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German Pages 182 Year 2013
EDITION ANTIKE Herausgegeben von Thomas Baier, Kai Brodersen und Martin Hose
CATULL
Carmina – Gedichte Lateinisch und deutsch
Übersetzt und kommentiert von Cornelius Hartz
Verantwortlicher Bandherausgeber: Thomas Baier Die EDITION ANTIKE wird gefördert durch den Wilhelm-Weischedel-Fonds der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft
Wissenschaftliche Redaktion und Schriftleitung: Federica Casolari-Sonders (Ludwig-Maximilians-Universität München)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: COMPUTUS Druck Satz & Verlag, 55595 Gutenberg Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-18157-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73394-1
Inhalt Zu dieser Ausgabe Einleitung
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Catull, Carmina – Gedichte Versmaße
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Anmerkungen
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Stimmen zu Catull
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Literaturhinweise
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Catull als Romanfigur
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Zu dieser Ausgabe Catull ist einer der wichtigsten Dichter des alten Rom. Seine Gedichte erscheinen auch heute noch frisch und „unverbraucht“, viele bedienen Emotionen, die den modernen Leser direkt anzusprechen scheinen, wie Liebe und Hass, Trauer und Freude, Wut und Schadenfreude. Das berühmteste Gedicht Catulls ist c. 85 (odi et amo – „Ich hasse und ich liebe …“). Es eignet sich indes nicht nur dazu, exemplarisch aufzuzeigen, wie der Wortkünstler Catull es vermag, in nur zwei Versen, in 14 Wörtern ein literarisches Kunstwerk zu erschaffen, dessen Analyse Dutzende lange philologische Artikel füllt; es eignet sich ebenso dazu, zu demonstrieren, welch unterschiedlichen Bemühungen das Werk Catulls ausgesetzt war, wenn es darum ging, es in eine andere Sprache, hier in die deutsche, zu übertragen. Odi et amo. Quare id faciam fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior. Theodor Heyse (Hertz 1855) überträgt dies mit: Liebe verfolgt mich und Haß. „Und warum?“ fragt einer. Ich weiß nicht, Aber ich fühl’ es einmal, fühl’ es und leide darum. Werner Eisenhut (Heimeran 1956) übersetzt es: Haß erfüllt mich und Liebe. Weshalb das?, so fragst du vielleicht mich. Weiß nicht, doch daß es so ist, fühl ich und quäle mich ab. Rudolf Helm (Akademie-Verlag 1963) schreibt: Hassen tu’ ich und lieben. Warum ich’s tue, so fragst du. Weiß nicht. Doch daß ich es tu’, fühl’ ich und martere mich. Und Astrid und Hubert Petersmann (Reclam 1991) haben: Oh, ich hasse und liebe! Weshalb ich es tue, du fragsts wohl. Weiß nicht! Doch daß es geschieht, fühl ich – unendlich gequält.
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Diverse Probleme tun sich hier auf. Um nur eines herauszugreifen, ist Catulls fieri zwar mit „daß ich es tu’“ nicht wirklich falsch übersetzt, doch geht eine wichtige Nuance verloren: die im reflexiv-passiven excrucior (wörtlich: „ich werde gemartert“/„ich [zer]martere mich“) wieder aufgenommene Passivität: dem Sprecher passiert etwas, auf das er keinen oder wenig (gefühlten) Einfluss hat (Heyse lässt das Wort ganz unter den Tisch fallen). Was aber erstaunt, ist, dass die Übersetzung der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum antiquierter klingt als die neueren, vielleicht sogar ein wenig lebhafter. Was man den letzten drei im Vergleich zu Heyse jedoch wiederum ansieht, ist das Bemühen, die Sinneinheiten in den ihnen im Original entsprechenden Stellen bzw. Versen zu belassen. Sicherlich klingt all dies ein wenig unfreiwillig komisch. Und das liegt vor allem daran, dass bis in jüngere Zeit Übertragungen aus dem Lateinischen zumeist der Bemühung verschrieben waren, das Versmaß des lateinischen Originaltexts zu reproduzieren. Im Deutschen klingt dies meist etwas befremdlich, vor allem, wenn es sich um Versmaße wie den daktylischen Hexameter handelt, die in der deutschen Literatur nicht wirklich heimisch sind – und weil Übersetzungen ja in der Regel vom Bemühen gekennzeichnet sind, in einem bestimmten Vers eine bestimmte Aussage nachzuahmen. Dass drei der vier Übersetzungen oben mit „Weiß nicht“ beginnen, zeigt dies sehr schön – und auch „Weshalb das?, so fragst du vielleicht mich“: So redet natürlich niemand. Allein schon deshalb soll Catull hier in Prosa übersetzt werden. Die sprachliche Kunst Catulls (wie der römischen Dichter generell) ist im Deutschen im Grunde nicht wiederzugeben, und wenn in einigen wenigen Fällen doch, so auf jeden Fall besser in einer Form, die nicht noch zusätzlich durch ein (weniger antikisierendes als vielmehr antiquiert wirkendes) Versmaß belastet ist. Aus c. 85 wird so: Ich hasse und liebe. Warum ich das tue, magst du mich fragen. Ich weiß es nicht. Doch ich fühle es geschehen und ich zermartere mich. Ein weiterer zu erwähnender Punkt sind die Obszönitäten. In der griechisch-römischen Literatur erfüllen obszöne Ausdrücke eine ganz bestimmte Funktion; grob gesagt, schaffen sie eine Verbindung zwischen Autor und Leser, indem ein beiden bekannter Dritter in sexuell aggressiver Weise angegriffen wird. Bis Ende des letzten Jahrhunderts hat man in der Regel davor zurückgeschreckt, solche „schlimmen“ Wörter (wie futuere, pedicare oder cinaedus) bei Übersetzungen mit den entsprechenden moder-
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nen Begriffen wiederzugeben. Sogar in den USA und England war man hier progressiver als in Deutschland; es gab tatsächlich noch in den 1990er Jahren deutsche wissenschaftliche Artikel, die sich auf englischsprachige Artikel bezogen und bei der inhaltlichen Umschreibung das dortige „fuck“ auf einmal mit dem lateinischen futuere wiedergaben. In diesem Band soll alles in einer Weise übertragen werden, die mehr dem Original zu entsprechen sucht und daher so wenig wie möglich ein Blatt vor den Mund nimmt – eben weil der Autor es auch nicht tat. Um es mit Catull zu sagen (c. 16.5–9): Denn keusch zu sein, das ziemt dem frommen Dichter, aber seine Verse müssen es nicht sein; die sind nur dann gepfeffert und clever, wenn sie unzüchtig sind und unehrenhaft und wenn sie das erregen, was geil wird.
Einleitung Gaius Valerius Catullus war ein Meister der dichterischen Kleinform und Teil einer Dichtergruppe, die im Alleingang die römische Dichtung revolutionierte. Die offensichtliche Unmittelbarkeit seiner Lyrik liegt nicht nur an der Art der Darstellung, die sein Persönlichstes direkt zu offenbaren scheint, sondern auch an den kaum abstrakten Themen und am realistischen Setting: Die meisten seiner kleinen Werke sind nicht in der Historie oder Mythologie angesiedelt, sondern in der römischen Alltagswelt. Dennoch gibt es keinen zweiten Dichter der Antike, der auch heute noch so berühmt ist wie Catull, über dessen Leben aber gleichzeitig so wenig bekannt ist. Zudem ist sein Werk denkbar schlecht überliefert: Alle Abschriften, die bis in die Neuzeit überlebt haben, hängen von einer einzigen mittelalterlichen Handschrift ab, die auch noch verloren ist und nur durch ihre „Nachkommen“, also Abschriften, rekonstruiert werden kann (diese rekonstruierte Handschrift nennt man codex Veronensis oder einfach V). Die Unmittelbarkeit des Catull’schen Werks hat in der Vergangenheit zu zahlreichen biographischen Versuchen geführt, die das moderne Verständnis seines Werks fördern sollten. So hat z. B. Franz Stoessl (C. Valerius Catullus. Mensch, Leben, Dichtung, Meisenheim 1977) alle Catull-Gedichte in eine „selbstgebastelte“ Biographie eingeordnet, die allein aus dem schöpft, was der Dichter in seinen Gedichten über sich preisgibt. Doch ein solcher Versuch ist naturgemäß zum Scheitern verurteilt. Allein die notwendige Unterscheidung zwischen dem lyrischen Ich, dem „Sprecher“ eines Gedichts, und seinem Verfasser verbietet eine solche Herangehensweise. Catull gibt in seinen Gedichten tatsächlich viel von sich preis – allzu oft legt er seine persönlichsten Gefühle in die Zeilen. Aber ist es wirklich der Dichter selbst, seine eigene Person, die dort zum Vorschein kommt, oder sehen wir nicht eher eine Person oder vielmehr eine literarische Figur dort aufblitzen, die genau so ist, wie der Dichter sie uns zeigen möchte? Sicher ist nur eines: Wir wissen es nicht. So wissen wir nicht einmal, ob Catull tatsächlich eine Geliebte mit Namen Lesbia hatte, wie sie in seinen berühmtesten Gedichten auftaucht – geschweige denn, ob diese Lesbia tatsächlich mit Clodia Metelli, der skandalumwitterten Schwester des berüchtigten Volkstribunen und politischen
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Feindes Ciceros, Clodius Pulcher, zu identifizieren ist, wie es die populäre Meinung seit Langem gerne tut. Catulls gröbste biographische Fakten können wir nur mittels ein paar weniger antiker Zeugnisse rekonstruieren. Bereits seine Lebensdaten sind unsicher. Einigermaßen verlässlich wissen wir, dass er früh starb, mit etwa 30 Jahren. Aus seiner Dichtung heraus kann man auch hier wenig folgern: Alle realen Vorkommnisse, die er nennt oder auf die er anspielt und die wir tatsächlich auf eine bestimmte Jahreszahl zu datieren in der Lage sind, beschränken sich auf nur wenige Jahre (das späteste fand im August 54 v. Chr. statt). Wenn wir dies und noch einige weitere Fakten, die wir (mit aller gebotenen Vorsicht) aus Catulls Gedichten kennen, mit einbeziehen, können wir immerhin ein wenig über sein Leben aussagen: Catull wurde ca. 84 v. Chr. in oder um Verona geboren. Er stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie, die eine Villa nahe Verona in Sirmio (heute Sirmione) am Gardasee besaß; der Vater war persönlich mit Julius Caesar bekannt. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt ging Catull nach Rom, wo er sich der Dichtergruppe der sogenannten „Neoteriker“ anschloss. Er begann etwa mit Mitte zwanzig, zu dichten (vielleicht auch früher). 57/56 v. Chr. war er für einige Zeit beim Militär in Bithynien unter dem Statthalter Memmius. Mit etwa 30 Jahren starb er, ca. 54 v. Chr. Dies ist nicht viel, aber zumindest lässt es den Dichter ein wenig aus der Anonymität der Geschichte heraustreten. Was unser Wissen um sein Leben aber bei Weitem überstrahlt, ist Catulls Dichtung. In diversen Versmaßen verfasst, präsentiert sie ihren Urheber als belesenen, weltgewandten, geistreichen und witzigen Bürger der größten und modernsten Stadt der Welt, aber zugleich auch als verliebten, boshaften, ironischen, obszönen, zynischen, enttäuschten und auch bösartigen Zeitgenossen. Die meisten seiner Gedichte sind vergleichsweise kurz, mit weniger als 20 Versen, und er schreibt in einem (vordergründig) leicht verständlichen Latein, was ihn als stetigen Gast im Lateinunterricht verortet (auch wenn dort die etwas „deftigeren“ Gedichte natürlich i. d. R. ausgespart werden). Von nicht geringer Wichtigkeit bei der Betrachtung und Interpretation seiner Gedichte ist die bereits angerissene Tatsache, dass Catull der Dichtergruppe der Neoteriker oder poetae novi angehörte, die diverse Elemente seiner Dichtung geradezu programmatisch vertraten. Allein, Catull ist der einzige Neoteriker, dessen Gedichte bis heute überliefert sind. Naturgemäß hat man versucht, viel von dem, was Catulls Werk ausmacht, als neoterische Eigenarten zu definieren, doch zumeist muss es beim Versuch bleiben. Was beispielsweise auffällt und Catull von vielen seiner Zeitgenossen unterscheidet, ist seine unpolitische Haltung. Die Tagespolitik hält in seinen
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Gedichten nur so weit Einzug, dass er bestimmte Personen des öffentlichen Lebens, wie Caesar oder Cicero, mit Schmähungen überzieht – doch stets nur auf einer persönlichen, nicht politischen Ebene oder als Reaktion auf Angriffe seiner Person. Dabei gab es zu seinen Lebzeiten, der Zeit nach der Diktatur Sullas, die die letzten Jahre der römischen Republik markiert, durchaus umwälzende politische Ereignisse wie die Catilinarische Verschwörung oder Caesars Expansionskriege. Diese Tatsache hat mit beigetragen zum Bild von Catull und den Neoterikern als reichen jungen Männern, die ihren dichterischen Neigungen nachgingen, ohne sich um eine „geregelte Beschäftigung“ gemäß der altrömischen Definition des negotium zu kümmern, die ganz für ihre Kunst lebten und niemandem Rechenschaft schuldig waren. Bis dahin waren die Literaten der römischen Welt zumeist von niedrigem sozialen Rang und nicht viel mehr als künstlerische Handlanger der (politisch und/oder ökonomisch) Mächtigen, ihre Werke entstanden zumeist als Auftragsarbeit und Dienst an der Gemeinschaft – weniger aus dem inneren Drang heraus, die eigene Gefühlswelt durch das Wort abzubilden. Nun aber gab es auf einmal Dichter, die finanziell unabhängig waren, wie beispielsweise Catull, oder die selbstbewusst genug waren, von ihren Gönnern ein hohes Maß an künstlerischer Freiheit und Unabhängigkeit einzufordern, wie beispielsweise Horaz oder Properz eine Generation später. Und das war, mehr noch als vielleicht die gefühlte Subjektivität von Catulls Dichtung, etwas unerhört Neues für Rom – auch wenn das eine wiederum ursächlich mit dem anderen zusammenhängt. In diesen Bereich gehört auch einer der wichtigsten inneren Aspekte neoterischer Dichtung: die Abwendung des Dichters von der Erwartung (s)eines Publikums. Manche Gedichte Catulls sind für uns schwer bis gar nicht verständlich. Das liegt nicht etwa daran, dass sie schlecht überliefert wären (auch wenn dies hier und da der Fall ist) oder ihre Sprache zu schwierig: Vielmehr wird ein ums andere Mal auf Ereignisse und vor allem auf Personen angespielt, die zwar namentlich genannt werden, die wir heute aber nur mühsam, mit vielen Zweifeln oder bisweilen auch gar nicht identifizieren können. Der Clou daran aber ist: Vielen von Catulls Zeitgenossen wird es ähnlich gegangen sein. Auf einen „Insider-Witz“ folgt eine vertrauliche, kryptische Anspielung etc. Die Lösung ist denkbar einfach: die Dichterfreunde lasen diese Werke einander vor oder schickten sie einander. Für Dritte war dies alles in der Regel nicht gedacht. Dazu passt, dass Catulls Werke wohl gar nicht erst zur Veröffentlichung vorgesehen waren – auch wenn sie bald, wohl auch mündlich und vor allem auszugsweise, in Rom die Runde machten und ihn schon Zeit seines kurzen Lebens zu einem berühmt-berüchtigten Dichter machten.
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Auch inhaltlich und formal setzten sich die Neoteriker von der althergebrachten römischen Literatur ab. Sie bezeichneten sich selbst und ihre Dichtung mit einer Reihe von Signalwörtern, die auch bei Catull ständig auftauchen, wie bellus, venustus, dicax, elegans – all diese Vokabeln dienen als Ausdruck einer Haltung, die die Dichter als urbanitas definieren: das „Urbane“ gegenüber dem Bäuerlich-Ländlichen. Anmutig, gebildet, wortgewandt, witzig, geistreich, belesen … so sollte ein moderner Mensch sein. Und die Neoteriker waren es. Wer gegen dieses Gebot verstieß, ganz gleich, ob Mann oder Frau, wurde bestraft – mittels böser Schmähverse, die wir auch bei Catull oft finden (z. B. c. 36, 84 oder 97). Catulls Werk, wie es uns heute vorliegt, durch eine Überlieferung, die sich auf eine einzige mittelalterliche Handschrift bezieht, besteht aus 113 Gedichten mit insgesamt etwa 2300 Versen. Diese „zerfallen“ sozusagen in drei Teile: • die Polymetra (c. 1–60), • die „langen Gedichte“ (c. 61–68) und • die Epigramme (c. 69–116). Ob Catull die Anordnung selbst vorgenommen hat, wird immer wieder kontrovers diskutiert. Man kann darüber keine endgültige Aussage treffen (sollte sich also davor hüten, aus dieser Anordnung interpretatorische Schlüsse zu ziehen). Sicher ist aber: 2300 Verse sind eigentlich zu viel für eine einzige Papyrusrolle. Wie Julia Haig Gaisser es anschaulich beschreibt: „Würde man den vollständigen Text von Catull im Stil des Gallus-Papyrus niederschreiben, benötigte man eine Papyrusrolle von 11,62 Meter Länge; im Stil des carmen de bello Aegyptiaco wären es sogar 15,85 Meter. In jedem Fall hätte die Schriftrolle eine beachtliche Größe. Bei einer Länge von 11,62 Metern wäre ihr Zylinder dicker als eine Weinflasche, bei 15,85 Metern fast so dick wie eine Kaffeekanne“ (Catull. Dichter der Leidenschaft, Darmstadt 2012, S. 35). Vielleicht wäre es also technisch möglich gewesen, aber man bedenke nur den Wahlspruch des hellenistischen Philologen und Dichters Kallimachos, der Catulls wichtigstes Vorbild war: „Ein großes Buch ist ein großes Übel.“ Und so wie die meisten Catull-Gedichte ebenso kurz sind wie raffiniert gebaut, feine Miniaturen von höchster handwerklicher Kunst, wäre ein so umfangreiches liber („Buch“ = Papyrusrolle) für einen neoterischen Dichter schlechterdings unpassend gewesen – und auch die Widmung an Cornelius Nepos in c. 1 wäre höchstens noch ironisch zu verstehen: Ein Buch von 2300 Versen wäre beileibe kein libellus („Büchlein“) mehr. Stattdessen hätte das Gesamtwerk Catulls zur Zeit seiner Entstehung und auch noch 200 Jahre danach sicherlich bequem in drei Rollen gepasst; und
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da die drei oben genannten Teilstücke von einigermaßen ähnlicher Länge sind, wäre es ebenso bequem, anzunehmen, dass das Werk „im Original“ (also in der Antike, vielleicht auch erst nach der Zeit Catulls) eben in dieser dreiteiligen Form erschienen ist. Doch leider gibt es gute Gründe, eben gerade dieses nicht anzunehmen. Dagegen spricht z. B., dass ein Epyllion, ein „Klein-Epos“, wie Catulls c. 64 in aller Regel zur Einzelveröffentlichung gelangte und kaum in einer so heterogenen Sammlung, wie sie die „langen Gedichte“ darstellen würden. Und noch ein weiteres der „langen Gedichte“ macht in dieser Beziehung Schwierigkeiten – das Hochzeitsgedicht c. 62, denn dieses ist das einzige Catull-Gedicht, das im Mittelalter eine unabhängige Überlieferung erfahren hat: Im 9. Jahrhundert taucht es in einer Anthologie auf. Viel wahrscheinlicher ist, dass ein paar der langen Gedichte oder auch einzelne Gruppen der kleineren Gedichte zusammen erschienen; die langen Hochzeitsgedichte hätten sich zusammen zur Einzelveröffentlichung angeboten, das Epyllion c. 64 ebenso. Es ist denkbar, dass schon zeitgenössische findige Verleger Catulls Gedichte ohne seine Zustimmung veröffentlichten – ein organisierter Buchhandel bestand zu dieser Zeit nur in Ansätzen, und an die heutigen Copyright-Querelen war selbstverständlich noch gar nicht zu denken. Auf jeden Fall erfuhren Catulls Gedichte zu irgendeinem Zeitpunkt in der Antike eine Veröffentlichung, noch bevor das Werk von Papyrusrollen in den in der Spätantike gängigen Pergament-Codex transkribiert wurde. Bis zum 3. Jahrhundert wurde alles, was von Catull zu dieser Zeit noch verfügbar war, von einem anonymen Redaktor gesammelt und in einen Codex übertragen. So kommt es auch, dass in unserer heutigen Zählung drei Nummern fehlen: die Gedichte c. 18–20 (eines davon fragmentarisch) waren bis in die Neuzeit Teil des Catulli Veronensis liber; als man schließlich erkannte, dass sie auf keinen Fall von Catull stammen, war es zu spät, die Gedichte zu streichen und die anderen einfach neu durchzunummerieren – die hergebrachte Zählung hatte sich in der Fachwelt bereits zu stark durchgesetzt. Die Polymetra (das bedeutet soviel wie „Gedichte mit verschiedenen Versmaßen“) c. 1–60 sind thematisch ebenso vielfältig wie metrisch. In diese erste „Abteilung“ des modernen Catull-Buchs fallen (mit Ausnahme von c. 85) die berühmtesten Gedichte der Sammlung: die „Spatzen-Gedichte“ (c. 2 und 3) und die „Kuss-Gedichte“ (c. 5 und 7). Daneben gehören ebenso ein Großteil der Auseinandersetzung mit Catulls Geliebter, Lesbia, und die Gedichte über seinen Geliebten, Juventius, dazu wie böse, obszöne Schmähungen (c. 16, 29 oder 37).
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Die (in Ermangelung eines griffigeren Begriffs) traditionell „langen Gedichte“ genannten c. 61–68 könnte man ebenfalls „Polymetra“ nennen – in vier verschiedenen Versmaßen sind die neun Gedichte verfasst. Ganz klar heraus sticht c. 64 – ein meisterliches Miniaturepos, das verschiedene Zeitebenen und Mythen durcheinanderwirbelt, mit einem Psychogramm als cleverer „Geschichte in der Geschichte“, die diverse unaufhebbare Paradoxien mit sich bringt, ohne dass man sich dessen gleich bewusst würde; mit über 400 Versen ist c. 64 auch das längste Gedicht Catulls. Die Epigramme, c. 69–116, sind dagegen in einem einheitlichen Metrum gestaltet: dem elegischen Distichon, zu dieser Zeit bereits das Standardversmaß für das Epigramm, eine kurze Gedichtform (i. d. R. 4–6 Verse), die ihren Ursprung in den kurzen Gedichtsprüchen auf Gräbern hatte und deren Gestaltungsprinzipien die neoterische Dichtung direkt aus dem Hellenismus und von den gelehrten Alexandrinern um Kallimachos (ca. 320–245 v. Chr.) übernahm. C. 85, das zu dieser Gruppe gehört, kann mit seinen lediglich zwei Versen als Speerspitze der Kurzform in der römischen Literatur überhaupt angesehen werden und gilt vielen auch heute noch als das beste Gedicht aller Zeiten. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf schrieb vor 100 Jahren über Catulls berühmte Nachahmung eines Sappho-Gedichts (c. 51): „Das ist Studentenpoesie, die uns rührt, weil der Student zwar nie ein Mann, aber ein ganzer Dichter geworden ist und seine Ahnung sich erfüllt hat“ (Sappho und Simonides, Berlin 1913, S. 75). Zwar mag die heutige Forschung Catull insgesamt differenzierter betrachten, aber der Satz drückt doch zugleich etwas heute noch Gültiges aus: die Faszination mit einem großen Künstler, der (zumindest nach unserer Verhältnismäßigkeit) in jungen Jahren stirbt und die Frage hinterlässt: Was hätte man noch alles von ihm erwarten können?
C. VALERIUS CATULLUS CARMINA – GEDICHTE
Carmina Polymetra
1 Cui dono lepidum novum libellum arida modo pumice expolitum? Corneli, tibi: namque tu solebas meas esse aliquid putare nugas iam tum, cum ausus es unus Italorum omne aevum tribus explicare chartis doctis, Iuppiter, et laboriosis. Quare habe tibi quidquid hoc libelli, qualecumque; quod, o patrona virgo, plus uno maneat perenne saeclo.
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2a Passer, deliciae meae puellae, quicum ludere, quem in sinu tenere, cui primum digitum dare adpetenti et acris solet incitare morsus cum desiderio meo nitenti carum nescio quid libet iocari, et solaciolum sui doloris, credo, et quo gravis acquiescet ardor: tecum ludere sicut ipsa possem et tristes animi levare curas. 2b Tam gratum est mihi quam ferunt puellae pernici aureolum fuisse malum, quod zonam soluit diu ligatam. 3 Lugete, o Veneres Cupidinesque, et quantum est hominum venustiorum. Passer mortuus est meae puellae.
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Gedichte Polymetra
1 Wem widme ich dieses charmante neue Büchlein, das gerade erst mit trockenem Bimsstein geglättet wurde? Cornelius, dir: Denn du hast immer geglaubt, dass meine kleinen Gedichtchen etwas wert sind, damals schon, als du es als Einziger in Italien gewagt hast, die ganze Weltgeschichte in drei Büchern darzustellen – ein ebenso gelehrtes wie, beim Jupiter!, arbeitsreiches Projekt. Darum sollst du dieses Büchlein haben, so wie es ist; die jungfräuliche Patronin möge dafür sorgen, dass es mehr als ein Zeitalter lang besteht. 2a Spatz, süßester Schatz meines Mädchens, mit dem sie immer spielt, den sie immer im Schoß hält, den sie immer nach der Spitze ihres Fingers picken lässt und den sie immer zu scharfen Bissen reizt, wenn es meiner strahlenden Sehnsucht gefällt, lieb gemeinte Scherze zu treiben, damit die brennende Glut zur Ruhe kommt und es, wie ich glaube, ein wenig Trost für ihren Schmerz gibt: Könnte ich doch wie sie mit dir spielen und die traurigen Herzenssorgen erleichtern! 2b Er ist mir genauso lieb wie, so sagt man doch, dem schnellen Mädchen der goldene Apfel, der den lange verschlossenen Gürtel gelöst hat. 3 Trauert, Göttinnen und Götter der Liebe und alle liebreizenden Menschen der Welt: Der Spatz meines Mädchens ist tot,
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Passer, deliciae meae puellae, quem plus illa oculis suis amabat: nam mellitus erat suamque norat ipsam tam bene quam puella matrem, nec sese a gremio illius movebat, sed circumsiliens modo huc modo illuc ad solam dominam usque pipiabat. Qui nunc it per iter tenebricosum illuc unde negant redire quemquam. At vobis male sit, malae tenebrae Orci, quae omnia bella devoratis: tam bellum mihi passerem abstulistis. Vae factum male! Vae miselle passer! Tua nunc opera meae puellae flendo turgiduli rubent ocelli.
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4 Phaselus ille, quem videtis, hospites, ait fuisse navium celerrimus, neque ullius natantis impetum trabis nequisse praeterire, sive palmulis opus foret volare, sive linteo. Et hoc negat minacis Hadriatici negare litus insulasve Cycladas Rhodumque nobilem horridamque Thraciam Propontida trucemve Ponticum sinum, ubi iste post phaselus antea fuit comata silva: nam Cytorio in iugo loquente saepe sibilum edidit coma. Amastri Pontica et Cytore buxifer, tibi haec fuisse et esse cognitissima ait phaselus: ultima ex origine tuo stetisse dicit in cacumine, tuo imbuisse palmulas in aequore, et inde tot per impotentia freta erum tulisse, laeva sive dextera vocaret aura, sive utrumque Iuppiter simul secundus incidisset in pedem; neque ulla vota litoralibus deis sibi esse facta, cum veniret a mari
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der Spatz, der Liebling meines Mädchens, den sie mehr liebte als ihr Augenlicht. Denn er war süß wie Honig, und er kannte sie, so wie ein Mädchen seine Mutter kennt, er bewegte sich nicht fort von ihrem Schoß, sondern sprang herum, bald hierhin, bald dorthin, und er piepste nur für seine Herrin. Nun wandert er auf dem finsteren Weg, von wo, wie es heißt, niemand zurückkehrt. Aber es soll euch schlecht ergehen, böse Schatten des Orkus, die ihr alles Schöne verschlingt: So einen schönen Spatz habt ihr mir gestohlen. Wehe der üblen Tat! Wehe, unglückseliger Spatz! Dank dir sind meines Mädchens Äuglein vom Weinen geschwollen. 4 Jenes Schnellboot, das ihr dort seht, Freunde, sagt, es sei das schnellste Schiff gewesen, und kein schwimmender Kiel war schneller, ob er mit Rudern angetrieben wurde oder mit einem Segel. Und dies bestätigen die gefährliche Adriaküste wie auch die kykladischen Inseln, das noble Rhodos, das schreckliche Thrakien, Propontis oder der raue pontische Meerbusen, wo dieses Schnellboot zuvor ein belaubtes Stück Wald war: Denn auf dem kytorischen Berg gab sein Laub oft ein Zischen von sich. Oh pontisches Amastris und Buchsbaum tragender Kytoros! Dir, sagt das Boot, war und sei es wohlbekannt; es sagt, es habe als Nachkomme einer alten Familie auf deinem Gipfel gestanden, seine Ruder in dein Wasser getaucht und von dort aus habe es seinen Herren durch so viele wilde Meere getragen, ob von links oder rechts der Wind blies oder Jupiter von beiden Seiten den Lauf begünstigte; und es konnte den Ufergöttern keine Gelübde abgeben, als es vom Meer aus
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novissimo hunc ad usque limpidum lacum. Sed haec prius fuere: nunc recondita senet quiete seque dedicat tibi, gemelle Castor et gemelle Castoris.
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5 Vivamus, mea Lesbia, atque amemus, rumoresque senum severiorum omnes unius aestimemus assis. Soles occidere et redire possunt: nobis cum semel occidit brevis lux, nox est perpetua una dormienda. Da mi basia mille, deinde centum, dein mille altera, dein secunda centum, deinde usque altera mille, deinde centum. Dein, cum milia multa fecerimus, conturbabimus illa, ne sciamus, aut nequis malus invidere possit, cum tantum sciat esse basiorum.
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6 Flavi, delicias tuas Catullo, ni sint inlepidae atque inelegantes, velles dicere, nec tacere posses. Verum nescio quid febriculosi scorti diligis: hoc pudet fateri. Nam te non viduas iacere noctes, nequiquam tacitum, cubile clamat sertis ac Syrio fragrans olivo, pulvinusque peraeque et hic et ille attritus, tremulique quassa lecti argutatio inambulatioque. Iam tu ista ipse vales nihil tacere. Cur? Non tam latera ecfututa pandas, ni tu quid facias ineptiarum. Quare quidquid habes boni malique, dic nobis. Volo te ac tuos amores ad caelum lepido vocare versu.
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kürzlich hierherkam, bis zu diesem klaren See. Doch all das ist vorbei: Jetzt, im Verborgenen, altert es still und ist dir geweiht, Bruder Castor, und dir, Bruder des Castor. 5 Lass uns leben, meine Lesbia, und lass uns uns lieben und lass uns das Gerede der so strengen alten Männer für nicht mehr wert halten als bloß ein As! Die Sonne geht unter, und sie kehrt wieder zurück – wenn uns aber einmal das kurze Licht unseres Lebens erlischt, schlafen wir eine ewige Nacht lang. Gib mir eintausend Küsse und danach einhundert, danach noch einmal tausend und noch einmal hundert, und danach noch einmal tausend und noch einmal hundert. Und dann, wenn wir uns viele tausend Mal geküsst haben, wollen wir uns verzählen, damit wir nicht wissen, und uns auch kein böser Mensch beneidet, der wüsste, wie viele Küsse es waren. 6 Flavius, du würdest Catull so gern von deiner Liebsten erzählen, wenn sie nicht so hässlich und unfein wäre; du könntest einfach nicht schweigen. Aber ich weiß, dass du eine vom Fieber gezeichnete Hure liebst und dich schämst, es zuzugeben. Denn dass du nicht allein die Nächte verbringst, davon kündet laut – auch wenn es schweigt – dein Bett, das von Blumenkränzen und syrischem Olivenöl duftet; das Polster ist hier und da an derselben Stelle abgerieben, das Bettgestell wackelt schon, es knarrt und wandert herum. Aber es nützt dir nichts, diese Unzucht zu verschweigen. Warum? Du würdest deine ausgebumsten Lenden nicht so ausstrecken, wäre nicht das, was du tust, so unschicklich. Deshalb: Was bei dir Gutes oder Schlechtes passiert, sag es uns. Ich will dich und die, die du liebst, mit leichtem Vers zum Himmel rufen.
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7 Quaeris, quot mihi basiationes tuae, Lesbia, sint satis superque. Quam magnus numerus Libyssae harenae lasarpiciferis iacet Cyrenis, oraclum Iovis inter aestuosi et Batti veteris sacrum sepulcrum, aut quam sidera multa, cum tacet nox, furtivos hominum vident amores, tam te basia multa basiare vesano satis et super Catullo est, quae nec pernumerare curiosi possint nec mala fascinare lingua.
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8 Miser Catulle, desinas ineptire, et quod vides perisse perditum ducas. Fulsere quondam candidi tibi soles, cum ventitabas quo puella ducebat amata nobis quantum amabitur nulla. Ibi illa multa cum iocosa fiebant, quae tu volebas nec puella nolebat. Fulsere vere candidi tibi soles. Nunc iam illa non vult: tu quoque, impotens, noli nec quae fugit sectare, nec miser vive, sed obstinata mente perfer, obdura. Vale puella: iam Catullus obdurat, nec te requiret nec rogabit invitam: at tu dolebis, cum rogaberis nulla. Scelesta, vae te! Quae tibi manet vita! Quis nunc te adibit? Cui videberis bella? Quem nunc amabis? Cuius esse diceris? Quem basiabis? Cui labella mordebis? At tu, Catulle, destinatus obdura. 9 Verani, omnibus e meis amicis antistans mihi milibus trecentis, venistine domum ad tuos Penates, fratresque unanimos anumque matrem?
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7 Du fragst mich, wie viele deiner Küsse mir genug sind, meine Lesbia? So viele, wie Sand liegt an Libyens Küsten und an den Gestaden des Silphium tragenden Kyrene, zwischen dem Orakel des glühend heißen Jupiter und dem heiligen Grabmal des alten Battos, oder so viele, wie Sterne, wenn die Nacht schweigt, auf die heimlichen Liebschaften der Menschen hinunterschauen: So viele Küsse will ich dir geben, so viele sind dem verrückten Catull genug, so viele, dass kein Neugieriger sie zu zählen vermag und kein böse Gesinnter sie mit einem Zauberspruch verhexen kann. 8 Armer Catull, hör auf mit den Albernheiten, und was du verloren hast, das akzeptiere als verloren. Früher schienen dir strahlende Sonnen, als du überall hingingst, wohin dein Mädchen dich führte, sie, die von mir geliebt wurde wie nie wieder eine andere. Damals hast du mit ihr viel herumgescherzt, du wolltest es, und sie verschloss sich dem nicht. Ja, es schienen dir wirklich strahlende Sonnen, nun will sie nicht mehr: Dann wolle auch du nicht mehr, Unfähiger, lauf nicht der nach, die vor dir wegläuft, lebe nicht im Unglück, sondern erdulde es mit starkem Herzen, sei standhaft! Lebe wohl, Mädchen: Jetzt ist Catull standhaft, er verlangt nicht nach dir und fleht dich nicht an, Unwillige: Aber du wirst leiden, wenn keine dich mehr bittet. Verbrecherin, wehe dir! Was bleibt dir noch für ein Leben! Wer wird jetzt zu dir gehen? Wer wird dich schön finden? Wen wirst du lieben? Wem, wirst du sagen, gehörst du? Wen wirst du küssen? Wessen Lippen zerbeißen? Aber du, Catull, sei entschlossen und standhaft. 9 Veranius, unter allen meinen Freunden bist du mir wichtiger als dreihunderttausend, bist du nach Hause gekommen zu deinen Penaten und deinen dir so lieben Brüdern, deiner alten Mutter?
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Carmina
Venisti. O mihi nuntii beati! Visam te incolumem audiamque Hiberum narrantem loca facta nationes, ut mos est tuus, applicansque collum iucundum os oculosque saviabor. O quantum est hominum beatiorum, quid me laetius est beatiusve?
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10 Varus me meus ad suos amores visum duxerat e foro otiosum. Scortillum, ut mihi tunc repente visum est, non sane inlepidum neque invenustum. Huc ut venimus incidere nobis sermones varii, in quibus, quid esset iam Bithynia, quo modo se haberet, ecquonam mihi profuisset aere. Respondi id quod erat, nihil neque ipsis nec praetoribus esse nec cohorti, cur quisquam caput unctius referret, praesertim quibus esset irrumator praetor, nec faceret pili cohortem. „At certe tamen“, inquiunt, „quod illic natum dicitur esse, conparasti ad lecticam homines.“ Ego, ut puellae unum me facerem beatiorem, „non“, inquam, „mihi tam fuit maligne, ut, provincia quod mala incidisset, non possem octo homines parare rectos.“ At mi nullus erat neque hic neque illic, fractum qui veteris pedem grabati in collo sibi collocare posset. Hic illa, ut decuit cinaediorem, „quaeso“, inquit, „mihi, mi Catulle, paulum istos commoda: nam volo ad Serapim deferri.“ „Mane“, inquii puellae, „istud quod modo dixeram me habere, fugit me ratio: meus sodalis Cinna est Gaius, is sibi paravit. Verum utrum illius an mei, quid ad me?
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Ja, das bist du. Welch gute Neuigkeiten für mich! Ich werde dich unverletzt sehen, werde dich von iberischen Orten, Taten und Völkern erzählen hören, wie du es immer tust, werde dir Mund und Augen küssen. Wie viele glückliche Menschen es auch geben mag, wer oder was könnte fröhlicher und glücklicher sein als ich? 10 Mein Freund Varus hatte mich vom Forum aus zu seiner Geliebten mitgenommen, als ich gerade nichts vorhatte; ein kleines Flittchen, wie ich sofort sah, aber nicht ohne Reiz und nicht unattraktiv. Als wir bei ihm waren, kam die Unterhaltung auf verschiedene Themen, unter anderem wie die Lage in Bithynien sei, wie es dort zugehe und wie viel Geld es mir eingetragen hätte. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass weder die Leute dort noch die Prätoren oder die Soldaten etwas verdienen, vor allem, wenn Letztere einen solchen Mistkerl zum Prätor haben, der sich um seine Leute nicht kümmert und sie ins Verderben reitet. „Aber doch sicher“, sagten sie, „hast du dir von dort, woher diese, wie man sagt, stammen, ein paar Sänftenträger mitgebracht.“ Um mich dem Mädchen gegenüber besser zu stellen, als es mir ging, sagte ich: „Ganz so schlimm war es nun doch nicht; zwar war die Provinz wirklich übel, aber immerhin konnte ich mir acht große Männer leisten.“ Aber ich hatte weder hier noch dort einen, der das wacklige Bein meines alten Sofas sich auf den Nacken hätte hieven können. Und da sagte sie zu mir, wie man es von einer Schlampe erwartet, „bitte, Catull, leih mir die doch mal kurz aus, denn ich möchte mich zum Tempel des Serapis tragen lassen.“ – „Halt“, sagte ich da zu dem Mädchen, „was ich eben sagte, das war nicht ganz richtig: Ich habe einen Freund, Gaius Cinna, und der hat sie sich gekauft. Aber was soll’s, ob es meine oder seine sind?
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Carmina
Utor tam bene quam mihi pararim. Sed tu insulsa male et molesta vivis, per quam non licet esse neglegentem.“ 11 Furi et Aureli, comites Catulli, sive in extremos penetrabit Indos, litus ut longe resonante Eoa tunditur unda, sive in Hyrcanos Arabesve molles, seu Sacas sagittiferosve Parthos, sive quae septemgeminus colorat aequora Nilus, sive trans altas gradietur Alpes, Caesaris visens monumenta magni, Gallicum Rhenum, horribile aequor ultimosque Britannos, omnia haec, quaecumque feret voluntas caelitum, temptare simul parati, pauca nuntiate meae puellae non bona dicta. Cum suis vivat valeatque moechis, quos simul conplexa tenet trecentos, nullum amans vere, sed identidem omnium ilia rumpens: nec meum respectet, ut ante, amorem, qui illius culpa cecidit velut prati ultimi flos, praetereunte postquam tactus aratro est.
