Verteidigung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens in der gegenwärtigen Krise bislang aber nur Teilerfolge erzielen. Missachten die Mit-
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gliedstaaten die gemeinsamen Werte nicht nur aus Nachlässigkeit, sondern bewusst und systematisch geraten die Mechanismen zu ihrer Durchsetzung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. 19. Die vertrauensbasierte horizontale Zusammenarbeit kann außerdem durch Maßnahmen der positiven Integration gefördert werden. Darunter fällt einerseits eine stärkere sekundärrechtliche Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in den Hauptreferenzgebieten des Vertrauensgrundsatzes, mit dem Ziel, gleichwertige Grundrechts- und Verfahrensstandards innerhalb der Union sicherzustellen. Die Leistungsfähigkeit auch dieses Ansatzes ist aber begrenzt, da das Problem in vielen Fällen weniger das Fehlen unionsweiter Standards als vielmehr die unzureichende oder fehlende Umsetzung und Anwendung bestehender Regelungen ist. Neben einer sekundärrechtlichen Verdichtung der europäischen Rechtsgemeinschaft können außerrechtliche Integrationsmaßnahmen wie Fortbildungsmaßnahmen für Angehörige der Rechtsberufe und die Pflege und Weiterentwicklung von europäischen Justiz- und Verwaltungsnetzwerken einen Beitrag zu einem verbesserten Umgang der Rechtspraxis mit den vorgefundenen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen innerhalb der Union leisten. 20. Zuletzt kann der Sekundärrechtsgesetzgeber durch eine „krisenfeste“ Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente dazu beitragen, deren praktische Wirksamkeit auch im Fall anhaltender Werteverstöße in einzelnen Mitgliedstaaten weitestmöglich zu erhalten. Dazu sollte eine Kodifizierung der primärrechtlich gebotenen Ausnahmetatbestände erfolgen und einer Ablehnung der Zusammenarbeit ein dialogisches Aufklärungs- und Abhilfeverfahren vorgeschaltet werden. Mit dem Primärrecht unvereinbar ist der Vorschlag, in die sekundärrechtlichen Anerkennungsinstrumente einfachrechtliche Aussetzungsverfahren zu integrieren, die eine Aussetzung ihrer Anwendung unterhalb der prozeduralen Schwellen des Art. 7 EUV-Verfahrens ermöglichen. 21. Keiner der aufgezeigten Ansätze vermag für sich allein genommen die Herausforderungen, die sich aus der Polykrise der Union für die mitgliedstaatliche Zusammenarbeit ergeben, zu lösen. Erforderlich ist daher ein vielschichtiger Ansatz, der gleichermaßen auf Sanktions- und Überwachungsmechanismen zur Absicherung der Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens, eine Teilharmonisierung der nationalen Rechtsordnungen, außerrechtliche Maßnahmen wie Aus- und Fortbildungsprogramme und europäische Netzwerke sowie eine krisenfestere legislative Ausgestaltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsmechanismen setzt.
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Sachwortverzeichnis Abdullahi-Urteil des EuGH 186 f. Achmea-Urteil des EuGH 73 f. Aguirre-Zarraga-Urteil des EuGH 52 f., 179 f., 208 Akzessorietät – des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens 82 ff., 155 f. Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 210 ff. – und gegenseitiges Vertrauen 43 f. Anti-Suit-Injunctions 48, 51, 106 Anwendungsprinzipien 166 Aranyosi und Căldăraru-Urteil des EuGH 195 ff., 270 Art. 2 EUV siehe Werte der Europäischen Union Art. 7-EUV siehe Verfahren nach Art. 7 EUV Asylrecht siehe Gemeinsames Europäisches Asylsystem Asylverfahrensrichtlichtlinie – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 188 f., 269 – und gegenseitiges Vertrauen 66, 69 f. Ausgestaltung sekundärrechtlicher Anerkennungsinstrumente 32, 120 f., 169 f., 321 ff. Auslegungsmaximen 101, 104 ff., 167 Ausnahmen gegenseitigen Vertrauens siehe Grenzen der Legalitätsvermutung Ausschluss von Mitgliedstaaten 278, 309 ff. Aussetzung sekundärrechtlicher Kooperationsinstrumente 251, 323 ff. Austritt eines Mitgliedstaats 82, 255 f., 257 Autonomie des Unionsrechts 71 ff. Bauhuis-Urteil des EuGH 41 Beitritt zur EMRK – und gegenseitiges Vertrauen 71 ff.