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12 Marrucine Asini, manu sinistra non belle uteris in ioco atque vino: tollis lintea neglegentiorum. Hoc salsum esse putas? Fugit te, inepte: quamvis sordida res et invenusta est. Non credis mihi? Crede Pollioni fratri, qui tua furta vel talento mutari velit: est enim leporum disertus puer ac facetiarum.
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Ich verwende sie, als seien es meine eigenen. Aber du bist wirklich dumm und lästig, dass du es nicht zulässt, dass man sich einmal gehenlässt.“ 11 Furius und Aurelius, ihr Kameraden Catulls, ganz gleich, ob es ins äußerste Indien geht, wo die morgenländische Welle klangvoll an den Strand schlägt, ob zu den Hyrkanern oder den verweichlichten Arabern, ob zu den Saken oder den mit Pfeilen bewaffneten Parthern, ob dahin, wo der Nil mit sieben Armen das Meer färbt, ob man über die hohen Alpen marschiert, wo man die Monumente des großen Caesars zu sehen bekommt, an den gallischen Rhein, ans schreckliche Meer und ins äußerste Britannien, all das seid ihr, wenn es der Götter Wille ist, bereit, mit mir zusammen zu ertragen. Bringt meinem Mädchen eine kleine Botschaft, nur eben dahingekritzelt. Sie soll leben und es soll ihr gutgehen mit ihren Ehebrechern, von denen sie dreihundert zugleich im Arm hält, keinen davon liebt sie wirklich, sondern immer wieder bricht sie ihnen die Lenden; und sie soll keine Rücksicht auf meine Liebe nehmen, wie vorher, die durch ihre Schuld gefallen ist wie die letzte Blüte auf der Wiese, nachdem der vorübergehende Pflug sie fortgepflügt hat. 12 Marruciner Asinius, deine linke Hand verwendest du ganz unfein, wenn wir bei Wein und Scherz zusammensitzen: Du stiehlst denen, die nicht aufpassen, die Tücher. Glaubst du, das ist besonders geistreich? Der Geist geht dir ab, Dämlicher: Vielmehr ist es schändlich und gänzlich ohne Charme. Du glaubst mir nicht? Dann glaub deinem Bruder Pollio, der ein ganzes Talent dafür zahlen würde, könnte er dafür deine Diebstähle ungeschehen machen: Schließlich ist der ein Knabe, der sich auszudrücken weiß und der durch und durch geistreich ist.
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Carmina
Quare aut hendecasyllabos trecentos exspecta aut mihi linteum remitte, quod me non movet aestimatione, verum est mnemosynum mei sodalis. Nam sudaria Saetaba ex Hiberis miserunt mihi muneri Fabullus et Veranius: haec amem necesse est ut Veraniolum meum et Fabullum.
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13 Cenabis bene, mi Fabulle, apud me paucis, si tibi di favent, diebus, si tecum attuleris bonam atque magnam cenam, non sine candida puella et vino et sale et omnibus cachinnis. Haec si, inquam, attuleris venuste noster, cenabis bene: nam tui Catulli plenus sacculus est aranearum. Sed contra accipies meros amores seu quid suavius elegantiusve est: nam unguentum dabo, quod meae puellae donarunt Veneres Cupidinesque, quod tu cum olfacies, deos rogabis, totum ut te faciant, Fabulle, nasum.
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14a Ni te plus oculis meis amarem, iucundissime Calve, munere isto odissem te odio Vatiniano: nam quid feci ego quidve sum locutus, cur me tot male perderes poetis? Isti di mala multa dent clienti, qui tantum tibi misit impiorum. Quod si, ut suspicor, hoc novum ac repertum munus dat tibi Sulla litterator, non est mi male, sed bene ac beate, quod non dispereunt tui labores. Di magni, horribilem et sacrum libellum quem tu scilicet ad tuum Catullum misti, continuo ut die periret
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Gedichte
Deshalb erwarte entweder dreihundert Hendekasyllaben von mir oder gib mir mein Tuch zurück, das mir nicht deshalb wertvoll ist, weil es teuer war, sondern weil es ein Erinnerungsstück ist an einen Freund von mir. Denn Taschentücher aus dem iberischen Saetabis schickten mir als Geschenk Fabullus und Veranus: Die muss ich einfach liebhaben, wie meinen kleinen Veranus und meinen kleinen Fabullus. 13 Du wirst einen schönen Abend haben, lieber Fabullus, bei mir, in ein paar Tagen, falls die Götter dich begünstigen, wenn du ein gutes und reichhaltiges Essen mitbringst, und vergiss nicht ein hübsches Mädchen und Wein und Witz und lustige Geschichten. Wenn du das, sage ich, alles mitbringst, mein Lieber, wirst du einen schönen Abend haben – denn deines Catull Geldbeutel ist nur voll mit Spinnweben. Aber als Gegenleistung erhältst du meine Freundschaft und etwas, das noch angenehmer und eleganter ist: Denn ich gebe dir eine Salbe, die meinem Mädchen die Liebesgöttinnen und -götter geschenkt haben, und wenn du sie nur riechst, dann wirst du die Götter anflehen, dass sie dich, Fabullus, ganz zur Nase machen. 14a Wenn ich dich nicht mehr als mein Augenlicht liebte, liebster Calvus, für dieses Geschenk würde ich dich hassen mit dem Hass eines Vatinius: Was habe ich bloß getan, was habe ich gesagt, warum willst du mich mit so vielen Dichtern so übel zurichten? Die Götter sollen den Klienten bestrafen, der dir so viel von üblen Schreiberlingen geschickt hat. Wenn aber, wie ich fürchte, dieses neuartige und ausgesuchte Geschenk von dem Elementarlehrer Sulla stammt, dann ist es mir nicht lästig, sondern ich finde es gut und schön, dass deine Mühe nicht umsonst gewesen ist. Große Götter, so ein schreckliches, verfluchtes Büchlein, das du deinem Catull sicherlich geschickt hast, um mich einen ganzen Tag lang tödlich zu quälen,
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Carmina
Saturnalibus optimo dierum! Non, non hoc tibi, salse, sic abibit: nam, si luxerit, ad librariorum curram scrinia Caesios Aquinos Suffenum omnia colligam venena, ac te his suppliciis remunerabor. Vos hinc interea valete abite illuc, unde malum pedem attulistis, saecli incommoda pessimi poetae.
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14b Siqui forte mearum ineptiarum lectores eritis manusque vestras non horrebitis admovere nobis *** 15 Commendo tibi me ac meos amores, Aureli: veniam peto pudentem, ut, si quicquam animo tuo cupisti, quod castum expeteres et integellum, conserves puerum mihi pudice, non dico a populo: nihil veremur istos, qui in platea modo huc modo illuc in re praetereunt sua occupati: verum a te metuo tuoque pene infesto pueris bonis malisque. Quem tu qua lubet, ut iubet, moveto, quantum vis, ubi erit foris, paratum: hunc unum excipio, ut puto, pudenter. Quod si te mala mens furorque vecors in tantam inpulerit, sceleste, culpam, ut nostrum insidiis caput lacessas, a tum te miserum malique fati, quem attractis pedibus patente porta percurrent raphanique mugilesque. 16 Pedicabo ego vos et irrumabo, Aureli pathice et cinaede Furi,
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und das ausgerechnet am Tag der Saturnalien! Nein, nein, so lasse ich dich, du Witzbold, nicht davonkommen: Wenn die Sonne aufgeht, dann laufe ich zum Regal des Buchhändlers; ich kaufe dir die Caesii, die Aquini, den Suffenus – all dieses giftige Zeug – und damit zahle ich es dir heim. Ihr aber, geht inzwischen dahin zurück, woher eure üblen Füße euch trugen, ihr schlechtesten Dichter, Unglück unserer Zeit! 14b Wenn ihr zufällig die Leser meiner Possen seid und nicht davor zurückschreckt, an mich Hand anzulegen *** 15 Mich und meine Liebe überantworte ich dir, Aurelius: In aller Bescheidenheit bitte ich dich, dass du – falls du je etwas mit dem Herzen begehrst hast, das du unangetastet und rein haben wolltest – meinen Jungen schamhaft bewahrst, und ich meine nicht etwa vorm Pöbel: Nicht die fürchte ich, die auf der Straße hier- und dorthin eilen und mit ihren Angelegenheiten beschäftigt sind; stattdessen fürchte ich dich und deinen Schwanz, vor dem weder die guten noch die bösen Knaben sicher sind. Mit dem kannst du gerne wedeln, wo es dir gefällt und wie viel du magst, wenn auch bitte nicht im Haus: Den einen nur nimm davon aus – eine, so meine ich, bescheidene Bitte. Wenn dich aber böse Gedanken und der Wahnsinn zu solcher Schuld antreiben, du Verbrecher, dass du meine Person mit solchen Tücken herausforderst, dann wird dich Armen ein übles Schicksal ereilen: Dann sollen dich, der mit angewinkelten Beinen offensteht, Rettiche und Meeräschen durchbohren. 16 Ich werde euch in den Arsch und in den Mund ficken, dich Aurelius, du Tunte, und dich Furius, du Schwuchtel,
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Carmina
qui me ex versiculis meis putastis, quod sunt molliculi, parum pudicum. Nam castum esse decet pium poetam ipsum, versiculos nihil necesse est, qui tum denique habent salem ac leporem, si sunt molliculi ac parum pudici et quod pruriat incitare possunt, non dico pueris, sed his pilosis, qui duros nequeunt movere lumbos. Vos, quod milia multa basiorum legistis, male me marem putatis? Pedicabo ego vos et irrumabo.
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17 O colonia, quae cupis ponte ludere longo et salire paratum habes, sed vereris inepta crura ponticuli axulis stantis in redivivis, ne supinus eat cavaque in palude recumbat; sic tibi bonus ex tua pons libidine fiat, in quo vel Salisubsili sacra suscipiantur: munus hoc mihi maximi da, colonia, risus. Quendam municipem meum de tuo volo ponte ire praecipitem in lutum per caputque pedesque, verum totius ut lacus putidaeque paludis lividissima maximeque est profunda vorago. Insulsissimus est homo, nec sapit pueri instar bimuli tremula patris dormientis in ulna. Cui cum sit viridissimo nupta flore puella, et puella tenellulo delicatior haedo, adservanda nigerrimis diligentius uvis, ludere hanc sinit ut lubet, nec pili facit uni, nec se sublevat ex sua parte, sed velut alnus in fossa Liguri iacet suppernata securi, tantundem omnia sentiens quam si nulla sit usquam, talis iste meus stupor nil videt, nihil audit, ipse qui sit, utrum sit an non sit, id quoque nescit. Nunc eum volo de tuo ponte mittere pronum, si pote stolidum repente excitare veternum et supinum animum in gravi derelinquere caeno, ferream ut soleam tenaci in voragine mula.
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die ihr nach dem Lesen meiner Verse glaubt, weil diese ein wenig unzüchtig sind, sei auch ich nicht ganz ehrbar. Denn keusch zu sein, das ziemt dem frommen Dichter, aber seine Verse müssen es nicht sein; die sind nur dann gepfeffert und clever, wenn sie unzüchtig sind und unehrenhaft und wenn sie das erregen, was geil wird – ich meine nicht bei den jungen, sondern bei den behaarten Männern, die die steifen Glieder nicht mehr bewegen können. Wenn ihr über viele tausend Küsse lest, glaubt ihr, ich sei kein richtiger Mann? Ich werde euch in den Arsch und in den Mund ficken. 17 Oh Kleinstadt, die du auf der langen Brücke spielen möchtest und dich bereit machst zum Springen, du fürchtest dennoch, dass die wackligen Stelzen der kleinen Brücke, die auf wiederverwendeten Holzbohlen steht, nachgeben und sie im tiefen Sumpf versinkt; dir soll eine gute Brücke zuteilwerden, wie du sie dir wünschst, auf der man den heiligen Saliertanz vollführen könnte – mach mir nur dies eine Geschenk, oh Kleinstadt, das wahrlich zum Lachen reizt: Einen deiner Bürger nur, das wünsche ich mir, lass von deiner Brücke kopfüber hinunterfallen, dass er von Kopf bis Fuß im Schlamm landet, und zwar da, wo der Sumpf und der Schlund des ganzen stinkenden Sees grauschwarz ist und besonders tief. Dieser Mensch ist besonders ungebildet, und er weiß nicht einmal so viel wie ein zweijähriger Junge, der, im Arm seines Vaters gewiegt, einschläft. Der hat zwar ein Mädchen geheiratet, das in der grünsten Blüte seiner Jahre steht, ein Mädchen, das zarter ist als das zarteste Zicklein, das man strenger bewachen müsste als die schwärzesten Trauben, und er lässt sie herumtändeln, wie sie will, macht sich nichts daraus, erhebt sich nicht einmal von seiner Seite des Bettes, sondern wie eine Erle, die, mit der Axt gefällt, im ligurischen Graben liegt, die genauso viel von all dem um sie herum merkt, als existierte sie gar nicht, dieser Dummkopf, von dem ich spreche, der sieht nichts, der hört nichts, weiß nicht, wer er ist und ob es ihn gibt oder nicht. Den will ich nun kopfüber von deiner Brücke werfen, vielleicht wacht er dann endlich auf aus seinem Schlaf und lässt im tiefen Schlamm seinen trägen Geist zurück, wie ein Maultier, das sein Hufeisen im dicken Sumpf verliert.
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Carmina
21 Aureli, pater esuritionum, non harum modo, sed quot aut fuerunt aut sunt aut aliis erunt in annis, pedicare cupis meos amores: nec clam, nam simul es, iocaris una, haerens ad latus omnia experiris. Frustra: nam insidias mihi instruentem tangam te prior irrumatione. Atque id si faceres satur tacerem: nunc ipsum id doleo, quod esurire, a temet puer et sitire discet. Quare desine, dum licet pudico, ne finem facias, sed irrumatus.
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22 Suffenus iste, Vare, quem probe nosti, homo est venustus et dicax et urbanus, idemque longe plurimos facit versus. Puto esse ego illi milia aut decem aut plura perscripta, nec sic ut fit in palimpseston relata: chartae regiae, novi libri, novi umbilici, lora rubra, membranae, derecta plumbo et pumice omnia aequata. Haec cum legas tu, bellus ille et urbanus Suffenus unus caprimulgus aut fossor rursus videtur: tantum abhorret ac mutat. Hoc quid putemus esse? Qui modo scurra aut si quid hac re tritius videbatur, idem infaceto est infacetior rure, simul poemata attigit, neque idem umquam aeque est beatus ac poema cum scribit: tam gaudet in se tamque se ipse miratur. Nimirum idem omnes fallimur, neque est quisquam, quem non in aliqua re videre Suffenum possis. Suus cuique attributus est error: sed non videmus, manticae quod in tergo est.
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21 Aurelius, Größter der Hungernden, nicht nur derer, die es jetzt gibt, sondern auch aller, die es gab oder gibt oder in kommenden Jahren geben wird, du willst meinen Liebsten in den Arsch ficken: Und das gar nicht heimlich, denn du flirtest mit ihm, hängst an seiner Seite und tust alles Mögliche. Vergebens: denn bevor ich in deine Falle tappe, greife ich dich mir und ficke dich in den Mund. Wenn du das tätest, wenn du satt wärst, würde ich ja nichts sagen: Jetzt aber leide ich, weil er das Hungern und Dürsten ausgerechnet bei dir lernt, der Knabe. Darum hör auf, während es noch mit Anstand geht, damit du nicht erst damit aufhörst, wenn ich dich in den Mund gefickt habe. 22 Dieser Suffenus, oh Varus, den du gut kennst, der ist ein anmutiger und geistreicher und gebildeter Mann, und er schmiedet viele, viele Verse. Ich glaube, er hat tausend oder zehntausend oder noch mehr aufgeschrieben, und zwar nicht, wie man es sonst tut, auf einen bereits beschriebenen Bogen: Nein, königlicher Papyrus, neue Bücher, neue Knäufe, frische Lederriemen, Pergament, alles mit Blei gerichtet und mit Bimsstein geglättet. Wenn du das aber liest, dann kommt einem dieser gewitzte und gebildete Suffenus wie ein Ziegenhirt oder ein ungebildeter Bauer vor: So wenig ist er bei sich und verändert er sich. Was halten wir nun davon? Der, der eben noch als Lebemann galt und als geistreicher Mensch, der wirkt auf einmal dümmer als ein dummer Bauer, sobald er sich an seine Gedichte macht, und doch gibt es keinen, der, wenn er ein Gedicht schreibt, so glücklich ist wie er: So sehr freut er sich über sich selbst und so sehr bewundert er sich. Natürlich machen wir alle dieselben Fehler, und es gibt keinen, in dem du nicht ein Stückchen Suffenus finden kannst. Jedem ist sein eigener Fehler zu eigen; aber wir sehen nicht den Sack auf unserem Rücken.
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Carmina
23 Furi, cui neque servus est neque arca nec cimex neque araneus neque ignis, verum est et pater et noverca, quorum dentes vel silicem comesse possunt, est pulcre tibi cum tuo parente et cum coniuge lignea parentis. Nec mirum: bene nam valetis omnes, pulcre concoquitis, nihil timetis, non incendia, non graves ruinas, non furta inpia, non dolos veneni, non casus alios periculorum. Atque corpora sicciora cornu aut siquid magis aridum est habetis sole et frigore et esuritione. Quare non tibi sit bene ac beate? A te sudor abest, abest saliva, mucusque et mala pituita nasi. Hanc ad munditiem adde mundiorem, quod culus tibi purior salillo est, nec toto decies cacas in anno, atque id durius est faba et lapillis; quod tu si manibus teras fricesque, non umquam digitum inquinare posses. Haec tu commoda tam beata, Furi, noli spernere nec putare parvi, et sestertia quae soles precari centum desine: nam satis beatu’s.
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24 O qui flosculus es Iuventiorum, non horum modo, sed quot aut fuerunt aut posthac aliis erunt in annis, mallem divitias Midae dedisses isti, cui neque servus est neque arca, quam sic te sineres ab illo amari. „Qui? Non est homo bellus?“ inquies. Est: sed bello huic neque servus est neque arca. Hoc tu quam lubet abice elevaque: nec servum tamen ille habet neque arcam.
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23 Oh Furius, der du weder einen Sklaven noch Geld besitzt, weder eine Wanze noch eine Spinne noch Feuer, sehr wohl aber einen Vater und eine Stiefmutter, deren Zähne selbst Granit zerbeißen können, gut geht es dir mit deinem Vater und seiner Frau, die dünn ist wie ein Stock. Kein Wunder: denn es geht euch allen gut, eure Verdauung funktioniert, ihr habt vor nichts Angst, weder davor, dass euer Haus abbrennt, noch dass es einstürzt, weder vor üblen Verbrechen, noch vor tückischen Giften, noch vor anderen Gefahren. Und Körper habt ihr, trockener als Horn oder was es sonst noch sehr Trockenes gibt – durch Sonne, Kälte und Hungern. Warum sollte es dir also nicht gut gehen? Schweiß und Speichel sind dir unbekannt, ebenso Rotz und böser Nasenschnupfen. Zu dieser Reinlichkeit kommt etwas noch Reinlicheres hinzu, dein Hintern nämlich ist sauberer als ein Salzfässchen und in einem ganzen Jahr kackst du keine zehn Mal, und das ist härter als eine Bohne und Steinchen; falls du versuchst, es mit den Händen zu zerreiben und zu zerkleinern, kannst du dir niemals die Finger dabei schmutzig machen. Das sind große Vorteile, Furius, verachte sie nicht und denke nicht gering von ihnen, und hör auf, mich um 100 000 Sesterzen anzubetteln: Dir geht es gut genug. 24 Oh du, Blüte aus dem Geschlecht der Juventier, nicht nur derer, die es jetzt gibt, sondern all derer, die es gab und die es in weiteren Jahren noch geben wird – ich wollte, du hättest lieber die Schätze des Midas jenem Mann dort gegeben, der weder einen Sklaven hat noch Geld, als zuzulassen, dass du von jenem in dieser Weise geliebt wirst. „Was denn? Ist er denn kein schöner Mann?“, fragst du. Das schon: Aber dieser Schöne hat weder einen Sklaven noch Geld. Du kannst es drehen und wenden wie du willst: Weder einen Sklaven hat er noch Geld.
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Carmina
25 Cinaede Thalle, mollior cuniculi capillo vel anseris medullula vel imula oricilla vel pene languido senis situque araneoso, idemque Thalle turbida rapacior procella, cum † diva mulierarios ostendit oscitantes.† Remitte pallium mihi meum quod involasti, sudariumque Saetabum catagraphosque Thynos, inepte, quae palam soles habere tamquam avita. Quae nunc tuis ab unguibus reglutina et remitte, ne laneum latusculum manusque mollicellas inusta turpiter tibi flagella conscribillent, et insolenter aestues velut minuta magno deprensa navis in mari vesaniente vento.
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26 Furi, villula vostra non ad Austri flatus opposita est neque ad Favoni nec saevi Boreae aut Apheliotae, verum ad milia quindecim et ducentos. O ventum horribilem atque pestilentem.
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27 Minister vetuli puer Falerni inger mi calices amariores, ut lex Postumiae iubet magistrae ebriosa acina ebriosioris. At vos quo lubet hinc abite, lymphae, vini pernicies et ad severos migrate: hic merus est Thyonianus.
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28 Pisonis comites, cohors inanis aptis sarcinulis et expeditis, Verani optime tuque mi Fabulle, quid rerum geritis? Satisne cum isto vappa frigoraque et famem tulistis? Ecquidnam in tabulis patet lucelli expensum ut mihi qui meum secutus praetorem refero datum lucello?
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Gedichte
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25 Thallus, du Tunte, du bist weichlicher als die Haare eines Häschens oder das zarte Mark einer Gans oder ein kleines Ohrläppchen oder der schlaffe Schwanz eines Greises und Spinnweben; außerdem, Thallus, bist du räuberischer als ein Wirbelsturm, sobald die Mondgöttin zeigt, wie die Schürzenjäger gähnen – gib mir den Mantel zurück, den du mir gestohlen hast, und mein Schweißtuch aus Saetabis und die Tücher aus Bithynien, die du, Trottel, mit dir herumträgst, als hättest du sie vom Großvater geerbt. Löse deine Klauen davon und gib sie mir wieder, damit du nicht auf deine zarte Flanke und deine feinen Händchen Stockhiebe bekommst und sie dir Schandmale einbrennen und du, wie du es nicht gewohnt bist, wankst wie ein Schiffchen, das auf dem großen Meer vom tosenden Sturm erfasst wird. 26 Furius, deine kleine Villa ist nicht dem Südwind ausgesetzt, noch dem Westwind, noch dem wilden Nordwind oder dem Wind aus Südost, sondern fünfzehntausendzweihundert Sesterzen. Was für ein schrecklicher und ungesunder Wind! 27 Mundschenk, Knabe, mit dem alten Falernerwein füll mir die bitteren Becher, wie es das Gesetz der Herrin Postumia befiehlt, die betrunkener ist als eine trunkene Traube. Du aber, Wasser, hinfort mit dir, des Weines Verderben, und fließ hin zu den ernsten Leuten: Hier gibt es unvermischten Bacchuswein! 28 Begleiter des Piso, arme Kohorte, mit leichtem und bequemem Gepäck, mein bester Veranius und du, mein Fabullus, was bringt ihr mit heim? Habt ihr mit dieser trüben Tasse nicht schon genug Kälte und Hunger erlitten? Steht auf euren Tafeln als Gewinn nur das, was ihr ausgegeben habt? So, wie ich, als ich meinem Prätor folgte, nur als Gewinn verbuchen konnte, was ich ausgab?
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Carmina
O Memmi, bene me ac diu supinum tota ista trabe lentus irrumasti. Sed, quantum video, pari fuistis casu: nam nihilo minore verpa farti estis. Pete nobiles amicos. At vobis mala multa di deaeque dent, opprobria Romuli Remique.
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29 Quis hoc potest videre, quis potest pati, nisi impudicus et vorax et aleo, Mamurram habere quod comata Gallia habebat ante et ultima Britannia? Cinaede Romule, haec videbis et feres? Et ille nunc superbus et superfluens perambulabit omnium cubilia ut albulus columbus aut Adoneus? Cinaede Romule, haec videbis et feres? Es impudicus et vorax et aleo. Eone nomine, imperator unice, fuisti in ultima occidentis insula, ut ista vostra diffututa mentula ducenties comesset aut trecenties? Quid est alid sinistra liberalitas? Parum expatravit an parum helluatus est? Paterna prima lancinata sunt bona: secunda praeda Pontica: inde tertia Hibera, quam scit amnis aurifer Tagus. Nunc Galliae timetur et Britanniae? Quid hunc malum fovetis? Aut quid hic potest, nisi uncta devorare patrimonia? Eone nomine urbis o potissimae socer generque perdidistis omnia?
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30 Alfene immemor atque unanimis false sodalibus, iam te nil miseret, dure, tui dulcis amiculi? Iam me prodere, iam non dubitas fallere, perfide? Nec facta inpia fallacum hominum caelicolis placent: quae tu neglegis, ac me miserum deseris in malis.
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Gedichte
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Oh Memmius, als ich auf dem Rücken lag, da hast du mir deine ganze lange Latte ins Maul gestopft. Aber soweit ich sehen kann, war es bei euch genauso: Denn mit einer Rute, die um nichts kleiner war, seid ihr gestopft worden. Da suche sich einer noch edle Freunde … Leuten wie dir, Memmius, mögen die Götter und Göttinnen viel Böses antun, ihr seid eine Schande für Romulus und Remus. 29 Wer kann dies mitansehen, wer es erdulden, wenn nicht ein Lüstling, ein Vielfraß, ein Würfler, dass Mamurra hat, was Gallia comata einst besaß und das hinterste Britannien? Romulus, du Schwuchtel, da siehst du zu und tust nichts? Und der soll jetzt, ebenso übermütig wie überflüssig, durch alle Betten wandern, wie ein weißes Täubchen oder ein Adonis? Romulus, du Schwuchtel, da siehst du zu und tust nichts? Du bist ein Lüstling, ein Vielfraß, ein Würfler. Bist du nur zu dem Zweck, oh einzigartiger Feldherr, auf der entferntesten Insel des Westens gewesen, damit dieser zerbumste Schwanz zwanzig, dreißig Millionen verprasst? Was kann das anderes sein als fehlgeleitete Großzügigkeit? Oder hat er noch zu wenig verschwendet, zu wenig verprasst? Zuerst hat er die Güter des Vaters durchgebracht, als Zweites die Beute aus Pontus, dann, als Drittes, die aus Iberia, wie es der Gold tragende Tagus weiß. Nun sollen wir also auch um Gallien und Britannien fürchten? Warum begünstigt ihr diesen schlechten Menschen? Was kann er anderes als fette Vermögen verprassen? Zu dem Zweck, oh ihr, der mächtigsten Stadt Schwiegervater und Schwiegersohn, habt ihr alles zerstört? 30 Alfenus, der du deine einmütigen Gefährten vergisst und dich falsch verhältst, hast du gar kein Mitleid, du Harter, mit deinem treuen Freund? Mich zu verraten zögerst du nicht, mich zu täuschen, Verschlagener? Ruchlose menschliche Taten gefallen den Himmelsbewohnern nicht: Das ist dir egal und du lässt mich Armen im Unglück allein.
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Carmina
Eheu, quid faciant, dic, homines, cuive habeant fidem? Certe tute iubebas animam tradere, inique, me inducens in amorem, quasi tuta omnia mi forent. Idem nunc retrahis te ac tua dicta omnia factaque ventos inrita ferre ac nebulas aereas sinis. Si tu oblitus es, at dei meminerunt, meminit Fides, quae te ut paeniteat postmodo facti faciet tui.
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31 Paene insularum, Sirmio, insularumque ocelle, quascumque in liquentibus stagnis marique vasto fert uterque Neptunus, quam te libenter quamque laetus inviso, vix mi ipse credens Thyniam atque Bithynos liquisse campos et videre te in tuto. O quid solutis est beatius curis, cum mens onus reponit, ac peregrino labore fessi venimus larem ad nostrum desideratoque acquiescimus lecto? Hoc est, quod unum est pro laboribus tantis. Salve, o venusta Sirmio, atque ero gaude: gaudete vosque, lucidae lacus undae, ridete, quidquid est domi cachinnorum!
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32 Amabo, mea dulcis Ipsitilla, meae deliciae, mei lepores, iube ad te veniam meridiatum. Et si iusseris, illud adiuvato, nequis liminis obseret tabellam, neu tibi lubeat foras abire, sed domi maneas paresque nobis novem continuas fututiones. Verum, siquid ages, statim iubeto: nam pransus iaceo et satur supinus, pertundo tunicamque palliumque. 33 O furum optime balneariorum Vibenni pater, et cinaede fili
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Oh weh, was sollen Menschen, sag es mir, tun oder wem noch vertrauen? Du hast mich doch gebeten, dir mein Herz zu geben, Ungerechter, mich in die Liebe zu dir eingeführt, so als ob die Zukunft mir Sicherheit böte. Jetzt aber ziehst du dich zurück und lässt alles, was du gesagt und getan hast, von Winden und Nebeln forttragen, als wäre es niemals geschehen. Auch wenn du es vergessen hast: Die Götter erinnern sich daran und auch Fides, die später dafür sorgen wird, dass dich dein jetziges Handeln reut. 31 Von allen Halbinseln, oh Sirmio, und Inseln mir die liebste, ob in klaren Seen oder im weiten Meer, über das beides Neptun herrscht, wie gerne und wie froh erblicke ich dich, kann kaum glauben, dass ich Thynien und Bithyniens Felder verlassen habe und dich wohlbehalten anschauen darf. Oh, was ist größeres Glück als frei von Sorgen, wenn die Last von der Seele abfällt, von der Arbeit im Ausland erschöpft zum heimischen Herd zurückzukehren und sich im lang ersehnten Bett auszuruhen? Das ist es, was so großen Mühen entgegensteht. Sei gegrüßt, oh liebliches Sirmio, und freue dich mit deinem Herrn: Freut auch ihr euch, klare Wellen des Sees, lacht, wie viel an Gelächter in euch wohnt! 32 Bitte, meine süße Ipsitilla, meine Wonne, meine Hübsche, befiehl doch, dass ich heute zum Mittagsschlaf zu dir komme. Und wenn du das tust, dann hilf mit, dass keiner an der Schwelle die Tür verriegelt und dass es dich nicht überkommt, aus dem Haus zu gehen; sondern bleib zuhause und bereite uns neun Fickereien hintereinander. Wirklich, wenn du es willst, dann befiehl es mir sofort: Denn ich liege hier, gut gefrühstückt und satt, auf dem Rücken und durchstoße schon Unter- und Obergewand. 33 Oh du, bester der Diebe der Thermen, Vibennius, und auch dein Sohn, die Tunte
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Carmina
(nam dextra pater inquinatiore, culo filius est voraciore), cur non exilium malasque in oras itis, quandoquidem patris rapinae notae sunt populo, et nates pilosas, fili, non potes asse venditare.
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34 Dianae sumus in fide, puellae et pueri integri: Dianam pueri integri puellaeque canamus. O Latonia, maximi magna progenies Iovis, quam mater prope Deliam deposivit olivam, montium domina ut fores silvarumque virentium saltuumque reconditorum amniumque sonantum. Tu Lucina dolentibus Iuno dicta puerperis, tu potens Trivia et notho es dicta lumine Luna. Tu cursu, dea, menstruo metiens iter annuum rustica agricolae bonis tecta frugibus exples. Sis quocumque tibi placet sancta nomine, Romulique, antique ut solita es, bona sospites ope gentem.
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35 Poetae tenero, meo sodali velim Caecilio, papyre, dicas, Veronam veniat, Novi relinquens Comi moenia Lariumque litus: nam quasdam volo cogitationes amici accipiat sui meique.
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Gedichte
(denn die Rechte des Vaters ist ziemlich klebrig, der Arsch des Sohns ziemlich gefräßig), warum geht ihr nicht ins Exil in üble Länder, wo doch des Vaters Diebstähle dem Volk wohlbekannt sind und der Sohn seinen behaarten Hintern nicht für ein As mehr verkaufen kann? 34 Wir stehen unter Dianas Schutz, keusche Mädchen und Jungen: Zu Diana wollen wir, keusche Jungen und Mädchen, singen. Oh Latonidin, des großen Jupiter Tochter, die die Mutter auf Delos beim Ölbaum zur Welt brachte, auf dass du Herrin der Berge würdest und der grünenden Wälder und der verborgenen Täler und der tosenden Flüsse. Von Gebärenden in Not wirst du Juno Lucina gerufen, man nennt dich mächtige Trivia und Luna mit fremdem Licht. Durch deinen monatlichen Lauf, Göttin, misst du den Weg der Jahre ab und füllst den ländlichen Bauern die Scheune mit guten Früchten. Sei, mit welchem Namen es dir auch gefällt, gepriesen, und des Romulus Volk, wie du es seit alter Zeit zu tun pflegst, beschütze mit deinem guten Werk. 35 Dem zarten Dichter, meinem Gefährten Caecilius, sag bitte, oh Papyrus, er solle nach Verona kommen, die Mauern von Novum Comum und das Ufer des Larius verlassen: Denn ich möchte, dass er einige Überlegungen meinerseits und meines Freundes erhält.
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Carmina
Quare, si sapiet, viam vorabit, quamvis candida miliens puella euntem revocet manusque collo ambas iniciens roget morari, quae nunc, si mihi vera nuntiantur, illum deperit impotente amore: nam quo tempore legit incohatam Dindymi dominam, ex eo misellae ignes interiorem edunt medullam. Ignosco tibi, Sapphica puella Musa doctior: est enim venuste Magna Caecilii incohata Mater.
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36 Annales Volusi, cacata carta, votum solvite pro mea puella: nam sanctae Veneri Cupidinique vovit si sibi restitutus essem desissemque truces vibrare iambos, electissima pessimi poetae scripta tardipedi deo daturam infelicibus ustulanda lignis. Et haec pessima se puella vidit iocose lepide vovere divis. Nunc, o caeruleo creata ponto, quae sanctum Idalium Uriosque apertos quaeque Ancona Cnidumque harundinosam colis quaeque Amathunta quaeque Golgos quaeque Durrachium, Hadriae tabernam, acceptum face redditumque votum, si non illepidum neque invenustum est. At vos interea venite in ignem, pleni ruris et infacetiarum annales Volusi, cacata carta. 37 Salax taberna vosque contubernales, a pilleatis nona fratribus pila, solis putatis esse mentulas vobis, solis licere, quidquid est puellarum,
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Deshalb wird er, wenn er schlau ist, den Weg rasch hinter sich bringen, auch wenn das hübscheste Mädchen ihn tausendmal, wenn er aufbricht, zurückruft und, beide Arme um seinen Hals werfend, ihn bittet, er möge noch bleiben, das Mädchen, das jetzt, wenn man es mir wahrheitsgetreu berichtet hat, vor unerfüllter Liebe zu ihm vergeht: Denn seit damals, als sie den Anfang seiner Herrin vom Dindymus las, wird die Ärmste im Innersten von glühendem Verlangen verzehrt. Ich verzeihe dir, Mädchen, denn du bis gelehrter als die sapphische Muse: Denn Caecilius’ Gedicht über die Magna Mater beginnt tatsächlich höchst kunstvoll. 36 Annalen des Volusius, bekackte Blätter, löst für mein Mädchen ihr Gelübde ein: Denn der heiligen Venus und Cupido hat sie geschworen, dass sie, wenn ich zu ihr zurückkäme und aufhörte, mit bösartigen Jamben um mich zu werfen, die vorzüglichsten Schriften des übelsten aller Dichter dem lahmenden Gott überantworten und auf Unglücksholz verbrennen würde. Und dieses übelste aller Mädchen sah das als heiteren und gewitzten Schwur zu den Göttern an. Nun also, oh du aus dem blauen Meer Entstandene, die du das heilige Idalion, das offenstehende Urion, Ancona und das schilfreiche Knidos sowie Amathus und Golgoi und Dyracchium, die Taverne der Adria, bewohnst, mach, dass das Gelübde angenommen und eingelöst ist, wenn es dir nicht zu wenig heiter und gewitzt ist. Aber ihr, geht inzwischen ins Feuer, voll von Landmief und ungehobelten Versen, Annalen des Volusius, bekackte Blätter. 37 Aufgegeilte Taverne und ihr, die ihr da sauft, von den Filzhut-Brüdern aus gesehen am neunten Pfeiler, ihr glaubt wohl, nur ihr hättet Schwänze, nur euch sei es erlaubt, alles, was es dort an Mädchen gibt,
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confutuere et putare ceteros hircos? An continenter quod sedetis insulsi centum an ducenti non putatis ausurum me una ducentos irrumare sessores? Atqui putate: namque totius vobis frontem tabernae sopionibus scribam. Puella nam mi quae meo sinu fugit, amata tantum quantum amabitur nulla, pro qua mihi sunt magna bella pugnata, consedit istic. Hanc boni beatique omnes amatis, et quidem, quod indignum est, omnes pusilli et semitarii moechi; tu praeter omnes une de capillatis cuniculosae Celtiberiae fili Egnati, opaca quem bonum facit barba et dens Hibera defricatus urina.
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38 Male est, Cornifici, tuo Catullo, male est, me Hercule, et laboriose, et magis magis in dies et horas. Quem tu quod minimum facillimumque est, qua solatus es allocutione? Irascor tibi. Sic meos amores? Paulum quid libet allocutionis, maestius lacrimis Simonideis.
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39 Egnatius, quod candidos habet dentes, renidet usque quaque. Si ad rei ventum est subsellium, cum orator excitat fletum, renidet ille. Si ad pii rogum fili lugetur, orba cum flet unicum mater, renidet ille. Quidquid est, ubicumque est, quodcumque agit, renidet. Hunc habet morbum, neque elegantem, ut arbitror, neque urbanum. Quare monendum est te mihi, bone Egnati. Si urbanus esses aut Sabinus aut Tiburs aut pinguis Umber aut obesus Etruscus aut Lanuvinus ater atque dentatus
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zu ficken und die anderen Männer für Ziegenböcke zu halten? Nur weil ihr da geistlos herumsitzt zu hundert oder zweihundert, glaubt ihr, ich werde es nicht wagen, euch allen zweihundert, die ihr dasitzt, ins Maul zu ficken? Glaubt es nur: Denn ich werde die ganze Häuserfront eurer Taverne mit Schwänzen bemalen! Mein Mädchen nämlich ist von meinem Schoß geflohen, die ich so sehr liebte, wie keine sonst geliebt wird, für die ich schwere Gefechte austragen musste, und sitzt da bei euch. Ihr Guten und Glücklichen liebt sie alle nacheinander, und das, wo ihr doch – wie schändlich – allesamt Zwerge, Gassengänger und Ehebrecher seid; vor allen anderen du, Sohn der zotteligen Bewohner des kaninchenreichen Keltiberien, Egnatius, den ein schöner, dunkler Bart schmückt und Zähne, die er sich mit iberischem Urin putzt. 38 Schlecht geht es, oh Cornificius, deinem Catull, schlecht geht es ihm, beim Herkules!, wirklich übel und von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde schlechter. Mit was für einem (das wäre doch das Mindeste und ganz einfach!) Zuspruch hast du ihn getröstet? Ich bin sauer auf dich. So erwiderst du meine Liebe? Gib mir doch bitte ein ganz klein wenig Zuspruch, der trauriger ist als die Tränen des Simonides. 39 Weil Egnatius so weiße Zähne hat, lacht er überall und ständig. Wenn er vor die Bank der Angeklagten tritt, wo ein Redner alle gerade rührt, bis sie weinen: Er lacht. Wenn man trauert um eines braven Sohnes Leiche, wenn eine Mutter um ihren Einzigen weint: Er lacht. Was es auch ist, egal wo, was jemand auch tut: Er lacht. Das ist seine Krankheit, und die, wie ich meine, ist nicht gerade fein oder höflich. Und so, mein guter Egnatius, muss ich dich ermahnen: Wärst du aus Rom, aus Sabinum oder Tibur, ein dicker Umbrer oder ein fetter Etrusker, ein dunkelhäutiger Lavinier mit starken Zähnen
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Carmina
aut Transpadanus, ut meos quoque attingam, aut quilubet, qui puriter lavit dentes, tamen renidere usque quaque te nollem: nam risu inepto res ineptior nulla est. Nunc Celtiber es: Celtiberia in terra, quod quisque minxit, hoc sibi solet mane dentem atque russam defricare gingivam, ut quo iste vester expolitior dens est, hoc te amplius bibisse praedicet loti.