Binnenmarktrecht – Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen 43 f., 210 ff. – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 209 ff. – Grundfreiheiten 40, 97, 209 f. – und gegenseitige Anerkennung 40 ff., 96 f. – und gegenseitiges Vertrauen 40 ff. Bosphorus-Vermutung 216 ff. Brexit – und gegenseitiges Vertrauen 82, 255 f., 267 Brüssel I-Verordnungen – Anerkennung und Vollstreckung 48 f. – und gegenseitiges Vertrauen 47 ff., 207 f. – Zuständigkeitsverteilung 47 f. Brüssel II-Verordnungen – Anerkennung und Vollstreckung 51 ff. – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 179 f., 208 f. – und gegenseitiges Vertrauen 50 ff. – Zuständigkeitsverteilung 50 f. C. K. u. a.-Urteil des EuGH 189, 190 ff. CETA-Gutachten des EuGH 40, 73 f., 118 f., 171 Donnellan-Urteil des EuGH 210 ff. Doppelbestrafungsverbot nach Art. 54 SDÜ – und gegenseitiges Vertrauen 55 ff., 81 Dorobantu-Urteil des EuGH 197 f. Dublin-System – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 183 ff., 268 f. – Selbsteintritt 69, 184 ff. – und gegenseitiges Vertrauen 67 ff. – Zuständigkeitsverteilung 67 ff., 183 f., 261 f.
Sachwortverzeichnis Einheit in Vielfalt 123 ff. Einstweilige Anordnung (Art. 279 AEUV) 292 ff. – Zwangsgeld 293 EMRK-Beitritt siehe Beitritt zur EMRK EuErbVO – und gegenseitiges Vertrauen 54 f. EuGVÜ 47 ff., 91 f. EU-Justizbarometer 277, 306, 307 EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit 277, 282 ff., 312 Europäische Prinzipien 160 ff. – Abgrenzung 163 f. – Funktionen 160 ff. – Kategorisierung 165 ff. Europäische Prinzipienordnung 160 ff. Europäische Verfassungsaufsicht 153 f., 277 ff. Europäische Werte siehe Werte der Europä ischen Union Europäischer Haftbefehl – Aussetzung des Rahmenbeschlusses 251, 323 ff. – Auswirkungen der Polykrise 270 ff. – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 194 ff. – nationale Notvorbehalte 272 ff. – Umsetzungsdefizite 271 f. – und gegenseitiges Vertrauen 57 ff. Europäischer Menschenwürdebegriff 230 f. Europäischer Rechtsstaatlichkeitsbegriff 233 ff. Europäisches Insolvenzrecht – Anerkennung und Vollstreckung 53 f. – und gegenseitiges Vertrauen 53 f. – Zuständigkeitsverteilung 53 f. Europäisches Sozialversicherungsrecht – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 253 ff. – und gegenseitiges Vertrauen 44 f. Föderale Aufgaben- und Verantwortungsteilung 128 ff. – Auffangverantwortung 128 f., 176 ff., 215 ff. – Vermutung einer bestimmten Aufgabenund Verantwortungsteilung 105 f. – Wahrung der Grundrechte 128 f., 176 ff., 215 ff.