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40 Quaenam te mala mens, miselle Ravide, agit praecipitem in meos iambos? Quis deus tibi non bene advocatus vecordem parat excitare rixam? An ut pervenias in ora vulgi? Quid vis? Qua lubet esse notus optas? Eris, quandoquidem meos amores cum longa voluisti amare poena.
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41 Ameana puella defututa tota milia me decem poposcit, ista turpiculo puella naso, decoctoris amica Formiani. Propinqui, quibus est puella curae, amicos medicosque convocate: non est sana puella, nec rogare qualis sit, solet aes imaginosum.
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42 Adeste, hendecasyllabi, quot estis omnes, undique, quotquot estis omnes. Iocum me putat esse moecha turpis et negat mihi nostra reddituram pugillaria, si pati potestis. Persequamur eam, et reflagitemus. Quae sit, quaeritis? Illa, quam videtis turpe incedere, mimice ac moleste ridentem catuli ore Gallicani.
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oder ein Transpadaner (um auch meine Gegend zu nennen), oder stammtest du sonst woher, wo man sich die Zähne rein hält, wünschte ich dennoch nicht, du würdest immer nur lachen: Denn nichts ist eitler als Lachen über nichts. Nun bist du ein Keltiberer, und in Keltiberien ist man es doch gewohnt, sich Zähne und rötliches Zahnfleisch mit dem zu putzen, was man morgens beim Pissen von sich gibt. Daraus ist zu schließen: Je weißer deine Zähne sind, umso mehr Urin musst du geschluckt haben. 40 Welches böse Ansinnen treibt dich, armer kleiner Ravidus, kopfüber mitten in meine Jamben? Welcher von dir zur falschen Zeit angerufene Gott rüstet sich, einen so wahnwitzigen Streit zu entfachen? Ob du es so schaffst, dass das Volk dich im Mund führt? Was willst du? Willst du bekannt sein, ganz gleich, wie? Du wirst es sein, da du meine Geliebte lieben wolltest, und deine Strafe wird eine lange sein. 41 Ameana, das ausgebumste Mädchen, forderte 10 000 von mir; dabei hat das Mädchen eine hässliche kleine Nase und ist noch dazu die Freundin des verschwendungssüchtigen Mannes aus Formiae. Verwandte, die ihr euch um das Mädchen sorgt, ruft Freunde und Ärzte zusammen: Das Mädchen ist nicht ganz gesund, und fragt sie nicht, was ihr fehlt, das tut schon regelmäßig ihr Spiegel. 42 Steht mir bei, Hendekasyllaben, so viele, wie ihr seid! Von überallher, kommt alle zusammen! Eine dreckige Schlampe meint, ich sei ein Witz, und sie will mir nicht zurückgeben meine Schreibtäfelchen – ob ihr das ertragen könnt? Lasst sie uns verfolgen und die Tafeln zurückfordern. Ihr wollt wissen, wer sie ist? Die, die ihr da so schamlos einherschreiten seht, die wie eine Theatermaske schändlich lacht, mit dem Mund einer Gallierin.
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Carmina
Circumsistite eam, et reflagitate, „moecha putida, redde codicillos, redde, putida moecha, codicillos.“ Non assis facis? O lutum, lupanar, aut si perditius potest quid esse. Sed non est tamen hoc satis putandum. Quod si non aliud potest ruborem ferreo canis exprimamus ore, conclamate iterum altiore voce: „moecha putida, redde codicillos, redde, putida moecha, codicillos.“ Sed nil proficimus, nihil movetur. Mutanda est ratio modusque vobis, siquid proficere amplius potestis, „pudica et proba, redde codicillos.“
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43 Salve, nec minimo puella naso nec bello pede nec nigris ocellis nec longis digitis nec ore sicco nec sane nimis elegante lingua, decoctoris amica Formiani. Ten provincia narrat esse bellam? Tecum Lesbia nostra comparatur? O saeclum insapiens et infacetum!
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44 O funde noster seu Sabine seu Tiburs (nam te esse Tiburtem autumant, quibus non est cordi Catullum laedere, at quibus cordi est, quovis Sabinum pignore esse contendunt), sed seu Sabine sive verius Tiburs, fui libenter in tua suburbana villa malamque pectore exspui tussim, non inmerenti quam mihi meus venter, dum sumptuosas appeto, dedit, cenas. Nam, Sestianus dum volo esse conviva, orationem in Antium petitorem plenam veneni et pestilentiae legi. Hic me gravido frigida et frequens tussis
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Tretet um sie herum, und fordert sie zurück: „Dreckige Schlampe, gib die Schreibtafeln zurück, gib, dreckige Schlampe, die Schreibtafeln zurück!“ Das ist dir egal? Oh heilige Scheiße, Hurenhaus und was es sonst noch an Unflätigem gibt! Aber glaubt nicht, dass es damit genug ist! Wenn es sonst auch nichts nützt, wollen wir ihr wenigstens die Schamesröte ins Hundegesicht jagen. Ruft noch einmal und diesmal noch lauter: „Dreckige Schlampe, gib die Schreibtafeln zurück, gib, dreckige Schlampe, die Schreibtafeln zurück!“ Doch wir richten nichts damit aus, sie rührt sich kein Stück. Dann müssen wir wohl umdenken und eine neue Taktik verfolgen, vielleicht könnt ihr so mehr erreichen: „Aufrichtige und Ehrliche, gib die Schreibtafeln zurück!“ 43 Sei gegrüßt, Mädchen, das du weder die kleinste Nase hast, noch einen schönen Fuß, noch schwarze Augen, noch lange Finger, noch einen trockenen Mund, noch eine allzu vornehme Zunge, Freundin des verschwendungssüchtigen Mannes aus Formiae. Von dir erzählt man in der Provinz, du seist schön? Mit dir vergleicht man meine Lesbia? Oh dummer und unfeiner Zeitgeist! 44 Oh mein Landgut, seist du nun sabinisch oder tiburtinisch (denn als tiburtinisch bezeichnet dich, wem nicht daran liegt, Catull zu verletzen; wer dies aber möchte, der wettet darauf, dass du sabinisch bist), also ganz gleich, ob sabinisch oder (was eher stimmt!) tiburtinisch, gerne befand ich mich in deiner vorstädtischen Villa und vertrieb den üblen Husten aus meiner Brust, den ich – nicht ganz unverdient – meinem Bauch zu verdanken hatte, als ich einem verschwenderischen Mahl hinterherlief. Denn ich wollte bei Sestius sitzen und essen, musste aber zuvor seine Rede gegen Antius’ Bewerbung lesen, die voll ist mit Gift und üblen Gerüchen. Dabei habe ich mich erkältet und ein ständiger Husten
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Carmina
quassavit usque dum in tuum sinum fugi et me recuravi otioque et urtica. Quare refectus maximas tibi grates ago, meum quod non es ulta peccatum. Nec deprecor iam, si nefaria scripta Sesti recepso, quin gravidinem et tussim non mi, sed ipsi Sestio ferat frigus, qui tum vocat me, cum malum librum legi.
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45 Acmen Septimius suos amores tenens in gremio „mea“, inquit, „Acme, ni te perdite amo atque amare porro omnes sum assidue paratus annos quantum qui pote plurimum perire, solus in Libya Indiave tosta caesio veniam obvius leoni.“ Hoc ut dixit, Amor, sinistra ut ante, dextra sternuit approbationem. At Acme leviter caput reflectens et dulcis pueri ebrios ocellos illo purpureo ore saviata „sic“, inquit, „mea vita, Septimille, huic uni domino usque serviamus ut multo mihi maior acriorque ignis mollibus ardet in medullis.“ Hoc ut dixit, Amor sinistra ut ante, dextra sternuit approbationem. Nunc ab auspicio bono profecti mutuis animis amant amantur. Unam Septimius misellus Acmen mavolt quam Syrias Britanniasque: uno in Septimio fidelis Acme facit delicias libidinisque. Quis ullos homines beatiores vidit, quis Venerem auspicatiorem? 46 Iam ver egelidos refert tepores, iam caeli furor aequinoctialis
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schüttelte mich, bis ich in deinen Schoß floh und mich mit Ruhe und Brennnesseln auskurierte. Daher will ich dir jetzt, wo ich widerhergestellt bin, danken, denn du hast mir mein schlechtes Benehmen nicht vergolten. Und ich bitte nicht darum, wenn ich je noch einmal das üble Geschreibe des Sestius lesen werde, dass dann Schnupfen und Husten befällt – nicht mich, sondern Sestius selbst, der mich nur zu sich einlädt, wenn ich ein schlechtes Buch gelesen habe. 45 Als bei Septimius Acme, seine Geliebte, auf dem Schoß saß, sagte er: „Meine Acme, wenn ich dich nicht wie ein Verrückter liebe und nicht bereit bin, alle kommenden Jahre dich ununterbrochen zu lieben, so sehr, wie jemand überhaupt nur vor Liebe vergehen kann, will ich allein in Libyen oder im sonnenverbrannten Indien einem grauäugigen Löwen begegnen!“ Als er dies gesagt hatte, da gab Amor, wie zuvor von links, von rechts mit einem Nieser seine Zustimmung. Acme jedoch lehnte ihren Kopf ein wenig zurück und küsste die trunkenen Äuglein ihres süßen Knaben mit ihrem purpurnen Mund und sprach: „So, kleiner Septimius, mein Leben, dem einen Herrn wollen wir stets dienen, so wahr ein noch viel größeres und heftigeres Feuer brennt in meinen Eingeweiden.“ Als sie dies gesagt hatte, da gab Amor, wie zuvor von links, von rechts mit einem Nieser seine Zustimmung. Nun, nach einem so günstigen Vorzeichen, lieben sie einander genauso sehr, wie sie geliebt werden. Der arme Septimius zieht seine Acme Syrien und Britannien vor: Nur dem Septimius schenkt die treue Akme all ihre Liebesfreuden. Wer hat jemals glücklichere Menschen als diese beiden gesehen, wer eine Liebe mit besseren Vorzeichen? 46 Schon bringt der Frühling das warme Wetter zurück, schon legt sich der Sturm der Tag- und Nachtgleiche
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Carmina
iucundis Zephyri silescit auris. Linquantur Phrygii, Catulle, campi Nicaeaeque ager uber aestuosae: ad claras Asiae volemus urbes. Iam mens praetrepidans avet vagari, iam laeti studio pedes vigescunt. O dulces comitum valete coetus, longe quos simul a domo profectos diversae varie viae reportant.
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47 Porci et Socration, duae sinistrae Pisonis, scabies famesque mundi, vos Veraniolo meo et Fabullo verpus praeposuit Priapus ille? Vos convivia lauta sumptuose de die facitis? Mei sodales quaerunt in trivio vocationes?
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48 Mellitos oculos tuos, Iuventi, siquis me sinat usque basiare, usque ad milia basiem trecenta, nec umquam videar satur futurus, non si densior aridis aristis sit nostrae seges osculationis.
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49 Disertissime Romuli nepotum, quot sunt quotque fuere, Marce Tulli, quotque post aliis erunt in annis, gratias tibi maximas Catullus agit pessimus omnium poeta, tanto pessimus omnium poeta quanto tu optimus omnium patronus. 50 Hesterno, Licini, die otiosi multum lusimus in meis tabellis, ut convenerat esse delicatos.
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Gedichte
und macht der angenehmen Brise des Zephyrus Platz. Lass die phrygischen Felder hinter dir, Catull, und das fruchtbare Land des heißen Nikaia! Lass uns zu den berühmten Städten Asiens eilen! Schon möchte man, zitternd vor Erregung, reisen, schon eilen die Füße, wiedererstarkt durch die Vorfreude. Lebe denn wohl, mein lieber Kreis der Freunde, die wir gleichzeitig von Zuhause aufgebrochen sind und doch auf verschiedenen Wegen und auf verschiedene Weise zurückkehren. 47 Porcius und Sokration, ihr linken Hände des Piso, ihr Räude und Hungersnot der Welt, meinem kleinen Veranius und meinem kleinen Fabullus hat euch jener Priapus-Schwanz vorgezogen? Ihr gebt euch stattlichen Gelagen hin, und das bei helllichtem Tag? Und meine Gefährten betteln an der Weggabelung darum, dass sie einer einlädt? 48 Deine süßen Augen, Juventius, wenn mich doch nur irgendjemand sie küssen ließe, bis zu dreihunderttausendmal würde ich sie küssen; ich glaube, ich würde niemals satt werden, nicht einmal, wenn sie dichter als reife Ähren wäre, die Saat unserer Küsse. 49 Oh du, beredtster von Romulus’ Enkeln, Marcus Tullius, beredtster aller, die es gab und gibt und die es in kommenden Jahrhunderten noch geben wird: Allerherzlichsten Dank schickt dir Catull, der schlechteste Dichter von allen, so sehr der schlechteste Dichter, wie du der beste aller Anwälte bist. 50 Gestern, Licinius, hatten wir nichts zu tun, und so spielten wir mit meinen Tafeln herum, denn wir hatten beschlossen, uns zu amüsieren.
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Carmina
Scribens versiculos uterque nostrum ludebat numero modo hoc modo illoc, reddens mutua per iocum atque vinum. Atque illinc abii tuo lepore incensus, Licini, facetiisque, ut nec me miserum cibus iuvaret, nec somnus tegeret quiete ocellos, sed toto indomitus furore lecto versarer cupiens videre lucem, ut tecum loquerer, simulque ut essem. At defessa labore membra postquam semimortua lectulo iacebant, hoc iucunde tibi poema feci, ex quo perspiceres meum dolorem. Nunc audax cave sis precesque nostras, oramus, cave despuas, ocelle, ne poenas Nemesis reposcat a te. Est vemens dea: laedere hanc caveto.
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51 Ille mi par esse deo videtur, ille, si fas est, superare diuos, qui sedens adversus identidem te spectat et audit dulce ridentem, misero quod omnes eripit sensus mihi: nam simul te, Lesbia, aspexi, nihil est super mi in pectore vocis. Lingua sed torpet, tenuis sub artus flamma demanat, sonitu suopte tintinant aures geminae, teguntur lumina nocte. Otium, Catulle, tibi molestum est: otio exsultas nimiumque gestis: otium et reges prius et beatas perdidit urbes. 52 Quid est, Catulle? Quid moraris emori? Sella in curuli struma Nonius sedet,
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Beide schrieben wir einander kleine Verse, bald in diesem, bald in jenem Versmaß, und wir reichten sie uns herüber, lachten und tranken Wein. Und als ich ging, war ich so von deiner Anmut entflammt, Licinius, und von deiner witzigen Art, dass mich Armen weder die Speise erfreute noch der Schlaf mit seiner Ruhe die Äuglein schloss, sondern hellwach wälzte ich mich im Bett hin und her, begierig darauf, das Tageslicht zu sehen, dass ich wieder mit dir sprechen, mit dir zusammen sein könnte. Aber nachdem meine von der Aufregung müden Glieder halbtot im Bettchen lagen, da habe ich dieses Gedicht, mein Lieber, für dich gemacht; daraus erfährst du von meinem Schmerz. Nun sei nicht zu hart mit mir, und meine Bitte (das wünsche ich mir) verschmähe nicht, mein Augenstern, damit sich Nemesis nicht an dir rächt. Sie ist eine strenge Göttin; hüte dich, sie zu beleidigen. 51 Jener Mann scheint mir einem Gott gleich, ja, wenn man das sagen darf, noch glücklicher zu sein als die Götter, der dir gegenüber sitzt und dich immer wieder ansieht und dir zuhört. Wie du so süß lachst, das hat mir armem Kerl alle Sinne geraubt: Denn wenn ich dich, Lesbia, anschaue, so bleibt mir das Wort im Halse stecken. Meine Zunge ist gelähmt, durch die Glieder fährt mir ein heißer Schauer, mir rauschen die Ohren, und die Augen bedeckt doppelte Nacht. Nichtstun, Catull, bekommt dir nicht. Das Nichtstun macht dich zum verrückten Schwärmer. Durch Nichtstun sind bereits Könige und ihre glücklichen Reiche untergegangen. 52 Was ist los, Catull? Was zögerst du zu sterben? Auf dem curulischen Stuhl sitzt der Nonius mit seinem Kropf,
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Carmina
per consulatum perierat Vatinius: quid est, Catulle? Quid moraris emori? 53 Risi nescio quem modo e corona, qui cum mirifice Vatiniana meus crimina Calvus explicasset, admirans ait haec manusque tollens, „di magni, salaputium disertum!“
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54 Otonis caput oppido est pusillum, Heri rustica semilauta crura, subtile et leve peditum Libonis, si non omnia, displicere vellem tibi et Sufficio, seni recocto. Irascere iterum meis iambis inmerentibus, unice imperator.
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55 Oramus, si forte non molestum est, demonstres, ubi sint tuae tenebrae. Te in campo quaesivimus minore, te in circo, te in omnibus libellis, te in templo summi Iovis sacrato. In Magni simul ambulatione femellas omnes, amice, prendi, quas vultu vidi tamen sereno. „Avete!“, et te sic ipse flagitabam, „Camerium mihi, pessimae puellae!“ Quaedam inquit, nudum reducta pectus, „en hic in roseis latet papillis.“ Sed te iam ferre Herculei labos est. Tanto ten fastu negas, amice? Dic nobis ubi sis futurus, ede audacter, committe crede luci. Nunc te lacteolae tenent puellae? Si linguam clauso tenes in ore, fructus proicies amoris omnes: verbosa gaudet Venus loquella.
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Vatinius leistet zum Konsulat Meineide: Was ist los, Catull? Was zögerst du zu sterben? 53 Eben musste ich doch lachen, als einer aus unserem Kreise aufstand, nachdem mein lieber Calvus so trefflich des Vatinius Schuld erklärt hatte, und sprach, die Hände zum Himmel erhebend: „Große Götter, so ein kleiner Schwanz und doch so ein Mundwerk!“ 54 Oto hat einen winzigen Kopf, Herus hat bäurische, nur halb gewaschene Schenkel, Libo furzt ganz vorsichtig und zurückhaltend – wenn nicht alles an ihnen, dann hätte ich gern, dass wenigstens das dir und Sufficius missfällt, dem sechsmal Ausgekochten! Aufs Neue wirst du auf meine Jamben böse sein, die es nicht verdienen, oh einziger Imperator! 55 Bitte, wenn es keine Umstände macht, zeig mir, wo dein Versteck ist! Ich habe dich auf dem kleineren Feld gesucht, im Circus, in allen Buchhandlungen, im Tempel des geheiligten obersten Jupiter. Im Säulengang des Magnus habe ich alle Fräuleins, mein Freund, gepackt, deren Gesicht mir freundlich erschien. „Hallo“, sagte ich und forderte so deine Herausgabe: „Her mit meinem Camerius, übelste Mädchen!“ Eine entblößte ihre Brust und sagte: „Hier versteckt er sich, zwischen meinen rosigen Brustwarzen!“ Wahrlich, es ist eine Herkulesarbeit, dich zu ertragen. Mit solcher Verachtung verleugnest du mich, mein Freund? Sag mir, wo du dich demnächst aufhältst, heraus damit, vertrau es mir an, bring es ans Licht! Halten Mädchen dich in ihren Armen, weiß wie Milch, gefangen? Wenn du deine Zunge im Mund eingesperrt hältst, vergeudest du alle Früchte der Liebe: Venus freut sich über wortreiche Gespräche.
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Carmina
Vel si vis licet obseres palatum, dum nostri sis particeps amoris. 56 O rem ridiculam, Cato, et iocosam dignamque auribus et tuo cachinno. Ride, quidquid amas, Cato, Catullum; res est ridicula et nimis iocosa. Deprendi modo pupulum puellae crusantem: hunc ego, si placet Dionae, protelo rigido meo cecidi.
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57 Pulchre convenit improbis cinaedis, Mamurrae pathicoque Caesarique. Nec mirum: maculae pares utrisque, urbana altera et illa Formiana, impressae resident nec eluentur: morbosi pariter, gemelli utrique, uno in lectulo erudituli ambo, non hic quam ille magis vorax adulter, rivales socii puellularum. Pulcre convenit improbis cinaedis.
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Caeli, Lesbia nostra, Lesbia illa, illa Lesbia, quam Catullus unam plus quam se atque suos amavit omnes, nunc in quadriviis et angiportis glubit magnanimi Remi nepotes.
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58b Non custos si fingar ille Cretum, non si Pegaseo ferar volatu, non Rhesi niveae citaeque bigae; non Ladas ego pinnipesve Perseus, adde huc plumipedas volatilesque, ventorumque simul require cursum, quos iunctos, Cameri, mihi dicares: defessus tamen omnibus medullis
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Oder, wenn du willst, verschließe deinen Gaumen, wenn ich dich an meiner Liebe teilhaben lassen darf. 56 Oh Cato, eine amüsante und lustige Sache, würdig deiner Ohren und deines Gelächters. Lache, Cato, so sehr, wie du Catull liebst, die Angelegenheit ist wirklich amüsant überaus lustig. Gerade erwischte ich den Sklaven meines Mädchens beim Wichsen: Den habe ich, bei Dione!, mit meiner steifen Rute bestraft. 57 Die schamlosen Schwuchteln passen sehr schön zusammen, die Tunte Mamurra und Caesar. Kein Wunder: Beide haben die gleichen Makel, der eine welche aus der Großstadt, der andere welche aus Formiae; die sind ihnen eingegraben und man kann sie nicht abwaschen: Beide gleich krank, darin Zwillingsbrüder, beide in einem Bett ausgebildet, ein Ehebrecher nicht gieriger als der andere, Kampfgenossen und Rivalen zugleich bei den Mädchen. Bei diesen schamlosen Schwuchteln kommt sehr schön eins zum anderen. 58a Oh Caelius – meine Lesbia, jene Lesbia, jene Lesbia, die Catull als Einzige liebte, mehr als sich selbst und alle die Seinen, treibt es jetzt an Straßenecken und in engen Gassen mit den Nachfahren des großherzigen Remus. 58b Weder, wenn ich zum Wächter von Kreta würde, noch, wenn Pegasus beim Fliegen mich trüge oder die zwei schnellen weißen Pferde des Rhesos, noch, wäre ich ein Ladas oder ein flügelfüßiger Perseus, füge hinzu, was sonst noch am Fuß gefiedert und schnell ist, fang zugleich noch den Lauf der Winde ein – wenn du das alles zusammentätest und mir gäbest, Camerius, wäre ich dennoch im tiefsten Innern schlapp
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Carmina
et multis languoribus peresus essem te mihi, amice, quaeritando. 59 Bononiensis Rufa Rufulum fellat uxor Meneni, saepe quam in sepulcretis vidistis ipso rapere de rogo cenam, cum devolutum ex igne prosequens panem ab semiraso tunderetur ustore.
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Num te leaena montibus Libystinis aut Scylla latrans infima inguinum parte tam mente dura procreavit ac taetra, ut supplicis vocem in novissimo casu contemptam haberes, a, nimis fero corde?
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und kaputt von der ganzen Müdigkeit, die die Suche nach dir, mein Freund, mir bereitet. 59 Rufa aus Bononia bläst dem kleinen Rufus einen, die Ehefrau des Menenus, die man oft in Grabstätten und vom Scheiterhaufen ihr Abendessen rauben sieht, wenn sie einem Brot nachläuft, das aus dem Feuer herausrollt und sich dafür vom halb rasierten Leichenbestatter stoßen lässt. 60 Hat dich etwa eine Löwin in den libyschen Bergen oder die Skylla mit ihrem Unterleib aus bellenden Hunden geboren, dass dein Geist so hart und hässlich ist, dass du aufs Neue meine Rufe des Flehens mit deinem, ach, grausamen Herzen missachtest?
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Lange Gedichte 61 Collis o Heliconii cultor, Uraniae genus, qui rapis teneram ad virum virginem, o Hymenaee Hymen, o Hymen Hymenaee, cinge tempora floribus suave olentis amaraci, flammeum cape, laetus huc huc veni niveo gerens luteum pede soccum, excitusque hilari die nuptialia concinens voce carmina tinnula pelle humum pedibus, manu pineam quate taedam. Namque Vinia Manlio qualis Idalium colens venit ad Phrygium Venus iudicem, bona cum bona nubet alite virgo, floridis velut enitens myrtus Asia ramulis, quos Hamadryades deae ludicrum sibi roscido nutriunt umore. Quare age huc aditum ferens perge linquere Thespiae rupis Aonios specus, nympha quos super inrigat frigerans Aganippe, ac domum dominam voca coniugis cupidam novi, mentem amore revinciens, ut tenax hedera huc et huc arborem implicat errans. Vosque item simul, integrae virgines, quibus advenit
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Lange Gedichte 61 Oh du, des Berges Helikon Bewohner, Sohn der Urania, der du die zarte Jungfrau dem Mann zuführst, oh Hymenaeus, Hymen, oh Hymen, Hymenaeus, winde Blüten um deine Schläfen, die süß nach Majoran duften, nimm den Schleier, komm fröhlich hierher, hierher, trage am Fuß den goldgelben Schuh, an diesem freudigen Tag herbeigerufen, stimme in die Hochzeitslieder mit ein mit heller Stimme, stampfe den Boden mit dem Fuß, mit der Hand schwenke die Fackel aus Fichtenholz! Denn Vinia wird Manlius angetraut, so wie die idalische Venus zum phrygischen Richter kommt, mit gutem Vorzeichen, die gute Jungfrau, so wie mit blühenden Zweigen die asische Myrte strahlt, die die göttlichen Hamadryaden sich zum Zeitvertreib mit Tautropfen benetzen. Deshalb komm her, lass zurück des thespischen Felsens aonische Höhle, über welchen die Nymphe Aganippe kühlend das Wasser schickt, und rufe die Herrin zum Haus, die den jungen Gatten begehrt, fessle ihren Verstand mit der Liebe, wie der hartnäckige Efeu hierhin und dorthin wandernd den Baum umschlingt. Ihr aber, unangetastete Jungfrauen, denen euch der
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par dies, agite in modum dicite: „O Hymenaee Hymen, o Hymen Hymenaee“, ut libentius, audiens se citarier ad suum munus, huc aditum ferat dux bonae Veneris, boni coniugator amoris. Quis deus magis est amatis petendus amantibus? Quem colent homines magis caelitum? O Hymenaee Hymen, o Hymen Hymenaee. Te suis tremulus parens invocat, tibi virgines zonula soluunt sinus, te timens cupida novus captat aure maritus. Tu fero iuveni in manus floridam ipse puellulam dedis a gremio suae matris, o Hymenaee Hymen, o Hymen Hymenaee. Nil potest sine te Venus fama quod bona conprobet, commodi capere: at potest te volente. Quis huic deo conpararier ausit? Nulla quit sine te domus liberos dare, nec parens stirpe nitier: at potest te volente. Quis huic deo conpararier ausit? Quae tuis careat sacris, non queat dare praesides terra finibus: at queat te volente. Quis huic deo conpararier ausit? Claustra pandite ianuae, virgo ades. Viden ut faces
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gleiche Tag ins Haus steht, stimmt mit ein und sagt: „Oh Hymenaeus, Hymen, oh Hymen, Hymenaeus!“, auf dass er, wenn er es hört, sich lieber schnell aufmacht zu seinem Amt, hierher seine Schritte lenkt, der Anführer der guten Venus, der Vereiniger guter Liebe. Welchen Gott ersehnen die Geliebten und die Liebenden mehr? Wen von den Himmlischen beten sie mehr an? Oh Hymenaeus, Hymen, oh Hymen, Hymenaeus. Dich ruft der zittrige Greis für die Seinen an, dir lösen die Jungfrauen das Gürtelchen am Gewand, dir hört der ängstlich-begierige frisch Vermählte ganz genau zu. Du gibst dem jungen Mann in die Hände das erblühende Mädchen, direkt aus dem Schoß seiner Mutter, oh Hymenaeus, Hymen, oh Hymen, Hymenaeus. Venus kann sich ohne dich nichts, das einen guten Ruf besitzt, verschaffen: Aber sie kann es, wenn du es willst. Wer würde mit diesem Gott sich zu vergleichen wagen? Kein Haus kann ohne dich Kinder schenken, kein Vater sich auf seinen Stamm stützen: Aber er kann es, wenn du es willst. Wer würde mit diesem Gott sich zu vergleichen wagen? Ein Land, dem deine Weihe fehlt, könnte keine Beschützer hervorbringen für seine Grenzen; aber es kann es, wenn du es willst. Wer würde mit diesem Gott sich zu vergleichen wagen? Öffnet die Riegel der Haustür! Jungfrau, du bist da. Siehst du, wie die Fackeln
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splendidas quatiunt comas? *** *** *** *** tardet ingenuus pudor; quem tamen magis audiens flet, quod ire necesse est. Flere desine. Non tibi, Aurunculeia, periculum est nequa femina pulchrior clarum ab Oceano diem viderit venientem. Talis in vario solet divitis domini hortulo stare flos hyacinthinus. Sed moraris, abit dies: prodeas, nova nupta. Prodeas, nova nupta, si iam videtur, et audias nostra verba. Viden? Faces aureas quatiunt comas: prodeas, nova nupta. Non tuus levis in mala deditus vir adultera probra turpia persequens a tuis teneris volet secubare papillis, lenta sed velut adsitas vitis implicat arbores, implicabitur in tuum conplexum. Sed abit dies: prodeas, nova nupta. O cubile, quod omnibus *** *** *** candido pede lecti, quae tuo veniunt ero, quanta gaudia, quae vaga
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ihr leuchtendes Haar schütteln? *** *** *** *** Edle Scham soll [sie nicht] zurückhalten; Dennoch hört sie auf diese und weint, weil sie nun gehen muss. Hör auf zu weinen! Es besteht keine Gefahr, dass je eine schönere Frau als du, Aurunculeia, den hellen Tag vom Meer her kommen sieht. So pflegt im bunten Gärtlein eines reichen Hausherrn die Hyazinthe zu stehen. Aber du zögerst, der Tag schwindet: Zeig dich, neu Vermählte! Zeig dich, neu Vermählte, wenn es dir passend erscheint, und höre unsere Worte. Siehst du? Die Fackeln schütteln ihr goldenes Haar: Zeig dich, neu Vermählte! Niemals wird sich dein Mann einer leichtfertigen Ehebrecherin hingeben, schändlicher Unzucht nachjagen und weit weg von deinen zarten Brüsten sich betten wollen, stattdessen wird er sich, wie die Rebe sich an den nahen Baum schmiegt, in deine Arme begeben. Aber der Tag schwindet: Zeig dich, neu Vermählte! Oh Hochzeitsbett, das du allen *** *** *** durch den weißen Fuß des Bettes, was erwartet den Herrn, über welche Lust, ob in der gesetzlosen
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nocte quae medio die gaudeat! Sed abit dies: prodeas, nova nupta. Tollite, o pueri, faces: flammeum video venire. Ite, concinite in modum: „Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee.“ Ne diu taceat procax Fescennina iocatio nec nuces pueris neget desertum domini audiens concubinus amorem. Da nuces pueris, iners concubine: satis diu lusisti nucibus: lubet iam servire Talasio. Concubine, nuces da. Sordebant tibi villicae, concubine, hodie atque heri, nunc tuum cinerarius tondet os. Miser, a miser concubine, nuces da. Diceris male te a tuis unguentate glabris marite abstinere: sed abstine. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Scimus haec tibi quae licent sola cognita: sed marito ista non eadem licent. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Nupta, tu quoque quae tuus vir petet cave ne neges, ni petitum aliunde eat. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. En tibi domus ut potens et beata viri tui.
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Nacht, ob am Mittag, wird er sich freuen! Aber der Tag schwindet: Zeig dich, neu Vermählte! Jungen, nehmt die Fackeln: Ich sehe, dass sich der rote Brautschleier naht. Auf jetzt, kommt und singt mit: „Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus!“ Nicht länger schweigen soll der dreiste Scherz aus Fescennium, und der Geliebte des Hausherrn soll den Jungen nicht die Nüsse versagen, wenn er hört, dass er dessen Liebe verloren hat. Gib den Jungen die Nüsse, untätiger Geliebter: Lange genug hast du mit den Nüssen gespielt, nun sollst du dem Gott der Ehe dienen. Geliebter, gib die Nüsse her. Die Mägde widerten dich an, Geliebter, heute wie gestern, jetzt aber schert dir der Frisiersklave das Gesicht. Armer, oh armer Geliebter, gib die Nüsse her. Man sagt, dass du nur schwerlich, gesalbter Bräutigam, von haarlosen Knaben die Finger lässt: Doch bleib ihnen fern! Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Wir wissen, dass du allein weißt, was Erlaubt ist; aber dem Ehemann ist solcherlei nicht erlaubt. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Oh Braut, auch du solltest deinerseits nicht versagen, was der Mann begehrt, damit er es sich nicht woanders sucht. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Siehe, hier ist das Haus deines Mannes, wie mächtig und schön es ist!
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Carmina
Quae tibi sine serviat (io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee), usque dum tremulum movens cana tempus anilitas omnia omnibus annuit. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Transfer omine cum bono limen aureolos pedes, rasilemque subi forem. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Aspice, intus ut accubans vir tuus Tyrio in toro totus immineat tibi. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Illi non minus ac tibi pectore uritur intimo flamma, sed penite magis. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Mitte brachiolum teres, praetextate, puellulae: iam cubile adeat viri. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Vos bonae senibus viris cognitae bene feminae collocate puellulam. Io Hymen Hymenaee io, io Hymen Hymenaee. Iam licet venias, marite: uxor in thalamo tibi est ore floridulo nitens, alba parthenice velut luteumve papaver. At, marite, ita me iuvent caelites, nihilo minus
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Es soll dir stets dienen (ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus), bis das zittrige, graue Alter dich bewegt, so dass du allem stets zustimmend zunickst. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Setze nun, alles Gute mitbringend, die goldenen Füße über die Türschwelle, durchschreite das polierte Tor. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Sieh nur, wie drinnen dein Mann auf tyrischen Polstern ruht und dich mit Leib und Seele erwartet. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Ihm brennt nicht etwa weniger als dir im Innersten der Brust die Flamme, sondern sogar noch mehr. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Gib den schlanken Arm des zarten Mädchens frei, junger Mann, jetzt soll sie sich dem Bett ihres Mannes nähern. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Ihr guten Frauen, die euch eure greisen Männer noch gut erkennen, legt das zarte Mädchen ins Bett. Ach Hymen, Hymenaeus, ach Hymen, Hymenaeus. Jetzt darfst du kommen, Ehemann: Deine Frau ist im Schlafzimmer und ihr blühendes Gesicht strahlt gleichzeitig weiß wie Jungfernkraut und rot wie Klatschmohn. Aber, Ehemann, so wahr mir die Götter gnädig sind, nicht weniger
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pulcher es, neque te Venus neglegit. Sed abit dies: perge, ne remorare. Non diu remoratus es: iam venis. Bona te Venus iuverit quoniam palam quod cupis cupis et bonum non abscondis amorem. Ille pulveris Africi siderumque micantium subducat numerum prius, qui vostri numerare volt multa milia ludi. Ludite ut lubet, et brevi liberos date. Non decet tam vetus sine liberis nomen esse, sed indidem semper ingenerari. Torquatus volo parvulus matris e gremio suae porrigens teneras manus dulce rideat ad patrem semihiante labello. Sit suo similis patri Manlio et facile insciis noscitetur ab omnibus, et pudicitiam suae matris indicet ore. Talis illius a bona matre laus genus adprobet qualis unica ab optima matre Telemacho manet fama Penelopeo. Claudite ostia, virgines: lusimus satis. At, boni coniuges, bene vivite et munere assiduo valentem exercete iuventam.
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schön bist du, Venus hat dich nicht vernachlässigt. Aber der Tag schwindet: Mach dich auf, zögere nicht! Du hast nicht lange gezögert: Schon kommst du. Die gute Venus möge dir beistehen, da du nun offen begehrst, was du begehrst, und die aufrichtige Liebe nicht länger versteckst. Afrikas Sandkörner oder die leuchtenden Sterne könnte eher noch jemand zählen als dass er zählen könnte, auf wie viele tausend Arten ihr euer Liebesspiel treibt. Treibt es, wie es euch beliebt, und schenkt uns bald Kinder. Es gehört sich nicht, dass ein so alter Name ohne Kinder bleibt, stattdessen soll er sich ständig erneuern. Kleiner Torquatus, ich will, dass du aus der Mutter Schoß deine zarten Hände ausstreckst und den Vater süß anlachst mit halb geöffneten Lippen. Er soll seinem Vater, Manlius, ähnlich sein, und leicht von allen, die ihn nicht kennen, als dessen Sohn erkannt werden, und die Schamhaftigkeit seiner Mutter soll man ihm am Gesicht ablesen. Seine Herkunft von einer guten Mutter soll sein Ruf bezeugen, so wie der Ruf, der Telemachos von der besten aller Mütter bleibt, ihm, dem Sohn der Penelope. Schließt die Tore, Jungfrauen: Wir haben genug gescherzt. Aber ihr, gute Ehemänner, lebt wohl und übt sie beständig aus, eure kräftige Jugend.
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62 Vesper adest, iuvenes, consurgite: Vesper Olympo exspectata diu vix tandem lumina tollit. Surgere iam tempus, iam pingues linquere mensas; iam veniet virgo, iam dicetur Hymenaeus. Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee! Cernitis, innuptae, iuvenes? Consurgite contra: nimirum Oetaeos ostendit Noctifer ignes. Sic certe est; viden ut perniciter exsiluere? Non temere exsiluere; canent quod vincere par est. Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee! Non facilis nobis, aequales, palma parata est. Aspicite, innuptae secum ut meditata requirunt. Non frustra meditantur, habent memorabile quod sit. Nec mirum, penitus quae tota mente laborant. Nos alio mentes, alio divisimus aures: iure igitur vincemur; amat victoria curam. Quare nunc animos saltem convertite vestros, dicere iam incipient, iam respondere decebit. Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee! Hespere, qui caelo fertur crudelior ignis? Qui natam possis complexu avellere matris, complexu matris retinentem avellere natam, et iuveni ardenti castam donare puellam. Quid faciunt hostes capta crudelius urbe? Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee! Hespere, quis caelo lucet iucundior ignis? Qui desponsa tua firmes conubia flamma, quae pepigere viri, pepigerunt ante parentes nec iunxere prius quam se tuus extulit ardor. Quid datur a divis felici optatius hora. Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee! Hesperus e nobis, aequales, abstulit unam *** *** namque tuo adventu vigilat custodia semper. Nocte latent fures, quos idem saepe revertens, Hespere, mutato comprendis nomine Eous. At lubet innuptis ficto te carpere questu. Quid tum, si carpunt, tacita quem mente requirunt?
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62 Der Abend ist da, junge Männer, erhebt euch: am Olymp steigt endlich das lange erwartete Licht des Abends empor. Es ist Zeit, sich zu von den reich gedeckten Tischen zu erheben; schon nähert sich die Jungfrau, schon wird der Hymenaeus gesungen: Oh Hymen, oh Hymenaeus, oh Hymen, komm, Hymenaeus! Seht ihr die jungen Männer, ihr ledigen Mädchen? Erhebt euch nun auch ihr: Natürlich zeigt der Nachtbringer sein Feuer über dem Oeta. So viel ist sicher; siehst du, wie rasch sie aufgesprungen sind? Sie sind nicht planlos aufgesprungen; sie werden so singen, dass sie siegen. Oh Hymen, oh Hymenaeus, oh Hymen, komm, Hymenaeus! Ihr Mittstreiter, nicht ganz einfach bietet sich uns die Siegespalme dar. Seht nur, wie die Mädchen sich auf ihr Erdachtes besinnen. Sie besinnen sich nicht umsonst, was sie haben, ist denkwürdig. Kein Wunder, mühen sie sich doch ab mit all ihrem Geist. Wir wenden den Geist hierhin, die Ohren dorthin: Mit Recht werden wir darum besiegt werden; der Sieg liebt die Mühe. Richtet deshalb wenigstens jetzt eure Aufmerksamkeit auf die Mädchen, sie beginnen gleich, und darauf müssen wir antworten. Oh Hymen, oh Hymenaeus, oh Hymen, komm, Hymenaeus! Hesperus, gibt es ein grausameres Feuer, das den Himmel durchfährt? Du kannst das Mädchen der Umarmung der Mutter entreißen, der Umarmung der Mutter das sich wehrende Mädchen entreißen und dem brennenden Jüngling das keusche Mädchen zuführen. Sind die Feinde grausamer, wenn sie eine Stadt erobern? Hymen, oh Hymenaeus, Hymen, komm her, oh Hymenaeus! Hesperus, gibt es ein schöneres Feuer, das am Himmel scheint? Mit deinem Schein bekräftigst du die Eheschwüre, die zuvor die Ehemänner und die Väter geschmiedet haben, aber nicht zur Verbindung führen konnten, bevor dein heller Glanz aufging. Was geben die Götter, was wünschenswerter wäre als diese glückliche Stunde? Oh Hymen, oh Hymenaeus, oh Hymen, komm, Hymenaeus! Ihr Mädchen, eine der Unsrigen hat der Abendstern geraubt, *** *** denn wenn du erscheinst, ist der Wächter stets wach. Nachts verstecken sich die Diebe, doch wenn du zurückkehrst, Abendstern, ergreifst du sie unter anderem Namen, als Morgenstern. Den Mädchen gefällt es, dich mit ausgedachten Klagen zu beschimpfen. Was aber, wenn sie beschimpfen, wen sie doch tief drinnen ersehnen?
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Carmina
Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee! Ut flos in saeptis secretus nascitur hortis, ignotus pecori, nullo convolsus aratro, quem mulcent aurae, firmat sol, educat imber; multi illum pueri, multae optavere puellae: idem cum tenui carptus defloruit ungui, nulli illum pueri, nullae optavere puellae: sic virgo, dum intacta manet, dum cara suis est; cum castum amisit polluto corpore florem, nec pueris iucunda manet, nec cara puellis. Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee! Ut vidua in nudo vitis quae nascitur arvo numquam se extollit, numquam mitem educat uvam, sed tenerum prono deflectens pondere corpus iam iam contingit summum radice flagellum, hanc nulli agricolae, nulli accoluere iuvenci; at si forte eadem est ulmo coniuncta marito, multi illam agricolae, multi accoluere iuvenci. Sic virgo dum intacta manet, dum inculta senescit; cum par conubium maturo tempore adepta est, cara viro magis et minus est invisa parenti. Et tu ne pugna cum tali coniuge virgo. Non aequum est pugnare, pater cui tradidit ipse, ipse pater cum matre, quibus parere necesse est. Virginitas non tota tua est, ex parte parentum est, tertia pars patris est, pars est data tertia matri, tertia sola tua est: noli pugnare duobus, qui genero suo iura simul cum dote dederunt. Hymen o Hymenaee, Hymen ades o Hymenaee!
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63 Super alta vectus Attis celeri rate maria Phrygium ut nemus citato cupide pede tetigit adiitque opaca silvis redimita loca deae, stimulatus ibi furenti rabie, vagus animi, devolvit ilei acuto sibi pondera silice. Itaque ut relicta sensit sibi membra sine viro, etiam recente terrae sola sanguine maculans, niveis citata cepit manibus leve typanum, typanum tuum, Cybebes, tua, mater, initia,
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Oh Hymen, oh Hymenaeus, oh Hymen, komm, Hymenaeus! Wie eine geheime Blume, die im geschützten Garten wächst, unbemerkt von den Tieren, von keinem Pflug herausgerissen, aue Lüfte streicheln sie, die Sonne stärkt sie, der Regen zieht sie groß. Viele Jungen begehren sie und viele Mädchen: Wenn sie aber von zarter Hand gepflückt worden ist und verwelkt, begehrt sie kein Junge und kein Mädchen mehr: So bleibt auch das Mädchen, solange es unberührt ist, den Seinen lieb; wenn sie aber beschmutzt ist und die Blüte Keuschheit verloren hat, freut sich kein Junge und kein Mädchen mehr über sie. Oh Hymen, oh Hymenaeus, oh Hymen, komm, Hymenaeus! Wie eine einsame Rebe auf einem kahlen Acker wächst, die sich niemals erhebt und niemals eine süße Traube hervorbringt, sondern ihren zarten Köper vornüberneigt und schon fast mit ihrer Spitze ihre Wurzel berührt – um die schert sich kein Bauer, kein Jüngling. Wenn aber dieselbe Rebe mit einer Ulme vermählt wird, schert sich manch ein Bauer, manch ein Jüngling um sie. So ist es mit der Frau – unberührt altert sie, ohne dass man sich um sie kümmert; wenn sie zur rechten Zeit den richtigen Ehemann gefunden hat, ist sie dem Mann lieb und teuer und fällt dem Vater weniger zur Last. Und jetzt wehre dich nicht länger gegen den Mann, Jungfrau. Es kommt dir nicht zu, dich gegen den zu wehren, dem dein Vater dich gab, ja sogar Vater und Mutter, und denen muss man gehorchen. Deine Jungfräulichkeit gehört nicht dir allein, zum Teil gehört sie deinen Eltern, ein Drittel dem Vater, ein Drittel der Mutter, dir selbst gehört auch nur ein Drittel: Bekämpfe nicht die beiden, die ihrem Schwiegersohn zusammen mit der Mitgift ihre Anteile übergaben. Oh Hymen, oh Hymenaeus, oh Hymen, komm, Hymenaeus! 63 Übers weite Meer war Attis mit schnellem Schiff gefahren, und sobald er begierigen Fußes den phrygischen Wald und die schattigen, umwaldeten Orte der Göttin betrat, wurde er von wilder Raserei gepackt, wirr im Geiste schnitt er sich mit einem scharfen Stein das Gemächt ab. Als sie merkte, dass ihre Glieder der Männlichkeit entbehrten und sie mit frischem Blut den Erdboden befleckte, ergriff sie schnell mit bleichen Händen das Tympanon, das Tympanon, dein, Kybele, Initiationsinstrument,
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quatiensque terga tauri teneris cava digitis canere haec suis adorta est tremebunda comitibus: „Agite ite ad alta, Gallae, Cybeles nemora simul, simul ite, Dindymenae dominae vaga pecora, aliena quae petentes velut exules loca sectam meam executae duce me mihi comites rapidum salum tulistis truculentaque pelagi et corpus evirastis Veneris nimio odio, hilarate erae citatis erroribus animum. Mora tarda mente cedat: simul ite, sequimini Phrygiam ad domum Cybebes, Phrygia ad nemora deae, ubi cymbalum sonat vox, ubi tympana reboant, tibicen ubi canit Phryx curvo grave calamo, ubi capita Maenades vi iaciunt ederigerae, ubi sacra sancta acutis ululatibus agitant, ubi suevit illa divae volitare vaga cohors: quo nos decet citatis celerare tripudiis.“ Simul haec comitibus Attis cecinit notha mulier, thiasus repente linguis trepidantibus ululat, leve tympanum remugit, cava cymbala recrepant, viridem citus adit Idam properante pede chorus. Furibunda simul anhelans vaga vadit, animam agens, comitata tympano Attis per opaca nemora dux, veluti iuvenca vitans onus indomita iugi: rapidae ducem secuntur Gallae properipedem. Itaque ut domum Cybebes tetigere lassulae, nimio e labore somnum capiunt sine Cerere. Piger his labante languore oculos sopor operit: abit in quiete molli rabidus furor animi. Sed ubi oris aurei Sol radiantibus oculis lustravit aetherem album, sola dura, mare ferum, pepulitque noctis umbras vegetis sonipedibus, ibi somnus excitam Attin fugiens citus abiit: trepidante eam recepit dea Pasithea sinu. Ita de quiete molli rapida sine rabie simul ipsa pectore Attis sua facta recoluit, liquidaque mente vidit sine quis ubique foret, animo aestuante rusum reditum ad vada tetulit. Ibi maria vasta visens lacrimantibus oculis, patriam allocuta maesta est ita voce miseriter.
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und sie schlug die Stierhaut über dem Hohlraum mit zarten Fingern, und sie sang vor Erregung zitternd, den Gefährtinnen folgend: „Auf, Gallae, zu Kybeles hoch gelegenen Wäldern, alle zugleich, auf, alle zugleich, ihr wilden Schafe der Herrin von Dindyma, die ihr euch wie Verbannte einem fremden Ort nähert, als Gefährtinnen mir folgend mit mir als Anführerin die reißenden salzigen Fluten und das wilde Meer ertrugt und in unbändigem Hass auf Venus eure Körper entmanntet, erfreut nun das Herz unserer Herrin durch rastloses Umherlaufen! Träges Abwarten entschwinde dem Sinn. Auf, folgt mir, auf zur phrygischen Heimstatt der Kybele, zum phrygischen Wald der Göttin, wo die Kymbala ertönt, wo das Tympanon widerhallt, wo der phrygische Flötenspieler auf seinem geschwungenen Rohr bläst, wo die Mänaden kräftig die mit Efeu geschmückten Köpfe schütteln, wo sie mit lautem Geschrei ihre heiligen Riten begehen, wo das ungebundene Gefolge der Göttin sich zu bewegen pflegt, dorthin sollten wir jetzt schnellen Fußes eilen.“ Als Attis, die unechte Frau, dieses zu ihren Gefährtinnen gesungen hatte, da schrie der Reigen auf einmal mit bebender Zunge auf, das leichte Tympanon erklang, die hohle Kymbala hallte wider, zum grünen Ida läuft eilenden Fußes der schnelle Chor. Rasend und irre geht Attis, mühsam atmend und keuchend, als Anführerin, begleitet vom Tympanon, durch die düsteren Wälder, wie eine junge Kuh, die, noch nicht ans Joch gewohnt, die Last flieht. Die schnellen Gallae folgen ihrer flinkfüßigen Anführerin. Als sie todmüde sie im Haus der Kybele eintreffen, finden sie aus der Anstrengung heraus ohne Ceres’ Gaben den Schlaf. Träger Schlaf schließt ihnen, schwankend vor Müdigkeit, die Augen: Die wilde Raserei ihres Geistes schwindet in sanfter Ruhe dahin. Aber als Sol mit goldenem Antlitz und glühenden Augen den weißen Himmel, den harten Erdboden, das wogende Meer erhellte und mit seinen lebhaften Pferden die nächtlichen Schatten vertrieb, verließ die erregte Attis schnell der Schlaf; mit pochendem Busen empfing sie Pasithea. Als Attis so aus sanfter Ruhe, ohne rasende Wut, sich in ihrem Herzen über ihre Taten klarwurde und mit wachem Blick sah, was ihr von nun an fehlen würde und wo sie war, war ihr Geist aufgewühlt, und sie wand sich zurück zum Ufer. Dort blickte sie mit tränenden Augen auf das leere Meer hinaus, rief traurig ihre Heimat an mit kläglicher Stimme:
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„Patria o mei creatrix, patria o mea genetrix, ego quam miser relinquens, dominos ut erifugae famuli solent, ad Idae tetuli nemora pedem, ut apud nivem et ferarum gelida stabula forem et earum omnia adirem furibunda latibula: ubinam aut quibus locis te positam, patria, reor? Cupit ipsa pupula ad te sibi derigere aciem, rabie fera carens dum breve tempus animus est. Egone a mea remota haec ferar in nemora domo? Patria, bonis, amicis, genitoribus abero? Abero foro, palaestra, stadio et gyminasiis? Miser a miser, querendum est etiam atque etiam, anime. Quod enim genus figurae est, ego non quod obierim? Ego mulier, ego adulescens, ego ephebus, ego puer, ego gymnasii fui flos, ego eram decus olei: mihi ianuae frequentes, mihi limina tepida, mihi floridis corollis redimita domus erat, linquendum ubi esset orto mihi sole cubiculum. Ego nunc deum ministra et Cybeles famula ferar? Ego Maenas, ego mei pars, ego vir sterilis ero? Ego viridis algida Idae nive amicta loca colam? Ego vitam agam sub altis Phrygiae columinibus, ubi cerva silvicultrix, ubi aper nemorivagus? Iam iam dolet quod egi, iam iamque paenitet.“ Roseis ut huic labellis sonitus citus abiit, geminas deorum ad aures nova nuntia referens, ibi iuncta iuga resolvens Cybele leonibus laevumque pecoris hostem stimulans ita loquitur: „Agedum“, inquit, „age ferox i, fac ut hunc furor agitet, fac uti furoris ictu reditum in nemora ferat, mea libere nimis qui fugere imperia cupit. Age caede terga cauda, tua verbera patere, face cuncta mugienti fremitu loca retonent, rutilam ferox torosa cervice quate iubam.“ Ait haec minax Cybebe religatque iuga manu. Ferus ipse sese adhortans rapidum incitat animo, vadit, fremit, refringit virgulta pede vago. At ubi umida albicantis loca litoris adiit, teneramque vidit Attin prope marmora pelagi, facit impetum: illa demens fugit in nemora fera:
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„Oh Heimat, meine Erschafferin, meine Mutter, die ich Armer verließ wie es Diener, die vor ihren Herren fliehen, zu tun pflegen, ich lenkte den Fuß zu den Wäldern des Ida, auf dass ich dort beim Schnee und der eisigen Behausung wilder Tiere wäre und mich, verrückt geworden, deren Verstecken nähern würde: Wo sollte ich sonst an dich denken, Heimat, an welchem Ort? Mein Auge wünscht wie von selbst sich mit scharfem Blick auf dich zu richten, während dieser kurzen Zeit jetzt, wo der Geist von Wahnsinn frei ist. Werde ich also, fern von zuhause, in diese Wälder geworfen? Fernab sein der Heimat, den Lieben, den Freunden, den Eltern? Fernab sein dem Forum, dem Ringplatz, dem Stadion und den Sportplätzen? Mein armes, oh, mein armes Herz, wieder und wieder musst du klagen! Was für eine Gestalt kann es geben, die ich nicht bereits angenommen hätte? Frau, Jüngling, junger Mann, Knabe, die Blüte des Sportplatzes war ich, die Zierde des Öls: Ständig war jemand an der Tür, die Schwelle war niemals kalt, mein Haus war mit Blumenkränzen geschmückt, wenn ich bei Sonnenaufgang mein Schlafzimmer verließ. Nun soll ich Helferin und Dienerin der Kybele werden? Ich, eine Mänade, nur ein Teil meiner selbst, ein unfruchtbarer Mann soll ich sein? Ich soll auf dem grünen Ida wohnen, von kaltem Schnee eingehüllt? Ich soll hier unter den hohen Gipfeln Phrygiens leben, wo der Hirsch im Wald wohnt, das Wildschwein durch das Dickicht streift? Schon, schon schmerzt mich, was ich getan habe; schon, schon bereue ich es.“ Als ihren rosigen Lippen dieser bewegte Ausruf entfuhr, der den Ohren der Götter Neuigkeiten brachte, da spannte Kybele ihren Löwen das Joch ab und stachelte den linkischen Viehräuber an, indem sie so sprach: „Los jetzt“, sprach sie, „auf, Wilder, geh, mach, dass ihn der Wahnsinn packt, mach, dass er, vom Stachel des Wahnsinns getrieben, in den Wald zurückkehrt, er, der allzu frei meiner Herrschaft fliehen will. Los, schlage dich mit dem eigenen Schwanz, ertrage ihn wie eine Peitsche, mach, dass überall dein dröhnendes Gebrüll widerhallt, schüttele deine rote Mähne am fleischigen Hals, Wilder!“ Das rief drohend Kybele, als sie mit der Hand das Joch löste. Das Raubtier stachelt sich selbst an und erregt sich im Geiste, schreitet voran, zittert, zertritt das Gebüsch mit unsteten Pfoten. Aber als es den feuchten, weiß glänzenden Strand erreicht und die zarte Attis sieht, nahe dem Spiegel des Meers, greift es sie an: Sie flieht, von Sinnen, in die unwirtlichen Wälder.
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ibi semper omne vitae spatium famula fuit. Dea magna, dea Cybebe, dea domina Dindymi, procul a mea tuus sit furor omnis, era, domo: alios age incitatos, alios age rabidos.
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64 Peliaco quondam prognatae vertice pinus dicuntur liquidas Neptuni nasse per undas Phasidos ad fluctus et fines Aeetaeos, cum lecti iuvenes, Argivae robora pubis, auratam optantes Colchis avertere pellem ausi sunt vada salsa cita decurrere puppi, caerula verrentes abiegnis aequora palmis. Diva quibus retinens in summis urbibus arces ipsa levi fecit volitantem flamine currum, pinea coniungens inflexae texta carinae. Illa rudem cursu prima imbuit Amphitriten, quae simul ac rostro ventosum proscidit aequor, tortaque remigio spumis incanduit unda, emersere freti candenti e gurgite voltus, aequoreae monstrum Nereides admirantes. Illa, atque haud alia, viderunt luce marinas mortales oculi nudato corpore Nymphas nutricum tenus extantes e gurgite cano. Tum Thetidis Peleus incensus fertur amore, tum Thetis humanos non despexit Hymenaeos, tum Thetidi pater ipse iugandum Pelea sensit. O nimis optato saeclorum tempore nati heroes, salvete, deum gens, o bona matrum progenies, salvete! *** vos ego saepe meo, vos carmine conpellabo, teque adeo eximie taedis felicibus aucte, Thessaliae columen, Peleu, cui Iuppiter ipse, ipse suos divom genitor concessit amores. Tene Thetis tenuit pulcherrima, te Nereine? Tene suam Tethys concessit ducere neptem, Oceanusque mari totum qui amplectitur orbem? Quae simul optatae finito tempore luces advenere, domum conventu tota frequentat Thessalia, oppletur laetanti regia coetu:
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Dort war sie ihr ganzes Leben lang, als Dienerin. Große Göttin, Göttin Kybele, göttliche Herrin von Dindyma, dein Zorn bleibe weit entfernt, Herrin, von meinem Haus: Errege bloß andere, treibe andere in den Wahnsinn! 64 Einst schwamm die Fichte vom Gipfel des Pelion, so heißt es, durch die Wogen des Neptun zu den Fluten des Phasis und bis zum Land des Aietes, als ausgewählte Jünglinge, das Herz der argivischen Jugend, in der Hoffnung, den Kolchern das Goldene Vlies zu entreißen, es wagten, mit schnellem Schiff über die salzige See zu fahren und das blaue Meer mit Rudern aus Fichte schlugen. Ihnen schuf die Göttin, die in den höchsten Städten über die Burgen wacht, persönlich das Fahrzeug, das bereits mit leichtem Wind dahinsegelt, indem sie Fichtenbalken zu einem geschwungenen Kiel zusammenfügte. Dieses Schiff benetzte als erstes mit seiner Fahrt die rohe Amphitrite, und als es mit seinem Bug das windreiche Meer durchpflügte und das von Rudern aufgewühlte Wasser mit weißem Schaum aufflog, da erhoben die Nereiden ihre Köpfe aus dem weißen Strudel des Meers und bewunderten das Monstrum. An jenem Tag sahen sterbliche Augen, was sie nie zuvor gesehen hatten: Meeresnymphen, die nackt bis zu den Brüsten aus dem hellen Wasser schauten. Da entbrannte, wie es heißt, Peleus in Liebe zu Thetis, da stimmte auch Thetis der Hochzeit mit einem Sterblichen zu, da erlaubte auch der Vater, dass Peleus sich mit Thetis verband. Oh ihr, die ihr in überaus glücklichen Zeiten geboren seid, Heroen, ich grüße euch, Göttergeschlecht, oh guter Mütter Kinder, ich grüße euch! Euch, ja euch will ich in meinem Lied besingen und vor allem dich, der durch die glückliche Ehe begünstigt wurde, Peleus, Stütze Thessaliens, dem Jupiter, der Vater der Götter, die Liebe zugestand. Hat dich Thetis im Arm gehalten, die schönste Tochter des Nereus? Haben dich Tethys und Okeanos, der mit dem Meer den ganzen Erdkreis umfasst, ihre Enkelin heiraten lassen? Als zur festgelegten Zeit der ersehnte Tag gekommen ist, da kommt im Haus ganz Thessalien zusammen, und der Königspalast wird von einer fröhlichen Menschenmenge gefüllt;
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dona ferunt prae se, declarant gaudia voltu. Deseritur Cieros, linquunt Phthiotica Tempe, Crannonisque domos ac moenia Larisaea, Pharsalum coeunt, Pharsalia tecta frequentant. Rura colit nemo, mollescunt colla iuvencis, non humilis curvis purgatur vinea rastris, non glaebam prono convellit vomere taurus, non falx attenuat frondatorum arboris umbram, squalida desertis rubigo infertur aratris. Ipsius at sedes, quacumque opulenta recessit regia, fulgenti splendent auro atque argento. Candet ebur soliis, collucent pocula mensae, tota domus gaudet regali splendida gaza. Pulvinar vero divae geniale locatur sedibus in mediis, Indo quod dente politum tincta tegit roseo conchyli purpura fuco. Haec vestis priscis hominum variata figuris heroum mira virtutes indicat arte. Namque fluentisono prospectans litore Diae Thesea cedentem celeri cum classe tuetur indomitos in corde gerens Ariadna furores, necdum etiam sese quae visit visere credit, utpote fallaci quae tunc primum excita somno desertam in sola miseram se cernat harena. Immemor at iuvenis fugiens pellit vada remis, inrita ventosae linquens promissa procellae. Quem procul ex alga maestis Minois ocellis saxea ut effigies bacchantis prospicit, eheu, prospicit et magnis curarum fluctuat undis, non flavo retinens subtilem vertice mitram, non contecta levi laniatum pectus amictu, non tereti strophio lactentes vincta papillas, omnia quae toto delapsa e corpore passim ipsius ante pedes fluctus salis alludebant. Sed neque tum mitrae neque tum fluitantis amictus illa vicem curans toto ex te pectore, Theseu, toto animo tota pendebat perdita mente. A misera, assiduis quam luctibus exsternavit spinosas Erycina serens in pectore curas illa tempestate, ferox quo ex tempore Theseus
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sie tragen Geschenke vor sich her, und ihren Gesichtern liest man die Freude ab. Kieros liegt verwaist da, sie verlassen das phthiotische Tempetal, die Häuser von Krannon, die Mauern von Larissa; sie kommen in Pharsalos zusammen, bevölkern den pharsalischen Palast. Keiner bestellt mehr das Land, die Nacken der jungen Kühe erschlaffen, weder wird der niedrige Weinstock mit krummen Hacken gesäubert, noch zerpflügt der Stier mit vorwärts geneigtem Pflug die Erde, noch lichtet die Sichel den Schatten des Laubes am Baum, trockener Rost befällt die nun verlassenen Pflüge. Aber der Königssitz, soweit er sich prunkend erstreckte, glänzte von strahlendem Gold und Silber, an den Sesseln leuchtete Elfenbein, auf den Tischen strahlten Pokale, der ganze Palast erfreute sich des königlichen Schatzes. Das Hochzeitsbett der Göttin aber befand sich in der Mitte des Palasts, mit indischem Elfenbein verziert und bedeckt von einer Decke, die mit Purpursaft gefärbt war. Dieser Stoff war verziert mit den Figuren früherer Menschen und erzählte mit großer Kunstfertigkeit von der Tugend der Heroen. Denn jetzt sieht Ariadne am wellenumtosten Strand von Dia Theseus mit seiner schnellen Flotte davonsegeln, und im Herzen trägt sie unstillbaren Zorn, und sie glaubt nicht, was sie wirklich gesehen hat, da sie soeben vom trügerischen Schlaf erwacht ist und sich allein und verlassen am einsamen Strand wiederfindet. Der flüchtige Jüngling denkt nicht an sie und schlägt mit den Rudern das Meer, seine nichtigen Versprechen überlässt er dem stürmischen Wind. Aus dem Seegras sieht ihm mit traurigen Augen die Tochter des Minos hinterher, wie das steinerne Abbild einer Bacchantin, sie sieht ihm hinterher und wird bewegt durch große Wellen von Sorge; nicht länger hält sich auf ihrem blonden Haupt die Kopfbinde, nicht länger bedeckt ihre Brust der leichte Stoff des zerrissenen Kleids, nicht länger sind ihre milchreichen Brüste vom Busenband eingeschnürt – all das war ihr vom ganzen Körper hinabgeglitten, und die salzige Flut spielte damit vor ihren Füßen. Aber sie scherte sich nicht um die Kopfbinde, nicht um ihr schwimmendes Gewand, sondern hing ganz allein nur an dir, Theseus, mit ihrem ganzen Herzen, mit ihrer ganzen Seele, mit ihrem ganzem Verstand. Ach, die Unglückliche – andauerndes Leid verstörte sie, seit Erycina ihr dornige Sorgen ins Herz pflanzte, zu jener Zeit, als der wilde Theseus,
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egressus curvis e litoribus Piraei attigit iniusti regis Gortynia tecta. Nam perhibent olim crudeli peste coactam Androgeoneae poenas exsolvere caedis electos iuvenes simul et decus innuptarum Cecropiam solitam esse dapem dare Minotauro. Quis angusta malis cum moenia vexarentur, ipse suum Theseus pro caris corpus Athenis proicere optavit potius quam talia Cretam funera Cecropiae nec funera portarentur, atque ita nave levi nitens ac lenibus auris magnanimum ad Minoa venit sedesque superbas. Hunc simul ac cupido conspexit lumine virgo regia, quam suaves expirans castus odores lectulus in molli complexu matris alebat, quales Eurotae praecingunt flumina myrtos aurave distinctos educit verna colores, non prius ex illo flagrantia declinavit lumina, quam cuncto concepit corpore flammam funditus atque imis exarsit tota medullis. Heu misere exagitans immiti corde furores sancte puer, curis hominum qui gaudia misces, quaeque regis Golgos quaeque Idalium frondosum, qualibus incensam iactastis mente puellam fluctibus in flavo saepe hospite suspirantem! Quantos illa tulit languenti corde timores! Quanto saepe magis fulgore expalluit auri, cum saevum cupiens contra contendere monstrum aut mortem appeteret Theseus aut praemia laudis. Non ingrata tamen frustra munuscula divis promittens tacito succepit vota labello. Nam velut in summo quatientem bracchia Tauro quercum aut conigeram sudanti cortice pinum indomitus turbo contorquens flamine robur eruit (illa procul radicitus exturbata prona cadit, lateque comis obvia frangens), sic domito saevum prostravit corpore Theseus nequiquam vanis iactantem cornua ventis. Inde pedem sospes multa cum laude reflexit errabunda regens tenui vestigia filo,
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von den gewundenen Gestaden Piräus’ aufgebrochen, am Palast des grausamen Herrschers in Gortys eintraf. Denn einst, so heißt es, sei Kekrops’ Stadt durch eine furchtbare Seuche gezwungen gewesen, für Androgeus’ Tod zu büßen, indem sie ausgewählte Jünglinge und die schönsten Mädchen zu festgelegten Zeitpunkten dem Minotaurus zum Fraß vorwarfen. Als die damals noch kleine Stadt von solchem Unglück geplagt war, wollte Theseus sich selbst für sein teures Athen ausliefern – eher als dass man aus dem Lande des Kekrops noch weitere Tote, die noch nicht tot waren, nach Kreta sandte, und so kam er auf einem leichtem Schiff mit sanftem Wind zum hochmütigen Minos und seinem prächtigen Palast. Sofort sah ihn mit sehnsüchtigem Blick die Königstochter, die noch das züchtige Bettchen, von lieblichen Düften umgeben, in der zarten Umarmung ihrer Mutter hütete, wie die Myrten den Fluss Eurotas umgeben oder die Luft des Frühlings zarte Farben hervorbringt – da wandte sie nicht eher ihre glühenden Augen von ihm ab, als dass sie das Feuer mit ihrem ganzen Körper aufnahm und sie ganz und gar erglühte bis tief in ihr Innerstes. Ach du, der du mit grausamem Herzen zum Wahnsinn anstachelst, heiliger Knabe, der du die Freuden der Menschen mit Leid mischst, und auch du, die du Golgoi beherrschst und das bewaldete Idalion: In welche wilden Stürme triebt ihr das entflammte Mädchen, das oft sehnsuchtsvoll nach dem blonden Gast seufzte! Wie viele Ängste trug sie im schwermütigen Herzen! Wie oft wurde sie blasser als schimmerndes Gold, als Theseus gegen das entsetzliche Monster kämpfen wollte, wobei ihn entweder der Tod oder glorreicher Ruhm erwartete. Aber nicht ohne Dank und umsonst sandte sie den Göttern kleine Gaben, brachte ihnen mit schweigender Lippe Gelübde dar. Denn wie auf dem hohen Tauros die in ihren Zweigen erzitternde Eiche oder die zapfenreiche, Harz schwitzende Fichte ein wilder Wirbelsturm schnell im Kreis dreht und sie herausreißt – entwurzelt fällt sie mit dem Wind vornüber und zerbricht, was ihr im Weg steht –, genauso zähmte Theseus den Körper des Monsters und streckte es nieder, das vergeblich mit seinen Hörnern in die Luft stieß. Unversehrt ging er, von großem Ruhm begleitet, zurück, den irrenden Schritt von einem dünnem Faden geleitet,
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ne labyrintheis e flexibus egredientem tecti frustraretur inobservabilis error. Sed quid ego a primo digressus carmine plura commemorem, ut linquens genitoris filia voltum, ut consanguineae amplexum, ut denique matris, quae misera in gnata deperdita laetabatur, omnibus his Thesei dulcem praeoptarit amorem, aut ut vecta ratis spumosa ad litora Diae venerit, aut ut eam devinctam lumina somno liquerit immemori discedens pectore coniunx? Saepe illam perhibent ardenti corde furentem clarisonas imo fudisse e pectore voces, ac tum praeruptos tristem conscendere montes, unde aciem in pelagi vastos protenderet aestus, tum tremuli salis adversas procurrere in undas mollia nudatae tollentem tegmina surae, atque haec extremis maestam dixisse querelis, frigidulos udo singultus ore cientem. „Sicine me patriis avectam, perfide, ab aris, perfide, deserto liquisti in litore, Theseu? Sicine discedens neglecto numine divum immemor, a, devota domum periuria portas? Nullane res potuit crudelis flectere mentis consilium? Tibi nulla fuit clementia praesto, immite ut nostri vellet miserescere pectus? At non haec quondam blanda promissa dedisti voce mihi, non haec miserae sperare iubebas, sed conubia laeta, sed optatos Hymenaeos: quae cuncta aerii discerpunt irrita venti. Tum iam nulla viro iuranti femina credat, nulla viri speret sermones esse fideles; quis dum aliquid cupiens animus praegestit apisci, nil metuunt iurare, nihil promittere parcunt: sed simul ac cupidae mentis satiata libido est, dicta nihil metuere, nihil periuria curant. Certe ego te in medio versantem turbine leti eripui, et potius germanum amittere crevi, quam tibi fallaci supremo in tempore dessem. Pro quo dilaceranda feris dabor alitibusque praeda, neque iniecta tumulabor mortua terra.
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damit er nicht von den Windungen des Labyrinths und dem unerkennbaren Irrweg im Palast getäuscht würde. Aber was schweife ich ab vom Beginn der Geschichte? Ich will daran erinnern, wie die Tochter den Blick des Vaters verließ, die Umarmung der Schwester und die der Mutter, die sich immer über ihre dem Untergang geweihte Tochter gefreut hatte, all dies gab sie auf für die Liebe zu Theseus; oder wie sie mit dem Schiff am wellenumschäumten Strand von Naxos eintraf oder wie ihr Ehemann, als der Schlaf ihr die Augen zuhielt, sie verließ und wegging, mit einem Herz, das sich nicht mehr erinnerte. Oft, so sagt man, habe sie mit ihrem wahnsinnig glühenden Herzen aus ihrem tiefstem Inneren heraus laute Rufe erklingen lassen, und dann habe das traurige Mädchen steile Klippen erklommen, von wo sie über das weite Meer blicken konnte, dann wieder sei sie den sich kräuselnden Wellen entgegengelaufen, das weiche Gewand lüftend und die Waden sich entblößend. Und dann brach sie, erschüttert, in schlimme Klagen aus, das Gesicht nass von Tränen, kalt ihr Antlitz, schluchzte sie: „So hast du mich, du Verräter, von den Altären des Vaters entführt, oh Theseus, du Verräter, und hast mich am einsamen Strand zurückgelassen? So also verlässt du mich und missachtest den göttlichen Entschluss, alles Vergessender, ach, und bringst den verwünschten Meineid mit heim? Konnte denn nichts den Entschluss deines grausamen Verstands ändern? War in dir denn nichts mehr an Mitleid, so dass sich dein raues Herz meiner hätte erbarmen können? Das ist es gewiss nicht, was du mir damals mit deiner schmeichelnden Stimme versprochen hast, das hast du mich Arme nicht erwarten lassen, sondern eine glückliche Ehe, die Hochzeitsgesänge, die ich mir so wünschte: Diese reißen jetzt all die stürmischen Winde entzwei. Keine Frau sollte einem Mann glauben, der ihr etwas schwört, und auch nicht hoffen, dass seine Reden der Wahrheit entsprechen. Wenn ihr Herz sich auf etwas freut und es zu erlangen wünscht, schrecken die Männer nicht davor zurück, zu schwören und zu versprechen: Aber sobald sie die Lust des begierigen Geistes gestillt haben, haben sie keine Ehrfurcht vorm Gesagten, ist ihnen ihr Meineid egal. Klar ist: Ich habe dich aus den tödlichen Wirren errettet und hätte lieber meinen Bruder verloren, als dich, du Betrüger, in der größten Not im Stich zu lassen. Zum Dank dafür werde ich nun wilden Tieren und Vögeln zur Beute gegeben, und wenn ich tot bin, werde ich nicht in der Erde bestattet.