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Föderative Ordnung – Aufgaben- und Verantwortungsteilung 105 f., 128 ff., 176 ff., 215 ff. – Einheit in Vielfalt 123 ff. Freizügigkeitsrecht – und gegenseitiges Vertrauen 76 f., 115 f., 118 Gebot der Rechtswegerschöpfung 106 f., 237 f., 242 Gegenseitige Anerkennung – im Binnenmarkt 40 ff., 96 f. – im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 45 ff., 96 f. – Verhältnis zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens 96 ff. Gegenseitiges Vertrauen – als außerrechtliches Phänomen 32 ff. – als Grundsatz mit normativem Gehalt 34 f. – als hybrides Konzept 35 f. – als Rechtsetzungsdeterminante 32 f. – als Zielbestimmung 33 f. – Begriff 32 ff. – rechtspolitische Dimension 122 ff. Gemeinsames Europäisches Asylsystem – Asylverfahrensrichtlinie 66, 69 f., 188 f., 269 – Auswirkungen der Polykrise 268 f. – Dublin-Verordnungen 67 ff., 183 ff., 268 f. – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 183 ff. – und gegenseitiges Vertrauen 66 ff. Geschäftsgrundlage gegenseitigen Vertrauens 152 ff., 223 ff. Ghezelbash-Urteil des EuGH 189 f. Gleichwertigkeitsvermutung 88 ff. Grenzen der Legalitätsvermutung 174 ff. – allgemeine Grundsätze 215 ff. – Austritt eines Mitgliedstaats 255 f., 257 f. – Beschlüsse nach Art. 7 EUV 249 ff. – Binnenmarktrecht 209 ff. – Brüssel IIa-VO 179 ff., 208 f. – Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH 178 ff., 252 ff. – Europäischer Haftbefehl 180 ff., 194 ff.
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Sachwortverzeichnis
– Gebot der Rechtswegerschöpfung 106 f., 242 – Gemeinsames Europäisches Asylsystem 183 ff. – grundrechtliche Auffangverantwortung 128 f., 176 ff., 215 ff. – Justizielle Zusammenarbeit in Straf sachen 194 ff. – Justizielle Zusammenarbeit in Zivil sachen 207 ff. – rechtsstaatsspezifische Grenzen 198 ff. Grenzen gegenseitigen Vertrauens siehe Grenzen der Legalitätsvermutung Grund- und Menschenrechtsschutz – als Grenze gegenseitigen Vertrauens 176 ff. – Grundrechtspluralismus 123 ff., 229 f. Grundfreiheiten siehe Binnenmarkt Grundrechtsverantwortlichkeiten – Auffangverantwortung 128 f., 176 ff., 215 ff. – Spannungsfeld 176 ff. – Zuordnung 176 ff., 215 ff. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – Binnenmarkt 40 ff., 96 f. – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 45 ff., 96 f. – Regulierungsstrategie 97, 100 f. – Umsetzungsbedürftigkeit 100 Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit siehe Loyalitätsprinzip Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens – Absicherung der Grundlagen 152 f., 277 ff. – Akzessorietät 82 ff., 155 f. – als Auslegungsgrundsatz 102 ff. – als Grundlage gegenseitiger Anerkennung 96 ff. – als Grundlage ungeschriebener (Kooperations-)Pflichten 111 ff. – als horizontaler Solange-Vorbehalt 216 ff. – als Mittel zur Bewahrung von Pluralität 123 ff. – als universaler Verfassungsgrundsatz 36 f., 78 ff. – als Unterprinzip des Loyalitätsprinzips 149 ff.