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Quaenam te genuit sola sub rupe leaena? Quod mare conceptum spumantibus expuit undis? Quae Syrtis, quae Scylla rapax, quae vasta Charybdis, talia qui reddis pro dulci praemia vita? Si tibi non cordi fuerant conubia nostra, saeva quod horrebas prisci praecepta parentis, at tamen in vestras potuisti ducere sedes, quae tibi iucundo famularer serva labore, candida permulcens liquidis vestigia lymphis purpureave tuum consternens veste cubile. Sed quid ego ignaris nequiquam conquerar auris, externata malo, quae nullis sensibus auctae nec missas audire queunt nec reddere voces? Ille autem prope iam mediis versatur in undis, nec quisquam apparet vacua mortalis in alga. Sic nimis insultans extremo tempore saeva fors etiam nostris invidit questibus aures. Iuppiter omnipotens, utinam ne tempore primo Gnosia Cecropiae tetigissent litora puppes, indomito nec dira ferens stipendia tauro perfidus in Creta religasset navita funem, nec malus hic celans dulci crudelia forma consilia in nostris requiesset sedibus hospes! Nam quo me referam? Quali spe perdita nitor? Idaeosne petam montes? At gurgite lato discernens ponti truculentum ubi dividit aequor? An patris auxilium sperem? Quemne ipsa reliqui, respersum iuvenem fraterna caede secuta? Coniugis an fido consoler memet amore, quine fugit lentos incurvans gurgite remos? Praeterea nullo litus, sola insula, tecto, nec patet egressus pelagi cingentibus undis: nulla fugae ratio, nulla spes: omnia muta, omnia sunt deserta, ostentant omnia letum. Non tamen ante mihi languescent lumina morte, nec prius a fesso secedent corpore sensus, quam iustam a divis exposcam prodita multam, caelestumque fidem postrema comprecer hora. Quare facta virum multantes vindice poena, Eumenides, quibus anguino redimita capillo
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Was für eine Löwin hat dich unter einem einsamen Felsen geboren, was für ein Meer hat dich empfangen und aus schäumenden Wellen ausgespien? Was für eine Syrte, was für eine räuberische Skylla, eine riesige Charybdis, dass du mir dein süßes Leben auf diese Weise entlohnst? Wenn dir schon unsere Ehe so wenig am Herzen lag, weil du dich vor den harten Vorschriften deines strengen Vaters fürchtetest, konntest du mich dann nicht wenigstens mit nach Hause nehmen, wo ich dir als Sklavin freudig gedient hätte – die weißen Füße hätte ich dir sanft mit Wasser gewaschen, mit einer purpurnen Decke hätte ich dir das Bett bedeckt. Aber was klage ich vergebens in die Lüfte, vom Leid außer mir, die ohne Sinne meine Worte doch nicht verstehen und mir nicht antworten können? Er aber ist mittlerweile schon fast in der Mitte des Meeres, und kein Mensch zeigt sich am Strand, der öde ist und voller Algen. So verhöhnt mich in äußerster Not der böse Zufall und versagt meinen Klagen ein paar Ohren. Allmächtiger Jupiter, ach hätten doch niemals kekropische Schiffe die Ufer von Knossos gefunden, hätte doch nie der treulose Seemann, der den schrecklichen Sold dem wütenden Stier überbrachte, auf Kreta sein Tau befestigt, hätte doch der böse Mensch, der hinter der schönen Fassade sein Wesen verbarg, nie in unsrem Familiensitz freundliche Aufnahme gefunden! Wohin soll ich Verlorene jetzt gehen? Welche Hoffnung kann ich noch schöpfen? Soll ich die Berge des Ida aufsuchen – wo mich doch der mächtige Schlund des stürmischen, weiten Meers von ihm trennt? Kann ich auf Hilfe vom Vater hoffen? Den ich doch verlassen habe, als ich dem jungen Mann folgte, der noch vom Blut meines Bruders bespritzt war? Oder soll ich mich mit der treuen Liebe meines Ehemanns trösten? Der vor mir flieht, so schnell, dass sich die Ruder im Meer biegen? Außerdem steht kein Haus am Strand dieser einsamen Insel, und es steht kein Ausweg mir offen, denn die Wellen des Meers umschließen mich. Kein Gedanke an Flucht, keine Hoffnung: Alles ist still, alles verlassen, überall zeigt sich der Tod. Dennoch soll mir der Tod nicht eher das Augenlicht rauben, nicht eher sollen meinem müden Körper die Sinne entschwinden, als dass ich Verratene von den Göttern die gerechte Strafe einfordere und in meiner letzten Stunde zu ihrer Treue bete. Sucht also diesen Mann mit eurer Strafe heim, Eumeniden, denen euch das von Schlangenhaar umgebene
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frons expirantis praeportat pectoris iras, huc huc adventate, meas audite querelas, quas (ego vae!) misera extremis proferre medullis cogor inops, ardens, amenti caeca furore. Quae quoniam verae nascuntur pectore ab imo, vos nolite pati nostrum vanescere luctum, sed quali solam Theseus me mente reliquit, tali mente, deae, funestet seque suosque.“ Has postquam maesto profudit pectore voces, supplicium saevis exposcens anxia factis, annuit invicto caelestum numine rector, quo motu tellus atque horrida contremuerunt aequora concussitque micantia sidera mundus. Ipse autem caeca mentem caligine Theseus consitus oblito dimisit pectore cuncta, quae mandata prius constanti mente tenebat, dulcia nec maesto sustollens signa parenti sospitem Erechtheum se ostendit visere portum. Namque ferunt olim, classi cum moenia divae linquentem gnatum ventis concrederet Aegeus, talia complexum iuveni mandata dedisse. „Gnate mihi longa iucundior unice vita, gnate, ego quem in dubios cogor dimittere casus, reddite in extrema nuper mihi fine senectae, quandoquidem fortuna mea ac tua fervida virtus eripit invito mihi te, cui languida nondum lumina sunt nati cara saturata figura: non ego te gaudens laetanti pectore mittam, nec te ferre sinam fortunae signa secundae, sed primum multas expromam mente querelas, canitiem terra atque infuso pulvere foedans, inde infecta vago suspendam lintea malo, nostros ut luctus nostraeque incendia mentis carbasus obscurata dicet ferrugine Hibera. Quod tibi si sancti concesserit incola Itoni, quae nostrum genus ac sedes defendere Erechthei annuit, ut tauri respergas sanguine dextram, tum vero facito ut memori tibi condita corde haec vigeant mandata, nec ulla oblitteret aetas, ut simul ac nostros invisent lumina colles,
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Haupt von dem Zorn kündet, der in eurer Brust wohnt – kommt herbei, kommt herbei, hört mein Klagen, das (weh mir!) aus meinem tiefsten Inneren kommt, hilflos werde ich bedrängt, ich brenne, blind und in rasender Wut. Da mein Klagen wirklich aus tiefstem Herzen kommt, lasst nicht zu, dass meine Trauer ohne Wirkung bleibt, sondern gebt, dass Theseus, so wie er mich allein zurückgelassen hat, in gleichem Sinne, ihr Göttinnen, sich und die Seinen mit einem Fluch belädt!“ Nachdem sie diese Worte in ihrer Trauer von sich gegeben hatte und inbrünstig gefordert hatte, dass die grausame Tat bestraft würde, nickte der Herrscher der Götter voll Zustimmung, der mit einer Bewegung die Erde beben, das schreckliche Wasser wogen und die Sterne des Himmels erzittern lässt. Theseus’ Geist wurde nun von blindem Nebel umgeben, und er entließ alles aus seiner vergesslichen Brust, was ihm früher anvertraut worden war und was er im treuen Geist behalten hatte, so dass er das freudige Zeichen für den traurigen Vater vergaß, das hatte zeigen sollen, dass er wohlbehalten Erechtheus’ Hafen erreichte. Einst erzählte man nämlich, dass Aigeus, als er seinen die Mauern mit der Flotte verlassenden Sohn den Winden überantwortete, den Jüngling umarmte und ihm Folgendes auftrug: „Mein einziger Sohn, der du mir teurer bist als mein Leben, mein Sohn, den ich gezwungen bin, ins Ungewisse fahren zu lassen, der du mir erst vor kurzem am Ende meines Lebens zurückgegeben worden bist, da mein Schicksal und deine glühende Tapferkeit dich mir rauben, gegen meinen Willen, während sich meine ermatteten Augen noch gar nicht sattsehen konnten an der Gestalt meines lieben Sohnes: Ich lasse dich weder mit Freuden noch leichten Herzens ziehen, und ich lasse dich keine Zeichen eines günstigen Schicksals mit dir führen, sondern ich will zuerst die große Traurigkeit zeigen, die in meinem Herzen wohnt, und mein graues Haar mit Erde und Staub beschmutzen, dann hisse ich getönte Segel am schwankenden Mast, damit vom brennenden Kummer in meinem Innern das mit iberischem Rost eingefärbte Tuch künden mag. Wenn es aber die Bewohnerin des heiligen Itonos, die unsere Familie und den Sitz des Erechtheus zu verteidigen versprach, zugelassen hat, dass deine Rechte vom Blut des Stiers benetzt wird, dann merke dir dies und präge es dir gut ein in deinem Herzen, damit die Zeit es nicht auslöscht, dass, sobald deine Augen unsere Berge erblicken,
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funestam antennae deponant undique vestem, candidaque intorti sustollant vela rudentes, quam primum cernens ut laeta gaudia mente agnoscam, cum te reducem aetas prospera sistet.“ Haec mandata prius constanti mente tenentem Thesea ceu pulsae ventorum flamine nubes aereum nivei montis liquere cacumen. At pater, ut summa prospectum ex arce petebat, anxia in assiduos absumens lumina fletus, cum primum inflati conspexit lintea veli, praecipitem sese scopulorum e vertice iecit, amissum credens inmiti Thesea fato. Sic funesta domus ingressus tecta paterna morte ferox Theseus qualem Minoidi luctum obtulerat mente immemori talem ipse recepit. Quae tum prospectans cedentem maesta carinam multiplices animo volvebat saucia curas. At parte ex alia florens volitabat Iacchus cum thiaso Satyrorum et Nysigenis Silenis, te quaerens, Ariadna, tuoque incensus amore. Quae tum alacres passim lymphata mente furebant euhoe Bacchantes, euhoe capita inflectentes. Harum pars tecta quatiebant cuspide thyrsos, pars e divolso iactabant membra iuvenco, pars sese tortis serpentibus incingebant, pars obscura cavis celebrabant orgia cistis, orgia, quae frustra cupiunt audire profani, plangebant aliae proceris tympana palmis aut tereti tenues tinnitus aere ciebant, multis raucisonos efflabant cornua bombos barbaraque horribili stridebat tibia cantu. Talibus amplifice vestis decorata figuris pulvinar complexa suo velabat amictu. Quae postquam cupide spectando Thessala pubes expleta est sanctis coepit decedere divis. Hic qualis flatu placidum mare matutino horrificans Zephyrus proclivas incitat undas Aurora exoriente vagi sub limina Solis, quae tarde primum clementi flamine pulsae procedunt leviterque sonant plangore cachinni.
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du die Segel der Trauer vom Mast nehmen lässt und die gedrehten Taue stattdessen Segel in strahlendem Weiß aufziehen, denn dann kann ich es sofort und mit freudigem Herzen erkennen, wenn dich eine Glück verheißende Stunde zu mir zurückbringt.“ An dieses ihm Aufgetragene hatte Theseus bisher ständig gedacht, doch jetzt vergaß er es, so wie die Wolken vom Hauch des Windes den luftigen Gipfel eines schneebedeckten Bergs verlassen. Aber der Vater, als er vom höchsten Punkt der Burg aus in die Ferne schaute, die angstvollen Augen vom ständigen Weinen verbraucht, stürzte sich, sobald er das sich blähende Segel erblickt hatte, kopfüber vom höchsten Punkt der Felsen hinunter, im Glauben, Theseus sei ihm vom unnachgiebigen Tod geraubt worden. So wurde, als er das vom Tod des Vaters befleckte Haus betrat, dem grimmigen Theseus eben solches Leid zuteil, wie er der Minostochter zugefügt hatte, als er sie zurückließ und sie vergaß; traurig sah sie dem davonfahrenden Schiff nach, und in ihrem Herzen getroffen bewegte sie zahlreiche Sorgen hin und her. Da kam aus der anderen Richtung der mächtige Iacchus herbei mit seinem Thiasos aus Satyrn und Silenen aus Nysa; dich suchte er, Ariadne, und er war von Liebe entflammt. Mit besessenem Geist tobten die Bacchantinnen umher, riefen „Euhoe! Euhoe!“ und schüttelten ihre Köpfe; ein Teil von ihnen schwang an der Spitze geschmückte Thyrsosstäbe, ein Teil warf die Glieder eines zerfleischten jungen Stiers herum, ein Teil band sich gewundene Schlangen um, ein Teil feierte geheime Orgien mit leeren Kisten, Orgien, über die etwas zu erfahren sich die Uneingeweihten vergebens bemühen; andere schlugen mit ausgestreckten Händen das Tympanon oder ließen feines Erz mit zartem Geklingel ertönen, viele von ihnen ließen durchs Horn dumpfes Gebrumme erschallen, und die fremdländische Flöte zischte mit ihrem erstaunlichen Klang. Mit solchen Figuren war die Decke reich verziert, die unter ihrer Verhüllung das Bett versteckte. Als die thessalische Jugend ihre Gier, all dies zu sehen, gestillt hatte, begann sie, den heiligen Göttern zu weichen. So wie der Zephyrus mit seinem morgendlichen Wehen das ruhige Meer aufschreckt und leichte Wellen verursacht, wenn sich Aurora von der Schwelle des wandernden Helios erhebt, wenn zunächst langsam, vom sanften Windhauch angetrieben, die Wellen höher steigen und klingen wie ein leises Lachen,
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post vento crescente magis magis increbescunt purpureaque procul nantes ab luce refulgent, sic ibi vestibuli linquentes regia tecta ad se quisque vago passim pede discedebant, quorum post abitum princeps e vertice Pelei advenit Chiron portans silvestria dona: nam quoscumque ferunt campi, quos Thessala magnis montibus ora creat, quos propter fluminis undas aura parit flores tepidi fecunda Favoni, hos indistinctis plexos tulit ipse corollis, quo permulsa domus iucundo risit odore. Confestim Penios adest, viridantia Tempe, Tempe quae silvae cingunt super impendentes, Naiasin linquens doctis celebranda choreis, non vacuus: namque ille tulit radicitus altas fagos ac recto proceras stipite laurus, non sine nutanti platano lentaque sorore flammati Phaethontis et aerea cupressu. Haec circum sedes late contexta locavit, vestibulum ut molli velatum fronde vireret. Post hunc consequitur sollerti corde Prometheus, extenuata gerens veteris vestigia poenae, quam quondam silici restrictus membra catena persolvit pendens e verticibus praeruptis. Inde pater divom sancta cum coniuge natisque advenit, caelo te solum, Phoebe, relinquens unigenamque simul cultricem montibus Idri: Pelea nam tecum pariter soror aspernata est nec Thetidis taedas voluit celebrare iugales. Qui postquam niveis flexerunt sedibus artus, large multiplici constructae sunt dape mensae, cum interea infirmo quatientes corpora motu veridicos Parcae coeperunt edere cantus. His corpus tremulum complectens undique vestis candida purpurea talos incinxerat ora, at roseae niveo residebant vertice vittae, aeternumque manus carpebant rite laborem. Laeva colum molli lana retinebat amictum, dextera tum leviter deducens fila supinis formabat digitis, tum prono in pollice torquens
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dann mit dem erstarkenden Wind die Wogen stärker werden und von purpurnem Licht aus der Ferne erstrahlend weithin schwimmen, so verließen sie den Saal des Königspalastes, und schnellen Fußes eilte ein jeder davon. Nachdem sie fort waren, erschien als Erster Cheiron vom Gipfel des Pelion, und er brachte Geschenke aus dem Wald mit: Denn alles, was an Blumen auf den Feldern wächst und auf den thessalischen Bergen die Erde hervorbringt und neben den Wellen des Flusses die fruchtbare Luft des wärmenden Westwinds erschafft, all das brachte er, zu ungeordneten Kränzen gebunden, herbei, und das ganze Haus lachte und war froh über den schönen Duft. Schnell kommt Peneios herbei und überlässt das grünende Tempetal, das Tempetal, am Saum von darüberragenden Wäldern umgürtet, den Naiaden, die hier ihre geschickten Reigentänze feiern; er selbst kommt auch nicht ohne Gaben: Denn er schleppt entwurzelte hohe Buchen und hochgewachsenen, aufrechten Lorbeer mit sich, dazu die nickende Platane sowie die biegsame Schwester des in Flammen aufgegangenen Phaethon und die luftige Zypresse. Damit umgab er in einer langen, ununterbrochenen Reihe den Palast; das Vestibül erstrahlte grün wie mit weichem Laub geschmückt. Ihm folgte mit wachem Geist Prometheus, der immer noch sichtbare Spuren seiner alten Strafe trägt, die er damals, mit einer Kette an den Fels geschmiedet, vom steilen Berggipfel hängend verbüßte. Dann kam der Göttervater mit seiner heiligen Gattin und seinen Kindern, im Himmel ließ er nur dich, Phoibos, zurück und mit dir deine Schwester, die Hüterin der Berge von Idrus; dem Peleus nämlich hat sie sich mit dir zusammen verweigert und wollte die anstößige Hochzeit der Thetis nicht feiern. Als man auf den schneeweißen Sitzen Platz genommen hatte, wurden die Tische zum reichhaltigen Mahl gedeckt, während die Parzen, ihre Glieder aufgrund ihres Alters ganz zittrig, ihr Lied zu singen begannen, das die Wahrheit verkündete. Ihre zittrigen Körper waren komplett in weiße Kleider gehüllt mit einem purpurnem Saum an den Knöcheln, ihr weißes Haar war mit rosa Bändern geschmückt, und ihre Hände verrichteten eifrig ihre niemals endende Arbeit. Mit der Linken hielten sie den Spinnrocken, von weicher Wolle umgeben, mit der Rechten formten sie dann, vorsichtig ziehend, den Faden mit ihren Fingern, die Hand umgewendet, und dann drehte der abwärts gerichtete Daumen
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libratum tereti versabat turbine fusum, atque ita decerpens aequabat semper opus dens, laneaque aridulis haerebant morsa labellis, quae prius in levi fuerant exstantia filo: ante pedes autem candentis mollia lanae vellera virgati custodibant calathisci. Haec tum clarisona pellentes vellera voce talia divino fuderunt carmine fata, carmine perfidiae quod post nulla arguet aetas. „O decus eximium magnis virtutibus augens, Emathiae tutamen, Opis clarissime nato, accipe, quod laeta tibi pandunt luce sorores, veridicum oraclum. Sed vos, quae fata sequuntur. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Adveniet tibi iam portans optata maritis Hesperus, adveniet fausto cum sidere coniunx, quae tibi flexanimo mentem perfundat amore languidulosque paret tecum coniungere somnos, levia substernens robusto bracchia collo. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Nulla domus tales umquam contexit amores, nullus amor tali coniunxit foedere amantes, qualis adest Thetidi, qualis concordia Peleo. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Nascetur vobis expers terroris Achilles, hostibus haud tergo sed forti pectore notus, qui persaepe vago victor certamine cursus flammea praevertet celeris vestigia cervae. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Non illi quisquam bello se conferet heros, cum Phrygii Teucro manabunt sanguine campi, Troicaque obsidens longinquo moenia bello periuri Pelopis vastabit tertius heres. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Illius egregias virtutes claraque facta saepe fatebuntur natorum in funere matres, cum incultum cano solvent a vertice crinem putridaque infirmis variabunt pectora palmis. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Namque velut densas praecerpens messor aristas
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die Spindel schnell um den rundlichen Wirtel, und dabei bereinigten sie ständig das Werk mit den Zähnen, glätteten den Faden, an ihren trockenen Lippen hingen Bissen der Wolle, die zuvor vom leichten Faden übergestanden hatte; zu ihren Füßen aber bewahrten aus Weidenruten geflochtene Körbchen die weichen Flocken der weißen Wolle auf. Die Wolle zupfend, sangen sie mit heller Stimme folgendes Lied, das von göttlichem Schicksal kündete, ein Lied, dessen Gültigkeit keine zukünftige Zeit infrage stellen würde: „Oh du, der du herausragende Zierde durch deine Tugend vergrößerst, Schutz Emathias, der du dem Sohn der Ops so teuer bist, nimm an, was dir an diesem fröhlichen Tag die Schwestern eröffnen, das Wahrheit verkündende Orakel! Ihr aber, denen euch das Schicksal folgt: Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Der Abendstern wird dir erscheinen, der bringt, was verheiratete Männer sich wünschen, unter dem glücklichen Stern kommt deine Gattin zu dir, die dir die Sinne betört mit ihrer anrührenden Liebe und sich vorbereitet, mit dir, bald ermattet, die Träume zu teilen, unter deinen starken Nacken ihre leichten Arme legt. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Noch niemals hat ein Haus so eine große Liebe beherbergt, noch nie haben sich Liebende in einem solchen Bund zusammengetan, wie es jetzt Thetis empfindet, in solcher Eintracht, wie sie Peleus jetzt spürt. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Euch wird Achilleus geboren werden, der jeglicher Furcht entbehrt, dessen Rücken die Feinde nicht kennen werden, nur seine tapfere Brust, der oftmals als Sieger im unsteten Wettlauf sogar den schnellen Hirsch in seiner feurigen Spur überholt. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Kein Held wird sich im Krieg mit ihm vergleichen können, wenn Phrygiens Felder im Blut der Teukrer schwimmen und die troischen Mauern in einem langen Krieg der dritte Erbe des Lügners Pelops belagern und zerstören wird. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Von seinen herausragenden Tugenden und seinen berühmten Taten werden immer wieder Mütter bei der Bestattung ihrer Söhne erzählen, wenn sie ihr ungeordnetes Haar am grauen Scheitel lösen und ihre schlaffen Brüste mit schwachen Händen grün und blau schlagen. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Denn wie ein Landmann mit Sense, der die dichten Ähren
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Carmina
sole sub ardenti flaventia demetit arva, Troiugenum infesto prosternet corpora ferro. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Testis erit magnis virtutibus unda Scamandri, quae passim rapido diffunditur Hellesponto, cuius iter caesis angustans corporum acervis alta tepefaciet permixta flumina caede. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Denique testis erit morti quoque reddita praeda, cum teres excelso coacervatum aggere bustum excipiet niveos perculsae virginis artus. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Nam simul ac fessis dederit fors copiam Achivis urbis Dardaniae Neptunia solvere vincla, alta Polyxenia madefient caede sepulcra, quae velut ancipiti succumbens victima ferro, proiciet truncum submisso poplite corpus. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Quare agite optatos animi coniungite amores. Accipiat coniunx felici foedere divam, dedatur cupido iamdudum nupta marito. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi. Non illam nutrix orienti luce revisens hesterno collum poterit circumdare filo, Currite ducentes subtegmina, currite, fusi, anxia nec mater discordis maesta puellae secubitu caros mittet sperare nepotes. Currite ducentes subtegmina, currite, fusi.“ Talia praesentes quondam felicia Pelei carmina divino cecinerunt pectore Parcae. Praesentes namque ante domos invisere castas heroum et sese mortali ostendere coetu caelicolae nondum spreta pietate solebant. Saepe pater divom templo in fulgente revertens, annua cum festis venissent sacra diebus, conspexit terra centum procumbere tauros. Saepe vagus Liber Parnassi vertice summo Thyadas effusis euantes crinibus egit, cum Delphi tota certatim ex urbe ruentes acciperent laeti divom fumantibus aris.
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unter der sengenden Sonne auf dem goldenen Feld mäht, so wird er mit gefährlichem Eisen die Körper der Troer hinstrecken. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Die Welle des Skamander wird Zeuge großer Heldentaten sein, die sich breit in den schnellen Hellespont ergießende Welle, deren Lauf durch die Masse der Leichen eng wird und deren tiefes Wasser mit dem Blut des Mordens sich mischt. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Schließlich wird die ihm, wenn er tot ist, noch dargebrachte Beute Zeuge sein, wenn der runde und hoch aufgeschichtete Grabhügel die Glieder, weiß wie Schnee, einer geopferten Jungfrau in sich aufnimmt. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Denn sobald das Schicksal den kriegsmüden Achivern die Möglichkeit gibt, Neptuns Fesseln um die dardanische Stadt zu lösen, wird der hohe Grabhügel nass durch den blutigen Mord an Polyxena, die, wie ein Opfertier durch das Eisen enthauptet, hinsinkt und darniederliegt, ein verstümmelter Leib, den die Knie nicht mehr tragen. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Deshalb: auf, verbindet eure von Herzen ersehnte Liebe! Der Ehemann soll die Göttin zum glücklichen Bund empfangen, dem schon so lange sich sehnenden Gatten gebe man endlich die Gattin! Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Nicht länger kann die Amme zu ihr kommen, wenn die Sonne aufgeht, und ihr den Faden von gestern um den Hals legen. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden! Und die Mutter muss keine Angst haben, dass sie sich streiten und aufgrund getrennter Schlafzimmer die Hoffnung auf Enkel fahren lassen. Lauft, ihr Spindeln, lauft, und zieht den Faden!“ Solche Glück verheißenden Lieder sangen einst dem Peleus die anwesenden Parzen aus göttlicher Brust. Früher nämlich besuchten die Bewohner des Himmels regelmäßig die frommen Häuser der Heroen und zeigten sich in menschlicher Gesellschaft, damals, als man die Frömmigkeit noch nicht verachtete. Oft zeigte sich der Göttervater im strahlenden Tempel, wenn er zu den jährlichen Festtagen dorthinkam, und sah zu, wie einhundert Stiere zu Boden sanken. Oft trieb der unstete Bacchus auf dem höchsten Gipfel des Parnass die mit gelöstem Haar jauchzenden Thyiaden vor sich her, als ganz Delphi, so schnell es ging, aus der Stadt herbeiströmte und den Gott glücklich empfing, mit rauchenden Altären.
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Carmina
Saepe in letifero belli certamine Mavors aut rapidi Tritonis era aut Rhamnusia virgo armatas hominum est praesens hortata catervas. Sed postquam tellus scelere est imbuta nefando, iustitiamque omnes cupida de mente fugarunt, perfudere manus fraterno sanguine fratres, destitit extinctos natus lugere parentes, optavit genitor primaevi funera nati, liber ut innuptae poteretur flore novercae, ignaro mater substernens se impia nato inpia non verita est divos scelerare penates, omnia fanda nefanda malo permixta furore iustificam nobis mentem avertere deorum. Quare nec tales dignantur visere coetus, nec se contingi patiuntur lumine claro.
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Oft war Mars im Wettstreit des todbringenden Kriegs anwesend oder die Herrin des schnellen Triton oder die rhamnusische Jungfrau, um die bewaffneten Truppen zu ermuntern. Aber nachdem gottlose Verbrechen die Erde verseuchten und alle Menschen die Gerechtigkeit aus ihrem gierigen Geist vertrieben, Brüder ihre Hände mit dem Blut ihrer Brüder besudelten, der Sohn nicht mehr den Tod der Eltern betrauerte, der Erzeuger den Tod seines in der Blüte stehenden Kindes ersehnte, um sich als freier Mann der unverheirateten Tochter der Stiefmutter zu bemächtigen, die gottlose Mutter sich unter ihren ahnungslosen Sohn legte und nicht davor zurückschreckte, den göttlichen Penaten zu freveln – seit also alle Treue und aller Frevel durch Irrsinn vermischt sind, haben die Götter ihren gerechten Geist von uns abgewandt. Daher halten sie eine solche Zusammenkunft nicht mehr für würdig ihres Besuchs und lassen es nicht mehr zu, dass man sie sehenden Auges betrachtet. 65 Auch wenn der Schmerz mich, erschöpft durch nicht aufhörenden Kummer, von den klugen Frauen entfernt hat, Hortalus, und mein Geist nicht mehr imstande ist, die Früchte der Musen hervorzubringen – so sehr wird er vom Leid bewegt: Denn erst kürzlich ist vom Strom der Lethe der erblasset Fuß meines Bruders umspült worden, am rhoetischen Fluss hat die troische Erde ihn mir aus den Augen gerissen und bedeckt ihn jetzt. Nie mehr werde ich zu dir sprechen, dich von deinen Taten erzählen hören, niemals werde ich dich, mein Bruder, der du mir lieber bist als mein Leben, wiedersehen. Aber sicherlich werde ich dich immer lieben, immer Lieder singen, die wegen deines Todes traurig klingen, wie im Schatten der dichten Zweige die Daulierin, die das Schicksal ihres toten Itylos beseufzt – aber dennoch schicke ich dir inmitten dieser großen Trauer, Hortalus, diese übersetzten Verse des Sohnes des Battos, damit du nicht denkst, dass deine Worte, vergebens den unsteten Winden anvertraut, mir entfallen sind, wie der Apfel, der einem Mädchen als geheimes Geschenk von ihrem Geliebten geschickt wurde, aus dem keuschen Schoß herausrollt – das arme Mädchen legte ihn unter ihr weiches Kleid und vergaß ihn; als ihre Mutter eintrifft, springt sie auf,
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Carmina
atque illud prono praeceps agitur decursu, huic manat tristi conscius ore rubor. 66 Omnia qui magni dispexit lumina mundi, qui stellarum ortus comperit atque obitus, flammeus ut rapidi solis nitor obscuretur, ut cedant certis sidera temporibus, ut Triviam furtim sub Latmia saxa relegans dulcis amor gyro devocet aereo, idem me ille Conon caelesti in limine vidit e Beroniceo vertice caesariem fulgentem clare, quam multis illa dearum levia protendens brachia pollicita est, qua rex tempestate novo auctus hymenaeo vastatum fines iverat Assyrios, dulcia nocturnae portans vestigia rixae, quam de virgineis gesserat exuviis. Estne novis nuptis odio Venus? Anne parentum frustrantur falsis gaudia lacrimulis, ubertim thalami quas intra limina fundunt? Non, ita me divi, vera gemunt, iuerint. Id mea me multis docuit regina querellis invisente novo proelia torva viro. Et tu non orbum luxti deserta cubile, sed fratris cari flebile discidium? Quam penitus maestas exedit cura medullas. Ut tibi tunc toto pectore sollicitae sensibus ereptis mens excidit! At te ego certe cognoram a parva virgine magnanimam. Anne bonum oblita es facinus, quo regium adepta es coniugium, quod non fortior ausit alis? Sed tum maesta virum mittens quae verba locuta es! Iuppiter, ut tristi lumina saepe manu! Quis te mutavit tantus deus? An quod amantes non longe a caro corpore abesse volunt? Atque ibi me cunctis pro dulci coniuge divis non sine taurino sanguine pollicita es, si reditum tetulisset. Is haud in tempore longo captam Asiam Aegypti finibus addiderat.
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und er rollt unaufhaltsam herab, und auf ihrem Gesicht bleibt der Ertappten die Röte. 66 Der, der alle Gestirne der großen, weiten Welt überblickt, der den Aufgang der Sterne kennt und ihren Untergang, wie sich das feurige Strahlen der schnellen Sonne verfinstert, wie die Gestirne zu bestimmten Zeiten verschwinden, wie Trivia sich unter den latmischen Felsen verbirgt, wenn die süße Liebe sie aus ihrer Umlaufbahn herabruft, Konon hat mich im himmlischen Licht gesehen, mich, eine Locke von Berenikes Scheitel, wie ich hell erstrahlte, denn vielen Göttinnen gelobte sie, die zarten Arme ausgebreitet, mich zu weihen, als der König, nachdem er gerade erst Hochzeit gefeiert hatte, zum Land der Assyrer gegangen war, um es zu verwüsten, während ihm noch süße Spuren der nächtlichen Raufereien anhafteten, die er um des jungfräulichen Schatzes willen ausgefochten hatte. Ist Venus den Jungvermählten verhasst, oder täuschen sie der Eltern frohe Erwartung mit falschen Tränen, die sie im Innern des Brautgemachs so reichlich vergießen? Nein, bei den Göttern, ihre Klagen sind nur gespielt. Das hat die Königin selbst mich gelehrt, durch ihr vieles Gejammer, als sie zusah, wie ihr junger Ehemann in die schrecklichen Schlachten zog. Oder betrauertest du Verlassene nicht das verwaiste Bett, sondern die traurige Trennung vom lieben Bruder? Wie hat doch die Trauer dein trauriges Inneres verzehrt! Wie entwichen dir, die du ganz und gar in der Brust erschüttert warst, der Verstand und die Sinne! Und das, obwohl du schon als kleines Mädchen voll Entschlossenheit auftratst. Hast du die gute Tat vergessen, durch die du überhaupt erst die Frau des Königs wurdest? Die jemand anderes, Tapfereres, nicht wagte? Doch welch traurige Worte gabst du deinem Mann mit auf den Weg. Beim Jupiter!, wie oft riebst du dir mit der Hand die Augen. Welcher mächtige Gott hat dich so verändert? Oder wollen Liebende einfach nie vom Körper des Geliebten fern sein? Und mich hast du damals um den süßen Gemahls willen allen Göttern versprochen, komplett mit Stierblut, wenn er heimkehrte: Jener hatte dann binnen kurzem Asien erobert und dem Gebiet Ägyptens einverleibt.
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Carmina
Quis ego pro factis caelesti reddita coetu pristina vota novo munere dissoluo. Invita, o regina, tuo de vertice cessi, invita: adiuro teque tuumque caput, digna ferat quod siquis inaniter adiurarit: sed qui se ferro postulet esse parem? Ille quoque eversus mons est, quem maximum in oris progenies Thiae clara supervehitur, cum Medi peperere novum mare, cumque iuventus per medium classi barbara navit Athon. Quid facient crines, cum ferro talia cedant? Iuppiter, ut Chalybum omne genus pereat, et qui principio sub terra quaerere venas institit ac ferri stringere duritiem! Abiunctae paulo ante comae mea fata sorores lugebant, cum se Memnonis Aethiopis unigena impellens nutantibus aera pennis obtulit Arsinoes Locridos ales equos, isque per aetherias me tollens avolat umbras et Veneris casto collocat in gremio. Ipsa suum Zephyritis eo famulum legarat, Graia Canopeis incola litoribus. † hi dii ven ibi † vario ne solum in lumine caeli ex Ariadnaeis aurea temporibus fixa corona foret, sed nos quoque fulgeremus devotae flavi verticis exuviae, uvidulam a fluctu cedentem ad templa deum me sidus in antiquis diva novum posuit: virginis et saevi contingens namque Leonis lumina, Callisto iuncta Lycaoniae, vertor in occasum, tardum dux ante Booten, qui vix sero alto mergitur Oceano. Sed quamquam me nocte premunt vestigia divom, lux autem canae Tethyi restituit, (pace tua fari hic liceat, Rhamnusia virgo, namque ego non ullo vera timore tegam, nec si me infestis discerpent sidera dictis, condita quin veri pectoris evoluam) non his tam laetor rebus, quam me afore semper, afore me a dominae vertice discrucior,
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Im Gegenzug werde ich nun der himmlischen Schar dargebracht, und ich löse mit einem neuen Geschenk das alte Versprechen ein. Gegen meinen Willen, oh Königin, verließ ich deinen Scheitel, gegen meinen Willen: Ich schwöre es bei dir und deinem Haupt, gerechte Strafe treffe den, der unrecht schwört! Aber wer behauptet von sich, dem Stahl zu widerstehen? Sogar jener Berg wurde niedergerissen, der höchste an der Küste, über den der berühmte Spross der Theia hinwegfuhr, als die Meder sich ein neues Meer schufen und die barbarische Jugend mit ihrer Flotte mitten durch den Athos segelte. Wenn so Großes dem Stahl weicht, was sollen da Haare ausrichten? Oh Jupiter, dass doch das Volk der Chalyben unterginge und der, der zuerst unter der Erde nach Adern zu suchen begann und dem harten Metall eine Form zu geben! Meine Schwesternlocken, von denen ich kurz zuvor getrennt wurde, betrauern mein Schicksal, als des Aithiopiers Memnons Bruder erschien, der die Luft mit seinen Flügeln schlägt, Arsinoës geflügeltes Pferd aus Lokris, das mich emporhebt und mit mir durch nächtliche Wolken davonfliegt und mich im keuschen Schoß der Venus ablegt. Zephyritis selbst hatte nämlich ihren Bediensteten dorthin geschickt, die als Griechin am Gestade von Kanopos wohnt. … damit sich im unsteten Licht des Himmels nicht mehr nur von Ariadnes Haupt die goldene Krone befindet, sondern auch ich nun erstrahle, als geweihte Beute vom blonden Scheitel, mich, die ich noch nass von den Fluten zu den Tempeln der Götter gehe, hat die Göttliche als neuen Stern zwischen die alten gesetzt. Ich berühre den Glanz der Jungfrau und des wilden Löwen, bin vereint mit Lykaons Tochter Kallisto, und wenn ich untergehe, bin ich die Anführerin des trägen Boötes, der erst spät im großen Ozean versinkt. Aber auch wenn mich nachts die Füße der Götter belasten und mich das Morgenlicht wieder der grauen Tethys zurückgibt (dies lass mich ohne Streit sagen, rhamnusische Jungfrau, denn ich will nicht voll Angst die Wahrheit verschweigen, auch wenn die Sterne mich mit feindseligen Reden zerpflücken werden, ich will aussprechen, was ich Wahres in meiner Brust trage): Über diese Dinge freue ich mich nicht so sehr wie ich darunter leide, dass ich auf ewig vom Scheitel meiner Herrin getrennt sein werde,
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Carmina
quicum ego, dum virgo quondam fuit omnibus expers unguentis una vilia multa bibi. Nunc vos, optato quas iunxit lumine taeda, non prius unanimis corpora coniugibus tradite nudantes reiecta veste papillas, quam iucunda mihi munera libet onyx, vester onyx, casto colitis quae iura cubili. Sed quae se impuro dedit adulterio, illius, a, mala dona levis bibat irrita pulvis: namque ego ab indignis praemia nulla peto: sed magis, o nuptae, semper concordia vestras semper amor sedes incolat assiduus. Tu vero, regina, tuens cum sidera divam placabis festis luminibus Venerem, unguinis expertem ne siveris esse tuam me, sed potius largis affice muneribus. Sidera cur retinent? Utinam coma regia fiam! Proximus Hydrochoi fulgeret Oarion.
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67 O dulci iucunda viro, iucunda parenti, salue, teque bona Iuppiter auctet ope, ianua, quam Balbo dicunt servisse benigne, olim, cum sedes ipse senex tenuit, quamque ferunt rursus nato servisse maligne, postquam es porrecto facta marita sene. Dic agedum nobis, quare mutata feraris in dominum veterem deseruisse fidem. „Non (ita Caecilio placeam, cui tradita nunc sum) culpa mea est, quamquam dicitur esse mea, nec peccatum a me quisquam pote dicere quicquam: verum isti populo ianua quidque facit. Qui, quacumque aliquid reperitur non bene factum, ad me omnes clamant ‚ianua, culpa tua est‘.“ Non istuc satis est uno te dicere verbo, sed facere ut quivis sentiat et videat. „Qui possum? Nemo quaerit nec scire laborat.“ Nos volumus: nobis dicere ne dubita. „Primum igitur, virgo quod fertur tradita nobis, falsum est. Non illam vir prior attigerit,
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mit dem zusammen ich, als sie noch Jungfrau war, – allen Salben der Verheirateten entbehrend, viel Billiges getrunken habe. Wenn euch nun die ersehnte Hochzeitsfackel verbunden hat, gebt euren Männern nicht eher eure Körper hin, die Brüste entblößt mit zurückgeschlagenem Kleid, bevor der Onyx mir kein angenehmes Geschenk dargebracht hat, euer Onyx, die ihr euch im keuschen Bett dem Gesetz gemäß verhaltet. Aber wenn eine sich dem unkeuschen Ehebruch hingab, deren schlechte Gabe ist unnütz, der flüchtige Staub mag sie aufnehmen: Denn ich begehre keine Geschenke von Unwürdigen. Aber in eurem Haus, verheiratete Frauen, soll immer Eintracht und beständige Liebe wohnen. Du jedoch, Königin, wenn du zu den Sternen aufblickst und die göttliche Venus an den Feiertagen mit Gaben besänftigst, lass mich, die ich dir gehöre, nicht des Salböls entbehren, sondern beschenke mich vielmehr mit reichhaltigen Gaben. Warum halten mich die Sterne zurück? Ich will wieder Haar der Königin werden! Soll doch Orion gleich neben dem Wassermann leuchten. 67 Oh du, die du so sehr dem Ehemann gefällst, so sehr dem Vater, sei gegrüßt, möge Jupiter dich mit seiner Macht bereichern, oh Haustür, von der man sagt, dass du dem Balbus zu Diensten warst, einst, als der Greis selbst noch Hausherr hier war, die du nun aber, wie es heißt, dem Sohn schlecht dienst, seit du, nach dem Tod des Alten, verheiratet bist, nun sag mir doch, warum man sagt, dass du dich verändert und die Treue gegenüber deinem alten Herren verraten hast. „So wahr ich Caecilius gefallen will, dem ich jetzt überantwortet bin – meine Schuld ist es nicht, auch wenn man behauptet, sie sei es, keiner kann behaupten, ich hätte versagt: Nach der Meinung des Pöbels ist aber immer die Haustür schuld! Wenn man irgendwo einmal ein Unrecht sieht, schreien alle mich an: ‚Haustür, du bist schuld.‘“ Es reicht aber nicht, das nur mit Worten zu behaupten, sondern ich will Taten sehen, damit man es versteht und es sieht. „Wie soll ich das tun? Keiner fragt mich und gibt sich Mühe, es zu erfahren.“ Ich will es erfahren; sag es und zögere nicht. „Zuerst einmal – dass mir eine Jungfrau anvertraut wurde, wie man sagt, das ist falsch. Zwar hat ihr erster Mann sie nie angerührt,
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Carmina
languidior tenera cui pendens sicula beta numquam se mediam sustulit ad tunicam: sed pater illius gnati violasse cubile dicitur et miseram conscelerasse domum, sive quod inpia mens caeco flagrabat amore, seu quod iners sterili semine natus erat, et quaerendus is unde foret nervosius illud, quod posset zonam solvere virgineam.“ Egregium narras mira pietate parentem, qui ipse sui nati minxerit in gremium. „Atqui non solum hoc se dicit cognitum habere Brixia Cycnaeae supposita speculae, flavus quam molli percurrit flumine Mella. Brixia Veronae mater amata meae, sed de Postumio et Corneli narrat amore, cum quibus illa malum fecit adulterium. Dixerit hic aliquis: quid? Tu istaec, ianua, nosti? Cui numquam domini limine abesse licet, nec populum auscultare, sed hic suffixa tigillo tantum operire soles aut aperire domum? Saepe illam audivi furtiva voce loquentem solam cum ancillis haec sua flagitia, nomine dicentem quos diximus, ut pote quae mi speret nec linguam esse nec auriculam. Praeterea addebat quendam, quem dicere nolo nomine, ne tollat rubra supercilia. Longus homo est, magnas cui lites intulit olim falsum mendaci ventre puerperium.“
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68a Quod mihi fortuna casuque oppressus acerbo conscriptum hoc lacrimis mittis epistolium, naufragum ut eiectum spumantibus aequoris undis sublevem et a mortis limine restituam, quem neque sancta Venus molli requiescere somno desertum in lecto caelibe perpetitur, nec veterum dulci scriptorum carmine Musae oblectant cum mens anxia pervigilat, id gratum est mihi me quoniam tibi dicis amicum muneraque et Musarum hinc petis et Veneris:
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denn sein kleiner Dolch hing wie eine weichgekochte Rübe an ihm herab und erhob sich niemals zur Mitte der Tunika. Aber man sagt, der Vater habe das Bett dieses Sohnes besudelt und dem Haus erbärmliche Schande eingebracht, sei es, dass sein gottloser Geist in blinder Liebe entbrannte, sei es, dass sein fauler Sohn unfruchtbaren Samen besaß und man einen suchen musste, bei dem dieser kräftiger war, um den Gürtel der Jungfrau zu lösen.“ Mit wunderbarer Geduld erzählst du von einem ausgezeichneten Vater, der höchstpersönlich in den Schoß seines Sohnes gepisst hat! „Aber das ist noch nicht alles, was Brixia zu wissen behauptet, das unterhalb der kyknischen Anhöhe liegt und durch das der gelbliche Fluss Mella gemächlich hindurchfließt, Brixia ist die Mutter meines geliebten Verona, doch es erzählt von Postumius und von der Geliebten des Cornelius, mit denen jene schändlichen Ehebruch trieb. Soll hier nur einer sagen: ‚Was denn? Du weißt das, oh Haustür, die du doch niemals die Türschwelle deines Herrn verlassen kannst, die du nicht den Pöbel belauschen kannst, sondern hier am Balken befestigt nur das Haus zu öffnen und zu schließen pflegst?‘ Oft habe ich sie gehört, wie sie mit verstohlener Stimme mit ihren Mägden über ihre eigenen Schandtaten sprach, mit Namen nannte sie dabei die, von denen ich dir erzählt habe, da sie ja dachte, dass ich weder Zunge noch Ohr besitze. Einen Weiteren fügte sie noch hinzu, den ich aber nicht mit Namen nennen will, damit er nicht seine roten Augenbrauen hebt. Er ist ein langer Mensch, dem einst eine erfundene Geburt aus trügerischem Bauch große Prozesse einbrachte.“ 68a Dass du mir, vom Schicksal gebeutelt, diesen kleinen, unter Tränen geschriebenen Brief schickst, damit ich dich als Schiffbrüchigen aus den gischtigen Wellen des Meers aufhebe und von der Schwelle des Todes trage – dich, den weder die heilige Venus in weichem Schlaf schlummern lässt, denn verlassen liegst du im einsamen Bett, noch die Musen mit einem Lied alter Dichter erfreuen, während dein Geist voll Angst wach liegt –, das freut mich, da du mich ja deinen Freund nennst und Geschenke der Musen und der Venus erbittest:
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Carmina
sed tibi ne mea sint ignota incommoda, mi Alii, neu me odisse putes hospitis officium, accipe quis merser fortunae fluctibus ipse, ne amplius a misero dona beata petas. Tempore quo primum vestis mihi tradita pura est iucundum cum aetas florida ver ageret, multa satis lusi: non est dea nescia nostri, quae dulcem curis miscet amaritiem: sed totum hoc studium luctu fraterna mihi mors abstulit. O misero frater adempte mihi, tu mea tu moriens fregisti commoda, frater, tecum una tota est nostra sepulta domus, omnia tecum una perierunt gaudia nostra, quae tuus in vita dulcis alebat amor. Cuius ego interitu tota de mente fugavi haec studia atque omnes delicias animi. Quare quod scribis Veronae turpe Catullo esse, quod hic quisquis de meliore nota frigida deserto tepefactet membra cubili, id, mi Alli, non est turpe, magis miserum est. Ignosces igitur, si, quae mihi luctus ademit, haec tibi non tribuo munera, cum nequeo. Nam quod scriptorum non magna est copia apud me, hoc fit, quod Romae vivimus: illa domus, illa mihi sedes, illic mea carpitur aetas; huc una ex multis capsula me sequitur. Quod cum ita sit, nolim statuas nos mente maligna id facere aut animo non satis ingenuo, quod tibi non utriusque petenti copia posta est: ultro ego deferrem copia siqua foret.
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68b Non possum reticere, deae, qua me Allius in re iuverit aut quantis iuverit officiis. Ne fugiens saeclis obliviscentibus aetas illius hoc caeca nocte tegat studium, sed dicam vobis, vos porro dicite multis milibus et facite haec carta loquatur anus, *** notescatque magis mortuus atque magis,
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Aber damit auch mein Unglück dir nicht unbekannt bleibt, mein Allius, und damit du nicht meinst, ich vernachlässigte die Freundespflicht, nimm hin, in welchen Schicksalsfluten ich versinke, damit du nicht länger von einem Unglücklichen glückliche Gaben erbittest. Seit der Zeit, als man mir zum ersten Mal die weiße Toga überreichte, als mein blühendes Alter einen angenehmen Frühling erlebte, habe ich genug gespielt: Die Göttin kennt mich gut, die den Sorgen süße Bitternis beimischt. Aber all das Bemühen hat mir durch Trauer meines Bruders Tod geraubt. Oh Bruder, mir Armem genommen, du hast alles, was ich besaß, mit deinem Tod zerstört, Bruder, mit dir ist unser ganzes Haus zum Grabmal geworden, mit dir sind alle meine Freuden untergegangen, die deine süße Liebe im Leben mir nährte. Mit seinem Tod habe ich aus meinem Geist alles Bemühen und alle Liebschaften vertrieben. Wenn du jetzt also schreibst, es sei schändlich, dass Catull in Verona ist, denn hier wärme jeder, der einigermaßen bekannt sei, seine kalten Glieder im einsamen Bett: Das, mein lieber Allius, ist nicht schändlich, das ist ein Unglück. Verzeih mir also, wenn ich dir das, was die Trauer mir nahm, nicht zum Geschenk machen kann. Denn dass ich hier keine zahlreichen Gedichte bei mir habe, das liegt daran, dass ich in Rom lebe: Dort ist mein Haus, dort mein Wohnsitz, dort verbringe ich meine Zeit. Hierher ist mir lediglich eine meiner vielen Buchkapseln gefolgt. Also glaube nicht, dass ich dies aus bösem Willen heraus tue oder weil ich nicht aufrichtig wäre, wenn du, obwohl du darum batest, nicht beides von mir erhalten hast: Ich gäbe es dir freiwillig, wenn ich es nur dabeihätte. 68b Ich kann nicht verschweigen, Göttinnen, wie sehr Allius mir geholfen hat und wie groß seine Dienste an mir waren, niemals soll die Vergessen bringende flüchtige Zeit mit blinder Nacht diesen seinen Eifer bedecken, aber ich will es euch sagen, sagt ihr es dann vielen Tausenden und macht, dass dies Gedicht, noch wenn es alt ist, erzählt *** damit ihn mehr und mehr kennen, selbst noch, wenn er tot ist,
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Carmina
nec tenuem texens sublimis aranea telam in deserto Alli nomine opus faciat. Nam mihi quam dederit duplex Amathusia curam, scitis, et in quo me corruerit genere, cum tantum arderem quantum Trinacria rupes lymphaque in Oetaeis Malia Thermopylis, maesta neque assiduo tabescere pupula fletu cessarent tristique imbre madere genae, qualis in aerii perlucens vertice montis rivus muscosa prosilit e lapide, qui cum de prona praeceps est valle volutus per medium densi transit iter populi, dulce viatori lasso in sudore levamen, cum gravis exustos aestus hiulcat agros: hic velut in nigro iactatis turbine nautis lenius aspirans aura secunda venit iam prece Pollucis, iam Castoris implorata, tale fuit nobis Allius auxilium. Is clausum lato patefecit limite campum, isque domum nobis isque dedit dominae, ad quam communes exerceremus amores. Quo mea se molli candida diva pede intulit et trito fulgentem in limine plantam innixa arguta constituit solea, coniugis ut quondam flagrans advenit amore Protesilaeam Laodamia domum inceptam frustra, nondum cum sanguine sacro hostia caelestes pacificasset eros. Nil mihi tam valde placeat, Rhamnusia virgo, quod temere invitis suscipiatur eris. Quam ieiuna pium desiderat ara cruorem, docta est amisso Laodamia viro, coniugis ante coacta novi dimittere collum, quam veniens una atque altera rursus hiemps noctibus in longis avidum saturasset amorem, posset ut abrupto vivere coniugio. Quod scibant Parcae non longo tempore abesse si miles muros isset ad Iliacos: nam tum Helenae raptu primores Argivorum coeperat ad sese Troia ciere viros.
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und damit keine Spinne, die an der Decke ihr Netz webt, am vergessenen Namen des Allius ihr Werk verrichten könnte. Denn ihr wisst, wie die doppelzüngige Amathuserin mir Sorgen bereitete und wie sie mich ins Verderben riss, als ich so heiß glühte wie der trinakrische Fels und der malische Meerbusen bei den Thermopylen am Oita; meine Augen hören nicht auf, vor ständigem Weinen zu vergehen, noch meine Wangen, vom traurigen Regenguss feucht zu sein, so wie auf dem luftigen Gipfel eines Berges ein durchsichtiger Fluss aus dem moosigen Fels entspringt, der, wenn er sich kopfüber ins Tal gestürzt hat, mitten durch das dichte Volk hindurchfließt, dem müden Wanderer zur süßen Erfrischung im Schweiß, wenn schwere Hitze die verbrannten Äcker zerfurcht. Und wie im schwarzen Strudel umhergeworfenen Schiffern ein laues Lüftchen sich als hilfreich erweist, die schon Pollux, schon Castor angefleht haben, so kam Allius mir zu Hilfe. Er hat mir ein versperrtes Gebiet mit einem breiten Weg geebnet und er hat mir und meiner Herrin ein Haus gegeben, wo wir uns unserer Liebe hingeben können. Dorthin ging meine strahlende Göttin mit sanftem Schritt und setzte ihren glühenden Fuß auf die ausgetretene Schwelle und trat darauf mit knarrender Sohle, so wie einst, brennend vor Liebe zu ihrem Ehemann, Laodameia am Haus des Protesilaos eintraf – einem Haus, das vergebens begonnen wurde, da noch kein Opfer mit heiligem Blut die himmlischen Herren besänftigt hatte. Nichts soll mir so gefallen, rhamnusische Jungfrau, dass ich es leichtfertig gegen den Willen der Götter tue. Wie es den Altar nach frommem Blut dürstet, hat Laodameia erfahren, nachdem sie ihren Mann verloren hatte, gezwungen, sich vom Hals des frisch Angetrauten zu lösen, bevor ein Winter und noch ein zweiter Winter kamen und in langen Nächten das Verlangen nach Liebe gestillt hätten, so dass sie ohne den ihr entrissenen Ehemann hätte leben können. Das wussten die Parzen: dass er schon nach kurzer Zeit fehlen würde, falls er als Soldat gegen die Mauern Ilions zöge – denn da, durch den Raub der Helena, hatte Troja begonnen, die Männer der Argiver gegen sich aufzustacheln;
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Carmina
Troia, nefas, commune sepulcrum Asiae Europaeque. Troia, virum et virtutum omnium acerba cinis, qualiter et nostro letum miserabile fratri attulit. Ei misero frater adempte mihi, ei misero fratri iucundum lumen ademptum, tecum una tota est nostra sepulta domus, omnia tecum una perierunt gaudia nostra, quae tuus in vita dulcis alebat amor. Quem nunc tam longe non inter nota sepulcra nec prope cognatos compositum cineres, sed Troia obscena, Troia infelice sepultum detinet extremo terra aliena solo. Ad quam tum properans fertur lecta undique pubes Graeca penetrales deseruisse focos, ne Paris abducta gavisus libera moecha otia pacato degeret in thalamo. Quo tibi tum casu, pulcerrima Laodamia, ereptum est vita dulcius atque anima coniugium: tanto te absorbens vertice amoris aestus in abruptum detulerat barathrum, quale ferunt Graii Pheneum prope Cyllenaeum siccare emulsa pingue palude solum, quod quondam caesis montis fodisse medullis audit falsiparens Amphitryoniades, tempore quo certa Stymphalia monstra sagitta perculit imperio deterioris eri, pluribus ut caeli tereretur ianua divis, Hebe nec longa virginitate foret. Sed tuus altus amor barathro fuit altior illo, qui tandem indomitam ferre iugum docuit: nam neque tam carum confecto aetate parenti una caput seri nata nepotis alit, qui, cum divitiis vix tandem iuventus avitis nomen testatas intulit in tabulas, inpia derisi gentilis gaudia tollens suscitat a cano volturium capiti: nec tantum niveo gavisa est ulla columbo conpar, quae multo dicitur inprobius oscula mordenti semper decerpere rostro, quam quae praecipue multivola est mulier.
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Troja – was für ein Frevel! –, du gemeinsames Grab Asiens und Europas, Troja, du bittere Asche aller Männer und Tugend, das nun auch meinem Bruder den erbärmlichen Tod gebracht hat. Oh, armer Bruder, mir entrissen, deinem armen Bruder, du glückliches Licht, genommen, mit dir ist unser ganzes Haus begraben; mit dir ist meine ganze Freude gestorben, die deine süße Liebe im Leben mir nährte. Jetzt, so weit fort, nicht zwischen bekannten Gräbern, nicht bei der Asche unserer Freunde niedergelegt, sondern im dunklen Troja, in Troja hält eine fremde Erde dich kläglich begraben, so fern von daheim. Hierhin eilte die griechische Jugend, so sagt man, von überall her und verließ die heimischen Herde, damit Paris sich nicht ungestört und im Frieden der geraubten Ehebrecherin in seinem Schlafzimmer erfreute. Durch diesen Unglücksfall wurde dir, schönste Laodameia, der Gatte entrissen, der dir lieber war als dein Leben und deine Seele: In solch einem Strudel dich gefangen haltend hatte dich der Liebe Flutwelle in den Abgrund gerissen, so wie beim kyllenischen Pheneus, wie die Griechen es berichten, ein Kanal im Sumpf den fruchtbaren Boden trockenlegt, den einst bis ins Innere des Bergs, wie man hört, der fälschlich dem Amphitryon als Sohn Zugeschriebene gegraben hat, zu einer Zeit, als er mit sicherem Pfeil die stymphalischen Monster erlegte, auf Befehl eines so böswilligen Herrschers, um wie die vielen Götter die Schwelle des Himmels zu betreten, so dass Hebe nicht mehr länger Jungfrau blieb. Aber deine Liebe war tiefer als der Abgrund, die dich Ungezähmte dazu brachte, endlich das Joch zu tragen: Denn keinem Großvater in gestandenem Alter ist das Haupt eines späten Enkels so teuer, den die Tochter aufzieht und der endlich als junger Erbe der großväterlichen Reichtümer seinen Namen in die Zeugenlisten geritzt bekommt, dem belächelten Verwandten die frevelhafte Freude nehmend den Geier vom grauen Haupt aufscheucht; und keine Taube hat sich jemals so über ihren weißen Tauber gefreut, von der man sagt, dass sie sich auf unmoralischere Weise stets Küsse vom pickenden Schnabel pflückt, als es je eine äußerst mannstolle Frau tun könnte.
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Carmina
Sed tu horum magnos vicisti sola furores, ut semel es flavo conciliata viro. Aut nihil aut paulum cui tum concedere digna lux mea se nostrum contulit in gremium, quam circumcursans hinc illinc saepe Cupido fulgebat crocina candidus in tunica. Quae tamen etsi uno non est contenta Catullo, rara verecundae furta feremus erae, ne nimium simus stultorum more molesti: saepe etiam Iuno, maxima caelicolum, coniugis in culpa flagrantem concoquit iram noscens omnivoli plurima furta Iovis. Atqui nec divis homines componier aequum est † ingratum tremuli tolle parentis onus, nec tamen illa mihi dextra deducta paterna fragrantem Assyrio venit odore domum, sed furtiva dedit mira munuscula nocte, ipsius ex ipso dempta viri gremio. Quare illud satis est, si nobis is datur unis, quem lapide illa dies candidiore notat.
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68c Hoc tibi quod potui confectum carmine munus pro multis, Alli, redditur officiis, ne vestrum scabra tangat rubigine nomen haec atque illa dies atque alia atque alia. Huc addent divi quam plurima quae Themis olim antiquis solita est munera ferre piis: sitis felices et tu simul et tua vita et domus ipsa in qua lusimus et domina, et qui principio nobis terram dedit haustis, a quo sunt primo mi omnia nata bona, et longe ante omnes mihi quae me carior ipso est, lux mea, qua viva vivere dulce mihi est.
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Du aber hast allein den großen Wahnsinn dieser übertroffen, als du mit deinem blonden Mann vereint warst. Nicht oder höchstens ein wenig stand ihr mein Licht nach, die sich in meinen Schoß begab; jene umschwebte Cupido, bald hier, bald dort, der in seiner safranfarbenen Tunika erstrahlte. Auch wenn sie nicht mit Catull allein zufrieden ist, werde ich dennoch die seltenen Fehltritte meiner diskreten Herrin ertragen, damit ich ihr nicht so lästig falle wie es die dummen Männer tun. Oft schluckt auch Juno, die höchste der Göttinnen, Wenn ihr Mann Schuld auf sich lädt, ihren brennenden Zorn hinunter, obgleich sie von den Fehltritten Jupiters weiß, den es nach allen verlangt. Dieses Gedicht, das ich, so gut ich konnte, fertiggestellt habe, nimm, Allius, als Dank für deine vielen Dienste, damit nicht mit schmutzigem Rost deinen Namen dieser Tag und der nächste und der darauffolgende beschmutzt. Dennoch kam sie nicht an der rechten Hand ihres Vaters geführt in mein Haus, duftend von assyrischem Parfum, sondern gab mir mitten in der Nacht heimliche kleine Geschenke, die sie ihrem eigenen Mann aus dem Schoß geraubt hatte. 68c Dies ist es, was ich tun konnte, was ich als Gedicht dir zum Geschenk machen kann für deine vielen Dienste, Allius, damit deinen Namen nicht der schmutzige Rost berührt, wenn auf diesen Tag ein weiterer folgt und noch einer und noch einer. Dazu sollen die Götter dir noch vieles gewähren, was Themis einst den Frommen früherer Zeiten zum Geschenk zu machen pflegte: Seid glücklich, du und dein Augenstern und du, Haus, in dem ich mit meiner Herrin spielte, und du, der du uns, als uns das Meer verschlang, Land gabst, du, durch den all dies Gute für mich entstanden ist, und vor allem du, die du mir lieber bist als ich selbst, mein Licht, die du durch dein Leben meines mir angenehm machst.
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Carmina
Epigramme 69 Noli admirari, quare tibi femina nulla, Rufe, velit tenerum supposuisse femur, non si illam rarae labefactes munere vestis aut perluciduli deliciis lapidis. Laedit te quaedam mala fabula, qua tibi fertur valle sub alarum trux habitare caper. Hunc metuunt omnes. Neque mirum: nam mala valde est bestia, nec quicum bella puella cubet. Quare aut crudelem nasorum interfice pestem, aut admirari desine cur fugiant.
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70 Nulli se dicit mulier mea nubere malle quam mihi, non si se Iuppiter ipse petat. Dicit, sed mulier cupido quod dicit amanti, in vento et rapida scribere oportet aqua. 71 Si cui iure bono sacer alarum obstitit hircus, aut si quem merito tarda podagra secat, aemulus iste tuus, qui vestrum exercet amorem, mirifico est a te nactus utrumque malum. Nam quotiens futuit, totiens ulciscitur ambos: illam affligit odore, ipse perit podagra.
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72 Dicebas quondam solum te nosse Catullum, Lesbia, nec prae me velle tenere Iovem. Dilexi tum te non tantum ut vulgus amicam, sed pater ut gnatos diligit et generos. Nunc te cognovi: quare etsi impensius uror, multo mi tamen es vilior et levior. Qui potis est? inquis. Quod amentem iniuria talis cogit amare magis, sed bene velle minus.
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Epigramme 69 Ich wundere mich nicht, warum dir keine Frau, Rufus, ihre zarten Schenkel drunterschieben will, nicht einmal, wenn du ihr aus seltenen Stoffen ein Kleid schenkst oder ein Gehänge aus edlen Steinen. Es schädigt dich ein böses Gerücht, dass bei dir unter der Achselhöhle ein Ziegenbock wohnt. Den fürchten sie alle, kein Wunder: Denn ziemlich schlimm ist die Bestie, und bei der will kein hübsches Mädchen liegen. Deshalb: Töte diese grausame Pest der Nasen, oder hör auf, dich zu wundern, warum sie fliehen. 70 Keinen, sagt mein Mädchen, wolle sie lieber heiraten als mich, nicht einmal, wenn Jupiter selbst um ihre Hand anhält. Sagt sie: Aber was eine Frau dem begierigen Liebhaber sagt, gehört in den Wind geschrieben und ins reißende Wasser. 71 Wenn einen wohl zu Recht der Ziegenbock unter den Armen belästigt, oder wenn einen verdientermaßen die böse Fußgicht schmerzt, ist das dein Freund, der eure Liebe ausübt, es ist wunderlich, aber von dir hat er beide Übel. Denn sooft er dich fickt, so oft wird er durch beides gerächt: Sie quält der Gestank, er vergeht an der Gicht. 72 Einst sagtest du, du kenntest nur Catull, Lesbia, und über mich wolltest du nicht einmal Jupiter stellen. Ich habe dich geliebt, nicht so, wie der Pöbel eine Freundin, sondern wie ein Vater die Söhne und Schwiegersöhne liebt. Nun habe ich dich erkannt: Auch wenn ich dadurch stärker brenne, bist du für mich doch um vieles billiger und leichter. Wie das möglich ist, fragst du? Weil den Liebenden solches Unrecht zwingt, den anderen mehr zu begehren, aber weniger zu wertschätzen.
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Carmina
73 Desine de quoquam quicquam bene velle mereri aut aliquem fieri posse putare pium. Omnia sunt ingrata, nihil fecisse benigne prodest immo etiam taedet obestque magis ut mihi quem nemo gravius nec acerbius urget, quam modo qui me unum atque unicum amicum habuit.
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74 Gellius audierat patruum obiurgare solere, siquis delicias diceret aut faceret. Hoc ne ipsi accideret, patrui perdepsuit ipsam uxorem et patruum reddidit Harpocratem. Quod voluit fecit: nam, quamvis irrumet ipsum nunc patruum, verbum non faciet patruus.
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75 Huc est mens deducta tua, mea Lesbia, culpa, atque ita se officio perdidit ipsa suo, ut iam nec bene velle queat tibi, si optima fias, nec desistere amare, omnia si facias. 76 Si qua recordanti benefacta priora voluptas est homini, cum se cogitat esse pium, nec sanctam violasse fidem, nec foedere in ullo divom ad fallendos numine abusum homines, multa parata manent in longa aetate, Catulle, ex hoc ingrato gaudia amore tibi. Nam quaecumque homines bene cuiquam aut dicere possunt aut facere, haec a te dictaque factaque sunt; omniaque ingratae perierunt credita menti. Quare cur te, cur iam amplius excrucies? Quin tu animo offirmas atque istinc teque reducis et dis invitis desinis esse miser? Difficile est longum subito deponere amorem. Difficile est, verum hoc qua lubet efficias. Una salus haec est, hoc est tibi pervincendum: hoc facias, sive id non pote sive pote. O di, si vestrum est misereri, aut si quibus umquam
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Epigramme
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73 Hör auf, irgendwem irgendein Wohlwollen entgegenzubringen oder es für möglich zu halten, dass irgendjemand anständig sein könnte. Alles ist Undank, nichts, das man aufrichtig getan hätte, nützt, in Wahrheit schadet es und steht umso mehr im Weg: Weil mir, den niemand schlimmer und schärfer treffen könnte, einer schadete, den ich zum alleinigen und einzigen Freund hatte. 74 Gellius hatte gehört, dass sein Onkel jeden zu schelten pflegte, der etwas Anstößiges sagte oder tat. Damit ihm das nicht passiere, fickte er des Onkels Frau durch und machte den Onkel so wiederum zum Harpokrates. Das Ergebnis war das gewünschte: Denn, sooft er nun eben diesen Onkel in den Mund fickt, der Onkel sagt kein Wort. 75 Dahin hat mich deine Liebe geführt, meine Lesbia, und so sehr hat mein Herz nun seinen Dienst dir geleistet, dass ich dir weder gut sein könnte, wärst du die Beste, noch dir böse sein, tätest du Schlimmes. 76 Wenn einem sich Erinnernden die Begierde auf zuvor ihm Wohlgetanes kommt, weil er es für anständig hält, weder das heilige Bündnis verletzt zu haben, noch durch einen Schwur zu den Göttern göttliches Recht missbraucht zu haben, um Leute zu täuschen, sollte dir vieles bereitet sein im lange dauernden Alter, Catull, woraus dir für Freuden der Liebe Undank . Denn viele Leute können jemandem etwas Gutes sagen oder tun, das dir gesagt und getan worden ist. All das dem undankbaren Geist Anvertraute geht zugrunde. Warum also marterst du dich noch weiter? Warum stärkst du dich nicht im Geiste und ziehst dich dahin zurück und hörst auf, den unwilligen Göttern gegenüber traurig zu sein? Es ist schwierig, eine lange währende Liebe loszulassen, es ist schwierig, aber das ist es, was du tun musst: Das ist die einzige Rettung. Das musst du überwinden, das sollst du tun, ob du nun kannst oder nicht. Oh Götter, wenn Ihr Erbarmen kennt, oder wenn Ihr jemals welchen
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Carmina
extremo iam ipsa in morte tulistis opem, me miserum aspicite et, si vitam puriter egi, eripite hanc pestem perniciemque mihi, quae, mihi surrepens imos ut torpor in artus expulit ex omni pectore laetitias. Non iam illud quaero, contra me ut diligat illa, aut, quod non potis est, esse pudica velit: ipse valere opto, et taetrum hunc deponere morbum. O di, reddite mi hoc pro pietate mea.
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77 Rufe mihi frustra ac nequiquam credite amice (Frustra? Immo magno cum pretio atque malo!) sicine subrepsti mi, atque intestina perurens ei misero eripuisti omnia nostra bona? Eripuisti, eheu nostrae crudele venenum vitae, eheu nostrae pestis amicitiae.
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78 Gallus habet fratres, quorum est lepidissima coniunx alterius, lepidus filius alterius. Gallus homo est bellus: nam dulces iungit amores, cum puero ut bello bella puella cubet. Gallus homo est stultus nec se videt esse maritum, qui patruus patrui monstret adulterium. 78a Sed nunc id doleo quod purae pura puellae savia comminxit spurca saliva tua. Verum id non impune feres: nam te omnia saecla noscent et qui sis fama loquetur anus. 79 Lesbius est pulcher: quid ni? Quem Lesbia malit quam te cum tota gente, Catulle, tua. Sed tamen hic pulcher vendat cum gente Catullum, si tria natorum savia reppererit.
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schon im Tode äußerste Hilfe gewährtet, schaut mich an und, wenn ich mein Leben keusch gelebt habe, entreißt mir diese Pest und dies Verderben, das mir unterkroch wie ein Zittern in die Glieder und mir alle Fröhlichkeit aus der Brust riss. Ich will nicht mehr, dass sie mich wieder liebt, oder (was sie nicht kann) schamhaft werden will: Ich selbst will gesund werden und diese schreckliche Krankheit ablegen. Oh Götter, gewährt mir das als Gegenleistung für meine Frömmigkeit! 77 Rufus, den ich dich umsonst immer für einen Freund hielt, (Umsonst? In Wirklichkeit zu einem ziemlich hohen und üblen Preis!) so also bist du mir untergekrochen und hast, mir das Innerste verbrennend, mir Armem all mein Hab und Gut entrissen? Du hast es mir entrissen, oh weh, oh weh, grausames Gift meines Lebens, oh weh, oh weh, Pest meiner Freundschaft. 78 Gallus hat Brüder, von denen einer eine ausgesprochen hübsche Ehefrau hat, einen hübschen Sohn der andere. Gallus ist ein geschmackvoller Mann: Denn er führt süße Liebschaften zusammen, wenn der hübsche Knabe mit dem hübschen Mädchen schläft. Gallus ist ein dummer Mann, und er sieht nicht, dass er ein Ehemann ist, der als Onkel dem Neffen den Ehebruch lehrt. 78a Aber nun erleide ich es, weil des reinen Mädchens reine Lippen mit deinem dreckigen Speichel beschmutzt werden. Aber das tust du nicht ungestraft: Denn alle Zeitalter werden es wissen, und wer du bist, wird die Großmutter als Gerücht verbreiten. 79 Lesbius ist schön. Wie auch nicht? Ihn will Lesbia lieber als dich, Catull, und deine gesamte Sippe. Aber dennoch wird dieser Schöne Catull mit seiner ganzen Sippe verkaufen, wenn er dafür dreimal die Lippen seiner Freunde bekäme.
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Carmina
80 Quid dicam, Gelli, quare rosea ista labella hiberna fiant candidiora nive, mane domo cum exis et cum te octava quiete e molli longo suscitat hora die? Nescio quid certe est: an vere fama susurrat grandia te medii tenta vorare viri? Sic certe est: clamant Victoris rupta miselli ilia, et emulso labra notata sero.
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81 Nemone in tanto potuit populo esse, Iuventi, bellus homo, quem tu deligere inciperes, praeterquam iste tuus moribunda ab sede Pisauri hospes inaurata pallidior statua, qui tibi nunc cordi est, quem tu praeponere nobis audes, et nescis quod facinus facias?
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82 Quinti, si tibi vis oculos debere Catullum aut aliud si quid carius est oculis, eripere ei noli multo quod carius illi est oculis seu quid carius est oculis. 83 Lesbia mi praesente viro mala plurima dicit: haec illi fatuo maxima laetitia est. Mule, nihil sentis. Si nostri oblita taceret, sana esset: nunc quod gannit et obloquitur, non solum meminit, sed quae multo acrior est res, irata est. Hoc est, uritur et loquitur.
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84 Chommoda dicebat, si quando commoda vellet dicere, et insidias Arrius hinsidias, et tum mirifice sperabat se esse locutum, cum quantum poterat dixerat hinsidias. Credo, sic mater, sic liber avunculus eius, sic maternus avus dixerat atque avia. Hoc misso in Syriam requierant omnibus aures:
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80 Was soll ich sagen, warum deine rosigen Lippen weißer sind als der winterliche Schnee, wenn du morgens aus dem Haus gehst, und wenn dich aus der süßen langen Ruhe die achte Stunde reißt? Irgendetwas ist es doch: Ob das Gerücht stimmt, dass du das Große in der Mitte des Mannes verschlingst? Das ist es: Das schreien des armen kleinen Victor geschundene Lenden, und die Lippen zeigen es an, wenn der Saft verspritzt ist. 81 Konnte es in diesem großen Volk, oh Juventius, denn keinen schönen Mann geben, in den du dich hättest verlieben können, als deinen Gastfreund aus dem ungesunden Ort Pisaurum, der bleicher ist als ein vergoldetes Standbild? Dem gehört nun dein Herz, den wagst du mir vorzuziehen, und du weißt nicht, was für eine Schandtat du damit begehst? 82 Quintus, wenn du willst, dass Catull dir sein Augenlicht schuldet oder etwas anderes, das ihm noch teurer ist als sein Augenlicht, dann entreiße ihm nicht, was ihm um vieles teurer als sein Augenlicht ist – oder als alles, was ihm sonst noch teurer ist als sein Augenlicht. 83 Lesbia sagte mir, als ihr Mann anwesend war, viel Böses: Das bereitete diesem Depp die größte Freude. Esel, hast du keinen Verstand? Schwiege sie, meiner vergessend, das wäre normal: Nun aber keift sie und schwätzt – nicht nur, dass sie an mich denkt, aber, was viel schwerer wiegt: Sie ist wütend. Das ist es – sie brennt, und sie redet. 84 „Hangenehm“ sagte Arrius immer, wenn er „angenehm“ sagen wollte, und „Unannehmlichkeiten“ nannte er „Hunannehmlichkeiten“. Und er hoffte, alle durch seine Redeweise zu beeindrucken, wenn er, sooft er konnte, „Hunannehmlichkeiten“ gesagt hatte. Ich glaube, so sprach schon seine Mutter, so sein Onkel, so sein Großvater mütterlicherseits und seine Großmutter. Als er nach Syrien geschickt wurde, erholten sich die Ohren aller:
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Carmina
audibant eadem haec leniter et leviter, nec sibi postilla metuebant talia verba, cum subito affertur nuntius horribilis, Ionios fluctus postquam illuc Arrius isset, iam non Ionios esse, sed Hionios.
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85 Odi et amo. Quare id faciam fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior. 86 Quintia formosa est multis, mihi candida longa recta est. Haec ego sic singula confiteor, totum illud formosa nego: nam nulla venustas, nulla in tam magno est corpore mica salis. Lesbia formosa est, quae cum pulcherrima tota est, tum omnibus una omnes surripuit veneres.
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87 Nulla potest mulier tantum se dicere amatam vere quantum a me Lesbia amata mea es; nulla fides ullo fuit umquam in foedere tanta, quanta in amore tuo ex parte reperta mea est. 88 Quid facit is, Gelli, qui cum matre atque sorore prurit et abiectis pervigilat tunicis? Quid facit is, patruum qui non sinit esse maritum? Ecquid scis quantum suscipiat sceleris? Suscipit, o Gelli, quantum non ultima Tethys nec genitor nympharum abluit Oceanus: nam nihil est quicquam sceleris quo prodeat ultra, non si demisso se ipse voret capite. 89 Gellius est tenuis: quid ni? Cui tam bona mater tamque valens vivat tamque venusta soror tamque bonus patruus tamque omnia plena puellis cognatis, quare is desinat esse macer?
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Man hörte leichte und angenehme Laute, und niemand fürchtete sich mehr vor solchen Worten, als man auf einmal die schreckliche Kunde verbreitete, dass das Ionische Meer, nachdem Arrius dort hindurchfuhr, nicht länger das Ionische Meer sei, sondern das Hionische. 85 Ich hasse und liebe. Warum ich das tue, magst du mich fragen. Ich weiß es nicht. Doch ich fühle es geschehen und ich zermartere mich. 86 Quintia halten viele für schön, und auch ich finde, dass sie hell, hoch gewachsen und von geradem Wuchs ist. Das alles gestehe ich ihr zu, aber insgesamt streite ich ab, dass sie schön ist. Denn sie besitzt keine Anmut, und einem so großen Körper fehlt das gewisse Etwas. Lesbia, die ist schön, denn sie ist schön im Ganzen, sie allein hat allen anderen allen Reiz gestohlen. 87 Keine Frau kann behaupten, dass sie so sehr geliebt wurde, wie du, Lesbia, von mir geliebt wurdest. Keine Treue war je in irgendeinem Bündnis so groß wie sie in meiner Liebe dir gegenüber bestand. 88 Was macht einer, Gellius, der es mit Mutter und Schwester treibt und mit abgelegter Tunika die Nächte durchmacht? Was macht einer, der den eigenen Onkel keinen richtigen Ehemann sein lässt? Weißt du, was für ein Verbrechen so einer begeht? Ein Verbrechen, das so groß ist, dass nicht einmal die ferne Tethys oder der Vater der Nymphen, Okeanos, es fortwaschen könnte: Denn es gibt kein Verbrechen, das darüber hinausginge, außer wenn er sich vornüberbeugte und sich selbst verschlänge. 89 Gellius ist schmächtig. Wie auch nicht? Er hat eine so gute Mutter und es geht ihm so gut und seine Schwester ist so reizend und sein Onkel ebenso und voll von Mädchen ist seine ganze Verwandtschaft, warum sollte er aufhören, schmächtig zu sein?
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Carmina
Qui ut nihil attingat, nisi quod fas tangere non est, quantumvis quare sit macer invenies.
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90 Nascatur magus ex Gelli matrisque nefando coniugio et discat Persicum aruspicium: nam magus ex matre et gnato gignatur oportet, si vera est Persarum impia religio, gratus ut accepto veneretur carmine divos omentum in flamma pingue liquefaciens.
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91 Non ideo, Gelli, sperabam te mihi fidum in misero hoc nostro, hoc perdito amore fore, quod te nos nossem bene constantemve putarem aut posse a turpi mentem inhibere probro, sed neque quod matrem nec germanam esse videbam hanc tibi, cuius me magnus edebat amor. Et quamvis tecum multo coniungerer usu, non satis id causae credideram esse tibi. Tu satis id duxti: tantum tibi gaudium in omni culpa est, in quacumque est aliquid sceleris. 92 Lesbia mi dicit semper male nec tacet umquam de me: Lesbia me dispeream nisi amat. Quo signo? Quia sunt totidem mea: deprecor illam assidue, verum dispeream nisi amo. 93 Nil nimium. Studeo, Caesar, tibi velle placere, nec scire utrum sis albus an ater homo. 94 Mentula moechatur. Moechatur Mentula certe. Hoc est quod dicunt, ipsa olera olla legit. 95 Zmyrna mei Cinnae nonam post denique messem quam coepta est nonamque edita post hiemem,
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Epigramme
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Auch wenn er nichts berührt, was er nicht von Rechts wegen berühren darf, wirst du immer noch genügend Gründe finden, warum er so schmächtig ist. 90 Es sollte ein Magier geboren werden aus Gellius’ und seiner Mutter frevelhaftem Beischlaf, und er sollte das persische Wahrsagen lernen: Denn es gehört sich, dass Mutter und Sohn einen Magier zeugen, wenn an der unfrommen Religion der Perser etwas Wahres dran ist, damit er dankbar mit erhörtem Gebet die Götter verehrt, wenn er das Opferfett auf dem Feuer verflüssigt. 91 Nicht deshalb, Gellius, hoffte ich, dass du mir treu wärst in dieser meiner traurigen, dieser verlorenen Liebe, weil ich dich nicht gut kennte oder glaubte, du seist verlässlich oder könntest deinen Geist vom schändlichen Tun abwenden, sondern weil ich sah, dass sie weder deine Mutter noch Schwester ist, sie, um derentwillen mich die große Liebe verzehrte. Und obwohl ich mit dir viel Umgang pflegte, glaubte ich, dass das allein für dich nicht als Grund ausreichte. Indes, für dich reichte es: Zu so großer Freude gereicht dir jegliche Schuld, in der sich ein wenig Verbrechen finden lässt. 92 Immer lästert Lesbia über mich und hält niemals den Mund: Ich will verwünscht sein, wenn sie mich nicht liebt. Woran ich das merke? Weil ich es genauso mache: Ständig ziehe ich über sie her, aber ich will verwünscht sein, wenn ich sie nicht liebe. 93 Ich halte mich zurück. Ich bemühe mich weder, dir, Caesar, zu gefallen, noch will ich wissen, ob du weiß oder schwarz bist. 94 Mentula hurt herum. Natürlich tut er das. Schließlich sagt man doch: Der Topf sucht sich selbst das Gemüse. 95 Die Zmyrna meines Freundes Cinna ist endlich erschienen, nach der neunten Ernte, nach neun Wintern,
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Carmina
milia cum interea quingenta Hatriensis uno
Zmyrna cavas Satrachi penitus mittetur ad undas, Zmyrnam cana diu saecula pervoluent. At Volusi annales Paduam morientur ad ipsam et laxas scombris saepe dabunt tunicas. Parva mei mihi sint cordi monimenta sodalis: at populus tumido gaudeat Antimacho.
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96 Si quicquam mutis gratum acceptumve sepulcris accidere a nostro, Calve, dolore potest, quo desiderio veteres renovamus amores atque Orco missas flemus amicitias, certe non tanto mors inmatura dolori est Quintiliae, quantum gaudet amore tuo.
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97 Non, ita me di ament, quicquam referre putavi, utrumne os an culum olfacerem Aemilio. Nilo mundius hoc, niloque immundius illud, verum etiam culus mundior et melior: nam sine dentibus est: dentes os sesquipedalis, gingivas vero ploxeni habet veteris, praeterea rictum qualem diffissus in aestu meientis mulae cunnus habere solet. Hic futuit multas et se facit esse venustum, et non pistrino traditur atque asino? Quem siqua attingit, non illam posse putemus aegroti culum lingere carnificis?
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98 In te, si in quemquam, dici pote, putide Vetti, id quod verbosis dicitur et fatuis: ista cum lingua, si usus veniat tibi, possis culos et crepidas lingere carpatinas. Si nos omnino vis omnes perdere, Vetti, hiscas: omnino quod cupis efficies.
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während der Mann aus Atria fünfhunderttausend Verse in
Die Zmyrna wird weit reisen, bis in die tiefen Wasser des Satrachos; künftige Generationen, mit weißem Haar, werden die Zymrna ausrollen. Aber die Annalen des Volusius werden bereits bei Padua eingehen und ein ums andere Mal werden Makrelen in sie eingewickelt werden. Die kleinen Werke meines Freundes werden mir stets am Herzen liegen, soll doch der Pöbel sich am schwülstigen Antimachos erfreuen. 96 Wenn wir es vermögen, oh Calvus, den stummen Gräbern etwas von unserem Schmerz durch unsere Dichtung mitzuteilen, dem Schmerz, der uns an der Liebe festhalten lässt und uns dazu bringt, dass wir über die weinen, die tot sind: Dann ist Quintilia nicht halb so betrübt, dass sie so früh starb, wie sie sich über deine Liebe freut. 97 Ich glaube nicht – bei den Göttern –, dass es einen Unterschied macht, ob ich an Aemilius’ Mund oder Arsch rieche. Weder ist der eine sauberer noch der andere schmutziger, tatsächlich ist sein Arsch sogar sauberer und angenehmer; denn er hat keine Zähne. Der Mund aber hat welche, anderthalb Fuß lang, und Zahnfleisch wie ein alter Kutschkasten, zudem einen Rachen, aufgerissen wie bei einer in Hitze pissenden Eselin normalerweise die Fotze. Er fickt viele Frauen und meint, er ist ein reizender Mensch, und dafür wird er nicht in die Mühle, zum Esel geschickt? Wenn eine den anfasst, könnte die dann nicht ebenso gut einem kranken Henker den Arsch lecken? 98 Wenn überhaupt über jemanden, dann könnte man über dich, schamloser Vettius, sagen, was man über Schwätzer und Närrinnen sagt: Mit der Zunge da, mit der könntest du, wenn sie nützen soll, Ärsche und lederne Schuhsohlen lecken. Wenn du uns alle ins Grab bringen willst, Vettius, dann mach dein Maul auf: Dann wirst du genau das, was du willst, erreichen.