– als verbundmoderierendes Prinzip 167 ff. – als Vollzugsprinzip 168 – Anwendungsbereich 81 ff., 116 ff. – Auslegungsmaximen 104 ff. – auslegungssteuernde Wirkung 102 ff. – Auswirkungen der Polykrise 267 ff. – Entwicklung 40 ff., 77 f. – föderale Dimension 128 ff. – Geltung im Verhältnis zu Drittstaaten 81 f. – (Geschäfts-)Grundlage 152 ff., 223 ff. – Gleichwertigkeitsvermutung 88 ff. – grundrechtliche Mindeststandards 219 ff. – im Binnenmarktrecht 40 ff., 209 ff. – im Gemeinsamen Europäischen Asyl system 66 ff., 183 ff. – im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 45 ff., 194 ff. – in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen 55 ff., 194 ff. – in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen 46 ff., 207 ff. – in der Krise 259 ff. – integrationspolitisches Konzept 122 ff., 313 ff. – Legalitätsvermutung 85 ff. – Lückenfüllungsfunktion 167 – Primärrechtsgeltung 136 f. – Privilegierungswirkung 115 f. – Rechtsgrundlage 133 ff. – Rechtsnatur 157 ff. – Referenzgebiete 40 ff. – Unabhängigkeitserfordernis 109 ff. – Verpflichtete 116 ff. Gutachten 2/13 71 ff., 78, 84 f., 118 f. Horizontale Kooperation – Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte 219 ff. – grundrechtliche Mindeststandards 219 ff. Horizontale Verschränkung 128 ff., 274 Horizontaler Solange-Vorbehalt 216 ff. Ibrahim-Urteil des EuGH 192 f. Identitätskontrolle 273
Sachwortverzeichnis Investor-Staats-Schiedsvereinbarungen – und gegenseitiges Vertrauen 73 f. Jawo-Urteil des EuGH 187 f. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Doppelbestrafungsverbot nach Art. 54 SDÜ 55, 79, 81 – Europäischer Haftbefehl 57 ff., 180 ff., 194 ff., 270 ff. – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 180 ff., 194 ff. – und gegenseitiges Vertrauen 55 ff. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Brüssel I-Verordnungen 47 ff., 207 f. – Brüssel II-Verordnungen 50 ff., 179 f., 208 f. – Erbrecht 54 f. – EuGVÜ 47 ff., 91 f. – Europäisches Insolvenzrecht 53 f. – Grenzen gegenseitigen Vertrauens 179 f., 207 ff. – und gegenseitiges Vertrauen 46 ff. Karim-Urteil des EuGH 189 f. Konditionalitätsmechanismus 300 ff. Konditionalitätsverordnung siehe Konditionalitätsmechanismus Kooperation siehe Horizontale Kooperation Kooperationspflichten – Begründungspflichten 113 f. – Berücksichtigungspflichten 112 f. – Informationspflichten 111 ff. – Prüfpflichten 113 f. – ungeschriebene 111 ff. Kopenhagen-Kommission 285 f. L. u. P.-Urteil des EuGH 201 ff. Legalitätsvermutung 85 ff., 174 ff. – Gegenstand 92 f. – Grenzen 174 ff. – Reichweite 86 ff. – Unionsrecht 86 ff. – Völkerrecht 91 f. – Widerleglichkeit 85 f., 174 ff. – wirksamer Rechtsschutz 87 f. Legalitätsvertrauen siehe Legalitätsvermutung LM-Urteil des EuGH 198 ff.
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Loyale Zusammenarbeit siehe Loyalitätsprinzip Loyalitätsprinzip – als Rechtsgrundlage des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens 145 ff., 149 ff. – als verbundmoderierendes Prinzip 166 f. Melloni-Urteil des EuGH 94 ff., 181 ff., 273 f. Menschenwürdebegriff, europäischer 230 f. Migrationskrise 261 f., 266 Migrationsrecht siehe Gemeinsames Europäisches Asylsystem ML-Urteil des EuGH 197 f. Monitoring-Instrumente – EU-Justizbarometer 306 – Rechtsstaatsmechanismus 306 f. Negative gegenseitige Anerkennung – Doppelbestrafungsverbot nach Art. 54 SDÜ 56 – Dublin-System 67 f. N. S. u. a.-Urteil des EuGH 183 ff., 268 Nationales Recht – Gleichwertigkeitsvermutung 89 f. – Vermutung der Rechtswahrung 90 Ordre des barreaux francophones und germanophone u.a – Urteil des EuGH 76 f. Pflicht zu vertrauenswürdigem Verhalten 113 ff. Polykrise der Union – Auswirkungen auf die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes 267 ff. – Begriff 260 – Brexit 267 – menschenrechtliche Defizite 266 f. – Migrationskrise 261 f. – Rechtsstaatlichkeitskrise 262 ff. Positive Integration – außerrechtliche Maßnahmen 319 ff. – Harmonisierung 313 ff. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung siehe Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung