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Carmina
99 Surripui tibi, dum ludis, mellite Iuventi, saviolum dulci dulcius ambrosia. Verum id non impune tuli: namque amplius horam suffixum in summa me memini esse cruce, dum tibi me purgo nec possum fletibus ullis tantillum vestrae demere saevitiae. Nam simul id factum est, multis diluta labella guttis abstersisti omnibus articulis, ne quicquam nostro contractum ex ore maneret, tamquam commictae spurca saliva lupae. Praeterea infesto miserum me tradere Amori non cessasti omnique excruciare modo, ut mi ex ambrosia mutatum iam foret illud saviolum tristi tristius elleboro. Quam quoniam poenam misero proponis amori, numquam iam posthac basia surripiam.
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100 Caelius Aufilenum et Quintius Aufilenam flos Veronensum depereunt iuvenum, hic fratrem, ille sororem. Hoc est, quod dicitur, illud fraternum vere dulce sodalicium. Cui faveam potius? Caeli, tibi: nam tua nobis perspecta egregie est unica amicitia, cum vesana meas torreret flamma medullas. Sis felix, Caeli, sis in amore potens.
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101 Multas per gentes et multa per aequora vectus advenio has miseras, frater, ad inferias, ut te postremo donarem munere mortis et mutam nequiquam alloquerer cinerem, quandoquidem fortuna mihi tete abstulit ipsum, heu miser indigne frater adempte mihi. Nunc tamen interea haec, prisco quae more parentum tradita sunt tristi munere ad inferias, accipe fraterno multum manantia fletu, atque in perpetuum, frater, ave atque vale.
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99 Ich stahl dir während unserer Neckereien, honigsüßer Juventius, ein Küsschen, süßer als süße Ambrosia. Aber das tat ich nicht ungestraft: Denn über eine Stunde fühlte ich mich danach wie ans Kreuz geschlagen, während ich dich um Entschuldigung bat und doch mit keiner meiner Tränen deine Wut besänftigen konnte. Denn sobald es geschehen war, wuschst du dir mit viel Wasser die Lippen und wischtest sie ab mit deinen zarten Fingern, damit bloß keine Spur davon an deinem Mund bliebe, als wäre es der schmutzige Speichel einer bepissten Hure. Außerdem hast du mich Armen dem schrecklichen Amor überantwortet und dann nicht gezögert, mich auf jede Weise zu martern, so dass das Küsschen bald nicht mehr nach Ambrosia schmeckte sondern bitterer als der bittere Nieswurz. Da du die unglückliche Liebe derart bestrafst, werde ich dir nun niemals mehr Küsse rauben. 100 Caelius liebt Aufilenus und Quintius liebt Aufilena, die Blüte der Veronenser Jugend vergeht vor Liebe, der eine zum Bruder, der andere zur Schwester. Das ist es wohl, was man eine wahrhaft brüderliche Vereinigung nennt. Wem soll ich nun mehr Glück wünschen? Dir, Caelius: denn deine Freundschaft habe ich als ganz einzigartig erfahren, als die Flamme des Wahnsinns mein Innerstes auffraß. Sei glücklich, Caelius, sei in der Liebe erfolgreich! 101 Zu vielen Völkern und über viele Meere gereist, treffe ich an deinem traurigen Grab ein, Bruder, um dir schließlich dieses Grabgeschenk zu bringen und vergebens zu deiner stummen Asche zu sprechen, da nun einmal das Schicksal dich mir genommen hat, oh armer Bruder, auf ungerechte Weise mir entrissen! Nun aber nimm dies von mir, was nach alter Sitte der Väter überliefert ist als trauriges Geschenk beim Begräbnis, nimm es, unter reichlichen Tränen deines Bruders, und in Ewigkeit, Bruder, sei gegrüßt und lebe wohl.
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Carmina
102 Si quicquam tacito commissum est fido ab amico, cuius sit penitus nota fides animi, meque esse invenies illorum iure sacratum, Corneli, et factum me esse puta Harpocratem. 103 Aut, sodes, mihi redde decem sestertia, Silo, deinde esto quamvis saevus et indomitus: aut, si te nummi delectant, desine quaeso leno esse atque idem saevus et indomitus. 104 Credis me potuisse meae maledicere vitae, ambobus mihi quae carior est oculis? Non potui, nec si possem tam perdite amarem. Sed tu cum Tappone omnia monstra facis. 105 Mentula conatur Pipleum scandere montem: Musae furcillis praecipitem eiciunt. 106 Cum puero bello praeconem qui videt esse, quid credat, nisi se vendere discupere? 107 Si quicquam cupidoque optantique optigit umquam insperanti, hoc est gratum animo proprie. Quare hoc est gratum nobis quoque carius auro, quod te restituis, Lesbia, mi cupido, restituis cupido atque insperanti ipsa refers te nobis. O lucem candidiore nota! Quis me uno vivit felicior, aut magis hac rem optandam in vita dicere quis poterit? 108 Si, Comini, arbitrio populi tua cana senectus spurcata impuris moribus intereat, non equidem dubito quin primum inimica bonorum
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102 Wenn schon einmal einem schweigsamen treuen Freund etwas anvertraut wurde, dessen treuer Geist wohlbekannt ist, wirst du merken, dass ich durch das Recht jener geheiligt bin, Cornelius, und darfst glauben, dass man mich zum Harpokrates gemacht hat. 103 Entweder, Silo, du gibst mir meine zehntausend Sesterzen zurück, danach darfst du so wild und ungestüm sein, wie du willst; oder, wenn die Münzen dir gefallen, hör bitte auf Zuhälter zu sein und zugleich wild und ungestüm. 104 Glaubst du im Ernst, ich hätte schlecht über meine Liebste sprechen können, die mir doch mehr bedeutet als beide meine Augen? Ich könnte es nicht, oder ich könnte sie nicht so sehr lieben. Aber du stellst mit Tappo alles erdenklich Widerliche an. 105 Mentula versucht den pierischen Berg zu besteigen; die Musen mit ihren Mistgabeln werfen ihn kopfüber hinunter. 106 Wenn man einen Auktionator mit einem hübschen Knaben zusammen sieht, was soll man anderes denken als: Will der sich etwa verkaufen? 107 Wenn jemandem das, was er sich wünscht und wonach er sich sehnt, unverhofft zuteilwird, dann freut er sich darüber. Deshalb freue auch ich mich nun, mehr als über wertvolles Gold, weil du zu mir zurückkommst, Lesbia, zu mir, der sich nach dir sehnt, zu mir zurückkommst, zu mir, der sich nach dir sehnt, dich mir zurückgibst. Oh schöner Tag, als strahlend hell zu preisen! Wer lebt glücklicher als ich, wer könnte sich irgendetwas im Leben mehr wünschen als dies? 108 Wenn, Cominius, nach dem Willen des Volkes dein graues Alter, das durch lasterhafte Unsitten befleckt ist, sein Ende findet, dann reißt man dir ohne jeden Zweifel zuallererst die Feindin des Guten,
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Carmina
lingua excerpta avido sit data volturio, effossos oculos voret atro gutture corvus, intestina canes, cetera membra lupi.
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109 Iucundum, mea vita, mihi proponis amorem hunc nostrum inter nos perpetuumque fore. Di magni, facite ut vere promittere possit, atque id sincere dicat et ex animo. Ut liceat nobis tota perducere vita aeternum hoc sanctae foedus amicitiae.
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110 Aufilena, bonae semper laudantur amicae: accipiunt pretium, quae facere instituunt. Tu, quod promisti, mihi quod mentita, inimica es: quod nec das nec fers, turpe facis facinus. Aut facere ingenuae est, aut non promisse pudicae, Aufilena, fuit: sed data corripere fraudando est falsum plus quam meretricis avarae, quae sese toto corpore prostituit. 111 Aufilena, viro contentam vivere solo, nuptarum laus ex laudibus eximiis: sed cuivis quamvis potius succumbere par est, quam matrem fratres *** ex patruo. 112 Multus homo es, Naso, neque tecum multus homo est, qui descendit: Naso, multus es et pathicus. 113 Consule Pompeio primum duo, Cinna, solebant Maeciliam: facto consule nunc iterum manserunt duo, sed creverunt milia in unum singula. Fecundum semen adulterio.
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deine Zunge, heraus und wirft sie dem gierigen Geiern vor, ebenso deine Augen, die verschlingt dann ein schwarzer Rabe, Hunde fressen deine Eingeweide, deine übrigen Glieder die Wölfe. 109 Eine erfreuliche Liebe, mein Leben, stellst du mir in Aussicht, die auf ewig zwischen uns bestehen wird. Große Götter, macht, dass sie dies tatsächlich versprechen kann und dass sie es aufrichtig und vom Herzen her sagt. Sei es uns doch vergönnt, das ganze Leben lang dieses Bündnis heiliger Freundschaft aufrechtzuerhalten. 110 Aufilena, gute Freundinnen werden immer gelobt: Sie nehmen eine Belohnung für das, was sie zu tun bereit sind. Du bist das Gegenteil einer Freundin, weil deine Versprechen Lügen sind: Du gibst nichts, tust nichts, führst dich schändlich auf. Entweder du bist aufrichtig und tust es, oder du bist keusch und versprichst es gar nicht erst, Aufilena: Aber das, was man dir gibt, betrügerisch an dich zu reißen, ist falsch und schlimmer, als es eine habgierige Hure machen würde, die sich mit ihrem ganzen Körper darbietet. 111 Aufilena, mit einem einzigen Mann zufrieden zu leben, ist das größte Lob für eine verheiratete Frau: Aber es ist immer noch besser, sich unter jeden darunterzulegen, als dem Onkel als Mutter der Brüder . 112 Du nimmst den Mund zu voll, Naso, und hast keinen wie dich, der freiwillig mit aufs Forum geht: Naso, du nimmst den Mund zu voll, und zwar mit Schwänzen. 113 Als Pompeius das erste Mal Konsul war, Cinna, da trieben es zwei mit Maecilia: Jetzt, wo er zum zweiten Mal Konsul ist, sind diese zwei noch dabei, aber zu jedem von diesen kamen noch eintausend hinzu. Wie fruchtbar die Saat des Ehebruchs ist!
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114 Firmanus saltus non falso, Mentula, dives fertur, qui tot res in se habet egregias, aucupium, omne genus piscis, prata, arva ferasque. Nequiquam: fructus sumptibus exsuperat. Quare concedo sit dives, dum omnia desint: saltum laudemus dum modo ipse egeat.
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115 Mentula habet instar triginta iugera prati, quadraginta arvi: cetera sunt maria. Cur non divitiis Croesum superare potis sit uno qui in saltu tot bona possideat, prata, arva, ingentis siluas saltusque paludesque usque ad Hyperboreos et mare ad Oceanum? Omnia magna haec sunt, tamen ipse est maximus ultro: non homo, sed vero mentula magna minax.
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116 Saepe tibi studioso animo venante requirens carmina uti possem mittere Battiadae, qui te lenirem nobis, neu conarere tela infesta meum mittere in usque caput, hunc video mihi nunc frustra sumptum esse laborem, Gelli, nec nostras hic valuisse preces. Contra nos tela ista tua evitamus amictu: at fixus nostris tu dabis supplicium.
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Epigramme
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114 Dein Landgut in Firmum, Mentula, ist reich, wie man ganz recht behauptet, dort gibt es viele ausgezeichnete Dinge: Vogeljagd, jede Art Fisch, Wiesen, Fluren und Wild. Nützt aber nichts: Die Kosten übertreffen den Ertrag. Daher gestehe ich gerne zu, dass es reich ist, wenngleich alles fehlt: Das Landgut will ich loben, wenn nur er selbst nichts besitzt. 115 Mentula besitzt ungefähr 30 Morgen Wiesen, 40 Morgen Felder, der Rest des Besitzes ist Meer. Warum kann er dann nicht reicher sein als Krösus, wenn er doch so viel in einem einzigen Landgut besitzt – Wiesen, Felder, ungeheure Wälder und Weiden und Sümpfe bis zu den Hyperboreern und an den Ozean? Das alles ist zwar groß, aber er selbst ist noch weitaus größer: Er ist kein Mensch, sondern ein riesiger, ehrfurchtgebietender Schwanz. 116 Oft wollte ich dir mit geschäftigem Geist Gedichte des Battiaden schicken, damit du sanft zu mir wärst und nicht versuchtest, deine feindlichen Geschosse auf mein Haupt abzufeuern, diese Mühe erkenne ich aber nun als vergebens auf mich genommen, Gellius, meine Bitten haben nichts bewirkt. Deine Geschosse gegen mich fange ich mit dem Mantel ab; aber du wirst deine Strafe bekommen, wenn dich meine treffen.
Versmaße Die korrekte Aussprache lateinischer Dichtung ist eine komplexe Angelegenheit. Anders als im Deutschen, wo das Versmaß durch die Betonung bestimmt ist bzw. betonte und unbetonte Silben, geht es bei lateinischen Versen um Längen und Kürzen. Lange Silben (in der schematischen Darstellung als – gekennzeichnet) werden länger gehalten als kurze (in der schematischen Darstellung als u gekennzeichnet). Der Wortakzent jedoch bleibt dabei erhalten. Die frühere deutsche Schulaussprache lateinischer Dichtung hat diesen Unterschied vernachlässigt und den Wortakzent kaum beachtet, so dass lange Silben einfach durch betonte Silben ersetzt wurden. Das kommt dem deutschen Sprachgefühl zwar näher (und ist für Schüler und Studenten somit einfacher), aber es hat nichts mit der korrekten Aussprache altrömischer Verse gemein. Es folgt eine Übersicht aller bei Catull verwendeten Versmaße, um dem Leser bei jedem Gedicht zumindest einen Anhaltspunkt zu geben, wie es zu skandieren ist. Hendecasyllabus (Elfsilber): uū – uu – u – u – ū (c. 1–3, 5–7, 9, 10, 12–16, 21, 23, 24, 26–28, 32, 33, 35, 36, 38, 40–43,45– 50, 53–58a) Daktylischer Hexameter: – ūū – ūū – | ūū – ūū – uu – u (c. 62, 64 ) Elegisches Distichon: – ūū – ūū – | ūū – ūū – uu – u – ūū – ūū – | – uu – uu u (c. 65–116) Jambischer Trimeter: ū–u–ul–u–u–uu (c. 4, 29)
150
Versmaße
Jambischer Trimeter (nach Archilochos): ū – u – ū| – u – u – u u (c. 52)
Katalektischer jambischer Tetrameter (Septenar): ū – u – u – u – |ū – u – ū – ū (c. 25) Choliambus (Skazon): ū – u – ū| – u – u – – ū (c. 8, 22, 31, 37, 39, 44, 59, 60) Versus Glykoneus: u ū – uu – u – u ū – uu – u – u ū – uu – u – u ū – uu – u – (nur c. 61) u ū – uu – ū (c. 34, 61) Versus Priapeus: – ū – uu – u – – ū – uu – ū (c. 17) Asclepiadeus maior: – – – uu – | – uu – | – uu – u u (c. 30) Sapphische Strophe: – u – ū – uu – u – ū – u – ū – uu – u – ū – u – ū – uu – u – ū – uu – ū (c. 11, 51) Galliambus: ūū – ū uu u – – | ūū – u uu u u (c. 63)
Anmerkungen
1 1
1
6 9
2 1
cui dono: Dieses Gedicht stellt die Widmung einer Gedichtsammlung (wohl aber nicht des ganzen uns vorliegenden Catull-Buchs, s. Einleitung) an den Schriftsteller Cornelius Nepos (ca. 100–ca. 28 v. Chr.) dar, der den Neoterikern nahestand. lepidum: „charmant“, „fein“; eines der Signalwörter der neoterischen Programmatik, die die ausgefeilte, anspruchsvolle Kleinform dem Groben und Bombastischen vorzieht, und der urbanitas, der großstädtischen, weltgewandten Intellektualität. Dazu gehören u. a. bellus (nett), elegans (geistreich), facetus (fein), festivus (witzig), lepidus (charmant), venustus (attraktiv) und auch Substantive wie nugas (v. 4). tribus … chartis: Chronica, ein (leider verlorenes) Geschichtswerk des Nepos in drei Büchern; erwähnt bei Aulus Gellius, 27.21. patrona virgo: eine der neun Musen, hier mag Euterpe, die Muse der Lyrik, oder auch Erato, die Muse der Liebesdichtung, gemeint sein.
passer: Bereits in der Antike wurde der „Sperling“ als Penis interpretiert; vgl. Martial 11.6.14–16: Da nunc basia, sed Catulliana: Quae si tot fuerint quot ille dixit, donabo tibi passerem Catulli. Gib mir jetzt Küsse, aber catullische. Und wenn es so viele sind, wie er gesagt hat, dann gebe ich dir Catulls Sperling.
2a 2
aureolum malum: der goldene Apfel aus dem Urteil des Paris, den der trojanische Prinz Aphrodite gibt, als er zwischen Aphrodite, Hera und Athene wählen muss, wer die schönste der Göttinnen sei.
152 3 5
4 27
7 6
9 3
10 7
16 26
Anmerkungen
plus … oculis: Einer der beliebtesten Vergleiche der römischen Literatur, wenn es darum geht, zu definieren, wie sehr man etwas oder jemanden liebt, ist der Vergleich mit dem eigenen Augenlicht; vgl. c. 14.1, 82.2 ff., 104.2.
gemelle Castor et gemelle Castoris: die Dioskuren Castor und Pollux; es erstaunt, dass Catull ausgerechnet den Namen des Pollux nur durch den des Bruders umschreibt, immerhin ist Pollux in der griechischen Mythologie der unsterbliche der beiden Halbbrüder und stammt von Zeus ab, während Castor umgebracht wird.
Batti … sepulcrum: Battos I. war der Gründer der Familie des hellenistischen Dichters und Philologen Kallimachos aus dem libyschen Kyrene (ca. 310–303 v. Chr.), Catulls wichtigstem Vorbild, der Leiter der berühmten Bibliothek von Alexandria war. Daher nennt man Kallimachos auch einen „Battiaden“ („Sohn des Battos“), vgl. c. 65.16, 116.2.
Penates: Die Penaten waren die römischen Schutzgötter des Hauses und der Familie.
Bithynia: 57/56 v. Chr. war Memmius Statthalter von Bithynien, Catull scheint in dessen Kohorte gedient zu haben (vgl. c. 31, 46), zusammen mit seinen Freunden Veranius und Fabullus (vgl. c. 12, 28, 47) – eine soziale Auszeichnung für höhergestellte junge Römer. Somit ist dieses eines der sicher datierbaren Gedichte. ad lecticam homines: Sklaven als Sänftenträger waren ein Statussymbol. ad Serapim: Serapis war ein ägyptisch-griechischer Gott, der von den Ptolemäern in Ägypten eingeführt wurde und mit Osiris und Apis in Verbindung stand. Er war auch in Rom beliebt und wurde dort im Heiligtum Iseum Campense verehrt.
Anmerkungen
11 5 6
12 1 1
10
14
14 1 2
3 5
9
15
153
Hyrcanos: Hyrkanien war eine Landschaft südlich des Kaspischen Meers. Sacas: Die Saker waren ein Nomadenvolk und lebten nördlich von Persien; sie gehörten zu den Skythenvölkern.
Marrucine: Die Marrukiner waren ein samnitischer Volksstamm, der an der Küste der Abruzzen lebte. Asini: offenbar ein Bruder (vgl. v. 6 f.) des C. Asinius Pollio (ca. 76 v. Chr.–5 n. Chr.), eines bekannten Politikers und Schriftstellers, der später als Mentor von Vergil und Horaz von sich reden machte. Er verfasste ein heute fragmentarisch erhaltenes Geschichtswerk über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, der freilich erst nach Catulls Tod stattfand. hendecasyllabos trecentos: Hendekasyllaben oder Elfsilber, Catulls „typisches“ Versmaß (s. S. 149); hier benutzt er den Ausdruck als Synonym für Invektiven. sudaria Saetaba: Die iberische Stadt Saetabis (heute: Xàtiva bei Valencia) war für ihr feines Tuch bekannt (vgl. Plin. nat. 19.9), siehe auch c. 25.7.
plus oculis meis: vgl. c. 3.5. Calve: C. Licinius Macer Calvus gehörte wahrscheinlich zu den Neoterikern; er war ein bekannter Redner und verfasste u. a. das Epyllion Io. odio Vatiniano: Calvus hatte den Politiker P. Vatinius mehrmals vor Gericht gebracht. tot … poetis: Man ließ sich damals gerne ein Buch mit ausgewählten kurzen Werken verschiedener Dichter zusammenstellen; hier scheint es sich um ein Scherzgeschenk von Calvus zu handeln. Sulla litterator: wohl ein Klient des Calvus; für die Zeitgenossen sicherlich ein Spiel mit der schrecklichen Erinnerung an den verstorbenen Diktator Sulla. Saturnalibus: Die Saturnalien waren das beliebteste Fest im alten Rom; es fand Mitte Dezember statt. Man machte einander Geschenke, und im Rahmen des Festes wurden viele Konventionen auf den Kopf gestellt – so durften z. B. Sklaven ihren Herren Befehle erteilen.
154
Anmerkungen
18 f. Caesios Aquinos Suffenum: offenbar Beispiele für schlechte Dichter; heute sind sie nicht mehr bekannt. Suffenus ist sicherlich der Protagonist aus c. 22. 15 19
16 1
2
17 1 6
raphani: Hinweis auf die in Griechenland zeitweise übliche Praxis der Aporaphanidosis, bei der einem überführten Ehebrecher rektal ein Rettich eingeführt wurde (vgl. Aristoph. Nu. 1083).
pedicabo ego vos et irrumabo: Die pedicatio ist der Analverkehr, die irrumatio der aktiv ausgeübte Oralverkehr. Diese Stelle ist eine der denkbar schlimmsten Schmähungen in der lateinischen Sprache. Sie bedient sich der Tatsache, dass im Rahmen der römischen Sexualnormen nicht das Geschlecht des Sexualpartners über den eigenen Status entschied, sondern die aktive oder passive Rolle. Drohungen dieser Art gehören nicht der pornographischen, sondern der obszönen Sprache an, die in der Tradition der aristophanischen Komödie dazu dient, einen Schulterschluss zwischen Autor und Leser zu bewirken, gegen einen Dritten, der im Rahmen des Obszönen angegriffen wird. Im Gegensatz zur Pornographie soll die Obszönität nicht sexuell stimulieren. pathice et cinaede: Beides waren gängige aus dem Griechischen übernommene Bezeichnungen für Männer, die sich penetrieren ließen; pathicus nannte man einen Mann, der allgemein beim Sex eine passive Rolle einnahm, cinaedus einen effeminierten, der sich z. B. die Körperbehaarung entfernen ließ.
colonia: ursprünglich eine neu angelegte Stadt in römisch erobertem Gebiet, zu Catulls Zeit auch allgemein für eine Kleinstadt. Salisubsili sacra: ritueller Waffentanz der Salier-Priesterschaft, bei der in voller Rüstung auf den Boden gestampft wurde.
18–20 Die drei obszönen Gedichte, die in den frühesten Catull-Sammlungen an dieser Stelle standen, die sogenannten carmina Priapea, stammen nicht von Catull und werden hier deshalb nicht behandelt. Da sich die Nummerierung der Catull-Gedichte aber schon durchgesetzt hatte, als man sich dieser Tatsache bewusst wurde, behielt man sie einfach bei.
Anmerkungen
21 11
23 1
26 27
155
a temet: Konjektur nach Fröhlich (1843 ff.); V liest hier me me; weitere Vorschläge sind ah me me (Scaliger, 1577) und vae meme (Friedrich, 1908).
arca: eine Kassette oder Kiste zur Aufbewahrung von Geld im Haushalt; hier steht sie für ihren Inhalt: Wer keine Kassette besitzt, besitzt auch kein Geld. sestertia: 1000 Sesterzen als Einheit, also centum sestertia = 100 000 Sesterzen (eigentlich ist der Sesterz Maskulinum: sestertius). beatu’s: Elision von beatus es; Konjektur nach Bergk (1884), Codex V schreibt satis beatus, andere Herausgeber sat es beatus.
24 5 ff. arca: vgl. c. 23.1. 25 1 5 5
26 4
27 3 5
7
cinaede: vgl. c. 16.2. diva: Gemeint ist wohl Luna, die Göttin des Mondes, die hier für die Nacht steht. mulierarios: Konjektur nach Haupt (1912); O liest mulier aries. Der Vers ist korrupt und auch durch die Konjektur nicht völlig wiederherstellbar.
milia quindecim et ducentos: Dem zeitgenössichen Leser war klar, dass Sesterzen gemeint sind. Die Summe ist vergleichsweise klein für eine Hypothek auf ein (wenn auch kleines) Haus; vgl. c. 23.26, wo (wohl derselbe) Furius Catull um 100 000 Sesterzen anpumpt.
Postumiae: Vertreterin der bekannten römischen Familie der Postumier. abite, lymphae: Üblicherweise wurde Wein mit Wasser gemischt; der Ruf nach unvermischtem Wein war indes ein gebräuchlicher Topos des Trinkgelages. Thyonianus: nach einem Beinamen des Bacchus gebildeter Neologismus, der mit der üblichen Endung der Bezeichnungen von Weinsorten spielt.
156 28 5
14
29 3
5 19 23
24
30 11 31 13
33 2 34 3
Anmerkungen
vappa: ein Fachausdruck aus der Winzersprache für einen trüben oder gekippten, auf jeden Fall ungenießbaren Wein; hier metaphorisch als Schimpfwort gebraucht. vobis: Hiermit können nicht Veranius und Fabullus gemeint sein, vielmehr Menschen vom Schlag des Memmius (vielleicht auch Militärkommandanten allgemein).
Mamurram: Mamurra war ein Offizier aus dem Ritterstand, der unter C. Iulius Caesar diente und zu einem Vertrauten und Günstling Caesars wurde. cinaede Romule: vgl. c. 16.2; gemeint ist Caesar. Tagus: Fluss auf der iberischen Halbinsel (heute: Tajo). o potissimae: Konjektur nach Müller (1870), andere Versionen sind o piissimae (Haupt, 1912) und o lautissimi (Herrmann, 1978); V liest opulentissime. socer generque: C. Iulius Caesar und Cn. Pompeius Magnus, der 59 v. Chr. Caesars Tochter Iulia heiratete.
Fides: alte römische Göttin der Treue.
vosque, lucidae: Konjektur nach Guarinus (1521), V liest vos quoque lidie.
cinaede: vgl. c. 16.2.
Dianam pueri integri: Dieser ganze Vers fehlt in den Handschriften und wurde von Palladius (1496) ergänzt, angeblich, wie es dort heißt, „in einem alten Exemplar gefunden“ (das jedoch verloren ist). 5 Latonia: Diana (griech.: Artemis) war Tochter der Latona (griech.: Leto). 13 f. Lucina … Iuno: Lucina war eine indigene altrömische Mondgöttin, die später mit Juno (und offenbar auch mit Diana) gleichgesetzt wurde.
Anmerkungen
35 4 14
18 18
157
Lariumque litus: „Larius“ war der römische Name des Comer Sees. Dindymi dominam: Kybele, auch „Magna Mater“ genannt. Der Dindymus ist ein Gebirge in Phrygien, woher der Kult der Göttin Kybele stammt (vgl. c. 63); hier fungiert die „dindymische Herrin“ entweder als Titel eines oder Synonym für ein Gedicht. Caecilii: Konjektur nach Parthenius (1485), V liest Caecilia. Magna … Mater: vgl. v. 14.
36 7
tardipedi deo: Vulkan (griech.: Hephaistos), der Schmiede- und Feuergott. In der Mythologie hinkt er, weil seine Mutter Juno ihn nach der Geburt, erzürnt ob seiner Hässlichkeit, vom Olymp wirft. 8 infelicibus … lignis: Holz von einem Baum, der keine Früchte getragen hat. Aus solchem Holz baute man Galgen, und in einem Feuer daraus verbrannte man verfluchte Gegenstände. 11 ff. caeruleo creata ponto: Hier ist Venus gemeint (griech.: Aphrodite, die „Schaumgeborene“). In den folgenden Versen werden bekannte Kultorte der Venus aufgezählt, allein Urion (oder Uria) ist bis heute nicht identifiziert. 37 2
18
38 8
39 17 41 4
pilleatis … fratribus: Der pilleus, ein Filzhut, war ein traditionelles Attribut von Castor und Pollux. Auf ihn geht auch die Mütze der französischen Jakobiner zurück. Celtiberiae: Landstrich in Nordspanien, wo Gallier (Kelten) auf Iberer trafen.
Simonideis: Simonides von Keos (6./5. Jh. v. Chr.) war ein griechischer Dichter, der vor allem für Siegeslieder und Elegien bekannt war.
Celtiber es: vgl. c. 37.18.
Formiani: Formiae (heute: Formia) war bereits in der Antike eine reiche Küstenstadt an der Via Appia südöstlich von Rom und bekannt für ihre opulenten Villen.
158 8
42 11
43 8 44 1
49 2
Anmerkungen
aes imaginosum: Konjektur nach Fröhlich (1843 ff.); V liest et ymaginosum. Ein Spiegel bestand zur damaligen Zeit aus Metall (aes).
moecha putida, redde codicillos: Die mehrfache Wiederholung und Variation dieses Verses deutet auf die Komödie hin, und tatsächlich ist das Motiv dieses Gedichts, die lautstarke Forderung der Herausgabe von Geliehenem mittels derber Sprache, ein Topos der antiken Komödie (vgl. mimice, v. 8).
insapiens et infacetum: vgl. c. 1.1.
seu Sabine seu Tiburs: Das Landgut gehört entweder zu Tibur, einer reichen und bedeutenden Stadt nahe Rom (wo später Hadrian seine Villa hatte, die man heute als „Tivoli“ kennt), oder zum Sabinerland, das als nicht ganz so vornehm galt.
Marce Tulli: Gemeint ist der berühmte Redner Marcus Tullius Cicero, der sich in einem Brief an Atticus (7.2.1) abfällig über die Dichtergruppe um Catull äußert und dabei zugleich den Begriff „Neoteriker“ prägt (bei ihm griechisch: νεώτεροι).
51 Dieses Gedicht ist eine Adaption eines der wenigen zumindest in großen Teilen erhaltenen Gedichte der berühmten griechischen Dichterin Sappho (31 LP): φαίνεταί μοι κῆνος ἴσος θέοισιν ἔμμεν’ ὤνηρ, ὄττις ἐνάντιός τοι ἰσδάνει καὶ πλάσιον ἆδυ φωνεί− σας ὐπακούει καὶ γελαίσας ἰμέροεν, τό μ’ ἦ μὰν καρδίαν ἐν στήθεσιν ἐπτόαισεν, ὠς γὰρ ἔς σ’ ἴδω βρόχε’ ὤς με φώνας οὔδεν ἔτ’ εἴκει, ἀλλὰ κὰμ μὲν γλῶσσα † ἔαγε, λέπτον δ’ αὔτικα χρῶι πῦρ ὐπαδεδρόμακεν,
Anmerkungen
159
ὀππάτεσσι δ’ οὐδ’ ἒν ὄρημμ’, ἐπιρρόμ− βεισι δ’ ἄκουαι, † έκαδε μ’ ἴδρως κακχέεται † τρόμος δὲ παῖσαν ἄγρει, χλωροτέρα δὲ ποίας ἔμμι, τεθνάκην δ’ ὀλίγω ’πιδεύης φαίνομ’ † αι ἀλλὰ πὰν τόλματονἐπεί † καὶ πένητα †
Er scheint mir den Göttern gleich, jener Mann dort, der dir gegenüber sitzt und in deiner Nähe dich hört, wie du süß und voll Sehnsucht lachst, dass mein Herz in der Brust erschreckt, denn wenn ich dich auch nur kurz ansehe, schwindet mir die Stimme, meine Zunge klebt am Gaumen, ein leichtes Feuer fährt mir unter die Haut, meine Augen sehen nichts mehr, mir rauschen die Ohren, an mir fließt der Schweiß herab und meinen Körper erfasst ein Zittern, bleicher als das Gras bin ich, nicht viel fehlt mir daran, gestorben zu sein, glaube ich. Aber all das muss ich ertragen … Die Übertragung ist dabei so genau, dass sie z. T. sogar Wörter mit derselben Bedeutung an dieselbe Stelle setzt wie das griechische Vorbild: φαίνεται/videtur, μοι/mi, κῆνος /ille, θέοισιν/deo u. a. m. Bemerkenswert ist dabei natürlich, dass das lyrische Ich hier, anders als bei Sappho, männlich ist. 8 in pectore vocis: Hier fehlt ein Vers in Codex V; er lässt sich sinngemäß über den Inhalt und den Vergleich mit Sappho erschließen. Hier wird die Konjektur nach Pleitner (1876) verwendet, weitere Vorschläge: vocis in ore (Ritter, 1828), Lesbia, vocis (Friedrich, 1908). 13 ff. Auffälligerweise fehlt Catulls letzte Strophe bei Sappho; von ihrer letzten Strophe ist nur ein Vers überliefert, aber es scheint fast, als gehe bei Catull der Sinn hier in eine andere Richtung.
160 52 2 3
Anmerkungen
sella in curuli: der traditionelle Amtsstuhl hoher römischer Beamter, ein Klappstuhl mit Beinen in X-Form. Vatinius: gemeint ist wohl Publius Vatinius, der sich zu diesem Zeitpunkt erst aufs Konsulat vorbereitete; er war erst 47 v. Chr. Konsul. 55 v. Chr. war Vatinius Prätor.
54 1 ff. Otonis …: Die hier genannten drei Personen, offenbar Günstlinge Caesars, sind leider nicht identifizierbar. 5 seni recocto: wörtlich „sechsmal wieder-gekocht“, also eigentlich, je nach Definition, siebenmal oder zwölfmal gekocht (im Sinne unserer Phrase „ein ausgekochtes Schlitzohr“). 55 6 9 11 22 57 1 f. 4 6
58 5
59 5
Magni … ambulatione: Der Säulengang nahe dem Pompeius-Theater (erbaut von Cn. Pompeius Magnus). „Avete!“, et te: Konjektur nach Pighi (1961), V liest avelte sic. Verbreitet ist auch der Vorschlag ac te vel sic (nach Klotz, 1931). nudum reducta pectus: Konjektur nach Ellis (1904), V liest nudum reduc und bricht dann ab. nostri: Konjektur nach Schuster (1949), V liest vestri.
cinaedis … pathico: vgl. c. 16.2. Formiana: vgl. c. 41.4. morbosi: Hier wird mit dem Topos gespielt, dass sexuelle Andersartigkeit oder Unzucht zu körperlichen Gebrechen führen (vgl. c. 69, 80, 89).
Remi: Remus, Teil des mythischen Rom-Gründerpaars Romulus und Remus, der von Romulus im Zorn erschlagen wird.
semiraso: „Halb rasiert“ ist ein freigelassener Sklave, dem zuvor der Kopf geschoren war und dessen Haar nun wieder nachwächst – hier als zusätzliche Herabwürdigung zu verstehen.
Anmerkungen
161
61 Dies ist ein Hochzeitslied anlässlich der Vermählung von Manlius Torquatus mit Vinia (eventuell auch Junia) Aurunculeia (wie aus dem Text hervorgeht). Die formelhaften Wiederholungen im Gedicht lassen erkennen, dass es für den öffentlichen Vortrag gedacht war, bei dem vielleicht die Hochzeitsgesellschaft an den entsprechenden Stellen mit einstimmte. 4 f. o Hymenaee Hymen: Hymenaeus ist der Gott der Hochzeit (griech.: Hymenaios), der bei Hochzeitsliedern üblicherweise in dieser traditionellen Form angerufen wird. 23 Hamadryades deae: Die Hamadryaden sind eine Abart der Dryaden, mit Bäumen verbundenen Naturgeistern bzw. Nymphen. Sie leben in Symbiose mit einem Baum und müssen sterben, wenn der Baum gefällt wird. 30 Aganippe: Quellnymphe einer Quelle am Helikon bei Thespiae, Tochter des Flussgottes Termessos. 79 ff. Hier fehlt ein Stück Text. Anhand der durchgehenden Strukturierung mit jeweils fünf Versen pro Strophe ist klar, dass vier Verse fehlen. 112 ff. Hier fehlen drei Verse. 127 Fescennina iocatio: Schon im alten Rom trieb man bei einer Hochzeitsfeier wilde Scherze und veranstaltete geschmacklose Spiele. Dieser Brauch wurde auf die Stadt Fescennium nördlich von Rom zurückgeführt. 128, 131 nuces: Wie heute Reis, warf man damals Nüsse in die Luft, als glückverheißendes Omen für eine kinderreiche Ehe. 130 concubinus: Gemeint ist wohl ein Sklave; männliche römische Bürger hatten vielfach sexuelle Beziehungen zu Sklavinnen wie auch zu Sklaven. 138 cinerarius: Bezeichnung für einen Sklaven, der das Lockeneisen vor dem Frisieren in der heißen Asche (cinis) des Ofens erhitzte; hier offenbar allgemein für einen Sklaven, der fürs Frisieren zuständig ist. 182 praetextate: Die toga praetexta war das offizielle Kleidungsstück von freigeborenen Jungen, bis sie etwa 16 Jahre alt waren. Gemeint ist hier der Brautführer. 62 Catulls zweites Hochzeitsgedicht ist nach griechischen Vorbildern als Gesangswettstreit am Abend einer Hochzeit gestaltet; die Strophen werden abwechselnd von den anwesenden jungen Männern und den jungen Frauen gesungen.
162 5 7 11 33
Anmerkungen
Hymenaeus: vgl. c. 61.4 f. Noctifer: der „Nachtbringer“ = der Abendstern. Oetaeos: Adjektiv zu Oita, einem thessalischen Gebirge. vincere: Konjektur nach Ellis (1904); T liest hier visere, V hat sogar visere parent. Hier fehlt ein Stück im Text: Nachdem die Mädchen den Abendstern in v. 32 als Dieb schelten, antworten die Jungen, um den Ruf des Abendsterns wiederherzustellen – es fehlen also wahrscheinlich fünf oder sechs Verse; die traditionelle Nummerierung ist dennoch durchgängig.
63
8 9 13 30
36 41
43 49
Das Attis-Gedicht ist das einzige erhaltene lateinische Gedicht, das im Galliambus geschrieben ist. Das Versmaß passt zum Thema: Benannt ist es nach den Galli oder, in der weiblichen Form wie hier, Gallae, den (gemäß einem Ritus) kastrierten Priestern der ursprünglich phrygischen Göttin Kybele, um die es im Gedicht geht. Eine grammatikalische Besonderheit des Gedichts ist, dass Attis, nachdem er sich selbst kastriert hat, ab v. 5 in sprachlicher Hinsicht tatsächlich weiblich ist. Deshalb heißt es auch in der Übersetzung auf einmal „sie“ und nicht mehr „er“. tympanum: Das Tympanon war ein dem Tamburin ähnliches Instrument, das im Kybele-, aber auch im Dionysoskult eine Rolle spielte. Cybebes: Nebenform zu Kybele, mit anderem Wortakzent, die metrischen Bedürfnissen gemäß verwendet wird. Dindymenae: Der Berg Dindyma war der mythische Wohnsitz der Kybele in Phrygien (Kleinasien). Idam: Das Ida-Gebirge liegt in der Troas im Nordwesten der heutigen Türkei; sein höchster Berg ist 1774 m hoch. Von hier aus betrachten u. a. die Götter den Verlauf des Trojanischen Kriegs. sine Cerere: „ohne Ceres“ (Göttin des Ackerbaus) = ohne das, was der Mensch anbaut, hier als Synonym für Nahrung allgemein. sonipedibus: lautmalerisches Wort für Pferde („die mit den tönenden Füßen“); der Sonnengott Sol fährt im Laufe des Tages mit seinem von Pferden gezogenen Sonnenwagen über den Himmel. Pasithea: Eine der Chariten (röm. Grazien), lt. Ilias dem Schlafgott Hypnos (röm. Somnus, vgl. v. 42) zur Gattin versprochen. maesta est: Dies ist eine der kompliziertesten von zahlreichen notwendigen Konjekturen in diesem Gedicht (manchmal auch kontrahiert maestast geschrieben); sie findet sich bei Avantius, um 1535. Codex
Anmerkungen
64
163
V liest est ita voce miseritus maiestas, was jedoch nicht ins Versmaß passt. olei: In Griechenland salbten sich die Ringer vorm Wettkampf mit Olivenöl ein.
64 1 ff. Vgl. Enn. fr. 211 ff. J.: [Das Schiff], das heute „Argo“ genannt wird, weil ausgewählte argivische Männer darauf segelten, die das golddurchwirkte Vlies des Widders der Kolcher begehrten … 3
Aeetaeos: Im Argonauten-Mythos ist Aietes, Sohn von Helios und Perse, der Vater der Medea, die Iason hilft, das Goldene Vlies zu rauben und dabei ihren eigenen Bruder tötet. 11 Amphitriten: Meeresnymphe, Tochter des Nereus (wie auch die anderen Meeresnymphen, die „Nereiden“, vgl. v. 14). 22 ff. Vgl. Apoll. Rhod. 4.1773 ff.: Sei gnädig, Geschlecht der besten Götter! Und mögen diese Lieder, wenn man sie singt, von Jahr zu Jahr immer süßer klingen! 23a An dieser Stelle steht im Catull-Manuskript nur ein halber Vers. 50–266 Ekphrasis (Beschreibung eines Kunstwerks als Exkurs). 52 Diae: Dia („göttlich“) ist hier ein Synonym für die Kykladeninsel Naxos, wurde aber auch für andere große Inseln wie Kreta verwendet. 53 celeri … classe: unauflösbares Paradoxon der Chronologie in diesem Gedicht. Angeblich ist die Argo das erste Schiff überhaupt (vgl. v. 11) – wie kann es da sein, dass Theseus bereits in einer fernen Vergangenheit, die auf der Decke abgebildet ist, mit einem Schiff gefahren ist? 72 Erycina: Beiname der Venus („die vom Berg Eryx [auf Sizilien] Stammende“). 77 Androgeoneae: Androgeus war ein Sohn des Minos. 79 Cecropiam: Kekrops hießen zwei mythische Könige Attikas; Kekrops I. galt als Gründer Athens. 86–98 vgl. die Szene des Kennenlernens von Jason und Medea in Apoll. Rhod. 3.286 ff. 96 regis Golgos quaeque Idalium: Golgoi war ein antiker Ort auf Zypern, Idalion ein zyprisches Königreich; Zypern galt in der Antike als Geburtsort der Aphrodite/Venus. 143 nulla viro iuranti femina credat: vgl. c. 70.3 f.
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Anmerkungen
156 Syrtis: „Syrte“ nennt man heute noch zwei Buchten vor der nordafrikanischen Küste; sie waren für ihre gefährlichen Untiefen berüchtigt. Hier benutzt Catull den geographischen Begriff personifiziert als Ungeheuer. 211 Erechtheum: Erechtheus war ein mythischer König von Attika. 212 moenia: Gemeint sind die Mauern Athens. 228 Itoni: der Göttin Athene geheiligter Ort in Böotien nördlich von Athen. 251 Iacchus: Iakchos, altgriechische Gottheit, schon in klassischer Zeit mit Dionysos/Bacchus gleichgesetzt. 255 euhoe: griechischer Jubelschrei der Bacchantinnen (in etwa: „Wohlan!“), vgl. Ov. Met. 4.523; 6.597, Ov. Ars 1.563, Verg. Aen. 7.389, Hor. Carm. 2.19.7, Iuv. 7.62. Euios oder Heuios scheint ein alter Beiname des Dionysos gewesen zu sein. 256 thyrsos: Der Thyrsos oder Thyrsosstab war eines der Attribute des Dionysos, ein hölzerner Stab, der an der Spitze mit Efeu oder Weinlaub bekrönt war. 261 tympana: vgl. c. 63.8 279 Chiron: Kentaur der griechischen Mythologie, Sohn des Kronos, der von Herakles versehentlich mit einem vergifteten Pfeil getroffen wird und aufgrund der starken Schmerzen zugunsten des Prometheus auf seine Unsterblichkeit verzichtet. 287 f. V ist in diesen zwei Versen an drei Stellen korrupt und liest Minosim linquens doris celebranda choreis, non acuos … Hier ist einmal die Konjektur Naiasin (Haupt, 1912) übernommen (die Naiaden passen als Quellnymphen sehr gut ins Bild des grünen Tals), dann doctis (Statius, 1566) und schließlich non vacuus (Guarinus, 1521). 290 f. platano … sorore flammati Phaethontis: Phaethon, in der Mythologie Sohn (oder Neffe) des Helios, leiht sich den Sonnenwagen des Vaters aus; er hat einen Unfall, bei dem ein Teil der Erde verbrennt und Phaethon stirbt; seine Schwestern beweinen ihn und werden in Pappeln verwandelt, ihre Tränen sind der heutige Bernstein. 300 cultricem montibus Idri: Hekate, die Göttin der Magie und des Übergangs von der Welt der Lebenden in die Unterwelt, stammte dem Mythos nach aus Idrus im Südwesten Kleinasiens. 324 Emathiae tutamen, Opis … nato: Gemeint ist Zeus/Jupiter, Sohn der Ops/Rhea und Schutzgott der thessalsischen Landschaft Emathia. 367 Neptunia vincla: Gemeint sind die Mauerns Trojas. Poseidon (röm.: Neptun), der im Trojanischen Krieg auf Seiten der Griechen steht, hat zuvor Laomedon, dem zweiten König von Troja, geholfen, die gewal-
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tigen Stadtmauern zu errichten, ist aber um seinen Lohn betrogen worden. Polyxenia … caede: Die Troerin Polyxena war eine der Töchter von Priamos und Hekabe. Während des Kriegs verliebt sie sich in den feindlichen Achilleus, auch wenn sie als Athene-Priesterin keusch leben muss. Nach dem Krieg hat Neoptolemos eine Erscheinung, in der von den Griechen verlangt wird, das schönste aller Beutestücke auf Achilleus’ Grab zu opfern – die Wahl fällt auf die schöne Polyxena. hesterno … filo: Anspielung auf ein heute unbekanntes Ritual, das mit dem Erwachsenwerden zu tun hat, oder eventuell auf das Umlegen von Schmuck. terra centum procumbere tauros: die Hekatombe, ursprünglich das Opfern von hundert Tieren. Den höchsten Göttern war das Opfern von hundert Rindern vorbehalten, das Fleisch wurde dem Volk gespendet. Rhamnusia virgo: Nemesis, die Göttin der Rache, besaß im attischen Ort Rhamnus einen Tempel, der im 6. Jh. v. Chr. errichtet und nach Zerstörung im 5. Jh. v. Chr. wiederaufgebaut wurde.
doctis … virginibus: Gemeint sind die Musen. facta: Der gesamte Vers fehlt in V, ist aber teilweise in anderen Handschriften enthalten; diese lesen teilweise facta, teilweise verba. Daulias: Prokne aus Daulis, Ehefrau des daulischen Königs Tereus, die ihren gemeinsamen Sohn tötet und ihm zu essen gibt, um ihren Mann zu bestrafen. Sie wird daraufhin in eine Nachtigall verwandelt; vgl. Ov. Met. 6.667 ff. Vgl. außerdem Hom. Od. 19.518 ff.
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Das ganze Gedicht ist eine Übertragung einer langen Stelle aus Kallimachos’ Aitia; lange Zeit wusste man dies, doch war der Text verschollen. Erst im 20. Jh. entdeckte man im ägyptischen Wüstensand antike Papyri mit großen Teilen des Originalgedichts. Diese Entdeckung half nicht nur, nachzuverfolgen, wie genau Catull sich das Gedicht seines „Lehrmeisters“ aneignet und wo er von der Vorlage abweicht, sondern auch, bestimmte textliche Schwierigkeiten zu beheben. Triviam: römisches Synonym hauptsächlich für die Göttin Hekate (vgl. c. 64.300), die man u. a. als Beschützerin der Dreiwege auffasste und mitunter dreigestaltig darstellte; aber auch für Selene und Artemis. Latmia saxa: Latmos, ein Berg in Karien (Kleinasien); hier besucht Selene, die Mondgöttin, ihren Geliebten Endymion. Erst an dieser Stel-
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Anmerkungen
le wird also klar, dass Trivia hier mit Selene (röm.: Luna) zu identifizieren ist. 7 Conon: Konon von Samos, Astronom (um 250 v. Chr.), der das Sternbild Haar der Berenike (Coma Berenices), zwischen Löwe und Bootes gelegen, identifizierte. 8 Erst in diesem Vers wird klar, dass die Locke der Berenike das lyrische Ich dieses Gedichts ist. 11 novo | auctus: Zwischen diesen beiden Wörtern liegt ein Hiatus vor, eigentlich müsste eine Elision stattfinden. Mehrere Vorschläge für Konjekturen wurden gemacht, überzeugen aber nicht recht. 28 alis: archaisierende Nebenform von alius. 30 tristi: kontrahierte Form von trivisti. 42 ferro: doppeldeutig – der üblichen Metapher von „Stahl“ als Schwert setzt die Locke den Stahl der sie abschneidenden Schere entgegen. 44 progenies Thiae: entweder Helios, der Sonnengott (röm.: Sol), oder Boreas, der (personifizierte) Nordwind. Theia gehört zu den Titanen; sie ist Schwester und Ehefrau des Hyperion und als solche die Mutter von Helios. Da aber der Berg Athos, um den es hier geht (v. 46), im Norden Griechenlands liegt, kann man nicht die Sonne über ihm sehen, folglich könnte der „Spross der Theia“ auch Boreas sein, für den es als Enkel der Theia Belege gibt. 45 peperere: Lesart mehrerer Handschriften; V liest hier propere. 46 per medium … navit: Der Angriff der Perser auf Griechenland war so heftig, dass sie eine Schneise durch einen hohen Berg schlugen und mit dem Schiff hindurchfuhren; dies ist natürlich nur metaphorisch zu verstehen. 48 Chalybum: sagenumwobener Volksstamm wahrscheinlich im nördlichen Kleinasien, der schon früh statt Landwirtschaft Metallurgie betrieb (vgl. Hdt. 1.28, Xen. Anab. 5.5.1). Wo genau sie angesiedelt waren, ist heute unklar. 52 f. Memnonis Aethiopis unigena: Zephyros, der personifizierte Westwind. Memnon war einer der Söhne der Eos (röm.: Aurora). Als Aithiopia bezeichnete man allgemein die bekannten afrikanischen Gebiete südlich Ägyptens. 57 Zephyritis: einer der Beinamen der Venus, nach dem Zephyrion-Vorgebirge in Ägypten. Zephyritis ist hier Arsinoë-Zephyritis, die vergöttlichte Mutter der Berenike. 59 hi dii ven ibi: An dieser Stelle ist der Text korrupt und lässt sich nicht zufriedenstellend reparieren.
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Callisto … Lycaoniae: Kallisto, die Tochter des arkadischen Königs Lykaon, wurde dem Mythos gemäß in eine Bärin verwandelt und später als Sternbild in den Himmel gesetzt: der Große Bär. Tethyi: Tethys ist eine Meeresgottheit und gehört zu den Titanen; sie ist die Mutter der Meeresnymphe Tethis (vgl. c. 64). Die Vorstellung geht dahin, dass das Sternbild des Nachts am Himmel steht und am Morgen im Meer versinkt (vgl. v. 63: a fluctu cedentem). Rhamnusia virgo: vgl. 64.395. vilia multa: Gemeint ist billiges Haaröl, da einer Unverheirateten noch keine hochwertigen Pflegeprodukte zustehen. onyx: Gemeint ist eine Flasche aus Onyx, aus der ein Trankopfer dargebracht wird. sidera cur retinent: Konjektur nach mehreren Herausgebern; V liest sidera cur iterent.
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tenera … beta: „Weich“ wird auf verschiedene Weise gedeutet; da eine Rübe an sich nicht weich ist, sind entweder die Blätter der Rübe oder eine gekochte Rübe gemeint. 21 sicula: Verkleinerungsform von sica, „Dolch“, als Synonym für Penis. 32 Brixia: heute Brescia in der Lombardei. 32 Cycneae: adjektivische Form von Cycnus, des Namens eines ligurischen Königs, der im Mythos in einen Schwan (cycnus, aus dem griechischen kyknos) verwandelt und als Sternbild (Cygnus) in den Himmel versetzt wird. 45 f. quem dicere nolo nomine: Bereits in c. 42 nennt Catull eine Person nicht beim Namen, sondern beschreibt sie stattdessen in karikierender Weise. Diesen Kunstgriff kennt schon die aristophanische Komödie. 68 Das Gedicht 68 besteht aus drei Teilen – wie in den meisten modernen Ausgaben ist es hier ebenso präsentiert: als c. 68a, 68b und 68c. Es handelt sich sozusagen um ein Gedicht (68b) mit einem Begleitschreiben, das das Gedicht umrahmt (68a/68c). Dieses Rahmengedicht ist eine recusatio: Catull schreibt, er könne Allius nicht das versprochene Gedicht schicken, schickt ihm stattdessen aber ein anderes, selbst verfasstes. 68b, das eigentliche Gedicht, ist eine kompliziert verschachtelte Elegie mit mehreren einander umschließenden Ringkompositionen, in deren Zentrum die (schon in c. 68a vorweggenommene) Klage um Catulls toten Bruder steht.
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id gratum est: Diese Feststellung bezieht sich auf quod in v. 1, ist aber trotz der (vordergründigen) Ernsthaftigkeit des Geschilderten eine ironisch-witzige Überleitung nach dem verzweifelten Bild der letzten Verse. 11, 30 mi Alli: Die Erwähnung des Allius (nach dem c. 68 „Allius-Elegie“ genannt wird) an diesen Stellen ist eine Konjektur nach Schöll (1880), ebenso wie Alli in v. 150 (vgl. dort). Da Allius der Protagonist von 68b ist, liegt dies nahe. Einige Handschriften haben hier mali, was durch die Elisionen im Vers laut gelesen genauso klingt wie mi Alli. 36 capsula: Papyrusrollen wurden in stabilen Kapseln aufbewahrt. 51 Amathusia: Synonym für Venus, nach der Stadt Amathus auf Zypern, dem Geburtsort der Göttin. 53 Trinacria rupes: Gemeint ist der Ätna. Trinacria ist ein alter Name für Sizilien, wörtlich: „drei (Berg-) Spitzen“. 54 Oetaeis: Der Oita ist der höchste Berg des Oita-Gebirges (neugriechisch: Iti) in der nordgriechischen Landschaft Phthiotis, wo auch die Thermopylen und der Golf von Malia liegen. 74 Protesilaeam Laodamia domum: Protesilaos war das erste Todesopfer der Griechen im Trojanischen Krieg; kurz vor der Abfahrt nach Troja heiratete er Laodameia. 77 Rhamnusia virgo: vgl. 64.395. 109 Cyllenaeum: im Kyllene-Gebirge im Norden der Peloponnes. 112 falsiparens Amphitryoniades: Gemeint ist Herakles, der Sohn der Alkmene mit Zeus (und eben nicht mit ihrem Ehemann Amphitryon). 113 Stymphalia monstra: Die Tötung der stymphalischen Vögel gehörte zu den mythischen „zwölf Aufgaben“ des Herakles, die dieser für König Eurystheus (vgl. v. 114) erledigen musste. 116 Hebe: Nach seinem Aufstieg in den Olymp erhielt Herakles seine Halbschwester Hebe, die Göttin der Jugend, zur Frau. 150 Alli: Konjektur nach Scaliger (1577), vgl. v. 11; V schreibt aliis. 153 Themis: Themis war eine der Titanen und galt als Göttin der Philosophie und der Gerechtigkeit. Sie half bei der Sintflut Deukalion und Pyrrha zu überleben, die dann das Menschengeschlecht neu gründeten. 157 haustis: Dies ist eine Konjektur nach Baehrens (1876), die sich inhaltlich an den Deukalion-Mythos anschließt; V liest aufert. 70 Das Epigramm ist eine Adaption von Kallimachos, ep. 25 Pf. (= AP 5.6):
Anmerkungen
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Ὤμοσε Καλλίγνωτος Ἰωνίδι μήποτ’ ἐκείνης ἕξειν μήτε φίλον κρέσσονα μήτε φίλην. ὤμοσεν· ἀλλὰ λέγουσιν ἀληθέα, τοὺς ἐν ἔρωτι ὅρκους μὴ δύνειν οὔατ’ ἐς ἀθανάτων. νῦν δ’ ὁ μὲν ἀρσενικῷ θέρεται πυρί, τῆς δὲ ταλαίνης νύμφης ὡς Μεγαρέων οὐ λόγος οὐδ’ ἀριθμός.
Kallignotos schwor Ionis, dass er niemand anderes mehr lieben würde als sie. Er schwor es. Aber es stimmt, was man sagt, dass die Schwüre der Liebenden nicht an die Ohren der Götter dringen. Jetzt ist er in Liebe nach einem Jüngling entbrannt, und nach dem armen Mädchen kräht, wie man so schön sagt, kein Hahn mehr. Kallimachos’ Distanz zum Geschehen wird bei Catull komplett aufgegeben und weicht einer unbedingten Nähe. Außerdem wird die bei Kallimachos zunächst glückliche Verbindung bei Catull zu einer nur scheingar glücklichen. 74 4
reddidit Harpocratem: Harpokrates war der ägyptische Gott Horus, der Sohn von Isis und Osiris, der oft als Kleinkind dargestellt wurde (der gräzisierte Name kommt von ägypt. Harpechrod, „Horus, das Kind“). Auf vielen Darstellungen nuckelte Horus am Daumen, insofern galt er als „stumm“ – hier eine deutliche Anspielung auf die irrumatio.
78 1 ff. lepidissima … bellus: vgl. c. 1.1. 79 1
Lesbius … Lesbia: Diese Stelle hat dazu geführt, dass man Catulls literarische Figur Lesbia mit Clodia gleichgesetzt hat, einer Schwester von P. Clodius Pulcher. Lesbius est pulcher ist tatsächlich eine sehr deutliche Anspielung auf Clodius und dessen Beinamen. In der Regel geht man davon aus, dass Clodia diejenige der drei Schwestern des Clodius ist, die mit Q. Caecilius Metellus Celer verheiratet war (Clodia Metelli), da diese in Rom für mehrere Skandale sorgte und in einer
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Anmerkungen
Rede Ciceros als Beispiel für den Sittenverfall herhalten muss (Cic. Pro Cael. 31 f.). Beweisen lässt sich diese Identifikation indes nicht. 80 Das Epigramm ist eine Adaption von Kallimachos, ep. 30 Pf. (= AP 12.71): Θεσσαλικὲ Κλεόνικε, τάλαν, τάλαν, οὐ μὰ τὸν ὀξύ ὀξύνν ἥλιον, οὐκ ἔγνων: σχέτλιε, ποῦ γέγονας; ὀστέα σοι καὶ μοῦνον ἔτι τρίχες: ἦ ῥά σε δαίμων οὑμὸς ἔχει, χαλεπῇ δ᾽ ἤντεο θευμορίῃ; ἔγνων: Εὐξίθεός σε συνήρπασε, καὶ σὺ σ ὺ γὰρ ἐλθών τὸν καλόν, ὦ μόχθηρ᾽, ἔβλεπες ἀμφοτέροις.
Kleonikos aus Thessalien, du Armer, du Armer; nein, bei der stechenden Sonne, ich erkannte dich nicht; Elender, wo bist du gewesen? Du bestehst nur noch aus Knochen und Haaren. Ob dich wohl mein Daimon gefangen hält, ob dich ein schlimmer, von einem Gott gesandter traf? Ich weiß es: Euxitheos hat dich mit fortgerissen; denn wenn du herkamst, hast du den Schönen, oh Unglücklicher, mit beiden Augen gesehen. Auffällig ist der Unterschied im Ton: bei Kallimachos ist er eher bedauernd-mitfühlend, bei Catull spöttisch-distanziert. 81 3
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ab sede Pisauri: Pisaurum (heute: Pesaro) war eine damals in sumpfigem Gebiet (deshalb moribunda) gelegene adriatische Hafenstadt an der Via Flaminia; hierher stammte der noch zu Catulls Zeit höchst angesehene Dichter Lucius Accius (2. Jh. v. Chr.). pallidior: Anspielung auf den Topos des körperlichen Gebrechens aufgrund von sexuellen Ausschweifungen (vgl. c. 57, 69, 80, 89); zudem ist die Farbe Weiß dem weiblichen Geschlecht zugeordnet (vgl. c. 93.2).
carius est oculis: vgl. c. 3.5.
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praesente viro: Dies ist die einzige Stelle bei Catull, aus der hervorgeht, dass Lesbia verheiratet ist.
demisso se ipse voret capite: In Rom galt die Fellatio als (für beide Partner) erniedrigende sexuelle Perversion, umso mehr natürlich die hier beschriebene Autofellatio.
tenuis: Auch hier führt wieder die Unzucht zu körperlichen Gebrechen (vgl. c. 57, 69, 80, 81), in diesem Fall zu einem dünnen oder schmächtigen Körperbau.
magus: Dieser Begriff ist äußerst negativ besetzt und spiegelt die Skepsis der Römer vor fremdländischen religiösen Riten.
non nossem: Konjektur nach Avantius (1481); V liest cognossem, was aber hier keinen Sinn ergibt.
Nil nimium. Studeo: Interpunktion in Anlehnung an Koster (1981); die herkömmliche Interpunktion zieht den Ausdruck nil nimium studeo zusammen, im Sinne von: „Ich bemühe mich weder, dir allzu sehr zu gefallen …“ Die neue Interpunktion trennt nil nimium als Ermahnung des Dichters an sich selbst ab und entspricht auch einer metrischen Pause nach dem dritten Versfuß (Trithemimeres). albus an ater homo: Dies bezieht sich wahrscheinlich auf die passive (weibliche) oder aktive (männliche) Rolle beim homosexuellen Geschlechtsverkehr – weiß galt als bereits in Griechenland als „weibliche“ Farbe, schwarz als „männliche“, wohl weil die Frau in der Regel im Haus blieb und so keine Sonnenbräune erhielt; vgl. c. 81.4.
Mentula: Dieses Synonym für „Penis“, war ein gebräuchlicher obszöner Ausdruck. Hier, wie in c. 105, 114 und 115, ist mentula jedoch wohl als Eigenname zu verstehen; gemeint ist wahrscheinlich Mamurra, der Günstling Caesars (vgl. c. 29, 57 sowie Suet. Iul. 73).
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Anmerkungen
moechatur: Interessanterweise bedeutet moechari („Ehebruch begehen“) mit Femininum-Subjekt „Geliebte sein“ (Claes, 1996), und mentula ist grammatikalisch Femininum. Dies ist sicherlich ein Seitenhieb in Richtung passiv-homosexueller Handlungen. ipsa olera olla legit: Ansonsten unbekanntes Sprichwort, das wohl zumindest Untertöne der pedicatio (vgl. c. 16.1) birgt – vielleicht im Sinne von „Gleich und Gleich gesellt sich gern“.
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Dieses Gedicht über einen schlechten Dichter ist nicht besonders gut überliefert. Die Verse 9 und 10 stehen in manchen Ausgaben gesondert als c. 95b, gehören aber sicherlich zu diesem Gedicht, wenn auch vielleicht zwischen v. 8 und 9 etwas fehlt. versiculorum anno quolibet ediderit: Dieser Vers fehlt in den Handschriften komplett; dies hier ist eine Konjektur nach Fröhlich (1843 ff.); zumindest ergibt sich aus dem Sinnzusammenhang, was der Inhalt des Verses gewesen sein muss. sodalis: Dieses Wort fehlt im überlieferten Text, es wurde bereits in der Aldina (1502) konjiziert. Antimacho: Antimachos von Kolophon (um 400 v. Chr.) war ein griechischer Dichter und Gelehrter, der vor allem für seine Epen (wie die Thebais) bekannt war. Sein Stil war wenig inspiriert, sondern eher künstlich und aufgeblasen.
pistrino: In der Mühle arbeiteten Sklaven, die entweder mit eigener Kraft oder mithilfe von Eseln das Mühlrad antrieben. carnificis: Der Henker oder Scharfrichter gehörte in der Antike wie im Mittelalter, wenn auch mitunter gut bezahlt, zu den Personen mit dem schlechtesten gesellschaftlichen Leumund.
100 6 perspecta egregie: Konjektur nach Baehrens (1876); V liest perfecta est igitur est. 101 1 ff. intertextueller Bezug zum Beginn von Homers Odyssee (Od. 1.1 ff.): Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, πολύ τροπον, ὃς μάλα πολλὰ πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον πτολίεθρον ἔπερσε·
Anmerkungen
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πολλῶν δ’ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω, πολλὰ δ’ ὅ γ’ ἐν πόντῳ πάθεν ἄλγεα ὃν κατὰ θυμόν, ἀ ρνύμενος ἥν τε ψυχὴν καὶ νόστον ἑταίρων. ἀλλ’ οὐδ’ ὧς ὧς ἑτάρους ἐρρύσατο, ἱέμενός περ· αὐτῶν γὰρ σφετέρῃσιν σφετέρῃσιν ἀτασθαλίῃσιν ὄλοντο.
Nenne mir, Muse, die Taten des vielgewandten Mannes, der so viel herumgeirrt ist nach der Zerstörung des heiligen Troja; vieler Menschen Städte sah er und lernte ihre Sitten kennen, und auf dem Meer erlitt er so viel Leid in seinem Gemüt, als er um sein Leben kämpfte und um die Heimkehr seiner Gefährten. Aber die Freunde konnte er nicht retten, so sehr er sich auch bemühte, denn sie wurden vernichtet durch ihre eigenen Fehltritte. 2, 6, 10 frater: Die dreimalige Anrufung des Bruders in diesem Gedicht entspricht der Sitte der conclamatio bei der Bestattung, wo dreimal der Name des Verstorbenen ausgerufen wurde. 102 4 Harpocratem: vgl. c. 74.4; hier wohl ohne sexuellen Unterton. 103 1 sestertia: vgl. C. 23. 26. 104 2 carior est oculis: vgl. c. 3.5. 105 1 Mentula: vgl. c. 94.1. 1 Pipleum … montem: ein Berg in der Nähe des Ortes Pimpleia in Pieria, nordöstlich des Olymp, hier als Wohnstätte der Musen angesprochen. 2 praecipitem eiciunt: In diesem Bild vereinen sich Mamurras sexuelles und literarisches Unvermögen. 112 1 2
homo est, qui: Konjektur nach Scaliger (1577); in V bricht der Vers nach homo ab descendit: Der Sinn hier ist nicht eindeutig zu klären. Es gab Versuche, hier eine Konjektur anzubringen, meist im Sinne von te scindit
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(„dich aufreißt“, nach Haupt, 1912), aber das würde die offensichtliche Pointe des Gedichts (et pathicus) vorwegnehmen. Parallelstellen legen nahe, dass descendit bedeuten könnte, dass sich jemand, genauer gesagt: ein Politiker, aufs Forum begibt (vgl. Cic. Phil. 2.15; 8.6, Cic. Rosc. Am. 133, Cic. De Or. 2.267, Hor. Od. 3.1.10 ff.). Forsyth (1983/84) gibt außerdem eine sexuelle Nebenbedeutung von descendere an, die ebenfalls in den Kontext passt. pathicus: vgl. c. 16.2.
consule Pompeio primum: Pompeius Magnus war im Jahr 70 v. Chr. zum ersten Mal, 55 v. Chr. zum zweiten Mal Konsul. Dadurch lässt sich das Gedicht ziemlich genau datieren. Pompeius’ Frau hieß allerdings nicht Maecilia, sondern Mucia; eventuell liegt hier ein (nicht mehr nachvollziehbares) Wortspiel vor.
Firmanus: Adjektiv zu Firmum, einer Stadt in Picenum an der Adria (heute: Fermo). Mentula: vgl. c. 94.1.
Mentula: vgl. c. 94.1. Hyperboreos: mythisches Volk, irgendwo im fernen Norden. Oceanum: das „Weltmeer“, das nach Vorstellung der Antike die gesamte Landmasse umgab (im Gegensatz zum Mittelmeer, dem mare nostrum).
Battiadae: Kallimachos von Kyrene (siehe c. 7.6, 65.16).
Stimmen zu Catull Valerius Catullus, der Caesar durch seine Verse über Mamurra dauerhafte Schande bereitet hatte, bat ihn um Entschuldigung, und Caesar lud ihn noch am selben Tag zum Essen ein und genoss weiterhin die Gastfreundschaft seines Vaters, wie er es zuvor zu tun pflegte. Sueton, Leben des Julius Caesar 73 (ca. 123 n. Chr.) An meinen lieben Vater nach dem Catull, I, 9. Geliebtester, du mir von allen Menschen Verständigster, der liebste mir, der Beste; Du kömmst zurück zu deiner süßen Heimat, Zu deinen Herzenskindern, deiner Gattin; Du kömmst zurück, o welche sel’ge Botschaft! Ich werde Dich gesund nun wiedersehen, Ich werde dich vom Lande der Lateiner, Geschichten, Trümmern, Wohnungen und Sitten Erzählen hören; denn so pflegst du, Guter. Ich werde an den Busen dir die Lippen Voll Freude drücken, dir die Augen küssen! O wer von Menschen glücklich ist und sein kann, Der fühle meine Freude, meine Wonne. Johann Gottfried Herder (1789) Von den beiden ersten, deren Schriften untergegangen sind, können wir dies freilich nur mutmaßen; über die Gedichte des Catullus steht auch uns noch ein Urteil zu. Auch er hängt in Stoff und Form ab von den Alexandrinern. Wir finden in seiner Sammlung Übersetzungen von Stücken des Kallimachos und nicht gerade von den recht guten, sondern von den recht schwierigen. Auch unter den Originalen begegnen gedrechselte Modepoesien, wie die überkünstlichen Galliamben zum Lobe der Phrygischen Mutter; und selbst das sonst so schöne Gedicht von der Hochzeit der Thetis ist durch die echt alexandrinische Einschachtelung der Ariadneklage in das Hauptgedicht künstlerisch verdorben. Aber neben diesen Schulstücken steht
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Stimmen zu Catull
die melodische Klage der echten Elegie, steht das Festgedicht im vollen Schmuck individueller und fast dramatischer Durchführung, steht vor allem die solideste Kleinmalerei gebildeter Geselligkeit, die anmutigen sehr ungenierten Mädchenabenteuer, davon das halbe Vergnügen im Ausschwatzen und Poetisieren der Liebesgeheimnisse besteht, das liebe Leben der Jugend bei vollen Bechern und leeren Beuteln, die Reise- und die Dichterlust; die römische und öfter noch die veronesische Stadtanekdote und der launige Scherz in dem vertrauten Zirkel der Freunde. Jedoch nicht bloß in die Saiten greift des Dichters Apoll, sondern er führt auch den Bogen: der geflügelte Pfeil des Spottes verschont weder den langweiligen Versemacher noch den sprachverderbenden Provinzialen, aber keinen trifft er öfter und schärfer als die Gewaltigen, von denen der Freiheit des Volkes Gefahr droht. Die kurzzeiligen und kurzweiligen, oft von anmutigen Refrains belebten Maße sind von vollendeter Kunst und doch ohne die widerwärtige Glätte der Fabrik. Umeinander führen diese Gedichte in das Nil- und in das Potal; aber in dem letzteren ist der Dichter unvergleichlich besser zu Hause. Seine Dichtungen ruhen wohl auf der alexandrinischen Kunst, aber doch auch auf dem bürgerlichen, ja dem landstädtischen Selbstgefühl, auf dem Gegensatz von Verona zu Rom, auf dem Gegensatz des schlichten Munizipalen gegen die hochgeborenen, ihren geringen Freunden gewöhnlich übel mitspielenden Herren vom Senat, wie er in Catulls Heimat, dem blühenden und verhältnismäßig frischen Cisalpinischen Gallien, lebendiger noch als irgendwo anders empfunden werden mochte. In die schönsten seiner Lieder spielen die süßen Bilder vom Gardasee hinein und schwerlich hätte in dieser Zeit ein Hauptstädter ein Gedicht zu schreiben vermocht wie das tief empfundene auf des Bruders Tod oder das brave, echt bürgerliche Festlied zu der Hochzeit des Manlius und der Arunculeia. Catullus, obwohl abhängig von den alexandrinischen Meistern und mitten in der Mode- und Cliquendichtung jener Zeit stehend, war doch nicht bloß ein guter Schüler unter vielen mäßigen und schlechten, sondern seinen Meistern selbst um so viel überlegen, als der Bürger einer freien italischen Gemeinde mehr war als der kosmopolitische hellenische Literat. Eminente schöpferische Kraft und hohe poetische Intentionen darf man freilich bei ihm nicht suchen; er ist ein reichbegabter und anmutiger, aber kein großer Poet, und seine Gedichte sind, wie er selbst sie nennt, nichts als „Scherze und Torheiten“. Aber wenn nicht bloß die Zeitgenossen von diesen flüchtigen Liedchen elektrisiert wurden, sondern auch die Kunstkritiker der augustischen Zeit ihn neben Lucretius als den bedeutendsten Dichter dieser Epoche bezeichnen, so hatten die Zeitgenossen wie die Späteren vollkommen recht. Die lateinische Nation hat keinen zweiten Dichter hervorgebracht, in dem der künstlerische Gehalt und die künstleri-
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sche Form in so gleichmäßiger Vollendung wiedererscheinen wie bei Catullus; und in diesem Sinne ist Catullus’ Gedichtsammlung allerdings das Vollkommenste, was die lateinische Poesie überhaupt aufzuweisen vermag. Theodor Mommsen: Römische Geschichte, 5. Buch (1856) Es war meinem Vater und wohl auch mir als eine besonders günstige Fügung erschienen, daß ich in meinem Onkel Theodor Heyse den erfahrensten Wegweiser in dieser neuen Welt finden sollte, den ich nur wünschen konnte. Dieser drittjüngere Bruder meines Vaters war nach eben absolvierten Universitätsstudien nach der Schweiz gegangen, um dort an einer Erziehungsanstalt in Lenzburg mehrere Jahre als Lehrer zu wirken. Dann hatte es ihn nach Italien getrieben, das ihn nicht wieder losgelassen, so daß er seinen Geschwistern völlig verstummt und verschollen war. Nur an meinen Vater wendete er sich, in langen Pausen, so oft er etwas von ihm wollte. Denn er wünschte nur sich selbst zu leben, ein Leben geistigen Genusses, von keiner Verpflichtung gegen andere gehemmt, nur soweit mit Arbeit belastet, als nötig war, mit einigem Behagen sich durchzubringen. So hatte er seine reichen philologischen Kenntnisse nie auf eine eigene größere Arbeit angewendet, sondern sie in den Dienst anderer gestellt, die Editionen von Klassikern, Kirchenvätern oder neue Bibeltexte auf Grund der in Italien befindlichen Handschriften veranstalteten. Bald war sein Ruf als sommo grecista so fest gegründet, daß er, besonders von London aus, die lohnendsten Aufträge erhielt. Nebenher ging als eine früh ergriffene Lieblingsaufgabe die Beschäftigung mit Catull, dessen Text kritisch festzustellen ihm jahrzehntelang am Herzen lag, wie er auch nie müde wurde, seine Übersetzung von Catulls Liederbuch immer von neuem zu feilen und umzudichten. Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse (1900) “Who was Catullus?” Eugene shouted violently. Like a flung spear in his brain, the name. “He was a poet,” Mr. Leonard answered thoughtlessly, quickly, startled. He regretted. “What sort of poetry did he write?” asked Eugene. There was no answer. “Was it like Horace?” “No-o,” said Mr. Leonard reflectively. “It wasn’t exactly like Horace.” “What was it like?” said Tom Davis. “Like your granny’s gut,” ‚Pap‘ Rheinhart toughly whispered. “Why – he wrote on topics of general interest in his day,” said Mr. Leonard easily.
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“Did he write about being in love?” said Eugene in a quivering voice. Tom Davis turned a surprised face on him. “Gre-a-at Day!” he exclaimed, after a moment. Then he began to laugh. “He wrote about being in love,” Eugene cried with sudden certain passion. “He wrote about being in love with a lady named Lesbia. Ask Mr. Leonard if you don’t believe me.” They turned thirsty faces up to him. “Why – no – yes – I don’t know about all that,” said Mr. Leonard, challengingly, confused. “Where’d you hear all this, boy?” “I read it in a book,” said Eugene, wondering where. Like a flung spear, the name. – Whose tongue was fanged like a serpent, flung spear of ecstasy and passion. Odi et amo: quare id faciam … “Well, not altogether,” said Mr. Leonard. “Some of them,” he conceded. … fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior. “Who was she?” said Tom Davis. “Oh, it was the custom in those days,” said Mr. Leonard carelessly. “Like Dante and Beatrice. It was a way the poet had of paying a compliment.” The serpent whispered. There was a distillation of wild exultancy in his blood. The rags of obedience, servility, reverential awe dropped in a belt around him. “She was a man’s wife!” he said loudly. “That’s who she was.” Awful stillness. “Why – here – who told you that?” said Mr. Leonard, bewildered, but considering matrimony a wild and possibly dangerous myth. “Who told you, boy?” “What was she, then?” said Tom Davis pointedly. “Why – not exactly,” Mr. Leonard murmured, rubbing his chin. “She was a Bad Woman,” said Eugene. Then, most desperately, he added: “She was a Little Chippie.” ‚Pap‘ Rheinhart drew in his breath sharply. “What’s that, what’s that, what’s that?” cried Mr. Leonard rapidly when he could speak. Fury boiled up in him. He sprang from his chair. “What did you say, boy?” But he thought of Margaret and looked down, with a sudden sense of palsy, into the white ruination of boy-face. Too far beyond. He sat down again, shaken. – Whose foulest cry was shafted with his passion, whose greatest music flowered out of filth –
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“Nulla potest mulier tantum se dicere amatam Vere, quantum a me Lesbia amata mea es.” “You should be more careful of your talk, Eugene,” said Mr. Leonard gently. Thomas Wolfe: Look Homeward, Angel (1929)
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Informationen Zum Buch Catull, etwa 84–54 v. Chr., ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Dichter des alten Rom. Er stammte aus einer wohlhabenden und angese henen Familie, sein Vater war persönlich mit Caesar bekannt. Den Reizen des Lebens und der Literatur zugewandt, elegant, charmant und humorvoll – seine Poesie vermittelt das Lebensgefühl dieser Welt. Die Gelegenheitsgedichte geben Einblick in den römischen Alltag des gehobenen Bürgertums am Ende der Republik. Themen sind Einladungen bei Freunden, pointierte Charakterbilder oder die Verhöhnung bekannter Persönlichkeiten. Besonders aber die Liebesgedichte sind es, welche die Wirkung Catulls über seine Zeit hinaus begründen. Viele seiner Carmina sind adressiert an die Geliebte Lesbia, über deren wirkliche Identität noch immer gerätselt wird. Sehnsucht, Verliebtheit, Eifersucht, Hilflosigkeit – Catulls Liebesgedichte spiegeln das ganze Spektrum menschlicher Gefühle wider. Sie gehören zum Schönsten, was in lateinischer Sprache über die Liebe gesagt wurde.
Informationen Zum Autor Thomas Baier ist Professor für Klassische Philologie (Latinistik) an der Univer - sität Würzburg Kai Brodersen ist Professor für Alte Geschichte und Präsident der Univer - sität Erfurt Martin Hose ist Professor für Klassische Philologie (Gräzistik) an der Ludwig-Maximilians-Universität München