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Sachwortverzeichnis
Prinzip des gegenseitigen Vertrauens siehe Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens Prinzipien, europäische siehe Europäische Prinzipien Privilegierte Drittstaaten 81 f. Puig Gordi u. a.-Urteil des EuGH 205 ff. Radu-Urteil des EuGH 181 ff. Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl siehe Europäischer Haftbefehl Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – und gegenseitige Anerkennung 45 ff., 96 f. – und gegenseitiges Vertrauen 45 ff. Recht auf Freizügigkeit siehe Freizügigkeits recht Rechtspluralismus 123 ff., 229 f. Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten – Gebot der Rechtswegerschöpfung 106 f., 242 – Qualitätsanforderungen 75, 115, 116, 171 ff. Rechtsstaatliche Prinzipien – als Grenze gegenseitigen Vertrauens 198 ff., 233 ff., 257 Rechtsstaatlichkeit – Begriff 233 ff. – Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 265 f., 307 – EU-Justizbarometer 277, 306, 307, 308 f. – EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit 277, 282 ff., 312 – Konditionalitätsmechanismus 300 ff. – Kopenhagen-Kommission 285 f. – Rechtstaatsmechanismus 306 f., 308 f. Rechtsstaatlichkeitsberichte 265 f., 307 Rechtsstaatlichkeitskrise 30 f., 262 ff. – Polen 198, 263 f. – Rumänien 265 f. – Ungarn 264 f. Rechtsstaatsmechanismus 306 f., 308 f. Referenzgebiete 40 ff. Solange horizontal siehe Horizontaler Solange-Vorbehalt Solange-Rechtsprechung des BVerfG, 216
Solidaritätsprinzip 147 f. Staatliche Souveränität 126 f., 134, 238 Systemische Defizite siehe Systemische Mängel Systemische Mängel – Begriff 239 ff. – Erfordernis 189 ff., 205 ff., 237 ff. Übereinkommen von Schengen 55 f. Ungeschriebene Kooperationspflichten siehe Kooperationspflichten Verantwortungsteilung siehe Föderale Aufgaben- und Verantwortungsteilung Verbundmoderierende Prinzipien 166, 167 ff. Verfahren nach Art. 7 EUV 249 ff., 278 ff., 323 ff. Verfassungsaufsicht, europäische siehe Europäische Verfassungsaufsicht Verfassungsprinzipien 166 Vermutung der Rechtstreue siehe Legalitätsvermutung Verpflichtete – Europäische Union 119 ff., 169 f. – Mitgliedstaaten 116 ff., 171 ff. Verschränkung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen siehe Horizontale Verschränkung Vertragsverletzungsverfahren 286 ff. – Durchsetzung klagestattgebender Entscheidungen 291 f. – Einstweilige Anordnung 292 ff. – Sicherung gemeinsamer Werte 153 f., 288 ff. – Verletzung von Art. 2 EUV 153 f., 288 ff. – Zwangsgeld 291 f. Vertrauen siehe Gegenseitiges Vertrauen Vertrauensfundament siehe Geschäftsgrundlage gegenseitigen Vertrauens Vertrauensgrundsatz siehe Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens Vertrauenswürdiges Verhalten siehe Pflicht zu vertrauenswürdigem Verhalten Völkerrechtliche Streitbeilegungsmecha nismen – und gegenseitiges Vertrauen 71 ff.
Sachwortverzeichnis Vollzugsprinzipien 163, 166, 168 Vorabentscheidungsverfahren – Sicherung gemeinsamer Werte 295 ff. – Unabhängigkeit des vorlegenden Gerichts 202, 298 f. Werte der Europäischen Union – Absicherung 153 f., 277 ff. – als Geschäftsgrundlage gegenseitigen Vertrauens 152 ff., 223 ff. – Begriff 164, 225 ff. – Freiheit 235 – Gleichheit 235 f. – Justiziabilität 225 ff., 289
– Konkretisierung 229 ff. – Menschenrechte 231 ff. – Menschenwürde 230 f. – Rechtsstaatlichkeit 233 ff. – Vertragsverletzungsverfahren 288 ff. WO und JL-Beschluss des EuGH 204 f. Wurmser-Urteil des EuGH 41 X. u. Y.-Urteil des EuGH 204 f. Zuordnung von Verantwortung siehe Föderale Aufgaben- und Verantwortungsteilung ZW u. RV-Urteil des EuGH 76
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